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German Pages 416 [418] Year 2011
HEGEL-STUDIEN BEIHEFT 55
HEGEL-STUDIEN
Herausgegeben von
walter jaeschke und ludwig siep Beiheft 55
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
HEGEL IN DER NEUEREN PHILOSOPHIE
Herausgegeben von
thomas wyrwich
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-7873-2147-6
© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2011. ISSN 0440-5927. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de/hegel-studien
Inhalt
Einleitung Walter Jaeschke und Thomas Wyrwich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
I.
9
pragmatismus und neukantianismus
Marc Rölli Die Durchquerung des Absoluten. Zur Hegel-Rezeption John Deweys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
Wolfgang Bonsiepen Hegel und der Neukantianismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
Matthias Wunsch Phänomenologie des Symbolischen? Die Hegelrezeption Ernst Cassirers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
113
II .
phänomenologie – ontologie – lebensphilosophie
Annette Sell Das Geheimnis des Anfangs. Die Aufnahme des Hegelschen Anfangsbegriffs in der Philosophie Martin Heideggers . . . . . . . . . . . . .
143
Hans-Ulrich Lessing Hegel und Helmuth Plessner. Die verpaßte Rezeption . . . . . . . . . . . . . .
163
Walter Jaeschke Der Geist und sein Sein. Nicolai Hartmann auf Hegelschen Wegen . . .
181
Holger Glinka Aus Phänomenologie mach Dialektik. Jean-Paul Sartres Anverwandlung Hegels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
215
6
Inhalt
III .
marxistische tradition und kritische theorie
Andreas Arndt Lenin liest Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
275
Daniel Althof Das »Geklapper der Triplizität«. Adornos Hegelrezeption . . . . . . . . . . .
291
Christoph J. Bauer Mit Hegel gegen den ›Positivismus‹ – mit Hegel zum ›Wesen des Menschen‹. Herbert Marcuses Interpretation der Hegelschen Urteilslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
317
IV .
postmoderne und gegenwart
Karin de Boer Differenz: zwischen Hegel und Derrida . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
349
Robert B. Pippin Brandoms Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
369
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
409
Allgemeines Siglenverzeichnis
GW
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1968 ff. Bd. 4: Jenaer kritische Schriften. 1968 Bd. 5: Schriften und Entwürfe I (1799–1808). 1990 Bd. 6: Jenaer Systementwürfe I. 1975 Bd. 7: Jenaer Systementwürfe II. 1971 Bd. 8: Jenaer Systementwürfe III. 1976 Bd. 9: Phänomenologie des Geistes. 1980 Bd. 10: Nürnberger Gymnasialkurse und Gymnasialreden (1808– 1816). In zwei Teilbänden. 2006 Bde. 11–12: Wissenschaft der Logik (1812–1816). 1978 bzw. 1981 Bd. 13: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817). 2001 Bd. 14: Grundlinien der Philosophie des Rechts. In drei Teilbänden. 2009, 2010 und 2011 Bd. 15: Schriften und Entwürfe I (1817–1825). 1990 Bd. 18: Vorlesungsmanuskripte II (1816–1831). 1995 Bd. 20: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). 1992 Bd. 21: Wissenschaft der Logik. Band 1 (1832). 1985 Bd. 25: Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes. 2008
TWA
Theorie Werkausgabe. Werke in 20 Bänden. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1969ff. Bd. 1: Frühe Schriften Bd. 2: Jenaer Schriften Bd. 3: Phänomenologie des Geistes Bd. 4: Nürnberger und Heidelberger Schriften Bd. 5: Wissenschaft der Logik I Bd. 6: Wissenschaft der Logik II Bd. 7: Grundlinien der Philosophie des Rechts Bde. 8–10: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I–III Bd. 12: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte
8
Allgemeines Siglenverzeichnis
Bde. 13–15: Vorlesungen über die Ästhetik I–III Bd. 20: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III V
Hegel: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Hamburg 1983 ff. Bd. 3: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 1. Ein leitung. Der Begriff der Religion. 1983 Bd. 6: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Teil 1. Einleitung in die Geschichte der Philosophie. Orientalische Philosophie. 1994 Bd. 9: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Teil 4. Philosophie des Mittelalters und der neueren Zeit. 1986
Einleitung
Der »Schatz der Vernunfterkenntnis«, den die »Heroen der denkenden Vernunft«1 aufgehäuft haben, sei nichts Vergängliches, und er sei auch nicht bloß im »Tempel der Erinnerung« zur Aufbewahrung niedergelegt, sondern er sei etwas Gegenwärtiges, so gegenwärtig wie zur Zeit seines ersten Hervortretens. Das Element seines Fortlebens sei »das unvergängliche Wesen des Geistes, wohin nicht Motten noch Diebe dringen«; was das Denken sich erworben habe, mache »das Sein des Geistes selbst aus«2 . Diese Einschätzung, daß der philosophische Gedanke der Vergänglichkeit überhoben sei, hat Hegel um 1820 in der Einleitung zu seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie niedergeschrieben. Doch nur gut drei Jahrzehnte später schien sie – zumindest was Hegels eigenen Beitrag betrifft – durch die weitere Entwicklung des Denkens widerlegt, und selbst im »Tempel der Erinnerung« ließen sich, jenseits der professionellen Philosophiehistorie, nur noch mit Mühe Spuren seines Anteils am »Schatz der Vernunfterkenntnis« auffi nden. Freilich sind es weder die »Motten noch Diebe« gewesen, die ihn der Vergessenheit überantwortet haben, und sei es selbst nur, weil auch sie ihn verschmäht haben. Eine – mit recht grobem Pinselstrich operierende – spätere Philosophiegeschichtsschreibung hat für diesen Vorgang das martialische Bild vom ›Zusammenbruch des deutschen Idealismus‹ erfunden, ohne jedoch die damalige Entwicklung und die sehr unterschiedlichen Faktoren, die sie bestimmt haben, genauer zu analysieren. Mancherorts ist dieses Bild wiederholt worden – und im allgemeinen weniger mit Bedauern als mit Häme, etwa über das ›Zusammenfallen der Kartenhäuser der idealistischen Systeme‹. Gab und gibt es doch genügend Interessenrichtungen, denen wohler ist, wenn Hegel als ›toter Hund‹ verscharrt ist, als wenn sie genötigt sind, sich mit seinem Denken auseinanderzusetzen. Freilich ist dieses auch heute noch bis in die Lehrbücher dominierende Bild der Philosophiegeschichte des 19. Jahrhunderts, wenn man die Entwicklung genauer betrachtet und sie nicht nur durch das Aufkommen von 1 2
Hegel: V 6, 5. Ib., 47.
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Walter Jaeschke / Thomas Wyrwich
Positivismus, Materialismus und Darwinismus bestimmt sieht, nie wirklich adäquat gewesen. Die Präsenz eines Denkens im »Sein des Geistes« liegt nicht immer offen zu Tage, und demjenigen, der sich keine Mühe gibt, ihrer ansichtig zu werden, verbirgt sie sich ohnehin. Es wäre allerdings mißlich, wenn dieser oberflächliche Eindruck des (Nicht-)Weiterlebens Hegelscher Gedanken nur durch den Hinweis auf den Neuhegelianismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts korrigiert werden könnte, oder wenn er gar durch die Behauptung einer quasi-gesetzmäßigen Abfolge von Neukantianismus und Neuhegelianismus, analog zur Entwicklung von Kant zu Hegel, gestützt werden müßte. Fraglos hat sich der Neuhegelianismus um die Edition und gedankliche Erschließung insbesondere der Partien des Hegelschen Werkes verdient gemacht, die in das von Hegels Freunden und Schülern gestaltete Corpus Hegelianum keinen Eingang gefunden haben: der frühen Schriften Hegels aus den Jahren bis 1800 und seiner Jenaer Systementwürfe. An diese zu ihrer Zeit verdienstvollen Editionen haben sich auch weiter ausgreifende Interpretationen angeschlossen, doch bleibt dies im Ganzen ein Vorgang von begrenzter Bedeutung, und er fi ndet auch keinen Nachhall in der sonstigen Philosophie des 20. Jahrhunderts. Zudem ist auch nicht mit Stillschweigen zu übergehen, daß der rechtsphilosophische Zweig dieses Neuhegelianismus in den 1930er Jahren geglaubt hat, sein Heil in der Anbiederung an den Nationalsozialismus suchen zu sollen, und hierzu auch die ärgsten Verrenkungen von Hegels Rechtsphilosophie nicht gescheut hat. Und es macht die Sache nicht besser, daß er dabei in einem wenig edlen Wettstreit mit einer Vielzahl anderer Denkrichtungen und Gruppierungen gestanden hat. Doch so unerfreulich diese Episode des Themas ›Hegel im 20. Jahrhundert‹ auch gewesen ist: Wichtiger, und seinem Umfang nach zu wenig bekannt, ist etwas anderes. Hegel vertritt in der genannten Einleitung zu seinen philosophiegeschichtlichen Vorlesungen zwar sehr engagiert die Behauptung, »daß die Wahrheit nur Eine ist«3. Er betont aber ebenso, daß das Wahre »den Trieb hat, sich zu entwickeln«4. Diese Entwicklung fällt in die Zeit, in die Geschichte; sie bildet eine Tradition, die Hegel als einen ständig sich vergrößernden »mächtigen Strom«5 charakterisiert. In ihr fi ndet aber keine bloße Vermehrung und Verbreiterung durch Addition – einer neuen Philosophie zu den vorangegangenen – statt, sondern eine Bearbeitung durch ›Umbildung‹ und ›Metamorphose‹. Hegel bestimmt es als Aufgabe »jedes Zeitalters« – und nicht etwa nur der Zeit bis hin zu ihm! –, »die Wissenschaft , welche vorhanden ist, zu fassen und sich ihr anzubilden und ebendarin sie weiter zu bilden und auf einen höheren Standpunkt zu erheben; indem wir sie uns zu eigen machen, machen wir aus ihr etwas Eigenes gegen das, was sie vorher war«6 . Sicherlich darf die-
Einleitung
11
ses Modell nicht so verstanden werden, als erfolge die Weiterbildung der Philosophie ausschließlich in Form solcher Auseinandersetzung mit der vorhandenen Wissenschaft und als sei dadurch alle externe Anregung und Bestimmung bestritten. Es beschreibt jedoch die immanente Entwicklung der Philosophiegeschichte, und es bewährt sich auch für die Epoche nach Hegels Tod: Die spätere Philosophie tritt nicht bloß eine »Erbschaft«7 an, sondern sie eignet sich das ihr überkommene Erbe an, durch kritische Bearbeitung wie auch durch Umbildung und Metamorphose – fraglos nicht allein das Hegelsche Erbe, sondern den überkommenen »Schatz der Vernunfterkenntnis« überhaupt, aber eben auch und nicht zuletzt seinen Beitrag. *** In welcher Breite und in welcher Form diese Aufnahme und Aneignung des Hegelschen Anteils an diesem Erbe im Denken des späten 19. und insbesondere des 20. Jahrhunderts erfolgt ist, möchte der vorliegende Band zumindest in einigen wichtigen Zügen nachzeichnen. Sein Plan geht auf ein Kolloquium zurück, das im Wintersemester 2005/2006 und im Sommersemester 2006 im Hegel-Archiv der Ruhr-Universität Bochum zum Thema »Hegel in der neueren Philosophie« abgehalten und von Mitarbeitern sowie Gästen des Hegel-Archivs getragen wurde. Ergänzt wird der Band durch einige Beiträge, deren Autoren mit dem Hegel-Archiv wissenschaft lich kooperieren. Der Breite des Themenspektrums entsprechend wurde den Autorinnen und Autoren absichtlich die Freiheit gelassen, das Thema unterschiedlich und variantenreich anzugehen. So beleuchten einige Beiträge neben der Hegel-Rezeption im engeren Sinne auch die Rolle Hegels für die Entwicklungsgeschichte einiger Denker, andere Texte fokussieren stärker die Bedeutung der Hegelschen Philosophie für die Formierung neuerer Begriffe und Theorieansätze. Darin zeigt sich, in wie mannigfaltigen Formen und mit welch unterschiedlichen Ergebnissen das Hegelsche Denken in der Philosophie des 20. Jahrhunderts abgewandelt und auch anverwandelt fortlebt, sei es als gleichsam dialektische Kontrastfolie und Abstoßungspunkt einerseits, sei es als systematische Inspirationsquelle und Methodenfundus andererseits. Diese beiden hier etwas schematisch gegenübergestellten Rezeptionstypen lassen sich, zum Teil vermischt, auch in den verschiedenen Ansätzen wiederfi nden, die in diesem Band behandelt werden: 6 7
Ib., 8. Ib.
12
Walter Jaeschke / Thomas Wyrwich
– Beispiele für eine intendierte Profi lierung der eigenen Position in konstitutiver Abgrenzung von Hegel sind etwa die Gegenüberstellung von »heterologischem« und »dialektischem« Denken bei Rickert (siehe dazu den Beitrag von Wolfgang Bonsiepen, der auch noch auf verschiedene andere Neukantianer eingeht), die Kontrastierung des Anfangs aus dem »Ereignis« mit dem Hegelschen Anfang beim »Absoluten« bei Heidegger (siehe dazu den Beitrag von Annette Sell) und die Konfrontation des Konzeptes einer radikalen »Différance« mit der Hegelschen »Negativität« bei Derrida (siehe dazu den Beitrag von Karin de Boer). – In Cassirers »Phänomenologie« von symbolischen Bewußtseinsformen (siehe dazu den Beitrag von Matthias Wunsch), in Sartres Exposition der eigenen Begrifflichkeit vor allem von »Sein«, »Nichts«, »an-sich«, »für-sich« und »für-andere«, die er in Abarbeitung an den Hegelschen Äquivalenten vornimmt (siehe dazu den Beitrag von Holger Glinka), und in Adornos Gegenüberstellung einer »negativen« Dialektik des »Nichtidentischen« mit der Dialektik Hegels (siehe dazu den Beitrag von Daniel Althof) lassen sich sowohl Momente der konstitutiven Abgrenzung als auch der produktiven Anverwandlung wiederfi nden. – Beispiele für eine zum Teil auch implizite, aber keineswegs unkritische Aufnahme Hegelschen Denkens sind überdies Deweys pragmatistische Adaption einer dialektischen Kritik an Dualismen und Abstraktionen (siehe dazu den Beitrag von Marc Rölli), Plessners Stufenlogik des Lebendigen im Ausgang von einem Subjektprinzip (siehe dazu den Beitrag von Hans-Ulrich Lessing), Hartmanns schichtenontologische Anverwandlung von Hegels Begriff des »Geistes« (siehe dazu den Beitrag von Walter Jaeschke), Lenins Neuentdeckung der Hegelschen TotalitätsKategorie (siehe dazu den Beitrag von Andreas Arndt), Marcuses These von der »universalen Geschichtlichkeit alles Seienden«, die er auf der Basis von Hegels Urteilslehre entfaltet (siehe dazu den Beitrag von Christoph J. Bauer), sowie Brandoms sprachanalytische Aufnahme von Hegels prozessualer Theorie von Verbindlichkeit und Normativität (siehe dazu den Beitrag von Robert B. Pippin). In vielen Fällen nehmen die Autorinnen und Autoren eine kritische Prüfung der jeweiligen Hegel-Rezeption vor und gehen noch auf zahlreiche weitere Gesichtspunkte ein, die hier in der Einleitung nicht alle adäquat berücksichtigt werden können. In der systematischen und zugleich geschichtlichen Zuordnung der einzelnen Beiträge zu den vier Oberkategorien »Pragmatismus und Neukantianismus«, »Phänomenologie – Ontologie – Lebensphilosophie«, »Kritische Theorie und marxistische Tradition« sowie »Postmoderne und Gegenwart« spiegelt sich das Ansinnen des Bandes wider, möglichst viele der einflußreichen phi-
Einleitung
13
losophischen Strömungen aus der jüngeren Zeit mit einbezogen zu haben. Freilich kann damit aber kein Anspruch auf eine vollständige Erfassung der Hegel-Rezeption in der neueren Philosophie erhoben werden. So könnten die Kategorien, gerade mit Blick auf die analytische und poststrukturalistische Philosophie, ihrerseits noch weiter angefüllt werden. Eine solche Ergänzung des vorliegenden Bandes sowie eine entsprechende Ausfüllung von Forschungsdesideraten mag daher späteren Arbeiten vorbehalten bleiben. Mit tiefem Bedauern denken wir daran, daß im Kreis des Kolloquiums auch Christa Hackenesch zu zwei Themen vorgetragen hat. Ihr so verfrühter Tod hat es ihr nicht mehr erlaubt, diese beiden Beiträge für die Publikation auszuarbeiten. So soll sie wenigstens im Modus der traurigen, aber auch dankbaren Erinnerung im Umkreis dieses Projekts genannt werden, das sie ursprünglich mit getragen hat. Walter Jaeschke und Thomas Wyrwich
I.
pragmatismus und neukantianismus
Die Durchquerung des Absoluten. Zur Hegel-Rezeption John Deweys Marc Rölli
»Könnte ich überhaupt Anhänger irgendeines Systems sein, würde ich immer noch glauben, daß es bei Hegel einen größeren Reichtum und eine größere Vielfalt an Einsicht gibt als bei jedem anderen systematischen Philosophen […]«1
Rückblickend akzentuiert Dewey die besondere Bedeutung, welche die Philosophie Hegels in seiner ›intellektuellen Biographie‹ gespielt hat. Er spricht von »meinem ›Hegelianismus‹« und davon, »daß die Bekanntschaft mit Hegel einen dauernden Eindruck [a permanent deposit] in meinem Denken hinterlassen hat.«2 Mit dem Namen Hegel verbindet Dewey eine erste leidenschaft liche Positionsbestimmung in der Philosophie, welche die frühere Übernahme von aus seiner Sicht noch allzu unspezifischen Lehrmeinungen der Schottischen Schule – die an der Universität von Vermont »erlernte Terminologie einer intuitionistischen Philosophie« – ablöste und zeitlich mit seinem Wechsel an die Johns Hopkins Universität (im Jahr 1882) zusammenfällt. Zwar hatte er bereits in Vermont Gelegenheit, die klassische deutsche Philosophie kennen zu lernen – James Marsh beschäft igte sich »auf dem Weg über Coleridge« mit dem Deutschen Idealismus v. a. Kants, und unter der Leitung von Henry Torrey lernte Dewey im Rahmen von Privatstunden »philosophisches Deutsch zu lesen« –, doch explizit hält Dewey fest, daß er mit Blick auf die ersten zwei von ihm veröffentlichten Artikel »von Hegel […] damals keine Kenntnis« besaß. 3 Entsprechend unkontrovers ist es, daß Deweys ›Hegelianismus‹ in Dewey 1930, 21. Vgl. Dewey 1930, 18, 21 [engl. ebd., 12]. Ob der Ausdruck ›deposit‹ (lat. depositum) eher bibliothekswissenschaft lich gemeint ist (und auf ein verstaubtes Buch im Depot als bloßem Ort der Aufb ewahrung verweist) oder aber darauf Bezug nimmt, daß eine Geldanlage bei einer Bank gegen Verzinsung eingelegt wird, wird sich unten herausstellen. 3 Vgl. Dewey 1930, 14, 15, 16. Vgl. dazu Dewey: Early Works [EW] 1, 3–18. Zum Verhältnis Deweys zu Torrey vgl. Feuer 1958, 34–54. 1 2
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Marc Rölli
den folgenden Publikationen – zunächst in dem Aufsatz »Knowledge and the Relativity of Feeling« (Januar 1883) – seinen ersten Niederschlag fi ndet. In dem bereits zitierten autobiographischen Text »From Absolutism to Experimentalism« gibt Dewey verschiedene Quellen seines Hegelianismus an. Erstens nennt er George S. Morris, den ›Präsidenten‹ des Metaphysical Club. Morris lehrte von 1880–1884 an der Johns Hopkins Universität und vermittelte Dewey seinen späteren Posten an der University of Michigan (1884–1888, 1889–1894). 4 Er vertrat einen gemäßigten »objektiven Idealismus« – und trat damit in die Fußstapfen seines Lehrers Trendelenburg. 5 Zweitens verweist Dewey auf »die einzige vitale und konstruktive Bewegung in der [englischen] Philosophie« der 1880er und 90er Jahre, nämlich auf die sich prominent an Hegel anschließende idealistische Philosophie von Thomas H. Green und anderen, die sich in seinem Umfeld bewegten. 6 Insbesondere ihre Frontstellung gegen den atomistischen Individualismus (z. B. Spencers Liberalismus) und gegen die »schlechte Psychologie« der empiristischen Sinnesdatenlehre haben Dewey nachhaltig beeinflußt, wenngleich er festhält, daß Morris im Unterschied zu Green »zu Kant über Hegel [kam] statt zu Hegel über Kant.« Morris’ Haltung zu Kant war daher »die kritische Einstellung, die Hegel zum Ausdruck brachte« – und darin sieht Dewey einen klaren Vorteil der Position eines objektiven Idealismus.7 An diesen Punkt schließen auch die von Dewey dargelegten »subjektiven Vgl. Westbrook 1991, 16 ff. Vgl. Dewey 1930, 19. Dewey unterstreicht, daß Morris den »Common-SenseGlauben an die Existenz der Außenwelt« beibehielt und »sich über alle lustig [machte], die glaubten, die Philosophie müsse die Existenz dieser Welt und der Materie beweisen. Für ihn war die einzig philosophische Frage die Frage nach der Bedeutung dieser Existenz […].« (ebd.). Vgl. auch EW 3, 7 ff. Morris einschlägige Studie Hegel’s Philosophy of the State and of History erschien allerdings erst 1887. 6 Vgl. Dewey 1930, 19 und zu Green: Quinton 1971. Vertreter des britischen Idealismus sind v. a. Edward Caird, der im Jahr 1883 eine Hegel-Monographie publizierte, William Wallace, der Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften in Teilen ins Englische übersetzte, und Lord Richard B. Haldane, der in Erinnerung an den früh verstorbenen Green mit Andrew Seth die Essays in Philosophical Criticism (1883) – ein Manifest des britischen Idealismus – herausgab. 7 Vgl. Dewey 1930, 19. Hinzufügen lässt sich an dieser Stelle drittens, daß Dewey William T. Harris, »dem bekannten Hegelianer und Herausgeber des Journal of Speculative Philosophy, der damals einzigen philosophischen Zeitschrift im Land«, nicht nur die Publikation seiner ersten Texte, sondern darüber hinaus die Ermutigung verdankt, »Philosophie als Berufslaufbahn zu versuchen.« Vgl. ebd., 16. Hahn bemerkt dazu: »By the summer of 1882, even before his acquaintance with George Sylvester Morris, however, he [Dewey; M.R.] was volunteering to translate material on Hegel for W. T. Harris, and with Morris’ encouragement from 1882 to 1888 he became saturated with Hegel.« Vgl. Hahn 1969, VIII. 4 5
Die Durchquerung des Absoluten
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Gründe« an, die ihn zu Hegel verführten. Denn Hegel bot eine gangbare Lösung für die schwierige Aufgabe, die Philosophie nicht lediglich als schematische und selbstgenügsame logische Argumentationskunst aufzufassen, sondern mit den drängenden »sozialen Interessen und Problemen« zu konfrontieren. »Während der Zeit, als das Interesse an Schematisierung bei mir vorherrschte, fiel mir das Schreiben verhältnismäßig leicht; ich erhielt sogar Komplimente wegen der Klarheit meines Stils. […] Es ist leicht, der dialektischen Entwicklung eines Themas freien Lauf zu lassen; der Druck der konkreten Erfahrungen wog freilich schwer genug, so daß das Gefühl intellektueller Aufrichtigkeit mich daran hinderte, diesen Weg weiterzugehen. Aber auf der anderen Seite bestand das formale Interesse weiter fort, so daß ich ein innerliches Verlangen nach einer intellektuellen Technik spürte, die konsistent und gleichwohl geeignet war, sich flexibel an die konkrete Vielfalt der erlebten Dinge anzupassen. Es ist kaum nötig zu betonen, daß mir die Vereinigung der Fähigkeiten, diesen beiden entgegengesetzten Anforderungen […] zu genügen, nicht leicht gefallen ist. Genau aus diesem Grund ist mir eine Tendenz anderer Denker und Schrift steller deutlich, ja zweifellos nur allzu deutlich, eine scheinbare Klarheit und Einfachheit dadurch zu erreichen, daß sie Erwägungen, die ihnen ein größerer Respekt vor dem konkreten Material in der Erfahrung aufgezwungen hätte, schlicht ignorieren.« 8 Hegel befriedigte dieses »innerliche Verlangen«, indem er eine Methode entwickelte, die die traditionellen Dualismen und Gegensätze, auch diejenigen der Kantischen Philosophie, in Frage stellte und verflüssigte. Ihm gelang es, die philosophische Logik in den Bereichen des objektiven Geistes, aber auch in bezug auf Religion und Kunst in Geltung zu setzen. Und hiermit bot er für Dewey »keine lediglich intellektuelle Formel«, sondern bewirkte »eine unendliche Erleichterung […]: Hegels Behandlung der menschlichen Kultur, der Institutionen und Künste beinhaltete dieselbe Auflösung fest gefügter Trennwände und übte«, so gesteht Dewey, »einen besonderen Reiz auf mich aus.«9 Wird man daher kaum fehlgehen, wenn man die sozialphilosophischen Fragen als diejenigen auffaßt, die Dewey zu Hegel führten, so liegt andererseits in dieser Ausrichtung auf die »konkrete Vielfalt der erlebten Dinge«, auf Ideen »für ein organisiertes soziales Leben« bereits die Ursache für den »in den folgenden fünfzehn Jahren« erfolgenden schleichenden Ablösungsprozeß von Hegel.10 Auch sie wird 8 9 10
Dewey 1930, 17–18. Vgl. Dewey 1930, 19–20. Vgl. Bernstein 1971, 38. Vgl. Dewey 1930, 21. Im engl. Originaltext heißt es dazu wie folgt: »I drifted
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Marc Rölli
von Dewey deutlich benannt, wenn er den »künstlichen Schematismus« oder den »mechanischen dialektischen Rahmen« des Systems Hegels mit der »außergewöhnlichen Tiefe« seiner Ideen und Analysen kontrastiert.11 Gemäß dem Titel der autobiographischen Skizze kulminieren die philosophischen Schwierigkeiten mit Hegel im Begriff des Absoluten, der die vorgegebenen Situationen einer sozialen Welt aus sich heraus (einer immanenten Logik der Vernunft und ihrer Geschichte folgend) zu entwickeln und zu begründen scheint. Mit dem langsamen Ablösungsprozeß von Hegel verbindet sich also eine mit der Zeit veränderte Einschätzung der wirklichkeitserschließenden Kraft der dialektischen Methode. 12 Eine Untersuchung der Hegel-Rezeption Deweys könnte sich an seinen in den späten 1880er und in den 1890er Jahren erscheinenden Monographien orientieren.13 Im Folgenden schlage ich einen anderen Weg ein, indem ich kleinere Aufsätze und Zeitschriftenbeiträge analysiere, die deutlich auf Hegel Bezug nehmen. Im Vordergrund des Interesses stehen hier Texte
away from Hegelianism in the next fi fteen years; the word ›drift ing‹ expresses the slow and, for a long time, imperceptible character of the movement […].« (ebd., 12). Erwähnenswert ist auch, daß Comtes Soziologie – wohl v. a. aufgrund ihrer Kritik des »desintegrativen Individualismus« – Dewey beeindruckt hat, und daß ihm doch Hegels Philosophie geeigneter erschien, die von Comte aufgeworfenen sozialwissenschaft lichen Themen zu behandeln. Vgl. ebd., 21. 11 Vgl. Dewey 1930, 21. 12 Der in der Dewey-Forschung kontrovers diskutierten Frage nach der genauen Datierung des Übergangs vom ›Hegelianismus‹ zum ›Experimentalismus‹ werde ich im folgenden nicht nachgehen. Deweys Tochter Jane hatte behauptet, daß die Studies in Logical Theory (1903) »mark a fi nal and complete break with his early Hegelian idealism« (Jane Dewey 1939, 33). Andere verlagern die Absetzung Deweys von Hegel bereits in die frühen 1890er Jahre, indem sie auf seine Kritik der metaphysischen Methode, d. i. »the transcendental logic of internal relations« Bezug nehmen. Vgl. Westbrook 1991, 61. Wenn sich Dewey aber im Zuge seiner Arbeit kontinuierlich von Hegel entfernt, dann wird weder ein Bruch noch ein Zeitpunkt genau zu bestimmen sein – und die Fragerichtung muß sich ändern. Die eigentlich interessierenden Fragen werden dann lauten: Wie ist Deweys Hegelianismus beschaffen? Von welchen Momenten desselben distanziert er sich, welche behält er bei? Vor dem Hintergrund dieser Fragen ist dann auch Bernstein zuzustimmen, wenn er von einem verbreiteten »Mythos« spricht, der sich auf die Bedeutung der Hegelschen Quellen für Deweys Denken bezieht: »Danach stellt Deweys Hegel-Periode nur eine frühe Stufe seiner geistigen Entwicklung dar, die er schließlich überwand oder hinter sich ließ.« (Bernstein 1971, 34). 13 Zu nennen sind hier neben der Psychology (1887, EW 2) die Arbeit über Leibniz’s New Essays concerning the Human Understanding (1888, EW 1, 251–435) und die beiden Studien zur philosophischen Ethik Outlines of a Critical Theory of Ethics (1891, EW 3, 237–388) und The Study of Ethics: a Syllabus (1894, EW 4, 219–362).
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zur philosophischen Psychologie, die sich mit Problemen der erkenntnistheoretischen Tradition auseinandersetzen. Unversehens gerät man so in die Begriffswerkstätte des Formierungsprozesses von Deweys Denken. Kontrastiv dazu werde ich im abschließenden Teil die Stellung des späten Dewey zu Hegel erläutern. Intendiert ist damit eine Verdeutlichung der pragmatistischen Motive, die Dewey von Hegel (oder von seinem eigenen früheren Hegelverständnis) weggeführt haben. Außerdem kann auf diese Weise herausgestellt werden, worin der Depotbestand oder die nachhaltige Wirkung der Hegelrezeption Deweys besteht. Abweichend von Rortys Diagnose, der die Ambivalenz der Philosophie Deweys insgesamt auch mit Blick auf ihren Hegelbezug in ihrer einerseits historistisch-positivistischen und andererseits idealistisch-vitalistischen Ausrichtung bestimmt, indem er den nicht erkenntnistheoretisch limitierten Erfahrungsbegriff zurückweist – »I shall be constructing a hypothetical Dewey who was a pragmatist without being a radical empiricist, and a naturalist without being a panpsychist«14 – wird die folgende Darstellung von der These geleitet, daß Deweys mit den Jahren immer deutlicher werdende Idealismuskritik mit seinem Konzept des experimentellen Empirismus grundsätzlich vereinbar ist. Diese Form des Empirismus spielt sich mit der Ausarbeitung seines pragmatistischen Standpunkts immer mehr in den Vordergrund. Weder verbindet sich mit dem Primat der experimentellen Methode eine positivistische, noch verbindet sich mit dem Festhalten am Erfahrungsbegriff eine vitalistische Position.15 Rortys Auft rennung von Erfahrung und Erkenntnis verfehlt nicht nur die Pointen des Instrumentalismus, ihm entgehen darüber hinaus auch die eigentümlichen Motive von Deweys Anknüpfung an Hegel. I. In dem Aufsatz Knowledge and the Relativity of Feeling fällt der Name Hegels zwar nicht, aber es fällt nicht schwer, den Hegelbezug in der Sache auszumachen. Dewey behandelt hier ein Thema, das ihn bis an sein Lebensende verfolgen wird, nämlich das Problem des Subjektivismus in der Erkenntnistheorie, mit seinen Worten: »that we cannot know Being, but must confi ne ourselves to sequences among phenomena« (EW 1, 19). Zwar bestreitet er keineswegs die psychologische Relativitätsthese Rorty 1995, 3. Vgl. Hampe 2008, 121 ff., Borsche 2008, 130 ff. und mit Blick auf das Verhältnis des Pragmatismus zum radikalen Empirismus bei William James: Lapoujade 2008, 171 ff. 14
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hinsichtlich der subjektiven feelings, aber er wendet sich kritisch gegen ihre philosophische Begründung zunächst und v. a. bei Spencer.16 Seine Argumentation zielt darauf ab, die Unvereinbarkeit der Relativitätsthese mit der erkenntnistheoretischen Position des ›Sensationalism‹ bei Spencer herauszustellen. Sie wird dabei so durchgeführt, daß nicht allein der evolutionäre Ansatz, sondern analog zu diesem auch die positivistischen, kantianischen und empiristisch-assoziationistischen Denkrichtungen ad absurdum geführt werden können. Denn im Kern stimmen die genannten Positionen (mit der Ausnahme des Skeptikers David Hume) darin überein, daß sie die empirisch fundierte Relativität des Wissens auf ein prinzipiell unerkennbares absolutes Objekt oder Ding an sich beziehen müssen. Dieser zuletzt genannte Bezug auf ein irrelatives Objekt lässt sich allerdings nicht im Rahmen der mitgebrachten erkenntnistheoretischen Voraussetzungen plausibel machen.17 »And so, as matter of fact, it is only as Mr. Spencer identifies his Unknowable with an Absolute, and thus takes advantage of the popular connotations of the word, that he is able to say that the Unknowable is; it is only as he smuggles some degree of qualification, however slight, into the subject that he can make it the subject of a proposition« (EW 1, 26). Dagegen folgt Deweys Problemlösungsvorschlag implizit postkantischen Kritiken der Ding-an-sich-Konzeption und endet bei einer an Hegel erinnernden Sichtweise.18 Er schließt aus seiner Darlegung der Selbstwidersprüchlichkeit der Spencerschen Principles of Psychology, daß die psychologische Relativitätsthese nur festgehalten werden kann, wenn gleichzeitig ein absolutes Bezugsobjekt angenommen wird, das in einem denkenden Selbstbewußtsein seinen Grund fi ndet und nicht in (stets wieder bloß subjektiven) Gefühlszuständen.19 »Our present theory, that »In closing, we must repeat the caution with which we began: that we are not dealing with the theory of Relativity of Feeling as a psychological theory. The correctness of the theory is undoubted. The philosophical interpretation of it is the point in question.« (EW 1, 33). 17 Vgl. hierzu im Detail die Zusammenfassung der Argumentationsschritte in EW 1, 32. 18 Zurecht unterstreicht Dalton die kantkritischen Grundzüge in Deweys früher Hegeladaption: Dalton 1997, 4. 19 »Th e subjectivity of taste, e. g., means that in the object unrelated to a nervous organism there is such and such a physical or chemical structure, and that the sensation of taste is the relation between that structure and a corresponding organic structure.« (EW 1, 28. Vgl. ebd., 26 f.). 16
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relativity consists in a specific ratio between a sensitive and a non-sensitive object, which are constituted by relations to self-consciousness, proves itself, I think, amply adequate.« (EW 1, 33) Auf diese Weise wird der notwendige Objektbezug der qualitativen Gefühlsrelativität hergestellt, ohne sich in einem logischen Widerspruch zu verfangen. Und gleichzeitig wird die Objektivität der Relationen (sei es in biologischen und psychologischen oder in physikalischen Zusammenhängen) begründet, welche echte empirische Erkenntnis eigentlich auszeichnet. (Vgl. EW 1, 31) Es ist das absolute Bewußtsein, das als Ermöglichungsgrund der objektiven Relationen und damit auch als Grund des Wissens fungiert. 20 Die philosophische Interpretation der psychologischen Relativitätsthese macht eine Theorie erforderlich, die mit den subjektivistischen Spielarten der Erkenntnistheorie bricht und die konstitutive Macht des Denkens anerkennt, »as itself ultimate Being, determining objects.« (EW 1, 33) Ist die Verbindung dieser absoluten Position mit einer Hegelschen bis hierher noch allzu ›spekulativ‹, so zeigt sich doch bereits in der folgenden Publikation Deweys, daß sie in der Sache wohl begründet ist.
II. Erstmals kommt Dewey in einem ebenfalls im Journal of Speculative Philosophy veröffentlichten Text über Kant and Philosophic Method (April 1884) ausführlicher und explizit auf Hegel zu sprechen. 21 In dem Text entwickelt er die Grundlinien einer philosophischen Methode im Durchgang durch eine an Hegel angelehnte Kritik der Kantischen Philosophie. Dabei orientiert er sich an der von Kant in der Kritik der reinen Vernunft vorgelegten transzendentalen Analytik und Ästhetik. Problematisch erscheint ihm hier, daß Kant das Wahrheitskriterium des Erkennens an die synthetische Funktion der Verstandesbegriffe koppelt. 22 Denn die Kantische Auflösung »[S]ince this self-consciousness is the ground and source of relations, it cannot be subject to them. It is itself the true Absolute, then. Th is does not mean that it is the Unrelated, but that it is not conditioned by those conditions which determine its objects.« (EW 1, 33). 21 Vgl. EW 1, 34–47. Es ist wahrscheinlich, daß der Text wesentliche Inhalte von Deweys (verloren gegangener) Dissertation über Kant’s Psychology (1884) referiert. Vgl. Westbrook 1991, 20. 22 Präzise bemerkt dazu Dewey: »In other words, the categories have objective validity or synthetic use because without them no experience would be possible. […] Th is is evidently a circle, yet a circle which, Kant would say, exists in the case itself, which expresses the very nature of knowledge.« (EW 1, 38). 20
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des von Hume herausgestellten Problems, Begriffe a priori auf die Erfahrung zu beziehen, kann nur um den Preis einer kritischen Begrenzung der objektiven Geltung des Wissens auf den Bereich des mundus sensibilis vollzogen werden. Das aber bedeutet, daß das Erkenntnismaterial von Kant als ein äußerlich gegebenes (und äußerlich zur Erkenntnisform hinzutretendes) aufgefaßt wird, das nicht die Existenz der Gegenstände als solche verbürgt und bestimmbar macht, »but ourselves as affected by that existence« (EW 1, 39). Die empiristische Referenz Kants hat demnach zur Folge, daß nicht nur die sinnliche Affektion in dem ›ästhetischen‹ Rahmen der subjektiven Anschauungsformen verbleibt, sondern darüber hinaus auch die Gegenstände der Erfahrung von den Dingen, wie sie ›an sich‹ sein mögen, abgetrennt werden müssen. Die erkenntniskritische Methode liefert daher kein wirkliches Wissen – »no real knowledge« (EW 1, 39) –, wie Dewey im erstmals ausdrücklichen Rekurs auf Hegel feststellt: »It is, Hegel says, as if one ascribed correct insight to a person, and then added that he could see only into the untruth, not the truth.« (Ebd.) Aus diesem Problem entsteht zusätzlich ein zweites, sofern das System der Kategorien selbst eine privilegierte transzendentale Erkenntnis in Anspruch nehmen muß, die als solche nicht durch Erfahrung legitimiert ist. Da es unmöglich ist, aus dem Selbstbewußtsein ein Objekt zu machen, das uns sinnlich affi ziert, bleibt lediglich eine rein formale Selbstidentität des ›ich denke‹ übrig, welche ganz abstrakt alle unsere Vorstellungen muß begleiten können. Deweys analytischer Befund ist ernüchternd: Weder ist das Kategoriensystem Kantischer Prägung wahrheitskonstitutiv, noch ist es selbst als ein wahres erfaßbar. »Hence, it appears that our picture of a method was doubly false – false in that after all it could not reach truth; false in that after all no such method was in itself possible« (EW 1, 39). An diesem Punkt angelangt zieht Dewey nun die Konsequenz einer dialektischen Revision und Transformation der transzendentalen Methode. Tatsächlich bestätigt er die Selbsteinschätzung Kants, nämlich daß sich die Metaphysik in einer Krisensituation befi ndet, gerade weil die traditionellen (rationalistischen und empiristischen) Systeme der Philosophie dogmatische Annahmen gemacht haben, die einer kritischen Prüfung nicht standhalten können. Die kritische Philosophie markiert den »turning-point of modern philosophy« – und es fällt Hegel zu, in seiner Logik ihr methodisches Ideal einzulösen. 23 Dabei kann er durchaus an Kant anknüpfen, indem er einerseits die strikte Trennung von Form und Materie aufhebt und andererseits ein immanentes Verhältnis zwischen EW 1, 43, 47. Vgl. dazu kontrastiv die Einschätzung des späten Dewey in dem Buch Die Suche nach Gewißheit [im folgenden zit. als SG], 287 ff. 23
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Subjekt und Objekt etabliert. Auf diese Weise wird die im Erkennen strikt festgelegte Beziehung auf äußere sinnliche Gegebenheiten aufgegeben und durch einen Selbstdifferenzierungsprozeß der Vernunft ersetzt, sofern eben im Bezug auf anderes stets ein Selbstbezug impliziert ist (vgl. EW 1, 40). In der transzendentalen Deduktion hat Kant Dewey zufolge diesen Weg selbst gewiesen: »The criterion of experience is the system of categories in their organic unity in self-consciousness, and the method consists in determining this system and the part each plays in constituting it« (EW 1, 43). Insbesondere zeige sich mit Blick auf moralische, ästhetische und organisationslogische Erfahrungen bereits innerhalb des Kantischen Denkens – mit Bezug auf die anderen beiden Kritiken – das Ungenügen der verstandeslogisch verfaßten, auf die Erscheinungswelt restringierten Erkenntnistheorie (vgl. EW 1, 42). In den abschließenden Passagen kommt Dewey auf drei Errungenschaften der Hegelschen Philosophie zu sprechen: auf die Logik, auf das Negative und die Dialektik. Ohne hier im einzelnen seine recht knapp geratenen Ausführungen wiederzugeben, kann man doch sagen, daß Dewey in erster Linie an der prozeßförmigen Grundstruktur der (negationstheoretisch verfaßten) dialektischen Gedankenbewegung (der Logik) interessiert ist. Mit ihr gelingt es Hegel demnach, die harten Dualismen des Kantischen Denkens aufzulösen und einzelne Bestimmungen als relative (oder auch inadäquate) Wahrheiten zu charakterisieren, d. h. als Wahrheiten, die relativ sind auf das Ganze des geistigen Denkprozesses, das stets – in jeder logischen Denkfigur und Begriffskonstellation – implizit mit enthalten ist (vgl. EW 1, 46). Wenigstens implizit ist also die Vernunft als solche zugleich synthetisch und analytisch verfaßt und umfaßt daher die Gegensätze, indem sie sie als mögliche Antithesen begreift, die in der auch historisch fortschreitenden Explikation des Impliziten auf einen absoluten, d. h. auch ihnen gemeinsamen Grund zurückgeführt werden können. 24 »Reason must everywhere, and in all its forms, propose itself as what it is, viz., absolute or adequate to the entire truth of experience« (EW 1, 46).
Vgl. EW 1, 44. Dewey dürfte hier das zweite Kapitel des Abschnitts über die Idee in der Hegelschen Begriffslogik vor Augen gestanden haben. Vgl. Hegel: TWA 6, 487–548, v. a. 502 ff. 24
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III. Die ersten Ausarbeitungen zum Thema einer ›neuen Psychologie‹ sind ebenfalls mit Hegelschen Grundannahmen durchsetzt. Allerdings macht Dewey von Hegel einen eher verhaltenen Gebrauch. Hegel steht im Hintergrund – sein Einfluß korrespondiert mit Deweys Intention, sich an der Erfahrung (und nicht an kanonischen Texten) zu orientieren. Diese Intention – und der Erfahrungsbegriff selbst – sind sicher Hegelisch motiviert, und doch machen sich in Deweys konkretionsfreudigem Vorgehen bereits unnachahmliche selbständige Züge bemerkbar, die in der Sache über die Jahre hinweg mit einer Distanzierung von Hegels idealistischer Philosophie zusammenfallen. 25 In mehreren kürzeren Aufsätzen seit 1884 entwickelt Dewey eine Psychologiekonzeption, die sich in vielen Punkten mit seinen philosophischen Überlegungen berührt. In dem ersten dieser Aufsätze mit dem Titel The New Psychology (September 1884) skizziert er die Entstehung einer neuartigen deskriptiven Psychologie, die aus der positivistischen und vor allem aus der i. e. S. physiologisch ausgerichteten Psychologie hervorgeht. Dewey befürwortet die Grundtendenzen der Verwissenschaft lichung der Psychologie im 19. Jahrhundert. Im Unterschied zu Aufk lärungsphilosophie und auch metaphysischen Traditionen im 18. Jahrhundert – ausdrücklich erwähnt werden »Hume and Reid« (EW 1, 49) – wendet sich die ›neuere‹ Psychologie, so Dewey, erstmals der tatsächlichen Vielfalt der seelischen Vorgänge und Aktivitäten zu. Dies gelingt ihr anfangs nur auf mehr oder weniger konfuse Art, wenngleich sie die abstrakten Begriffe und vermeintlichen Klarheiten der philosophischen Tradition schon hinter sich zu lassen weiß. Unter neuerer Psychologie versteht Dewey v. a. die physiologische, deren Modernitätsmerkmal darin liegt, daß sie sich der experimentellen und quantifi zierenden Methode bedient (vgl. EW 1, 51f.). Beeinträchtigt wird ihr Erfolg allerdings nicht nur durch das Fortwirken der alten Schule der Psychologie, die erst zusammen mit ihren letzten Schulhäuptern William Hamilton und John Stuart Mill ihre beherrschende Stellung verliert, selbst wenn »many psychologists still use their language and follow their respective fashions« (EW 1, 49). Problematisch ist zudem der im Bereich der naturwissenschaft lich arbeitenden Psychologie weit verbreitete materialistische Reduktionismus, nämlich die Annahme, daß das Psychische auf physiologischem Wege zu erklären ist. »In short, the commonest view of physiological psychology seems to be that it is a science which shows that some or all the events of our mental 25
Vgl. auch Dalton 1997, 5.
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life are physically conditioned upon certain nerve-structures, and thereby explains these events« (EW 1, 52). Der psychologische Erklärungsanspruch ist methodisch verfehlt und leitet sich aus antiquierten philosophischen Überzeugungen her. Dennoch sind die wissenschaft lichen Errungenschaften der experimentellen Psychologie unübersehbar, wie Dewey mit Blick auf die Sinnesphysiologie der »German psychologists« um Helmholtz – und auch in bezug auf »Bell’s discovery of the distinct nature of the sensory and motor nerves« – herausstellt. 26 Mit der physiologischen Methode konnte deutlich gemacht werden, daß die Perzeptionen keine einfachen, getrennten und unmittelbaren Bewußtseinstatsachen sind, sondern im Gegenteil »mediated psychical processes«, d. h. anders gesagt Ereignisse, die durch bestimmte komplexe (physische – und analog zu diesen auch durch psychische) Prozesse bedingt sind. 27 In diesem Sinne bedient sich der neue Psychologe biologischer Erkenntnisse, indem er die Lebenseinheit des Organismus und seinen Umweltbezug berücksichtigt. Hegels Vermittlung naturphilosophischer und psychologischer Zusammenhänge, v. a. seine Idee des Lebens, die die einzelnen psychischen oder geistigen Tätigkeiten in ein Ganzes integriert, wird an dieser Stelle von Dewey aufgegriffen und aktualisiert. Zum einen steht der einheitliche organische Lebensvollzug gegen seine abstrakte, sei es empiristische oder vermögenspsychologische Fragmentierung (vgl. EW 1, 56, 59); und zum anderen ermöglicht gerade das Verhältnis des Organismus zu seiner Umwelt auch in der Psychologie eine grundsätzliche Anerkennung derjenigen objektiven Lebensverhältnisse, die von den Sozial- und Kulturwissenschaften erforscht werden. 28 »The logic of life transcends the Vgl. EW 1, 55. Neben Morris und Peirce unterrichtete G. Stanley Hall zu der Zeit an der Johns Hopkins Universität – und führte Dewey in das Gebiet der »neuen Psychologie« ein. Vgl. Hahn 1969, XIV und Schneider 1975, VII f. In der Sache repräsentiert Hall aber eine materialistische Psychologie, die sich gegen die bewußtseinstheoretischen oder Hegelschen Grundlagen des Deweyschen Ansatzes stellt, ähnlich wie z. B. später Hodgson, der sich in seiner Rezension mit dem Titel Illusory Psychology (1886), abgedruckt in EW 1, XXV–XLI, kritisch von Dewey distanziert. 27 Vgl. EW 1, 55, 54. »For while no direct conclusions regarding the nature of mental activities or their causes can be drawn from the character of nervous structure or function, it is possible to reason indirectly from one to the other, to draw analogies and seek confi rmation.« (EW 1, 55). Im Unterschied zu Ansätzen einer unvermittelten physiologischen Erklärung psychischer Vorgänge hält Dewey fest: «Psychical events can be observed only through psychical means, and interpreted and explained by psychical conditions and facts.« (EW 1, 53). 28 »Th e idea of environment is a necessity to the idea of organism, and with the conception of environment comes the impossibility of considering psychical life as 26
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logic of nominalistic thought« – und überhaupt jede abstrakte Logik, die unfähig ist, Erfahrungs- und Entwicklungsprozesse zu denken. Die neue Psychologie »emphasizes the teleological element, not in any mechanical or external sense, but regarding life as an organism in which immanent ideas or purposes are realizing themselves through the development of experience« (EW 1, 60). In dieser Ausrichtung auf das Leben und seine intensive Erfahrungsdichte macht es die Psychologie erstmals möglich, ein adäquates Verständnis selbst der religiösen Natur des Menschen zu entwickeln. »We can conclude only by saying that, following the logic of life, it [new psychology] attempts to comprehend life« (EW 1, 60). Folgt Dewey hiermit einer Logik des Lebens, die in Hegels Philosophie des Geistes auch die Psychologie von innen bestimmt – mitsamt ihrer naturphilosophischen Grundlagen und sozialphilosophischen Ausrichtungen –, so kann man hier doch bereits die Frage stellen, inwiefern Hegels Philosophie mit Deweys biologischen und sozialanthropologischen bzw. sozialpragmatischen Annahmen des Organismus-Umwelt-Verhältnisses vereinbar ist.
IV. In einem weiteren Text, der in den unmittelbaren Forschungskontext seiner Psychologie (1887) gehört, beschäft igt sich Dewey mit dem Problem der psycho-physischen Relationen. Soul and Body, so sein Titel, erscheint im April des Jahres 1886. In ihm knüpft er an die Idee einer neuen Psychologie an, indem er den metaphysischen Dualismus (v. a. cartesianischer Prägung) und seine Fortexistenz im psychologischen Diskurs zurückweist – und an seiner Stelle ein naturphilosophisch-idealistisches Immanenzprinzip geltend macht. Im Anschluß an experimentelle Befunde der Wundtschen physiologischen Psychologie, die z. B. zielgerichtete Bewegungen im reflexartigen Reaktionsverlauf dokumentieren, nachdem bestimmte Hautpartien enthaupteter Frösche gereizt worden sind, spricht Dewey von einer teleologischen Immanenz des Psychischen im Physischen, sofern die Funktion der »nervous activity« (oder der »reflex action«) intentionale Qualitäten aufweist. 29
an individual, isolated thing developing in a vacuum. […] I refer to the growth of those vast and as yet undefi ned topics of inquiry which may be vaguely designated as the social and historical sciences […].« (EW 1, 56–57). In Deweys späteren Texten wird regelmäßig Hegels Name mit der Herausstellung der philosophischen Relevanz der Sozialforschung in einen Zusammenhang gebracht. Vgl. MW 3, 55 f. 29 »Th e simplest nerve action […] is always an adjustment. It is never a mere
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»We have gone from the sphere of physical to that of fi nal causation, and thereby we recognize that we have gone from the purely physical to the immanence of the psychical in the physical, directing the latter for its own end and purpose« (EW 1, 100). Teleologische Prinzipien werden notwendig, wenn man einerseits an der mechanischen Kausalität als Grundprinzip des Materiellen fest- und andererseits die metaphysischen Schwierigkeiten einer irgendwie rätselhaften psycho-physischen Verbindung fernhalten will. 30 Die Selbsterhaltung des Organismus involviert eine entsprechend teleologische Koordination der einzelnen Körperteile, z. B. sämtlicher Teile des Nervensystems. »The body is the organ of the soul«, wie Dewey in Anlehnung an Aristoteles’ Seelenlehre in De Anima und Hegels Wiederentdeckung derselben als Grundlage der Philosophie des Geistes sagt. 31 Der Körper ist (als ein psycho-physiologischer Organismus) Instrument und Manifestation der Seele – ihre Aktivitäten inkludieren körperliche Lernprozesse und bewirken eine Vergeistigung des natürlichen Körpers z. B. durch die Bildung von Gewohnheiten. 32 Die scheinbar direkte Übernahme der Teleologie des Hegelschen Leib-Seele-Verhältnisses, welches besagt, daß die Seele als transzendentes geistiges Prinzip das körperliche Dasein beherrscht und organisiert, indem sie sich in ihm (quasi immanent) zum Ausdruck bringt, wird von Dewey aber doch relativiert. Er unterstreicht die in der Psychologie notwendige Orientierung an experimentellem Tatsachenwissen und interpretiert das Leib-Seele-Verhältnis mit Hilfe des Stimulus-Response-Modells. Dieses Modell trägt dem methodischen Vorrang der Erfahrung Rechnung, indem es die psychische Empfi ndung von physischen Reizen abhängig macht. Ihre kausale Verknüpfung ist wohl ein notwendiger, aber kein zureichender Grund der psychischen Reaktion, sofern diese ihre eigenen
mechanical result of a stimulus, but always involves selection, inhibition, and response.« (EW 1, 103). 30 Auch eine evolutionsbiologische Erklärung der Teleologie aus natürlichen Ursachen überzeugt Dewey nicht, da auf diese Weise wiederum nur in die (dann bloß scheinbar mechanischen) Naturvorgänge selbst das Moment der zielgerichteten Entwicklung hineingeschmuggelt wird. »Th is theory attempts to make the teleological an accidental product of the mechanical. […] Darwinism, far from overthrowing this principle, merely establishes it as a general law of the universe, of the structure of things. Nature is made teleological all the way through.« (EW 1, 102, 103). 31 Vgl. EW 1, 114 und Hegel: TWA 10, 11. 32 Vgl. zu Hegels Gewohnheitsbegriff, an dem sich Dewey zu orientieren scheint: Hegel: TWA 10, 182–187.
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inneren Ursachen hat. 33 Der Körper fungiert als Stimulus der Seele, jener »is the spark which fi res the mind to light its own inextinguishable flame« (EW 1, 106). Die determinierende Kraft der Seele fi ndet ihre organische Realisierung in der Lokalisierung der psycho-physiologischen Funktionen. Diese sind zwar nicht ursprünglich lokalisiert, aber sie werden es im Zuge ihres immer auch körperlichen Erwerbs. Festzuhalten ist dabei, daß einfachere Funktionen – wie z. B. Atmen, Verdauen oder auch Schlucken – einigermaßen genau zu lokalisieren sind, während komplexere Tätigkeiten – wie z. B. Lesen, Schreiben, Gehen etc. – keineswegs ein bestimmtes körperliches Zentrum besitzen. »An ›idea‹, however simple it may seem, has not its physical basis in a cell, but in a group of cells, connected and interconnected by multitudinous fibres. If the idea be very complex it may possibly have relations to all cells in the brain« (EW 1, 110). Es fällt schwer, sich dem Eindruck zu entziehen, daß Dewey nur mit Mühe zwei widerstreitende Tendenzen in seinem Psychologiebegriff in eine Einheit zusammen zwingt. Einerseits folgt er dem Primat der experimentellen Methode der physiologischen Psychologie, und andererseits hält er an einem idealistischen Begriff des absoluten Selbstbewußtseins fest. Beides möchte Dewey miteinander versöhnen, indem er die Tatsachen bestätigt, die eine deskriptive Psychologie, ihre biologischen und sozial- bzw. kulturwissenschaft lichen Beziehungen sowie ein teleologisches Leib-Seele-Verhältnis in einen kohärenten Zusammenhang bringen. Die asymmetrische und hierarchische Vorrangstellung des Seelischen (im Unterschied zum Körperlichen) besteht in seiner transzendenten Stellung, nämlich darin, daß es sich im Körperlichen manifestiert oder ausdrückt, weil es das geistige Organisationsprinzip desselben bereitstellt. 34 Umgekehrt liegt in der methodischen Ausrichtung an den experimentellen Verfahren der Naturwissenschaften nicht nur ein sensualistischer Grundansatz, sondern auch eine Kritik des Spiritualismus, die in der Konsequenz der Deweyschen Entwicklung des Pragmatismus die Hegelsche Philosophie des Geistes nicht unberührt lassen wird. »We will begin with the facts, and inquire what principle they force upon us to explain them; we will not begin with a principle […].«35 In der idealistischen Naturphilosophie sprach man an dieser Stelle von ›Erregung‹ oder ›Erweckung‹. Bei Dewey heißt es dazu: »The physical process awakens the mind, it incites it to action; the mind, thereupon, spontaneously and by its own laws develops from itself a sensation.« (EW 1, 106). 34 »Th e soul is immanent in the body, not by virtue of the body as mere body, but because, being transcendent, it has expressed and manifested its nature in the body.« (EW 1, 113). 35 EW 1, 105. »Th ose who have asserted the spirituality of the soul have oft en 33
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V. Intensiv beschäft igt sich Dewey in zwei weiteren im Jahr 1886 publizierten Texten mit der Ausarbeitung der Psychologie als philosophische Methode. Ausdrücklich hält er fest, daß »Psychology, and not Logic, is the method of Philosophy« (EW 1, 149). Abweichend von Hegel und von der Schule des britischen Hegelianismus stellt er die Psychologie (oder die Philosophie des Geistes) in die Mitte zwischen Logik und Naturphilosophie, die als abstrakte und einseitige (formale oder materiale) philosophische Disziplinen gefaßt und wesentlich auf die Psychologie bezogen werden (vgl. EW 1, 148). In dem ersten der beiden Aufsätze, der unter dem Titel The Psychological Standpoint in der Zeitschrift Mind (Januar 1886) erscheint, situiert Dewey sein Psychologiekonzept in der Tradition der britischen Philosophie, indem er die psychologischen Grundlagen des Empirismus affi rmativ hervorhebt – und gleichzeitig (im Rekurs auf Green) auf bestimmte Schwachpunkte hinweist, die aus der methodisch inkonsequenten Durchführung des psychologischen Denkansatzes resultieren (vgl. EW 1, 144–145). Das heißt, daß z. B. in Lockes Ausrichtung auf Erfahrung eine Methode ins Leben gerufen wird, die sich primär psychologisch, nämlich in bezug auf bewußtseinsimmanente Gegebenheiten begreifen läßt. 36 Gleichwohl verrät Locke bereits im Ansatz diese methodische Haltung durch die Einführung erfahrungstranszendenter Größen wie ›mind‹ und ›matter‹, die nunmehr dazu verwendet werden, die Erfahrung zu erklären. »Instead of determining the nature of objects of experience by an account of our knowledge, he proceeded to explain our knowledge begun to build too high. They have taken as their fortress abstract thought, or the free-will. Now these offer, indeed, an impregnable refuge, but […] we can fi nally build higher and more fi rmly, because on a broader foundation, on the basis of sensation. […] Let us […] recognize that what holds in the basis of all scientific reasoning holds also in the rudiments of philosophical.« (EW 1, 104, 105). 36 Dewey beschreibt den psychologiemethodischen Grundzug Lockes folgendermaßen: »[T]he nature of all objects of philosophical inquiry is to be fi xed by fi nding out what experience says about them. And psychology is the scientific and systematic account of this experience.« (EW 1, 123). Daß Dewey eng bei dieser Defi nition bleibt, kann man aus den folgenden Ausführungen zum psychologischen Standpunkt gut ersehen: »Now the psychological standpoint is this: nothing shall be admitted into philosophy which does not show itself in experience, and its nature, that is, its place in experience shall be fi xed by an account of the process of knowledge – by Psychology.« (EW 1, 124). Und noch einmal mit Blick auf unerlaubte ontologische Annahmen: »How experience became we shall never fi nd out, for the reason that experience always is. We shall never account for it by referring it to something else, for ›something else‹ always is only for and in experience.« (EW 1, 131).
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by reference to certain unknowable substances […]« (EW 1, 124). Diese grundlegende und zutiefst problematische Operation fi ndet Dewey in der Nachfolge Lockes bei allen Vertretern des Empirismus – von Berkeley bis Mill – in typisierter Form wieder. Stets werden angeblich ursprüngliche Momente der Erfahrung dogmatisch von dieser abgetrennt und zu ihrer Bestimmung verwendet: Berkeleys Gottesbegriff gehört hierher ebenso wie Humes Sinnesatomismus. Formelhaft spricht Dewey von »ontologischen« Annahmen, die die psychologische Immanenz verunmöglichen, indem sie ihr eine abstrakte Vorstellung zugrunde legen. Besonders deutlich werden die impliziten Ontologien kritisch adressiert, wenn sich Dewey dann im zweiten Teil des Textes mit realistischen Positionen auseinandersetzt. Diese nehmen regelmäßig auf ein Ding an sich Bezug, wenn sie den Objektbezug der Erfahrung auseinanderlegen wollen. Als ebenso problematisch erweist sich Bains subjektiver Idealismus, der den herkömmlichen Dualismus zwischen einem Subjekt der Erfahrung und materiellen Dingen der Außenwelt bewußtseinsphilosophisch reproduziert. 37 In beiden Fällen plädiert Dewey für eine dialektische Problemauflösung, die den Gegensatz zwischen Erfahrungen und Dingen an sich bzw. zwischen einem »individuellen« und einem »allgemeinen« Bewußtsein in einem »absoluten Idealismus« aufhebt. (Vgl. EW 1, 135, 141) »If the nature of all objects of philosophical inquiry is to be determined from fi xing their place within conscious experience, then there is no criterion outside of or beyond or behind just consciousness itself.« (EW 1, 140) An diesem entscheidenden Punkt der Argumentation lassen sich wiederum zwei Sichtweisen Deweys unterscheiden. Einerseits unterstreicht er den psychologischen Standpunkt, indem er auf die konstitutionsgenetischen Prozesse des Bewußtseins – und damit auf die notwendige Erforschung eben dieser Prozesse zur Klärung der begriffl ichen Terminologie hinweist (in einer Wendung gegen die stillschweigende Übernahme traditioneller Lehrmeinungen z. B. der Begriffspaare Subjekt-Objekt oder individuellallgemein). (Vgl. EW 1, 139 f.) Andererseits versteht Dewey die psychologische Erfahrung im Hegelschen Sinne einer absoluten Immanenz, sofern es im Bewußtsein selbst liegt, sich seiner Ursprünge bewußt zu werden. »Conscious experience testifies, in the primary aspect, my individual self is a ›transition‹, is a process of becoming. But it testifies also that this individual self is conscious of the transition, that it knows the process by Vgl. EW 1, 133 ff. Dewey bezieht sich auf das für die zweite Jahrhunderthälft e maßgebliche Werk der empiristischen Psychologie, nämlich auf Bains The Senses and the Intellect (1855). Darin wird bereits die experimentelle Methode der Physiologie hinsichtlich assoziationspsychologischer Themen zur Anwendung gebracht. 37
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which it has become.«38 Nicht weil er an einem absoluten Selbstbewußtsein festhält, sondern weil er sich gegen die philosophische Disziplinierung der Psychologie – im Sinne ihrer methodischen Gebundenheit an ein Einzelbewußtsein – ausspricht, setzt sich Dewey von den Positionen des britischen Idealismus ab. Gegen Green macht er geltend, daß der Primat der Logik verhindert, daß die Erfahrung des Absoluten überhaupt positiv, und sei es partiell, bestimmt werden kann. 39 Gegen Caird wird eingewendet, daß die (psychologischen) Manifestationen des Absoluten nicht lediglich in einem von der Logik als (eigentlich philosophischer) Wissenschaft des Absoluten separierten Bereich einer Phänomenologie abzuhandeln sind (vgl. EW 1, 156, 160f.). In den Schlußpassagen von Psychology as Philosophic Method wird auch ausdrücklich gegen Hegel die psychologische Methode vor der logischen ausgezeichnet, indem Dewey auf dem immanenten Existenzbezug jener insistiert. 40 Der Übergang von der Logik zur Naturphilosophie ist demnach ein psychologisch zu vermittelnder, sofern allein in der Psychologie oder Philosophie des Geistes die lebendige Konkretion der bewußten Erfahrung auseinandergelegt werden kann. (vgl. EW 1, 164) Die Psychologie beginnt mit den Tatsachen, die sie im Licht des absoluten Bewußtseins
EW 1, 142. In diesen Überlegungen Deweys kulminiert gewissermaßen sein ›absolutistischer‹ Hegelianismus. An anderer Stelle heißt es nochmals zugespitzt: »Consciousness is the self-related. Stated from the positive side, consciousness has shown that it involves within itself a process of becoming, and that this process becomes conscious of itself. Th is process is the individual consciousness; but, since it is conscious of itself, it is consciousness of the universal consciousness. All consciousness, in short, is self-consciousness, and the self is the universal consciousness, for which all process is and which, therefore, always is. The individual consciousness is but the process of realization of the universal consciousness through itself.« (EW 1, 142). 39 Vgl. EW 1, 152 f. Der Greensche Weg von Kant zu Hegel bleibt problematisch, sofern das Sein der Erfahrung bei der per se logischen Bestimmung des Absoluten nicht berücksichtigt wird – und daher lediglich Negativaussagen möglich sind. Ebenso verhält es sich bei der moralischen Erfahrung, denn: »with a purely logical method, one can end only with the must be or the ought: the is vanishes, because it has been abstracted from.« (EW 1, 154). Trotzdem schmälert diese Einschränkung nicht die große Bedeutung, die Greens Idealismus für Deweys in der Psychologie entwickelten Bewußtseinsbegriff besitzt. Vgl. EW 3, 14 ff. 40 Leicht überspitzt könnte man sagen, daß der Primat der Logik in Deweys Sicht eine Kantische Erbschaft in Hegels und darüber hinaus auch in Greens Idealismus darstellt. Mit Morris von Hegel zu Kant zu gelangen bedeutet dagegen, die dialektische Methode in der wirklichen Erfahrung zu verankern, d. h. in einer vielfach vermittelt vorgegebenen Welt. Vgl. EW 1, 152 f. 38
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entfaltet, während die Logik per se eine abstrakte Disziplin darstellt, die die Wirklichkeit des gelebten Lebens quasi als für sie selbst unerklärliche Größe voraussetzen muß (vgl. EW 1, 166–167). »Spirit is reached by a logical process, and the logical result is that as fact it is not reached at all. As concrete, it is beyond the reach of any abstract process« (EW 1, 165). Es genügt nicht, mit Hegel den Geist in den Mittelpunkt der Philosophie zu stellen, da bei ihm der Geist im wesentlichen logisch bestimmt wird. Das hat zur Folge, daß die Phänomenologie von der Logik, und auch die Zeitlichkeit von der Ewigkeit abgetrennt werden (vgl. EW 1, 160f.). Hiermit unterliegt Hegel selbst einer Problematik, für deren Analyse er doch mit seinem Wissenschaft sbegriff die Mittel bereitgestellt hat. Beides hebt Dewey ausdrücklich hervor (vgl. EW 1, 158ff.). Tatsächlich behauptet Dewey mit Hegel, daß auf dialektischem Wege die unvermeidliche Produktion abstrakter Wahrheiten in einen kontinuierlichen Korrektur- und Revisionsprozeß eingebunden werden kann, der die notwendige Implikation des Absoluten, nämlich die Beziehung auf Erfahrung (und auf ein Selbstbewußtwerden derselben), fortlaufend expliziert. Immanent kritisiert werden so alle möglichen abstrakten Teilwahrheiten, die sich als ursprüngliche ausgeben und verselbständigen. Durch ihre Hypostasierung werden die impliziten holistischen Relationen verdeckt. Dies gilt auch für die fundamentalistische Weltanschauungsproduktion, die mit einem positivistischen Selbstverständnis eine Einzelwissenschaft zur Grund- und Leitwissenschaft erklärt: »Mathematics, physics, biology exist, because conscious experience reveals itself to be of such a nature, that one may make virtual abstraction from the whole, and consider a part by itself, without damage, so long as the treatment is purely scientific, that is, so long as the implicit connection with the whole is left undisturbed, and the attempt is not made to present this partial science as metaphysic, or as an explanation of the whole, as in the usual fashion of our uncritical so-called ›scientific philosophies‹« (EW 1, 159). Die pragmatistischen Nachwirkungen der Hegelrezeption Deweys sind an dieser Stelle offensichtlich. In Experience and Nature (1925) oder auch in The Quest for Certainty (1929) ist das Problem der ›ontologischen‹ bzw. intellektualistischen Bestimmung der Erfahrung ›von außen‹, d. h. durch die Verabsolutierung eines wissenschaft sfähigen (gewissen, reinen, erkenntnistheoretischen) Aspekts derselben, ein Dauerthema. Auch hier gilt, daß nicht die Abstraktion als solche, sondern die philosophisch-theoretizistische Abstraktion der Abstraktion, d. h. die Abstraktionsvergessenheit bzw. die unmittelbare Vergeistigung des Abstrakten, das Kernproblem
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ausmacht. 41 »The only wonder is that men should still bow in spirit before this creation of their own abstracting thought, and reverence it as the cause and ground of all reality and knowledge« (EW 1, 162). Begreift Dewey in seinen psychologischen Early Works »the science of spirit« in einem Hegelschen Sinne als philosophisch grundlegende oder erste Wissenschaft, so wendet er sich doch bereits gegen ein »Leben in Knechtschaft«, das in einer anthropomorphen Logik gründet, nämlich in der Einführung transzendenter Instanzen in die Immanenz der psychologischen Erfahrung. 42 Daß das Hegelsche Absolute womöglich selbst eine versteckte Transzendenz ins Spiel bringt und nicht nur bestimmte Denkmöglichkeiten ihrer kritischen Darstellung eröff net, das scheint Dewey erst viel später deutlich geworden zu sein.
VI. Seit 1890 setzt sich Dewey verstärkt mit den Problemen der philosophischen Logik auseinander – und kommt in diesem Zusammenhang erneut auf Hegel zu sprechen. Ich beschränke mich hier auf einen Aufsatz, den Dewey unter dem Titel The Present Position of Logical Theory im Oktober 1891 in The Monist publiziert. Die gegenwärtige Situation der Logik ist demnach durch die Fortschritte der wissenschaft lichen Forschung bestimmt, in vielen Bereichen die Rationalität der empirischen Tatsachen herausgearbeitet zu haben (vgl. EW 3, 141). Mit diesen Fortschritten verbindet sich das Bedürfnis nach einer Aktualisierung der Logik nach Hegelschem Vorbild. Im Unterschied zur formalen Logik, die sich an dem alten »scholastischen« Vorurteil eines reinen Denkens (ohne Objektbezug) orientiert – und noch das zeitgenössische Logikverständnis dominiert –, begreift Dewey Logik als die Theorie der wissenschaft lichen Methode. »Logic, then, has for its essential problem the consideration of the various typical methods and guiding principles which thought assumes in its Vgl. Rölli 2009, 308–314. Zwar liegt Dewey zufolge in dem endlichen menschlichen Bewußtsein ein Bezug auf das Absolute, d. h. aber ausdrücklich nicht, daß dieses Absolute als Existenzgrund logisch fungibel gemacht werden kann. Im Rekurs auf Bradleys Principles of Logic hält es Dewey für unmöglich, zwischen Ursache und Grund, d. h. zwischen der natürlichen Kausalität und der theoretischen Begründungslogik, einen direkten Zusammenhang herzustellen. Vgl. EW 1, 166. Existenz und Logik sind weder »pantheistisch« in eins noch »dualistisch« auseinander zu denken, vielmehr muß sich die Psycho-Logik ebenso wie die abstrakte ›reine‹ Logik in Beziehung auf eine vorausgesetzte Existenz entwickeln, die sie dabei aber als solche expliziert. Vgl. EW 1, 165 f. 41
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effort to detect, master and report fact« (EW 1, 126). Ihre Aufgabe besteht darin, die methodischen Prinzipien der wissenschaft lichen Forschungspraxis darzustellen. Und sofern sich diese auf operationale Kenntnisse der Empirie bezieht, löst sich auch die Logik aus dem dualistischen Schema, das das rein analytische Denken von der veränderlichen Welt der Dinge abtrennt oder isoliert. 43 Mit der induktiven Logik etabliert sich historisch (mit Bacons Novum Organon) ein empiristisches Paradigma, das mit der alten scholastischen Logik bricht – und doch insofern weiterhin metaphysisch bestimmt bleibt, als es das genannte dualistische Schema fortschreibt. 44 Anders verhält es sich mit der transzendentalen Logik, deren Kritik der scholastischen Erbschaft gründlicher ausfällt – weil sie den realen wissenschaft lichen Forschungspraktiken den nötigen Tribut zollt (vgl. EW 3, 133). An diesem Punkt angelangt stellt Dewey die naheliegende Frage, warum der »Transzendentalismus« unter diesen guten Vorbedingungen bei Wissenschaft lern trotzdem keine Popularität und Verbreitung gefunden hat? (Vgl. EW 3, 134) Die Antworten, die Dewey gibt, werfen ein helles Licht auf die Eigentümlichkeiten seiner Hegel-Rezeption. Das erste Problem der wissenschaft lichen Akzeptanz der transzendentalen Logik liegt darin begründet, daß man sich lediglich mit der Kantischen Position beschäft igt und nicht mit der Hegelschen. Im Folgenden präzisiert Dewey diese vielleicht zunächst erstaunliche Antwort. Zwar verbindet man zu Recht mit Kant den Begriff des Transzendentalen – aber Kant bleibt seiner Kritik einer erfahrungsblinden Logik und Metaphysik zum Trotz der Die Absurdität des Zeitgeistes, welcher die Wissenschaft spraxis und ein Logikverständnis, das diese Praxis reflektiert, nicht zusammendenken kann und will, bezieht Dewey auf die fortwirkende Kraft traditioneller Autoritäten. Die Situation schildert er wie folgt: »Any attempt to state, in general, or to work out, in detail, the principle of the intrinsic and fruitful relation of fact and thought which science, without conscious reflection, constantly employs in practice, seems ›metaphysical‹ or even absurd.« (EW 3, 127). 44 Vgl. EW 3, 129 ff . Anhand Mills System of Logic (1843) stellt Dewey die Errungenschaft der empiristischen Logik heraus, die in der induktionstheoretischen Ergänzung der deduktiven Logik bestehe. »Its great advantage over the old scholastic logic lies not in its logic as such, but in something back of the logic – in its account of the derivation of the material of judgement.« (EW 3, 130). Problematisch bleibt allerdings, daß sich Mill nicht am »datum of science«, d. h. an der »fruitful inquiry into fact by intelligence« orientiert, sondern an den außerwissenschaft lichen Gegebenheiten von einzelnen (zugleich wissenschaft lichen und alltäglichen) Sinneswahrnehmungen. Vgl. EW 3, 131. Verbunden ist diese Ausrichtung mit der Übernahme der metaphysischen Grundannahme der scholastisch-deduktiven Logik, d. i. eben die strikte Trennung des Formalen und des Materialen. Vgl. EW 3, 132. 43
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dualistischen Konzeption treu, nämlich auf der einen Seite empiristische Sinneseindrücke a posteriori und auf der anderen Seite apriorische Verstandesbegriffe zu postulieren. 45 Wenn daher die transzendentale Logik überhaupt eine wissenschaftstheoretische Resonanz hervorgerufen hat – und dies Dewey zufolge nur in der Kantischen Tradition der Erkenntnistheorie einigermaßen gelungen ist –, so sind diese Erfolge wenig bedeutsam, da erst mit Hegel ein echtes Verständnis der Wissenschaft und ihrer Forschungslogik erreicht ist. »As against the usual opinion of the possibility of some compromise between science and Kant, while the scientific spirit and Hegel are at antipodes, it appears to me it is Kant who does violence to science, while Hegel (I speak of his essential method and not of any particular result) is the quintessence of the scientific spirit« (EW 3, 134). Dewey kommt zu diesem Ergebnis, weil und insofern er die statischen Urteilsfunktionen des Kantischen Apriorismus ebenso wie die kritische Differenzierung zwischen Erscheinungen und Dingen an sich mit Hegels vermittlungsbasierten Prozeßdenken wissenschaft licher Objektivität kontrastiert. Zum Beispiel verhandelt die von Green und anderen geführte Diskussion über den logischen Status der Relationen lediglich empiristische und Kantische Positionen, während allein Hegel eine wissenschaft snahe Deutung des Problems gelingt: »Relations of thought are, to Hegel, the typical forms of meaning which the subject-matter takes in its various progressive stages of being understood« (EW 3, 137). Hegels Aufweis der systematischen Relationen eines wissenschaft lichen Sachverhalts entspricht der Logik der wissenschaft lichen Methode, während die Empiristen – und mit Einschränkungen auch die transzendentalphilosophisch gebildeten Erkenntnistheoretiker – dagegen von einer (unmittelbar gewissen) Erfahrung träumen, die ohne eine der Empirie immanente Rationalität auszukommen verspricht. Entscheidend ist daher Dewey zufolge, daß Hegels »main principle would be unimpeached until it is shown that fact has not a systematic, or interconnected, meaning, but is a mere hodgepodge of fragments. Whether the scientific spirit would have any interest in such a hodgepodge may, at least, be questioned« (EW 3, 139). Deweys Strategie besteht also darin, Hegels Wissenschaft sbegriff der zeitgenössischen experimentellen Wissenschaft spraxis anzunähern, indem auf der logischen Einsicht in die reziproken Verhältnisse zwischen dem Sein der Dinge und dem Sein des Denkens insistiert wird. 46 Diese Einsicht Hegels 45 46
Vgl. EW 3, 136. Vgl. auch MW 3, 86. Hiermit verbinden sich auch mögliche skeptische Anklänge: »The question
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bewertet Dewey als eine unzeitgemäße, die im Grunde vorwegnimmt, was erst in der späteren Wissenschaft sentwicklung deutlich wird. (Vgl. EW 3, 139) »Hegel, on other words, anticipated somewhat the actual outcome of the scientific movement« (EW 3, 140), indem er einen rationalen organischen Zusammenhang der wissenschaft lichen Erkenntnisse annimmt. Sein Standpunkt mußte daher als spekulativ und obskur erscheinen. In diesem spekulativ-obskuren Sinne hatte natürlich auch Hegel eine breite Wirkung – aber diese Wirkung beschränkte sich in erster Linie auf pseudowissenschaft liche Naturphilosophie oder auf bloß historische Arbeiten. 47 Auf der Agenda steht eine Wiederentdeckung Hegels, die sich von den bisherigen Rezeptionswellen radikal unterscheidet.
VII. Der Aufgabe, eine Logik als Theorie der Forschung zu entwickeln, wird Dewey bis zu seinem Lebensende treu bleiben. Seine ›große Logik‹ wird erst im Jahr 1938 publiziert – und steht in ihrer biologische und kulturelle Dimensionen umfassenden bzw. auch erkenntnistheoretische und sprachphilosophische Positionen in sich aufhebenden Theorieanlage durchaus noch in einer Hegelschen Denktradition. Diese Traditionslinie ist aber nunmehr stark in sich gebrochen und hat die Entwicklung der pragmatistischen Idealismuskritik hinter sich. Zur Verdeutlichung dieses Kritikansatzes ziehe ich einen der frühesten Texte heran, in dem Dewey auf den immanenten Handlungsbezug des philosophischen Denkens reflektiert: The Significance of the Problem of Knowledge (1897). In dem Aufsatz verändert Dewey die traditionelle Problemstellung, indem er herausstreicht,
upon which the ›refutation‹ of Hegel turns is not in showing that formal ›thought‹ cannot give birth to truth except through the fructifying touch of ›experience‹. The question is simply whether fact – the subject-matter of knowledge – is such as Hegel presents it.« (EW 3, 138). 47 »Hegel, it is true, overshadowed Kant entirely for a considerable period. But the Hegelian régime was partly pyrotechnical rather than scientific in character; and, partly, so far as it was scientific, it exhausted itself in stimulating various detailed scientific movements – as in the history of politics, religion, art, etc. In these lines […] the movement found some practical excuse for being. But the result of the case was – and its present status is – that the principle of Hegel being, for the time, lost either in display or dialectical fi reworks, or in application to specific subjects, the principle itself has never met with any general investigation.« (EW 3, 134). Diese historische Einschätzung der Tragweite der Hegel-Rezeption im 19. Jahrhundert wird Dewey später v. a. im Hinblick auf die entstehenden Sozialwissenschaften revidieren; s. u.
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daß die Bedeutung des Erkenntnisproblems einen gesellschaft lichen und historischen Hintergrund hat. »The problem is one which social life, the organized practice of mankind, has had to face« – es handelt sich nicht um ein rein innerphilosophisches oder intellektualistisches Problem (EW 5, 5). Und er fügt hinzu: »I suggest that the problem of the possibility of knowledge is but an aspect of the question of the relation of knowing to acting, of theory to practice.« (Ebd.) Was genau verbindet Dewey aber mit diesem Vorschlag? Zunächst fällt auf, daß die philosophische Problemstellung auf wirkliche Probleme des sozialen Lebens bezogen wird. Das Problematische des Problems wird demzufolge nicht philosophisch hervorgebracht, sondern »received […] from the world of action« (EW 5, 6), wenngleich das Problem philosophisch konstruiert, begriffl ich gefaßt oder artikuliert werden muß – und nicht anders dogmatisch vorgegeben sein kann. Genau an dieser paradoxen Stelle lauert die – später mit der ›Suche nach Gewißheit‹ verbundene – Gefahr eines intellektualistischen Fehlschlusses. In einer Widersprüchlichkeit des Platonischen Systems macht sie Dewey historisch dingfest: »Theory is ultimately to be applied to practice; but in the meantime the theory must be worked out as theory or else no application. Th is represents the peculiar equilibrium and the peculiar point of contradiction in the Platonic system. All philosophy is simply for the sake of the organization and regulation of social life; and yet the philosophers must be a class by themselves, working out their peculiar problems with their own particular tools« (EW 5, 8). Mit Aristoteles verselbständigt sich dann die philosophische Theorie und macht sich frei von den drängenden, lebenspraktischen – und eigentlich sokratischen – Fragen. Mit großen Schritten geht Dewey in seinen weiteren Ausführungen durch die Geschichte, wobei auff ällt, daß die rationalistischen Systeme und die empiristische Schule der Neuzeit nun beide als »one-sided factors of social life« bezeichnet werden (EW 5, 18). Auch Leibniz repräsentiert das konservative Prinzip der christlichen Kirche und des römischen Rechts, das als bloß einseitiges Extrem ein Korrektiv des empiristischen Individualismus und wissenschaft lichen Fortschrittsglaubens darstellt – und nicht mehr als quasi protohegelsches, abstrakte Einseitigkeiten spekulativ vermittelndes Denken angesehen werden kann. 48 Die neuartige Auflösung dieses Gegensatzes liegt nunmehr in der Explikation dessen, was die zwei philosophischen Richtungen als gemeinsame Prämisse voraussetzen, nämlich »the tacit reference to action« (EW 5, 19). Der Handlungsbezug bricht die Selbstgenügsamkeit der Vernunft auf – ohne doch dabei die ideellen Errungenschaften der 48
Vgl. dazu Deweys Leibniz-Studie (1888) in EW 1, 251–435.
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Zivilisation preisgeben zu müssen. (Vgl. EW 5, 20 f.) Entscheidend ist, daß in der neuzeitlichen Wissenschaft selbst, nämlich in der von ihr entwikkelten experimentellen Methode, der besagte Handlungsbezug eingelöst ist. »Knowledge can defi ne the percept and elaborate the concept, but their union can be found only in action. The experimental method of modern science, its erection into the ultimate mode of verification, is simply this fact obtaining recognition« (EW 5, 21). Wiederum erscheint Dewey die Psychologie, nun aber im Verbund mit den neuen Sozialwissenschaften, als geeignet, den gestellten theoretischen Anforderungen zu genügen. Erhellend ist in diesem Zusammenhang eine Bemerkung Deweys, die sich in dem Aufsatz Human Nature (1932) fi ndet: »Aside from any metaphysical formulation, it [nämlich Hegels Überzeugung, daß ein Wissen von der menschlichen Natur nur erlangt werden kann »through its great institutional products – language, religion, law and the state, the arts«; Vf.] influenced for a generation or more German students of comparative language, religion and law and was a great factor in producing the conception of a social mind which was made the basis of an entire school of social psychology« (LW 6, 31). Berücksichtigt man diese Aussage, so wird nur schwer zu entscheiden sein, inwiefern die pragmatistischen oder experimentalistischen Grundannahmen automatisch den Hegelianismus verdrängen. 49 Wie gesehen, tendiert der frühe Dewey dazu, dem Hegelschen Absoluten einen prozeßphilosophischen und d. h. quasi-experimentellen Sinn zu geben, der insbesondere die Aufnahme politischer und sozialer Themen erlaubt. Auch in The Significance of the Problem of Knowledge kann man sehen, daß die naturalistische und experimentelle Seite der Psychologie nicht allein ihre besondere Stellung begründet. Gerade auch in ihrem Bezug auf ethische und politische Ideen, d. h. in der Erforschung besonderer Werte und ihrer Realisierungsbedingungen, liegt ihre enorme Bedeutung. »Psychology is the attempt to state in detail the machinery of the individual considered as the instrument and organ through which social action operates. It is the answer to Kant’s demand for the formal phase of experience – how experience as such is constituted. […] Psychology is the democratic movement come to consciousness.«50
Vgl. dazu etwa die generelle Aussage Deweys, daß insbesondere die zunehmende Relevanz der Biologie – durch den Einfluß Meads – »converted my Hegelianism into something empirical & experimental […].« Dewey to Joseph Ratner, 9 July 1946, Joseph Ratner/John Dewey Papers, Special Collections, Morris Library, Southern Illinois University at Carbondale, zit. nach Sidney Ratner 1985, XIII. 50 EW 5, 23. Unterstrichen wird diese Interpretationslinie durch eine Bemerkung 49
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VIII. Ich kehre nun resümierend zu der noch offenen Frage nach dem Depositum zurück, das Hegel im Denken Deweys hinterlassen hat, indem ich abschließend mit einem Blick auf die Suche nach Gewißheit (1929) die Spuren Hegels im Pragmatismus Deweys ausfi ndig zu machen suche. 51 Zwar kann man generell sagen, daß Dewey dort auch Hegel in die philosophische Bewegung einordnet, die »im Denken den Gefahren der Ungewißheit« zu entkommen sucht (SG, 10). Das kommt an einer Stelle gut zum Vorschein, wo Dewey auf Hegels Geschichtsphilosophie rekurriert, um den Fortbestand der theoretizistischen Philosophie zu bestimmen. 52 Dennoch gibt es im Text Anhaltspunkte, die grundsätzliche Kritik, die Dewey an Hegel übt, zu differenzieren. Zunächst reflektiert Dewey auf die besondere historische Wissenschaft ssituation, die mit der wissenschaft lichen Revolution des 17. Jahrhunderts entsteht: »Eine mathematische Naturwissenschaft erhob den Anspruch, die einzig rationale Naturphilosophie zu sein« (SG, 32). Mit diesem neuartigen Anspruch verbindet sich die eigentümlich moderne Problemstellung der Philosophie. Ihre Aufgabe besteht nun im Kern darin, zwischen der wissenschaft lichen Naturforschung einerseits und den traditionellen geistigen Werten andererseits zu vermitteln. Der implizite Dualismus der Problemstellung ist dabei für Dewey ein Indiz ihres »künstlichen« Charakters, sofern der traditionelle Primat des Erkennens dafür verantwortlich ist, daß sämtliche Erfahrungsqualitäten und praktischen Deweys von 1909: »It was the work of Hegel to attempt to fi ll in the empty reason of Kant with the concrete contents of history. […] The outcome was the assertion that history is reason, and reason is history: the actual is rational, the rational is the actual.« (MW 4, 43). Diese Gleichsetzung von Vernunft und Geschichte bzw. Wirklichkeit begreift Dewey in ihrer Ambivalenz – mit Bezug auf die Prozeßförmigkeit des wirklichen Geschehens –, wenn er weiter schreibt: »It gave the pleasant appearance […] of being specifically an idealization of the Prussian nation […]. But in intellectual and practical effect, it lifted the idea of process above that of fi xed origins and fi xed ends, and presented the social and moral order, as well as the intellectual, as a scene of becoming, and it located reason somewhere within the struggles of life.« (ebd.). 51 Vgl. auch Dewey 1939, 392. 52 Mit Hegel wird konstatiert: »Der Wechsel von der Religion zur Philosophie war formal so groß, daß ihre inhaltliche Identität leicht übersehen wird.« (SG, 18). Diese Identität ist charakteristisch für die Metaphysik seit Aristoteles – denn »das Sein, mit dem sich die Philosophie befaßt«, ist »das Gute« und stimmt »mit den Erfordernissen der Logik« überein –; »der Glaube, das Göttliche umfasse die Welt, wurde […] zur Basis der Philosophie gemacht […].« (SG, 19). Von dieser »gegenwärtig relevanten« Auff assung der Philosophie will sich Dewey allerdings distanzieren. Vgl. SG, 25.
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Zielsetzungen, die nicht mit dem naturwissenschaft lichen Gegenstandsbereich verschmelzen, aus dem zumeist mechanistisch gefaßten Seinsbereich des Erkennens herausfallen (Vgl. SG, 47, 54f.). Mit Blick auf die jeweils verfolgte Versöhnungs- oder Vermittlungsstrategie (des Gegensatzes von Geist und Materie) unterscheidet Dewey die verschiedenen philosophischen Ansätze. Einer von ihnen ist Hegels Idealismus, der »auf dem Weg der Integration« – und nicht wie Kant »mittels der Gebietsteilung« – das Problem zu lösen unternimmt (Vgl. SG, 65). Hegels Position innerhalb der Philosophie der Moderne ist Dewey zufolge eine ambivalente. Zum einen übernimmt auch Hegel die modernetypische Problemstellung – und akzeptiert die intellektualistischen Grundprämissen, die mit der Geringschätzung der per se ungewissen oder riskanten Praxis zusammenhängen. 53 Der »Sitz der geistigen Autorität« ist bei ihm eine absolute Vernunft , welche den »gediegenen Sinn« und die »soliden Werte« begründet, die »in wirklichen Institutionen und Künsten enthalten sind« (SG, 66). Der »absolute Charakter« dieses Sinns und dieser Werte »zeigt sich darin, daß sie sich gemäß einer notwendigen und zwingenden logischen Entwicklung als Manifestationen des absoluten Geistes erweisen […]« (SG, 67). Wie Dewey an mehreren Stellen seines Textes verdeutlicht, führt das dialektische Idealisierungsverfahren zu einer Verdinglichung oder Verselbständigung der begriffl ichen Relationen, indem sie z. B das Gute mit dem höchsten Sein verbinden oder auch die Erkenntnis in einer umfassenden Erfahrung aufheben. 54 Durch diese überambitionierte Rationalisierung des Wirklichen wird auch der instrumentalistische Lebensweltbezug des Erkennens negiert, der durch die experimentelle Methode zu gewährleisten ist. 55 Ideen verbürgen nicht die absolute Objektivität der Begriffe, sondern sind als Hypothesen zu fassen, die in einen unabschließbaren Forschungsprozeß
Vgl. SG, 219, 228, 295, 301. Vgl. SG, 180–186, 258–266, 296. An anderer Stelle unterstreicht Dewey, daß die »Logik des neo-hegelianischen Idealismus […] die Rolle des Denkens überproportional vergrößert«, weil »das Denken in letzter Analyse sein Objekt und sogar das Universum […] konstituiert.« (Dewey 1925, 32–33). 55 Zum »logischen Charakter« des Realen vgl. SG, 181–182 und zum Instrumentalismus SG, 219–221. Die experimentelle Methode wird z. B. erläutert in SG, 223 ff. Insgesamt gilt: »Nichts könnte törichter sein als der Versuch, ihre Existenz überhaupt [von Erfahrungsqualitäten; Vf.] zu rechtfertigen; es gibt sie einfach. Was unvermeidlich ist, bedarf keines Beweises seiner Existenz.« (SG, 298). Die Gegebenheit der Erfahrung ist dabei eine genuin problematische, die das Erkennen zum Zweck der Entwicklung von Lösungsstrategien herausfordert. Gleichwohl wäre es Dewey zufolge verfehlt, die empirische Situation in einem (von ihr abgeleiteten) Sein des Erkennens bzw. des wissenschaft lichen Geistes aufgehen zu lassen. 53
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involviert sind – und hiermit der von Dewey geforderten Naturalisierung der Intelligenz entsprechen. 56 Zum anderen aber begreift Hegel das Vermittlungsproblem der metaphysischen Ausgangsopposition – z. B. der typisch cartesianischen Zweisubstanzenlehre – als eines, das im Zuge seiner spekulativen Auflösung verschwindet. An den sozialen oder objektiven Geist von Hegels Wirklichkeitsverständnis schließt sich Dewey in seinen Ethiken grundsätzlich an, wenngleich er zunehmend deutlicher sieht, daß die Idee des Absoluten mit der experimentellen Methode doch nicht zu vereinbaren ist. 57 In der von Dewey zeit seines Lebens immer wieder erneuerten Kritik der Kantischen Sollensmoral wird deutlich, wie bestimmte Hegelsche Motive einer Philosophie des objektiven Geistes, der sich z. B. in einer institutionell gefügten »Handlungsmacht« sedimentiert, in einer depotenzierten Form weiterleben. 58 Die sozialen Verhältnisse manifestieren demnach ebensosehr einen objektiven Geist, wie sie nach einer permanenten »sozialen Rekonstruktion« verlangen. 59 Es entspricht Deweys Idee der Demokratie, daß die Freiheit kein vorab gegebenes oder endgültig erreichbares allgemeines Gut sein kann. Handlungsfreiheit ist quasi ein Produkt sozialer Verhältnisse – und wirkt auf diese zurück. Sie muß hervorgebracht werden, indem z. B. die Bildungsinstitutionen in einer Weise restrukturiert werden, daß die experimentelle Erforschung der individuellen Kommunikationsfähigkei-
»Eine Defi nition des Wesens von Ideen auf der Grundlage von zu vollziehenden Operationen und die Überprüfung der Gültigkeit von Ideen durch die Konsequenzen dieser Operationen stellt die Verbindung innerhalb der konkreten Erfahrung her.« (SG, 117). Vgl. auch SG 127, 167 – und zur Intelligenz verstanden als natürliche Vernunft : SG, 199–201, 214–215. 57 Vgl. Dewey 1928a, 92. »In der erwähnten Lehre [Hegels; Vf.] ist ›Geist‹ ein transzendenter und blinder Name für etwas, was sich empirisch als jener Aspekt sozialer Phänomene erweist, der Zivilisation genannt wird.« (ebd.). Häufig wird in den neo-pragmatistischen Diskussionen unterschlagen, daß die experimentelle Methode bei Dewey im Kontext seines ›kulturellen Naturalismus‹ steht. »Aber ich glaube, daß der Weg eines Bündnisses von Philosophie mit Physik und Biologie nicht direkt ist, sondern über die Sozialwissenschaften führt.« (Dewey 1929, 214). Auch in der Logik spiegelt sich wieder, daß »die Geschichte des philosophischen Denkens […] ein Gebiet der Sozialforschung darstellt« (ebd., 198), wie Dewey nicht nur im Hinblick auf Hegel, sondern ebenso im Rekurs auf Mill erläutert. Vgl. ebd., 204–205. 58 Vgl. Dewey 1928b, 279, wo Dewey Hegels »institutionellen Idealismus« erläutert. Und zur Kritik der Kantischen Moralphilosophie (mitsamt ihres abstrakten Freiheitsbegriffs) vgl. SG, 36. Eine Untersuchung des Machtthemas bei Dewey fi ndet sich in: Kertscher 2008, 33 ff. 59 Vgl. Bernstein 1971, 98 ff . Eine sozialtheoretische Aktualisierung der Positionen Deweys unternimmt v. a. Hans Joas; vgl. dazu Joas/Knöbl 2004, 704–725. 56
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ten sowie die Entwicklung der Kritikfähigkeit – und d. h. zunächst einmal: das freie Denken – möglichst weitgehend ermöglicht wird. 60 In der öffentlichen Diskussion entsteht erst ein politisches Denken, dessen Folgen auf seine Bedingungen zurückwirken. Ebenso wie die Demokratie einen objektiven (nicht individuell-willkürlichen) Problembezug der Pädagogik bestimmbar macht, liegen nach Dewey die Möglichkeiten im Wirklichen – und können ergriffen werden, zur Schaff ung neuer Möglichkeiten einer veränderten Realität. Mit seiner Einsicht, daß die freie Vernunft im Wirklichen anzutreffen sein muß, wenn sie überhaupt anzutreffen ist, hat Hegel dieser pragmatistischen Freiheitskonzeption vorgearbeitet. »Hegels Philosophie […] ist eine Aufforderung […], sich dessen zu bemächtigen, was im Hier und Jetzt des Lebens und der Welt schon enthalten ist, statt irgendeinem fernen Ideal nachzujagen und sich zu grämen, weil es in der Wirklichkeit nicht vorgefunden werden kann« (SG, 66). Zum Ende wird deutlich, daß Pragmatismus und Hegelianismus bei Dewey nicht in einer einfachen Beziehung der Sukzession stehen. Selbst wenn William James als einer der Hauptvertreter der pragmatistischen Denkrichtung Hegel und insbesondere den britischen Idealismus einer generellen und schonungslosen Kritik unterzieht, so kann man daraus nicht auf einen verallgemeinerten Anti-Hegelianismus des philosophischen Pragmatismus insgesamt schließen. 61 Bereits Peirce hat ein differenzierteres Bild von Hegel, wenn er hervorhebt, daß Hegel das dreigliedrige Schema seiner eigenen Kategorienlehre antizipiert, wenngleich er den – quasi idealistischen oder absolutistischen – Fehler begeht, »die dritte Kategorie […] zu einer bloßen Stufe des Denkens« zu degradieren, die die ersten zwei Stufen in sich aufzuheben vorgibt – im Sinne einer spekulativen Scheinwahrheit. 62 Ganz ähnlich argumentiert auch Dewey, sobald er erkennt, daß die Verwendung der experimentellen Methode in der Philosophie verlangt, daß sie sich an nicht-philosophischen Problemen orientieren und abarbeiten muß, wenn sie nicht kontemplativ-theorieverliebt den Bezug zu den eigentlich interessierenden sozialen Fragen verlieren will. Zunächst liefert Hegel Dewey eine Denkmöglichkeit, die den Blick auf ein Vermittlungsganzes aufrechterhält, ohne gleichzeitig die ›gediegene Substanz‹ in den sozialen Gegebenheiten und ihre Kritik außer Acht lassen zu müssen. Der Weg zum Experimentalismus führt von Hegel
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Vgl. Dewey 1928b, 290–291. Vgl. James 1882, 196–221 und James 1909, 50–82. Vgl. Peirce, Bd. II, 413 (5.436). Vgl. ebd., 513 (8.268).
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erst dann ab, wenn für Dewey klarer erkennbar wird, daß die Instanz des absoluten Geistes einen schädlichen und der experimentellen Methode widerstreitenden Einfluß geltend macht, weil sie in ihren Grundlagen den traditionellen Intellektualismus weitertradiert. In diesem Sinne ist Richard Bernstein zuzustimmen, wenn er schreibt: »Was Dewey an Hegel so anzog, ist zugleich das, was ihn schließlich von Hegel fortführte […]« (Bernstein 1971, 39).
Zitierte Literatur: Bernstein, Richard (1971): Praxis und Handeln, übers. v. R. u. R. Wiggershaus, Frankfurt/M. 1975. Borsche, Tilman (2008): »Philosophie der Zukunft? Über antiszientifische Möglichkeiten des Pragmatismus«, in: Andreas Hetzel, Jens Kertscher u. Marc Rölli (Hg.): Pragmatismus – Philosophie der Zukunft ? Weilerswist, 121–129. Dalton, Thomas (1997): »Dewey’s Hegelianism reconsidered: reclaiming the lost Soul of Psychology«, in: New Ideas in Psychology 15, 1, 1–15. Dewey, Jane (1939): »Biography of John Dewey«, in: P. Schlipp (Hg.): The philosophy of John Dewey, New York, 3–45. Dewey, John [EW; MW; LW]: The Early Works, 1882–1898; The Middle Works, 1899–1924; The Later Works, 1925–1953, London and Amsterdam 1969 ff. Dewey, John (1925): »Die Entwicklung des amerikanischen Pragmatismus«, in: ders.: Philosophie und Zivilisation, übers. v. Martin Suhr, Frankfurt/M. 2003, 16–37. Dewey, John (1928a): »Die umfassende philosophische Idee«, in: ders.: Philosophie und Zivilisation, übers. v. Martin Suhr, Frankfurt/M. 2003, 79–93. Dewey, John (1928b): »Philosophien der Freiheit«, in: ders.: Philosophie und Zivilisation, übers. v. Martin Suhr, Frankfurt/M. 2003, 266–291. Dewey, John (1929): »Philosophie«, in: ders.: Erfahrung, Erkenntnis und Wert, übers. v. Martin Suhr, Frankfurt/M. 2004, 196–215. Dewey, John [SG]: Die Suche nach Gewißheit. Eine Untersuchung des Verhältnisses von Erkenntnis und Handeln (1929), übers. v. Martin Suhr, Frankfurt/M. 2001. Dewey, John (1930): »Vom Absolutismus zum Experimentalismus«, in: ders.: Erfahrung, Erkenntnis und Wert, übers. v. Martin Suhr, Frankfurt/M. 2004, 13–27 [i. Orig.: »From Absolutism to Experimentalism«, in: ders.: On Experience, Nature and Freedom. Representative Selections, ed. by Richard Bernstein, New York 1960, 3–18.] Dewey, John (1939): »Erfahrung, Erkenntnis und Wert. Eine Replik«, in: ders.: Erfahrung, Erkenntnis und Wert, übers. v. Martin Suhr, Frankfurt/M. 2004, 362–462.
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Hegel und der Neukantianismus Wolfgang Bonsiepen
inhalt:
Wilhelm Windelband 48 | Heinrich Rickert 54 | Grundlagen einer Kultur- und Wertphilosophie 56 | Heterologisches Denken 60 | Exkurs: Heautologisches und heterologisches Denken 67 | Geschichte und Philosophie 71 | Hermann Cohen und Paul Natorp 76 | Natorps Spätphilosophie 87 | Jonas Cohns Theorie der Dialektik und Bruno Bauchs Theorie des Begriffs 102 | Abschließende Bemerkungen 111
Der Terminus Neukantianismus stellt eine Sammelbezeichnung für sehr verschiedene Richtungen der Philosophie im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert dar.1 Je nach philosophischem Standpunkt fällt die Einteilung anders aus. Anfang des 20. Jahrhunderts ist der Neukantianismus hauptsächlich in zwei Schulen präsent: der sogenannten Marburger Schule (H. Cohen, P. Natorp) und der Südwestdeutschen Schule (W. Windelband, H. Rickert). Eine dritte, realistische Richtung wird repräsentiert von Autoren wie O. Liebmann und A. Riehl. Zum jüngeren Neukantianismus ließen sich R. Hönigswald, J. Cohn, E. Cassirer und B. Bauch rechnen. 2 Besser wäre es vielleicht, B. Bauch als eine Schule für sich zu verstehen. 3 Schon früh wurde bemerkt, daß der Neukantianismus dazu tendiert, in Neufichteanismus und Neuhegelianismus überzugehen. 4 Eine breitere Untersuchung dieses Phänomens im Blick auf die Hegel-Renaissance im Neukantianismus wurde von H. Levy im Jahre 1927 unternommen. 5 In Vgl. H. Holzhey: Artikel »Neukantianismus«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Basel/Stuttgart 1984, 747–754, bes. 750 f. 2 Vgl. S. Marck: »Am Ausgang des jüngeren Neukantianismus. Ein Gedenkblatt für Richard Hönigswald und Jonas Cohn«, in: H.-L. Ollig (Hg.): Materialien zur Neukantianismus-Diskussion, Darmstadt 1987, 19. 3 Vgl. K. W. Zeidler: »Bruno Bauchs Frege-Rezeption«, in: E. W. Orth u. H. Holzhey (Hg.): Neukantianismus. Perspektiven und Probleme, Würzburg 1994, 215. 4 Vgl. E. v. Hartmann: Neukantianismus, Schopenhauerianismus und Hegelianismus in ihrer Stellung zu den philosophischen Aufgaben der Gegenwart, 3. Aufl ., Bad Sachsa 1910, 25 f. 5 Vgl. H. Levy: Die Hegel-Renaissance in der deutschen Philosophie mit besonderer Berücksichtigung des Neukantianismus, Charlottenburg 1927. 1
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neuerer Zeit hat man sich wieder diesem Thema zugewandt. 6 Der folgende Versuch, den Berührungen zwischen Hegel und dem Neukantianismus nachzugehen, muß sich auf einige Autoren (W. Windelband, H. Rickert, H. Cohen, P. Natorp, J. Cohn und B. Bauch) beschränken. Es wird nicht beansprucht, die verschiedenen Positionen in ihrer philosophischen Relevanz vollständig zu beurteilen und die Richtigkeit der jeweiligen HegelRezeption im einzelnen zu überprüfen.
Wilhelm Windelband 7 Windelband betont im Vorwort der ersten Auflage der Präludien (1884), daß »wir« zwar alle im 19. Jahrhundert Schüler Kants seien, aber die Rückkehr zu Kant »nicht die bloße Erneuerung der historisch bedingten Gestalt sein« könne. Die Schüler Kants haben mit dem Antagonismus zwischen verschiedenen Motiven seines Denkens zu kämpfen. Programmatisch erklärt er: »Kant verstehen, heißt über ihn hinausgehen.« 8 Damit Vgl. D. Pätzold u. Ch. Krijnen (Hg.): Der Neukantianismus und das Erbe des deutschen Idealismus: die philosophische Methode, Würzburg 2002; H. F. Fulda u. Ch. Krijnen (Hg.): Systemphilosophie als Selbsterkenntnis. Hegel und der Neukantianismus, Würzburg 2006; Ch. Krijnen: Philosophie als System. Prinzipientheoretische Untersuchungen zum Systemgedanken bei Hegel, im Neukantianismus und in der Gegenwartsphilosophie, Würzburg 2008; dazu die Rezensionen von W. Bonsiepen in: Hegel-Studien 41 (2006), 288–293 sowie 43 (2008), 179–184. 7 Wilhelm Windelband (1848–1915) war Schüler von Kuno Fischer, bei dem er in Jena studierte, und Hermann Lotze, bei dem er in Göttingen studierte und mit der Arbeit Die Lehren vom Zufall (1870) promovierte. Nach Stationen in Zürich, Freiburg und Straßburg kam er im Jahre 1903 an die Universität Heidelberg, wo er zunächst neben K. Fischer lehrte, dann als dessen Nachfolger. Die Tatsache, daß er zwei sehr verschiedenen Lehrern verpfl ichtet war (K. Fischer, dem Neukantianer in Hegelschem Gewand, und H. Lotze, dem Hegel-Kritiker), bestimmte sein philosophisches Lebenswerk. Bekannt geworden ist Windelband besonders durch seine Arbeiten zur Geschichte der Philosophie (Geschichte der neueren Philosophie, 2 Bd., 1878–80, Geschichte der alten Philosophie 1888, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie 1892). Das philosophiegeschichtliche Interesse verband ihn mit K. Fischer, die Ausarbeitung des Geltungsgedankens, d. h. daß Philosophie Geltungs- und Prinzipienlehre ist, mit H. Lotze. Seine Aufsätze sind gesammelt in den Präludien. Vgl. H.-L. Ollig: Der Neukantianismus, Stuttgart 1979, 53–58. – Zur Hegel-Rezeption Windelbands vgl. E. Kreiter: »Philosophy and the problem of history: Hegel and Windelband«, in: D. Pätzold u. Ch. Krijnen (Hg.): Der Neukantianismus und das Erbe des deutschen Idealismus: die philosophische Methode, a. a. O., 147–160. 8 W. Windelband: Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Ge schichte, 2 Bd., Tübingen 1924, 1, IV. 6
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stellt sich aber die Frage: Wie müssen wir Kant verstehen, um über ihn hinauszugehen? Windelband kommt zu dem Ergebnis, daß die mächtigen Umwälzungen des öffentlichen Lebens zur Suche nach einer Weltanschauung führten. Man gelangte wieder zum Mut der Wahrheit, den Hegel einst forderte. Insofern könne Kants Philosophie seitdem nur noch als Weltanschauung interessieren. 9 Wie Rickert in seinem Nachruf auf Windelband erklärt, hat die Philosophie im Sinne Windelbands eine Weltanschauung in der Weise zu geben, daß sie uns die Mannigfaltigkeit unseres Lebens als Sinnzusammenhang verstehen lehrt. Sie fragt nicht so sehr nach der Entstehung der Dinge, sondern nach ihrer Bedeutung, nach unserer Kultur.10 Nach Windelband enthält Kants Kritizismus durchaus positive Momente zu einer Weltanschauung in diesem Sinn. Sie tritt weniger in der Kritik der reinen Vernunft als in der Kritik der praktischen Vernunft und Kritik der Urteilskraft zutage. Diese Teile der Kantischen Philosophie wurden in den Anfängen des Neukantianismus zunächst als Beiwerk betrachtet, das sich jedoch als der inhaltlich bedeutsamere Teil seiner Philosophie erweisen könnte. Zu Unrecht hat man Kants Begriff der Wissenschaft auf eine Methodologie der theoretischen Naturforschung eingeengt, auf das Newtonsche Prinzip, dem Kant folgt. Der in der Kritik der reinen Vernunft und den Prolegomena ausgearbeitete Begriff der Wissenschaft als Gesetzeswissenschaft bzw. als mathematisierbare Wissenschaft ist nach Windelband zu eng.11 Dem nomothetischen Verfahren in der Naturwissenschaft ist das idiographische Verfahren in den historischen Wissenschaften an die Seite zu stellen.12 Für die Kant-Rezeption bedeutet dies, daß der vernunftnotwendige Glaube der Kritik der praktischen Vernunft und die vernunftnotwendige Betrachtung der reflektierenden Urteilskraft zu einer philosophischen Theorie der Werte weiterzuentwickeln sind. 13 Im Fortschreiten von der Kritik der reinen Vernunft zu den anderen ›Kritiken‹ wurde Kant genötigt, das Prinzip der Synthesis in der ersten ›Kritik‹ schrittweise auch auf die übrigen Gebilde der Kultur anzuwenden:
Vgl. W. Windelband: »Nach hundert Jahren«. (Zu Kants hundertjährigem Todestage. 1904), in: Präludien, a. a. O., 1, 148 ff. 10 Vgl. H. Rickert: Wilhelm Windelband, Tübingen 1915, 20. 11 Vgl. W. Windelband: »Nach hundert Jahren«, in: Präludien, a. a. O., 1, 150– 153. 12 Vgl. W. Windelband: »Geschichte und Naturwissenschaft«. (Straßburger Rektoratsrede. 1894), in: Präludien, a. a. O., 2, 145. 13 Vgl. W. Windelband: »Nach hundert Jahren«, in: Präludien, a. a. O., 1, 158. 9
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»so ist es aus der inneren Notwendigkeit der Sache dazu gekommen, daß der Kritizismus, der seiner Methode nach am Problem der Wissenschaft aufgerollt worden war, ungewollt in seiner Leistung eine Kulturphilosophie – die Kulturphilosophie geworden ist.«14 Versteht man Kants transzendentalen Idealismus als Kulturphilosophie, dann wird deutlich, daß die in der Kritik der reinen Vernunft aufgezeigte Vernunft tätigkeit von derselben Struktur ist wie alles praktische und ästhetische Verhalten des Kulturmenschen. Kritisch zu Kant ist jedoch anzumerken, daß er das Verhältnis der transzendentalen Apperzeption zu den menschlichen Vernunft tätigkeiten nicht klar bestimmt hat. 15 Windelband ist über Kant in mehrfacher Hinsicht hinausgegangen, indem er Anregungen durch Fichtes, Hegels und Lotzes Philosophie verarbeitete. Es sind jeweils sehr eigenständige Verarbeitungen, die positive Übernahme mit Kritik verbinden. Sein Verhältnis zu Hegels Philosophie ist deshalb ambivalent. Die Rückkehr zu Kant kann nach seiner Auffassung nicht direkt auf Kants Philosophie zurückgreifen, sondern muß in der Aneignung Kants noch einmal den Weg der nachidealistischen Philosophie gehen: »wir sehen die Gegensätze jener Zeit sich wiederholen. Wiederum steht eine psychologische Richtung, die sich an Fries orientieren will, den metaphysischen Auffassungen gegenüber. Fichtes Lehre mit ihrer Prävalenz der ethischen Bestimmung und ihrer scharfen Betonung des Wertbegriffs fi ndet neue Jünger. Die geschmähte Naturphilosophie Schellings feiert in dem Vitalismus und ebenso in der Energetik der heutigen Naturphilosophen ihre Auferstehung. Die Philosophie der Romantik sprießt auf dem Boden des neuen ästhetischen Lebens üppig empor. Vor allem aber die hegelsche Lehre, die mit ihrer großen historischen Auffassung den Inbegriff der Werte des Kulturlebens als eine gewaltige geistige Einheit zu betrachten begonnen hat, dringt mit der ganzen Wucht ihrer sachlichen Wahrheit zu immer breiterer Anerkennung vor.«16 Die Aufgabe der gegenwärtigen Philosophie sieht er darin, »das bedeutsame Gesamtergebnis jener großen Zeit der deutschen Philosophie aus seiW. Windelband: »Kulturphilosophie und transszendentaler Idealismus« (1910), in: Präludien, a. a. O., 2, 289. 15 Vgl. ebd., 287, 283 f. 16 W. Windelband: »Über die gegenwärtige Lage und Aufgabe der Philosophie« (1907), in: Präludien, a. a. O., 2, 8 f. 14
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nen zeitlichen Umhüllungen herauszuarbeiten und es in lebendigen sachlichen Zusammenhang mit den Problemen unserer Zeit zu bringen.«17 Dem Hegelianismus seines Lehrers K. Fischer vermag er nicht zu folgen.18 Anläßlich der Ankündigung des achten Bandes von Fischers Geschichte der neueren Philosophie, der die lang erwartete Hegel-Darstellung bringen soll, heißt es: »Freilich wird sich diesmal nicht der Ruf erheben: ›Zurück zu Hegel‹. Denn das ist der Unterschied, daß mit Kants Lehre auch ihre begrifflichen Formen und ihr terminologischer Apparat wieder auferstehen konnten, und daß dies bei Hegel unmöglich ist. Aber wenn Kuno Fischer die Hegelsche Philosophie in unserer Sprache zu uns reden läßt, so wird die Welt mit Staunen sehen, wie tief der Geist dieser Lehre der Wissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts im Blute steckt.«19 Zu den Möglichkeiten einer Erneuerung des Hegelianismus hat Windelband in seiner Heidelberger Akademierede vom 25.4.1910 Stellung genommen. Hegel wurde zunächst bewundert, dann verachtet, jetzt neu anerkannt: »Von Tag zu Tag mehren sich die literarischen Arbeiten über seine Philosophie, aus den auf der Berliner Bibliothek lang vergessen lagernden Papieren wird seine Entwicklung mit glücklichem Erfolge studiert [vgl. W. Diltheys Jugendgeschichte Hegels 1905 und H. Nohls Herausgabe der sog. theologischen Jugendschriften Hegels 1907], seine Bücher werden neu aufgelegt, und seine Gesamtwerke, die man dereinst für ein Billiges erwerben konnte, sind ein wertvoller antiquarischer Besitz geworden. Vor allem aber, die neueste Arbeit der Philosophie zeigt sich überall durchtränkt von seinen Gedanken, und das junge Geschlecht sehen wir in neuer Begeisterung an seinen Schriften, deren krause Darstellung ihren Schrecken verloren zu haben scheint, sich abmühen.«20 Ebd., 9. Vgl. H. Rickert: Wilhelm Windelband, a. a. O., 6 f. 19 W. Windelband: »Kuno Fischer und sein Kant«, in: Kant-Studien 2 (1899), 10. 20 W. Windelband: »Die Erneuerung des Hegelianismus«. (Heidelberger Akademierede. 1910), in: Präludien, a. a. O., 1, 276 f. Nach H. G. Gadamer machte sich Windelband mit seiner Rede zum Sprachrohr seiner Studenten, die gegen den Neukantianismus Hegel auf den Schild hoben, vgl. H. G. Gadamer: Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft , Frankfurt/M. 1976, 39. Daß Windelband in seiner Rede auf eine gewandelte Situation in Heidelberg reagierte, in der mit dem Georgekreis, G. Lukacs, E. Bloch in verschiedener Weise nach neuen Bindungen gesucht wurde, zeigt P. Honigsheim: »Zur Hegelrenaissance im Vorkriegs-Heidelberg«, in: Hegel-Studien 2 (1963), 291–301. 17
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Was bedeutet nun diese Auferstehung Hegels? Windelbands Antwort lautet: Es ist der Hunger nach Weltanschauung, der bei Hegel Sättigung sucht: »Gerade in diesem Sinne kann man bei den persönlichen und den literarischen Formen des Neuhegelianismus vielfach den Einschlag des religiösen Motives beobachten, das in den Weltanschauungsbedürfnissen einer aufgeregten Zeit noch immer sich so lebhaft als wirksam erwiesen hat.«21 Bei Hegel herrscht anders als bei Schopenhauer ein entwicklungsfroher Optimismus, Vertrauen in die Macht der Vernunft. Sein Panlogismus 22 stellt die Gegenposition zu Nietzsches Individualismus dar. In diesem Sinn bedeutet die Rückkehr zu Hegel »eine Art von Gesundung«, so daß die gegenwärtige Philosophie sich die Momente in Hegels Philosophie zueigen machen sollte, die ihr bei der Lösung ihrer eigenen Aufgaben helfen könnten. Gegen Hegel ist aber darauf hinzuweisen, daß der Zusammenhang der Vernunft werte durch das Postulat der Vernunfteinheit aufgegeben, aber nicht gegeben ist. 23 Insofern Hegels dialektische Methode eine metaphysische Hypostasierung der Ideen darstellt, kann sie nicht wieder die Methode der Philosophie sein: »Deshalb wird die Philosophie, wenn sie als eigene Wissenschaft eine Spezialforschung über die begriffl iche Struktur alles Kulturbewußtseins sein will, starken Anlaß haben, sich den formalen Eigenarten und Unarten ebenso wie den metaphysischen Neigungen des Hegelianismus gegenüber äußerst vorsichtig zu verhalten.«24 Positiv greift Windelband Hegels Geschichtsdenken auf. Er sieht wie Hegel eine interne Verbindung zwischen Philosophie und ihrer Geschichte, lehnt aber Hegels Parallelisierung von Bestimmungen der Logik und Epochen
W. Windelband: »Die Erneuerung des Hegelianismus«, in: Präludien, a. a. O., 1, 278. 22 Der Ausdruck Panlogismus wurde wohl zuerst von K. Fischer für eine positive Charakterisierung der Hegelschen Philosophie geprägt, dann im 19. Jahrhundert mit unterschiedlicher Bewertung zur Bezeichnung der Hegelschen Philosophie gebräuchlich, vgl. K. Fischer: Logik und Metaphysik oder Wissenschaft slehre. Lehrbuch für akademische Vorlesungen, Stuttgart 1852, 37; H.-M. Sass: Artikel »Panlogismus«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Basel 1989, 49. 23 Vgl. W. Windelband: »Die Erneuerung des Hegelianismus«, in: Präludien, a. a. O., 1, 287. 24 Ebd., 288. 21
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der Geschichte der Philosophie ab. 25 Gleichwohl bleiben die Verdienste Hegels bestehen: »Aber das unvergängliche Verdienst Hegels ist es, daß er in der Geschichte der Begriffe das Organon der Philosophie erkannt hat. Ihm verdanken wir die Einsicht, daß die Gestaltung der Probleme und Begriffe, wie sie die Entwicklung der menschlichen Vernunft in der Geschichte herbeigeführt hat, für uns die allein zureichende Form ist, um die Aufgaben der Philosophie für ihre systematische Behandlung vorzubereiten.«26 Philosophie hat von der Geschichte der Philosophie mit ihren Geltungsansprüchen auszugehen und diese philosophisch zu kritisieren. Windelband glaubt dem Zirkel entgehen zu können, daß man aus der Geschichte der Philosophie die Maßstäbe gewinnt, mit denen die Geschichte der Philosophie dann beurteilt wird. Indem er Hegels Geschichtsdenken mit Kants kritischer Methode verbindet, wird diese zu einer historischen Analyse. 27 Windelband nimmt ein Normalbewußtsein an, das als Maßstab der Beurteilung von Werten vorauszusetzen ist. Wer es leugnet, begeht einen performativen Widerspruch. Ein solches Normalbewußtsein bringt sich in der Kulturentwicklung durch Selbstevidenz zur Geltung. Als ethisches Prinzip darf es nicht mit einem Seinsprinzip verwechselt werden. 28 Andererseits besteht es nicht jenseits der Naturwirklichkeit. In der unendlichen Mannigfaltigkeit der naturnotwendigen Prozesse ist die Vernunft des Normalbewußtseins schon enthalten, sie muß nur zu Bewußtsein gebracht werden. Hier, wo Windelband sich am meisten Hegel anzunähern scheint, grenzt er sich von ihm ab. Gegen Kants Dualismus von Natur und Freiheit argumentierend erklärt er: »Es mußte begreifl ich gemacht werden, wie mitten im Reiche der Naturnotwendigkeit die Norm zur Geltung und Herrschaft gelangen Vgl. Hegel: »Zur Geschichte der Philosophie«, in: GW 18, 4926–28. Hegel stellt hier das Prinzip auf, »daß die Aufeinanderfolge der Systeme der Philosophie in der Geschichte dieselbe ist, als die Aufeinanderfolge in der logischen Ableitung der Begriffsbestimmungen der Idee«. 26 W. Windelband: Einleitung in die Philosophie, 2. Aufl ., Tübingen 1920, 17. 27 Vgl. W. Windelband: »Geschichte der Philosophie«, in: ders. (Hg.): Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Festschrift für Kuno Fischer, 2. Aufl ., Heidelberg 1907, 542 f., 545–547; vgl. ferner E. Kreiter: »Philosophy and the problem of history«, in: D. Pätzold u. Ch. Krijnen (Hg.): Der Neukantianismus und das Erbe des deutschen Idealismus: die philosophische Methode, a. a. O., 150 f., 156–159. 28 Vgl. W. Windelband: »Kritische oder genetische Methode?« (1883), in: Präludien, a. a. O., 2, 123 ff., 110 f. 25
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kann. Leicht gewann es dabei den Anschein, als ob die Natur mit der Befolgung ihrer Gesetze schließlich etwas von ihr Verschiedenes, etwas Höheres produziere, als ob sie sich ›über sich selbst hinaus potenziere‹. Diese in den dialektischen Begriffen des hegelschen Systems am besten ausgeprägte Vorstellungsweise kommt auch in den naturalistischen Ansichten der Gegenwart, als deren Typus der ›Neue Glaube‹ von Strauß gelten kann, mit einigen Modifi kationen des Ausdrucks, aber im Grunde völlig unverändert zum Vorschein. Demgegenüber sollte hier gezeigt werden, daß die Normen selbst von vornherein eine in der naturgesetzlichen Bewegung des Seelenlebens gegebene Möglichkeit darstellen und daß diese zur Wirklichkeit wird durch die unmittelbare Evidenz, welche den Normen innewohnt und welche sie, sobald sie zum Bewußtsein gelangt sind, zu bestimmenden Mächten in dem naturgesetzlichen Prozesse selbst macht. Die Naturnotwendigkeit treibt nicht über sich selbst hinaus, aber sie sondert sich in sich selbst. Die ›Vernunft‹ wird nicht erzeugt, sondern sie ist in der unendlichen Mannigfaltigkeit der naturnotwendigen Prozesse schon enthalten: Es kommt nur darauf an, daß sie erkannt und mit Bewußtsein zum Bestimmungsgrunde gemacht wird. Das Reich der Freiheit ist mitten im Reiche der Natur diejenige Provinz, in welcher nur die Norm gilt: unsere Aufgabe und unsere Seligkeit ist, in dieser Provinz uns anzusiedeln.«29 Wie Natur sich in sich selbst sondern soll, wirft allerdings ein neues Problem auf, zumal Windelband eine naturalistische Lösung ausschließt.
Heinrich Rickert 30 Rickert knüpft in seiner Schrift Kultur- und Naturwissenschaft an Windelbands Unterscheidung zwischen nomothetischem und idiographischem Verfahren in der Wissenschaft an, die seiner Meinung nach aber einer W. Windelband: »Normen und Naturgesetze« (1882), in: Präludien, a. a. O., 2, 97 f. Nach M. Heinz stellt Windelband hier seinem Lehrer Lotze folgend gewissermaßen Fichte auf den Kopf, vgl. M. Heinz: »Fichte und die philosophische Methode bei Windelband«, in: M. Heinz u. Ch. Krijnen (Hg.): Kant im Neukantianismus. Fortschritt oder Rückschritt, Würzburg 2007, 143. 30 Heinrich Rickert (1863–1936) studierte u. a. in Straßburg, wo er im Jahre 1888 bei Windelband mit der Dissertation Zur Lehre von der Definition promovierte. Im Jahre 1891 habilitierte er sich in Freiburg mit der Schrift Der Gegenstand der Erkenntnis. 1915 ging er als Nachfolger von Windelband nach Heidelberg. Zu Lebensdaten und Schriften vgl. H. Rickert: Philosophische Aufsätze, hrsg. von R. A. Bast, Tübingen 29
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tieferen Grundlegung bedarf. Ähnlich wie Windelband stellt er sich die Frage: Was ist Kulturwissenschaft und in welchem Verhältnis steht sie zur Naturforschung?31 Während der Naturwissenschaft ler für seine Spezialarbeit einen festen Platz in einem gegliederten Ganzen fi ndet, können sich die Kulturwissenschaften nicht auf einen solchen festen Rahmen beziehen; auch sind sie erst spät entstanden. Wie Windelband sieht Rickert es als die besondere Leistung des 19. Jahrhunderts an, nicht nur das Jahrhundert der Naturwissenschaft zu sein, sondern auch das der Ausbildung der historischen Wissenschaften. Dabei habe der Deutsche Idealismus eine positive Vermittlerrolle gespielt. 32 Die Verdienste der Hegelschen Philosophie sind in der Herausarbeitung wichtiger kulturwissenschaft licher Begriffe zu sehen – insofern kann man von Hegel lernen: »Insbesondere Hegel, der mit vollem Bewußtsein die Weltanschauung auf das geschichtliche Leben zu gründen unternahm, ist doch wohl noch in anderer Hinsicht merkwürdig als dadurch, daß er nichts von Naturwissenschaften verstand, und da in weiteren Kreisen das Interesse für die Philosophie des deutschen Idealismus beständig im Wachsen ist, so kann man hoffen, daß die Gegenwart, in der das Wort ›Entwicklung‹ eine so große Rolle spielt, auch von dem großen idealistischen Entwicklungsphilosophen wieder etwas lernt.«33 Er ist jedoch wie Windelband der Meinung, daß sich das Hegelsche System
1999, 437–456. – Eine umfassende Darstellung der Philosophie Rickerts bietet Ch. Krijnen: Nachmetaphysischer Sinn. Eine problemgeschichtliche und systematische Studie zu den Prinzipien der Wertphilosophie Heinrich Rickerts, Würzburg 2001; speziell zur Hegel-Rezeption Rickerts vgl. ders: »Absoluter oder kritischer Standpunkt? Das methodisch-genetische Problem des Anfangs der Philosophie bei Hegel und Rickert«, in: D. Pätzold u. Ch. Krijnen (Hg.): Der Neukantianismus und das Erbe des deutschen Idealismus, a. a. O., 161–180; ders: »Selbsterkenntnis und Systemgliederung: Hegel und der südwestdeutsche Neukantianismus«, in: H. F. Fulda u. Ch. Krijnen (Hg.): Systemphilosophie als Selbsterkenntnis, a. a. O., 113–121; ders: »Hegel und der Neukantianismus. Eine systemphilosophische Konfrontation«, in: D. Heidemann u. Ch. Krijnen (Hg.): Hegel und die Geschichte der Philosophie, Darmstadt 2007, 240–259; Ch. Krijnen: Philosophie als System, a. a. O. 31 Vgl. H. Rickert: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft , Leipzig/Tübingen 1899. Zitiert nach der 7. Aufl . von 1926, hrsg. von F. Vollhardt, Stuttgart 1986, 17, 77, 94. 32 Vgl. ebd., 24, 127. 33 Ebd., 25. Als Beleg für das neuere Interesse am Deutschen Idealismus verweist Rickert auf E. Troeltsch: Das Historische in Kants Religionsphilosophie (1902), E. Lask: Fichtes Idealismus und die Geschichte (1902) und W. Dilthey: Die Jugendgeschichte Hegels (1905).
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nicht einfach wieder restituieren lasse, und warnt vor einer »Galvanisierung des Hegelschen Buchstabens«34. In der Mitte des 19. Jahrhunderts sei die historische Kontinuität unseres Geisteslebens unterbrochen worden, und es fehle nun ein Verständnis der für ein geschichtliches Denken wichtigen Elemente der deutschen Philosophie. Ein unmittelbares Anknüpfen an Hegelsche Begriffe sei deshalb nicht möglich. Das Problem der relativ jungen Kulturwissenschaften besteht nach Rickert in ihrer mangelnden methodologischen Grundlegung. In ihnen seien zwar geniale Forscher tätig, methodologische Untersuchungen fänden sich aber nur vereinzelt, z. B. bei H. Paul und M. Weber. 35
Grundlagen einer Kultur- und Wertphilosophie Rickert grenzt seine Kulturphilosophie von der traditionellen Geistesphilosophie ab, zu deren prominenten Vertretern für ihn auch Hegel gehört. Er benutzt ausdrücklich den Begriff Kulturwissenschaft und nicht Geisteswissenschaft , für den z. B. W. Wundt eintritt. Technische Erfindungen können schlecht als Objekte der Geisteswissenschaften bezeichnet werden, wohl aber als Objekte der Kulturwissenschaft. Insofern erscheint ihm der Begriff des Geistes zu eng, auch Hegels Geistbegriff. 36 Zu den Kulturwissenschaften rechnet Rickert nicht die Psychologie, die für ihn eine Naturwissenschaft darstellt. Für eine genauere Bestimmung des Terminus Kulturwissenschaft ist es wichtig, ihn nicht zu eng und nicht zu weit zu fassen. Rickert richtet sich einerseits gegen die zu weite Verwendung dieses Begriffs, bei der auch von einer tierischen Kultur gesprochen werden kann (so der Sprachwissenschaft ler H. Paul), andererseits gegen die zu enge Verwendung bei zeitgenössischen Kulturwissenschaft lern, die unter Kulturleben nur das staatliche, politische Leben verstehen und Kunst, Sprache, Wissenschaft und Religion nicht als Kulturformen berücksichtigt wissen wollen. 37 Er kommt zu folgender Defi nition der Kultur: Diese ist Ebd., 25. Vgl. ebd., 24. 36 Vgl. ebd., 40; ferner H. Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaft lichen Begriff sbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, 5. Aufl, Tübingen 1929, 526: »Der ›Geist‹ eines Volkes ist uns, soweit er sich geschichtlich verwirklicht hat, die ›Kultur‹ eines Volkes. Höchstens ein Hegelianer dürfte heute noch ohne nähere Bestimmung von Geisteswissenschaften reden. Auch er müßte den Begriff des Geistes dann jedoch auf die ›materielle‹ Kultur ausdehnen und sie ebenfalls ›geistig‹ nennen, was gewiß kein besonders glücklicher Sprachgebrauch wäre.« 37 Vgl. H. Rickert: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft , a. a. O., 43, 45 f. 34 35
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die »Gesamtheit der realen Objekte, an denen allgemein anerkannte Werte oder durch sie konstituierte Sinngebilde haften, und die mit Rücksicht auf diese Werte gepflegt werden«38 . Rickert versucht den Begriff Kulturwissenschaft in Abgrenzung von der Naturwissenschaft genauer zu bestimmen und unterscheidet zwischen einem materialen und formalen Einteilungsprinzip. Gemäß der materialen Einteilung ist zwischen Natur und Kultur zu unterscheiden, gemäß der formalen zwischen naturwissenschaft licher und historischer Methode. Der materiale Unterschied läßt sich durch den Hinweis plausibel machen, daß Natur den Inbegriff des von selbst Entstandenen, des Gewachsenen darstellt, während Kultur das vom Menschen Hervorgebrachte. Kulturobjekte besitzen einen Sinngehalt, eine Bedeutung; um sie zu erfassen, muß man verstehen. Die Bedeutung eines Kulturobjektes verdankt sich seinem Wert, bei dem man nicht fragen kann, ob er wirklich ist, sondern nur, ob er gilt. 39 Das formale Einteilungsprinzip für die Erklärung des Gegensatzes von Natur- und Kulturwissenschaft ist mit einer grundsätzlichen Unterscheidung verschiedener Wirklichkeitsformen verbunden; es wird zwischen Kontinuität und Heterogenität des Gegebenen unterschieden. Wirklichkeit wird einerseits als stetiges Kontinuum erfaßt. Diese Auffassung kommt in Sätzen zum Ausdruck wie: Die Natur macht keine Sprünge, alles fließt. Andererseits wird das Gegebene auch als Individuelles aufgenommen. Diese Auffassung verschafft sich Ausdruck in dem Satz: Alles ist anders, heterogen. Das vorgegebene Wirkliche ist also einerseits ein Kontinuum und andererseits ein Heterogenes, d. h. es ist ein heterogenes Kontinuum. In dieser Verbindung zweier gegensätzlicher Erscheinungsweisen des Gegebenen besteht nach Rickert die Irrationalität der Wirklichkeit. Weil die Wirklichkeit ein heterogenes Kontinuum ist, kann sie nicht, wie sie ist, in Begriffe aufgenommen werden. Dies ist nur möglich aufgrund einer methodischen Trennung, die einmal die Andersartigkeit und einmal die Stetigkeit der Wirklichkeit betrachtet. Diese entgegengesetzten Wege der Begriffsbildung sind nun die der Mathematik und Naturwissenschaft auf der einen und die der historischen Wissenschaft auf der anderen Seite. Die Irrationalität der Wirklichkeit wird also beseitigt, wenn man das heterogene Kontinuum, das die Wirklichkeit darstellt, in seine Bestandteile auflöst, d. h. die Kontinuität der Wirklichkeit als homogene von der Naturwissenschaft, die Heterogenität von den historischen Wissenschaft erfassen läßt. Eine 38 39
Ebd., 46. Vgl. ebd., 38 f.
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dritte Erkenntnisweise der Wirklichkeit ist nach Rickert nicht möglich. 40 Wie Rickert betont, stellen das historische Verfahren der Kulturwissenschaften und das generalisierende der Naturwissenschaft nur Extreme dar, zwischen denen die wissenschaft liche Arbeit sich in der Mitte bewegt. Auch die Naturwissenschaft verfährt individualisierend und auch die Kulturwissenschaften verfahren generalisierend. Denn erstens handelt die Geschichtswissenschaft nicht vom Individuellen schlechthin, sondern von einem Individuellen, das in Begriffe aufgenommen wird. Ferner will sie nicht gänzlich auf Kausalerkenntnis verzichten. Schließlich wird in den Kulturwissenschaften generalisierend verfahren, wenn Gruppen von Objekten (z. B. die Deutschen) untersucht werden. Auf der anderen Seite gibt es in der Naturwissenschaft Mischformen, wie Biowissenschaften, Geologie und Meteorologie, die mehr individualisierend vorgehen.41 Da auch die Wissenschaft eine Kulturform darstellt und die Naturwissenschaft mit höchst verfeinerten und historisch gewachsenen Methoden arbeitet, müßte man sogar die Naturwissenschaft als eine Kulturwissenschaft betrachten. 42 Gleichwohl ist es nicht nur legitim, sondern auch gefordert, die formale Unterscheidung auf die materiale zu übertragen und der Naturwissenschaft ein generalisierendes und den Kulturwissenschaften ein individualisierendes Verfahren zuzuschreiben. 43 Generalisierendes und individualisierendes Verfahren können sich ergänzen, indem ein falsches Verständnis von Objektivismus bzw. Subjektivismus vermieden wird. Zunächst erscheinen sie aber als sich ausschließende Methoden. Die Naturwissenschaft will kausal begreifen und muß deshalb die Welt und auch das Ich zum Objekt machen. Das Ich wird zum psycho-physischen Ich-Objekt. Gegen den Objektivismus der Naturwissenschaft stellt sich nun das Sinn suchende, von der Bedeutungsfülle seines Erlebens ausgehende Subjekt. 44 Es sieht im Objektivismus der Naturwissenschaft eine Verkümmerung der menschlichen Existenz. Dieser Subjektivismus wird nach Rickert von der zeitgenössischen Lebensphilosophie (Bergson, Nietzsche u. a. 45) vertreten, auch von romantischen Strömungen, denen Novalis Ausdruck verleiht: »Die Philosophie ist Vgl. ebd., 51 f., 63, 80. Vgl. ebd., 106, 118, 135, 129 ff. 42 Dies gesteht Rickert in seinem Verständnis der Kulturphilosophie als Wissenschaft slehre im Grunde zu, vgl. H. Rickert: System der Philosophie. Teil 1. Allgemeine Grundlegung der Philosophie, Tübingen 1921, 344 f. 43 Vgl. H. Rickert: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft , a. a. O., 30. 44 Vgl. H. Rickert: System der Philosophie, a. a. O., 73, 87. 45 Vgl. H. Rickert: »Lebenswerte und Kulturwerte« (1911), in: Philosophische 40 41
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eigentlich Heimweh, ein Trieb, überall zu Hause zu sein«. Nur eine sinnvolle Welt vermag das Heimweh zu stillen, das uns zur Philosophie treibt; die objektivierende Betrachtung entfremdet uns dagegen die Welt. Es tut sich ein Weltanschauungsgegensatz auf, ein Kampf zwischen realistischer und idealistischer Weltanschauung. 46 Zwischen dem Richtigen und Falschen des jeweiligen Standpunkts gilt es im einzelnen zu unterscheiden. Zunächst ist festzuhalten, daß der richtig verstandene Objektivismus keine erniedrigende Weltanschauung darstellt, wenn er von unphilosophischen Auffassungen wie Materialismus, Naturalismus, Atheismus abgegrenzt wird. Er kann durchaus das psychische Leben, das Kulturelle und Geschichtliche in seiner Eigenart anerkennen. Er selbst muß ja das in Anspruch nehmen, worauf jener Subjektivismus so pocht: Sinnerfassung. Sein eigenes Unternehmen, das Weltall insgesamt als Objekt zu betrachten, verdankt sich nämlich einer besonderen Setzung und Einstellung des Subjekts, das diese als sinnvoll einnimmt. Der Naturwissenschaft ler bekennt sich zum Objektivismus als einem besonderen Wert. In einer Welt, die nur aus sinnfreien Objekten bestünde, wäre kein Objektivismus als Theorie dieser Objekte möglich, es könnte gar nicht zwischen Sinn und Unsinn unterschieden werden. 47 Eine Philosophie, die den objektivierenden Wissenschaften im Sinne des genannten Subjektivismus entgegentritt, hat nach Rickert keinen Bestand mehr. Die Philosophie muß in Harmonie mit den objektivierenden Wissenschaften leben, die Zeiten ihrer absoluten Monarchie sind vorbei. Die objektivierende Wirklichkeitsforschung würde scheitern, wenn sie im Sinne des Subjektivismus vorgehen würde; sie käme zu Theorien, die nur als Lückenbüßer dienen, wie das Beispiel des Vitalismus zeigt. Es wäre falsch, wenn jener einseitige Subjektivismus in der Kulturphilosophie seine Verbündete fi nden wollte, denn Werte, zu denen auch der für die Wissenschaft zentrale Wahrheitswert gehört, haben überindividuelle Geltung. Das Subjekt des Subjektivismus, mag es individualistisch oder kollektivistisch verstanden werden, vermittelt keine Werte. 48 Rickert geht es in diesen Überlegungen nicht um eine Annäherung an den Objektivismus der Naturwissenschaft , sondern um eine Überwindung des Subjekt-Objekt-Gegensatzes und die Gewinnung eines neuen Verständnisses von Subjektivität. Er spricht vom zweiten Weltallbegriff. Aufsätze, a. a. O., 40 ff.; ders.: Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit, Tübingen 1920. 46 Vgl. H. Rickert: System der Philosophie, a. a. O., 71, 89. 47 Vgl. ebd., 74 f., 91 f. 48 Vgl. ebd., 94, 97 f.
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Gemäß diesem ist die gesamte Wirklichkeit, die aus Subjekt und Objekt besteht, lediglich die eine Seite der Welt. Ihr stehen Werte als das Unwirkliche gegenüber. Die Weltalternative von Ich und Nicht-Ich, Physischem und Psychischem, müssen wir ersetzen durch die neue Alternative zwischen Wirklichem und Unwirklichem bzw. Werthaftem. Der Sinn eines Satzes, den wir verstehen, ist etwas Irreales, das nicht einmal ideal existiert wie die Gebilde der Mathematik. Er ist überindividuell und fällt nicht mit dem psychischen Akt des Verstehens zusammen. Auch ist er nicht mit dem existierenden Gegenstand identisch, über den der Satz etwas aussagt, denn der Satz, daß Körper schwer sind, ist weder Körper noch schwer. Man muß also festhalten, daß es etwas gibt, das nicht wirklich und doch nicht nichts ist, und daß zwischen den beiden Arten des Seienden, den irrealen Werten und den wirklichen Gegenständen, eine grundlegende Differenz herrscht. 49
Heterologisches Denken Rickert fordert, die Trennung zwischen realem und irrealem Sein radikal zu vollziehen, und vertritt in diesem Sinn einen Dualismus. Bei dem Versuch der metaphysischen Ineinssetzung von Wert und Wirklichkeit würde der Wert zur Wirklichkeit gesteigert und umgekehrt. Wert und Wirklichkeit lassen sich aber nicht dialektisch vermitteln, dies würde zum Denken des Widerspruchs führen, nämlich reales Sein als zeitliches und zugleich als zeitloses Gelten zu denken. Sicherlich steht hier eine Kritik Rickerts an Hegel im Hintergrund, obwohl er anmerkt, daß von besonderen historischen Ausgestaltungen in der Philosophie des Deutschen Idealismus abgesehen werde und nur der sachliche Gehalt in Frage stehe. 50 Dem dialektischen Denken stellt er ein heterologisches gegenüber, der Antithesis die Heterothesis. Das heterologische Denken geht von der Annahme aus, daß wir nicht beziehungslos denken können; wir müssen die Welt als das Eine und das Andere denken. Es genügt aber nicht die Negation, um das Andere aus dem Einen entstehen zu lassen; zur Andersheit kommt man nicht durch bloße Negation der Identität. 51 Solche Zauberkraft ist der Negation als bloßer Verneinung nicht gegeben. Denken wir das Andere positiv, so fügen wir zu der Negation des Einen noch etwas hinzu; die Negation macht aus dem Etwas nur das Nicht-Etwas, das 49 50 51
Vgl. ebd., 102–108, 114; zu Kants Philosophie als Wertlehre: 48, 157 f. Vgl. H. Rickert: System der Philosophie, a. a. O., 127, 237, 244 Anm. Vgl. ebd., 56 f.
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Nichts. Dieses ist im Verhältnis zum Einen nur ein Spezialfall des Andern: »Die Andersheit geht der Negation logisch voraus. Logisch noch Ursprünglicheres als die Andersheit, die neben der Identität zum Modell des theoretischen Gegenstandes gehört, kann gar nicht gedacht werden.« Deshalb muß man in der objektiven Sphäre des rein logischen Gegenstandes den Begriff der Negation zunächst völlig beiseite lassen. Man kann hier nicht neben das Identitätsprinzip das Widerspruchsprinzip setzen: »Widerspruch ist das Verhältnis zweier Urteile, von denen das eine verneint, was das andere bejaht. Dieser Begriff liegt in einer anderen logischen Region. Er gehört nicht zum Gegenstand überhaupt.«52 Vielmehr steht ursprünglich neben dem Einen das Andere, das genauso positiv ist wie das Eine. Es ist also falsch, das Andere lediglich als das Nicht-Eine zu setzen. Wenn wir klar vorgezeichnete Alternativen vor uns haben, verweist zwar die Negation des Einen auf das Andere, aber sie hilft uns nur, das Andere zu fi nden, für sich allein bringt sie das Denken keinen Schritt weiter: »Der Schein, daß es sich anders verhalte, entsteht, wo man mit der Negation zugleich die positive Andersheit denkt. Vor diesem Schein ist besonders mit Rücksicht auf jede ›dialektische‹ Philosophie zu warnen.« An die Stelle der Antithese muß deshalb die Heterothese treten: »Die Seite des Logischen, die dadurch als zum Denken jedes beliebigen Gegenstandes gehörig ins Bewußtsein gehoben wird, nennen wir in subjektiver Ausdrucksweise auch das heterothetische Prinzip des Denkens und bringen es damit zu jeder Art von antithetischer ›Dialektik‹ oder Selbstbewegung der Begriffe durch bloße Negation in Gegensatz.«53 Rickert räumt ein, daß Hegel gerade das gemeint haben könnte, »ohne sich selber ganz zu verstehen«. Möglicherweise dachte auch Platon im Parmenides bei seiner Unterscheidung zwischen ïšê –í und ìx –í daran. Das Eine und das Andere ergänzen sich also positiv, die Negation spielt dabei keine wesentliche Rolle. Der rein logische Anfang muß schon aus dem Einen und dem Andern bestehen. Nur unser subjektives, an Zeit gebundenes Denken zwingt uns, erst das Eine und dann das Andere zu nennen. Es gibt aber keine logische Priorität des Einen vor dem Andern, sie sind logisch einander völlig äquivalent. Zum logischen Gegenstand
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Ebd., 58. Ebd., 58 f.
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gehört das Eine, das Identische, und das Andere sowie deren Synthesis, denn das Eine und das Andere existieren nie isoliert von einander. Die Synthesis ist immer als Plural zu denken, so daß das heterologische Denken mit einem Monismus unvereinbar ist. 54 Während Rickert einerseits einräumt, daß Hegel in seiner Dialektik im Grunde das heterologische Prinzip des Denkens gemeint haben könnte, macht er doch andererseits unmißverständlich die Differenz zu dem nicht explizit genannten Hegel klar, wenn er sich gegen ein Denken wendet, das die Grenzen des heterologischen Denkens denkend überwinden zu können glaubt. Man kann bei einem solchen Monismus das heterologische Denken auf sich selber anwenden und das Andere des Denkens denken wollen. Was soll aber dieses Andere sein? Mit Hilfe der Negation kann man lediglich auf es als die Alternative zum Denken überhaupt, als das Alogische verweisen; dadurch hat man aber noch nichts positiv bestimmt. 55 Wollen wir es aber doch mit Hilfe der logischen Negativität des Widerspruchs positiv bestimmen, haben wir aufgehört, überhaupt theoretisch zu denken: »Der dialektische ›Tiefsinn‹ ist eine arge Trivialität, und jedem, der weiß, daß es noch etwas Anderes als das Denken gibt, muß es als unerträgliche Beschränkung erscheinen, falls die Philosophie, statt dies Andere des Denkens in seiner Positivität anzuerkennen, die logische Negativität des Widerspruchs an seine Stelle zu setzen sucht, um damit die Fesseln eines ›bornierten‹ Denkens zu sprengen. Hier wird der Teufel durch Beelzebub ausgetrieben. Der Widerspruch führt in keiner Weise aus der ›Enge‹ des logischen Denkens hinaus, denn er ist ebenso eine logische Kategorie wie Identität und Andersheit. Die Vertauschung der Heterothesis mit der Antithesis bedeutet keine Bereicherung, sondern eine Verarmung des Weltbegriffs. Das positive Alogische wird durch sie vernichtet.«56 Rickert sieht, daß es schwer ist, dem Monismus, der das heterologische Denken in dieser Weise denkend überwinden will, theoretisch zu widersprechen, weil er auch in Gefühlen wurzelt. Insofern ist der Gefühlsmonismus theoretisch nicht widerlegbar, aber auch nicht beweisbar. 57 Zum heterologischen Denken gehört, wie gesagt, nicht nur das Eine und das Andere, sondern auch das Eine und das Andere, die Beziehung 54 55 56 57
Vgl. ebd., 59 f. Vgl. ebd., 244. Ebd., 246 f. Vgl. ebd., 250.
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des Einen auf das Andere, das Und. Dieses ist nicht im Sinne einer verschmelzenden Einheit zu denken, sondern als ein synthetisches Und, sowohl trennende als auch verbindende Beziehung. Das beziehende Und setzt ein beziehendes Subjekt voraus, das die Fähigkeit besitzt, Etwas auf Anderes zu beziehen. Als Voraussetzung alles Denkens kann es nach Rikkert nicht selber zum Gegenstand gemacht werden. 58 Da das beziehende Subjekt Voraussetzung allen Denkens ist, muß mit ihm eigentlich der Anfang der Philosophie gemacht werden. Rickert knüpft an Hegels entsprechende Erörterung zu Beginn der Wissenschaft der Logik an, um genau dies zu zeigen. Er nimmt Hegels Behauptung auf, daß der Anfang weder ein Vermitteltes noch ein Unmittelbares sein könne 59, ohne sich dann weiter mit dem Hegelschen Text zu beschäft igen. Gegen Hegels Behauptung gibt er zu bedenken, daß sich ein vermittelter Anfang in der einen Bedeutung sehr wohl mit einem unmittelbaren Anfang in der andern Bedeutung verbinden lasse. 60 Er schlägt nun den Weg ein, den Hegel als originellen Anfang der Philosophie nicht unerwähnt lassen will, den Anfang mit dem Ich. 61 Leider setzt er sich mit Hegels Ausführungen dazu nicht auseinander. Faktisch führt er genau das vor, was Hegel beschreibt: die Absonderung des reinen Ich vom konkreten, ein Akt, der nach Hegel nichts anderes ist »als die Erhebung auf den Standpunkt des reinen Wissens, auf welchem der Unterschied des Subjectiven und Objectiven verschwunden ist«62 . Auch das beziehende Subjekt Rickerts soll jenseits des Subjekt-Objekt-Gegensatzes stehen, insofern es den Weltanschauungsgegensatz von Objektivismus und Subjektivismus (den ersten Weltallbegriff ) überwunden hat. Es ist aber das beziehende Und eines grundlegenderen Gegensatzes, nämlich von realem Sein und irrealem Gelten. 63 Der darin enthaltene Dualismus des heterologischen Denkens ist, wie Rickert betonte, nicht mehr mit Hegels Dialektik vereinbar. Die von Hegel monierte Mißlichkeit, daß beim Anfang mit dem reinen Ich doch immer wieder das empirische Selbstbewußtsein mit hineinspiele, das reine Ich also keinen klaren, allbekannten Anfang biete, würde Rickert als unvermeidlich hinnehmen. Er ist sich dessen bewußt, daß das reine Ich nur als ein begriffl ich isoliertes Moment existiert. Als Produkt einer Konstruktion ist es mit dem
Vgl. ebd., 268 ff., 271–273. Vgl. Hegel: GW 21, 536–7. 60 Vgl. H. Rickert: »Vom Anfang der Philosophie« (1925), in: Philosophische Aufsätze, a. a. O., 189. 61 Vgl. Hegel: GW 21, 62 21. 62 Ebd., 63 8–10 . 63 Vgl. H. Rickert: System der Philosophie, a. a. O., 270. 58
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Intuitionismus unvereinbar. 64 Dies würde Hegels Kritik an einer intellektuellen Anschauung entsprechen. Das reine Ich Rickerts ist also ein der Zeit nach sehr Vermitteltes, aber ein logisch Unmittelbares, da es die nicht weiter hinterfragbare Voraussetzung allen (heterologischen) Denkens darstellt. Für Rickert steht das Subjekt der Objektwelt nicht isoliert gegenüber – wie Hegels Einwand gegen den Anfang mit dem reinen Ich lautet 65, sondern die Objekte sind dem beziehenden Subjekt immanent. Rickert spricht von einem immanenten Objekt bzw. von immanentem Sinn. 66 Gemeint ist etwas Einfaches, das man am Sprachverstehen verdeutlichen kann. Den akustischen Äußerungen eines Sprechenden geben wir eine Bedeutung, verbinden sie mit einem Sinn. Ähnlich erleben wir die Welt nicht nur als sinnlich gegebene, sondern als verbunden mit einem Sinn. In dem Gewühl einer Großstadt werden wir von Eindrücken bestürmt und doch verknüpfen wir mit allem, was wir hören und sehen, ein Unsinnliches, Verstehbares. Sicherlich ist das Verstehen oft sehr persönlich gefärbt, aber es gibt auch vieles, das wir andern mitteilen können und von ihnen verstanden wird. Das setzt ein allgemeines, nicht psychophysisches Subjekt des Verstehens voraus, eben jenes reine beziehende Subjekt. An diesen Beispielen wird deutlich, daß die Unmittelbarkeit des ursprünglich beziehenden Subjekts und die des konkreten Sinnverstehens in Korrelation zueinander stehen, so daß das eine nicht ohne das andere gedacht werden kann. Rickert nennt dieses unmittelbare Gegebensein von Sinn das Zuständliche. Es breitet sich vor allem Gegenständlichen aus. Wir befi nden uns hier in der Pro- bzw. Protophysik, im Vor-Physischen als Gegensatz zum Meta-Physischen. 67 Von dieser Sinn- und Subjektivitätstheorie kommt Rickert zu der Auffassung, daß die Metaphysik des Geistes von Fichte und Hegel unberechtigterweise drei Momente zu einer Einheit zusammenfaßt: reales Sein, irreales Gelten, Sinn des Subjektakts. Diese Einheit werde als absolutes Subjekt gesetzt; das individuelle Subjekt hat dann am Geist als dem absoluten Weltsubjekt Anteil. Dem hält Rickert entgegen, daß sich die Einheit des Geistes ohne Trennung in Reales und Geltendes zwar erleben, aber
Vgl. H. Rickert: »Vom Anfang der Philosophie«, in: Philosophische Aufsätze, a. a. O., 211, 215. 65 Vgl. Hegel: GW 21, 6411–17. 66 Vgl. H. Rickert: Der Gegenstand der Erkenntnis. Einführung in die Transzendentalphilosophie, 6. Aufl ., Tübingen 1928, 16; ders.: System der Philosophie, a. a. O., 261 f. 67 Vgl. H. Rickert: »Die Methode der Philosophie und das Unmittelbare« (1924), in: Philosophische Aufsätze, a. a. O., 124, 129, 144, 137, 211 f. 64
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nicht begreifen läßt. Der Philosoph muß kritische Scheidekunst betreiben und darf nicht den immanenten Aktsinn in der Protophysik metaphysisch zu einer Subjektwirklichkeit hypostasieren. 68 Hegels Unterscheidung der verschiedenen Formen des Geistes aufnehmend könnte man sagen: Der subjektive Geist stellt das freie prophysische Subjekt dar, der objektive Geist die Gesamtheit verstehbarer Sinngebilde im Diesseits, der absolute Geist die jenseits aller Wissenschaft liegende Wertwirklichkeit, an die wir glauben müssen. 69 In einer späteren Schrift geht Rickert noch einmal auf den Anfang der Wissenschaft der Logik ein. Er unterscheidet hier zwischen Denk- und Erkenntnisform. Denken läßt sich vieles (ein viereckiger Kreis), was aber nicht unbedingt auch erkannt wird. So kann man das Nichts zum Subjekt eines Satzes machen, ohne daß dies als Denkform Erkenntnis beansprucht. Dieses Nichts ist ein Etwas, das zwar in der allgemeinsten Bedeutung von ›sein‹ ist, das aber nicht die Erkenntnisprädikate besitzt: wirklich, geltend oder ideal seiend; es ist also keine Erkenntnisform. Zu unterscheiden von dem Nichts als bloßer Denkform ist das Nicht der Verneinung, das zwar sprachlich zu einem Nichts verselbständigt werden kann, aber nur die Bedeutung des Nein hat. Das Nichts als Subjekt eines Satzes, das zunächst nur Bedeutung als Denkform hat, kann Bedeutung als Erkenntnisform gewinnen, wenn damit das Andere der Welt, d. h. ein unbekanntes, unerkennbares Sein gemeint ist. In diesem Sinn haben z. B. die deutschen Mystiker vom Nichts gesprochen.70 Hegel behandelt nun das Nichts zunächst als Denkform. Als solche kommen Sein und Nichts in bezug auf die Welterkenntnis darin überein, daß sie in bezug auf Gegenständlichkeit nichts besagen. Sie lassen sich zum Subjekt eines Satzes machen und ›sind‹ in der allgemeinsten Form von ›sein‹. In Bezug auf das gemeinsame Fehlen jeder Erkenntnisleistung kommen Sein und Nichts zwar hier überein, ohne daß man aber dazu berechtigt wäre, beides deshalb zu identifi zieren. Wenn Hegel aus dem Sein und dem Nichts das Werden hervorgehen läßt, erhält das Nichts eine andere Bedeutung, nämlich die einer Erkenntnisform, im Sinne der Andersheit der Welt: »Vielleicht hat es einen Sinn zu behaupten: aus dem Sein und dem Andern des Seins geht das Werden hervor, aber auf keinen Fall darf man sagen: aus dem Sein und dem Nichts geht das Werden herVgl. H. Rickert: System der Philosophie, a. a. O., 290 f., 293. Vgl. H. Rickert: »Die Heidelberger Tradition und Kants Kritizismus« (1934), in: Philosophische Aufsätze, a. a. O., 402. 70 Vgl. H. Rickert: Die Logik des Prädikats und das Problem der Ontologie, Heidelberg 1930, 202 ff., 211. 68 69
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vor.« Man würde sonst das Nichts mit dem Anderssein verwechseln. Dies liegt allerdings nahe, da das Andere auch immer das Nicht-Eine ist. Jedoch ist zu bedenken, daß die Umkehrung nicht gilt: Das Nicht-Eine ist für sich allein nicht schon das Andere: »Damit aus dem Nicht-Einen das Andere werden kann, müssen wir vielmehr voraussetzen, daß eine Alternative mit zwei positiven Gliedern vorliegt […], so daß wir nach der Verneinung ihres einen Gliedes ihr anderes Glied übrig behalten.« 71 Wenn Hegel erklärt, »daß es nirgend im Himmel und auf Erden Etwas gebe, was nicht beides Seyn und Nichts in sich enthielte«72 , so kann in dieser Unbestimmtheit ausgesprochen die Behauptung weder wahr noch falsch sein. Ein wahrer Satz ergibt sich nur durch folgende Umformung: »von jedem Etwas im Himmel und auf Erden läßt sich behaupten, daß es das eine Etwas (a) ist, dagegen ein anderes Etwas (b) nicht ist.« Daraus folgt aber das Gegenteil von dem, was Hegel behauptet: Einem Subjekt kommt die eine Bestimmung als Prädikat zu, die andere nicht, es kommt ihm also das Sein nicht in demselben Sinn zu wie das Nichtsein. Rickerts Schlußfolgerung ist vernichtend: »Hegel kann seine Behauptungen nur deswegen für wahr halten, weil seine Worte keine bestimmten Bedeutungen haben, insbesondere weil er weder den Unterschied von Denkprädikat und Erkenntnisprädikat macht, noch das Nicht-Eine von dem Andern trennt, sondern diese verschiedenen Begriffe dauernd durcheinander benutzt. Der Erfolg ist: Alles verschwimmt im Nebel. Wir hören in dieser ›Logik‹ auf, zu ›denken‹.«73 Rickert versucht allerdings auch, den Grund für Hegels Verwechselung verschiedener Begriffe aufzufi nden. Sie geschieht nicht einfach durch Unachtsamkeit, sondern entspringt Hegels Kritik an dem isolierenden Verstandesdenken. Die Reflexionslogik des Verstandes hat, wie Rickert in seiner Abhandlung zu zeigen versucht, ihre tiefe Berechtigung. Die Wissenschaft bedarf notwendig der festen Wortbedeutungen, wodurch sie sich dem Fluß der sinnlichen Welt gegenüberstellt. Deshalb können die Sinngebilde des logischen Verstandes niemals die Welt der fl ießenden
Ebd., 221. Zu den verschiedenen Rekonstruktionsversuchen des Anfangs der Wissenschaft der Logik vgl. A. Arndt: »Die anfangende Reflexion. Anmerkungen zum Anfang der ›Wissenschaft der Logik‹«, in: A. Arndt u. Ch. Iber (Hg.): Hegels Seinslogik. Interpretationen und Perspektiven, Berlin 2000, 126–139. 72 Hegel: GW 21, 71. 73 H. Rickert: Die Logik des Prädikats und das Problem der Ontologie, a. a. O., 222. 71
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Wahrnehmungen abbilden. Hegel strebt aber genau dies an: Logisch verständliche Sätze sollen die Welt des sinnlichen Wahrnehmens angleichend erkennen. Bei diesem berechtigten Anliegen stützt sich Hegel jedoch auf den tradierten Begriff der Adäquatio: Gleiches wird nur durch Gleiches erkannt. Um dieses Ziel zu erreichen, werden die Verstandesbegriffe in Fluß gebracht und auf der Ebene des Vernunftdenkens dem Erlebnisstrom angeglichen. Die Begriffe Sein und Nichts müssen ineinander übergehen, wie in der Welt etwas entsteht und vergeht.74
Exkurs: Heautologisches und heterologisches Denken R. Kroner hat sich mit Rickerts Prinzip der Heterothesis ausführlich auseinandergesetzt.75 Er stellt Rickerts Bestimmung des logischen Gegenstandes in Frage und behauptet die Priorität der Negation vor der Andersheit. Um die problematischen Punkte der jeweiligen Argumentation zu erfassen, ist es ratsam, sich noch einmal den Rickertschen Gedankengang zu vergegenwärtigen. Der logische Gegenstand ist nach Rickert ein dem subjektiven Denken vorgegebenes objektiv Logisches, Ausdruck des in sich ruhenden Logos, der dem einzelnen Subjekt allererst ermöglicht, objektiv logisch zu denken. Ein solcher Gegenstand ist durch das völlig unbestimmte Etwas gegeben, das notwendig gedacht wird, wenn überhaupt etwas gedacht werden soll. Das bloße Etwas aber kann nicht das Letzte sein, da wir an jedem Etwas Inhalt und Form unterscheiden. Etwas wird immer schon als ein Etwas gedacht, unter der Form des Einen. Es handelt sich hier aber noch nicht um einen bestimmten, sondern den Inhalt überhaupt. Insofern dieser der Konkretisierung durch jenen bedarf, verweist der aus Inhalt über-
Vgl. ebd., 224 ff. Ch. Krijnen zeigt, daß alle Einleitungsversuche Hegels in den Standpunkt seiner spekulativen Logik scheitern bzw. zirkulär sind, und stellt Hegels Ausgang vom absoluten Wissen Rickerts transzendentale Methode gegenüber, für die Anfang und Ende der Philosophie das »fruchtbare Bathos« der Erfahrung ist, vgl. Ch. Krijnen: »Absoluter oder kritischer Standpunkt?«, in: D. Pätzold u. Ch. Krijnen (Hg.): Der Neukantianismus und das Erbe des deutschen Idealismus, a. a. O., 161–180. 75 Vgl. R. Kroner: »Anschauen und Denken. Kritische Bemerkungen zu Rickerts Heterothetischem Denkprinzip«, in: Logos 13 (1925), 90–127. Kroner bezieht sich auf den Aufsatz von Rickert: »Das Eine, die Einheit und die Eins. Bemerkungen zur Logik des Zahlbegriffs«, in: Logos 2 (1912), 26–78. W. Flach hat diese Diskussion aufgearbeitet, vgl. W. Flach: Negation und Andersheit. Ein Beitrag zur Problematik der Letztimplikation, München/Basel 1959; ferner Ch. Krijnen: Nachmetaphysischer Sinn, a. a. O., 275 ff. 74
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haupt und Form bestehende rein logische Gegenstand auf ein Alogisches, den Inhalt des Inhalts. Für die Diskussion ist wichtig festzuhalten, daß der Inhalt überhaupt den logischen Ort für das Alogische bereitstellt. Er ist gleichsam eine Variable, in die verschiedene Werte eingesetzt werden können. Umgekehrt läßt sich das Alogische, der konkrete Inhalt nicht als solcher denken, sondern nur in Beziehung auf den rein logischen Gegenstand. Es liegt nahe, den logischen Gegenstand in noch Elementareres zerlegen zu wollen, d. h. ihn auf Form oder Inhalt zurückzuführen, so daß sich als das logisch Letzte z. B. die reine Form ergeben würde. Wenn wir aber die Form für sich betrachten wollen, ist sie nicht mehr die reine Form, sondern die zum Gegenstand gemachte, also eine spezielle Form, Form der Form. Den logischen Gegenstand in noch Einfacheres zerlegen zu wollen, scheitert also; man gelangt nicht zu Einfacherem, sondern Speziellerem. Der einfachste rein logische Gegenstand ist ein Inhalt überhaupt, der in der Form des Einen erscheint. Das scheinbar noch Einfachere ist nur ein Moment am Gegenstand, das sich nicht gesondert denken läßt.76 Der logische Gegenstand ist nach Rickert aber nicht nur ein Inhalt überhaupt, der in der Form des Einen erscheint, sondern es ergibt sich aus dieser Bestimmung noch eine weitere rein logische, die in der Unterscheidung zwischen Inhalt und Form schon angelegt ist. Wie Inhalt und Form aufeinander als jeweils Anderes verweisen, so ist mit der Identität des Inhalts überhaupt auch Verschiedenheit, Andersheit gesetzt. Wir denken das Eine immer als das, was sich vom Andern unterscheidet. Das Eine besteht als solches nur im Verhältnis zum Andern. Nicht die Tautologie, sondern die Heterologie erweist sich als die fundamentalere logische Bestimmung. Das Andere ist ebenso positiv wie das Eine; es steht unableitbar neben ihm und bildet innerhalb des Logischen ein notwendiges Element. Durch Negation des Einen kommen wir nicht zum positiv gedachten Andern. Negativität und Andersheit sind deshalb scharf auseinander zu halten, wenngleich zuzugestehen ist, daß das Eine nicht das Andere und umgekehrt ist. Wie gezeigt gehört zum Begriff des rein logischen Gegenstandes noch der Begriff der Synthesis. Wir haben das Eine und das Andere. Erst durch Zerlegung der Synthesis kommen wir zum Einen und Andern.77 Kroners Einwände ergeben sich aus einer Fragestellung, die so bei Rikkert nicht existiert. Er geht von der Kantischen Unterscheidung zwischen Anschauung und Begriff, Empirie und Denken aus, deren Zusammenwirken für die Ermöglichung wirklicher Erkenntnis zwar von Kant gefordert wird, was aber doch zum Problem wird. Dieses erledigt sich für Rickert 76 77
Vgl. H. Rickert: »Das Eine, die Einheit und die Eins«, a. a. O., 31–34. Vgl. ebd., 35–38.
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durch das Verständnis des Inhalts überhaupt als logischer Ort für Alogisches. Wie in einer Funktion dient der Inhalt überhaupt als Variable, für die beliebige konkrete Inhalte eingesetzt werden können (erlebnismäßige wie mathematische oder formallogische). Kroner befürchtet aber, daß Rickert hier Empirie und Logik in einem Subsumtionsverhältnis denke: der rein logische Gegenstand als Gattungsbegriff, dem das Alogische, Anschauliche subsumiert werde. Ein solches Denken verfehle den transzendentalphilosophischen Ansatz Kants, denn dieser meint ein gegenstandsbegründendes Denken.78 Möglicherweise sieht sich Kroner zu diesem Einwand durch eine unzulängliche Darstellung des Gedankengangs bei Rickert genötigt, die diesen aber nicht wirklich trifft. Denn eine Subsumtionstheorie läßt sich Rickert nicht unterstellen, wenn man die Auffassung des Inhalts überhaupt als logischen Ort für Alogisches berücksichtigt. Außerdem sind – wie W. Flach betont – Begriffe für Rickert nicht leere Formen, die durch einen empirischen Inhalt erfüllt werden müßten, sondern Produkte der Synthesis von Inhalt und Form und insofern konkret-allgemein. Jedes logische Etwas enthält schon ein Alogisches. Der logische Gegenstand ist nicht abstrakte Form für die Empirie, existiert nicht neben den empirischen Gegenständen, bestimmt sie nicht abstrakt-klassifi zierend, sondern konkret-prinzipiierend.79 Von dem Rickert-Schüler B. Bauch wird dann deutlicher als von Rickert herausgestellt, daß der Begriff wesentlich als Funktion zu verstehen ist, also das Konkrete bestimmt, ohne selbst schon voll konkret zu sein. In diesem Punkt zeigt sich eine grundlegende Übereinstimmung zwischen dem Südwestdeutschen und Marburger Neukantianismus, denn auch für H. Cohen – und später für E. Cassirer – ersetzt der Funktions- den Gattungsbegriff. 80 Ein anderer Diskussionspunkt betrifft das Verhältnis zwischen Synthesis und ihren Momenten. Nach Rickert gewinnen wir das Eine und Andere durch Zerlegung der Synthesis. Hier ergibt sich für Kroner ein Widerspruch: Die Momente müssen als solche festgehalten werden können und insofern abtrennbar sein, andererseits bilden sie nur zusammen den logischen Gegenstand. Wenn man diesen Widerspruch festhält, muß man konsequenterweise das Identische zugleich als Verschiedenes, Anderes denken; es ist es selber und zugleich sein Anderes. 81 Was treibt nun – so fragt Kroner – fort vom Identischen zum Andern, was fordert 78 79 80 81
Vgl. R. Kroner: »Anschauen und Denken«, a. a. O., 103 f. Vgl. W. Flach: Negation und Andersheit, a. a. O., 23–27. Vgl. in vorliegender Arbeit unten, 110, 81. Vgl. R. Kroner: »Anschauen und Denken«, a. a. O., 106–108.
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das Andere? Nach Kroner ist es der Widerspruch, das eine Moment mit dem andern als dasselbe zu denken. Aufgrund der Widersprüchlichkeit wäre das Andere das zum Einen Gegensätzliche. Der Widerspruch, die Negation spielte dann eine entscheidende Rolle, um zum Andern zu kommen, d. h. die Negation ginge der Andersheit voraus. 82 Demgegenüber behauptet Rickert, daß wir zur Verneinung etwas hinzufügen, das nicht aus der Verneinung stammt, wenn wir das Andere positiv denken. 83 Aber auch so gesehen würde die Negation der Andersheit vorangehen, denn vor dem Hinzufügen stände die Negation, die ergänzt werden soll. Entgegen der Auffassung Rickerts wäre die Negation im Logischen wahrhaft zeugend. 84 Wenn Rickert es anders meint, dann kann er sich nach Kroner nur auf ein empirisch, nicht logisch Anderes beziehen. Er empirisiert das Apriori, macht die Logik zu einer andern Art der Erfahrung. Insofern gilt die Bezeichnung (von S. Hessen) der Rickertschen Position als transzendentaler Empirismus für Kroner zu Recht. 85 Das empirisch Andere kann nicht logisch, durch Negation erzeugt werden. Das gilt auch für Kroner, nur bestreitet er die Existenz des von Rickert behaupteten ursprünglich logischen Anderen, für das dann das empirisch Andere nur die Konkretisierung und sinnliche Anschauung liefert. Kroner wird man darin recht geben müssen, daß das Ganzheitsgefüge des rein logischen Gegenstandes nur in Abgrenzung der Momente vom Ganzen und untereinander bestimmbar wird; insofern geschieht die Abgrenzung des Einen vom Andern in der Tat durch Negation. Wie oben angesprochen86 , zwingt uns auch nach Rickert unser an Zeit gebundenes Denken, erst das Eine und dann das Andere zu nennen. W. Flach führt dies auf die Diskursivität unseres Denkens zurück, das urteilend eine Sache bestimmt. Im Verneinen und Bejahen wird einem Subjekt ein Prädikat zu- oder abgesprochen. Für die sich in Urteilen vollziehende Analyse des Gegenstandes muß die Negation als ein logisch Ursprüngliches erscheinen. Doch davon ist das Denken des rein Logischen zu unterscheiden, das urteilsmäßige Bestimmung erst ermöglicht, denn die Heterothesis des logischen Gegenstandes wird schon für das Operieren mit Subjekt und Prädikat vorausgesetzt. Wenn wir nach Rickert zur Verneinung noch etwas hinzufügen, das nicht aus der Negation stammt, dann gehen wir zurück auf ein logisch Ursprünglicheres, das wir aber urteilsmäßig nur 82 83 84 85 86
Vgl. ebd., 108–110. Vgl. H. Rickert: »Das Eine, die Einheit und die Eins«, a. a. O., 36. Vgl. R. Kroner: »Anschauen und Denken«, a. a. O., 111–113. Vgl. ebd., 96, 110, 120; Flach: Negation und Andersheit, a. a. O., 21. Vgl. in vorliegender Arbeit oben, 61.
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mit Hilfe der Negation bestimmen können. Man muß also festhalten, daß es verschiedene logische Sphären gibt. 87 Da Kroner dies nicht beachtet, muß er den Widerspruch als das allein bestimmende Moment betrachten. Während empirisches Denken den Widerspruch zu vermeiden hat, schreitet die Logik nur durch den Widerspruch voran. Das empirisch-sinnliche Denken ist immer heterologisch eingestellt, das logische hingegen widerspruchsvoll, da es der Tautologie widerspricht. Durch die Gegensätzlichkeit wird die Identität erst sie selbst; Identität ist sie selbst und zugleich ihr Gegenteil. Im logischen Denken geschieht die Auflösung des Widerspruchs heautologisch, im Selbstbewußtsein, das der sich aufhebende Widerspruch ist. 88 Das ursprüngliche Anliegen Kroners, den von Kant ererbten Gegensatz von Anschauung und Denken aufzuheben, scheint so gesehen aber nicht sein Ziel zu erreichen, denn eher hat sich der Gegensatz durch die Entgegensetzung von Empirie und Logik verschärft. 89
Geschichte und Philosophie Kulturphilosophie impliziert eine Philosophiegeschichte und eine Philosophie der Geschichte. Für die Geschichtsphilosophie unterscheidet Rikkert drei Ebenen: 1. Geschichtsphilosophie als Universalgeschichte bzw. Weltgeschichte, die über die historischen Einzelwissenschaften hinausgeVgl. W. Flach: Negation und Andersheit, a. a. O., 33–38. Vgl. R. Kroner: »Anschauen und Denken«, a. a. O., 122–127. 89 Kritisch zu Kroner vgl. S. Marck: »Dialektisches Denken in der Philosophie der Gegenwart«, in: Logos 15 (1926), 39–41. Kroner hat auf die Abhandlung Flachs geantwortet, vgl. R. Kroner: »Zur Problematik der Hegelschen Dialektik. Bemerkungen im Anschluß an eine Schrift von Werner Flach«, in: Hegel-Studien 2 (1963), 303– 314. In Anlehnung an Hegel verteidigt Kroner einen Begriff von Spekulation, in dem heterologisches und antithetisch-dialektisches Prinzip, Anschauung und Denken vereinigt werden (vgl. 313). Die Diskussion führt weiter K. Hartmann: Hegels Logik, hrsg. von O. Müller, Berlin/New York 1999, 66–69. – Kroner verstand sich nicht als orthodoxer Hegelianer, vgl. Brief vom 12.9.1942 an J. Cohn: »Ich habe mich später Hegel genähert, weil ich glaubte, er habe den philos. Ausdruck für die in der Bibel geäußerte Weltanschauung gefunden. Ich hatte unrecht! Und ich bin ja auch nie ein ›orthodoxer‹ Hegelianer geworden und gewesen. Heute weiß ich daß ›Weisheit‹ mehr ist als ›Liebe zur Weisheit‹, und daß Weisheit nicht in Form eines begriffl ichen Systems, sondern nur in Form sinnbildlicher Verkündigung ausgesprochen werden kann, wie es in der Bibel der Fall ist.« Zitiert nach A. Model: »›Kritische Kraft der Negation‹. Zur Hegel-Rezeption Jonas Cohns«, in: Hegel-Jahrbuch 1992, hrsg. von H. Kimmerle u. W. Lefèvre, Fernwald 1992, 196. 87
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hend das Allgemeine zu erfassen sucht 2. Geschichtsphilosophie als Wissenschaft von den historischen Prinzipien (Sinn der Geschichte, Gesetze der Geschichte) 3. Geschichtsphilosophie als Teil der Logik im weitesten Sinn. 90 Letztere behandelt den oben erwähnten Gegensatz von generalisierendem und individualisierendem Verfahren. 91 In Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft kann sowohl generalisierend als auch individualisierend verfahren werden. Die Dominanz der individualisierenden Methode in der Geschichtswissenschaft ergibt sich aber daraus, daß es die menschliche Geschichte im Gegensatz zur Naturgeschichte mit Sinngehalten zu tun hat, die individuell (für bestimmte Individuen und Gemeinschaften) von Bedeutung sind. Solche Sinngehalte verweisen wiederum auf Werte. 92 Damit ist auch der zweite Punkt bestimmt; Geschichtsphilosophie als Wissenschaft von den historischen Prinzipien muß immer von Werten ausgehen. Das nach dem Vorbild der Naturwissenschaften vorgehende generalisierende Verfahren erfaßt nicht das spezifisch Geschichtliche des menschlichen Kulturlebens. Bezüglich des ersten Punktes – Geschichtsphilosophie als Universalgeschichte – ist Geschichtsphilosophie stark auf die Arbeit der Historiker angewiesen. Durch die Beziehung auf ein Wertesystem gelangt aber der Philosoph zu einer systematisierenden Kulturwissenschaft und kann dadurch dem in der historischen Einzelwissenschaft latenten Historismus entgegentreten. Das bedeutet andererseits, daß er die neutrale, nicht wertende, wenngleich wertbeziehende Betrachtung des Historikers verlassen muß zugunsten einer kritischen Wertung. Er kann nicht ohne den Begriff des Fortschritts auskommen, d. h. er muß Vergangenheit und Gegenwart an dem messen, was sein soll. 93 Die Bezugnahme auf Werte impliziert die auf ein Ideal, d. h. einen Idealismus. In diesem Zusammenhang wird die Besinnung auf Kant und den Deutschen Idealismus relevant. Sieht man einmal davon ab, daß diese Epoche der Philosophie von metaphysischen Annahmen abhängig war (intelligibler Charakter Kants, Geschichtsmetaphysik Hegels), die nicht mehr zu übernehmen sind, so kann man doch dieses festhalten, daß Kant den Menschen in Anerkennung der Leistung der Naturwissenschaft wieder in den Mittelpunkt stellte. Bei ihm ist sich das Subjekt als praktische Vernunft seiner Freiheit als des wahren Sinns der Welt und ihrer Geschichte gewiß. Der Deutsche Idealismus übernimmt dieses Erbe Kants: Vgl. H. Rickert: »Geschichtsphilosophie«, in: W. Windelband (Hg.): Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, a. a. O., 324 f. 91 Vgl. in vorliegender Arbeit unten, 85. 92 Vgl. H. Rickert: »Geschichtsphilosophie«, a. a. O., 355. 93 Vgl. ebd., 400–402. 90
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» […] auch Hegel hat vom Begriff der Freiheit aus sein geschichtsphilosophisches System entworfen, das viel mehr umfaßt als die aus seinem Nachlaß herausgegebenen ›Vorlesungen‹, und er hat damit zugleich den heute vielfach noch nicht verstandenen Höhepunkt dieser Art der geschichtsphilosophischen Betrachtung erreicht. Auf den Inhalt seines Systems können wir hier nicht eingehen. […] Nur das ist hier wichtig, daß die Philosophie des Deutschen Idealismus überhaupt einen unbedingten Wertbegriff fand, der es ihr ermöglichte, das Ganze des geschichtlichen Verlaufes in der angegebenen Weise philosophisch zu behandeln, daß dieser Wertbegriff zugleich formal genug war, um zum Beziehungspunkte für die Universalgeschichte zu dienen, wie das besonders bei Hegel in großartiger Weise zum Ausdruck kommt […].«94 Trotz seiner scharfen Kritik an Hegels Dialektik gesteht Rickert die Bedeutung von Hegels historisch orientiertem Idealismus für die Probleme der Kultur und Geschichte also zu. In Hegels Geschichtsphilosophie spielt nach Rickert dessen Metaphysik nur eine geringe Rolle, da sie sich in lauter Begriffen bewegt, die aus dem immanenten geschichtlichen Leben entnommen und auf dieses bezogen sind. 95 Die Geschichtsphilosophie als notwendiger Teil der Kulturphilosophie ist eng verbunden mit der Geschichte der Philosophie, die in der heutigen Form nach Rickert erst seit Hegel möglich ist. Sie ist nicht ein Friedhof überholter Lehren, sondern stellt jeweils legitime Zusammenfassungen von Überzeugungen dar, bei denen allerdings nicht nur zu verweilen, sondern über die letztendlich hinauszugehen ist. Rickert will Hegels Diktum, daß die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt sei, differenzieren. Einerseits ist dies richtig, andererseits ist zu betonen, daß die Philosophie auch ihre Zeit überspringen darf. Kein Philosoph hat bisher gemeint, seine Philosophie sei nur seine Zeit in Gedanken erfaßt. Es hat durchaus einen Sinn danach zu streben, daß die Abhängigkeit der Philosophie von ihrer Zeit immer geringer wird, wenn es auch keine in jeder Hinsicht von der Kulturlage ihrer Zeit unabhängige Philosophie gibt. Rickert sieht in der Beschäft igung mit den Philosophen früherer Zeiten gerade eine Möglichkeit, über die geschichtliche Bedingtheit hinauszuwachsen. Nur durch die Geschichte kommen wir von der Geschichte los. 96 Dies ist ein ProEbd., 409. Vgl. ebd., 410, 417. 96 Vgl. H. Rickert: »Geschichte und System der Philosophie« (1932), in: Philosophische Aufsätze, a. a. O., 232, 268, 276, 278 f., 287. Entsprechend formuliert Rickert 94 95
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gramm, das Rickert als Windelbands Erbe aufnimmt. 97 Man kann sich im Blick auf die Anfänge der Philosophie in Griechenland von seinem eigenen historisch bedingten Horizont befreien. Zu beachten bleibt, daß die Beschäft igung mit der Geschichte der Philosophie der Arbeit an der Zukunft dienen muß. 98 Von diesem Gesichtspunkt aus bedeutet Geschichte der Philosophie als Kenntnis der Vergangenheit um der Vergangenheit willen lediglich eine Spezialwissenschaft ; wenn sie sich verselbständigt, führt sie zum Historismus. Eine andere Form von Historismus sieht Rickert in Hegels Versuch, den Fortschritt des Denkens mit der geschichtlichen Abfolge der Systeme in der Zeit zusammenfallen zu lassen. 99 Es hat sich gezeigt, daß für Rickert Geschichte nur unter Berücksichtigung von Werten ein Gegenstand historischen und philosophischen Interesses sein kann. Der Historiker stellt Geschichte wertbezogen, aber nicht wertend dar. Er hat sich mit der Art der Werte und ihrer jeweiligen Konkretisierung in den geschichtlichen Objekten zu beschäft igen. Er fi ndet Güter wie den Staat, Wirtschaft , Kunst, Religion als empirische Wirklichkeiten vor und betrachtet, wie sie in ihrer geschichtlichen Individualität die an ihnen haftenden Werte verwirklichen. Danach gliedert er das Geschehen in wesentliche und unwesentliche Bestandteile.100 Die philosophische Wertelehre hingegen bezieht sich auf die Geschichte als das Material einer Wertelehre. Sie würde vom Regen des Psychologismus in die Traufe des Historismus geraten, wenn sie die Wertelehre selber zu Geschichte werden ließe. Als Geschichtsphilosophie systematisiert sie im Ausgang von einer Prinzipienlehre als Wertetheorie die Geschichte, teilt sie in Epochen ein und faßt historische Teilindividualitäten zu einer historischen Universalindividualität (Mittelalter, Neuzeit mit ihren verschiedenen Wertsystemen) zusammen.101
Hegels Satz von der Vernünft igkeit der Wirklichkeit in den Grundlinien der Philosophie des Rechts um: »was vernünft ig ist, das ist nicht nur wirklich, und was nur wirklich ist, das ist noch nicht vernünftig« (H. Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriff sbildung, a. a. O., XXI). 97 Vgl. H. Rickert: Windelband, a. a. O., 39 f. 98 Vgl. H. Rickert: »Geschichte und System der Philosophie«, in: Philosophische Aufsätze, a. a. O., 299, 316 f. 99 Vgl. Hegel: »Zur Geschichte der Philosophie«, in: GW 18, 49; H. Rickert: »Geschichte und System der Philosophie«, in: Philosophische Aufsätze, a. a. O., 313, 316. Diese Kritik fi ndet sich schon bei Windelband, vgl. in vorliegender Arbeit oben, 52 f. 100 Vgl. H. Rickert: System der Philosophie, a. a. O., 218 f.; ders.: »Die Heidelberger Tradition und Kants Kritizismus«, in: Philosophische Aufsätze, a. a. O., 362. 101 Vgl. H. Rickert: System der Philosophie, a. a. O., 229 f., 231, 321.
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Ein Teil der Kulturphilosophie ist auch die Wissenschaft slehre, die die theoretischen Werte, d. h. die wahren Sätze der Wissenschaften, zum Gegenstand hat. Entsprechend hat sie auch auf die Wissenschaftsgeschichte als Material der theoretischen Werte einzugehen. Die Kulturphilosophie steht sogar als theoretische Wertelehre logisch den Naturwissenschaften und der Mathematik näher als den historischen Kulturwissenschaften. 102 Die Kulturphilosophie bleibt immer an die geschichtliche Wirklichkeit gebunden, da Werte nicht frei schwebend existieren, sondern an Gütern haften. Auch ist Geschichte nicht nur Material vorgegebener Werte, sondern in ihr entstehen neue Werte. Man kann als Beispiel die neuzeitliche Wissenschaft anführen, die ein Kulturgut besonderer Art darstellt. Sie ist erst spät entstanden und wahrscheinlich in ihrem Wesen noch nicht ausreichend begriffen. Angesichts dieser starken Bindung an die Geschichte stellt sich die Frage, ob es überhaupt möglich ist, ein System der Werte aufzustellen.103 Ein solches System muß ein offenes System sein. Es hat einerseits die Unabgeschlossenheit des geschichtlichen Kulturlebens zu berücksichtigen, andererseits Faktoren, die die Geschichte überragen. Daß es solche übergeschichtlichen Faktoren geben muß, läßt sich aus dem einfachen Gedanken ableiten, daß die Voraussetzungen einer Entwicklung nicht selber wieder die Entwicklung sein können. Diese Voraussetzungen sind 1. Werte, die gelten 2. wirkliche Güter, an denen die Werte haften 3. Subjekte, die werten. Rickert stellt nun im Anschluß an die traditionellen Wertgebiete: Logik, Ästhetik, Ethik, Religion ein System der Werte auf.104 Er erweitert es durch den ethischen Wert des persönlichen Gegenwartslebens, der sich an den Durchschnittsmenschen wendet und von der Philosophie ganz vergessen wurde. Für jedes dieser Wertgebiete kann man Partei ergreifen, so daß verschiedene Weltanschauungen entstehen. Es stellt sich dann die Frage, ob die Philosophie von einer theoretischen Weltanschauungslehre zu einer Weltanschauung selbst übergehen, d. h. ob sie den Kampf der Weltanschauungen nicht nur betrachten, sondern selber aktiv Stellung nehmen soll.105 Rickert ist nun der Meinung, daß eine solche Stellungnahme legitim ist. Die Philosophie kann nicht wie die Spezialwissenschaften die Zukunft abwarten, sondern sie muß ein Ende machen wollen, auf die
Vgl. ebd., 344 f. Vgl. H. Rickert: »Vom System der Werte« (1913), in: Philosophische Aufsätze, a. a. O., 73 f. 104 Vgl. dazu im einzelnen Ch. Krijnen: Nachmetaphysischer Sinn, a. a. O., 538 ff . 105 Vgl. H. Rickert: »Vom System der Werte« (1913), in: Philosophische Aufsätze, a. a. O., 75, 77, 94 f., 100 f. 102 103
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Gefahr hin, daß es ein partikulares Ende ist. Die Philosophie sucht in dem Strom der rastlos vorwärts strebenden Entwicklung einen Ruhepunkt zu fi nden, um die Bedeutung des bisher Erreichten für den Lebenssinn zu Bewußtsein zu bringen. Zukunft ist in einer so verstandenen Philosophie als Weltanschauungslehre nicht ausgeschlossen, das System bleibt offen. Der Philosoph weiß, daß die Entwicklung über sein System früher oder später hinwegschreiten wird: »Aber er will nun einmal festhalten, was er im Moment besitzt, damit es nicht im Entwicklungsstrom verloren geht, und er hat dazu ein Recht, wenn er von der Überzeugung geleitet ist, daß er umfassender und einheitlicher denkt als seine Vorfahren.« 106 Rickert hat sich trotz der Offenheit seines Systemdenkens nicht ganz von den damaligen nationalistischen Strömungen freihalten können. Dies könnte u. a. an der Erweiterung der traditionellen Wertgebiete durch den Wert des persönlichen Gegenwartslebens liegen (unter den auch die Nation fällt), dem zu sehr Raum gegeben wird. Auch das Bekenntnis zur Philosophie nicht nur als Weltanschauungslehre, sondern als Weltanschauung erweist sich in diesem Zusammenhang als nicht unproblematisch.107
Hermann Cohen und Paul Natorp108 Aufgrund seiner engen Anlehnung an H. Cohens Philosophie war P. Natorps Eigenständigkeit für Außenstehende oft kaum erkennbar. Doch hat er zumindest in zwei Punkten Cohens philosophische Konzeption erweitert und sich dadurch schließlich von ihm entfernt. Es handelt sich um die Arbeiten zu einer philosophischen Psychologie und um die späte
Ebd. 104. Wie Ch. Krijnen betont, ergibt sich daraus für Rickert ein Vorrang der System- vor der Problemgeschichte. Der Fortschritt der Philosophie geschieht nicht stückweise, von Problem zu Problem, sondern aufgrund des Ganzheitsanspruchs von System zu System. Zu unterscheiden ist dabei zwischen der Idee der Philosophie und ihrer Verwirklichung in den jeweiligen Systemen, vgl. Nachmetaphysischer Sinn, a. a. O., 570 f.; Philosophie als System, a. a. O., 262–265. 107 Vgl. H. F. Fulda: »Heinrich Rickerts Anpassung an den Nationalsozialismus (Zum 27. Januar 1998)«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47 (1999), 253–269. 108 Hermann Cohen (1842–1918) stammte aus einer strenggläubigen jüdischen Familie. Er studierte Philosophie und Philologie in Breslau und Berlin. In Berlin besuchte er die Lehrveranstaltungen des Aristotelikers A. Trendelenburg, wurde aber durch H. Steinthal und M. Lazarus zur Philosophie J. F. Herbarts geführt. Er promovierte 1865 in Halle über Kontingenz und Notwendigkeit in der antiken Phi106
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Ausarbeitung einer dialektischen Philosophie, in der Natorp neu philosophisch ansetzt.
losophie. Im Jahre 1871 erschien sein erstes Hauptwerk Kants Theorie der Erfahrung. Vergeblich reichte er diese Schrift in Berlin als Habilitationsschrift ein. Schließlich gelang ihm mit Unterstützung von F. A. Lange die Habilitation 1873 in Marburg. Nach dem Tode Langes, der ihn weiterhin unterstützt hatte, wurde er dessen Nachfolger in Marburg (1876–1912). Nach seiner Emeritierung ging er nach Berlin an die dortige Lehranstalt des Judentums und widmete sich religionsphilosophischen Fragen. Zu seinen Hauptwerken sind neben Kants Theorie der Erfahrung zu rechnen: Das Prinzip der Infinitesimalmethode (1883), sein System der Philosophie, das die Logik der reinen Erkenntnis (1902), die Ethik des reinen Willens (1904) und die Ästhetik des reinen Gefühls (1912) umfaßt, schließlich sein Spätwerk Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (1919). Vgl. H.-L. Ollig: Der Neukantianismus, a. a. O., 29–36; U. Sieg: Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus. Die Geschichte einer philosophischen Schulgemeinschaft , Würzburg 1994, 107–119. Zur Hegel-Rezeption Cohens vgl. H. Holzhey: Cohen und Natorp, 2 Bde., Basel/Stuttgart 1986, 1, 65–67; ders: »Entzauberung des Pantheismus. Cohens Kritik an Hegels und Schellings Metaphysik«, in: D. Pätzold/Ch. Krijnen (Hg.): Der Neukantianismus und das Erbe des deutschen Idealismus: die philosophische Methode, a. a. O., 55–59; R. Wiehl: »Reflexion und Korrelation als Methodenbegriffe in den Systemphilosophien Hegels und Cohens«, in: H. F. Fulda u. Ch. Krijnen (Hg.): Systemphilosophie als Selbsterkenntnis, a. a. O., 67–93. – P. Natorp (1854–1924) studierte in Berlin, Bonn und Straßburg, wo er 1876 über ein spezielles historisches Thema promovierte. Im Jahre 1880 bot sich ihm die Gelegenheit, nach Marburg zu gehen, wo er H. Cohen begegnete, der auf seine weitere philosophische Entwicklung einen bleibenden Einfluß ausübte. Er schloss sich dessen Linksliberalismus und Kant-Interpretation an und habilitierte sich 1881 bei ihm mit einer erkenntnistheoretischen Arbeit über Descartes. In seinen Vorlesungen und Schriften arbeitete er insbesondere den Beitrag Platons, Descartes’, Spinozas und Leibniz’ zur Entwicklung der kritischen Philosophie Kants heraus und suchte Cohens oft schwer verständliche Gedanken einem breiteren Publikum nahezubringen. Seine Hausberufung im Jahre 1893 ermöglichte eine enge universitätspolitische Zusammenarbeit mit Cohen. Es ergab sich die fast einmalige Situation, daß zwei politisch und philosophisch gleichgesinnte Ordinarien den philosophischen Lehrbetrieb einer Universität bestimmen konnten. Dies war die eigentliche Geburt des so genannten Marburger Neukantianismus, der in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg mit N. Hartmann, H. Heimsoeth, E. Cassirer eine beträchtliche universitätspolitische Macht erlangte. Natorps Veröffentlichungen umfassen ein breites Spektrum: 1. Geschichte der Philosophie (vgl. bes. Platos Ideenlehre 1903) 2. systematische Philosophie (vgl. bes. Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften 1910) 3. Psychologie 4. praktische Philosophie 5. Pädagogik. Vgl. H.-L. Ollig: Der Neukantianismus, a. a. O., 37–44; U. Sieg: Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus, a. a. O., 158–173. – Zur Hegel-Rezeption Natorps vgl. J. Stolzenberg: »Selbsterkenntnis und Systemphilosophie: Hegel und der späte Paul Natorp«, in: H. F. Fulda u. Ch. Krijnen (Hg.): Systemphilosophie als Selbsterkenntnis, a. a. O., 95–111.
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Zunächst ist auf Natorps Ausgangspunkt, Cohens Philosophie des reinen Denkens, einzugehen. Schon bei Cohen könnte man einen Einfluß des Hegelschen Denkens vermuten, insofern er in seiner Logik der reinen Erkenntnis (1902) eine Ursprungsphilosophie entwickelt. Der Quell aller Wahrheit soll das reine Denken sein; dieses ist ursprünglich, voraussetzungslos. Cohen wendet sich nicht nur gegen jede psychologische Begründung der Erkenntnis109, gegen die sich schon Kant gerichtet hatte, sondern auch gegen Kant selber, der die Selbständigkeit des Denkens beeinträchtigt habe, indem er dem Denken die reine Anschauung vorordnete.110 Es ist dem fundamentalen Vorurteil entgegenzutreten, als ob dem Denken sein Stoff von der Empfi ndung gegeben werde und es diesen Stoff nur zu bearbeiten habe111: »Nur das Denken selbst kann erzeugen, was als Sein gelten darf. Und wofern das Denken nicht in sich selbst den letzten Grund des Seins zu graben vermag, kann kein Mittel der Empfi ndung die Lücke ausfüllen. Alle Streitigkeiten der Standpunkte erklären sich aus der fundamentalen Bedeutung dieses Gedankens. Man müsse dem Denken die Existenz hinzufügen. Man müsse dem Begriffe die Existenz beilegen. Woher aber sie nehmen, so daß sie verwendet werden kann? Dem Denken, als reinem Denken, muß solches Hinzufügen und Beilegen als unerlaubt gelten.«112 Dem Denken darf deshalb nur dasjenige als gegeben gelten, was es selbst aufzufi nden vermag. Diese Konzeption der Erzeugung des Gegenstandes der Erfahrung durch das reine Denken vertritt nicht nur die Interessen der alten Metaphysik – Cohen denkt hier besonders an Platon –, sondern auch die der neuzeitlichen mathematischen Naturwissenschaft. Er beruft sich auf deren Begriff des Unendlichen, des Infi nitesimalen. Cusanus wird für ihn zum eigentlichen Begründer der deutschen Philosophie, weil er zuerst den mathematischen Begriff des Unendlichen zum Ausgangspunkt der wissenschaft lichen Erkenntnis gemacht habe. 113
Vgl. H. Cohen: Kants Theorie der Erfahrung, in: Werke, hrsg. vom HermannCohen-Archiv am Philosophischen Seminar der Universität Zürich unter der Leitung von H. Holzhey, Bd. 1, Teil 1.1., Hildesheim 1987 (Reprograf. Nachdruck der 3. Aufl ., Berlin 1918), 97 ff. 110 Vgl. H. Cohen: Logik der reinen Erkenntnis, in: Werke, Bd. 6, Hildesheim 1977 (Reprograf. Nachdruck der 2. Aufl ., Berlin 1914), 27. 111 Vgl. ebd., 58. 112 Ebd., 81. 113 Vgl. ebd., 32, 82. 109
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Die Logik des reinen Denkens ist Logik des Ursprungs, insofern das reine Denken sozusagen aus dem Nichts das Sein erzeugt. Um den Ursprung des Etwas zu fi nden, muß man sich an das Nichts wenden: »Es scheint absurd, um das Etwas zu fi nden, sich an das Nichts zu wenden, das den wahren Abgrund für das Denken zu enthalten scheint. Wie könnte diese Mißgeburt des Denkens als Ursprungsbegriff des Etwas dienlich sein? Indessen wir stecken nun einmal in tiefster Not. Aus dem Etwas kann das Etwas nicht erzeugt werden. Das wäre idem per idem. Wir müssen daher wohl oder übel zu seinem Widerspiel unsere Zuflucht nehmen. Es warnt uns zwar der alte Spruch: Ex nihilo nil fit. Vielleicht aber: ab nihilo. Es soll ja nicht der Ursprung des Nichts, sondern der des Etwas gefunden werden. Das Nichts soll nur eine Station auf diesem Wege vorstellen. Wir kennen bereits die logische Richtung dieses Weges. Es ist die Frage, welche zum Etwas führen soll. Und eine Station auf diesem Weg der Frage, eine verstärkte Frage, nichts Anderes bedeutet der Kreuzweg des Nichts. Nicht etwa die Aufrichtung eines Undings, welches Widerspruch zum Etwas bezeichnen sollte, ist das Nichts; sondern vielmehr eine Ausgeburt tiefster logischer Verlegenheit, die doch aber nicht bis zur Verzweiflung an der Erfassung des Seins sich entmutigen läßt.«114 Die Entstehung des Seins aus dem Nichts geschieht kraft der Kontinuität, d. h. wir müssen schon »die logische Richtung« des Weges kennen. Wenn wir nach dem Ursprung des Etwas fragen, besitzen wir schon ein Wissen, ein Wissen des Nichtwissens, das über eine Kenntnis des Kontextes verfügt, in dem sinnvoll nach etwas gefragt werden kann. Das Nichts erweist sich als relatives Nichts, es ist »nur das Schwungbrett, mit dem der Sprung kraft der Kontinuität ausgeführt werden soll.«115 Auf diese Weise werden der Reihe nach Zahl, Zeit, Raum, Bewegung usw. aus dem Nichts erzeugt und als Kategorien ausgezeichnet. Bei der Behandlung des Urteils des Widerspruchs kommt Cohen wieder auf das Nichts im Urteil des Ursprungs zurück, um das Nicht des verneinenden Urteils von dem Nichts des Urteils des Ursprungs zu unterscheiden: »Zur Entdeckung des Ursprungs bedurften wir des Nichts, wenigstens als eines Mittels. Es war kein absolutes Nichts, sondern nur ein relatives, auf einen bestimmten Entdeckungsweg gerichtetes. Es war ein
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Ursprungs-Etwas. Es war vielmehr die Umgehung des Nichts, die sich in diesem ursprünglichen Korrelativ zum Etwas vollzog.«116 Das Nicht im verneinenden Urteil spricht einem Inhalt, der sich anmaßt, Inhalt eines Urteils zu sein, dieses Recht ab, ohne damit schon zu einem neuen Inhalt zu kommen. Dieses, den Übergang zu einem Etwas, soll aber nach Cohen das Nichts des Urteils des Ursprungs erwirken. Die Geltung des verneinenden Urteils setzt die Geltung des Satzes der Identität und des Widerspruchs voraus. Im Gegensatz zu Hegel hält Cohen an diesen Denkgesetzen fest. Sie sind Qualifi kationen der Selbstbestimmung des Denkens vor allen kategorialen Bestimmungen des Urteils.117 Mit der Aufhebung der Denkgesetze würden die Sittlichkeit der Geisteswissenschaften und die Wahrheit der mathematischen Naturwissenschaften zugrunde gehen: »Es ist ein schlechter Trost, daß durch die dialektische Bewegung der Begriffe, welche in dem ›Umschlagen der Gegensätze‹ sich vollzieht, der Horizont des geschichtlichen Blickes erweitert, und das vergleichend, universelle Interesse an den geschichtlichen Begebenheiten, Erscheinungen und Einrichtungen aller Art selbst gleichsam beweglicher wurde. Wenn die kontrollierenden Grundsätze, die den Inhalt des Denkens stabilisieren, umgerissen werden, so gibt es keine Sicherheit im ganzen Gebiete. Die Gewißheit der Erkenntnis hört auf, und so muß sich die Philosophie von der Wissenschaft loslösen, in der sie die Einheit der Erkenntnisse bildet.«118 Cohens Abgrenzung von Hegels Dialektik darf aber nicht übersehen lassen, daß seine Logik des Ursprungs eine gewisse Nähe zu Hegels Philosophie besitzt, wenn man an dessen Philosophie zu Anfang der Jenaer Zeit denkt, wo das Nichts als das Erste bezeichnet wird, aus dem alles Sein hervorgegangen ist.119 Cohen ist jedoch auf Distanzierung von Hegels Philosophie bedacht. Hauptkritikpunkt ist die Aufhebung der Differenz von Sein und Sollen, von Wirklichkeit und Idee sowie die Gleichsetzung von Begriff und Idee. 120 Ebd., 105. Vgl. H. Holzhey: »Entzauberung des Pantheismus«, a. a. O., 58. 118 H. Cohen: Logik der reinen Erkenntnis, a. a. O., 113 f. 119 Vgl. Hegel: »Diff erenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie«, in: GW 4, 16. 120 Vgl. H. Cohen: Logik der reinen Erkenntnis, a. a. O., 314; ders.: Ethik des reinen Willens, in: Werke, Bd. 7, Hildesheim 1981 (Reprograf. Nachdruck der 2. Aufl ., Berlin 1907), 331; zu weiteren Stellen vgl. H. Holzhey: »Entzauberung des Pantheismus«, a. a. O., 56 f., 59. 116 117
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Gleichwohl bleiben Ansatzpunkte für eine Parallelisierung beider Denkansätze übrig, die schon früh vorgenommen wurde. Nach E. von Aster gibt es einen inneren Zusammenhang von Neukantianismus und Hegelianismus aufgrund der gleichen Anknüpfungspunkte und gleichen Problemstellung. Natorp gesteht dies zu, hebt aber auch die Unterschiede hervor. Wie in Hegels Philosophie werde vom reinen Denken ausgegangen und Kants Dualismus von Anschauung und Denken verworfen. Ebenso werde wie bei Hegel Kant mit Platon verknüpft , wodurch sich tiefgehende Übereinstimmungen auch in Einzelheiten ergeben. Strikt abzulehnen sei aber Hegels Absolutismus, von Hegels Anspruch einer absoluten Philosophie sei man himmelweit entfernt. Vielmehr sei die Methode der Forschung nie abgeschlossen, das Kulturschaffen ein ewiges Fieri: »Sonst gehen wir mit Hegel in recht vielem zusammen; man könnte fast sagen: er teilt mit dem in unserem Sinne gedeuteten und weiter entwickelten ›kritischen Idealismus‹ alles Wesentliche, bis auf das Eine: seinen Absolutismus. Allein das wäre ungefähr, wie wenn man sagen wollte, Tycho Brahe sei mit Kopernikus ganz einer Meinung gewesen, bis auf die Kleinigkeit der Leugnung der Erdbewegung. Der Vergleich trifft auch in dem Sinne zu: der Absolutismus Hegels bedeutet, trotzdem er auf dem ›Prozeß‹, auf der Bewegung der Begriffe fußen will, dennoch in Wahrheit eine Stillstellung des Gedankens. Sein Weltgang ist in den bekannten vier Perioden vollendet, fertig. Das ist es, was wir niemals mitmachen werden.«121 Zu den tiefgehenden Übereinstimmungen in Einzelheiten gehört Cohens Kritik an Kants Gesinnungsethik und die Orientierung an dem durch den Staat verbürgten Recht. Im Unterschied zu Hegel hält er aber an Kants Standpunkt des Sollens fest.122 Eine weitere Übereinstimmung dürfte die jeweils positive Anknüpfung an das mathematisch Unendliche darstellen123 , die zugleich wieder mit einem tiefgehenden Unterschied verbunden ist, insofern Cohen im Unterschied zu Hegel das rein funktionale Denken der neuzeitlichen Naturwissenschaft übernimmt. Er hält die
P. Natorp: »Kant und die Marburger Schule«, in: Kant-Studien 17 (1912), 213, vgl. 210 ff. 122 Vgl. M. Pascher: »Cohens Ethik im Spannungsfeld zwischen Kant und Hegel«, in: R. Brandt u. F. Orlik (Hg.): Philosophisches Denken – politisches Wirken. Hermann-Cohen-Kolloquium Marburg 1992, Hildesheim 1993, 95–109. 123 Vgl. Hegel: GW 21, 237; H. Cohen: Das Prinzip der Infi nitesimal-Methode und seine Geschichte. Ein Kapitel zur Grundlegung der Erkenntniskritik, hrsg. von W. Flach, Frankfurt/M. 1968. 121
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von Aristoteles ausgehende Substanzphilosophie für einen großen Irrtum der Philosophie. Maßgebend ist für ihn demgegenüber Platons Ideenlehre, die er eigenwillig als Grundlegung im Sinne der Idee als Hypothesis versteht.124 Die letzten Grundlagen der Erkenntnis sind Grundlegungen, deren Formulierungen sich gemäß dem geschichtlichen Fortgang wandeln müssen.125 Das reine Denken ist immer nur in Beziehung auf das jeweils gegebene Faktum der Wissenschaft (Naturwissenschaft oder Rechtswissenschaft) rein, dessen Grundlagen im reinen Denken aufzudecken Aufgabe der Philosophie ist. Cohens Ursprungslogik bedeutet als solches hypothetisches Denken eine Entkräft igung des Absoluten. 126 Insofern ist sein Prinzip des Ursprungs kein metaphysisches Absolutes, aber auch kein nur hypothetisches Denken im Sinne einer jeder Zeit revisionsfähigen Hypothese.127 Natorp hat Schwierigkeiten, Cohens Logik des Ursprungs nachzuvollziehen. Er macht sich den Ausgang vom Nichts dadurch verständlich, daß er ihn mit der Null in der Quantität vergleicht, die auch nicht schlechthin
Vgl. H. Cohen: Logik der reinen Erkenntnis, a. a. O., 210 ff., 222 f., 280 ff., 458, 601. Zur Deutung der Idee als Hypothesis vgl. K.-H. Lembeck: Platon in Marburg. Platon-Rezeption und Philosophiegeschichtsphilosophie bei Cohen und Natorp, Würzburg 1994, 89 ff .; ferner R. Wiehl: »Reflexion und Korrelation als Methodenbegriffe in den Systemphilosophien Hegels und Cohens«, in: H. F. Fulda u. Ch. Krijnen (Hg.): Systemphilosophie als Selbsterkenntnis, a. a. O., 75, 86, 91. Zu Hegels Deutung des modernen Funktionsbegriff s vgl. R. Wahsner: »›Der Gedanke kann nicht richtiger bestimmt werden, als Newton ihn gegeben hat.‹ Das mathematisch Unendliche und der Newtonsche Bewegungsbegriff im Lichte des begriff slogischen Zusammenhangs von Quantität und Qualität«, in: A. Arndt u. Ch. Iber (Hg.): Hegels Seinslogik, a. a. O., 271–300. 125 Vgl. H. Cohen: Ethik des reinen Willens, a. a. O., 85. 126 Vgl. H. Cohen: Logik der reinen Erkenntnis, a. a. O., 606; G. Edel: »Die Entkräft igung des Absoluten. Ursprung und Hypothese in der Philosophie Hermann Cohens«, in: E. W. Orth u. H. Holzhey (Hg.): Neukantianismus, a. a. O., 329–342. 127 Der geltungstheoretische Status der Cohenschen Ursprungslogik bleibt umstritten. Für S. Marck bleibt das Urteil des Ursprungs zweideutig: »Der Ursprung ist bald Erzeugung des Etwas aus seiner Negation, seinem Widerspruch, bald ein noch-nicht-Etwas in demselben Sinne, wie die Frage als Nichtwissen das Wissen, das mathematisch Unendliche das Endliche begründet« (S. Marck: »Die Lehre vom erkennenden Subjekt in der Marburger Schule«, in: Logos 4 (1913), 371). Zur neueren Deutung vgl. die unterschiedlichen Stellungnahmen von J. Stolzenberg: »Oberster Grundsatz und Ursprung in Hermann Cohens theoretischer Philosophie«, in: R. Brandt u. F. Orlik (Hg.): Philosophisches Denken – politisches Wirken, a. a. O., 88, 94; G. Edel: »Fichte – Marburger Neukantianismus (insbesondere Natorp) und die philosophische Methode«, in: D. Pätzold u. Ch. Krijnen (Hg.): Der Neukantianismus und das Erbe des deutschen Idealismus, a. a. O., 41 f. 124
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Nichts ist, sondern Ausgangspunkt für jede Quantität, für +1 oder –1. Das Nichts des Ursprungsurteils wäre dann eine qualitative Nullsetzung. In ihr ist, wie auch Cohen betont, eine Richtung vorgegeben auf etwas hin, wie in der Null die Richtung auf das +/–. Diese Richtung auf etwas hin bedeutet für Cohen eine Sonderung und zugleich Vereinigung128 – Sonderung, insofern durch die Negation unter verschiedenen möglichen Bestimmungen ausgesondert wird, Vereinigung, insofern schließlich kraft der Kontinuität eine Bestimmung des Etwas ausgewählt wird. Diesen Gedanken Cohens aufgreifend erklärt Natorp, daß das Nichts des Ursprungs Ausdruck des Verfahrens von Sonderung und Vereinigung ist, die in notwendiger Wechselbeziehung stehen.129 Dieses Verfahren bietet nun für Natorp einen noch ursprünglicheren Ansatz des Denkens dar, insofern es nichts anderes als die synthetische Einheit des Denkens bezeichnet: »Nicht ein Mannigfaltiges ist zuerst und wird dann zur Einheit gebracht, sondern es kann nur ausgegangen werden von dem schlechthin ursprünglichen Verfahren des Denkens. In diesem sind von Anfang an, in untrennbarer Zusammengehörigkeit und Wechselbedingtheit gegeneinander wirkend, die beiden Richtungen der Sonderung und der Vereinigung. Die Einheit der Synthesis ist Vereinigung, nämlich eines Mannigfaltigen, welches also im Denken der Einheit selbst notwendig mitgedacht wird. Und das Mannigfaltige ist Sonderung, nämlich der zu Grunde liegenden Einheit, die also wiederum im Denken des Mannigfaltigen selbst notwendig mitgedacht wird. So wird das Denken zum unendlichen, unendlich sich entwickelnden Verfahren, zum ewigen Proceß, als welcher es auch thatsächlich nur vorliegt, nämlich in der stets sich entwickelnden, nie zum Abschluß kommenden Forschung der Wissenschaft.«130 Von dieser Konzeption der synthetischen Einheit des Denkens ausgehend kritisiert er Cohens Deutung des verneinenden Urteils. Da Sonderung und Vereinigung in einem sich wechselweise bedingenden Prozeß stehen, ist die Verneinung (Sonderung) immer schon auf Anderes (Vereinigung) bezogen. Wir kommen so auf die Verschiedenheit, das Anderssein, als den ursprünglichen Sinn des Nicht. Durch die Verneinung wird nicht nichts gedacht – ein absolutes Nichts zu denken ist unmöglich, sondern ein Vgl. H. Cohen: Logik der reinen Erkenntnis, a. a. O., 93. Vgl. H. Holzhey: Cohen und Natorp, a. a. O., 2, 23–25. 130 Ebd., 9 f.; vgl. J. Stolzenberg: Ursprung und System. Probleme der Begründung systematischer Philosophie im Werk Hermann Cohens, Paul Natorps und beim frühen Martin Heidegger, Göttingen 1995, 70–74. 128
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anderer Inhalt. Verneinung ist also eine relative Nichtsetzung, nämlich Setzung des Andersseins. Natorp beruft sich hierfür auf Platons Sophistes.131 Die Priorität der Andersheit gegenüber der Negation ergibt sich, wenn man in Kontexten, bestehenden Alternativen denkt. Dann impliziert die Negation das Andere, weil nichts anderes in dem bestehenden Kontext in Frage kommt. So kann Natorp Negation als Verweis auf Andersheit interpretieren, da er von der synthetischen Einheit des Denkens ausgeht, in der Sonderung (Verneinung) und Vereinigung (Anderes) in Wechselbeziehung stehen. – Wie gezeigt, betont auch Rickert die logische Priorität der Andersheit vor der Negation. Diese führt für sich genommen nicht zur Andersheit, sondern hat nur eine heuristische Funktion für die Bestimmung des Anderen. In Kontexten und Alternativen gedacht impliziert die Negation jedoch Andersheit.132 Ferner nimmt auch Rickert eine synthetische Einheit des Denkens, eine ursprüngliche trennende und verbindende Beziehung des Einen und des Anderen an. Er unterscheidet sich jedoch von Natorp durch seine Wertphilosophie, in der ein ursprünglicher Dualismus von realem Sein und irrealem Gelten angenommen wird, der durch jene sondernde und vereinigende Beziehung nur relativ überwunden werden kann.133 Natorp gibt seinem Ausgang von der synthetischen Einheit des Denkens eine besondere Wendung. Für Cohen wird die korrelative Einheit von Sonderung und Vereinigung im reinen Denken gedacht. Natorp fragt darüber hinaus nach einer konkreten Verortung dieses Denkens und wird so zur Ausarbeitung einer philosophischen Psychologie geführt, die das Subjekt des reinen Denkens genauer zu bestimmen sucht. Man könnte hier Parallelen zu Hegels Denkentwicklung in der Jenaer Zeit sehen, in der Hegel seine Philosophie des Absoluten schrittweise durch eine Bewußtseinslehre ergänzt, die dann schließlich in der Phänomenologie des Geistes ihren Niederschlag fi ndet. 134 – Im Kontext seiner Cohen-Rezeption bedeutet Natorps Ausarbeitung einer philosophischen Psychologie die Realisierung eines Plans, den Cohen nicht mehr hatte ausführen können. Dieser dachte an eine Psychologie als weiteren Systemteil, der zu den bereits ausgeführten Systemteilen, Logik, Ethik, Ästhetik, hinzukommen sollte. Er hatte sich bei der transzendentalphilosophischen Begründung
Vgl. H. Holzhey: Cohen und Natorp, a. a. O., Bd. 2, 31, 51. Vgl. H. Rickert: Die Logik des Prädikats und das Problem der Ontologie, a. a. O., 206 ff. 133 Vgl. in vorliegender Arbeit oben, 62 f. 134 Vgl. W. Bonsiepen: »Einleitung«, in: G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, hrsg. von H.-F. Wessels u. H. Clairmont, Hamburg 2006, XVII ff. 131
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des Kantischen Apriori der Erkenntnis auf das Faktum der Wissenschaft gestützt, um einer psychologischen Begründung der Erkenntnis zu entgehen. Gleichwohl sah er nach wie vor die Notwendigkeit eines transformierten transzendentalpsychologischen Zugangs.135 Dieser Problematik widmet sich Natorp in einem frühen Aufsatz, in dem er zwar an der nicht psychologisch begründbaren Objektivität der logischen Gesetze festhält, aber eine Methode der Rekonstruktion der Subjektivität aus der Objektivität entwickelt.136 Es folgt die Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode (1888) und deren Neubearbeitung in Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode (1912), in der er eine Theorie der Korrelativität von Objektivität und Subjektivität aufstellt. Im Jahr 1913 erscheint der Aufsatz Philosophie und Psychologie, der auf dem Hintergrund der zeitgenössischen Diskussion über das Verhältnis zwischen Philosophie und Psychologie deren Verhältnis systematisch zu bestimmen versucht.137 Die Allgemeine Psychologie wird als eine Grundlegung vorgestellt, der in einem zweiten Band eine ›Allgemeine Phänomenologie‹ des Bewußtseins folgen soll. Rekonstruiert werden soll die aller Objektivierung zugrunde liegende Subjektivität ursprünglichen Erlebens. Es geht um die Wiederherstellung der ganzen Konkretheit des Erlebens. Die Methode der Objektivierung soll gleichsam umgekehrt werden, dem Platonischen Aufstieg zu den Ideen im Höhlengleichnis soll der Abstieg in die Ebene der Erfahrung folgen.138 Objektivierung und Subjektivierung sind korrelativ aufeinander bezogen im Sinne eines korrelativen Monismus. Man kann nur subjektivieren, nachdem man vorher objektiviert hat. Die Rekonstruktion kann sowohl beim alltäglichen, nicht-wissenschaft lichen Bewußtsein ansetzen als auch beim wissenschaft lichen; beide Formen des Bewußtseins objektivieren. Leichter ist es, im Ausgang von den Objektivierungen der Wissenschaft das Subjektive zu rekonstruieren. Denn da die Wissenschaft im Gegensatz zur nichtwissenschaft lichen Vorstellung methodisch vorgeht, ist es einfacher, von ihr aus jeden Schritt wieder zurückzugehen. Somit hat die Psychologie ihre gesichertste Basis in den bewußtesten, reinsten Vgl. K. W. Zeidler: »Das Problem der Psychologie im System Cohens (mit Blick auf P. Natorp)«, in: W. Marx u. E. W. Orth (Hg.): Hermann Cohen und die Erkenntnistheorie, Würzburg 2001, 135–146, bes. 140 f. 136 Vgl. P. Natorp: »Ueber objective und subjective Begründung der Erkenntnis«, in: Philosophische Monatshefte 23 (1887), 283 f. 137 Vgl. zum zeitgenössischen Hintergrund U. Sieg: Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus, a. a. O., 357 ff. 138 Vgl. P. Natorp: Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode. Buch 1. Objekt und Methode der Psychologie, Amsterdam 1965, VI, 128, 193; ders.: »Philosophie und Psychologie«, in: Logos 4 (1913), 181 f. 135
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Objektivierungen der Wissenschaft . Für Natorp bleibt also der Bezug zur Wissenschaft bestimmend, sein Rückgang auf den ursprünglichen Erlebnisinhalt des Subjekts ist damit von dem der Lebensphilosophie seiner Zeit zu unterscheiden.139 Charakteristisch für jenen Rückgang ist eine Auflösung von starren Strukturen, die durch die objektivierenden Wissenschaften geschaffen wurden. Die Rekonstruktion besteht darin: »daß man die Objektivierung, insofern sie Zerlegung und damit Zerstörung des Vollerlebnisses wäre, in Gedanken wieder ungeschehen macht, das durch Abstraktion Geschiedene in die ursprünglichen Verbindungen wieder hineinstellt, den starren Begriffen die Bewegung zurückgibt, sie damit dem flutenden Leben des Bewußtseins wieder nähert, und durch dies alles das Vergegenständlichte auf die Stufe des subjektiven Gegebenseins wieder zurückleitet.«140 Dies erinnert an Hegels Verflüssigung des Verstandesdenkens durch den Begriff. Dabei ergibt sich eine gewisse Nähe zur Lebens- und Erlebensphilosophie (›flutendes Leben des Bewußtseins‹), obwohl die Rekonstruktion des konkreten Lebens für Natorp Objektivierung notwendig voraussetzt. Gleichwohl liegt die Tendenz zu einer gegenstandsorientierten, von einer Ichphilosophie sich distanzierenden Denkhaltung vor. Kants Transzendentalphilosophie kritisiert Natorp – wie Cohen141 – wegen ihrer allzu subjektivistischen Argumentation. Im Zuge dieser Kritik wird er dazu geführt, eine Selbstbezüglichkeit des Bewußtseins zu leugnen. Das Ich kann nicht sich selbst zum Gegenstand werden, denn wenn es sich objektiviert, hat es schon aufgehört Ich zu sein.142 Gegen diesen Standpunkt lassen sich Einwände formulieren, nicht zuletzt mit Rickert, für den das reine Ich ein logisch Unmittelbares ist, das die nicht weiter hinterfragbare Voraussetzung allen (heterologischen) Denkens darstellt.143 Natorp sieht die Problematik seiner philosophischen Psychologie, wenn er fragt: »Wie soll man dem gedachten letzten Subjektiven überhaupt beikommen, wie es überhaupt zu Begriff bringen, ohne es eben damit zu Vgl. P. Natorp: Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode, a. a. O., 71, 111 f., 195 f., 200, 292. 140 Ebd., 193. 141 Vgl. zu Cohen G. Edel: »Die Entkräft igung des Absoluten«, in: E. W. Orth u. H. Holzhey (Hg.): Neukantianismus, a. a. O., 331 f. 142 Vgl. P. Natorp: Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode, a. a. O., 28 f. 143 Vgl. K. Cramer: »›Erlebnis‹. Th esen zu Hegels Th eorie des Selbstbewußtseins mit Rücksicht auf die Aporien eines Grundbegriffs nachhegelscher Philosophie«, in: H.-G. Gadamer (Hg.): Stuttgarter Hegel-Tage 1970, Bonn 1974, 558–566; in vorliegender Arbeit oben, 64. 139
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– objektivieren […]?«144 Er gesteht, daß die Psychologie eine objektivierende Wissenschaft bleibt, so daß man nur von Stufen höherer zu solchen niedrigerer Objektivierung gelangt; ein absolut Subjektives entzöge sich aller empirischen Kontrolle. Es ist also nicht so, daß er beansprucht, das Geschäft der Penelope durchzuführen, welche nachts das Gewand wieder zerreißt (Rekonstruktion des ursprünglich Subjektiven), das sie am Tage gesponnen (objektivierende Wissenschaft). 145 Die Rekonstruktion des absolut Subjektiven bleibt eine unendliche Aufgabe, die allerdings nicht etwas Unmögliches versucht. Natorp macht dies am Phänomen der Erinnerung deutlich. Wie die Erinnerung zeigt, ist das Bewußtsein nicht in jedem Sinn der Zeit unterworfen. Sie reicht über das Jetzt hinaus, ist Gegenwart des Nichtgegenwärtigen. Im Bewußtsein ist ein Tendieren, das Richtung nimmt auf ein »gewissermaßen draußen Liegendes«, das den überzeitlichen Charakter des Bewußtseins beweist. Das vorzeitliche Urerlebnis als das ›draußen Liegende‹ ist also dem Bewußtsein prinzipiell zugänglich.146 Natorps Spätphilosophie Natorp setzt in seiner Spätphilosophie neu an, deren Nähe zu Hegels dialektischem Denken auff ällt. Sie fi ndet ihren Niederschlag in den Vorlesungen über praktische Philosophie, die Natorp noch vor seinem Tod zum Druck gegeben hat.147 Sie stehen in engem Zusammenhang mit den erst im Jahre 1958 veröffentlichten, von Natorp nicht mehr für den Druck ausgeP. Natorp: Philosophie und Psychologie, a. a. O., 192. Dies suggeriert S. Marck: »Die Lehre vom erkennenden Subjekt in der Marburger Schule«, a. a. O., 384. 146 P. Natorp: Philosophie und Psychologie, a. a. O., 196 f. – Für E. Husserls Abkehr vom Psychologismus waren Natorps Arbeiten wichtig. Es entwickelte sich eine Korrespondenz zwischen beiden Denkern, die bis zu Natorps Tod im Jahre 1924 andauerte. Vgl. I. Kern: Husserl und Kant. Eine Untersuchung über Husserls Verhältnis zu Kant und zum Neukantianismus, Den Haag 1964, 13 ff., 39. Auch auf M. Heidegger übte Natorps Psychologie starken Einfluß aus. Umgekehrt beeindruckten Heideggers Arbeiten Natorp, so daß dieser sich seit 1917 um einen Ruf Heideggers nach Marburg bemühte, der schließlich im Jahre 1923 erfolgte. Es ist unübersehbar, daß Heideggers denkerische Entwicklung durch die Natorpsche Spätphilosophie nachhaltig beeinflußt wurde. Vgl. Ch. v. Wolzogen: »›Den Gegner stark machen‹. Heidegger und der Ausgang des Neukantianismus am Beispiel Paul Natorps«, in: E. W. Orth/H. Holzhey (Hg.): Neukantianismus, a. a. O., 397–417, bes. 402 ff., 410 f. 147 Vgl. P. Natorp: Vorlesungen über praktische Philosophie, Erlangen 1925. Natorps praktische Philosophie kann als Sozialidealismus bezeichnet werden. Gegen den Vorwurf des Nationalismus und Präfaschismus richtet sich N. Jegelka: »Paul 144 145
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arbeiteten Vorlesungen über philosophische Systematik (Sommersemester 1922 u. 1923). Systematische Gründe und äußere Einflüsse bedingen den Neuansatz. Nicht zuletzt die Erfahrung des ersten Weltkriegs führte dazu, daß die in der Psychologie geforderte Rekonstruktion der Subjektivität im Kontext der praktischen Philosophie dringender wurde. Eine solche Rekonstruktion sollte aber nach wie vor vom Standpunkt der Idee bzw. des Systems aus geschehen, denn Philosophie fragt nach dem Ansichsein des Gegenstandes, nach dem Sein schlechthin. Es geht Natorp um die kategoriale Bestimmung des Letztgegebenen, das noch jenseits des neuzeitlichen Subjekt-Objekt-Gegensatzes liegt. Auszugehen ist von dem Streben der Philosophie nach dem einen, objektiven Wissen. Dieses verlangt nach einer kategorialen Grundlegung in einem System.148 Eine solche Aufgabe als ganze lösen zu wollen »hieße mit dem titanischen Entwurf Hegels um den Siegespreis ringen« zu wollen. In ihrem ganzen Umfang ist sie sicherlich nicht lösbar, doch können die ursprünglichen Fragerichtungen und durch sie die obersten Begriffseinteilungen in einem offenen System angegeben werden: »Dies muß wohl auf Grund einer geschlossenen Zahl von Grundkategorien sich in eindeutiger, ausschließender Bestimmtheit geben lassen, während das System der Kategorien überhaupt grenzenlos offen, keiner Erschöpfung in irgendeinem Sinne fähig sein wird.«149 Ausgangspunkt für eine solche kategoriale Grundlegung ist das Leben. Philosophie will das ganze Leben erfassen, sie ist Besinnung des Lebens auf das Leben. Was aber ist unter Leben zu verstehen? Gemeint ist Leben als Erleben, das eine Gewißheit seiner selbst enthält, die philosophisch allererst aufzuschließen ist. Wie Kant sich auf das Faktum der Wissenschaft oder des sittlichen Bewußtseins stützt, so hat die Philosophie jetzt von dem Faktum der Tat, der Akterfülltheit des Lebens auszugehen. Philosophie als kategoriale Grundlegung in einem System erweist sich somit als eine Darstellung des Lebens im Sinne des Erlebens. Die philosophischen Kategorien müssen deshalb auch als lebendige Funktionen gedacht werden, nicht nur als Klassifi kationen bzw. Schubfächer. Kategorien bilden sich in dem, was sie formen, heraus und wandeln sich ab. Sie sind als erzeugende Funktionen des inneren, konkreten Seinsaufbaus selbst zu Natorps Sozialidealismus«, in: H. Holzhey (Hg.): Ethischer Sozialismus. Zur politischen Philosophie des Neukantianismus, Frankfurt/M. 1994, 185–222. 148 Vgl. P. Natorp: Philosophische Systematik, hrsg. von H. Knittermeyer, Hamburg 2000, 1 f. 149 Ebd., 16, vgl. 19.
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begreifen. Darin betätigt sich eine schöpferische Kraft , die Natorp auch Urkraft bzw. Geist nennt. 150 Natürlicher Ausgangspunkt für ein solches Kategoriensystem sind die Modalitätskategorien, die auch bei Kant letztlich alle andern bestimmen.151 Anders als bei Kant folgt bei Natorp auf die Kategorie der Möglichkeit die der Notwendigkeit und dann der Wirklichkeit. Von den Modalitätskategorien geht er zu den Relationskategorien und den Kategorien der Individuation, wie er es nennt, d. h. Qualität, Quantität und Fügung oder Präsenz über. Hier bei der Kategorie der Fügung setzt er sich mit Hegels Theorie des Maßes auseinander. 152 Damit ist Kants Kategoriensystem an den Punkt geführt, wo eine andere Systematik eintritt, die die Gesetzlichkeit der ›Individuität‹ bzw. Aktivität zu erfassen sucht. So folgt eine Struktur-, Funktions- und Gehaltslogik als Planung im Praktischen, Durchführung des Geplanten und vollbrachte Leistung. Struktur, Funktion, Gehalt lassen sich auch modaltheoretisch bestimmen als Ermöglichung, notwendige Entwicklung und abgeschlossene Wirklichkeit – oder als Intention, Durchführung und Vollendung – oder als logische Elementarlehre, Methodenlehre und Vorführung der resultierenden logischen Gebilde.153 Die Strukturlogik ist unterteilt in die Phasen Begriff, Folgeentwicklung (Schluß) und Urteil. Entscheidend ist hier wie bei der Funktions- und Gehaltslogik das jeweils Dritte. Das Urteil gibt einen Entscheid, ein Ja oder Nein, die Antwort auf eine Frage.154 Die Funktionslogik ist unterteilt in die Phasen Rationalisierung, Historisierung und Aktualisierung. Aktualität individuiert die Rationalität und Historik, denn Rationalität und Geschichte müssen gelebt werden. Aktualität ist Gegenwärtigkeit, dies unterscheidet sie von der Historik, Aktualität ist schöpferisches Tun, Freiheit.155 Die Gehaltslogik ist unterteilt in die Phasen Theorie, Praxis, Poiesis. Eine Theorie der Poiesis (Schaffen), die eine Philosophie der Kunst und der Religion in sich schließt, hat Natorp nur noch abschließend skizziert.156 Sie steht dem schöpferischen Tun der Vgl. ebd., 2 f., 8 f., 12–14. Vgl. die schematische Übersicht bei H. Levy: »Paul Natorps praktische Philosophie. Zur Würdigung seiner ›Vorlesungen über praktische Philosophie‹«, in: KantStudien 31 (1926), 315 f. 152 Vgl. P. Natorp: Philosophische Systematik, a. a. O., 252 ff . 153 Vgl. P. Natorp: Vorlesungen über praktische Philosophie, a. a. O., 94 f., 274 f. 154 Vgl. ebd., 96 f. In dieser Auff assung des Urteils zeigt sich der Einfluß von H. Lotze, vgl. H. Lotze: Logik, hrsg. von G. Gabriel, Erstes u. drittes Buch, Hamburg 1989, Erstes Buch, Vom Denken, 61. 155 Vgl. P. Natorp: Vorlesungen über praktische Philosophie, a. a. O., 184 f. 156 Vgl. P. Natorp: Philosophische Systematik, a. a. O., 398 ff . 150 151
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Aktualität in der Funktionslogik sehr nahe, ist aber in ihrem Gerichtetsein auf das Überendliche zu unterscheiden von dem Handeln der Praxis, das im Übergang vom Endlichen zum Endlichen verbleibt.157 Die Gehaltslogik entwickelt eine Dialektik von Subjektivität und Objektivität, die Natorp zu einer grundlegenden Korrektur seiner früheren Bestimmung dieses Verhältnisses veranlaßt.158 Die in der Allgemeinen Psychologie behauptete Korrelativität von Objektivität und Subjektivität ist nun neu zu begründen. Nicht soll die Subjektivität aus einer vorher feststehenden Objektivität (in Naturwissenschaft und Mathematik) rekonstruiert werden, sondern die Subjektivität hat unbedingten Vorrang, Objektivität besteht »nur von Gnaden der Subjektivität«. Für das Subjekt ist das Objektive »etwas sehr Ärmliches […], unendlich Negatives […], Partialität, engste Verengung«; das Subjekt überragt das Objektive unendlich, vertritt eine neue Dimension.159 Diese Theorie der Subjektivität ist das Resultat einer allmählichen Revision des ursprünglichen Ansatzes, die Natorp mit einer immer stärkeren Besinnung auf das Phänomen des Lebens verbunden hat. Mit der etwas versteckt erst am Schluß der Philosophischen Systematik entwickelten Theorie der Subjektivität hätte Natorp konsequenterweise seine Darstellung beginnen müssen.160 Als Ausgangspunkt für die kategoriale Grundlegung seines Systems hatte Natorp zu Beginn der Philosophischen Systematik das Leben genannt. Aufgabe ist es, das Rätsel des Lebens, des Daseins zu erfassen. Das Rätsel besteht darin, daß wir überhaupt Sinn verstehen, d. h. Wörtern einen verstehbaren Sinn geben können. Es ist uns insofern die Welt unmittelbar vertraut, erschlossen.161 Wir befi nden uns hier jenseits der Subjekt-ObjektVgl. P. Natorp: Vorlesungen über praktische Philosophie, a. a. O., 168, 206. Vgl. P. Natorp: Philosophische Systematik, a. a. O., 383. 159 Ebd., 393 f. 160 Vgl. die Nachzeichnung der Wandlungen des philosophischen Standpunkts Natorps bei J. Stolzenberg: Ursprung und System, a. a. O., 171 ff., 219ff ; ferner ders.: »Selbsterkenntnis und Systemphilosophie«, in: H. F. Fulda u. Ch. Krijnen (Hg.): Systemphilosophie als Selbsterkenntnis, a. a. O., 95–111, 102: »Das, was Natorp in der letzten Vorlesung dieses Zyklus ausgeführt hat, das ist in Wahrheit der Ansatz zu einer neuen, hermeneutisch fundierten Theorie der Subjektivität, die als eine Theorie der Selbsterkenntnis von Subjektivität angelegt ist, und sie ist in Wahrheit die Grundlage des Systems der Philosophie.« 161 Vgl. P. Natorp: Philosophische Systematik, a. a. O., 27 f. Hier ergeben sich Parallelen zu M. Heideggers Begriffl ichkeit (Verstehen, Erschlossenheit, Weltvertrautheit), die dieser schon in seiner Freiburger Vorlesung von 1919 (Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem) entwickelt. Zu Natorps damaligen Möglichkeiten, diese Begriffl ichkeit zu rezipieren, vgl. J. Stolzenberg: Ursprung und System, a. a. O., 264–266. 157 158
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Spaltung. Aufgabe der Philosophie ist es nun, den ursprünglich gegebenen Sinn im Denken zu erfassen. Der Philosoph muß sich dazu gleichsam in einen reinen Nullpunkt des Denkens versetzen, wo noch nichts bestimmt ist. Der Sinn des Nullpunkts besteht darin, Ausgangspunkt für alles zu sein. Es ist der Zustand der vollständigen Urteilsenthaltung, den Natorp auch mit dem Husserlschen Terminus Epoché, der bloßen Gerichtetheit auf das gegebene ›Daß‹ bzw. das ›Es ist‹, bezeichnet.162 Vom Nullpunkt auszugehen bedeutet eine Anfangssetzung, die genau dem Sinn des Möglichen entspricht: »Etwas leuchtet auf; etwas, noch ganz unbestimmt was, nur irgendwas. Aber schon darin liegt ein Mindestes von Positivität, von Seinsbestand. Sei es nicht mehr als der Nullpunkt, von dem es ausgeht, so ist es doch nicht nichts, so schließt es doch schon in sich das ganze Gewaltige, selbst Unfaßliche, weil alles in sich Fassende: daß überhaupt etwas ist. Von diesem letzten Punkte aus müssen die Wege des Seins, alles Seins, ins Unendliche und in die unendlichen Richtungen und Dimensionen, in die es sich entwickelt, voraus zwar nicht bestimmt aber bestimmbar sein.«163 Der Ausgang vom Nullpunkt verliert eine gewisse Mystik, die ihm anhaftet, wenn man bedenkt, daß es schlicht um die Möglichkeiten des Seins als Leben geht. Dieses ist da als offene Möglichkeit, nicht als abgeschlossenes Sein. Das Denken hat sich nicht vorschnell auf eine Möglichkeit festzulegen, sondern sich für die Fülle von Möglichkeiten, die das Leben bietet, offen zu halten. Insofern ist der Begriff der Möglichkeit mit dem des Unendlichen verbunden. Schon in seiner Allgemeinen Psychologie verfolgt Natorp diesen Gedanken, indem er an die Stelle der Aktualität objektivierender Setzung die bloße Potentialität des Bewußtseins setzt und den Begriff der Potenz als den eigentlich systembildenden Begriff der Psychologie bezeichnet.164 Im Weiterschreiten vom Nullpunkt aus kommen wir zu Setzung und Entgegensetzung, zu differenziertem Auseinandertreten einer Mannigfaltigkeit von Beziehungen:
Vgl. P. Natorp: Philosophische Systematik, a. a. O., 30–32, 48–50. P. Natorp: Vorlesungen über praktische Philosophie, a. a. O., 11. 164 Vgl. P. Natorp: Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode, a. a. O., 232. Der frühe Heidegger, der sich mit der Allgemeinen Psychologie auseinandersetzt, knüpft offensichtlich in seinem Verständnis von Leben an Natorps Begriff des Lebens als Potenz an; vgl. J. Stolzenberg: Ursprung und System, a. a. O., 265. 162
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»So entwickelt sich die schwebende, in sich unbestimmte Möglichkeit überhaupt zu sein, ungefragt was?, zur Bestimmtheit, zur Gegeneinanderbestimmtheit des Seins und dessen was ist, und was es ist und beziehungsweise nicht ist.«165 Wir treten in die »Schiedlichkeit« ein, in den Kampf des Seins und Nichtseins, des Ja und Nein. Dem Leben ist Kampf und Tod eigen. Hier herrscht der Widerspruch. Er muß überwunden werden im Überendlichen – was immer das vorläufig heißen mag. Natorp sieht sich einig mit Heraklits Auffassung vom Einen, das sich entzweit und den Widerspruch in der Harmonie der Gegensätze überwindet. Er beruft sich aber auch auf den Dreischritt von Hegels dialektischer Methode, also These, Antithese, Synthese.166 Diese Nähe zu Hegel veranlaßt ihn, ausführlicher auf Hegels Ausgangspunkt, den Anfang der Wissenschaft der Logik mit dem Sein, einzugehen. Er kommt zu dem Schluß, daß seine »Bestimmungen mit denen Hegels der Substanz nach haarscharf zusammenfallen. Das Einzige, dem ich nicht zustimmen kann, ist, wie schon früher gesagt, die Behauptung der Objektivität der Logik. Aber diese will wesentlich nur die Nichtsubjektivität besagen, die auch ich stets behauptet habe. Nur verstehe ich die Verneinung der Subjektivität so, daß damit ebensowohl die Objektivität verneint wird, weil diese überhaupt nur im Gegenverhältnis zur Subjektivität besteht. […] Darf also in reiner Logik nicht von Subjekt, so darf auch, soweit, nicht von Objekt die Rede sein, in dem Sinne, daß Logik selbst ein Objektives sei, oder auch nur das Objektive irgend mehr oder anders als auch das Subjektive zum Gegenstand habe.«167 Er bezieht sich auf Hegels Ausführungen zum Verhältnis von Wissenschaft der Logik und vorangegangener Phänomenologie des Geistes. Hegel erklärt dort, daß die Logik es nun mit einem Wissen zu tun hat, das nicht mehr wie in der Phänomenologie dem Gegenständlichen gegenübersteht und nur dessen Vernichtung ist, sondern sich dieser Subjektivität entäußert hat und dem Gegenstand innerlich ist.168 Von Objektivität des dadurch gewonnenen Wissens spricht Hegel hier nicht, vielmehr von einem Wissen, das sich jenseits des Gegensatzes von Subjekt und Objekt der PhäP. Natorp: Vorlesungen über praktische Philosophie, a. a. O., 12. Vgl. P. Natorp: Philosophische Systematik, a. a. O., 35 ff., 40–42, 55. 167 Ebd., 59 f. 168 Vgl. Hegel: GW 21, 5511–18 : »Die Logik ist die reine Wissenschaft , d. i. das reine Wissen in dem ganzen Umfange seiner Entwicklung. Diese Idee aber hat sich in 165
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nomenologie befi ndet. Dieser Gegensatz soll dann in der Wissenschaft der Logik durch die Idee überwunden werden. Allerdings spricht Hegel an anderer Stelle von objektivem Denken, wiederum im Zusammenhang mit einem Rückblick auf die Phänomenologie.169 Natorps Auffassung, daß die Logik indifferent gegenüber dem Gegensatz von Subjektivität und Objektivität sein müsse und somit nicht objektiv sein könne, impliziert sein Verständnis des Transzendentalen: Jenseits vom Subjekt-Objekt-Gegensatz zu sein bedeutet transzendental zu denken.170 Natorp geht auch sehr detailliert auf Hegels Beschreibung des Anfangs als Einheit von Sein und Nichts ein. Er hebt eine Schwierigkeit des Textverständnisses hervor. Einmal spricht Hegel vom Anfang als Anfang mit dem reinen Sein, das sonst nichts ist.171 Dann kennzeichnet er den Anfang als Anfang von etwas, das werden soll. Als Anfang des Werdens ist er ein Nichts, von dem etwas ausgehen soll. Insofern soll der Anfang Sein und Nichts enthalten.172 Hegel betont aber, daß in dem so verstandenen Anfang Sein und Nichts unterschieden vorhanden sind, insofern er als Anfang von etwas ein Nichtsein ist, das auf das Sein als auf ein anderes bezogen ist.173 jenem Resultate dahin bestimmt, die zur Wahrheit gewordene Gewißheit zu seyn, die Gewißheit, die nach der einen Seite dem Gegenstande nicht mehr gegenüber ist, sondern ihn innerlich gemacht hat, ihn als sich selbst weiß, – und die auf der andern Seite das Wissen von sich als von einem, das dem Gegenständlichen gegenüber und nur dessen Vernichtung sey, aufgegeben, dieser Subjectivität entäußert und Einheit mit seiner Entäußerung ist.« 169 Mit der Befreiung von dem Gegensatz des Bewußtseins enthält die reine Wissenschaft den Gedanken, insofern er die Sache an sich selbst ist: »Dieses objective Denken ist denn der Inhalt der reinen Wissenschaft« (ebd., 34 1). Auch im Zusammenhang mit seiner Kant-Kritik stellt Hegel die Objektivität des Denkens heraus. Gegen Kants kritische Philosophie gewendet, die den logischen Bestimmungen eine nur subjektive Bedeutung gab, erklärt er, daß »die Denkbestimmungen eben so sehr objectiven Werth und Existenz haben« (ebd., 359–10). 170 Vgl. P. Natorp: Vorlesungen über praktische Philosophie, a. a. O., 8. 171 Vgl. Hegel: GW 21, 5911–12 : »Es liegt also in der Natur des Anfangs selbst, daß er das Seyn sey, und sonst nichts.« 172 Vgl. ebd., 6014–18 : »Es ist noch Nichts, und es soll etwas werden. Der Anfang ist nicht das reine Nichts, sondern ein Nichts, von dem etwas ausgehen soll; das Seyn ist also auch schon im Anfang enthalten. Der Anfang enthält also beydes, Seyn und Nichts; ist die Einheit von Seyn und Nichts; – oder ist Nichtseyn, das zugleich Seyn, und Seyn, das zugleich Nichtseyn ist.« 173 Vgl. ebd., 6019–21: »Ferner Seyn und Nichts sind im Anfange als unterschieden vorhanden; denn er weißt auf etwas anderes hin; – er ist ein Nichtseyn, das auf das Seyn als auf ein anderes bezogen ist; das anfangende ist noch nicht; es geht erst dem Seyn zu.«
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Gleich darauf behauptet Hegel jedoch die ununterschiedene Einheit von Sein und Nichts.174 Offensichtlich bedeuten diese widersprüchlich erscheinenden Aussagen für Hegel kein Problem, da es Aufgabe der Philosophie ist, die Identität der Identität und Nichtidentität zu denken.175 Natorp begnügt sich nicht mit dieser Auskunft , sondern sieht bei Hegel verschiedene Gesichtspunkte ineinander fl ießen, die zu unterscheiden sind. Hegels Text beschreibt zwei verschiedene Formen des Anfangs, einmal den Anfang mit dem reinen Sein, das sonst nichts ist, und den Anfang als Anfang von etwas, das werden soll. Die zweite Form des Anfangs bezeichnet eigentlich das Anfangende, nicht mehr den schlichten Anfang mit dem reinen Sein. Im Anfangenden sind Sein und Nichts vorhanden, aber als unterschieden, denn das Anfangende ist noch nicht und geht erst dem Sein zu. Wenn Hegel dann behauptet, daß im Anfang Sein und Nichts in ununterschiedener Einheit sind, kann er dies nicht mehr in bezug auf den Anfang als den Anfangenden sagen, da er Sein und Nichts hier unterscheidet. Natorp versucht, Hegels Erklärungen einen nachvollziehbaren Sinn zu geben, indem er eine dritte Bedeutung von Sein annimmt, die dem reinen Sein des Anfangs und dem Sein, das erst werden soll, übergeordnet ist. Diese beiden Formen von Sein enthaltend müsste ein solcher letzter Sinn des Seins auch das Nichtsein, das zum Anfang als Anfangenden, also zum Werden gehört, enthalten. Natorp erklärt: »Der scheinbare Widerspruch ist wohl dahin aufzulösen: im letzten, reinen Anfang sind sie [die Entgegengesetzten, Sein und Nichtsein] nicht unterschieden, aber dennoch, nein eben darum in ihm doch als unterschieden vorhanden.«176 Der Anfang in der neuen Bedeutung des reinen Anfangs wäre insofern der Anfang und das Anfangende, das reine Sein des Anfangs wäre mit dem Nichtsein des Anfangenden in ununterschiedener Einheit.177 Natorp verdeutlicht dies mit einem Beispiel aus der Mathematik. Der Anfang mit dem reinen Sein betrifft rein den Punkt des Ausgangs, vergleichbar mit der Null, das Anfangende den Fortgang vom Ausgangspunkt, die +/– Null, von der die Zahlenreihe in verschiedener Richtung anhebt. Beide Male geht es um die Null, jedoch in verschiedener Hinsicht. Es ist die Frage, ob Natorps Auflösung und das herangezogene Beispiel aus der Mathematik überzeugen. Sein Vorgehen zeigt jedenfalls, daß sich die Schwierigkeit des Textes für ihn nicht einfach mit Verweis auf die Vgl. ebd., 6025–26 : »Die Entgegengesetzten, Seyn und Nichtseyn sind also in ihm in unmittelbarer Vereinigung; oder er ist ihre ununterschiedene Einheit.« 175 Vgl. ebd., 60 29. 176 P. Natorp: Philosophische Systematik, a. a. O., 61. 177 Vgl. ebd., 58 f., 61. 174
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Dialektik von Identität der Identität und Verschiedenheit auflösen läßt. Er unterscheidet verschiedene Hinsichten und zieht sogar ein Beispiel aus der Mathematik heran, Verfahren, denen Hegel kritisch gegenüber steht. Schließlich gelangt er zu einer neuen Bedeutung von Sein, bei der es fraglich ist, ob Hegel sie überhaupt im Blick hatte. Zu erinnern ist an Rickerts Auflösung der Problematik des Hegelschen Anfangs mit Sein und Nichts.178 Als Denkformen kommen Sein und Nichts darin überein, daß sie in bezug auf Gegenständlichkeit nichts besagen. Die von Natorp analysierte zweite Form des Anfangs als Anfangendes bringt Sein und Nichts als Erkenntnisformen ins Spiel. Natorp versucht aber noch ein Drittes ausfi ndig zu machen, das Erkenntnis- und Denkform übergreift – eine Möglichkeit, die zu Verständnisschwierigkeiten führt und die Rickert ausschließt. Der Übergang vom Nullpunkt als Möglichkeit über die Notwendigkeit zur Wirklichkeit geschieht nach Natorp nicht unmittelbar, sondern es tritt ein Zustand ein, wo wir nach dem Ziel der Entwicklung fragen. Wir stehen am Scheideweg, können uns für A oder Nicht-A entscheiden. Wenn wir so fragen, verharren wir in der Schwebe, der Nichtentschiedenheit, müssen uns aber doch entscheiden. Der Widerspruch, dem wir begegnen, daß A und Nicht-A zugleich sein kann, treibt uns fort, diesen Widerspruch aufzuheben. Er ist real, muß aber aufgehoben werden. Daher ist es verständlich, daß die meisten Philosophen geglaubt haben, dem Widerspruch Wirklichkeit und selbst Sinnhaft igkeit gänzlich absprechen zu müssen. Andere sahen, daß der Widerspruch real ist: »Und so entsteht dann der Schein von zweierlei Logik, einer Logik des Widerspruchs, die Heraklit, und einer Logik des Nicht-Widerspruchs, die Aristoteles begründet habe.«179 Der Punkt des Übergangs, der Fraglichkeit, in dem A und Nicht-A zugleich bestehen, ist als Phase zu bezeichnen. Sie ist das ›Aufeinmal‹ oder ›Plötzlich‹ (dîáßöíçò) des Platonischen Parmenides. Der Übergang geschieht in der Schwebe zwischen zwei diskreten, von einander unterschiedenen Seinspunkten, in dem Zwischen (ìåôáîý). In diesem Übergang halten sich die kontradiktorisch gegenüberstehenden Bestimmungen die Waage. Sie sind in einer Weise des Seins, die durch die Kategorie der Möglichkeit gegeben ist. Im Unterschied zu Aristoteles’ Verständnis der Dynamis ist nach Natorp Möglichkeit als etwas zu denken, das die Potenz zur Vollendung in sich enthält. Erst durch die moderne Infi nitesimalrechnung sei es möglich geworden, die eigene Vollendbarkeit der in der 178 179
Vgl. in vorliegender Arbeit oben, 65. P. Natorp: Philosophische Systematik, a. a. O., 94, vgl. 91 f.
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Möglichkeit enthaltenen Unendlichkeit zu erkennen.180 Der Übergang im Sinne des infi nitesimalen Übergangs realisiert eine Möglichkeit und ist an das Gesetz der Stetigkeit gebunden. Natorp führt hier im Grunde Cohens Ursprungslogik aus, die nur zu einem positiven Resultat gelangt, wenn das Gesetz der Kontinuität vorausgesetzt wird.181 Der Widerspruch, daß sowohl A als auch Nicht-A sein können, treibt das Auseinandertreten in die unendliche Bezüglichkeit an, in den Kreislauf des Werdens, dem er zwar eine Richtung gibt, aber kein Gesetz vorschreibt, sondern es nur fordert, insofern er nur ein Problem aufwirft. 182 Hier wird deutlich, daß – wie Rickert sagt – die Negation nicht selber die Lösung angibt, sondern nur beim Suchen die Richtung weist.183 Bei Natorp vermißt man hier jedoch Rickerts klare Distanzierung von Hegels Dialektik. Natorps primäre Gewährsmänner für die positive Einschätzung des Widerspruchs sind Heraklit und Platon (im Sophistes und Parmenides), bei denen Hegel wohl auch selber in die Schule gegangen sei. Zustimmend bezieht er sich auf die Einleitung zur Wissenschaft der Logik, in der Hegel im Rückblick auf die Phänomenologie des Geistes erklärt, daß das Negative eben so sehr positiv sei, die Negation als bestimmte Negation verstanden werden müsse und die Dialektik, die der Inhalt an ihm selbst hat, ihn fortbewegt.184 Der Theorie der bestimmten Negation kann Natorp wohl desVgl. ebd., 96–99, 101. Vgl. in vorliegender Arbeit oben, 79. 182 Vgl. P. Natorp: Philosophische Systematik, a. a. O., 104. 183 Vgl. H. Rickert: System der Philosophie, a. a. O., 58. 184 Vgl. P. Natorp: Philosophische Systematik, a. a. O., 61 f.; Hegel: GW 21, 38 2–16, 21–25 : »Das Einzige, um den wissenschaftlichen Fortgang zu gewinnen; und um dessen ganz einfache Einsicht sich wesentlich zu bemühen ist –, ist die Erkenntniß des logischen Satzes, daß das Negative eben so sehr positiv ist, oder daß das sich Widersprechende sich nicht in Null, in das abstracte Nichts auflöst, sondern wesentlich nur in die Negation seines besondern Inhalts, oder daß eine solche Negation nicht alle Negation, sondern die Negation der bestimmten Sache, die sich auflöst, somit bestimmte Negation ist; daß also im Resultate wesentlich das enthalten ist, woraus es resultirt, – was eigentlich eine Tautologie ist, denn sonst wäre es ein Unmittelbares, nicht ein Resultat. Indem das Resultirende, die Negation, bestimmte Negation ist, hat sie einen Inhalt. Sie ist ein neuer Begriff, aber der höhere, reichere Begriff als der vorhergehende; denn sie ist um dessen Negation oder Entgegengesetztes reicher geworden; enthält ihn also, aber auch mehr als ihn, und ist die Einheit seiner und seines Entgegengesetzten. – In diesem Wege hat sich das System der Begriffe überhaupt zu bilden, – und in unaufhaltsamem, reinem, von Aussen nichts hereinnehmendem Gange, sich zu vollenden.« Diese Methode ist die einzig wahre, »denn es ist der Inhalt in sich, die Dialektik, die er an ihm selbst hat, welche ihn fortbewegt. Es ist klar, daß keine Darstellungen für wissenschaft lich gelten können, welche nicht den Gang die180 181
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halb folgen, weil sie das Moment der Aufhebung des Widerspruchs durch ihn selber bezeichnet. Der Widerspruch besteht, aber soll nicht bleiben. Die Überwindung geschieht nach der Theorie der bestimmten Negation im Sinne einer differenzierten Kritik, so daß das Widersprechende sich nicht in das abstrakte Nichts auflöst, sondern Elemente des kontradiktorisch Gegenüberstehenden erhalten bleiben. Natorp beruft sich ausdrücklich auf Hegels Dreisinn des Aufhebens, nach dem das Eine das Andere »nicht schlechthin von sich ausstößt, sondern erhält, aber hinaufhebt zu dem Höheren, worin beide miteinander, das Ja und das Nein, in ihrer Schwebe und Spannung gegeneinander erhalten bleiben.«185 So vollzieht sich in der dialektischen Entwicklung der Hegelsche Kreisgang, in welchem Anfang und Ende, Ausgang und Resultat eins sind. Während Hegel von Kreislauf spricht186 , will Natorp lieber von Spirale sprechen, weil hier etwas Neues hervorgehe. Der Sache nach soll ja auch in der Hegelschen Aufhebung etwas Neues entstehen, so daß zu Hegels Ausdrucksweise nicht unbedingt ein Gegensatz besteht. Natorp merkt an: »Doch werden wir die Frage scharf im Auge behalten, ob nicht bei Hegel doch eine falsche Geschlossenheit des Systems vorausgesetzt wird, gegen welche wir dann seine unbegrenzte Offenheit zu betonen und zu begründen hätten. Die Frage ist von großer Bedeutung, besonders für die Geschichtsphilosophie […].«187 Leider zitiert Natorp zwar zustimmend den Hegelschen Text über die bestimmte Negation, ohne aber im einzelnen zu zeigen, wie in seine eigene Systematik – in der Abfolge von Möglichkeit, Notwendigkeit und Wirklichkeit – die Dialektik genauer hineinspielt. Eine Differenz deutet sich lediglich in der Unterscheidung zwischen Spirale und Kreislauf an. Wir waren ausgegangen vom Nullpunkt als Möglichkeit, die verstanden werden muß als Ermöglichung des Fortgehens, das zunächst an den Scheideweg führt, wo A und Nicht-A sich gegenüber stehen. Der Widerspruch ist, aber er muß aufgehoben werden. Es ist die Notwendigkeit, die die Not des Widerspruchs zu wenden hat, den Schiedsspruch vollziehen, Eindeutigkeit herstellen muß. Hier im Bereich der Notwendigkeit gilt Aristoteles’ Nichtwiderspruchsprinzip. Gegenüber dem vorherigen Kriegszustand, in dem Eines und das Andere einander ausschließend auft raten, stiftet die ser Methode gehen und ihrem einfachen Rythmus gemäß sind, denn es ist der Gang der Sache selbst.« 185 P. Natorp: Philosophische Systematik, a. a. O., 63. 186 Vgl. Hegel: GW 21, 5726–28 . 187 P. Natorp: Philosophische Systematik, a. a. O., 64.
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Notwendigkeit wohl Frieden. Auf der Grundlage des Gesetzes wird jedem sein relatives Recht zugestanden. Dieser Friede ist jedoch nur kurzfristig, er verhüllt nur den schwelenden Kriegszustand. Die Notwendigkeit befreit nicht wirklich, sondern legt in Ketten.188 Natorp gebraucht noch ein anderes Bild. Die Notwendigkeit wirft nur ein Netz der Wirklichkeit aus, die angestrebte Eindeutigkeit erreicht nicht ihr Ziel: »Möglichkeit umschreibt nur einen Bereich und läßt ihn leer; Notwendigkeit teilt ab, grenzt ein, wirft gleichsam ein Netz über den ganzen Bereich der vorliegenden Möglichkeiten. Sie strebt dies Netz enger und enger zu ziehen, aber es bleibt immer Netz und läßt durch seine Maschen, so eng sie sich auch zusammenziehen mögen, das voll Wirkliche stets hindurchschlüpfen. Das Netz müßte, damit die Wirklichkeit sich darin einfangen ließe, unendlich dicht sein; aber die Bestimmung geht eben ins Unendliche weiter, und diese immer weitergehende Bestimmung, die allein der Notwendigkeit erreichbar ist, führt nie zu abschließender Bestimmtheit. Doch muß das letzte Wirkliche an sich ganz und gar, total bestimmt sein; Wirklichkeit besagt nichts anderes als totale Bestimmtheit.«189 Was aber ist das voll Wirkliche? Das ist die Kernfrage der Natorpschen Spätphilosophie – wie schon der früheren Psychologie. Zunächst verweist Natorp auf Wirklichkeit als Tat und Erleben. Von der Unmittelbarkeit des Erlebens – vielleicht vergleichbar mit Rickerts Protophysik – ist also auszugehen, sie ist ein nicht weiter hinterfragbares Faktum. Man müßte sonst sein eigenes Dasein leugnen. Mit dem Erleben ist es allerdings noch nicht getan; Erleben ist noch nicht Erkennen, wenn auch nur Erleben uns Erkenntnis geben kann. Mit dem Kritizismus Kants ist festzuhalten, daß der volle Seins- und Sinngehalt des Erlebens durchaus für uns unerkennbar bleibt. Der Vollgehalt des Erlebens ist ein unerkennbares Ansich, das man aber nicht mit Kant ein Ding (Ding an sich) nennen sollte. Dieses Ansichsein ist durch das Erlebnis in seiner Unmittelbarkeit gesichert, aber damit noch nicht erkannt.190 In diesem Ausgang von der Unmittelbarkeit des Erlebens scheinen Mißverständnisse vorprogrammiert zu sein. Von der strengen Gesetzesnotwendigkeit scheinen wir nun in den Zustand der Gesetzlosigkeit, einer krassen, unreflektierten Lebensphilosophie zu gelangen. Natorp versucht Vgl. ebd., 104 f., 114. P. Natorp: Vorlesungen über praktische Philosophie, a. a. O., 21 f., vgl. P. Natorp: Philosophische Systematik, a. a. O., 115. 190 Vgl. P. Natorp: Philosophische Systematik, a. a. O., 111, 113, 126 f. 188 189
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in verschiedener Weise deutlich zu machen, daß dies nicht gemeint ist. Zunächst ist festzuhalten, daß sich das Erleben nicht auf ein Leben im Sinne des bloß biologischen Lebens bezieht. Gemeint ist vielmehr eine überendlich-individuale Einheit des Lebens.191 Dies führt auf den Begriff der Wirklichkeit als des Überendlichen. Das Überendliche wird als eigentlicher Zielpunkt der Entwicklung vom Nullpunkt aus gedacht, als absolute Einheit von Sein und Sinn. Es steht als der dritte Schritt nach Möglichkeit und Notwendigkeit aber nicht in einer Reihe mit diesen Schritten, sondern besteht in absoluter Selbstgenügsamkeit, hinausgehend über alle Dimensionalität. Wenn Hegel vom Kreislauf spricht, in dem das Letzte auch das Erste ist, so spricht Natorp von einer Spirale, in der das Letzte außerhalb des Hegelschen Rundgangs liegt.192 Zwischen dem abstrakten Anfang im Nullpunkt und dem Überendlichen soll »ein nicht bloß unendlicher sondern unendlichfach unendlicher Abstand« liegen.193 Damit wird durch das dritte Moment der dialektischen Entwicklung diese gleichsam gesprengt. Es erscheint etwas, was sich offenbar in diese Dialektik nicht mehr einfangen läßt. Das dritte Moment enthält eine Dualität, einmal die Wirklichkeit des konkreten Erlebens und dann die überendlich-individuale Einheit des Lebens, die zwar auf das konkrete Erleben bezogen, aber doch als Überendliches, als absolute Selbstgenügsamkeit, von ihm scharf zu unterscheiden ist. Auch Rickert hat hier sorgfältig unterschieden, wie dies insbesondere seine Kritik an der zeitgenössischen Philosophie des Lebens deutlich macht.194 Natorp unterläuft allerdings seine scharfe Unterscheidung, indem er mit einem weiter gefaßten Begriff des Lebens arbeitet. Darin liegt der Vorteil, daß neben der Negation in der Aussage eine neue Form von Negation in den Blick gerät, nämlich die Negation des realen Widerspruchs, den wir am Scheideweg antreffen, wo wir uns für das eine oder andere entscheiden müssen. Im praktischen Leben treten wir unweigerlich in den Kampf der Gegensätze.195 Rickert hat im Zusammenhang seines heterologischen Denkens eine Theorie des Subjekts ausgearbeitet, das über die Fähigkeit des Trennens und Beziehens verfügt. Natorp entwickelt in Auseinandersetzung mit Cohens Ursprungslogik ebenfalls eine Theorie des synthetischen, d. h. trennenden und beziehenden Denkens.196 Nun, am Schluß der Philosophi-
191 192 193 194 195 196
Vgl. P. Natorp: Vorlesungen über praktische Philosophie, a. a. O., 67. Vgl. P. Natorp: Philosophische Systematik, a. a. O., 75, 80, 81, 285. Ebd., 53. Vgl. in vorliegender Arbeit oben, 58. Vgl. P. Natorp: Vorlesungen über praktische Philosophie, a. a. O., 339. Vgl. in vorliegender Arbeit oben, 62 f., 86.
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schen Systematik, gelangt er zu einer neuen Theorie der Subjektivität. Die Logik muß zunächst indifferent gegenüber dem Gegensatz von Subjektivität und Objektivität sein, dieser soll aus dem System der Kategorien erst entwickelt werden.197 Es zeigte sich dann aber, daß das System der Kategorien zu einem Überendlichen führt, dessen besondere Dimensionalität auf die unendliche Freiheit des Subjekts verweist. Dieses kann Bestimmungen frei setzen und wieder zurücknehmen. Es erweist sich letztlich als der Grund der am Anfang der Philosophischen Systematik erörterten Möglichkeit, die in dem Zurückziehenkönnen auf den reinen Nullpunkt besteht, von dem ausgehend Bestimmungen erst gesetzt werden. Objektivität wird nun als Bestimmtheit, Subjektivität als freie Beweglichkeit des Standpunktwechsels, unendliche Bestimmungsmöglichkeit verstanden. Als das Bestimmte, Festgelegte, Punktualisierte ist das Objektive dem Subjekt nicht mehr frei verfügbar; jenes ist insofern das Negative, dieses das Positive; dem Negativitätsmoment des Objektiven steht die ursprüngliche Bejahung und Positivität des Subjekts gegenüber. Diese ist nur der umgekehrte Ausdruck der wahren Negativität des Objekts. Beides kann sich aber gar nicht berühren und deshalb auch nicht in Widerspruch zueinander treten, weil es sich um verschiedene Richtungen handelt, die im unendlichen logischen Raum nebeneinander Platz haben.198 Das Objektive ist auf das Subjektive bezogen als ein möglicher Blickpunkt des Subjekts, den es »wandernd, in freiem Standpunktwechsel für die jeweils zu vollziehende Objektivation« sich setzt.199 Ein Widerspruch zwischen Punktsetzung, Negativität, Unfreiheit des Objektiven und Bestimmungsfreiheit des Subjekts besteht nicht, weil die Punktsetzung eine von »Gnaden der Freiheit des Subjekts«200 ist und dadurch nur zu einer andern, mit dem Subjektiven verträglichen Richtung wird. Der echte Logos umfaßt beide Richtungen, Ja-Sein und Nichtsein. Der so verstandene neue Sinn der Korrelation von Subjektivität und Objektivität erweist sich als der gesuchte umfassendste Standpunkt: Das Sein, das des Nichtseins mächtig ist, enthält ungleich mehr positiven Seinsgehalt als dasjenige Ja-Sein, welches das Nein gänzlich von sich ausschließt. 201 Während der frühe Natorp versuchte, die ursprüngliche Subjektivität des Erlebens zu rekonstruieren, hat sich jetzt das Verhältnis fast umgekehrt. Gleichwohl hält Natorp an der Korrelation von Subjektivität und 197 198 199 200 201
Vgl. P. Natorp: Philosophische Systematik, a. a. O., 60, 83 f. Vgl. ebd., 389–392. Ebd., 391. Ebd., 392. Vgl. ebd., 395.
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Objektivität fest, auch die neu gefaßte Subjektivität bleibt dem übergreifenden Logos verpfl ichtet, der sowohl das Ja-Sein als auch das Nichtsein enthält. Die Positivität der Subjektivität ist nur indirekt durch die Negativität der Objektivität zu erfassen. Man könnte auch sagen, daß die Objektivität die Subjektivität symbolisiert. So hat es jedenfalls Cassirer in seinem Nachruf auf Natorp gesehen: »Und im Grunde bleibt kein Zweifel daran zurück, daß alle diese Bezeichnungen für das Letzt-Wirkliche und Letzt-Individuale nichts anderes als Symbole sein können und daß sie nichts anderes als dies zu sein beanspruchen dürfen. Damit rückt auch für Natorp der Symbolbegriff an eine zentrale Stelle des philosophischen Systems. Das letzte Gespräch, das ich mit ihm führen durfte, bewegte sich um diesen Punkt – und ich hatte die Freude, hier das volle Einverständnis mit ihm feststellen zu können. Ich führe diese Übereinstimmung an, nicht um mich für meine eigenen Bemühungen um eine ›Philosophie der symbolischen Formen‹ auf die Autorität eines Denkers wie Natorp zu berufen, sondern weil ich sie als Gewähr dafür betrachte, daß die systematischen Aufgaben, die sich von hier aus ergeben, nichts Vereinzeltes und nichts Zufälliges sind, sondern daß sie sich in methodischer Stetigkeit und in strenger Folgerichtigkeit aus den Grundvoraussetzungen des philosophischen Idealismus selbst ergeben.«202 Abschließend kann man zum Verhältnis Natorps zu Hegel festhalten, daß in seiner Spätphilosophie ganz und gar Hegel präsent ist, daraus aber nicht folgt, daß er Hegel gefolgt ist. Nur scheinbar fallen seine »Bestimmungen mit denen Hegels der Substanz nach haarscharf« zusammen. 203 In entscheidenden Fragen weicht er von ihm ab, wie seine Ablehnung von Hegels Theorie des objektiven Denkens, des Anfangs der Logik, des Widerspruchs (der aufgehoben werden muß) und der Abgeschlossenheit des Systems (nicht Kreislauf sondern Spirale) zeigt. 204 Neben Hegel sind es denn andere Philosophen, an denen sich Natorp E. Cassirer: »Paul Natorp. 24. Januar 1854 – 17. August 1924«, in: Kant-Studien 30 (1925), 296. 203 P. Natorp: Philosophische Systematik, a. a. O., 59. 204 Von einem »uneingestandenen Hegelianismus« in Natorps Spätwerk spricht H. G. Gadamer, vgl. »Einleitung« zu P. Natorp: Philosophische Systematik, a. a. O., XVI; ferner E. Heintel: »Paul Natorps ›Philosophische Systematik‹. Ein Beitrag zum Problem des ›Anfangs‹ in der Philosophie«, in: H.-G. Gadamer (Hg.): Stuttgarter Hegel-Tage, a. a. O., 505–513. J. Sijmons will zeigen, daß Natorp Hegels Dialektik nicht richtig erfaßt hat, vgl. J. Sijmons: »Natorp und die Hegelsche Dialektik«, in: Hegel-Studien 23 (1988), 265–271. 202
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ebenfalls und sogar stärker orientiert. Es hatte sich gezeigt, daß das Wirklichkeitsproblem als Individuationsproblem zu verstehen ist. Das Kategoriensystem Kants ist deshalb nicht nur in der Abfolge der Modalitätskategorien zu korrigieren, sondern auch im Blick auf das Individuationsproblem zu erweitern. Dieses hat in der Geschichte der Philosophie eine große Rolle gespielt. Nicht mit Aristoteles, auch nicht mit Kant läßt es sich nach Natorp lösen, sondern eher im Anschluß an Denker wie Heraklit, Platon, Plotin, Cusanus und insbesondere Leibniz. 205 In den Vorlesungen über praktische Philosophie beruft er sich auf Fichte, der für ihn hier sehr viel wichtiger wird als Hegel, der nur noch am Rande erwähnt wird. Sein Verhältnis zu Fichte beschreibt er so: »Ich unterschreibe nicht alle seine Voraussetzungen, ich könnte fast keine einzelne seiner Formulierungen ohne Vorbehalt unterschreiben; er ebensowenig die meinigen. Dennoch weiß ich mich in sehr wesentlichen Punkten mit ihm und fast nur mit ihm einig.«206 Hier wird deutlich, daß die Entwicklung des Systems der Grundkategorien schließlich in eine Theorie der Subjektivität mündet, die Natorp besser durch Fichte als durch Hegel vertreten sieht. 207
Jonas Cohns Theorie der Dialektik und Bruno Bauchs Theorie des Begriffs 208 J. Cohn versucht bei grundsätzlichem Festhalten an H. Rickerts heterothetischem Denken die Notwendigkeit des dialektischen Denkens ein-
Vgl. P. Natorp: Philosophische Systematik, a. a. O., 118. P. Natorp: Vorlesungen über praktische Philosophie, a. a. O., 88. 207 Vgl. G. Edel: »Fichte – Marburger Neukantianismus (insbesondere Natorp) und die philosophische Methode«, in: D. Pätzold u. Ch. Krijnen (Hg.): Der Neukantianismus und das Erbe des deutschen Idealismus, a. a. O., 43–48. 208 Jonas Cohn (1869–1947) studierte Biologie und promovierte als Pfl anzenphysiologe 1892 in Berlin. Es folgte ein Studium der Philosophie und Psychologie in Leipzig bei W. Wundt, J. Volkelt und O. Külpe. Nach Arbeiten zur experimentellen Psychologie stieß er auf das Wertproblem und habilitierte sich 1897 über dieses Thema bei Rickert in Freiburg. Er erhielt 1919 eine ordentliche Professur für Philosophie und Pädagogik in Freiburg. Nach Arbeiten über das Unendlichkeitsproblem und Grundfragen der Logik sowie kulturwissenschaft lichen und pädagogischen Arbeiten erschien 1923 seine Theorie der Dialektik, 1932 sein Hauptwerk Wertwissenschaft . Von den Nationalsozialisten zwangspensioniert emigrierte er 1939 nach England. Vgl. H.-L. Ollig: Der Neukantianismus, a. a. O., 82–87. Zur Hegel-Rezeption 205
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sichtig zu machen. 209 Das Denken stößt auf Widersprüche, die nicht aus dem Erkennen auszuschließen sind, sondern eine positive Bedeutung in dem Sinn haben, daß sie auf Probleme aufmerksam machen. Mit Rickert ist er aber der Meinung, daß die Widersprüche nicht eine solche Bedeutung haben wie in Hegels Dialektik, denn die Negation kann nicht selber inhaltserzeugend sein, sondern hat nur korrigierende, hinweisende Funktion: »Hegel benutzt die ganze Bewegung, das Auft reten, Lösen, Neuauft reten des Widerspruchs als Erkenntnismittel. In diesem Sinne und nur in diesem behauptet er die Erkenntnisbedeutung des Widerspruchs. Das Mittel, den Widerspruch so in den Gang und – da das Resultat den Gang in sich schließt – auch in das Resultat des Erkennens aufzunehmen, ist die Negation. Die Negation ist nicht ›alle Negation‹, sondern ›die Negation der bestimmten Sache‹, ›bestimmte Negation‹, hat als solche einen Inhalt […]. Zur Erläuterung dieser Ausdrücke geht man vielleicht am besten von dem traditionellen negativen Begriffe aus. Nicht-A wird gewöhnlich so verstanden, daß aus der ganzen unendlichen Sphäre des Denkbaren gerade nur A ausgeschlossen wird. Das sieht aus wie die Hegelsche ›Negation der bestimmten Sache‹, ist aber gerade das, was Hegel ablehnt. […] Jede sinnvolle Negation ist Negation innerhalb einer bestimmten Sphäre. Nicht-rot ist eine Farbe, nicht-rational eine Zahl usf. Damit ist ein Inbegriff abweichender
Cohns vgl. A. Model: ›Kritische Kraft der Negation‹, in: Hegel-Jahrbuch 1992, a. a. O., 195–201. – Bruno Bauch (1877–1942) studierte bei Rickert in Freiburg, Windelband in Straßburg, K. Fischer in Heidelberg. Er promovierte 1902 bei Rickert in Freiburg über Kants Ethik, wurde Mitglied der Redaktion der Kant-Studien und habilitierte sich 1903 bei A. Riehl in Halle. Hauptwerke sind seine Kant-Darstellung von 1917, Wahrheit, Wert und Wirklichkeit (1923), Die Idee (1926) und Grundzüge der Ethik (1935). Bauch stand dem völkischen Denken seiner Zeit nahe. Vgl. H.-L. Ollig: Der Neukantianismus, a. a. O., 73–81. Bauch ist zwar der Rickertschen Schule zuzuordnen, doch repräsentiert er eher eine Schule für sich (einen Neukantianismus Lotzescher Richtung), vgl. K. W. Zeidler: »Bruno Bauchs Frege-Rezeption«, in: E. W. Orth u. H. Holzhey (Hg.): Neukantianismus, a. a. O., 215. Zur Hegel-Rezeption Bauchs vgl. K. W. Zeidler: Kritische Dialektik und Transzendentalontologie. Der Ausgang des Neukantianismus und die post-neukantianische Systematik R. Hönigswalds, W. Cramers, B. Bauchs, H. Wagners, R. Reiningers und E. Heintels, Bonn 1995, 173–207; ders: »Selbstkontinuation, Korrelation und Dialektik. Bruno Bauch, Richard Hönigswald und Jonas Cohn«, in: H. F. Fulda u. Ch. Krijnen (Hg.): Systemphilosophie als Selbsterkenntnis, a. a. O., 159–176. 209 Vgl. J. Cohn: Th eorie der Dialektik: Formenlehre der Philosophie, Leipzig 1923, 50 f.
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Bestimmtheiten in der Negation gesetzt. Hegel jedoch behauptet mehr; er will die Negation nicht nur als Postulat der Bestimmung, sondern als Erzeugerin der Bestimmtheit angesehen wissen. Den alten Grundsatz des negativistischen Rationalismus, omnis determinatio negatio, kehrt Hegel, als Vertreter eines positiv gerichteten, dialektischen Rationalismus um: omnis negatio determinatio. Diese Umkehrung schließt aber, wie die ursprüngliche Formel, die Voraussetzung ein, daß der Inhalt des Erkennens sich aus der Form erzeugen lasse. Erkennt man die Falschheit dieser Voraussetzung, so gibt die Negation nur das Postulat einer neuen Bestimmtheit, nicht diese selbst. Wiederum zeigt sich, wo Hegels Fehler liegt: in der Vernachlässigung der letzten Dialektik alles Erkennens, der Dialektik zwischen Form und Inhalt, Denkerzeugtem und Denkfremdem.«210 Gleichwohl hat Hegels Philosophie für Cohn große Bedeutung. 211 Er kennt einen lebendigen Hegel, »der mit seiner Zeit lebte, der seine Hefte rastlos verbesserte, der begeisterte Verehrer Goethes, der den Schritt der Massen vernahm, der seherische, überall aufmerksame«. Aber man darf nicht die Augen vor dem grundlegenden Fehler, der seiner Logik zugrunde liegt, verschließen. Deshalb fordert er: »Nachhegelisch sollen wir philosophieren, nicht Hegelisch. Aber dazu genügt es nicht, diese oder jene einzelne Einsicht Hegels als einzelne herauszulösen; an den Kern müssen wir herangehen, aus seiner Logik die Wahrheit herausfi nden, sie umdenken, neu denken.«212 Als Voraussetzungen des Denkens bleiben die logischen Grundsätze (Nichtwiderspruchsprinzip, Satz vom ausgeschlossenen Dritten, Satz der Identität) für Cohn bestehen. In der Dialektik soll der Widerspruch aufgehoben werden. Dies kann in einer endgültigen oder vorläufigen Weise geschehen. In letzterer tritt der Widerspruch auf einer andern Ebene erneut hervor, wo er wieder als Erkenntnismittel in dem angegebenen beschränkten Sinn dient. Während Philosophie wesentlich dialektisch vorgeht, suchen die Einzelwissenschaften und praktisches Denken Dialektik zu vermeiden. Erst ein differenzierterer Umgang mit dem Gegenstand führt in diesen Bereichen zu einem dialektischen Denken. So ist der Praktiker zunächst an der Erledigung einer Aufgabe hier und jetzt unter klar defi nierten Rahmenbedingungen interessiert. Es zeigt sich dann aber, Ebd., 41 f. Vgl. J. Cohn: Geschichte der Philosophie, Sechster Teil: Der deutsche Idealismus (Nachkantische Philosophie, erste Hälfte), Leipzig/Berlin 1923, 58–91. 212 J. Cohn: Th eorie der Dialektik, a. a. O., 43. 210 211
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daß auch die Interessen anderer berücksichtigt werden müssen, daß das, was zunächst als unwichtig weggelassen wurde, sich als wichtig erweist usw. Cohn nennt es die Dialektik des Lebens, der der Praktiker nicht ausweichen kann. Ähnlich verhält es sich in den Einzelwissenschaften. Die angestrebte Exaktheit wird immer wieder über sich hinausgetrieben. Besonders Biologie und Psychologie führen auf dialektische Probleme. Sie können nicht ohne den Begriff des Organismus, des Ich und des Willens auskommen – Begriffe die tief dialektisch sind. 213 Immer muß das Erkennen von einem Erlebten, Gegebenen ausgehen, das in Urteile aufgenommen und insofern rational wird, aber als das dem Denken Vorgegebene anerkannt werden muß. Es ist das Andere des Denkens, auf das die Negation des Formcharakters des Denkens hinweist. 214 Dieser Zwiespalt des Denkens – zwischen Form und Inhalt – ist nicht zu beseitigen und begründet Cohns Utraquismus. Das Gegebene wird in positiven Urteilen aufgenommen und ist nicht negierbar. Insofern gibt es eine notwendige Asymmetrie zwischen positiven und negativen Urteilen. Die Negation vermag nichts Vorfi ndbares zu beseitigen, sondern kann nur bestimmte Beziehungen von ihm negieren. Negative Urteile bringen nur im Zusammenhang mit positiven Urteilen Erkenntnisfortschritt, nämlich als deren Berichtigung oder nähere Bestimmung. Wie auch Rickert betont, hat die Negation keine schöpferische, aber fortweisende Kraft. In diesem Sinn besitzt die Negation also positive Bedeutung. Neben den Utraquismus und den Satz von der Prävalenz des Positiven tritt damit die Behauptung der kritischen Kraft der Negation, die insbesondere als bestimmte Negation Erkenntnisfortschritt bewirken kann. 215 Man könnte auch sagen, daß die Aufweisung von Widersprüchen zu einem Problembewußtsein führt, nicht aber die Probleme schon löst. Die Synthese, die These und Antithese überwindet, wird anders als bei Hegel interpretiert: »Wie die Negation in der Synthesis aufgeht und doch erhalten bleibt, so ist allgemein das Verhältnis der Thesen zu ihr. Damit ist wiederum nur eine Aufgabe umschrieben; man soll sich hüten, in der Hegelschen Vereinigung der verschiedenen Bedeutungen von ›aufheben‹ mehr als eine geistreiche und treffende Umschreibung dieser Aufgabe zu sehen.«216 Der Widerspruch zwingt zur Umwandlung der Urteilsmaterie. Die Synthesis besteht dann darin, veranlaßt durch die Antithese einen neuen Aus213 214 215 216
Vgl. ebd., 85, 86 ff., 94 f., 101, 121. Vgl. J. Cohn: Wertwissenschaft , 3 Teile, Stuttgart 1932, 404. Vgl. J. Cohn: Theorie der Dialektik, a. a. O., 149, 157–161, 226–229. Ebd., 246.
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gangspunkt zu nehmen. Die kritische Kraft der Negation verbindet sich hier mit der Prävalenz des Positiven. Cohn unterscheidet bipolare und unipolare Dialektik. Erstere tritt im Gegeneinander zweier verschiedener Denkansätze auf. Er sieht sie in Schleiermachers Verständnis von Dialektik verwirklicht. Gegensätze werden hier nicht zur Schärfe des Widerspruchs zugespitzt, sondern es bleibt bei polaren Entgegensetzungen. Die Form der Dialektik ist nicht fortschreitend, sondern zwischen den entgegengesetzten Standpunkten hin und her gehend. Es ist die Dialektik des Dialogs, während Hegels Dialektik für Cohn eine monologische darstellt. Die unipolare Dialektik tritt dort auf, wo die Antithese der These deutlich nachgeordnet ist, wie z. B. in einem Kunstwerk, bei dem das Außerästhetische nur Bedeutung hat, insofern es in das Ästhetische eingeht. Die unipolare Dialektik geht immer von einer Einheit aus, in die eine Mannigfaltigkeit integriert werden soll. 217 Die Dialektik des Denkens erwächst aus der Dialektik des Lebens und bleibt wie dieses unabgeschlossen. Das dialektische System ist wesentlich ein werdendes, wenn es auch die Idee seiner Vollendung in sich trägt. Das Ganze, das Absolute bleibt im Unterschied zu Hegels Philosophie nur Postulat. Erreichbar ist vielmehr etwas anderes, die Konstituierung von Freiheit in einer dialektischen Geisteshaltung. Sie ist das Ergebnis einer positiven Bewältigung der Dialektik des Selbstbewußtseins, die alle anderen Dialektiken in sich vereint. 218 Man könnte Cohns Theorie der Dialektik als einen Versuch deuten, die verschiedenen Sphären des Logischen zu sondern, die z. B. bei Kroner einseitig vom diskursiven Denken aus betrachtet werden. 219 Dieses weist Widersprüche auf und gelangt zu einem Problembewußtsein; zu positiven
Vgl. ebd., 48 f., 257 ff., 273 ff. Vgl. ebd., 184, 207, 322 f., 343. – Positiv beurteilt S. Marck Cohns Dialektik: »Man wird von Cohns Theorie der Dialektik sagen können, daß in ihr die umfassende und allein mögliche Form der Dialektik im Rahmen streng kritischen Philosophierens vorliegt. Diese grundsätzliche Zustimmung kann jedoch nicht die Einsicht ausschließen, daß wir es bei seiner Theorie der Dialektik immer noch mit Prolegomenen zu einem System der Philosophie auf dieser Basis zu tun haben.« (S. Marck: »Dialektisches Denken in der Philosophie der Gegenwart«, a. a. O., 30) A. Schäfer hingegen hält Cohns Versuch der Vereinbarkeit von Dialektik und Kantianismus für gescheitert; er führe nur zum Oszillieren zwischen Vernunft und Realität, Prinzip und Wirklichkeit in der Analyse, vgl. A. Schäfer: »Halbierte Desillusionierung. Jonas Cohns ›Theorie der Dialektik‹«, in: J. Oelkers, W. K. Schulz u. H.-E. Tenorth (Hg.): Neukantianismus. Kulturtheorie, Pädagogik und Philosophie, Weinheim 1989, 328, 343, 349. 219 Vgl. in vorliegender Arbeit oben, 70. 217
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Lösungen gelangt es aber nur, wenn es auf die das diskursive Denken erst ermöglichende Heterothesis des logischen Gegenstandes zurückgeht, die wiederum – wie Rickert betont 220 – das reine Ich, das die Synthese von etwas und anderem vollzieht, voraussetzt. Während für Natorp in der Allgemeinen Psychologie das Ich ein Subjekt ist, das stets bei anderem ist, so daß es nie zu einem Sichselbstvorstellenden werden kann, gibt es für Cohn eine wirkliche Beziehung des Selbstbewußtsein auf sich. Wie weit Natorps späte Philosophie der Subjektivität dazu eine Alternative darstellt, dies zu klären, bedürfte einer weitergehenden Interpretation. B. Bauch versteht sich zwar als Schüler Rickerts, sein philosophischer Ausgangspunkt ist aber ein anderer. Er liest Kant von seinem dritten Hauptwerk aus, der Kritik der Urteilskraft . Für ihn gewinnt das Prinzip der Kontinuität eine die ganze Philosophie begründende Bedeutung. In der Kritik der reinen Vernunft kündigt sich die für die Kritik der Urteilskraft grundlegende Unterscheidung zwischen bestimmender und reflektierender Urteilskraft an. Kant unterscheidet zwischen einem apodiktischen und hypothetischen Gebrauch der Vernunft . Letzterer ist nur regulativ, die systematische Einheit ist hier bloße Idee, nur projektierte Einheit. Dennoch gewinnt der hypothetische Gebrauch der Vernunft bei Kant eine über die regulative Idee hinausgehende Bedeutung, insofern sie eine Vereinheitlichung der empirischen Mannigfaltigkeit darstellt, die objektive Gültigkeit beansprucht. Diese kommt in dem Zusammenspiel dreier Prinzipien zum Ausdruck: den transzendentalen Prinzipien der Homogenität, Spezifi kation und Kontinuität. Die Möglichkeit der Einteilung der empirischen Mannigfaltigkeit unter Arten, Gattungen und immer höhere Gattungen verweist nach Kant auf ein transzendentales Prinzip der Gleichartigkeit; die Möglichkeit, Gattungen und Arten immer weiter zu spezifi zieren, verweist auf das transzendentale Prinzip der Spezifi kation sowie die Vereinigung von beiden Prinzipien auf das transzendentale Prinzip der Kontinuität. Aus diesen Prinzipien sollen sich synthetische Sätze a priori ergeben. Kant fordert deshalb für sie auch eine Deduktion. 221 Bauch gibt diesen ambivalenten Ausführungen eine moderne, wissenschaft stheoretische Wendung, insofern sie nach seiner Auffassung herausstellen, daß ein funktionelles Einheitssystem von Beziehungen alles Besonderen für wissenschaft liches Erkennen vorausgesetzt werden muß. Vgl. in vorliegender Arbeit oben, 64. Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft , B 676 ff.; W. Bonsiepen: Die Begründung einer Naturphilosophie bei Kant, Schelling, Fries und Hegel. Mathematische versus spekulative Naturphilosophie, Frankfurt/M. 1997, 95–97. 220 221
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Dem Kontinuitätsprinzip kommt entscheidende Bedeutung zu, da es die geforderte funktionelle Einheit herstellt. 222 Diese Einschätzung des Kontinuitätsprinzips führt dazu, daß er dem limitativen bzw. unendlichen Urteil in Kants Urteilstafel im Unterschied zu andern Interpreten eine zentrale Stellung innerhalb der Urteilslehre Kants einräumt. Dieser unterscheidet zwischen bejahendem, verneinendem und unendlichem Urteil. In dem Satz: ›Die Seele ist nichtsterblich‹ haben wir nach Kant in der logischen Form etwas bejaht, nämlich die Seele in den unbeschränkten Umfang der nichtsterblichen Wesen gesetzt. Eine Negation erfolgt insofern, als wir von der unendlichen Sphäre aller Möglichkeiten die Möglichkeit des Sterblichseins abgetrennt haben. 223 Bauch kritisiert diese Deutung des unendlichen Urteils, die nur Veranlassung gegeben habe, seine wahre Bedeutung zu verkennen. So sei es verständlich, daß Hegel und H. Lotze das unendliche Urteil verspotteten. 224 Bauch bedauert dies, weil gerade diese beiden Denker seiner Auffassung nach besonders in der Lage gewesen wären, dessen Bedeutung zu erkennen. Demgegenüber ist es für ihn ein Verdienst H. Cohens, in seiner Logik des Ursprungs das unendliche Urteil als echte Erkenntnisform anerkannt und gesehen zu haben, daß ihm das Kontinuitätsprinzip zugrunde liegt. 225 Treffend bezeichne er die Funktion des unendlichen Urteils als ›Begrenzung‹ und ›Angrenzung‹. In dieser Angrenzung ist nach Bauch aber mehr enthalten, als Cohen annimmt. Der ›fi nis‹ im Limes des Infi niten ist ›affi nis‹, Angrenzung im Sinne einer logischer Verwandtschaft der Beziehungen. Die Angrenzung ist von der Abgrenzung, der Negation streng zu unterscheiden. Das limitative Urteil ist Hingrenzung auf ein Ziel, der Weg vom Nicht zum So, vom Unbestimmten zum Bestimmten. Eine bloße Negation kann keine Zugehörigkeit zu etwas bezeichnen. 226 Mit dieser Herausstellung des Kontinuitätsprinzips ist eine Abwertung der logischen Funktion der Negation verbunden. Darin folgt Bauch im Prinzip Rickert, der die logische Priorität der Andersheit gegenüber der Negation behauptet. Der Sinn der bloßen Negation liegt in der Abwehr des Vgl. B. Bauch: Studien zur Philosophie der exakten Wissenschaften, Heidelberg 1911, 25 ff., 53 ff., 252; K. W. Zeidler: »Selbstkontinuation, Korrelation und Dialektik«, in: H. F. Fulda u. Ch. Krijnen (Hg.): Systemphilosophie als Selbsterkenntnis, a. a. O., 161 f. 223 Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft , B 97 f. 224 Vgl. Hegel: GW 12, 69 f.; H. Lotze: Logik, a. a. O., Erstes Buch, 61. Zur Geschichte des ›unendlichen Urteils‹ vgl. A. Menne: »Das unendliche Urteil Kants«, in: Philosophia naturalis 19 (1982), 151–162. 225 Vgl. in vorliegender Arbeit oben, 79. 226 Vgl. B. Bauch: Wahrheit, Wert und Wirklichkeit, Leipzig 1923, 297 f. 222
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Irrtums, welche allerdings richtig oder falsch sein kann. Nach Bauch sollte man besser von negativen Sätzen als von negativen Urteilen sprechen. Das ìx –í Platons meint nicht eigentlich die Negation (wie das ïšê –í), sondern das fôåñïí –í. Echte Objektivität ist nie durch ein Nein, sondern durch das von Rickert angegebene fraglose Ja charakterisiert. 227 Allerdings erkennt Bauch eine positive Rolle der Negation an – ähnlich wie Cohn, insofern wir durch die Verneinung in den negativen Sätzen auf die positive Bedeutung des Nichts bzw. Nichtseins hingewiesen werden. Das Nichts ist immer Etwas, nämlich das Nicht-Etwas eines Andern, ein abgelöstes Nichts gibt es nicht. Dies ist eine Folge der allseitigen Beziehung der Begriffe und Gegenstände aufeinander, d. h. des Kontinuitätsprinzips. In R. Kroners Theorie der Heautologie228 sieht Bauch diese allseitige Beziehung besser gewahrt als in Rickerts Theorie der Heterologie, in der Sein und Nichtsein zu starr einander entgegengesetzt werden. Dies bedeutet jedoch nicht, daß er Kroners Ausführungen zur positiven Bedeutung des Widerspruchs zustimmt. Der spekulative Widerspruch Hegels ist für Bauch problematisch, weil Hegel zu Unrecht den Unterschied zum Gegensatz, zur Negativität, zuspitzt. Gleichwohl kommt er Hegel insofern entgegen, als er die Bedeutung eines antithetischen Denkens anerkennt. Im Grunde bedeute Antithesis bei Hegel das, was Rickert unter Heterothesis verstehe, nämlich der über die formale Negation hinausgehende Verweis auf das fôåñïí –í – wie schon Rickert selber vermutet hatte. 229 – Ein Verweis auf Cohns Theorie der Dialektik in diesem Zusammenhang fehlt leider. In einem andern zentralen Punkt nähert sich Bauch der Hegelschen Philosophie, nämlich der Begriffstheorie. Hegel und Lotze kommt nach Bauch das Verdienst zu, einer neuen Logik vorgearbeitet zu haben. Er nennt Hegel »den größten Logiker der Neuzeit«230 . Lotze und Hegel haben ein Verständnis des Begriffs ausgearbeitet, das im Grunde in Platons Ideenlehre angelegt ist. Die Idee beansprucht einerseits objektive Geltung, Unabhängigkeit von der jeweiligen Auffassung des erkennenden Subjekts, andererseits ist sie auf das Besondere bezogen. Platon bestimmt das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem durch den Begriff der Teilhabe: Das Besondere ist im Sinne der Teilhabe an dem Allgemeinen auf dieses bezogen. Damit kommt ein Verständnis des Allgemeinen zum Ausdruck, das sich grundlegend von der tradierten aristotelischen Logik Vgl. ebd., 72 f., 79 f.; ders.: Die Idee, Leipzig 1926, 77 f. Vgl. in vorliegender Arbeit oben, 71. 229 Vgl. B. Bauch: Die Idee, a. a. O., 76–80, 187; ders: Wahrheit, Wert und Wirklichkeit, a. a. O., 420; zu Rickert vgl. in vorliegender Arbeit oben, 61. 230 B. Bauch: Die Idee, a. a. O., 185. 227
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unterscheidet, in der das Allgemeine als Abstraktion von dem Besonderen verstanden wird, so daß man zu immer inhaltsärmeren Arten und Gattungen gelangt. Um das neue Begriffsverständnis zu verdeutlichen, kann man Beispiele aus der Mathematik und Naturwissenschaft , aber auch aus dem täglichen Leben heranziehen. So ist im Begriff des Dreiecks seine Spezifi zierung (gleichschenkliges, gleichseitiges) enthalten. Der allgemeine Dreiecksbegriff hat nicht das Merkmal der Gleichschenkligkeit usw., aber es liegt in seinem Wesen, so ergänzt, spezifi ziert werden zu können. Während im sogenannten ›abstrakten Dreieck‹ alles verneint ist, was ein Dreieck sein kann, ist nach der neuen Auffassung in seinem Begriff alles enthalten, was ein Dreieck sein kann. Die differentia specifica ist also nicht etwas äußerlich zum Begriff Hinzukommendes, sie fällt auch nicht mit dem allgemeinen Begriff zusammen, aber sie ist unlösbar mit ihm verbunden. Die im Begriff angelegte Spezifi zierung ist keine subjektive, sondern im Begriff selbst angelegte, so daß nur bestimmte Spezifi zierungen möglich sind. 231 Bei aller Anerkennung der Bedeutung Hegels für die Überwindung der Abstraktionslogik hält Bauch jedoch fest, daß Hegel nicht den Funktionscharakter des Begriffs erkannte. Dies geschah durch Frege, ansatzweise durch Kant und Lotze. 232 Erst der Funktionsbegriff ermöglicht ein vollständiges Verständnis des Begriffs. Nach Frege ist eine Funktion ungesättigt, bedarf der Ergänzung durch das Argument, d. h. einen bestimmten Wert für x in der Funktionsgleichung. Der Begriff als Funktion bestimmt also das Konkrete, ohne selbst konkret zu sein. Weil Hegel nicht den Funktionscharakter des Begriffs erkannte, ist für ihn der Begriff konkret, während für Bauch der Begriff als Funktion gedacht nur konkreszent sein kann. 233 Vgl. B. Bauch: Wahrheit, Wert und Wirklichkeit, a. a. O., 277 f., 280 f. – Bei Rickert ist ein solches Begriff sverständnis vorgebildet, vgl. in vorliegender Arbeit oben, 69. Die neue Begriff stheorie wird auch von E. Cassirer vertreten, vgl. dessen Schrift Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910). Bauch verweist auf Cassirer, dem er allerdings nicht ganz zustimmen kann, vgl. B. Bauch: Studien zur Philosophie der exakten Wissenschaften, a. a. O., 19 f., 179 f. Die Verallgemeinerung der neuen Begriff stheorie kritisiert H. Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriff sbildung, a. a. O., 371. Vgl. auch die kritische Stellungnahme von G. Heymans: »Zur Cassirerschen Reform der Begriffslehre«, in: Kant-Studien 33 (1928), 109–128. 232 Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft , B 93 f.; H. Lotze: Logik, a. a. O., Erstes Buch, 47, 137; G. Frege: Begriffsschrift und andere Aufsätze, hrsg. von I. Angelelli, Hildesheim 1964, 2 f. (§ 2), 15 ff. (§ 9). In der Übernahme des modernen Funktionsbegriffs steht schon Cohen in Opposition zu Hegel, vgl. in vorliegender Arbeit oben, 81. 233 Vgl. B. Bauch: Wahrheit, Wert und Wirklichkeit, a. a. O., 283; ders.: Die Idee, a. a. O., 133, 189 f. K. W. Zeidler erläutert, an welcher systematischen Stelle der Kant231
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Im einzelnen kann Bauch immer wieder an Ausführungen Hegels, besonders in der Wissenschaft der Logik, anknüpfen, indem er sie von seinem Standpunkt aus differenziert. Wenn Begriffe Wesen im Sinne der Geltung sind, bezeichnen sie das, was Aristoteles das ô’ ôß ƒí åqíáé nannte. Sie bezeichnen nicht eine zeitliche Vergangenheit des Seins, sondern ein zeitloses Vorangegangensein. Das Wesen ist also nicht – wie Hegel will – das vergangene, aber zeitlos vergangene Sein, sondern das zeitlose Vorangegangensein. Das Vorangegangensein ist allerdings nicht zeitlich zu verstehen, sondern funktional; als solches ist es auf das Zeitliche bezogen. 234 Auch Hegels Satz von der Vernünft igkeit der Wirklichkeit läßt sich nach Bauchs Auffassung mit einer gewissen Differenzierung übernehmen. Nach Hegel ist es Aufgabe der Philosophie, das was ist, zu begreifen, weil das was ist, die Vernunft ist. Dies will nach Bauch besagen, die Vernunft als Voraussetzung dessen, was ist, zu begreifen, im Sinne des Aristotelischen ô’ ôß ƒí åqíáé. Das Besondere ist nicht prinzipiell unbegreifbar, da es ja begrifflich bedingt ist; es ist aber graduell unbegreifbar, da für das endliche Subjekt die ins Unendliche gehende Bedingtheit des Besonderen durch das Allgemeine nicht restlos darstellbar ist. So bleibt für das erkennende Subjekt ein irrationaler Rest. 235 Abschließende Bemerkungen Die Nähe des Neukantianismus zu Hegels Philosophie ergibt sich durch ein Weiterdenken des Kantischen Ansatzes, dessen Schwächen und Ergänzungsbedürft igkeit von den Neukantianern ähnlich wie von Hegel eingeschätzt werden. Es sind vor allem vier Punkte zu nennen, die ein anderes Denken veranlassen: 1. das neue Geschichtsdenken 2. die Ablehnung von Kants transzendentaler Psychologie 3. das Problem der Dialektik 4. die neue Begriffstheorie. – Die Entdeckung Kants als Kulturphilosophen, ausgehend von Kants Kritik der Urteilskraft , führt zu einer Geschichts- und Wertphilosophie, die Hegels Verdienste im Bereich der Geschichtsphilosophie und Philosophiegeschichte anerkennt (W. Windelband, H. Rickert). Sie betont allerdings mit Kant gegen Hegel die Differenz zwischen Sein und Sollen. – Die Interpretation Kants als Kulturphilosophen oder der
Rezeption Bauchs die Notwendigkeit der Verwendung des Funktionsbegriffs einsetzt, vgl. K. W. Zeidler: »Bruno Bauchs Frege-Rezeption«, a. a. O., 226–228. 234 Vgl. Hegel: GW 11, 24115 ; B. Bauch: Wahrheit, Wert und Wirklichkeit, a. a. O., 286; ders: Die Idee, a. a. O., 149, 197. 235 Vgl. Hegel: GW 19, 32; B. Bauch: Wahrheit, Wert und Wirklichkeit, a. a. O., 370 f.
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Ausgang vom Faktum der Wissenschaft (H. Cohen, P. Natorp) erübrigt weitgehend den Rückgang auf eine transzendentale Psychologie. Allerdings zwingt die Auseinandersetzung mit der sich als Einzelwissenschaft emanzipierenden Psychologie zur Ausarbeitung einer philosophischen Psychologie, in deren Zentrum das Erleben tritt. In der Spätphilosophie Natorps wird das Leben als Erleben in einer Weise gedeutet, die deutlich an Hegels spekulative Dialektik anknüpft , ohne sie ganz zu übernehmen. Der sogenannte Absolutismus Hegels wird entschieden abgelehnt. – Die Auseinandersetzung mit Hegels Dialektik betrifft eine Lebensfrage des Neukantianismus, denn hier stellt sich die Frage der Wahl zwischen Kant und Hegel. Die Diskussion konzentriert sich auf den Unterschied zwischen Negation und Andersheit. Auch wenn man die Priorität der Andersheit gegenüber der Negation behauptet, kann man dennoch stärker als Rickert der Negation eine positive Funktion zuerkennen, nämlich ein Problembewußtsein zu verschaffen und auf das Andere hinzuweisen (J. Cohn). B. Bauch geht sogar so weit, den Unterschied zwischen Negation und Andersheit als nur vordergründigen zu interpretieren, da die Negation nie als etwas isoliert für sich Gegebenes auft ritt, sondern als das Nicht-Etwas immer schon auf ein Anderes bezogen ist. – In der Begriffstheorie gibt es eine tendenzielle Übereinstimmung zwischen dem Neukantianismus beider Schulen und Hegel insofern, als die tradierte Logik der Abstraktion abgelehnt wird. Für die Wertphilosophie ergibt sich diese Ablehnung daraus, daß sich der allgemeine Wert immer im Konkreten, Individuellen verwirklichen muß, für die Marburger Schule und insbesondere B. Bauch daraus, daß der Funktionsbegriff der mathematischen Naturwissenschaft ein neues Begriffsverständnis impliziert. Eine wirkliche Übereinstimmung zwischen Hegel und den Neukantianern in diesem Punkt liegt jedoch nicht vor, da Hegel die Bedeutung des modernen Funktionsbegriffs unterschätzt. Hier ist es vielmehr ein anderer, der der neuen Begriffstheorie vorgearbeitet hat, nämlich H. Lotze. Zusammenfassend kann man festhalten, daß Hegel in der Vielgestaltigkeit seines Systems – die Naturphilosophie ausgenommen – im Neukantianismus präsent ist. Es ergeben sich erstaunliche Affi nitäten der Fragestellung, besonders bei P. Natorp und B. Bauch, wenn auch jeweils andere Schlußfolgerungen gezogen werden. Selbst wo die Unterschiede vorherrschend zu sein scheinen wie bei Rickert, wird eingeräumt, daß Hegel vielleicht das gemeint haben könnte, was bei ihm so dringend vermißt wird (das heterothetische Prinzip des Denkens). Es wäre zu viel gesagt, wenn man behaupten würde, daß Hegels Philosophie den Neukantianismus geprägt hat, die Auseinandersetzung mit ihm war aber auch nicht beiläufig.
Phänomenologie des Symbolischen? Die Hegelrezeption Ernst Cassirers Matthias Wunsch
Bei Ernst Cassirer fi ndet sich eine ausführliche und intensive Auseinandersetzung mit Hegel. Das scheint insofern nicht bemerkenswert, als sich Cassirer mit nahezu jedem relevanten Philosophen seit der Renaissance bis ins 20. Jahrhundert hinein eingehend beschäft igt hat. Doch Hegel ist für seinen eigenen Philosophieansatz in einem Maße systematisch bedeutend wie sonst wohl nur Kant. In der Forschung wird sogar die These vertreten, daß Cassirer mit seinem dreibändigen Hauptwerk – der Philosophie der symbolischen Formen (1923/25/29) – »[has] moved from Kant toward Hegel.«1 Überblickt man Cassirers umfangreiche Bezugnahmen auf Hegel, wird deutlich, daß vor allem die Phänomenologie des Geistes (1807) für die Formulierung seines eigenen Denkens prägend ist. Im folgenden soll geklärt werden, wie die systematische Rolle einzuschätzen ist, die Hegel und insbesondere seine Phänomenologie für Cassirer spielt. Dazu werde ich untersuchen, (a) in welchem Verhältnis Kant und Hegel in Cassirers eigenem Ansatz stehen, welche Relevanz (b) der dialektischen Methode und (c) dem Systemgedanken für die Philosophie der symbolischen Formen zukommt, inwieweit die Philosophie der symbolischen Formen (d) eine teleologische Theoriestruktur aufweist und (e) welches Philosophiekonzept ihr zugrunde liegt.
I. Für Cassirers Auseinandersetzung mit Hegel ist ein Dritter von entscheidender Bedeutung: Kant. Daß dem so ist, ergibt sich aber nicht einfach aus der Einschätzung, daß Cassirer als Schüler Hermann Cohens dem Marburger Neukantianismus zugehört. Denn mit dem Erscheinen der Philosophie der symbolischen Formen wird fraglich, ob und inwieweit Cassirer überhaupt noch dieser Tradition zuzurechnen ist. Die Ausrichtung auf Fragen der Erkenntnistheorie naturwissenschaft licher Erfahrung, die in dieser Tradition seit Cohens schulbildendem Werk Kants Theorie der 1
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Erfahrung (11871, 31918) vorherrschend war und von der auch Cassirers Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910) noch geprägt ist, wird mit der Philosophie der symbolischen Formen durchbrochen. Schon in der Vorrede des ersten der drei Bände heißt es programmatisch: »Statt lediglich die allgemeinen Voraussetzungen des wissenschaft lichen Erkennens der Welt zu untersuchen, mußte dazu übergegangen werden, die verschiedenen Grundformen des ›Verstehens‹ der Welt […] so scharf als möglich in ihrer eigentümlichen Tendenz und ihrer eigentümlichen geistigen Form zu erfassen.« (ECW 11, VII) 2 Mit dieser Neuausrichtung verfolgt Cassirer den »Plan einer allgemeinen Theorie der geistigen Ausdrucksformen« (ebd.). Gleichwohl bleibt Kant auch für die Philosophie der symbolischen Formen ein entscheidender Bezugsautor. Das zeigt sich schon darin, daß Cassirer den erwähnten Übergang von der Frage nach dem wissenschaft lichen Weltbegreifen zu der Frage nach den anderen Weisen des Weltverstehens lediglich für eine Ausweitung der Kantischen Perspektive hält: Kants »›transzendentale Frage‹ selbst [soll] in einem umfassenderen Sinne« gestellt werden (ECW 13, 14). Cassirer sieht diese Perspektivenerweiterung sogar schon durch Kant vorgezeichnet. Denn blickt man auf dessen kritische Philosophie insgesamt, so wird Cassirer zufolge schnell deutlich, daß Kants Kritik der reinen Vernunft nicht die gesamte geistige Spontaneität umfaßt und nicht alle Wirklichkeit, sondern nur ihre mathematisch-naturwissenschaft liche Seite betrifft. »In dem intelligiblen Reich der Freiheit, dessen Grundgesetz die Kritik der praktischen Vernunft entwickelt, in dem Reich der Kunst und im Reich der organischen Naturform, wie es sich in der Kritik der ästhetischen und teleologischen Urteilskraft darstellt, tritt eine neue Seite dieser Wirklichkeit heraus.«3 Schon Kant unterscheidet demnach verschiedene Dimensionen der Wirklichkeit, eine Vielfalt geistiger Formen, deren Gestaltungsprinzipien es transzendental auszuweisen gelte. Der Kant, der für Cassirer maßgeblich bleibt, ist allerdings ein Kant in Hegelscher Optik – dies ist der irritierende Eindruck, der sich an verschiedenen Stellen der Philosophie der symbolischen Formen aufdrängt. Unmittelbar im Anschluß an die soeben zitierte Passage schreibt Cassirer: »Die allmähliche Entfaltung des kritisch-idealistischen Begriffs der Wirklichkeit und des kritisch-idealistischen Begriffs des Geistes gehört Cassirers Werke werden hier und im folgenden nach der Hamburger Ausgabe unter der Abkürzung »ECW« zitiert. Für die »Nachgelassenen Manuskripte und Texte« wird die Abkürzung »ECN« verwendet. 3 ECW 11, 8; Hvh. v. mir, M. W. 2
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zu den eigentümlichsten Zügen des Kantischen Denkens und ist geradezu in einer Art Stilgesetz dieses Denkens begründet. Die echte, die konkrete Totalität des Geistes soll nicht von Anfang an in einer einfachen Formel bezeichnet und gleichsam fertig hingegeben werden, sondern sie entwickelt, sie fi ndet sich erst in dem stetig weiterschreitenden Fortgang der kritischen Analyse selbst.« (ECW 11, 8) Was Cassirer hier als einen der »eigentümlichsten Züge« des Kantischen Denkens auffaßt, scheint besser zu Hegel zu passen. Entsprechend erklärt er nur wenige Seiten später: »Die Forderung, das Ganze des Geistes als konkretes Ganzes zu denken, also nicht bei seinem einfachen Begriff stehenzubleiben, sondern ihn in die Gesamtheit seiner Manifestationen zu entwickeln, hat Hegel mit einer Schärfe wie kein Denker vor ihm gestellt.«4 Für eine »Phänomenologie« im Sinne Hegels, so Cassirer an anderer Stelle, sei die Forderung charakteristisch, »die Totalität der geistigen Formen zu umspannen«, wobei »diese Totalität nach ihm nicht anders als im Übergang von der einen zur andern Form sichtbar werden kann.« (ECW 13, VIII) Blickt man von diesen Aussagen her auf Cassirers Äußerung zur Eigentümlichkeit, zum »Stilgesetz« des Kantischen Denkens zurück, wird deutlich, daß er Kants Weg von der ersten, über die zweite hin zur dritten Kritik offenbar als eine Art »Phänomenologie des Geistes« versteht. Derartige Überlegungen können die Einschätzung motivieren, daß Cassirer mit der Philosophie der symbolischen Formen das Gewicht von Kant zu Hegel verlagert. In einer zugespitzten Form ist diese These bereits in der frühen Cassirer-Forschung vertreten worden. So schrieb Donald Verene vor mehr als vierzig Jahren, »that the philosophy of symbolic forms is derived from Kant only in a broad and secondary sense and that its actual foundations are in Hegel.«5 In jüngerer Zeit hat Christian Möckel für einen vergleichbaren Punkt argumentiert. Seines Erachtens entwirft Cassirer seine Philosophie der symbolischen Formen »als eine erneuerte Phänomenologie«, für die Hegels Phänomenologie des Geistes »eine Vorbild- und Modellrolle spielt«. 6 Daß Cassirer in positiver, in systematisch aufschlußreicher Weise an Hegels Phänomenologie anknüpft , deutete sich im vorigen schon an und läßt sich auch vielfältig belegen. Der dritte Teil der Philosophie der symbolischen Formen ist mit »Phänomenologie der
ECW 11, 13. Die theoretische Anstrengung, diese Hegelsche Forderung zu erfüllen, läßt sich als ein auszeichnendes Merkmal von »Kulturphilosophie« konzipieren. In dieser Richtung siehe Hartung 2006. – Einen Vorschlag, Cassirers kulturphilosophischen Ansatz von Hegel her zu erweitern, formuliert Klass (i. Ersch.). 5 Verene 1969, 33. 6 Möckel 2004, 266. 4
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Erkenntnis« überschrieben, und Cassirer betont in der Vorrede, daß er mit diesem Titel »nicht an den modernen Sprachgebrauch«, also etwa an Husserl oder Scheler anknüpft , sondern »auf jene Grundbedeutung der ›Phänomenologie‹ zurück[geht], wie Hegel sie festgestellt und wie er sie systematisch begründet und gerechtfertigt hat.«7 Analog wird der Titel des ersten Teils der Philosophie der symbolischen Formen – Die Sprache – im Inhaltsverzeichnis unter der Überschrift »Zur Phänomenologie der sprachlichen Form« geführt. 8 Und im Vorwort des Bandes erklärt Cassirer vorausblickend auf den zweiten Teil – Das mythische Denken –, dieser solle »den Entwurf zu einer Phänomenologie des mythischen und des religiösen Denkens enthalten« (ECW 11, VIII). Es ist daher nicht überraschend, daß der Hegelsche Terminus ›Phänomenologie‹ ursprünglich im Titel des Gesamtwerks vorkommen sollte. Für dieses war bis zur Drucklegung des ersten Bandes die Überschrift »Phänomenologie der Erkenntnis« vorgesehen (also jene, die Cassirer später dem dritten Band gegeben hat). 9 Hegel zufolge behandelt die Phänomenologie »die ausführliche Geschichte der Bildung des Bewußtseins selbst zur Wissenschaft .«10 Was die »Phänomenologie des Geistes darstellt«, so Hegel in der Vorrede, ist dieses »Werden der Wissenschaft überhaupt oder des Wissens. Das Wissen, wie es zuerst ist, oder der unmittelbare Geist ist das Geistlose, das sinnliche Bewußtsein. Um zum eigentlichen Wissen zu werden oder das Element der Wissenschaft , das ihr reiner Begriff selbst ist, zu erzeugen, hat es sich durch einen langen Weg hindurchzuarbeiten.«11 Cassirers Auseinandersetzung mit diesem Projekt läßt sich besonders im Mythos-Band der Philosophie der symbolischen Formen detailliert verfolgen.12 Mit Blick ECW 13, VIII. Cassirer bezieht sich, wenn er von »Phänomenologie« spricht, allerdings keineswegs durchgängig auf Hegel. Siehe den Überblick über Cassirers vielfältige Anknüpfungen an den Begriff bei Orth 2004, 162–175. 8 Daß der erste Teil der Philosophie der symbolischen Formen eine »Phänomenologie der sprachlichen Form enthalten wird«, kündigt Cassirer bereits 1922 an (ECW 16, 3). 9 Siehe dazu die Ausführungen von John Michael Krois in ECN 1, 299 f. – Noch in seinem späten Aufsatz »Zur Logik des Symbolbegriff s« (1938) erklärt Cassirer: »Die Philosophie der symbolischen Formen will keine Metaphysik der Erkenntnis, sondern eine Phänomenologie der Erkenntnis sein. Sie nimmt dabei das Wort ›Erkenntnis‹ im weitesten und umfassendsten Sinne.« (ECW 22, 117) 10 Hegel: TWA 3, 73. 11 Ebd., 31. 12 Während hier eher methodologische Fragen im Mittelpunkt stehen, geht Rossi 1999 inhaltlichen Einflüssen von Hegel – vor allem seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion – auf Cassirers Überlegungen zum mythischen Denken und zur magischen Welt nach. 7
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auf die zitierte Passage erklärt Cassirer dort: »Diese Sätze, in denen Hegel das Verhältnis der ›Wissenschaft‹ zum sinnlichen Bewußtsein kennzeichnet, gelten in vollem Umfang und in voller Schärfe für das Verhältnis der Erkenntnis zum mythischen Bewußtsein. Denn der eigentliche Ausgangspunkt für alles Werden der Wissenschaft , ihr Anfang im Unmittelbaren, liegt nicht sowohl in der Sphäre des Sinnlichen als in der der mythischen Anschauung.« (ECW 12, XIII) Cassirer bestätigt auf diese Weise das Projekt einer Phänomenologie des Geistes, verschiebt aber zugleich ihren Ausgangspunkt vom sinnlichen auf den vorausliegenden des mythischen Bewußtseins. Seines Erachtens ist das sinnliche Bewußtsein »das Produkt einer Abstraktion«; bevor das Selbstbewußtsein sich zu ihr erhebe, »ist und lebt es in den Gebilden des mythischen Bewußtseins« (ebd.). Da Cassirer von Hegels Phänomenologie die Auffassung übernimmt, daß das natürliche Bewußtsein rechtmäßig fordern kann, »daß die Wissenschaft ihm die Leiter wenigstens zu diesem Standpunkte reiche, ihm in ihm selbst denselben aufzeige«,13 fügt er ihr also hinzu, daß »diese Leiter noch um eine Stufe tiefer ansetzen« müsse (ECW 12, XIII). Trotz dieser inhaltlichen Abweichung von Hegels Phänomenologie scheint Cassirer deren Methodologie hier ganz zu bejahen. Dafür sprechen auch weiterführende Überlegungen des Mythos-Bandes der Philosophie der symbolischen Formen. Cassirer vermag den Mythos nicht nur als geeigneten Ausgangspunkt einer von Hegel inspirierten Phänomenologie des Geistes in Ansatz zu bringen, sondern behandelt ihn zudem auf eine theoriestrukturell entsprechende Weise, indem er die einzelnen Stufen seiner Entwicklung durch einen dialektischen Fortgang bestimmt sieht (ECW 12, 275). In der »Dialektik des mythischen Bewußtseins«, so die Überschrift des Schlußabschnitts des Mythos-Bandes, wendet Cassirer gegen die positivistische Geschichts- und Kulturphilosophie Auguste Comtes ein, daß in dieser das mythisch-religiöse Bewußtsein durch eine ihm fremde und äußerliche Macht verdrängt und überwunden werde. Wenn Cassirer dagegen zeigen will, daß »das Mythische in sich selbst einen eigenen ›Ursprung der Bewegung‹ besitzt« und daß es von diesem eigenen Ursprung her gilt, nicht nur den »stetigen Aufbau der mythischen Bildwelt«, sondern auch »das stete Hinausdrängen über sie« verständlich zu machen (ebd., 277), dann spricht sich darin offenbar ein Hegelsches Motiv aus. Um nun zu klären, wie weit die Auffassung trägt, die »actual foundations« der Philosophie der symbolischen Formen fänden sich statt bei Kant bei Hegel (Verene) und Hegels Phänomenologie des Geistes habe eine 13
Hegel: TWA 3, 29.
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Vorbildrolle für Cassirers Hauptwerk (Möckel), ist eine Reihe von Fragen zu untersuchen. Läßt sich bei Cassirer tatsächlich ein Schritt von Kant zu Hegel beobachten? Bestimmt das dialektische Motiv, von dem Cassirer im Mythos-Band spricht, den Ablauf der Philosophie der symbolischen Formen insgesamt? In welchem systematischen Verhältnis stehen die einzelnen geistigen Formen zueinander und welchen Status haben sie? Gibt es, wenn der Mythos der systematische Ausgangspunkt ist, auch einen systematischen Endpunkt? Welches ist das Verhältnis der Philosophie zu den verschiedenen (anderen) geistigen Formen?
II. Um ein umfassenderes Verständnis des systematischen Bezugs der Philosophie der symbolischen Formen auf Hegel zu gewinnen und dann insbesondere auch Cassirers kritische Bemerkungen zu Hegel besser einordnen zu können, ist es unverzichtbar, einige seiner Überlegungen aus Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit einzubeziehen. Der dritte Band des Werks mit dem Titel Die nachkantischen Systeme (1920) enthält in einem gesonderten Kapitel nicht nur Cassirers ausführlichste Auseinandersetzung mit Hegel (ECW 4, 274–363), sondern erscheint kurze Zeit vor den Texten, in denen Cassirer bereits Klarheit über die Projektidee besitzt, die er dann in der Philosophie der symbolischen Formen verfolgt.14 Dies legt die Vermutung nahe, daß hier nicht nur eine zeitliche Koinzidenz, sondern ein sachlicher Zusammenhang zwischen der genannten Auseinandersetzung mit Hegel und der systematischen Ausführung der Philosophie der symbolischen Formen besteht. Vor diesem
In Idee und Gestalt (1921) bestimmt Cassirer »die Analyse aller Grundformen des Weltverständnisses überhaupt« als ein philosophisches Desiderat (ECW 9, 304) und bezeichnet in diesem Kontext »Sprache und Mythos, Kunst und Religion« sowie »mathematisch-exakte und empirisch-beschreibende Erkenntnis« als »gleichsam verschiedene symbolische Formen […], in denen wir die entscheidende Synthese von Geist und Welt vollziehen« und die es ebenso »in ihrer charakteristischen Eigenart« wie in ihrer »Wechselbezüglichkeit«, ihrem Zusammenhang zu begreifen gelte (ECW 9, 303; vgl. ebd., 307; siehe auch die entsprechenden Ausführungen in Zur Einsteinschen Relativitätstheorie (1921), ECW 10, 113 f.). Cassirers Aussage, daß wir in den jeweiligen Formen die »Synthese von Geist und Welt« vollziehen, ist hier insofern mißverständlich, als es ihm nicht um die nachträgliche Vereinigung zweier für sich bestehender Entitäten geht. In der Philosophie der symbolischen Formen wird dies deutlich, wenn Cassirer betont, daß die symbolischen Formen nicht als Gestaltungen »der Welt«, sondern als »Gestaltung[en] zur Welt« fungieren (ECW 11, 9). 14
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Hintergrund wäre dann auch zu erwarten, daß sich im Hegel-Kapitel von Die nachkantischen Systeme Hinweise zur Beantwortung der Frage fi nden lassen, ob Cassirer in seinem systematischen Philosophieren den Schritt von Kant zu Hegel macht. Diese Erwartung wird dadurch bestärkt, daß der erste und der letzte der sechs Abschnitte des besagten Hegel-Kapitels ausführlich auch auf Kant eingehen. Der erste Abschnitt »Der Begriff der Synthesis bei Kant und Hegel« kondensiert zunächst den Grundgedanken der Kantischen Philosophie im Begriff der »Synthesis a priori«, in der die Erkenntnis und ihr Gegenstand auf innere Weise verbunden seien. Bei der Lektüre stellt sich erneut der Eindruck ein, Cassirer präsentiere einen Kant in Hegelscher Optik. Denn von der genannten Einheit heißt es in Kant referierender Absicht, sie sei »vom Wissen nicht nachträglich hergestellt, sondern in ihm vermöge seines eigentümlichen Wesens ursprünglich gesetzt.« (ECW 4, 275) Es ist Hegel, der in Glauben und Wissen eben diesen Gedanken in ganz ähnlicher Formulierung vorbringt, wenn er bei Kant »eine ursprüngliche synthetische Einheit« in dem Sinne einer Einheit ausmacht, »die nicht als Produkt Entgegengesetzter begriffen werden muß, sondern als wahrhaft notwendige, absolute, ursprüngliche Identität Entgegengesetzter«.15 Nachdem Cassirer Kant also auch hier in Hegels Nähe gebracht hat,16 ist es nicht mehr überraschend, daß ihm »der Kern« des »historischen Verhältnisses« von »Hegels Gedankenwelt […] zu Kant« nur darin zu bestehen scheint, daß das Kantische »Problem der Synthesis und der synthetischen Einheit durch Hegel von dem Boden der reinen Erkenntnis auf denjenigen des konkreten geistigen Lebens, in der Totalität seiner Äußerungen, versetzt wird.«17 Wir haben es demnach mit einem strukturell identischen Problem bei Kant und Hegel zu tun; und der Schritt von dem einen zu dem anderen Autor besteht im wesentlichen nur darin, daß dieses Problem in einen erweiterten Kontext transponiert wird. Mehr Eintracht zwischen Kant und Hegel war selten – sie ist jedoch das Resultat theoriepolitischer Harmonisierung: Cassirer kann nun in seinem systematischen Philosophieren Kant auch dort noch als Ahnherren für sich reklamieren, wo er tatsächlich Hegelsche Optionen verfolgt. Während die vorigen Überlegungen den Schluß nahelegen, daß Cassirer zumindest insofern von Kant zu Hegel voranschreitet, als er ersteren ›verhegelt‹, um ihn der eigenen systematischen Perspektive integrieren zu Hegel: TWA 2, 305; vgl. ebd., 307. Cassirers Tendenz, Kant von Hegel her zu sehen, zeigt sich schon in der Einleitung von Die nachkantischen Systeme, ECW 4, 2. 17 ECW 4, 280; Hvh. v. mir, M. W. 15 16
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können, ergibt sich im Schlußabschnitt des besagten Hegel-Kapitels ein konträres Bild. Denn hier wird Hegel vehement kritisiert, und zwar mit Kant. Die Überschrift des Abschnitts »Kritischer und absoluter Idealismus« deutet es noch nicht an; doch das Ziel, das Cassirer hier verfolgt, besteht darin, den absoluten Idealismus kritisch zu begrenzen bzw. zu korrigieren. Er geht dabei so vor, daß er den absoluten Idealismus zunächst mit Hilfe der Differenz zwischen »intellectus archetypus« (intuitivem Verstand) und »intellectus ectypus« (diskursivem Verstand) bestimmt, die Kant in der Kritik der Urteilskraft entwickelt.18 Die Hauptmerkmale des intellectus ectypus sind in Cassirers Darstellung, daß ihm (a) Vielheit sinnlich vorgegeben ist, daß er (b) ausgehend vom Vergleich getrennter Einzelfälle »zum Analytisch-Allgemeinen der Gattung« aufsteigt (›Eines in Vielem‹) und daß er (c) Gegenstände zwar fortschreitend bestimmen kann, Sein und Begriff für ihn aber getrennt bleiben. Demgegenüber ist für den intellectus archetypus Cassirer zufolge charakteristisch, daß er (a) Vielheit nur kennt »als Entfaltung und nähere Bestimmung der ursprünglichen Einheit, die er selbst ist«, daß er (b) ausgehend vom »Synthetisch-Allgemeinen« eines höchsten Prinzips zeigt, wie all seine Anwendungsfälle in ihm beschlossen sind (›Vieles aus Einem‹), und daß für ihn (c) »das Denken und das Gedachte eins geworden« ist (ECW 4, 349). Während bei Kant das Konzept des archetypischen bzw. intuitiven Verstandes negativ, im Kontrast zu unserem, dem menschlichen Verstand19 gebildet werden muß und den problematischen Status einer Idee behalte, so Cassirer, greife Hegel dieses Konzept in positiver Absicht auf und mache seine Logik zu einer »Logik des intuitiven Verstandes – eines Verstandes, der nur außer sich hat, was er selbst aus sich erzeugt.« (ECW 4, 349)
Kant, Kritik der Urteilskraft , § 77, AA 5, 405 ff.; zu Kants Unterscheidung zwischen intellectus archetypus und ectypus vgl. auch Kritik der reinen Vernunft , B 723, sowie die Nachlaßreflexionen R 4347 f. (AA 17, 514 f.) und R 6041 (AA 18, 431). – Kants Schriften werden hier unter der Abkürzung »AA« nach der Akademie-Ausgabe zitiert. 19 Unser Verstand ist aus Cassirers Sicht nicht unbedingt ein ektypischer Verstand im Sinne der obigen Defi nition. Denn versteht man unter diesem entlang von Punkt (a) einen »rein empfangenen Verstand[]« wie Cassirer (vgl. ECW 8, 123) mit Blick auf Kants berühmten Brief an M. Herz (AA 10, 130), so kann unser Verstand weder als ektypischer noch als archetypischer Verstand gelten. Denn, so Cassirer, »weder bringt er die Objekte, auf die er in seiner Erkenntnis bezogen ist, selbst hervor, noch nimmt er einfach ihre Wirkungen hin, so wie sie sich in den sinnlichen Eindrücken selbst unmittelbar darbieten.« (ECW 8, 124) Um unseren Verstand als ektypischen beschreiben zu können, wäre die sinnliche Vorgegebenheit, von der in Punkt (a) die Rede ist, als bereits kategorial oder sinnhaft bestimmte aufzufassen. 18
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Nachdem Cassirer mit Blick auf den so skizzierten absoluten Idealismus (etwas doppelbödig) »das tiefe Grundmotiv dieses logischen Enthusiasmus« anerkannt hat, setzt eine für seine Verhältnisse ungewöhnlich scharfe Kritik ein. Er erklärt, »daß gerade das System Hegels den geschichtlichen Beweis für die Unlösbarkeit der Probleme enthält, mit denen schon Hegels Ausgangspunkt und Fragestellung die Philosophie belastet.« (ECW 4, 351) Cassirer sieht diese Widersprüche in Hegels Dialektik verwurzelt und nimmt sich vor, »die dialektische Methode selbst dialektisch zu behandeln und sie sich von innen her auflösen zu lassen.« (Ebd., 351f.) Er bringt gegen Hegels Methodenkonzeption zwei Einwände vor, die ich das »Problem des erschlichenen Anfangs« und das »Problem des falschen Endes« nennen möchte. 20 Die folgende Diskussion dieser Einwände betrifft weniger das Verhältnis zwischen Hegel und Cassirer als die Hegelrezeption Cassirers. Die Frage, wie berechtigt Cassirers Anknüpfung und Kritik an Hegel im einzelnen sein mag, wird daher weitgehend ausgeklammert. Zunächst zum ersten Problem: Cassirer zufolge besteht »die wesentliche Absicht der Dialektik« bei Hegel darin, »das Denken […] in seiner reinen Selbstbewegung, in seinem dynamischen Prozeß vor uns hinzustellen. […] Aber bei näherer Betrachtung erweist sich ebendiese angebliche Bewegung der Begriffe in Hegels Logik als bloßer Schein.« (ECW 4, 352) Cassirer konkretisiert diese Kritik in bezug auf den Übergang vom »Sein« zum »Werden« in Hegels Wissenschaft der Logik. Daß das »Sein« als der allgemeinste und damit an Inhalt ärmste Begriff für Hegel zugleich das »Nichts« ist, ist ein Widerspruch, der durch den Übergang zum Begriff des Werdens aufgehoben werden soll. Cassirer zufolge ergibt sich die Kategorie des Werdens jedoch nicht erst durch die Ableitung, sondern ist in dieser bereits in Anspruch genommen. Um überhaupt verständlich machen zu können, daß Sein und Nichts zusammenfallen, wird der Begriff des Werdens schon benötigt. »Aber daß Sein und Nichts identisch sind – das kann […] gar nicht anders als vom Werden her deutlich gemacht werden. […] Das Sein wird von Hegel nur als ›Nichts‹ begriffen, indem er es als ›noch Nichts‹ deutet: Nämlich als noch nicht die konkrete Bestimmung, zu der es im Werden übergehen soll.« (Ebd., 352) Die Selbstbewegung des Denkens kommt demnach nur durch das in Gang, was doch ihr Produkt sein sollte. Das Problem des erschlichenen Anfangs moniert also eine zirkuläre Konzeption. Der Zirkularitätseinwand ist Cassirer zufolge verallgemeinerbar. »Das Absolute soll wesentlich Resultat sein, also erst am Ende des Gesamtpro20
Die erste Bezeichnung übernehme ich von Pätzold 2002, 98.
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zesses heraustreten: Aber ebendieses Resultat wirkt schon in jeder Phase des Prozesses, in jedem neuen Übergang als das eigentlich bestimmende und vorwärtstreibende Prinzip. Nur von der schon vollendeten Anschauung des Ganzen aus kann die Einseitigkeit der Teile, der besonderen Momente, überwunden werden.« (ECW 4, 352) Damit wird nun auch klar, inwiefern Cassirer Hegels Selbstbewegung des Begriffs für einen Schein hält: »Das Nacheinander der Momente« besteht »nur für uns, nur für einen Zuschauer […], der den Gehalt des Absoluten nicht auf einmal zu erfassen vermag, sondern ihn in getrennte sukzessive Merkmale zerlegen muß.« (Ebd., 353) Für Cassirer entpuppt sich die reine Selbstbewegung des Gedankens, um die es Hegel geht, damit als »Fortgang einer bloß subjektiven Reflexion« (ebd.). Diesem Einwand zufolge macht sich Hegel – darauf hat Detlev Pätzold hingewiesen – ironischerweise des Irrtums der von ihm so bekämpften Reflexionsphilosophie schuldig, »in jeglicher Begriffsentwicklung nur ein methodisches Verfahren der subjektiven Reflexion sehen zu wollen.«21 Der zweite Einwand gegen Hegels Konzeption der dialektischen Methode kann, wie erwähnt, das »Problem des falschen Endes« genannt werden. In dem Ende der Selbstbewegung des Begriffs, so Cassirers Kritik, »sollen alle Einzelstadien, die die Bewegung durchlaufen hat, rein erhalten und aufbewahrt sein; aber in Wahrheit droht doch in ihm die Eigenart dieser Vorstufen vielmehr zu verschwinden und zu verlöschen. Der ganze Prozeß faßt sich in eine einzelne höchste Spitze zusammen, um derentwillen die gesamte vorangehende Entwicklung allein da war und mit deren Erreichung sie daher ihre selbständige Bedeutung zu verloren haben scheint. Was Hegel als Vollendung des dynamischen Prozesses ansieht, das bedeutet gerade die Aufhebung seines reinen Prozeßcharakters.« (ECW 4, 354)
Pätzold 2004, 99. Pätzold macht allerdings gegen Cassirer geltend, daß dieser »Hegel hier eine naive Auff assung und Redeweise vom ›Absoluten‹ unterstellt, die sich in der Wissenschaft der Logik keineswegs fi ndet« (ebd.). In philosophiehistorischer Hinsicht entspricht das von Hegel in der Logik tatsächlich behandelte »Absolute« kategorial am ehesten Spinozas Substanzbegriff ; entsprechend hat es seinen Platz schon in der Wesenslogik und nicht erst in der Begriffslogik (ebd., 99 f., Anm. 50). – Unabhängig davon ist darauf hinzuweisen, daß Cassirers Zirkularitätseinwand etwas Äußerliches hat. In der Einleitung in die Seinslogik »Womit muß der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?« (TWA 5, 65 ff.) erläutert Hegel selbst, daß in der Wissenschaft (d. h. in der Philosophie) »das Vorwärtsgehen ein Rückgang in den Grund, zu dem Ursprünglichen und Wahrhaften ist« und daß somit, weil ein Unmittelbares als Anfang nicht anzunehmen sei, das Ganze der Wissenschaft »ein Kreislauf in sich selbst ist, worin das Erste auch das Letzte und das Letzte auch das Erste wird.« (TWA 5, 70) 21
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Interessanterweise ist diese Dialektik-Kritik nicht eo ipso eine TeleologieKritik. Die Zielbestimmtheit der Entwicklung ist hier, für sich genommen, nicht der Stein des Anstoßes. Als problematisch gilt jedoch (i) der Anspruch, den Gesamtgehalt des Geistigen im Denken vorwegzunehmen. Dieser Anspruch, so die Kritik, ist zum einen nicht damit verträglich, daß dieses Denken die Wirklichkeit als seinen Inhalt reklamieren können soll. Denn lassen sich in der Logik die Schöpfungsgedanken des absoluten Geistes abschließend nachzeichnen, »stehen wir an einem Punkt, an dem die Abteilung und Abgrenzung in endliche Dinge, nach denen unser Begriff sich ›richten‹ müßte, ihren Sinn verliert; wo wir statt der ›Gegenstände‹ ihren Ursprung und ihre ideelle Norm vor uns haben.« (ECW 4, 350) Anders gesagt: Eine Wirklichkeit, die nichts darüber hinaus ist, die eigene Wirklichkeit des Denkens zu sein, büßt ihren Sinn als Wirklichkeit ein. 22 – Zum anderen ist dem Anspruch der gedanklichen Vorwegnahme des Gesamtgehaltes des geistigen Lebens, wie Cassirer mit Blick auf Hegels Konzeption der Geschichte der Philosophie oder dessen Philosophie des Staates betont, die Gefahr inhärent, der ›höchsten Spitze‹ eine konkrete empirische Gestalt unterzuschieben und damit ein Einzelnes und Kontingentes zum Absoluten zu erheben. 23 Um dieser Gefahr zu begegnen, ist Cassirer zufolge der Rückgriff auf Kant erforderlich: »Vor dieser Gefahr schützt nur die Wiederherstellung der Idee nicht als einer Gegebenheit, sondern als einer unendlichen Aufgabe und als reines Sollen« (ebd., 355). Entsprechend hebt Cassirer immer wieder die »unabschließbare[] Arbeit der geistigen Kultur« hervor (ebd., 358). Das von Cassirer im Zuge seiner Kritik an Hegels dialektischer Methode erläuterte »Problem des falschen Endes« hat (wie sich schon andeutete) noch einen weiteren Aspekt. Hegels Dialektik, so (ii) der Vorwurf, nivelliert das Eigenrecht, die Eigengesetzlichkeit derjenigen Entwicklungsstufen, die sich unterhalb der ›höchsten Spitze‹ befi nden. Cassirer verdeutlicht das in bezug auf die verschiedenen geistigen Kulturformen, zu denen er etwa Kunst, Religion und Philosophie zählt: »Für Hegel bilden diese Kulturformen eine einzige aufsteigende Reihe, die zuletzt in der Philosophie ihre höchste Spitze und ihren Abschluß fi ndet.« (ECW 4, 357) Das Problem besteht nicht darin, daß die Philosophie den anderen Kulturformen
Siehe dazu ausführlich: Kreis 2010, 340–343. – Wie zugkräft ig der genannte Einwand ist, wird davon abhängen, inwieweit sich verständlich machen lässt, daß »Wirklichkeit« etwas sein muß, das nicht restlos geistig durchdrungen ist. 23 ECW 4, 355. »Hier steht der absolute Idealismus in der Tat seinem systematischen Widerspiel, dem absoluten Empirismus, gegenüber und droht ständig in ihn umzuschlagen.« (ebd.) 22
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in irgendeiner Weise übergeordnet wäre, 24 sondern daß sie die übrigen Kulturformen »erledigt«, »ihnen ihre autonome und selbständige Geltung entzieht, um sie dem eigenen Systemzweck einzufügen und unterzuordnen.« (Ebd., 358.) Gegen diese für Cassirer inakzeptable reduktionistische Tendenz Hegels wird erneut Kant gesetzt: »Auch hierin tritt der Gegensatz zu Kant hervor, dessen wesentliche Absicht auf die Erhaltung dieser Autonomie gerichtet ist. Die transzendentale Kritik – so betont Kant – will nicht den Inhalt des praktischen, des religiösen, des ästhetischen Bewußtseins durch einen anderen und höheren ersetzen, sondern sie sucht für diesen Inhalt und seinen faktischen Bestand lediglich die reine Formel zu gewinnen«, »die konstitutive Regel«, die das Ganze des Gehalts der verschiedenen Kulturformen »beherrscht und bildet.« (Ebd.) Beziehen wir die vorherigen Überlegungen nun auf die Frage zurück, ob Cassirer in Die nachkantischen Systeme auch systematisch den Schritt von Kant zu Hegel macht, so fällt die Antwort zweideutig aus. Einerseits vollzieht Cassirer diesen Schritt insofern tatsächlich, als er Kant teilweise in Hegelscher Optik liest und Hegels Problemstellung als eine systematisch fruchtbare Erweiterung der Kantischen Problemstellung begreift , da sie den Fokus von der reinen Erkenntnis auf das konkrete Ganze des geistigen Lebens ausweite. Andererseits bringt Cassirer aber gerade Kants kritischen gegen Hegels absoluten Idealismus in Stellung. Insbesondere ist deutlich geworden, daß er in seiner Kritik der dialektischen Methode in doppelter Hinsicht mit Kant argumentiert, und zwar sowohl für die irreduzible Pluralität des geistigen Lebens als auch für dessen gedankliche Unabschließbarkeit. Auf diese Weise hat die Ausgangsthese, daß für das Verständnis von Cassirers systematischem Bezug auf Hegel Kant von entscheidender Bedeutung ist, eine zusätzliche Facette erhalten. Denn Kant ist nicht nur der Autor, der für Cassirers systematische Anknüpfung an Hegels Phänomenologie aus dem Grunde maßgeblich ist, daß er in der Philosophie der symbolischen Formen in Hegelscher Einfärbung so präsentiert wird, als bestünde sein genuines Thema in der schrittweisen Entfaltung der konkreten Totalität des Geistes, 25 sondern er ist zugleich der Autor, mit dem Cassirer in Die nachkantischen Systeme für die kritische Revision In der Philosophie der symbolischen Formen beschreibt es Cassirer geradezu als Aufgabe der »philosophischen Betrachtung […], einen Standpunkt zu fi nden, der über all diesen Formen und der doch andererseits nicht schlechthin jenseits von ihnen liegt« (ECW 11, 12). 25 An diesem Punkt ist übrigens eine gewisse Sprunghaft igkeit in Cassirers Verhältnis zu Kant nicht zu übersehen. Cassirer hält die »allmähliche Entfaltung« des Wirklichkeits- und Geistbegriff s schon für ein genuines Anliegen von Kant selbst (ECW 11, 8), interpretiert diesen aber ebenso als Denker, dessen erkenntniszentrier24
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von Hegels absolutem Idealismus argumentiert. 26 Es ist zu vermuten, daß diese mit Kant geführte Kritik an Hegel auch in Cassirers Ausarbeitung seiner eigenen Philosophiekonzeption ihre Spuren hinterlassen hat.
III. In der Tat ist Cassirers Anknüpfung an Hegel im Problemhorizont seines eigenen Philosophierens durch die Resultate der kritischen Auseinandersetzung mit Hegel im dritten Band von Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit bestimmt. Dies zeigt sich deutlich schon in der Einleitung zum Gesamtwerk der Philosophie der symbolischen Formen: Im gleichen Zuge, in dem Cassirer für seinen eigenen Ansatz Hegels Forderung aufnimmt, »das Ganze des Geistes als konkretes Ganzes zu denken« bzw. den Geist »in die Gesamtheit seiner Manifestationen zu entwickeln« (ECW 11, 13), stellt er Hegel als warnendes Beispiel dar, indem er auf eine Gefahr für jeden Versuch einer Erneuerung von dessen Projekt hinweist: »Und doch soll andererseits die Phänomenologie des Geistes, indem sie diese Forderung zu erfüllen strebt, damit nur der Logik den Boden und den Weg bereiten. Die Mannigfaltigkeit der geistigen Formen, wie sie die Phänomenologie aufstellt, läuft zuletzt gleichsam in eine höchste Spitze aus – und in diesem ihrem Ende fi ndet sie erst ihre vollendete ›Wahrheit‹ und Wesenheit.«27 Nicht nur die Terminologie, sondern auch der zugrundeliegende Vorwurf erinnert an die erörterte HegelKritik aus Die nachkantischen Systeme. In dem Ziel, in dem die Phänomenologie des Geistes entlang der »dialektischen Methode« zum Abschluß kommt – dem absoluten Wissen –, »sind alle früheren Stadien, die er [der Geist (M. W.)] durchlaufen hat, zwar noch als Momente enthalten, aber auch zu bloßen Momenten aufgehoben. Somit scheint auch hier von allen geistigen Formen nur der Form des Logischen, der Form des Begriffs und der Erkenntnis eine echte und wahrhafte Autonomie zu gebühren.« te Problemstellung erst durch Hegel auf die Frage nach der Totalität geistiger Äußerungen ausgeweitet wurde (ECW 4, 280). Eine Zwischenposition scheint Cassirer in seiner Vorlesung Grundprobleme der Kulturphilosophie (1929) einzunehmen, wo er erklärt, Kant nehme »den ›Geist‹« noch »als abstraktes Prinzip«, während Hegel ihn »als konkretes Prinzip«, »in seiner geschichtlichen Selbstverwirklichung« konzipiere (ECN 5, 15). 26 Einer der wenigen Autoren, die gesehen haben, daß Cassirer mit Hegel gegen Kant, aber zugleich mit Kant gegen Hegel argumentiert, ist Michael Bösch (siehe Bösch 2004, 119, 123 u. 161). 27 ECW 11, 13; Hvh. v. mir, M. W.
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(Ebd.) Daher wird bei Hegel »alles geistige Sein und Geschehen, sosehr es in seiner spezifischen Besonderung erfaßt und in dieser Besonderung anerkannt werden soll, doch zuletzt gleichsam auf eine einzige Dimension bezogen und reduziert« (ebd.). Die Philosophie der symbolischen Formen greift damit den in Die nachkantischen Systeme entwickelten Kritikpunkt auf, daß Hegels dialektische Methode zum Autonomieverlust und zur reduktionistischen Nivellierung fast aller geistigen Formen führt. 28 Vor diesem Hintergrund ist es auch nicht überraschend, daß das dialektische Methodenmotiv, das (wie oben gesehen) im Mythos-Band der Philosophie der symbolischen Formen in der dortigen »Dialektik des mythischen Bewußtseins« präsent ist, nicht die systematische Organisation des Gesamtwerks bestimmt. Der Mythos bildet zwar das Fundament, den »gemeinsamen Mutterboden«, von dem sich alle anderen symbolischen Formen erst allmählich ablösen, 29 doch die Leitermetapher der Phänomenologie des Geistes, die Cassirer an verschiedenen Stellen aufnimmt, 30 ist für seine eigene Position nicht ganz angemessen; bei ihm könnte allenfalls von verschiedenen Leitern die Rede sein, die bis zum Mythos herabreichen und über die der Weg zu verschiedenen anderen symbolischen Formen führt. Oswald Schwemmer hat in diesem Zusammenhang das Bild einer Rosette ins Spiel gebracht, deren Mitte der Mythos bildet und deren Blätter die anderen symbolischen Formen sind. 31 Die Philosophie der symbolischen Formen wäre demzufolge entgegen einzelner Indizien im Mythos-Band nicht insgesamt durch eine dialektische Entwicklung im Sinne Hegels geprägt. Für seine Kritik an der dialektischen Methode muß Cassirer, da er zugleich an Hegels Projekt der philosophischen Durchdringung der konkreten Totalität geistiger Formen und Gestaltungen festhält, allerdings einen Preis bezahlen. Er läuft Gefahr, selbst nicht mehr verständlich machen zu können, wie diese Totalität systematisch zu begreifen ist. Es ist dieses Problem, das ihm spätestens in seinem Aufsatz »Die Begriffsform Zu dieser Einschätzung vgl. auch Hackenesch 2001, 117: »Die Hegelsche Kategorie der Aufhebung ist auf die Philosophie der symbolischen Formen nicht anwendbar. Jede symbolische Form bedeutet eine eigene, unaufhebbar besondere Gestalt des Geistes, die sich nicht zu einem ›Gehalt‹ verdichten läßt, der in anderer, ›entwickelterer Form‹ aufbewahrt bliebe.« 29 Cassirer: Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen (1925), ECW 16, 266. Vgl. dazu auch das Vorwort des Mythos-Bandes der Philosophie der symbolischen Formen, ECW 12, XI. 30 ECW 12, XII f.; ECW 13, VIII f.; ECN 1, 84, 213. 31 Schwemmer 1997, 41. Zur Kritik an dem Interpretationsmodell der Rosette siehe Freudenthal 2004, 223. 28
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im mythischen Denken« (1922) vor Augen steht. Seines Erachtens stellte sich bereits mit Vico die »Aufgabe einer allgemeinen Logik der Geisteswissenschaften, die der Mathematik und der Naturwissenschaft ebenbürtig zur Seite treten könne« – aber erst mit Hegel schien diese Aufgabe ihrer »endgültigen Lösung entgegengeführt. Seine Phänomenologie und seine Logik umfaßt in einem Entwurf von großartiger Geschlossenheit und Tiefe die konkrete Totalität des geistigen Lebens, das hier zugleich in der geschichtlichen Fülle seiner Erscheinungen wie in deren systematischer Gliederung und systematischer Notwendigkeit zur Darstellung gelangen soll. Aber dieser Gehalt der Hegelschen Logik war unlöslich mit ihrer Form, mit der Form der dialektischen Methode, verknüpft . Sobald man auf diese Form verzichtete, fiel das Ganze der Probleme, die hier durch die Einheit und Notwendigkeit eines metaphysischen Prinzips zusammengehalten waren, wieder in eine Mannigfaltigkeit bloß methodologischer Einzelfragen auseinander.« (ECW 16, 7) Damit ist für Cassirer das Kernproblem des nachhegelschen Philosophierens benannt. Es motiviert zugleich die Entwicklung seines eigenen Denkens. In der Philosophie der symbolischen Formen nimmt es die Gestalt eines Dilemmas an. Zu seiner Erläuterung kann man von der Überlegung ausgehen, daß mit dem Bild einer rosettenhaften Anordnung der verschiedenen geistigen Formen um den Mythos insofern noch keine Systematik dieser Formen konzipiert ist, als erstens die Verhältnisse zwischen dem Mythos und den anderen Formen zunächst nur als genetische verstanden werden und zweitens die wechselseitige Beziehung zwischen den vom Mythos verschiedenen geistigen Formen ganz unklar bleibt. Unter systematischen Gesichtspunkten stellt sich also die Frage nach der logischen Einheit aller geistigen Formen. Wird sie unter Hegelschen Prämissen beantwortet, so führt dies aus Cassirers Sicht zur Nivellierung der Eigenart und des Eigenrechts dieser Formen; aber mit der Aufgabe dieser Prämissen verdunkelt sich die Aussicht auf die Möglichkeit ihrer Beantwortung. Denn »als Gegenbild und Widerspiel der dialektischen Methode«, so Cassirer, scheint »nur ein rein empirisches Verfahren übrig« zu bleiben (ECW 11, 14). Doch ein solches Verfahren kann Cassirer zufolge nur Besonderheiten von einzelnen geistigen Formen beschreiben und grundsätzlich nicht für eine allgemeine und systematische Theorie solcher Formen aufkommen. 32 Der zentrale Gedanke von Cassirers eigenem philosophischem Ansatz ist eine Reaktion auf genau diese, von seiner Hegel-Kritik implizierten Vgl. Cassirer: »Somit ergibt sich an diesem Punkte ein eigentümliches Dilemma. Halten wir an der Forderung der logischen Einheit fest, so droht zuletzt in der 32
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Schwierigkeit. »Ein Ausweg aus diesem methodischen Dilemma könnte nur dann gefunden werden, wenn es gelänge, ein Moment aufzuweisen und zu ergreifen, das sich in jeder geistigen Grundform wiederfi ndet und das doch andererseits in keiner von ihnen in schlechthin gleicher Gestalt wiederkehrt.« (ECW 11, 14) Dieses »Medium«, so Cassirer, das »durch alle Gestaltung, wie sie sich in den einzelnen geistigen Grundrichtungen vollzieht, hindurchgeht« und einen »ideelle[n] Zusammenhang« zwischen ihnen zu stiften vermag (ebd.), ist das Symbol. Indem die verschiedenartigen Gestaltungen in Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Wissenschaft etc. als symbolische Gestaltungsweisen verstanden werden, so Cassirers Grundidee, läßt sich ihre konkrete Totalität auch nach Preisgabe der dialektischen Methode systematisch durchdringen. Cassirer hält also an dem Hegelschen Anspruch einer »philosophische[n] Systematik des Geistes« fest (ebd., 12) und sucht ihn im Rahmen eines symbolphilosophischen Ansatzes zu verwirklichen. Wenn wir betonen wollen, daß die Philosophie der symbolischen Formen an Hegels Phänomenologie des Geistes anknüpft, und mit dem »Symbolischen« zugleich ihr Spezifi kum hervorheben wollen, so können wir ihr Projekt als eine »Phänomenologie des Symbolischen« charakterisieren. IV. Angesichts seiner Ablehnung von Hegels dialektischer Methode stellt sich jedoch die Frage, inwieweit Cassirer – von der vergleichbaren Fragestellung nach der konkreten Totalität der geistigen Formen abgesehen – überhaupt an dessen Phänomenologie anknüpft . Wir müssen daher auf diejenigen am Ende des I. Abschnitts gestellten Fragen zurückkommen, die noch offen sind: (i) die Frage nach dem systematischen Verhältnis der verschiedenen geistigen Formen, (ii) die Frage einer möglichen teleologischen Ausrichtung der Philosophie der symbolischen Formen und (iii) die Frage nach dem Verhältnis der Philosophie zu den verschiedenen symbolischen Formen. Eine Phänomenologie des Symbolischen müßte den für Hegels Position selbstverständlichen Anspruch von Philosophie als System bewahren. 33
Allgemeinheit der logischen Form die Besonderung jedes Einzelgebiets und die Eigenart seines Prinzips sich zu verwischen – versenken wir uns dagegen in ebendiese Individualität und bleiben wir bei ihrer Betrachtung stehen, so laufen wir Gefahr, uns in ihr zu verlieren und keinen Rückweg mehr ins Allgemeine zu fi nden.« (ECW 11, 14) 33 Siehe Hegel: TWA 3, 14 u. 27 f.
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Die systematische Einheit der geistigen Grundformen, die sie diskutiert, kann Cassirer zufolge aber nicht mehr durch die dialektische Methode verbürgt werden; sie muß vielmehr vom Symbolbegriff her konzipiert werden. Dem soll eine neue Art von System Rechnung tragen – ein System, das die reduktionistische Nivellierung geistiger Formen vermeiden sowie der Pluralität und Autonomie dieser Formen auf eine Weise gerecht werden kann, die ihren Zusammenhang einsichtig macht. Cassirer nennt diese neue, von ihm anvisierte Art von System in Abgrenzung zu einem ›einfachen‹ ein ›komplexes System‹ (ECW 11, 27). Den Hintergrund dieser Terminologie bilden wieder spezifische Bezugnahmen auf Hegel und Kant. Cassirer unterscheidet die »kritische« und die »metaphysisch-spekulative« Philosophiekonzeption dadurch, daß »beide einen verschiedenen Begriff des ›Allgemeinen‹ und damit einen verschiedenen Sinn des logischen Systems selber voraussetzen. Die erste Betrachtung geht auf den Begriff des Analytisch-Allgemeinen zurück, die zweite zielt auf den des Synthetisch-Allgemeinen hin.« (ECW 11, 26) Weder der Name Kants, auf den die Unterscheidung zwischen diesen beiden Allgemeinheitstypen zurückgeht, noch der Name Hegels fällt in diesem Kontext. Vor dem Hintergrund von Cassirers Die nachkantischen Systeme, wo Hegels Position (wie oben gesehen) im Rekurs auf diese Unterscheidung beschrieben wurde, ist aber deutlich, daß sich der Angriff auf ein dem Synthetisch-Allgemeinen verpfl ichtetes Systemdenken hier gegen Hegel richtet. Mit dem Denken des Synthetisch-Allgemeinen, so Cassirer, sucht man »zu verstehen, wie sich aus einem einzigen Urprinzip die Totalität, die konkrete Gesamtheit der besonderen Formen entwickelt.« (Ebd., 27) Die »Mehrheit verschiedener ›Dimensionen‹ der Betrachtung« (ebd.) ist damit aber schon im Ansatz aufgegeben, das heißt, es ergibt sich ein ›einfaches System‹. Daß diese Mehrheit gewahrt bleibt, zeichnet umgekehrt gerade das ›komplexe System‹ aus, das auf dem Begriff des Analytisch-Allgemeinen basiert: »Dort begnügen wir uns damit, die Mannigfaltigkeit der möglichen Verknüpfungsformen in einen höchsten Systembegriff zu vereinen und sie damit bestimmten Gesetzen unterzuordnen« (ebd., 26f.). Die verschiedenen Formen stehen hier nicht durch Ableitung aus einem Urprinzip, sondern aufgrund der Funktion des Symbolisierens, die in ihnen am Werk ist, in einer systematischen Einheit. Daß diese Einheit komplexer Art ist, liegt für Cassirer in der inneren Komplexität der Funktion des Symbolisierens selbst begründet. Dies ist der Kerngedanke des Begriffs des komplexen Systems: »Jede Form wird sozusagen einer besonderen Ebene zugeteilt, innerhalb welcher sie sich auswirkt und in der sie ihre spezifische Eigenart völlig unabhängig entfaltet – aber gerade in der Gesamtheit dieser ideellen
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Wirkungsweisen treten nun zugleich bestimmte Analogien, bestimmte typische Verhaltungsweisen hervor, die sich als solche herausheben und beschreiben lassen.«34 Welches sind die ›Ebenen‹, von denen Cassirer hier spricht, und wie ist die innere Komplexität der Funktion des Symbolisierens bestimmt? Bei diesen Ebenen handelt es sich um das, was Cassirer an anderen Stellen die Sphären, Dimensionen oder Funktionen von Ausdruck, Darstellung und Bedeutung nennt. 35 Er verwendet diese Dreiteilung im Sinne eines »ideellen Bezugssystems«, an dem sich die jeweilige »Eigenart« einer symbolischen Form »feststellen und gewissermaßen ablesen« läßt (ECN 1, 6). Das jeweilige Gewicht, das die drei Symbolfunktionen des Ausdrucks, der Darstellung und der Bedeutung für eine bestimmte geistige Form haben, bestimmt die symbolische Signatur dieser Form. Dadurch ist jede geistige Form in Beziehung zu anderen solchen Formen gesetzt und nimmt eine eindeutige ›Stelle‹ im System der symbolischen Formen ein. Eine Stärke dieses Ansatzes ist, daß er ohne weiteres eine genetische Perspektive integrieren kann. Im Laufe der Entwicklung einer geistigen Form können sich die jeweiligen Gewichte der drei Symbolfunktionen verschieben und damit die symbolische Signatur insgesamt verändern. Die systematische ›Stelle‹ einer symbolischen Form ist also, so Cassirer in »Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie« (1927), nicht »ein für allemal fi xiert […]. Vielmehr ist es für jede Form bezeichnend, daß sie in verschiedenen Phasen ihrer Entwicklung, in den verschiedenen Stadien ihres geistigen Aufbaues, sich zu den drei Grundpolen, die wir hier auszuzeichnen versuchten, verschieden verhält. Sie rückt in dieser Entwicklung von Ort zu Ort – und sie erfüllt erst in dieser Bewegung und kraft ihrer den Kreis des Seins und den Kreis des Sinnes, der ihr zugemessen ist.« (ECW 17, 262) Mit Hilfe der Funktionen des Ausdrucks, der Darstellung und der Bedeutung, die als systembildende Trias der Philosophie der symbolischen Formen gelten können, lassen sich also sowohl statische als auch dynamische Aspekte der Systematik der symbolischen Formen erfassen. Auch wenn hier eine Reihe von weiteren Fragen naheliegt, 36 soll der ECW 11, 27; Hvh. v. mir, M. W. Mit dieser Interpretation der zitierten Passage (ECW 11, 27) folge ich Schwemmer 1997, 59. Zu Cassirers Unterscheidung von Ausdruck, Darstellung und Bedeutung siehe ECW 13, 114 u. 519 ff. 36 Eine kurze Auswahl: Wie werden die drei Symbolfunktionen des Ausdrucks, der Darstellung und der Bedeutung im einzelnen bestimmt? Ist ihre Unterscheidung gut begründet? Ist sie vollständig? Wie verhält sich diese Unterscheidung zu der Unterscheidung der verschiedenen symbolischen Formen? Warum untersucht die Philosophie der symbolischen Formen ausgerechnet die symbolischen Formen der 34 35
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skizzierte Überblick zu Cassirers ›Architektonik‹ im Folgenden nicht weiter vertieft werden. 37 Worauf es ankam, war zu zeigen, daß Cassirer einerseits in Fortschreibung Hegels am philosophischen Systemgedanken festhält, sein Systemdenken aber andererseits dem Hegelschen konfrontiert. Es stellt sich nun die Frage, ob sein Bezug auf Hegel in der TeleologieFrage und der nach dem Philosophiebegriff ähnlich zwiespältig ist. An einer Stelle der Philosophie der symbolischen Formen, an der Cassirer sich auf Hegels Phänomenologie bezieht, erläutert er: Das »Ende, das ›Telos‹ des Geistes« läßt sich nicht in Isolation oder Absetzung »von Anfang und Mitte« erfassen; vielmehr nimmt die »philosophische Reflexion […] alle drei als integrierende Momente einer einheitlichen Gesamtbewegung.« Cassirer fügt direkt anschließend hinzu: »In diesem Grundsatz der Betrachtung stimmt die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ mit dem Hegelschen Ansatz überein – sosehr sie in der Begründung wie in der Durchführung desselben andere Wege gehen muß.« (ECW 13, IX) Es ist auff ällig, daß sich Cassirer hier nicht von einem »Telos des Geistes« abgrenzt, sondern diese Rede positiv aufnimmt. Was er vermeiden will, ist lediglich eine abstrakte Erfassung dieses Telos, eine Behandlung, die es von seinen Vermittlungen absondert. Später heißt es entsprechend: Vom »Standpunkt einer universellen ›Phänomenologie des Geistes‹ aus betrachtet und beurteilt«, bildet die geistige Welt »eine durchaus konkrete Einheit: derart, daß auch die extremsten Gegensätze, in denen sie sich bewegt, noch als irgendwie vermittelte Gegensätze erscheinen.« (Ebd., 87) Keine »Gestalt, durch die das Bewußtsein überhaupt hindurchgeht«, versinkt spurlos, wird restlos überwunden, sondern jede von ihnen gehört »in irgendeiner Weise auch zu seinem bleibenden und dauernden Bestand.« (Ebd.) Doch wie ist dieser Prozeß des bewahrenden Hinausgehens in Hinblick auf die Problematik der Teleologie genau bestimmt?38 Die deutlichste Auskunft in dieser Frage hat Cassirer in seinem Spätwerk Essay on Man (1944) gegeben. Am Ende des Buchs, dessen Absicht Cassirer zufolge in einer »Phänomenologie der Kultur« besteht, 39 heißt es: »Human culture taken as a whole may be described as the process of man’s progressive self-liberation. Language, art, religion, science, are various
Sprache, des Mythos sowie der Wissenschaft (und lässt Kunst, Technik etc. außen vor)? 37 Siehe dazu neuerdings Kreis 2010, 392 ff . 38 Einen Überblick zu den in der Literatur zu dieser Frage vertretenen Positionen gibt Schiemann (i. Ersch.), der selbst für ein teleologisches Verständnis von Cassirer plädiert. 39 ECW 23, 58: »Our objective is a phenomenology of human culture.«
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phases in this process.« (ECW 23, 244) Der Prozeß der Kultur ist demnach auf die Selbstbefreiung des Menschen ausgerichtet und durch den Fortschritt auf dieses Ziel hin gekennzeichnet. Als zeitliche weisen seine Phasen weitgehende Überschneidungen auf; in struktureller Hinsicht gibt es Cassirer zufolge jedoch eine letzte und avancierteste Gestalt des Prozesses, und zwar die Wissenschaft. Das Kapitel zur Wissenschaft des Essay on Man beginnt mit der Einschätzung: »Science is the last step in man’s mental development and it may be regarded as the highest and most characteristic attainment of human culture.«40 Der entscheidende Punkt dabei ist, daß das Symbolisieren, das bereits das Medium des geistigen Lebens auch der anderen geistigen Formen ist, erst in der modernen Wissenschaft als dieses Mittel begriffen wird. 41 Doch wenn Cassirer der Auffassung ist, daß die Kulturentwicklung ein Telos besitzt, das sich in der Wissenschaft verwirklicht, muß ihm dann nicht der Vorwurf gemacht werden, den er selbst gegen Hegel erhoben hatte? Liegt bei ihm mit der modernen Wissenschaft – so wie in Hegels Phänomenologie mit dem absoluten Wissen – eine notwendige Abschlußgestalt des Geistes vor? Obwohl einige seiner Formulierungen genau darauf hinzudeuten scheinen, ist die Frage mit »Nein« zu beantworten. Das läßt sich mit Blick auf Cassirers »Critical Idealism as a Philosophy of Culture« verdeutlichen. In diesem 1936 im Warburg-Institut (London) gehaltenen Vortrag bestimmt Cassirer seine teleologische Position in direkter Abgrenzung gegen Hegel und nimmt dafür erneut den Kantischen Begriff des kritischen Idealismus in Anspruch: »Critical Idealism puts itself a different and more modest task than the absolute idealism of Hegel. It does not pretend to be able to understand the contents and the scope of culture so as to give a logical deduction of all its single steps and a metaphysical description of the universal plan according to which they evolve from the absolute nature and substance of mind.«42 Zwar konzediere auch der kritische Idealismus dem »universe of culture […] true and real unity«, aber ECW 23, 223. Vgl. ebd.: »It [science] is held to be the summit and consummation of all our human activities, the last chapter in the history of mankind.« 41 Vgl. etwa ECW 12, 32 f.; siehe auch ECW 13, 392: »Gehen wir dagegen von den Worten der Sprache zu den Charakteren der reinen Wissenschaft , insbesondere zu den Symbolen der Logik und der Mathematik fort, so scheint uns hier gewissermaßen ein luft leerer Raum zu umfangen. Aber zugleich zeigt sich, daß hierdurch die Bewegung des Geistes nicht gehemmt und vernichtet ist, sondern daß er sich hier vielmehr erst wahrhaft als das entdeckt, was das Prinzip, was den Anfang der Bewegung in sich selbst hat.« 42 Cassirer 1936, 89. In Cassirers Nachgelassenen Manuskripten und Texten wird der Vortragstext nach Verlagsauskunft 2011 (und zwar in ECN 7) erscheinen. 40
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diese Einheit »is not a given thing; it is an idea and ideal.«43 Vor diesem Hintergrund wäre das Telos der Freiheit am besten als eine regulative Idee zu verstehen, wenn Cassirer in der Folge festhält: »In this way we may consent to the conception of […] Hegel that the process of culture is the progress of the consciousness of freedom«. 44 Der Prozeß der Kultur wäre in dieser Lesart zwar teleologisch strukturiert, aber in Ausrichtung auf eine regulative Idee. 45 Wird der Kulturprozeß so verstanden, daß er auf Freiheit als regulative Idee ausgerichtet ist, dann läßt sich nicht behaupten, er kulminiere in einer Abschlußgestalt; das heißt, auch die moderne Wissenschaft kann nicht als eine solche gelten. Cassirer entgeht damit dem Einwand, den er gegen Hegel erhoben hat. Gleichwohl scheint seine Teleologie in einer anderen Hinsicht Hegel näher zu sein, als seine Kritik vermuten läßt. Denn einiges spricht dafür, Cassirers Position so zu verstehen, daß sich die Dynamik des Geistes, wenngleich sie nicht zu einem notwendigen Abschluß kommt, doch mit Notwendigkeit auf ihr Telos zubewegt. 46 So ist beispielsweise im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen von einem notwendigen Übergang vom natürlichen zum wissenschaft lichen Begreifen der Wirklichkeit die Rede: Der »Gedanke«, dessen Aktivität im Rahmen des natürlichen Weltbegriffs noch sporadisch bleibt, kann »nicht länger bei den Gestaltungen stehen bleiben, die die Welt der Anschauung ihm gewissermaßen fertig entgegenbringt, sondern er muß dazu übergehen, ein Reich der Symbole in voller Freiheit, in reiner Selbsttätigkeit aufzubauen.«47 Der Kontext der Passage erzwingt es nicht, scheint es aber zu erlauben, die Notwendigkeit dieses Übergehen-Müssens in dem Sinne als bedingt zu verstehen, daß der Übergang stattfi nden muß,
Ebd., 90. Ebd. – Mit den Auslassungszeichen im obigen Zitat sind die Worte »Kant and« ausgespart. Zu der Frage, inwiefern Cassirer auch Kant die Auff assung zuschreibt, das Ziel der Kultur sei die Verwirklichung der Freiheit, siehe: Die ›Tragödie der Kultur‹ (1942), ECW 24, 463. 45 Auch Gerald Hartung zufolge dient Cassirers »Teleologie der symbolischen Funktion […] allein als regulative Idee« (Hartung 2003, 293). 46 Die wichtigsten Anhaltspunkte für diese Interpretation Cassirers hat Christa Hackenesch in ihrer ausführlichen Auseinandersetzung mit der Teleologie-Problematik bei Cassirer herausgearbeitet (siehe Hackenesch 2001, 137 f., 140 f., 144 f., 155, 157, u. ö.). Ihr Hauptkritikpunkt an Cassirer lautet letztlich, daß die Philosophie der symbolischen Formen, indem sie eine Hegelsche Teleologie der Freiheit zu etablieren suche, »sich der Kontingenz des animal symbolicum nicht wirklich anvertraut« (ebd., 200). 47 ECW 13, 327; Hvh. modifi ziert, M. W. 43
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wenn sich unsere einzelnen Setzungen »einem einheitlichen allbefassenden Denkzusammenhang einfügen« sollen (ECW 13, 327). Mit anderen Worten: Bei Akzeptanz dieser Forderung wäre die Bewegung des Gedankens notwendig – sie ist es aber nicht unbedingt in dem Sinne, daß sie selbst ein bestimmtes Entwicklungsgesetz in sich trüge. Andere Stellen im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen weisen jedoch eindeutig darauf hin, daß Cassirer eine derartige Entwicklungslogik behauptet: »Es liegt in der Wesensart des Geistes selbst beschlossen, daß seine ›Rückkehr zu sich selbst‹ nicht in einem einzelnen isolierten Höhepunkt seiner Entwicklung erfolgt, sondern daß sie das Ganze dieser Entwicklung beherrscht und bestimmt.« (Ebd., 385) Weiter unten spricht Cassirer mit Bezug auf den Geist noch deutlicher von der »Einheit des Gesetzes, dem er in seiner Entwicklung folgt«, dem Gesetz wachsender »Entstoffl ichung« und »Ablösung« von Einzelnem und Subjektivem. 48 Eine Begründung dieser Entwicklungsgesetzlichkeit in der Dynamik des Geistes bleibt Cassirer allerdings schuldig. Das ist kein Zufall. Denn mit seiner Abwendung von Hegels absolutem Idealismus hat er die dafür erforderlichen Ressourcen aus der Hand gegeben. Die Philosophie der symbolischen Formen hat die Konsequenzen daraus nicht umfassend gezogen. Mit einem Telos der Freiheit dürfte sie im Grunde genommen nur noch in einem deutlich schwächeren Sinn operieren. Einige spätere Texte Cassirers sehen in diesem Punkt klarer. In dem schon erwähnten Vortrag »Critical Idealism as a Philosophy of Culture« beschreibt Cassirer seinen kritischen Idealismus als eine Position, »[that] does not aim at a universal formula expressing the absolute nature of mind and the necessary sequence of its single phenomena, nor does it claim to predict and prescribe the future course of the history of culture.«49 Der Kulturprozeß entwickelt sich nicht auf eine zwangsläufige Weise, sondern ist von Kontingenz durchzogen – diesen Standpunkt scheint Cassirer sich nun zu eigen zu machen. Diese Einschätzung läßt sich mit Blick auf den Aufsatz »Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie« (1939) bestätigen und präzisieren. Zu Cassirers Anerkennung der Kontingenz des Kulturprozesses tritt hier noch seine zunehmende Berücksichtigung individueller Subjektivität. 50 Beide Motive werden abermals gegen Hegel
Ebd., 390. Weitere Stellen zu Cassirers ›Entwicklungslogik‹ der Kultur nennt Hackenesch 2001, 137 ff. 49 Cassirer 1936, 90; Hvh. v. mir, M. W. 50 Darin zeichnet sich ein Wandel in Cassirers Auff assung des »Subjekts der Kultur« ab, der sicher politisch-gesellschaft liche Hintergründe hatte. Während in der Philosophie der symbolischen Formen ein anonymer Geistbegriff im Mittelpunkt 48
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pointiert. Cassirers Angriffspunkt ist der historische Determinismus bzw. historische Fatalismus, der in einer physikalistischen, einer psychologistischen und in einer metaphysischen Variante vorliege (ECW 22, 149f.). Für die erste stehe der französische Positivismus Comtes, Sainte-Beuves und Taines; die psychologistische Variante fi nde sich in Spenglers Untergang des Abendlandes ausgeprägt, während Hegels Philosophie die dritte, die metaphysische Variante des historischen Determinismus ausmache. Indem sie Geschichte als Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit konzipiere, bilde sie eine Art Gegenpol zu Spengler – aber nur auf den ersten Blick. Denn der Befreiungsprozeß, so Cassirers Kritik, wird bei Hegel »nur für das absolute Subjekt, nicht aber für das endliche Subjekt vollzogen.« (Ebd., 151) Im Weltgeschehen ist es Hegel zufolge zwar die Vernunft , die Schritt für Schritt Gestalt gewinnt, eine entsprechende Selbständigkeit und Freiheit des Individuums bestehe aber nur scheinbar. Auch bei Hegel, so Cassirer, wird der Einzelne, »gegenüber der Allmacht der sich selbst bewegenden Idee, […] zur bloßen Marionette.« (Ebd., 152) Cassirer fordert damit die Rechte individueller Subjektivität gegen die absolute ein. Er sucht einen Weg, »um dem individuellen Sein und dem individuellen Tun wieder eine selbständige Bedeutung und einen selbständigen Wert zurückzugewinnen« (ebd.). Wird die Kulturentwicklung nicht von einem absoluten Subjekt und einer ihm inhärenten Entwicklungslogik, sondern nur noch von den individuellen Subjekten und der kontingenten Dynamik getragen, die sie erzeugen und der sie ausgesetzt sind, dann wird das Erreichen des Telos der Freiheit zu einer überaus prekären Angelegenheit. Weder kann dessen unbedingte Erreichbarkeit noch auch nur eine stetige Annäherung garantiert werden. »Alles, was hier gesagt werden kann, ist, daß die Kultur sein und fortschreiten wird, sofern die formbildenden Kräfte, die letzten Endes von uns selbst aufzubringen sind, nicht versagen oder erlahmen.« (Ebd., 166) Mit dem darin ausgedrückten Vorbehalt hat Cassirer den Gedanken an einen notwendigen Fortschritt des Kulturprozesses ganz verabschiedet. Im Übergang zur Frage nach Cassirers Philosophiebegriff der Philosophie der symbolischen Formen kommt noch einmal eine neue Differenz zu Hegel ins Spiel. In der Auseinandersetzung mit der Teleologie-Frage zeigte sich, daß Cassirer grundsätzlich am Telos der Freiheit festhält, dieses Telos aber als regulative Idee faßt und den Prozeß seiner unabschließbaren Verwirklichung als von Kontingenz durchsetzt und zerbrechlich begreift. steht, verlagert sich Cassirers Aufmerksamkeit »more and more toward the problem of ethics and subsequently toward the role of the individual subject in the constitution of the cultural world.« (Loft s 2004, 61)
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Darüber hinaus ist nun eine stärker inhaltliche Differenz zu berücksichtigen, die schon früh von Donald Verene betont wurde. Als einen Hauptunterschied zwischen Cassirers Phänomenologie und der Hegelschen nennt er, daß in jener »a terminating stage of philosophical knowledge« fehle. 51 Die letzte Stufe, die Cassirer tatsächlich anführt ist, wie erwähnt, die theoretische wissenschaft liche Erkenntnis. Sie entspricht aber sicher nicht dem absoluten Wissen, der Hegelschen Endgestalt des Geistes, und begreift auch nicht das strukturierte Ganze des Geistes in sich. Gleichwohl gibt es auch bei Cassirer, wie Christian Möckel zu Recht betont, eine »alles umfassende und aufk lärende Funktion«, eine Funktion, die der Philosophie der symbolischen Formen zufällt. 52 Vor dem Hintergrund der Behauptung einer Sonderrolle der Philosophie unter den verschiedenen Weisen des Verstehens, nimmt Verene eine systematische Strukturgleichheit zwischen der philosophischen Erkenntnis bei Cassirer und dem absoluten Wissen bei Hegel an: »Although Cassirer makes no statements as to how philosophical knowledge is to be included in his system, it would seem […] to occupy a place in Cassirer’s phenomenology similar to that of Absolute Knowledge in Hegel’s phenomenology.«53 Da Cassirer über die philosophische Erkenntnis tatsächlich kaum Auskunft gibt, liegt es nahe, sich der Bewertung von Verenes These vom Begriff des absoluten Wissens her zu nähern. Dieses ist Hegel zufolge »der sich in Geistgestalt wissende Geist oder das begreifende Wissen« und damit die »letzte Gestalt des Geistes«; in ihm hat »der Geist die Bewegung seines Gestaltens beschlossen« und »das reine Element seines Daseins, den Begriff, gewonnen.«54 Die Selbstdarstellung des Geistes in der Form des Begriffs, »in diesem Äther seines Lebens« ist die Wissenschaft der Logik. 55 Da das in der Logik entfaltete absolute Wissen Hegel zufolge eine genuine, und zwar im Vergleich zu Kunst und Religion die höchste geistige Gestalt ist, wäre es ebenso wie die philosophische Erkenntnis, die in der Logik von ihm ausgeht, in Cassirers Terminologie als eine genuine symbolische Form zu beschreiben. Cassirers eigener Ansatz wäre auf diese Weise aber falsch beschrieben. Für ihn liegt die philosophische Erkenntnis nicht auf einer Linie mit den verschiedenen symbolischen Formen oder an ihrem Ende. Sie ist nicht nur nicht die symbolische Form, die die Bewegung geistigen 51 52 53 54 55
Verene 1969, 39. Möckel 2004, 272. Verene 1969, 42. Hegel: TWA 3, 582 u. 588. Ebd., 589.
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Gestaltens beschließt, sondern sie ist gar keine symbolische Form. In einem Nachlaßtext bringt Cassirer diesen Punkt deutlich zum Ausdruck: »Das ist das Eigentümliche der philosophischen Erkenntnis als ›Selbsterkenntnis der Vernunft‹: sie schafft nicht eine prinzipiell neue Symbolform, begründet in diesem Sinne keine neue schöpferische Modalität – aber sie begreift die früheren Modalitäten als das, was sie sind: als eigentümliche symbol[ische] Formen.« (ECN 1, 264f.) Der Philosophie kommt damit zwar ein Sonderstatus zu, sie erweist sich aber nicht als ein eigener Zugang zur Wirklichkeit und kann daher auch nicht an der Spitze einer etwaigen Hierarchie solcher Zugänge stehen. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, diese Zugänge in ihrem funktionalen Zusammenhang als symbolisch strukturierte Zugänge herauszuarbeiten.
V. Daß Hegel für Cassirer – gerade auch für die Entfaltung seines eigenen philosophischen Ansatzes – von entscheidender Bedeutung ist, läßt sich nicht ernsthaft bestreiten. Die Behauptung Verenes, Hegel liefere die »foundations« der Philosophie der symbolischen Formen, geht jedoch zu weit. Bei aller positiven Anknüpfung sind die vielfältigen Abgrenzungen von Hegel zu massiv, um ihm diese Rolle zuweisen zu können. Denn erstens sieht Cassirer in Hegels dialektischer Methode die Tendenz zu einem unangemessenen Reduktionismus und die Gefahr des Autonomieverlustes geistiger Formen. Und obwohl er zweitens grundsätzlich am philosophischen Systemgedanken festhält, tritt er in seinem eigenen Systemdenken für den ausdrücklich gegen Hegel gerichteten Gedanken eines komplexen Systems ein. Drittens weist Cassirers Philosophie zwar eine teleologische Theoriestruktur auf, deren Telos wie bei Hegel die Freiheit ist; doch im Unterschied zu Hegel wird dieses Telos als regulative Idee verstanden. Während sich die Bewegung des Geistes auf dieses Telos hin aus Sicht der Philosophie der symbolischen Formen mit Notwendigkeit vollzieht, wird in späteren Texten Cassirers die Kontingenz dieser Bewegung und die Bedeutung der Freiheit des Individuums hervorgehoben, beides ausdrücklich gegen Hegel. Viertens schließlich besteht zwischen Cassirer und Hegel keine strukturelle Ähnlichkeit hinsichtlich der Rolle der Philosophie im Verhältnis zu den anderen geistigen Formen. Hegel liefert für die Philosophie der symbolischen Formen daher weniger das Fundament als die Kontrastfolie, mit deren Hilfe Cassirer sein eigenes Denken profi liert und schärft . In genau diesem Sinne verstanden, läßt sich auch von der ›Vorbildrolle‹ (Möckel) von Hegels Phänomenologie des
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Geistes für Cassirers Philosophie der symbolischen Formen sprechen. Denn Cassirer formuliert sein philosophisches Anliegen in einem systematisch signifi kanten Maße mit Blick auf Hegel; und es gab dafür – wenn man Kant noch einen Augenblick außen vor läßt – kein besseres ›Vorbild‹. Was nun die Frage »Kant oder Hegel?« angeht, so hat sich Verenes Entscheidung zugunsten des letzteren, seine These, daß Cassirer den Schritt von Kant zu Hegel mache, nicht direkt als falsch, aber als einseitig erwiesen. 56 Denn immer wieder ist es Kant, den Cassirer zur Kritik Hegelscher Positionen ins Spiel bringt. Aufgrund von Cassirers positiver Aufnahme des Projekts einer Phänomenologie des Geistes ist also zwar die Einschätzung berechtigt, daß die Philosophie der symbolischen Formen mit Hegel eine phänomenologische Wendung der Kantischen Kritik vornimmt, dem ist jedoch nach den zurückliegenden Überlegungen hinzuzufügen, daß Cassirer auch umgekehrt mit Kant eine kritische Wendung gegenüber der Hegelschen Phänomenologie vollzieht. Die »erneuerte genetische Phänomenologie« der geistigen Objektivationen, die Christian Möckel bei Cassirer ausmacht, 57 muß also zugleich als eine »kritische Phänomenologie« gelten. 58 Deren Aufgabe besteht Cassirer zufolge darin, »den ›Geist‹ lediglich in seiner reinen Aktualität, in der Mannigfaltigkeit seiner Gestaltungsweisen zu erfassen und die immanente Norm, der jede von ihnen folgt, zu bestimmen [zu] suchen.« (ECW 12, 16) Als ›kritisch‹ kann diese Phänomenologie in dem Sinne gelten, daß sie sich gegen eine Logik des intellectus archetypus mit Kants am ektypischen Verstand und Analytisch-Allgemeinen orientierten kritischem Idealismus auf das funktionale ›Eines in Vielem‹-Modell zurückbesinnt. Allerdings darf die Aufmerksamkeit auf die engen methodischen und systematischen Zusammenhänge zwischen der Philosophie der symbolischen Formen einerseits sowie Hegel und auch Kant andererseits nicht vergessen lassen, was Cassirer von beiden trennt. Wie sich im vorigen Abschnitt zeigte, ist für Cassirer weder der ›Geist‹ Hegels noch das ›transzendentale Subjekt‹ Kants, sondern sind letztlich jeweils individuelle Subjekte, Menschen, die Autoren der Sinngebung. Christa Hackenesch hat die Philosophie der symbolischen Formen daher als eine »endliche PhänomenoEbenso einseitig wäre die Einschätzung, daß die Alternative »Kant oder Hegel« aus Cassirers Sicht zugunsten von Kant entschieden war. Zu dieser Einschätzung neigt Pätzold 2004, 100. Meines Erachtens ist Cassirers reifer Standpunkt aber gerade dadurch ausgezeichnet, daß ihm diese Alternative nicht mehr als exklusive gilt. 57 Möckel 2004, 257. 58 Der Ausdruck »kritische Phänomenologie« stammt von Cassirer selbst (ECW 12, 16). Er wird beispielsweise von Cornelia Richter aufgegriffen, ohne allerdings die Verbindung zu Kant zu verdeutlichen (Richter 2004, 149 f., 152, 168). 56
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logie des Geistes« verstanden: »Endlich« ist sie darin, »die Prozessualität der Gestalten des Geistes an den endlichen Menschen zurückzubinden – statt an das Subjekt der Metaphysik, sei es Hegelscher oder Kantischer Gestalt.«59 Wie weit es Cassirer selbst gelungen ist, dieser Perspektive in seinem ethisch und anthropologisch ausgerichteten Spätwerk gerecht zu werden, ist eine offene Frage.
Literatur: Bösch, Michael 2004: Das Netz der Kultur. Der Systembegriff in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, Würzburg. Cassirer, Ernst 1936: »Critical Idealism as a Philosophy of Culture«, in: Donald P. Verene (Hg.): Symbol, Myth, and Culture. Essays and Lectures of Ernst Cassirer 1935–1945, New Haven – London 1979, 64–91. Cassirer, Ernst: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hrsg. v. Köhnke, Klaus Christian/Krois, John Michael/Schwemmer, Oswald, Hamburg 1995 ff. [= ECN] Cassirer, Ernst: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Recki, Birgit, Hamburg 1998–2009 [= ECW]. Freudenthal, Gideon 2004: »The Missing Core of Cassirer’s Philosophy. Homo Faber in Th in Air«, in: Hamlin/Krois (Hg.) 2004, 203–226. Hackenesch, Christa 2001: Selbst und Welt. Zur Metaphysik des Selbst bei Heidegger und Cassirer, Hamburg. Hackenesch, Christa 2002 (unveröffentlicher Vortrag, Bochum): Eine endliche Phänomenologie des Geistes. Die Kulturphilosophie Cassirers (10 S.). Hamlin, Cyrus/Krois, John Michael (Hg.) 2004: Symbolic Forms and Cultural Studies Ernst Cassirer’s Theory of Culture, New Haven/London. Hartung, Gerald 2003: Das Maß des Menschen. Aporien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, Weilerswist. Hartung, Gerald 2006: »Noch eine Erbschaft Hegels. Der geistesgeschichtliche Kontext der Kulturphilosophie«, in: Philosophisches Jahrbuch 113, 382–396. Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften, hrsg. v. d. Kgl. Preußischen Akademie der Wissenschaften [und Nachfolgern], Berlin 1900 ff. [= AA] Klass, Tobias Nikolaus (i. Ersch.), »Nach Hegel. Überlegungen zur Standortbestimmung einer möglichen Kulturphilosophie im Anschluß an Cassirer und Hegel«, in: Wunsch, Matthias (Hg.): Von Hegel zur philosophischen Anthropologie. Gedenkband für Christa Hackenesch.
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Hackenesch 2002 (unveröffentlichter Vortrag), S. 2.
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Matthias Wunsch
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II.
phänomenologie – ontologie – lebensphilosophie
Das Geheimnis des Anfangs. Die Aufnahme des Hegelschen Anfangsbegriffs in der Philosophie Martin Heideggers Annette Sell
Wenn Hegels Wirkung im zwanzigsten Jahrhundert untersucht wird, so ist Martin Heidegger sicherlich als wichtiger Rezipient der Hegelschen Philosophie zu nennen. Heideggers Weg mit Hegel ist lang und reicht von seinen frühen Schriften bis in sein Spätwerk hinein. Immer wieder werden dabei Hegels Dialektik und sein Denken des Absoluten zum Zielpunkt der Heideggerschen Kritik. Das Verhältnis beider Denker zueinander ist in der gegenwärtigen Forschung ein viel diskutierter Gegenstand. Die Forschungsliteratur in Nord- und Südamerika sowie in Europa, dort besonders in Frankreich, Spanien, Italien und Deutschland zeigt ein großes Interesse an der Gegenüberstellung von Hegel und Heidegger. Die Liste der Literatur, die beide Denker vereinigt, ist also umfangreich.1 Die Faszination, die eine Konfrontation beider Ansätze ausmacht, begründet sich wohl in dem Widerstreit zweier radikal entgegengesetzter Positionen. Drastisch lehnt Heidegger Hegels Metaphysik, seinen Begriff des Absoluten sowie sein Denken der Unendlichkeit ab. 2 Dieser Position stellt er eine Metaphysikkritik als »Verwindung der Metaphysik« und ein Denken der Endlichkeit des Daseins entgegen. Trotz der Unterschiede und Unvereinbarkeiten beider Denkweisen gibt es auf der anderen Seite aber auch Verbindungspunkte, deren Darstellung und Analyse interessant und wegweisend sein können. Anhand des Begriffes der Differenz lassen sich zum Beispiel Gemeinsamkeit und Unterschiede herausarbeiten. Die Schrift Identität und Differenz von 1957 beschäft igt sich im zweiten Teil unter dem Titel »Die Onto-Theo-Logische Verfassung der Metaphysik« vor allem mit der Art und Weise, wie mit Hegel in ein Gespräch zu kommen sei und mit der Frage nach der Differenz; »für Hegel ist die Sache des Denkens der Gedanke als der absolute Begriff. Für uns ist die Sache des Denkens, vorläufig An dieser Stelle werden nur die Arbeiten der jüngsten Zeit über Hegel und Heidegger genannt. Bernard Mabille: Hegel, Heidegger et la Métaphysique. Recherches pour une constitution, Paris 2004; Leo Lugarini: Hegel e Heidegger. Divergenze e consonanze, Napoli/Milano 2004; Edgardo Albizu: Hegel y Heidegger. Las Fronteras Del Presente Filosófico, Buenos Aires 2004. 2 Zum Zeitproblem bei Hegel und Heidegger vgl. Karin de Boer: Denken in het licht van de tijd. Heideggers tweestrijd met Hegel, Amsterdam 1997. 1
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benannt, die Differenz als Differenz.«3 Hegel und Heidegger sprechen jeweils von Differenz, wobei Hegels Begriff von Differenz bzw. Unterschied oder Verschiedenheit eine Reflexionsbestimmung und somit für den Gang der Logik bestimmend ist und Heideggers Philosophie vom Denken einer ontologischen Differenz (zwischen Sein und Seiendem) bestimmt wird. Eine weitere Gemeinsamkeit beider Denker besteht sicherlich in der Rezeption bzw. dem Denken der Philosophiegeschichte. Heidegger hebt Hegel als ersten Denker hervor, der sich der Philosophiegeschichte in einer philosophischen Weise zugewandt hat, wobei er seine eigene Haltung gegenüber der Philosophiegeschichte als Denken einer Seinsvergessenheit faßt. Mit Hegel entstand aber – so stellt Heidegger würdigend fest – die »erste philosophische Geschichte der Philosophie, die erste angemessene Geschichtsbefragung, aber auch die letzte und letztmögliche zugleich dieser Art.«4 Die Philosophiegeschichtsschreibung nach Hegel bezeichnet Heidegger als ein »ratloses und zerfahrenes Gestammel.« 5 Insgesamt ist Heidegger schließlich ein großer Kritiker Hegels. Diese Kritik ist nun nicht auf unsachgemäße Ablehnung begründet, sondern Heideggers Rezeption Hegels geschieht mit dem Anspruch, mit Hegel im Gespräch oder – wie er auch häufig sagt – in der Zwiesprache oder Aussprache mit Hegel zu sein. Heideggers Rezeption der Phänomenologie des Geistes besteht in einem kleinschrittigen Nachvollzug der einzelnen dialektischen Strukturen des Werkes (bis zum Selbstbewußtseinskapitel). Auf diese Weise versucht er, »das innere Gesetz des Werkes zu wecken und sich auswirken zu lassen für den jeweiligen Tiefgang und die Größe des Ganzen.« 6 Neben dieser genauen Werkanalyse sieht Heidegger das Ziel der Aussprache darin, seine eigene Position zu entwickeln und zu schärfen. Um das Denken von Hegel und Heidegger nun genauer einander gegenüberzustellen, bieten sich sicherlich mehrere Zugangsweisen an. Es lassen sich verschiedene Begriffe, Problemfelder oder auch die Methoden beider Philosophen miteinander vergleichen. Heidegger wendet sich vehement gegen die Hegelsche Dialektik und bezeichnet die dialektische Bewegung häufig als ein »Hin und Her« (vgl. GA 32, 101ff und 133).7 Demgegenüber Martin Heidegger: Identität und Differenz, 7. Aufl ., Pfullingen 1982, 37. Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936–38, hrsg. v. FriedrichWilhelm von Herrmann, Frankfurt/M. 1988, GA 65, 213. Die zitierten Werke aus der Heideggerschen Gesamtausgabe werden einmal genannt und im weiteren Verlauf mit der Sigle GA und Band- und Seitenzahl belegt. 5 Ebd. 6 Heidegger: Hegels Phänomenologie des Geistes, WS 1930/31, hrsg. v. Ingtraud Görland, Frankfurt/M. 21988, GA 32, 63. 7 Von Gadamer wird dieses doppelseitige Verhältnis als »geheime und undurch3 4
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entwickelt Heidegger in den zwanziger Jahren unter dem Einfluß von Husserls phänomenologischem Denken die »formale Anzeige«, bei der es darum geht, nicht mit vorgefaßten Mitteln den Gehalt einer Sache zu erfassen, sondern im konkreten Vollzug der Philosophie, einen Gegenstand formal anzuzeigen. Dabei kann dieser Gegenstand niemals vollständig erfaßt, sondern nur angezeigt werden. 8 In Heideggers weiterer Entwicklung ist von einem hermeneutischen Ansatz zu sprechen, da es in Sein und Zeit um die Frage nach dem Sinn von Sein und um die Selbstauslegung des Daseins geht. Das Dasein ist dabei stets an die Zeit gebunden, und die Frage, wie das Sein aus der Zeit bzw. als temporales gedacht werden kann, wird in Sein und Zeit entfaltet und zum Teil beantwortetet. 9 Bekanntlich ist dieses frühe Hauptwerk ein Torso geblieben, und Heidegger wandte sich in den folgenden Jahren zunehmend dem seinsgeschichtlichen Denken zu. Dabei ist die Philosophiegeschichte als Seinsgeschichte zu verstehen, und im Durchdenken der Philosophiegeschichte erkennt Heidegger, daß das Sein als Sein vergessen wurde und verschiedene Strategien zum Vergessen des Seins, d. h. zur Seinsvergessenheit führten. In diesem Kontext steht auch die Beschäft igung mit der Philosophie Hegels, die – wie sich unten zeigen wird – das Sein an den Logos (die Subjektivität) und nicht an die Zeit bindet. Von einer einheitlichen Methode, in der sich Heideggers Denken bewegt und die für das Gesamtwerk gelten kann, ist aber nicht zu sprechen. Doch begleitet die Frage nach dem Sein Heideggers Denken bis ins Spätwerk. Der Gesamtausgabe Heideggers steht das Motto »Wege – nicht Werke« voran und drückt die Gegenposition zu einem abgeschlossenen System aus, wie Heidegger es unter anderem bei Hegel gegeben sieht. Dieser kurzen Anmerkungen mögen an dieser Stelle genügen, um anzudeuten, daß bei der Betrachtung von Heidegger und Hegel zwei verschiedenartige Weisen des Denkens vorliegen. Der Unterschied zur Hegelschen Dialektik zeigt sich im folgenden einhergehend mit der Untersuchung von Heideggers Aufnahme des Hegelschen Anfangsbegriffes. schaute Dialektik« bezeichnet, »die allen wesentlichen Heideggerschen Aussagen« anhaftet. Weiter sagt Gadamer: »Da haben wir die dialektische Spannung von Geworfenheit und Entwurf, von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, vom Nichts als dem Schleier des Seins und schließlich und vor allem die Gegenwendigkeit von Wahrheit und Irrtum, Entbergung und Verbergung, die das Seinsgeschehen als Wahrheitsgeschehen ausmachen.« (Hans-Georg Gadamer: Neuere Philosophie I. Hegel-Husserl-Heidegger, Gesammelte Werke 3, Tübingen 1987, 230 f.). 8 Zur formalen Anzeige vgl. Georg Imdahl: »›Formale Anzeige‹ bei Heidegger«, in: Archiv für Begriff sgeschichte XXXVII (1994), 306–332. Vgl. auch den Artikel »formale Anzeige« von Annette Sell in: Metzler Philosophie Lexikon. Begriffe und Definitionen, 2. erw. und aktualisierte Aufl age, Stuttgart/Weimar 1999, 35.
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Ein Beitrag über den Begriff des Anfangs rechtfertigt sich an dieser Stelle nicht zuletzt durch eine Aussage von Heidegger selbst, die in einem Brief vom 2. 12. 1971 an Hans-Georg Gadamer dokumentiert ist. Gadamer zitiert ihn in seiner Rede über »Das Erbe Hegels«: »Ich weiß selbst noch nicht hinreichend deutlich, wie meine ›Position‹ gegenüber Hegels zu bestimmen ist – als ›Gegenposition‹ wäre zu wenig; die ›Positions‹Bestimmung hängt mit der Frage nach dem Geheimnis des ›Anfangs‹ zusammen; sie ist weit schwieriger, weil einfacher als die Erläuterung, die Hegel darüber gibt vor dem Beginn der ›Bewegung‹ in seiner ›Logik‹. […]«10 Mit dem Ausdruck »vor dem Beginn der Bewegung in seiner Logik« meint Heidegger den Text »Womit muß der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?«11. Sowohl für Hegel wie für Heidegger stellt der Anfang ein zentrales Problem dar, und beide schlagen verschiedene Lösungen vor. Die Sekundärliteratur zu Hegels Denken des Anfangs ist umfangreich.12 Immer wieder wird die Frage gestellt, wie Hegel einen reinen, unmittelbaren Anfang denken kann, ohne auf das Bewußtsein, das er in der Phänomenologie zu einem absoluten Wissen geführt hat, oder ohne auf Reflexionskategorien, die erst in der Wesenslogik ihren Ort haben, zurückgreifen zu können. Hat man – nach Hegel – den Entschluß gefaßt, das Denken als solches zu betrachten, so muß ein absoluter Anfang gemacht werden, und es darf nichts vorausgesetzt werden. Besonders in der zweiten Auflage der Wissenschaft der Logik von 1832 fordert Hegel dieses reine, voraussetzungslose Denken, ohne an das Bewußtsein der Phänomenologie des Geistes anzuschließen. Der Anfang darf keinen Grund haben, er soll vielmehr selbst Grund sein. Eine solche Logik, die sich aus sich selbst heraus notwendig entwickeln soll, darf also nichts von außen hinzutun und muß somit auch rein, ohne alle Bestimmung anfangen. Den reinen, unmittelbaren Anfang sieht Hegel mit dem Begriff des Seins gegeben. »Das Seyn Zum Zusammenhang von Dasein, Verstehen und Zeitlichkeit siehe das folgende Zitat von Otto Pöggeler: »Das In-der-Welt-sein des Daseins ist Verstehen, Befi ndlichkeit und Artikulation oder Rede; das Verstehen als Sich-Verstehen-auf schöpft seine Möglichkeit daraus, daß das Dasein sich vorweg ist und aus diesem Sich-vorweg (letztlich dem Vorlaufen zum Tode) auf sich zurückkommt. Dieses Sichvorweg ist die Zukunft der Zeitlichkeit des Daseins.« (in: Neue Wege mit Heidegger, Freiburg/München 1992, 122 f.) 10 Hans-Georg Gadamer: Das Erbe Hegels. Zwei Reden aus Anlaß der Verleihung des Hegel-Preises 1979 der Stadt Stuttgart an Hans-Georg Gadamer am 13. Juni 1979, Frankfurt/M. 1979, 89. 11 Hegel: GW 21, 53–65. 12 An dieser Stelle soll repräsentativ folgender Band genannt werden: Andreas Arndt u. Christian Iber (Hg.): Hegels Seinslogik, Berlin 2000. Darin enthalten ist auch weitere Literatur zum Anfangsproblem. 9
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ist das unbestimmte Unmittelbare; […].«13 Da das Sein nun also nichts d. h. »Nichts« ist und »nicht mehr noch weniger als Nichts«14 , so ist das Sein dasselbe wie das Nichts, und die Einheit zweier Begriffe, nämlich des Seins und des Nichts, ist gegeben. Es gibt demnach zwei Weisen: Einerseits sind Sein und Nichts unterschieden (es sind ja zwei Begriffe), andererseits sind sie dasselbe. Jedes verschwindet unmittelbar in seinem Gegenteil. Mit diesem Verhältnis, das das unmittelbare Verschwinden des einen in einem anderen ausmacht, sieht Hegel eine Bewegung gegeben. Die Wahrheit des Seins und des Nichts »ist also diese Bewegung des unmittelbaren Verschwindens des einen in dem anderen; das Werden; eine Bewegung, worin beyde unterschieden sind, aber durch einen Unterschied, der sich eben so unmittelbar aufgelöst hat.«15 Dieser schwer zu denkende Anfang der Hegelschen Logik ist für das gesamte Werk und das heißt auch für die Bewegung der Dialektik bedeutsam.16 Schon in der Phänomenologie des Geistes fängt Hegel unmittelbar an bzw. er prüft das Bewußtsein auf unmittelbare Gegenstandserkenntnis. Der absolute Anfang wird hier – das heißt im ersten Abschnitt des Kapitels über die »sinnliche Gewißheit« – mit dem Wissen, das Gegenstand der Untersuchung sein soll, gemacht. 17 Die Hegel: GW 21, 68. Ebd., 69. 15 Ebd., 69 f. Anton Friedrich Koch spricht in diesem Zusammenhang von einem »kinetischen Aspekt«. »Durch die Reductio ad adsurdum des reinen Seins und des reinen Nichts ist offenbar die Arbeitshypothese eines voraussetzungslosen Denkens nicht gleichfalls ad absurdum geführt worden. Vielmehr macht das reine Denken seine Not insofern zur Tugend, als es statt des reinen Seins und des reinen Nichts deren widersprüchliche Einheit denkt, die kinetisch zu fassen und als die logische Grundgestalt des Werdens anzusehen ist.« (A. F. Koch: »Sein-Nichts-Werden«, in: Arndt/Iber (Hg.): Hegels Seinslogik, a. a. O., 140–157, hier: 149). 16 Wie der Anfangsbegriff in Hegels systematischen Werken zu denken ist, ist anhand des Hegel-Handbuchs von Walter Jaeschke nachvollziehen. Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch. Leben-Werk-Schule, Stuttgart/Weimar 2003. Hierzu besonders: 178 (Der Anfang in der Phänomenologie des Geistes); 232 f., 240 und 250 ff. (Der Anfang in der Wissenschaft der Logik); 263 f. und 268 (Der Anfang in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse). 17 Zum unmittelbaren Wissen und absoluten Anfang der Phänomenologie vgl. insbesondere Hans-Georg Bensch: Perspektiven des Bewußtseins: Hegels Anfang der Phänomenologie des Geistes, Würzburg 2005: »Bei alle Problemen, die sich durch den Untertitel des Werkes ergeben, es sei des Systems der Wissenschaften erster Teil, zu dem es dann aber keinen ausdrücklich zweiten Teil gegeben hat, muß Hegel dennoch beanspruchen, einen absoluten Anfang gesetzt zu haben. […] Der Gegenstand dessen begriffl iche Entwicklung dargestellt werden soll, ist das Wissen. Ist das Wissen Gegenstand und hat der Anfang der Darstellung dieses Gegenstandes ein absoluter zu sein, dann ist und kann das Wissen, das unser Gegenstand ist, ›kein anderes seyn, 13 14
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Prüfung des Bewußtseins im Hinblick auf seine Unmittelbarkeit ergibt im weiteren Verlauf des Kapitels aber, daß die Wahrheit des Bewußtseins die Vermittlung (d. h. das Allgemeine) und nicht die Unmittelbarkeit ist. An dieser Stelle ist dem Problem des (unmittelbaren) Anfangs bei Hegel aber nicht weiter nachzugehen.18 Ziel der folgenden Überlegungen ist zu zeigen, wie Heidegger seine Theorie des Anfangs in Auseinandersetzung mit dem Hegelschen Anfang entwickelt.19 Inwieweit ist der Hegelsche Anfang in Heideggers Anfang wirksam? Hegels Bemühen um einen Anfang sowohl in der Wissenschaft der Logik als auch in der Phänomenologie des Geistes sind ein bedeutendes (und wie man sehen wird, negatives) Vorbild für Heideggers eigenen Anfang. Die Frage, wie dieser Anfang bei Heidegger aufgenommen wird, ist zunächst also vor dem Hintergrund der beiden systematischen Werke Hegels zu diskutieren. Die beiden ersten Abschnitte beschäft igen sich also mit Heideggers Hegel-Kritik im Hinblick auf den Anfang in der Phänomenologie des Geistes (I.1) und der Wissenschaft der Logik (I.2) Dem Hegelschen Ansatz stellt Heidegger sein Denken des Anfangs gegenüber, das in den anschließenden beiden Abschnitten über den ersten und anderen Anfang (II.1) und die Anfängnis des Anfangs (II.2) diskutiert wird.
als dasjenige, welches selbst unmittelbare Wissen, Wissen des unmittelbaren oder Seyenden ist‹.«(28). Benschs Arbeit, dessen Gegenstand die ersten drei Kapitel der Phänomenologie sind, arbeitet auch die historischen Hintergründe für Hegels unmittelbaren Anfang in diesem Werk auf. Hierzu bes. 23–83. 18 Wie sich Hegels unmittelbarer Anfang von den Konzeptionen Fichtes und Schellings unterscheidet, arbeitet Christoph Asmuth mit folgendem Resultat heraus: »Fichte und Schelling deduzieren aus einem Absoluten, das die Fülle aller Realität ist. […] Das, was das Absolute als absolute Einheit verhindert, muß negiert werden. Dann tritt das Absolute ein, das wir selbst in unserer Wurzel sind, das das An-sich unserer Seele ausmacht. Das Absolute ist der wahre Anfang der Philosophie« (C. Asmuth: »Anfang und Form der Philosophie. Überlegungen zu Fichte, Schelling und Hegel«, in: ders., Alfred Denker u. Michael Vater (Hg.): Schelling: Zwischen Fichte und Hegel, Amsterdam 2000, 403–417, hier: 416). 19 Tanja Stähler vergleicht Husserl und Hegel im Hinblick auf das Problem des Anfangs und sieht einen sachlichen Zusammenhang zwischen der Phänomenologie Husserls und Hegels Phänomenologie des Geistes sowohl bezüglich des Anfangs der Philosophie als auch des Verhältnisses von natürlichem und philosophischem Bewußtsein: T. Stähler: Die Unruhe des Anfangs. Hegel und Husserl über den Weg in die Phänomenologie, Dordrecht/Boston/London, 2003.
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I. 1 Der Anfang in der Phänomenologie des Geistes Heideggers Beurteilung der gesamten Phänomenologie läßt sich im folgenden Zitat zusammenfassen: »Das Ende ist nur der andersgewordene und damit zu sich selbst gekommene Anfang.« 20 Heidegger interpretiert die Bewußtseinsgeschichte also auf der Basis eines immer schon absolut Gegebenen. Dabei erkennt er zwar die Verschiedenartigkeit des Absoluten zu Anfang und am Ende der Phänomenologie an, aber für ihn ist das Ende nur der andersgewordene und zu sich selbst gekommene Anfang. Der Weg der Bewußtseinsgeschichte soll zum Absoluten führen, und dieses Absolute ist nichts anderes als es selbst. Es absolviert sich, d. h. es befreit sich, löst sich los von seinen Erscheinungsformen. Dieses befreiende Vollbringen des Erscheinens nennt Heidegger die Absolvenz des Absoluten. »Das Absolute ›ist‹ nur in der Weise der Absolvenz. Das Erkennen des Absoluten macht sich nie als ein Mittel, d. h. als etwas Relatives, am Absoluten zu schaffen, sondern es ist, wenn es ist, selbst absolut, d. h. absolvent, d. h. ein Gang und Weg des Absoluten zu ihm selbst.« 21 Die Bewegung der Phänomenologie ist eine Rückkehr zu etwas, das immer schon da war. 22 Es ist das unmittelbare Wissen, das in das vermittelnde absolute Wissen zurückkehrt, so daß das Unmittelbare also nie unmittelbar, sondern immer schon vermittelt war. Auch die Forderung des ersten Satzes der Phänomenologie, nichts am Wissen zu verändern und es lediglich aufzufassen, anstatt zu begreifen, sieht Heidegger als Indiz dafür, daß wir immer schon die absolut Wissenden sind. 23 Die Anfangsproblematik des vermittelten Unmittelbaren, wie sie sich in der sinnlichen Gewißheit zeigt, führt Heidegger zu der Frage nach der Möglichkeit eines unmittelbaren Anfangs, und er gibt die Antwort, daß der Anfang mit dem Unmittelbaren gar kein unmittelbarer Anfang sei,
Heidegger: GA 32, 52. M. Heidegger: Hegel. 1. Die Negativität, (1938/39, 1941), 2. Erläuterung der ›Einleitung‹ zu Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹, hrsg. v. Ingrid Schüßler, Frankfurt/M. 1993, GA 68, 83. 22 Zu Heideggers Auseinandersetzung mit der Phänomenologie des Geistes und zur Bedeutung des Hegelschen Werkes für sein Denken vgl. Annette Sell: Martin Heideggers Gang durch Hegels »Phänomenologie des Geistes«, Hegel-Studien Beiheft 39, Bonn 1998. Darin auch weitere Literatur zum Verhältnis von Hegel und Heidegger; siehe auch: Alessandra Cover: Essere e Negatività. Heidegger e la Fenomenologia dello Spirito di Hegel, Pubblicazioni di Verifiche 27, Trento 2000; Mauro Vespa: Heidegger e Hegel, Padua 2000, bes. 109–207. 23 Vgl. die Ausführungen von Hans-Georg Bensch zum Anfang der Phänomenologie des Geistes in: ders.: Perspektiven des Bewußtseins, a. a. O. 20 21
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denn keiner Philosophie sei es möglich, unmittelbar anzufangen. In seinen Überlegungen zur »Einleitung« der Phänomenologie aus dem Jahre 1941 faßt Heidegger prägnant zusammen: »Die Wahrheit der sinnlichen Gewißheit als des unmittelbaren Wissens ist Vermittlung.« 24 Durch diese Vermittlung bzw. Bewegung entsteht der neue wahre Gegenstand. Heidegger sieht den Grund für die Unmöglichkeit eines unmittelbaren Anfangs darin, daß »es so etwas wie reine unmittelbare Deskription in der Philosophie überhaupt nicht gibt.« 25 Die Unmittelbarkeit ist für ihn eine »rekonstruktive Konstruktion« 26 , die man kurz Dialektik nennt. Diese Bezeichnung der rekonstruktiven Rekonstruktion als Dialektik ist im Heideggerschen Denken häufig zu fi nden. In den frühen Jahren äußerte sich Heidegger sogar stets polemisch gegen die Dialektik. In der Vorlesung vom Sommersemester 1923 sagt er: »Die Dialektik ist also doppelseitig unradikal, d. h. grundsätzlich unphilosophisch. Sie muß von der Hand in den Mund leben und entwickelt darin eine imponierende Fertigkeit. Die heraufdämmernde Hegelei wird, wenn sie sich durchsetzt, die Möglichkeit auch nur eines Verständnisses für die Philosophie aufs neue untergraben.«27 Diese radikale Ablehnung der Dialektik ist nicht einer systematischen Auseinandersetzung mit ihr entsprungen, sondern ihr wird ein eigener (phänomenologischer, später fundamentalontologischer) Ansatz entgegengesetzt, ohne die Konfrontation mit dem dialektischen Denken zu suchen. 28 In der Vorlesung über die Metaphysik des Deutschen Idealismus vom Sommersemester 1941 äußert sich Heidegger wiederum zum Anfang der Phänomenologie, indem er den Anfang des Werkes jetzt nicht mit dem wirklichen Beginn, also der »sinnlichen Gewißheit«, zusammendenkt, sondern die Gestalt des »Selbstbewußtseins« an den Anfang der Phänomenologie setzt. 29 So tritt hier der Begriff des Anfangs nicht nur im Sinne der Eröff nung bzw. eines Ausgangspunktes der Darstellung hervor, sondern Heidegger: GA 68, 138. Heidegger: GA 32, 74. 26 Ebd., 103 f., vgl. auch 163. 27 Heidegger: GA 63, 46. 28 Reiner Wiehl untersucht in seiner Studie sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede von Phänomenologie, Dialektik und Hermeneutik im Hinblick auf die Theorie und Methode und die Begriff sgeschichte. Reiner Wiehl: »Begriff sbestimmung und Begriff sgeschichte. Zum Verhältnis von Phänomenologie, Dialektik und Hermeneutik«, in: Rüdiger Bubner, Konrad Cramer u. ders. (Hg.): Hermeneutik und Dialektik. Aufsätze I. Methode und Wissenschaft . Lebenswelt und Geschichte, Tübingen 1970, 167–213. 29 Heidegger: Die Metaphysik des Deutschen Idealismus. (Schelling). I. Trimester. SS 1941, hrsg. v. Günter Seubold, Frankfurt/M. 1991, GA 49, 176. 24 25
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Heidegger meint, daß die Phänomenologie systematisch eher mit dem Selbstbewußtsein beginnt als mit der Gestalt der »sinnlichen Gewißheit«, denn das Selbstbewußtsein ist an das Unendliche gebunden, und die Phänomenologie bewegt sich schon in diesem Unendlichen, in das man von Anfang an hineingesprungen sein muß. Für Heideggers Beurteilung des Anfangs gilt an dieser Stelle festzuhalten: »Hegel fängt an ›mit‹ dem ›absoluten Wissen‹ (auch in der ›Phänomenologie des Geistes‹). Was heißt hier Anfang (des Denkens)? Nicht Beginn – Ausgang hier Fortgang –, sondern woran sich das Denken hält, worin es im voraus sich aufgehoben hat.«30 Am Ende der Vorlesung aus dem Wintersemester 1930/31 über die Phänomenologie des Geistes gibt Heidegger noch einmal zusammenfassend zu bedenken, ob das Absolute in der Phänomenologie ist bzw. wirklich ist. »Wenn ja, dann muß es dies sein vor Beginn des Werkes selbst. Das Recht des Anfangs kann nicht durch das Ende erwiesen werden, weil das Ende selbst nur der Anfang ist. Also bleibt nur der eine Sprung in das Ganze des Absoluten? Wird aber dann das Problem nicht einfach zur faktischen Frage des Vollzugs oder Nachvollzugs des Sprunges? Gewiß – aber diese Frage ist in sich, recht verstanden die Frage: Was soll der Mensch als existierender? Wo steht er, daß er springen oder nicht springen und so ein Anderes soll?«31 In diesem Zitat zeigt sich Heideggers eigener Problemhorizont in der Auseinandersetzung mit Hegel, die sich nach seinen eigenen Worten auf den Kreuzweg von Endlichkeit und Unendlichkeit stellt, und er fragt, ob einem endlichen Menschen ein solcher Sprung ins Unendliche überhaupt möglich sei. Als Antwort darauf kann seine gesamte Philosophie gelten, die trotz der verschiedenen Phasen oder Kehren ein Denken der Endlichkeit des Daseins nie verlassen hat.
I. 2 Der Anfang in der ›Wissenschaft der Logik‹ In seiner Schrift über Identität und Differenz aus dem Jahre 1957 stellt Heidegger in ähnlicher Weise den Anfang der Wissenschaft der Logik dar. Hier spricht er vom »Rückprall aus der Vollendung der dialektischen Bewegung des sich denkenden Denkens.«32 Die absolute Idee ist demnach immer schon in ihrer ganzen Fülle da. »Der Rückprall aus dieser Fülle ergibt die Leere des Seins.«33 Heidegger stützt sich auf Hegels Text von 30 31 32 33
Heidegger: GA 68, 56 f. Heidegger: GA 32, 215. Heidegger: Identität und Differenz, a. a. O., 43. Ebd.
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1832 »Womit muß der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?«, wo im Hinblick auf den Anfang vom Resultat gesprochen wird. 34 Das Ergebnis dieser Überlegung ist, daß Hegels Denken eine »in sich kreisende Bewegung von der Fülle in die äußerste Entäußerung und von dieser in die sich vollendende Fülle« ist. 35 Ausgehend von dem Anfang mit dem reinen Sein, das nach Heidegger also nur schon als Fülle sein kann, füllen sich die Bestimmungen immer weiter bis zur Entäußerung an, ehe sie zum Anfang als vollendende Fülle zurückkehren. Die Schwierigkeit, die Heidegger nun damit hat, den Anfang der Wissenschaft der Logik zu denken, drückt sich deutlich im Briefwechsel mit Karl Jaspers aus. In einem Brief vom 10.12.1925 zeigt sich Heidegger zunächst ratlos gegenüber Hegels Unterscheidung von Sein und Nichts. Die Verschiedenheit von Sein und Nichts verstehe er nicht, wohingegen ihm die Identität beider keine Probleme bereite. Ebenso verstehe er nicht, wie aus dem unbestimmten Unmittelbaren etwas werden solle. Nachdem Jaspers ihm daraufh in in einem Brief (der jedoch nicht mehr erhalten ist) antwortet, verändert sich sein Urteil im Hinblick auf den Anfang, den er jetzt vom Werden her versteht, in dem Sein und Nichts schon aufgehoben sind, wobei aber Sein und Nichts nicht das Werden hervorbringen, sondern das Werden das erste Gedachte ist, »so daß Hegel, um im wirklichen Denken zu beginnen, mit dem Werden anfängt – das sich in sich selbst expliziert, und so kommt dann Sein zugleich als Bedingung der Möglichkeit des Anfangs des dialektischen Denkens an den Anfang und muß zugleich Anfang sein, weil es die leerste Bestimmung des ›Endes‹ im Sinne des Absoluten ist.«36 Das reine Sein des Anfangs ist nach Heidegger also schon das Absolute, das sich erst am Ende der dialektischen Bewegung vollständig entwickelt hat. Fünfzehn Jahre später äußert sich Heidegger in der Schrift über Die Negativität in demselben Sinne über den Anfang in der Wissenschaft der Logik: »Hegel fängt mit dem Anfang an, sofern für ihn Werden eben Anfangen ist.«37 Nicht mit dem Sein beginnt Hegel; »dieses ist Ausgang! – Das Werden ›ist‹, indem es ›wird‹.«38
Vgl. Hegel: GW 21, 54, 57 und 58. Heidegger: Identität und Differenz, a. a. O., 43 f. 36 Martin Heidegger-Karl Jaspers. Briefwechsel 1920–1963, hrsg. v. Walter Biemel und Hans Saner, Frankfurt/M.-München 1992, 58 f. 37 Heidegger: GA 68, 12, zum Verhältnis des Anfangs in der Phänomenologie und in der Wissenschaft der Logik vgl. Heidegger: Der Deutsche Idealismus (Fichte, Hegel, Schelling) und die philosophische Problemlage der Gegenwart. SS 1929, hrsg. v. Claudius Strube, Frankfurt/M. 1997, GA 28, 225 ff. 38 Ebd. 34 35
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In seiner Antrittsvorlesung von 1929 Was ist Metaphysik? überträgt Heidegger das Verhältnis von Sein und Nichts am Anfang der Logik, das nach seiner Meinung »zu Recht« besteht, auf sein Denken dieses Verhältnisses. »Sein und Nichts gehören zusammen, aber nicht weil sie beide – vom Hegelschen Begriff des Denkens aus gesehen – in ihrer Unbestimmtheit und Unmittelbarkeit übereinkommen, sondern weil das Sein selbst im Wesen endlich ist und sich nur in der Transzendenz des in das Nichts hinausgehaltenen Daseins offenbart.«39 An dieser Stelle zeigt sich besonders Heideggers Aufnahme des Hegelschen Anfangs, um die Begriffe Sein und Nichts auf seine Weise, in der das Sein ein Endliches ist, zusammenzustellen und zu denken. Heideggers eigenes Denken des Anfangs ist also im folgenden zu betrachten.
II. 1 Heideggers erster und anderer Anfang Vor dem Hintergrund des logischen Anfangs bei Hegel, der sich schon immer an den Begriff des Absoluten und Unendlichen knüpft , entwikkelt Heidegger also seinen eigenen Begriff von einem Anfang, der als ein anderer Anfang das seinsgeschichtliche Denken eröff nen soll. Um das Jahr 1929 verläßt Heidegger seinen Ansatz von Sein und Zeit, dem es um die Auslegung des Daseins und ein Denken des Seins aus der Zeit ging, um einen anderen Anfang zu entwickeln, der das Sein als seinsgeschichtliches zu denken sucht. Festzuhalten bleibt aber für das gesamte Heideggersche Denken, daß er das Sein (ob mit y oder i) stets an die Endlichkeit gebunden sah. Mit den Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis), die in den Jahren von 1936–38 entstanden sind, liegt Heideggers zweites Hauptwerk vor. Hier setzt er sich mit dem Begriff des Anfangs eingehend auseinander und unterscheidet zwei Arten von Anfang, die sich an Frageformen knüpfen. Die Leitfrage (Was ist das Seiende?) führt in den ersten Anfang, und die Grundfrage (Was ist die Wahrheit des Seyns?) führt in den anderen Anfang. »Mit dem Übergang zur Grundfrage ist aber alle Metaphysik überwunden.« 40 So formuliert Heidegger die angestrebte philosophische Heidegger: »Was ist Metaphysik?« (1929), in: Wegmarken, hrsg. v. F. W. von Herrmann, 3. Aufl ., Frankfurt/M. 1996, 103–122, hier: 120. Bernard Mabille betrachtet die Frage nach dem Nichts bei Hegel und Heidegger und arbeitet Heideggers Kritik am Hegelschen Begriff heraus. Bernhard Mabille: »Hegel, Heidegger et la question du néant«, in: Revue de Métaphysique et de Morale 4. La question de l’être, aujourd’hui (Octobre 2006), 437–456. Zur angegebenen Thematik vgl. besonders 439. 40 Heidegger: GA 65, 218. Manfred Riedel überträgt die Rede vom ersten und 39
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Aufgabe der »Verwindung der Metaphysik«. Die Metaphysik suchte – nach seiner Auffassung – das Sein nur am Seienden zu fi nden und überstieg so das Seiende zu einer Seiendheit. Sie entfernte sich auf diese Weise immer mehr von der Wahrheit des Seyns. Das Sein selbst geriet also in Vergessenheit. Gemäß der Leitfrage, was das Seiende sei, muß die Metaphysik gefragt werden. Diese Frage führt in einen ersten Anfang, und indem die Frage nach der Metaphysik gestellt wird, ist »schon nicht mehr die Metaphysik, sondern die Überwindung.«41 Nun kann mit einem anderen Anfang begonnen werden. Damit dieser Übergang vollzogen werden kann, bedarf es des »Zuspiels«. Dieses ist ein geschichtliches und »ein erstes Brückenschlagen des Übergangs«42 . Dabei ist der erste Anfang ein Brückenende. Aber es ist noch nicht das andere Ufer, also der andere Anfang, bekannt, an welchem das zweite Brückenende zu befestigen ist. Dieses Bild der Brücke dient Heidegger zur Darstellung der beiden genannten Anfänge. Die Brücke ist dabei die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Philosophie, in der sich die »Not« eines anderen Anfangs zeigen soll. 43 Weiter heißt es zum »Zuspiel«: »Das Zuspiel der Geschichte des erstanfänglichen Denkens ist aber keine historische Bei- und Vorgabe zu einem ›neuen‹ ›System‹, sondern in sich die wesentliche, Verwandlung anstoßende Vorbereitung des anderen Anfangs.«44 Diese geschichtliche Auseinandersetzung (Heidegger bezeichnet sie häufig als »Zwiesprache«) vollzieht sich im und als »seynsgeschichtliches« Denken. 45 In diesen Kontext gehört nun auch das Denken des Deutschen Idealismus. So setzt sich Heidegger in den Beiträgen im Abschnitt »III. Das Zuspiel« auch mit Hegel auseinander. Heidegger bestimmt hier die Position des Deutschen Idealismus, um die Geschichte des ersten Anfangs, die durch die Leitfrage nach dem Seienden bestimmt ist, darzustellen. Diese anderen Anfang auf Hegels Rückgang auf die griechische Philosophie. Zur Phänomenologie heißt es dort: »Der Fortgang vom ›ersten‹ zum ›anderen Anfang‹ ähnelt jenem Denkweg der Erscheinung des Logischen, den sich Hegel in der Phänomenologie des Geistes am Leitfaden einer ›Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins‹ gebahnt hatte.« (M. Riedel: »Erster und anderer Anfang. Hegels Bestimmung des Ursprungs und Grundes der griechischen Philosophie«, in: Hans-Christian Lucas u. Guy Planty-Bonjour (Hg.): Logik und Geschichte in Hegels System, Spekulation und Erfahrung II, Stuttgart/Bad Cannstatt 1989, 173–197, hier: 175; zu Heidegger vgl. 178 f. und 195). 41 Heidegger: GA 65, 171. 42 Ebd., 169. 43 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Begriff des anderen Anfangs auch in bezug auf die Kunst und Hölderlin ist bei Otto Pöggeler zu lesen: O. Pöggeler: Der Denkweg Martin Heideggers, 4. Aufl ., Pfullingen 1994, 189–235. 44 Heidegger: GA 65, 169. 45 Zum Unterschied von Sein und Seyn in den Beiträgen, vgl. ebd., 171.
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Darstellung ist selbst schon im anderen Anfang verwurzelt, mit welchem sich die Grundfrage nach der Wahrheit des Seyns verbindet. Es gilt nun also, die Leitfrage zu defi nieren, um dem ersten Anfang und damit Heideggers Sicht Hegels näherzukommen. Vor dem Hintergrund einer allgemeinen Bestimmung des Deutschen Idealismus entwickelt Heidegger die Leitfrage. 46 Das Denken knüpft sich im Deutschen Idealismus immer an ein Ich-denke. Daraus resultiert, daß die »sich selbst gegenwärtige Gegenwart« der »Maßstab aller Seiendheit« ist. 47 Das Sein wird als Gegenwart oder Anwesenheit gedacht, und das Seiende wird so zum Gegenstand für das Vorstellen. Diese Kennzeichnung des Deutschen Idealismus führt Heidegger zu dem Ergebnis: »Von hier aus führt keine Brücke zum anderen Anfang.«48 Dennoch ist es unumgänglich, sich mit dieser Philosophie auseinanderzusetzen. »Aber wir müssen gerade dieses Denken des deutschen Idealismus wissen, weil es die machenschaft liche Macht der Seiendheit in die äußerste, unbedingte Entfaltung bringt (die Bedingtheit des ego cogito in das Unbedingte erhebt) und das Ende vorbereitet.«49 Im Begriff der Onto-theo-ego-logie kulminiert Heideggers Kritik an Hegel. Durch das Sein als Seiendes, Gott als das Absolute und das Ego als die Subjektivität wird das Seyn (mit y) und das heißt das wahre Sein – bzw. das, wie Heidegger es zu denken, später auch zu hören sucht – verdeckt und vergessen. In der Phänomenologie des Geistes wird die »endgültige Abdrängung von der Grundfrage und ihrer Notwendigkeit besiegelt« »durch Ausbildung der Ontologie zur Ontotheologie«. 50 Doch muß das Hegelsche Denken gedacht werden, um in den ersten Anfang zu führen, der die Voraussetzung für die Grundfrage und somit für den anderen Anfang ist. Im Zusammenhang mit der Rückführung in den ersten Anfang ist auch der in den fünfziger Jahren in Identität und Differenz von Heidegger geforderte »Schritt zurück« 51 zu sehen. Dieser Schritt bestimmt die Auseinandersetzung mit dem abendländischen Denken, und das heißt auch mit der Hegelschen Philosophie. Erst durch den Schritt zurück wird deutlich, woher die ontotheologische Verfassung der Metaphysik stammt und wie sie in einem anderen Anfang verwunden werden kann. Soll nun eine genaue Begriffsbestimmung gegeben werden, was denn eigentlich der andere Anfang ist, so ist zu sehen, daß es keine eindeutige
46 47 48 49 50 51
Ebd., 198–222. Ebd., 200. Ebd., 203. Ebd. Ebd., 206. Vgl. Heidegger: Identität und Differenz, a. a. O., 40 und 47.
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Defi nition gibt. Heidegger nähert sich diesem Begriff in den Beiträgen oft negativ, indem er sagt, was es in diesem Bereich nicht gibt. »Keine ›Ontologie‹, weil die Leitfrage nicht mehr maß- und bezirkgebend ist. Keine ›Metaphysik‹, weil überhaupt nicht vom Seienden als Vorhandenem oder gewußtem Gegenstand (Idealismus) ausgegangen und zu einem anderen erst herübergeschritten wird.« 52 Das Anliegen Heideggers läßt sich wohl deutlich mit seinem Begriff der »ontologischen Differenz« erklären. In der Philosophiegeschichte wurde die Differenz von Sein und Seiendem nicht gedacht. Das Sein wurde lediglich in seiner Seiendheit verstanden, so daß das Sein vergessen wurde. So kommt Heidegger zu dem Begriff der Seinsvergessenheit. Durch den Schritt zurück kann die Differenz wieder hervorgehoben und ausgetragen werden. Das Verhältnis von Sein und Seiendem drückt Heidegger in dem Aufsatz über die »onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik« folgendermaßen aus: »Sein zeigt sich als die entbergende Überkommnis. Seiendes als solches erscheint in der Weise der in die Unverborgenheit sich bergenden Ankunft .«53 Diese Begriffe der Verbergung und Entbergung orientieren sich an dem Begriff der aletheia und drücken aus, daß das Sein im Übergang zum Seienden zu denken ist, wodurch das Seiende in seiner Unverborgenheit ankommen kann. Das Sein ist nach Heidegger in dieser Differenz zu denken. Der »Anfang« ist in diesem Kontext für Heideggers Weg ein tragender Begriff, denn in dem andern Anfang kann das Sein in der Differenz gedacht werden. Daß sich Heideggers Denken des Anfangs von dem Hegelschen Anfang, der an dieser Stelle nicht eigens expliziert werden konnte, unterscheidet, zeigt sich deutlich. Der Anfang in der Phänomenologie und in der Logik dient Heidegger als Kontrastfolie, denn Hegel beginnt Heidegger zufolge mit dem Absoluten, das schon immer da ist. Dabei hat Heidegger zwar erkannt, daß das Absolute am Anfang der Phänomenologie ein anderes sein muß als am Ende, aber wie oben dargestellt, ist für ihn das Absolute dasjenige, was das Unendliche ausdrückt. Das Sein ist hier nur ein Vorhandenes, und das heißt für Heidegger ein bloß vorgestellt Theoretisches, das an den Logos und nicht an die Zeit gebunden ist. Der logische Anfang 54 bei Hegel ist also dem »anderen Anfang« Heideggers entgegengesetzt, der das metaphysische Denken eines absoluten Wissens zu überwinden sucht.
Heidegger: GA 65, 59. Heidegger: Identität und Differenz, a. a. O, 56. 54 In der Schrift über die »Negativität« spricht Heidegger selbst vom »logischen Anfang« Hegels in der Wissenschaft der Logik und in der »Phänomenologie des Geistes«. Vgl. GA 68, 56 f. 52
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II. 2 Die Anfängnis des Anfangs Der im Jahre 2005 erschienene Band 70 der Gesamtausgabe Über den Anfang erweitert die Perspektive auf das Denken des Anfangs. 55 Diese Ausführungen von 1941 stehen einerseits ganz im Kontext des seinsgeschichtlichen Denkens der Beiträge, andererseits wird mit dem Begriff der Anfängnis der Ansatz der Beiträge erweitert. Heideggers Suche nach einem philosophischen Neuanfang mit dem und im seinsgeschichtlichen Denken treibt ihn zu immer neuen Gedanken und Wortschöpfungen. Die Anfängnis ist dabei ein Ausdruck »für die je einzigartige Weise des Anfangens eines Anfangs, für die geschichtliche ›Wesung‹ des Anfangs in seiner jeweiligen Einzigartigkeit.«56 Diese Erläuterung gibt die Herausgeberin des Bandes 70 an. Der Anfang ist also kein reiner prinzipieller Anfang, wie er bei Hegel gedacht wird, sondern er ist ein seinsgeschichtlicher; er ist ein Ereignis. Der Anfang steht dabei im Kontext des Seins. »Das Denken des Seyns als Anfang denkt vor in das Wesen des Seyns als Ereignis.«57 Der Zusammenhang von Anfang und Sein ist an dieser Stelle weiter zu betrachten, da sich nur durch ihn der Begriff der Anfängnis erschließen läßt. Heideggers Gedanken zur Anfängnis sind sehr vielgestaltig und fragmentarisch. So bedarf es der Klärung der begriffl ichen Zusammenhänge, um einem Verständnis der Forderung nach der Anfängnis des Anfangs näherzukommen. Diese fragmentarische Darstellung ist Ausdruck der Heideggerschen Philosophie selbst, der es nicht um die Konstruktion eines in sich stimmigen Systems geht. »Wege, nicht Werke« ist das Motto der Gesamtausgabe. »Hier gibt es weder ein ›historisches‹ Begreifen noch ein ›systematisches‹ Begreifen, noch wie bei Hegel und in der vollendeten Metaphysik überhaupt eine Systematik der Historie.«58 Um nun dieses seinsgeschichtliche Denken zu erfassen, ist an dieser Stelle der Begriff der Anfängnis im Kontext seiner Begriffl ichkeit zu erörtern. Das Sein, dessen Vergessenheit Heidegger – wie oben dargestellt – feststellt, soll in einem andern Anfang neu erfragt werden. Das Sein als Anfang soll das Sein als Ereignis vorbereiten bzw. sein. Der Begriff des Anfangs ermöglicht es Heidegger, Sein und Anfang ineinander verschlungen zu denken, so daß es Heidegger: Über den Anfang (1941), hrsg. v. Paola-Ludovika Coriando, Frankfurt/M. 2005, GA 70. Ein weiterer Band in der III. Abteilung der Gesamtausgabe, die unveröffentlichte Abhandlungen: Vorträge – Gedachtes enthält, ist ebenfalls dem Thema des Anfangs gewidmet. Unter dem Titel Stege des Anfangs (1944) wird der Band 72 von Friedrich-Wilhelm von Herrmann in einiger Zeit herausgegeben. 56 Heidegger: GA 70, 199. 57 Ebd., 9. 58 Ebd., 98. 55
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heißt: »Das Seyn ist der Anfang.«59 Auch hier richtet sich Heidegger wiederum gegen Hegel, wenn er sagt: »Das Seyn und sein Wesen als Anfang (Er-eignis) west (fängt an, er-eignet) außerhalb der Bezirke des Absoluten und Relativen und ihrer Unterscheidung.« 60 Dabei handelt es sich nicht um den Anfang einer Sache, einer Bestimmung oder einer Geschichte, die sich dann weiterentwickelt. Der Anfang ist zugleich mit dem Abschied verbunden. Diese Zweiseitigkeit von Anfang und Abschied lehnt sich an den Gedanken der Unverborgenheit und Verborgenheit des Seins an. Mit dem Anfang des Seins ist zugleich auch sein Untergang verbunden, so daß es nie vollständig dargestellt oder gedacht werden kann. Das Sein wird also auch im anderen Anfang nie ganz (d. h. unverborgen) zur Erscheinung kommen. »Das Wesen des Seyns ist der Anfang. Die Anfängnis des Anfangs ist der Abschied. Die Anfängnis ist das Ereignis des Untergangs.«61 Auch an dieser Stelle tritt wieder die Kritik am metaphysischen Denken, das sich durch die Seinsvergessenheit auszeichnet, hervor. »Alle Metaphysik ist unfähig des Abschiedes und d. h. unvermögend des Anfangs. 62 Explizit nimmt Heidegger auf den Gedanken des Anfangs im Deutschen Idealismus Bezug, und es ist zu vermuten, daß er an dieser Stelle in erster Linie an Hegels Begriff des Anfangs denkt. Prägnant faßt er zusammen: »Wo die ›Philosophie‹ als Metaphysik des deutschen Idealismus unbedingtes Wissen des Absoluten wird, muß sie in ihrer Weise die Frage des Anfangs fragen. Wenngleich dieses Fragen sich ganz im Bezirk der Subjektivität halten muß. Das Wissen von der Unbeweisbarkeit und Vor-gewißheit des Absoluten ist ein Zeichen des Anfänglichen. Allerdings noch näher, noch unmittelbarer, d. h. wesenhaft anderer Nähe ist schon das Seyn.«63 Es geht in Heideggers Philosophie nicht um das begriffliche Denken eines Absoluten, sondern um eine ursprüngliche Nähe zum Sein, die Hegels Denken – seiner Ansicht nach – nie erreicht hat. So fordert er: »Und diese nächste Nähe müssen wir lernen inne zu werden und die Lichtung des Seins erfahren.«64 Im Innewerden und der Erfahrung und nicht mit einer logisch begriffl ichen Zugangsweise läßt sich dem Sein nahekommen. Erinnert sei noch einmal an das Zitat, das das »Geheimnis des Anfangs« als Heideggers Erklärung für die Schwierigkeit seiner Positionierung gegenüber Hegel nennt. »Ich weiß selbst noch nicht hinreichend
59 60 61 62 63 64
Ebd., 15. Ebd., 10. Heidegger: GA 70, 24. Ebd., 26. Ebd., 104. Ebd.
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deutlich, wie meine ›Position‹ gegenüber Hegels zu bestimmen ist – als ›Gegenposition‹ wäre zu wenig; die ›Positions‹-Bestimmung hängt mit der Frage nach dem Geheimnis des ›Anfangs‹ zusammen; sie ist weit schwieriger, weil einfacher als die Erläuterung, die Hegel darüber gibt vor dem Beginn der ›Bewegung‹ in seiner ›Logik‹. […]«65 Heideggers Verlangen nach der Einfachheit der Frage nach dem Anfang hängt mit der Nähe und der Unmittelbarkeit zusammen. In diesem Schlichten und Unbegrifflichen meint Heidegger, den Anfang als Wesen des Seins zu fi nden. Diese Suche oder Frage nach dem Sein bezeichnet er als schwieriger als das Hegelsche Denken des Anfangs, weil sie »einfacher« ist. 66 Mit den Ausführungen über den Begriff der Anfängnis erweitert Heidegger seine Perspektive gegenüber den Beiträgen. Er denkt hiermit den Anfang des Anfangs selbst. In der Anfängnis ist die geschichtliche Dimension des Anfangs, der mit dem Ereignis zusammenfällt, gedacht. »Die Anfängnis des anderen Anfangs bestimmt sich aus dem Er-eignis.« 67 Eine genaue Defi nition der Anfängnis ist bei Heidegger allerdings nicht gegeben. Sie steht im Kontext der genannten Begriffe (Sein, Ereignis, Abschied, Untergang) und des seynsgeschichtlichen Denkens. »Die Anfängnis ist je in jedem Anfang einzig. Es gibt keine Regel und kein Gesetz des Anfangs in dem Sinne, als waltete dieses ›über‹ dem Anfang.« 68 So ist der Anfang für Heidegger begriffl ich auch nicht zu fassen. Eine Auseinandersetzung mit dem Anfang – sei er bei Hegel oder bei Heidegger – ist für den Interpreten aber ohne begriffl ichen Zugang oder begriffl iches Instrumentarium nicht zu leisten. Gilt es Heidegger zu verstehen und sein Denken zu vermitteln, so ist eine Analyse und Kontextbestimmung der Begriffe zu erarbeiten. Eine Eindeutigkeit der Begriffsbestimmung lehnt Heidegger selbst jedoch ab. Der Anfang soll selber anfänglich bleiben und somit nicht festgelegt werden, weder in seiner Bedeutung noch in seiner zeitlichen und quanti-
Vgl. Anm. 7. Mariano Álvarez Gómez untersucht in seiner Studie den Hegelschen Anfang mit dem Sein und stellt diesen in bezug bzw. im Gegensatz zu Heidegger dar. »Para el primero, el ser representa estricta y formalmente sólo el comienzo del pensar, en tanto que para Heidegger el ser absorbe en sí cualquier manifestatión del pensar fi losófico.« Dann folgert er weiter: »Por otra parte, una investigación sobre este punto en ambos pensadores podriá dar pie a incontables considerationes, toda vez que el ser, justo en cuanto Anfang, se revela como ›fundamento de toda la ciencia‹ (Grund der ganzen Wissenschaft ) […].« (Mariano Álvarez Gómez: »El comienzo de la fi losofá como vacío según Hegel«, in: María del Carmen Paredes Martín (Hg.): Intencionalidad, Mundo y Sentido. Problemas de Fenomenología y Metafísica, Salamanca 2003. 67 Heidegger: GA 70, 13. 68 Ebd. 65
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tativen Bestimmung. »Das Wort ›der Anfang‹ bleibt mehrdeutig und muß diese Mehrdeutigkeit behalten, weil es so die Anfangnis des Anfangs im Anfänglichen hält und den Anfang nie zu einem Erklärten und einem ›Ende‹ werden läßt.« 69 Zur Anfängnis gehört also diese Offenheit und Unabschließbarkeit. Schlußbemerkung »›Prinzip‹ heißt dasjenige, womit die Philosophie anfängt, so zwar, daß der Anfang dasjenige ist, was als tragender Grund des Denkens des Zudenkenden bleibt.«70 Das sagt Heidegger und hebt damit noch einmal die Bedeutung des Anfangs als Prinzip und Grund der Hegelschen Philosophie hervor. Hegel fängt nach Heidegger mit dem Werden oder mit dem Absoluten an. Hiermit anzufangen, bedeutet für Heidegger, die Frage nach dem Sein nicht zu stellen, sondern sich bereits im Gewußten zu bewegen. »Das Problem des Anfangs drängt sich von neuem auf und mit gesteigerter Schärfe. Wo im Absoluten anfangen? Überall und nirgends? Doch notwendig beim Absoluten selbst.«71 Dieser Anfang beim Absoluten steht im Dienste einer Onto-theo-ego-logie, die eben nicht in ein seinsgeschichtliches Denken führen kann. Heidegger hat sich Hegel als absoluten Gegenpart seines Denkens gesucht. Er nimmt ihn, den er als Vollender der Metaphysik bezeichnet, als Medium – in seinen Worten – als »Zuspiel« für seinen »Schritt zurück«, um in den anderen Anfang zu führen, der die Metaphysik verwindet. In dem anderen Anfang, der das seinsgeschichtliche Denken ermöglicht, hat Hegel dann keinen Platz mehr. So heißt es im Band 70 (»Über den Anfang«): »Hegel zu Hilfe rufen, um sich das seynsgeschichtliche Denken klar zu machen, heißt das Feuer aus dem Wasser gewinnen zu wollen.«72 Mit diesem Bild der zwei Elemente Feuer und Wasser zeigt Heidegger noch einmal die absolute Gegenposition zu Hegels Denken. Heidegger macht Hegel auf diese Weise für seine Philosophie fruchtbar. Dieser Gedanke der Wirksamkeit der Hegelschen Philosophie im Heidggerschen Denken sollte hier anhand des Anfangsbegriffs dargestellt werden und zwar noch ungeachtet der Frage, ob diese Hegel-Rezeption nun der Hegelschen Philosophie gerecht wird oder nicht. In der völligen Gegenposition zu Hegel positioniert Heidegger sich selbst und läßt somit Hegels Werk wirken. 69 70 71 72
Ebd., 37. Heidegger: GA 68, 12. Heidegger: GA 28, 223. Heidegger: GA 70, 193.
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Für den heutigen Interpreten, der mit den Ansätzen beider Philosophen konfrontiert ist, bleibt dann die Frage nach der eigenen Positionierung. Dabei sieht er sich Hegels Denken gegenüber, das als System zu verstehen ist und dessen methodische Grundlage die dialektische Logik ist; diese beginnt mit einem Prinzip.73 Heidegger argumentiert gegen ein solches Prinzip und denkt demgegenüber eine Seinsgeschichte, die immer schon angefangen hat und in einen anderen Anfang führen soll, der ein Denken des Seins ermöglicht. Eine Gegenüberstellung dieser radikal entgegengesetzten Ansätze fordert notwendigerweise zu einer eigenen Stellungnahme heraus, sofern die beiden Positionen nicht einfach nebeneinander gesetzt und betrachtet werden sollen. So bleibt entweder der Anschluß an Hegels oder Heideggers Standpunkt oder die Entwicklung eines dritten Weges. Die obigen Ausführungen galten der Darstellung der Aufnahme des Hegelschen Anfangsbegriffes in der Philosophie Heideggers und könnten dem heutigen Interpreten als »Zuspiel« für die eigene Positionierung dienen.
Vgl. zum Zusammenhang von Anfang und Prinzip bei Hegel: GW 21, 53 f. und GW 9, 21 f. An diesen Stellen zeigt Hegel, wie das Verhältnis von Prinzip und Anfang zu denken ist. Dabei weist er auch auf die Mangelhaft igkeit und Einseitigkeit des Anfangs bzw. des Prinzips hin. Diese Differenzierungen sieht Heidegger in seiner Interpretation nicht. Wie er den Anfang als das immer schon bestehende Absolute sieht, ist oben dargelegt worden. 73
Hegel und Helmuth Plessner. Die verpaßte Rezeption1 Hans-Ulrich Lessing
I. Für die Konstituierung der modernen philosophischen Anthropologie, die in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts in Deutschland als eigenständige Disziplin der Philosophie etabliert wird, kommt der Rezeption der Philosophie Hegels offenbar keine entscheidende Bedeutung zu. Dies läßt sich schon durch einen kurzen Blick auf die Hauptvertreter der philosophischen Anthropologie belegen. Bei Max Scheler, mit dessen Vortrag Die Sonderstellung des Menschen im April 1927 vor der Darmstädter »Schule der Weisheit« des Grafen Hermann Keyserling 2 die Durchsetzung der philosophischen Anthropologie als philosophische Fundamentaldisziplin beginnt, ist kein Einfluß Hegels zu konstatieren. Zwar zitiert Scheler zustimmend Hegels Formel, daß die Wesenserkenntnisse, die durch Ideierung gewonnen werden, die »Fenster ins Absolute« bilden, 3 aber die metaphysische Konzeption, die Scheler seiner fundamentalen philosophischen Reflexion auf den Wesensbegriff des Menschen und seine exzeptionelle Position im Reiche des Lebendigen zugrundelegt, ist nicht zuletzt auch gegen Hegel gerichtet. Denn Hegel ist in Schelers Sicht Vertreter der von ihm so genannten und als falsch kritisierten »klassischen Theorie des Geistes«. 4 Diese klassische Theorie des Geistes »ist die Lehre von der Selbstmacht der Idee, ihrer ursprünglichen Kraft und Tätigkeit, ihrer Wirkfähigkeit«, und ihr Irrtum besteht nach Scheler in der Annahme, »es besitze Geist und Idee eine ursprüngliche Aus Plessners Gesammelten Schriften (hrsg. von Günter Dux, Odo Marquard u. Elisabeth Ströker, 10 Bände, Frankfurt/M. 1980–1985) wird im folgenden im Text unter der Angabe der römischen Band- und der arabischen Seitenzahl zitiert. 2 Max Scheler: »Die Sonderstellung des Menschen«, in: Graf Hermann Keyserling (Hg.): Der Leuchter. Achtes Buch: Mensch und Erde, Darmstadt 1927, 161–254; separat: Die Stellung des Menschen im Kosmos, Darmstadt 1928; jetzt in: Gesammelte Werke, Band 9: Späte Schriften, hrsg. von Manfred S. Frings, Bern/München 1976, 7–71. 3 Ebd., 41. 4 Ebd., 50 ff . 1
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Selbstmacht – er sei auch ohne den Lebensdrang ein mächtiges, ja allmächtiges Prinzip«. 5 Dadurch führe diese klassische Lehre des Geistes zu dem »haltlosen Un-Sinn einer sog. ›teleologischen‹ Weltanschauung, wie sie die gesamte theistische Philosophie des Abendlandes beherrscht«. 6 Gegen diese Theorie entwickelt Scheler seine neue Geist-Lehre, mit deren Hilfe er das Wesen des Menschen und seine Sonderstellung bestimmt. Dieser Geist, der den Menschen auszeichnet, steht einerseits »außerhalb alles dessen, was wir ›Leben‹ im weitesten Sinne nennen können«. D. h. »das, was den Menschen allein zum ›Menschen‹ macht, ist nicht eine neue Stufe des Lebens […], sondern es ist ein allem und jedem Leben überhaupt, auch dem Leben im Menschen entgegengesetztes Prinzip: eine echte neue Wesenstatsache, die als solche überhaupt nicht auf die ›natürliche Lebensevolution‹ zurückgeführt werden kann, sondern, wenn auf etwas, nur auf den obersten einen Grund der Dinge selbst zurückfällt, auf denselben Grund, dessen eine große Manifestation das ›Leben‹ ist«.7 Andererseits ist der Geist »in letzter Linie ein Attribut des Seienden selbst, das im Menschen manifest wird in der Konzentrationseinheit der sich zu sich ›sammelnden‹ Person. Aber als solcher ist der Geist in seiner ›reinen‹ Form ursprünglich schlechthin ohne alle ›Macht‹, ›Kraft‹, ›Tätigkeit‹.« 8 Der Mensch ist nach Scheler »der ›Neinsagenkönner‹, der ›Asket des Lebens‹, der ewige Protestant gegen alle bloße Wirklichkeit«, 9 und der Geist erhält durch diese Askese, Verdrängung und Sublimierung seine Energie. Während in Schelers metaphysisch grundierter Anthropologie Hegel zumindest noch als Gegner präsent ist, kommt in Arnold Gehlens anthropologischer Konzeption Hegels Philosophie nicht einmal mehr die Rolle einer Negativfolie zu. In Gehlens Hauptwerk Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt 10 wird Hegel nur an wenigen Stellen zitiert, die in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit seiner anthropologischen Grundlehre stehen. Gehlen, der eine »empirische«11 oder »wissenschaft li-
Ebd., 50. Ebd., 51. 7 Ebd., 31. 8 Ebd., 45. 9 Ebd., 44. 10 Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin 1940. (10. Aufl . Frankfurt /M. 1974). 11 Gehlen: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Bonn 1956, 8; vgl. Gehlen: »Zur Geschichte der Anthropologie«, in: ders.: Gesamtausgabe, Band 4: Philosophische Anthropologie und Handlungslehre, hrsg. von Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt/M. 1983, 154. 5 6
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che«,12 d. h. eine strikt anti-metaphysische Philosophie vertritt, nutzt die Ergebnisse der verschiedenen einschlägigen Natur- und Geisteswissenschaften, um die Fragen, die eine Anthropologie aufwirft , zu behandeln. So hält er sich in seinem Buch »sorgfältig im Umkreis der Erfahrung, der Analyse von Tatsachen oder Vollzügen, die jedermann erreichbar oder für jedermann nachvollziehbar sind«.13 Dieses Arbeitsprogramm steht unter der Voraussetzung einer »technischen Enthaltung von der Metaphysik«.14 Das bedeutet, daß nun nicht mehr wie bei Scheler der »Geist« zum entscheidenden Thema einer philosophischen Anthropologie wird, 15 sondern vielmehr die Handlung. Gehlen defi niert den Menschen als ein »handelndes Wesen«,16 das er im Vergleich zum Tier als »Mängelwesen«17 begreift , und sein Grundgedanke ist der, »daß die sämtlichen ›Mängel‹ der menschlichen Konstitution, welche unter natürlichen, sozusagen tierischen Bedingungen eine höchste Belastung seiner Lebensfähigkeit darstellen, vom Menschen selbsttätig und handelnd gerade zu Mitteln seiner Existenz gemacht werden, worin die Bestimmung des Menschen zur Handlung und seine unvergleichliche Sonderstellung zuletzt beruhen«.18 Damit wird evident, daß die Philosophien von Hegel, Fichte und Schelling, die – wie Gehlen einmal bemerkt – »den Menschen noch einmal völlig spiritualisiert [haben], und zwar deswegen, weil sie die Philosophie wieder an die Theologie heranführen wollten«, 19 für die Durchführung von Gehlens anthropologischem Projekt nicht mehr in Anspruch genommen werden können. II. Diese Gegenstellung zur idealistischen Philosophie, wie sie in den anthropologischen Konzeptionen von Scheler und Gehlen sichtbar geworden ist, gilt auf den ersten Blick auch für Plessners Entwurf einer philosophischen Anthropologie. Zwar fi nden sich auch in seinem anthropologischen Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch,20 das der damals Gehlen: »Zur Systematik der Anthropologie«, in: ders.: Gesamtausgabe, Band 4, a. a. O., 68. 13 Gehlen: Der Mensch, a. a. O., 10. 14 Ebd., 11. 15 Vgl. Gehlen: »Zur Systematik der Anthropologie«, a. a. O., 66 f. 16 Gehlen: Der Mensch, a .a. O., 23. 17 Ebd., 20. 18 Ebd., 37. 19 Gehlen: »Zur Geschichte der Anthropologie«, a. a. O., 151. 20 Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in 12
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in Köln lehrende junge a. o. Professor der Philosophie Helmuth Plessner im Januar 1928 veröffentlichte, einige Verweise auf Hegel. Aber diese Bezugnahmen, etwa auf die Wahrnehmungsproblematik in der Phänomenologie des Geistes (IV, 130, 132, 136) und wenige, eher unspezifische Hinweise auf die Logik machen deutlich, daß Hegels Philosophie für die eigentliche Entfaltung von Plessners philosophisch-anthropologischer Argumentation prima facie offenbar keine substantielle Relevanz besitzt. Dieser Befund kann nicht überraschen, denn in Plessners intellektueller Entwicklung bis zur Abfassung der Stufen kommt – soweit wir wissen – der Beschäft igung mit der Philosophie Hegels kein entscheidendes Gewicht zu. Plessner 21 beginnt seine akademische Ausbildung in Freiburg als Mediziner, entwickelt aber dort schon bald Interesse für die Philosophie, die ihm u. a. in Rickert begegnet. Er wechselt nach zwei Semestern an die Universität Heidelberg, um dort als Schüler Drieschs Zoologie zu studieren. Zugleich besucht er Lehrveranstaltungen Windelbands. Angeregt durch Drieschs Schrift Die Logik als Aufgabe (1913) verfaßt Plessner – parallel zu seiner (nicht abgeschlossenen) zoologischen Dissertation über die Regenerationsexperimente an dem Krebs Palämon – seine erste selbständige Publikation Die wissenschaftliche Idee. Ein Entwurf über ihre Form (1913). Windelbands Vorschlag, die Schrift, um ein Vorwort ergänzt, als Dissertation einzureichen, nimmt Plessner nicht an, da er seine zoologische Arbeit nicht im Stich lassen will und weil er – wie er rückblickend schreibt – »von Geschichte der Philosophie, vor allem der alten, nichts wußte«. (X, 307) Plessner äußert stattdessen den Wunsch, zu Husserl nach Göttingen zu gehen, da er sich in seiner Arbeit im besonderen auf ihn gestützt hatte. Die Phänomenologie Husserls schien Plessner »der einzige Weg zu einer Philosophie, die im modernen Sinne als Wissenschaft genommen werden konnte«. (X, 308) Die gerade erschienenen Ideen I ermutigen Plessner Husserl gegenüber zu dem »Vorschlag eines Vergleichs ihres Ichbegriffs mit dem Fichtes«. Fichte hatte er in einem Heidelberger Seminar Ehrenbergs über die Wissenschaftslehre von 1804 kennengelernt. (X, 308) Mit der Wissenschaftslehre von 1794, die Plessner zunächst studiert, hat er allerdings große Schwierigkeiten, so daß sein Plan eines Vergleichs Husserl-Fichte zurücktritt, da ihm bewußt wird, daß er noch
die philosophische Anthropologie, Berlin und Leipzig 1928, 2. Aufl . Berlin 1965, 3. Aufl . Berlin-New York 1975; jetzt in: ders.: Gesammelte Schriften, Band IV, hrsg. von Günter Dux, Odo Marquard u. Elisabeth Ströker, Frankfurt/M. 1981. 21 Zum folgenden vgl. Plessners »Selbstdarstellung«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Band X, hrsg. von Günter Dux, Odo Marquard u. Elisabeth Ströker, Frankfurt/ M. 1985, 302–341.
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zu wenig von Kant weiß. Plessners Interesse verlagert sich daher in der Folgezeit von Fichte und Husserl mehr und mehr auf Kant. Husserl verläßt 1916 Göttingen in Richtung Freiburg, und Plessner geht, um seine Arbeit abzuschließen, zu dem Windelband-Schüler Paul Hensel nach Erlangen. Hier promoviert Plessner 1916 mit seiner 1918 erschienenen Arbeit Krisis der transzendentalen Wahrheit im Anfang. 1920 habilitiert er sich in Köln mit der ebenfalls Kant gewidmeten Schrift Untersuchungen zu einer Kritik der philosophischen Urteilskraft. Schon 1923 erscheint sein erstes Hauptwerk Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes. Weder in diesem Buch noch in der Schrift von 1924 über Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus spielt Hegel eine Rolle. Dies gilt im übrigen auch für die Aufsätze und Rezensionen, die Plessner bis zum Erscheinen der Stufen publiziert hat. Stephan Pietrowicz hat aufgrund der Kölner Vorlesungsverzeichnisse Plessners Vorlesungsankündigungen zwischen dem Wintersemester 1920/ 21 und dem Sommersemester 1930 aufgelistet. 22 Eine Durchsicht ergibt, daß Plessner bis 1928 keine Lehrveranstaltung angekündigt hat, die explizit Hegel gewidmet ist, dagegen einige, die Kant und Fichte zum Thema haben. Die erste ausdrückliche Hegel-Veranstaltung ist für das Sommersemester 1930 verzeichnet: Übungen über Hegels Logik.23 Doch diese Bestandaufnahme bedarf einer Korrektur: Tatsächlich hat sich Plessner, wie einem Brief an den Freund Josef König vom 11.11.1924 zu entnehmen ist, im Wintersemester 1924/25 in Kolleg und Übung mit Hegels Phänomenologie beschäft igt: »Ich lese: Hegels Phänomenologie des Geistes 2stündige Interpretation und 2stündige Übungen! Gestern waren 30 Leute drin! Und hielten aus!«24 Außerdem kam es möglicherweise auf Anregung seines Freundes König, der seit 1925 die Absicht einer Habilitationsschrift über Hegel verfolgte und dazu ein intensives Hegel-Studium betrieb, 25 zu einer gemeinsamen Hegel-Lektüre. Ob allerdings Königs Bitte um eine solche Arbeit an ausgewählten Hegel-Texten26 tatsächlich erfüllt wurde, läßt sich nicht mehr ermitteln; daß es bei den Treffen der Freunde zu Diskussionen über Hegel kam, dürfte aber als sicher anzunehmen sein.
Vgl. Stephan Pietrowicz: Helmuth Plessner. Genese und System seines philosophisch-anthropologhischen Denkens, Freiburg/München 1992, 158 f. 23 Vgl. auch S. Pietrowicz: Helmuth Plessner, a. a. O., 365. 24 Josef König – Helmuth Plessner: Briefwechsel 1923–1933. Mit einem Briefessay von Josef König über Helmuth Plessners ›Die Einheit der Sinne‹, hrsg. von Hans-Ulrich Lessing u. Almut Mutzenbecher, Freiburg/München 1994, 62. 25 Vgl. ebd., 98, 103 f., 106, 116, 122, 134 f., 140 f., 144. 26 Vgl. ebd., 134. 22
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Man wird also festhalten dürfen, daß Plessner bei der Abfassung der Stufen, abgesehen von der Kenntnis der Phänomenologie des Geistes – soweit zu sehen ist –, offenbar über keine substantielle Hegel-Kenntnis verfügte. Ganz anders steht es allerdings um seine Vertrautheit mit Fichte, so daß man – wie die jüngere Plessner-Forschung mit Recht geltend gemacht hat 27 – von einer nicht unerheblichen Wirkung idealistischen, insbesondere fichteschen Denkens auf die Konzeption von Plessners philosophischer Anthropologie auszugehen hat. Plessner ist nicht nur, wie bisher üblicherweise behauptet wurde, wesentlich durch Husserl und Dilthey beeinflußt, sondern in nicht zu vernachlässigender Weise auch von Fichte. 28 So zeigen, wie Jan Beaufort herausgearbeitet hat, insbesondere der für Plessners Biophilosophie zentrale Begriff der »Grenze« und der für seine fundamentale Kategorie der »Positionalität« grundlegende Begriff des »Setzens« den starken Einfluß Fichtes. 29 Plessner besaß also offenbar keine umfassendere Hegel-Kenntnis, als er seine Einleitung in die Anthropologie konzipierte, aber im Vorwort zur 2. Auflage seines Buches (1964) merkt er an, daß sich in den Stufen gewisse Übereinstimmungen mit Formulierungen Hegels fi nden, »auf den ich mich hätte berufen müssen, wären mir damals die entsprechenden Stellen bekannt gewesen«. (IV, 34) Daß Plessner aber möglicherweise durchaus mehr als solche bloß verbalen Ähnlichkeiten mit Hegel verbinden, kann vielleicht an der folgenden knappen Vergegenwärtigung seiner philosophischen Anthropologie sichtbar werden. III. Ebenso wie Schelers Die Stellung des Menschen hat Plessners Buch Die Stufen des Organischen eine mehrjährige Vorgeschichte. Wie Plessner aus der Rückschau in seiner Selbstdarstellung von 1975 schreibt, bedeutete die Einheit der Sinne (EdS), sein frühes Hauptwerk von 1923, den »Durchbruch zur philosophischen Anthropologie auf einem ganz eigenen Wege, der von
S. Pietrowicz: Helmuth Plessner, a. a. O.; Jan Beaufort: Die gesellschaftliche Konstitution der Natur. Helmuth Plessners kritisch-phänomenologische Grundlegung einer hermeneutischen Naturphilosophie in ›Die Stufen des Organischen und der Mensch‹, Würzburg 2000. 28 Vgl. S. Pietrowicz: Helmuth Plessner, a. a. O., 422 u. a. 29 Vgl. J. Beaufort: Die gesellschaft liche Konstitution der Natur, a. a. O., 180ff ; vgl. auch S. Pietrowicz: Helmuth Plessner, a. a. O., 370 und IV, 183. 27
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Dilthey und nicht von Uexküll ausging«. (X, 322) Dieses frühe Buch unternahm den Versuch einer Ästhesiologie des Geistes, d. h. einer Sinneslehre, die mit Hilfe einer komplexen Systematik den Sinn und die Wesensgrenzen der einzelnen Sinne freilegt. 30 Als Fortsetzung dieser Untersuchungen kündigt Plessner in der Vorrede der EdS »weitere Arbeiten« an, die in ihrer Zusammenfassung eine »Ontologie der Erkenntnis« (III, 21) bilden sollen. Von diesem Plan rückt er aber schon bald ab und umreißt in seinem 1924 erschienenen Buch Grenzen der Gemeinschaft einen die EdS ergänzenden zweiten Band seiner Erkenntnistheorie, in dem – unter dem Titel Pflanze, Tier, Mensch – Elemente einer Kosmologie der lebendigen Form – »die Theorie der Wahrnehmung entwickelt werden [soll], in deren Zusammenhang die Darstellung der Prinzipien der Anthropologie gehört«. (V, 12) Die Grundsätze seiner im Entstehen befi ndlichen Anthropologie trägt Plessner in seinen Kölner Vorlesungen zwischen 1924 und 1926 vor. Die Ausarbeitung des angekündigten Buches, dessen Titel mehrfach verändert wird, kann schon im Herbst 1926 abgeschlossen werden, wobei der Bezug zur EdS und dem Programm einer umfassenden Erkenntnistheorie immer weiter gelöst wird und das Thema einer philosophischen Anthropologie immer entschiedener in den Mittelpunkt des Interesses rückt. 31 Plessners Anthropologie ist – wie er nochmals im Vorwort zur 2. Auflage der Stufen unterstreicht (vgl. IV, 19) – als eine strikt nicht-spekulative, nicht-metaphysische konzipiert. Sie unternimmt den Versuch, den Menschen ohne Rückgriff auf metaphysisch belastete Annahmen oder eine spekulative Begriffl ichkeit, wie etwa »Geist«, »Trieb« oder »Drang«, zu bestimmen. Das naturhaft-geistige Doppelwesen Mensch soll dabei so aus einer Perspektive begriffen werden, daß der in Plessners Augen verhängnisvolle Dualismus von Körper und Geist vermieden wird, der den Menschen in zwei nebeneinander liegende bzw. gegenüber stehende Hälften auseinanderreißt. Plessners Ansatz einer philosophischen Anthropologie ist zwar durch einen beständigen Bezug zur Biologie geprägt, d. h. er entwickelt seinen anthropologischen Entwurf im Kontext einer philosophischen Biologie. Aber diese verfolgt das Problem einer »Logik der lebendigen Form« (X, 327; vgl. X, 325); sie unternimmt – mit anderen Worten – »den Versuch […], die Stufung der organischen Welt unter einem Gesichtspunkt zu begreifen«, und zwar in der Absicht, »einen Leitfaden zu fi nden und zu erproben, Vgl. Hans-Ulrich Lessing: Hermeneutik der Sinne. Eine Untersuchung zu Helmuth Plessners Projekt einer ›Ästhesiologie des Geistes‹ nebst einem Plessner-Ineditum, Freiburg/München 1998. 31 Zur Genese der Stufen vgl. ebd., 296–309. 30
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der die Charakterisierung spezieller Erscheinungsweisen belebter Körper möglich macht«. (IV, 19) Dabei dienen Aussagen der Naturwissenschaften der Exemplifi zierung, nicht der Begründung oder Stützung des eigenen Gedankengangs. (Vgl. IV, 29) Denn Plessner intendiert eine »Entwicklung der Wesensmerkmale des Organischen und an Stelle der bisherigen Aufzählung, die rein induktiv vorging, wenigstens den Versuch einer strengen Begründung«. Seine Aufgabe erblickt er darin, »eine apriorische Theorie der organischen Wesensmerkmale oder […] eine Theorie der ›organischen‹ Modale« auszuarbeiten. (IV, 158) Hinter dieser Aufgabenstellung steht Plessners Grundintention, den cartesianischen Dualismus von res extensa und res cogitans zu beseitigen, da dieser Doppelaspekt von Körper und Geist – wie er nachweisen kann – nicht nur keine Möglichkeit bietet, das geistig-körperliche Sein des Menschen aus einem Ansatz zu begreifen, sondern auch zu einer Reihe von philosophischen Folgeproblemen führt, die im Rahmen des cartesianischen Alternativprinzips nicht lösbar sind. Plessners zentrale philosophische Absicht besteht insofern in der Beseitigung der von ihm kritisierten »Fundamentalisierung« des Doppelaspekts von Körperlichkeit und Innerlichkeit: »Nur auf die Entkräft ung dieses Doppelaspekts als eines die wissenschaft liche Arbeit in Naturwissenschaft , d. h. Messung, und Bewußtseinswissenschaft , d. h. Selbstanalyse, zerreißenden Prinzips kommt alles an.« (IV, 115) Plessners entscheidendes Ziel ist es daher, den Menschen, dieses Geist- und Naturwesen, aus einer Perspektive zu begreifen: »Unter welchen Bedingungen läßt sich der Mensch als Subjekt geistig-geschichtlicher Wirklichkeit, als sittliche Person von Verantwortungsbewußtsein in eben derselben Richtung betrachten, die durch seine physische Stammesgeschichte und seine Stellung im Naturganzen bestimmt ist?« (IV, 40) Das ist die entscheidende Grundfrage der Stufen. Um diese Frage einer Lösung zuzuführen, konzipiert Plessner in einem ersten Schritt eine Philosophie des Lebens, die die intendierte philosophische Anthropologie fundieren soll. Als fruchtbarer Leitfaden für seine Untersuchung erweist sich dabei der Begriff der »Positionalität«, mit dessen Hilfe Plessner organische von anorganischen Körpern unterscheidet. Positionalität bezeichnet ein fundamentales Merkmal, das belebten Naturkörpern im Unterschied zu unbelebten zukommt: »In seiner Lebendigkeit unterscheidet sich […] der organische Körper vom anorganischen durch seinen positionalen Charakter oder seine Positionalität.« Darunter versteht Plessner denjenigen Grundzug seines Wesens, »welcher einen Körper in seinem Sein zu einem gesetzten macht«. Das Sein des lebendigen Körpers wird durch »die Momente des ›über ihm Hinaus‹ und das ›ihm Entgegen, in ihn Hinein‹« bestimmt. Dieses spezifische Sein des belebten Körpers
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wird »im Grenzdurchgang angehoben und dadurch setzbar. In den spezifischen Weisen ›über ihn hinaus‹ und, ›ihm entgegen‹ wird der Körper von ihm abgehoben und zu ihm in Beziehung gebracht, strenger gesagt: ist der Körper außerhalb und innerhalb seiner. Der unbelebte Körper ist von dieser Komplikation frei. Er ist, soweit er reicht. Wo und wann er zu Ende ist, hört auch sein Sein auf. Er bricht ab. Ihm fehlt diese Lockerung in ihm selber.« (IV, 184) In seiner letzten Veröffentlichung, der Abhandlung Der Mensch als Lebewesen von 1982, hat Plessner diesen für seine philosophische Biologie fundamentalen Gedanken etwas faßlicher formuliert. Er schreibt dort, daß der organische Körper Positionalität hat, d. h. »daß er gegen sein Umfeld abgegrenzt ist und ein, je nach Organisationsstufe verschiedenes, Verhältnis zu seiner Grenze hat. Ein Lebewesen ist nicht nur in seine Umgebung, sondern auch gegen sie gestellt. Es lebt in dynamischer Bezogenheit sowohl auf sein Umfeld, als auch im Gegensinne zu ihm, dem lebendigen Ding, zurück, d. h. also im Doppelaspekt ineinander nicht überführbarer Richtungsgegensätze.«32 Es ist also das eigentümliche Verhältnis des Körpers zu seiner Grenze, auf dem Leben beruht (vgl. IV, 177): Lebendige Dinge sind »grenzrealisierende Körper« (IV, 180); bei belebten Körpern gehört die Grenze, wie Plessner schreibt, »reell dem Körper an, der damit nicht nur als begrenzter an seinen Konturen den Übergang zu dem anstoßenden Medium gewährleistet, sondern, in seiner Begrenzung vollzieht und dieser Übergang selbst ist«. Demgegenüber ist bei unbelebten Körpern die Grenze »nur das virtuelle Zwischen dem Körper und den anstoßenden Medien, das Worin er anfängt (aufhört), insofern ein Anderes in ihm aufhört (anfängt)«. (IV, 154) In einem zweiten Schritt entwickelt Plessner eine am Begriff der Positionalität orientierte Stufenfolge des lebendigen Daseins, wobei er zwischen den Organisationsweisen der Pflanze, des Tieres und des Menschen unterscheidet und mit dem von Driesch übernommenen Begriffspaar »offen« – »geschlossen«33 sowie dem Gegensatzpaar »zentrisch« – »exzentrisch« arbeitet. Diese Stufenfolge der Organisationsformen ist nicht an empirischen Befunden festgemacht bzw. gewonnen, sondern wird apriorisch, und zwar wesensphänomenologisch entwickelt, indem reine Möglichkeiten zur Anschauung gebracht werden. (Vgl. IV, 284, 291, 301f.) Plessner: »Der Mensch als Lebewesen«, in: ders.: Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie, Stuttgart 1982, 9. 33 Vgl. Hans Driesch: Philosophie des Organischen, 2., verbesserte und teilweise umgearbeitete Aufl . Leipzig 1921, 40; vgl. Plessner IV, 284. 32
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Die unterste Stufe der Organisationsformen des Lebendigen nimmt die Pflanze ein, die von Plessner als »offene« Organisationsform bestimmt wird. Als »offen« defi niert er diejenige Form, »welche den Organismus in allen seinen Lebensäußerungen unmittelbar seiner Umgebung eingliedert und ihn zum unselbständigen Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises macht«. Diese offene Organisationsform führt zu einer bestimmten morphologischen Konsequenz, nämlich der »Tendenz zur äußeren, der Umgebung direkt zugewandten Flächenentwicklung […], die wesensmäßig mit der Unnötigkeit einer Bildung irgendwelcher Zentren zusammenhängt«. (IV, 284) Das Tier, das die zweite Stufe innerhalb der Organisationsformen des Lebendigen repräsentiert, ist nach Plessner durch eine geschlossene Form charakterisiert. In genauer Entsprechung zur Definition der offenen Form lautet die Bestimmung dieser Organisationsform: »Geschlossen ist diejenige Form, welche den Organismus in allen seinen Lebensäußerungen mittelbar seiner Umgebung eingliedert und ihn zum selbständigen Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises macht.« (IV, 291) Die geschlossene Form äußert sich in einer »möglichst starken Abkammerung des Lebewesens gegen seine Umgebung«, und »diese Abkammerung hat dabei den Sinn der mittelbaren Eingliederung in das Medium«. Dies hat entscheidende Folgen für diese Organisationsform: »Auf Grund des vermittelten Kontaktes bleibt dem Organismus nicht nur eine größere Geschlossenheit als den pflanzlichen Lebewesen gewahrt, sondern er erhält echte Selbständigkeit, d. h. Gestelltheit auf ihn selber, die zugleich eine neue Existenzbasis bedeutet.« (IV, 292) Der tierischen Organisation, die durch die »Position der Frontalität«, d. h. der Gerichtetheit gegen ein Umfeld, ausgezeichnet ist, stehen nach Plessner zwei Möglichkeiten oder Wege der Realisierung offen: die dezentrale oder die zentrale Organisation. Im ersten Fall verzichtet der Organismus auf die Entwicklung einer zentralen Mitte und bildet stattdessen einzelne Zentren aus, die in loser Form miteinander kooperieren. Dies ist die Realisierungsmöglichkeit »möglichster Deckung gegen das Feld unter Umgehung des Bewußtseins«. Im anderen Fall bringt der Organismus ein Zentralnervensystem hervor, das die einzelnen Funktionen koordiniert. Dies ist der »Weg möglichsten Eindringens in das Feld durch Einschaltung des Bewußtseins«. Eine dieser Möglichkeiten der Dezentralisation oder Zentralisation muß das Leben wählen: »Der Idee der geschlossenen Form kann sowohl auf dem einen wie auf dem anderen Wege entsprochen werden, und die Wirklichkeit wird zwischen beiden Extremen die mannigfaltigsten Übergänge zeigen dürfen.« (IV, 308) Der tierischen Stufe des lebendigen Seins ist eine evidente Schranke
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gegeben. Diese liegt darin, »daß dem Individuum sein selber Sein verborgen ist, weil es nicht in Beziehung zur positionalen Mitte steht, während Medium und eigener Körperleib ihm gegeben, auf die positionale Mitte, das absolute Hier-Jetzt bezogen sind«. Das heißt, daß das Tier zwar mit Bewußtsein leben kann, aber kein Bewußtsein seines eigenen Selbst besitzt: »Das Tier lebt aus seiner Mitte heraus, in seine Mitte hinein, aber es lebt nicht als Mitte. Es erlebt Inhalte im Umfeld, Fremdes und Eigenes, es vermag auch über den eigenen Leib Herrschaft zu gewinnen, es bildet ein auf es selber rückbezügliches System, ein Sich, aber es erlebt nicht – sich.« (IV, 360) Das Tier besitzt also zwar Bewußtsein, aber ihm fehlt die Möglichkeit der Selbstreflexivität, es kann sich nicht selbst gegenständlich werden. Diese letzte Realisierungsmöglichkeit zentrischer Positionalität ist allein dem Menschen vorbehalten. Ihre Grundbedingung ist, »daß das Zentrum der Positionalität, auf dessen Distanz zum eigenen Leib die Möglichkeit aller Gegebenheit ruht, zu sich selber Distanz hat«. (IV, 360) Totale Reflexivität ist damit die Wesenseigenschaft des Menschen. Das Lebewesen Mensch ist sich der »Zentralität seiner Existenz« bewußt: »Es hat sich selbst, es weiß um sich, es ist sich selber bemerkbar und darin ist es Ich, der ›hinter sich‹ liegende Fluchtpunkt der eigenen Innerlichkeit, der jedem möglichen Vollzug des Lebens aus der eigenen Mitte entzogen den Zuschauer gegenüber dem Szenarium dieses Innenfeldes bildet, der nicht mehr objektivierbare, nicht mehr in Gegenstandsstellung zu rückende Subjektpol.« (IV, 363) Der Mensch ist damit die äußerste, nicht mehr steigerbare Realisierungsmöglichkeit der geschlossenen Form der Organisation. Durch seine Fähigkeit der Selbstdistanzierung ist der Mensch das Lebewesen, das hinter sich gekommen ist: »Der Mensch als das lebendige Ding, das in die Mitte seiner Existenz gestellt ist, weiß diese Mitte, erlebt sie und ist darum über sie hinaus.« (IV, 364) Mit dem Menschen hat das Lebendige eine neue Stufe erreicht. Da die Stufung des Organischen durch das Gesetz strukturiert ist, »wonach das Moment der niederen Stufe, als Prinzip gefaßt, die nächsthöhere Stufe ergibt und zugleich als Moment in ihr auft ritt (›erhalten‹ bleibt)“ (IV, 362), ist das Leben des Menschen, »ohne die Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr heraus, exzentrisch«. Damit ist die Exzentrizität – wie Plessner formuliert – die »charakteristische Form seiner frontalen Gestelltheit gegen das Umfeld«. (IV, 364) Durch diese Exzentrizität ist die menschliche Existenz, wie Plessner mit geradezu existenzialistischem Pathos schreibt, »wahrhaft auf Nichts gestellt«. (IV, 365) Anders als das Tier, geht der Mensch nicht mehr im Hier-Jetzt auf. Als ein »Ich« steht der
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Mensch vielmehr »›hinter‹ ihm, hinter sich selbst, ortlos, im Nichts, geht er im Nichts auf, im raumzeithaften Nirgendwo-Nirgendwann«. (IV, 364) Wesentlich für die menschliche Existenzform ist ein durch die Exzentrizität bedingter »Bruch«, der durch den »Umschlag vom Sein innerhalb des eigenen Leibes zum Sein außerhalb des Leibes« hervorgerufen wird. Dieser Umschlag ist ein »unaufhebbarer Doppelaspekt« der menschlichen Existenz. Der Mensch – so Plessner – »lebt diesseits und jenseits des Bruches, als Seele und als Körper und als die psychophysisch neutrale Einheit dieser Sphären«. (IV, 365) Entscheidend für Plessners philosophische Biologie ist damit der Gedanke, daß der »Charakter des Außersichseins«, der durch die Kategorie der Exzentrizität beschrieben wird, das Tier zum Menschen macht. Das bedeutet aber auch, daß der Mensch »körperlich Tier bleiben muß«, da durch die Exzentrizität keine neue Organisationsform eröff net wird. (IV, 365) Der Mensch bleibt weiterhin und unablösbar an die zentralistische Organisationsform gebunden, die er mit dem Tier teilt und die das Fundament seiner Exzentrizität darstellt. (Vgl. IV, 365f.)
IV. Im Wesen der Exzentrizität, die die Existenzform des Menschen bedingt, liegt eine »dialektische Struktur« (IV, 372), die in drei anthropologischen Grundgesetzen zum Ausdruck kommt, mit denen Plessner die Wesenseigentümlichkeit der menschlichen Existenz faßt. Das erste dieser Grundgesetze ist das »Gesetz der natürlichen Künstlichkeit« (IV, 383–396). Es zieht die Konsequenz aus dem Grundgesetz der menschlichen Existenz, das besagt, daß der Mensch nur lebt, »indem er ein Leben führt«. (IV, 384) Da der Mensch ein exzentrisch organisiertes Wesen ist, »muß er sich zu dem, was er schon ist, erst machen«. (IV, 383) Nur dadurch gelingt es ihm, die ihm durch seine Daseinsform »aufgezwungene Weise, im Zentrum seiner Positionalität […] zu stehen und so von seiner Gestelltheit zugleich zu wissen«, zu realisieren. (IV, 383f.) Dies hat seinen Grund darin, daß – wie Plessner ausführt – der »Daseinsmodus des in seiner Gestelltheit Stehens […] nur als Vollzug vom Zentrum der Gestelltheit aus möglich [ist]. Eine derartige Weise zu sein ist nur als Realisierung durchführbar. […] Mensch sein ist die ›Abhebung‹ des Lebendigseins vom Sein und der Vollzug dieser Abhebung, kraft dessen die Schicht der Lebendigkeit als quasi selbständige Sphäre erscheint […].« (IV, 384) Dem Menschen ist die Natürlichkeit, die Instinktsicherheit und die direkte Existenzweise der anderen Lebewesen aufgrund seiner Positiona-
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litätsform versagt: »Dem Menschen […] ist mit dem Wissen die Direktheit verloren gegangen, er sieht seine Nacktheit, schämt sich seiner Blöße und muß daher auf Umwegen über künstliche Dinge leben.« (IV, 384) Diese wesensnotwendige Angewiesenheit auf etwas, was die Brüchigkeit der menschlichen Existenz ausgleicht, faßt Plessner in sein erstes Grundgesetz, das im übrigen – in anderer Formulierung – später auch in Gehlens Anthropologie begegnen wird: »Weil dem Menschen durch seinen Existenztyp aufgezwungen ist, das Leben zu führen, welches er lebt, d. h. zu machen, was er ist – eben weil er nur ist, wenn er vollzieht – braucht er ein Komplement nichtnatürlicher, nichtgewachsener Art. Darum ist er von Natur, aus Gründen seiner Existenzform künstlich. Als exzentrisches Wesen nicht im Gleichgewicht, ortlos, zeitlos im Nichts stehend, konstitutiv heimatlos, muß er ›etwas werden‹ und sich das Gleichgewicht – schaffen. Und er schafft es nur mit Hilfe der außernatürlichen Dinge, die aus seinem Schaffen entspringen, wenn die Ergebnisse dieses schöpferischen Machens ein eigenes Gewicht bekommen.« (IV, 384f.) Die exzentrische Lebensform ist – mit anderen Worten – eine ergänzungsbedürft ige Lebensform, die ihre »Hälftenhaft igkeit« (IV, 385) durch künstliche Mittel kompensieren muß. Der Mensch als exzentrisches Lebewesen bedarf also der Kultur: »Die konstitutive Gleichgewichtslosigkeit seiner besonderen Positionsart […] ist der ›Anlaß‹ zur Kultur. Existentiell bedürft ig, hälftenhaft , nackt ist dem Menschen die Künstlichkeit wesensentsprechender Ausdruck seiner Natur. Sie ist der mit der Exzentrizität gesetzte Umweg zu einem zweiten Vaterland, in dem er Heimat und absolute Verwurzelung fi ndet. Ortlos, zeitlos, ins Nichts gestellt schafft sich die exzentrische Lebensform ihren Boden. Nur sofern sie ihn schafft , hat sie ihn, wird sie von ihm getragen.« (IV, 391; vgl. 395 und 396) Das zweite anthropologische Grundgesetz Plessners ist das »Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit«. (IV, 396–419) Mit diesem Gesetz thematisiert Plessner die Ausdrucks- und Erkenntnisproblematik, indem er versucht, seine »Einsicht in den Wesenszusammenhang zwischen exzentrischer Positionsform und Ausdrücklichkeit als Lebensmodus des Menschen« plausibel zu machen. Plessner postuliert mit diesem Gesetz die »Expressivität« oder »Ausdrücklichkeit menschlicher Lebensäußerungen überhaupt« als »Grundzug des menschlichen Lebens« (IV, 399), die zugleich die Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz bedingt. (Vgl. IV, 416f.) Das dritte Grundgesetz ist das »Gesetz des utopischen Standorts« (IV, 419–425). Mit diesem Gesetz zeigt Plessner, wie aus der »konstitutive[n] Wurzellosigkeit« des Menschen »Bewußtsein der eigenen Nichtigkeit und korrelativ dazu der Nichtigkeit der Welt« im Menschen das »Bewußtsein
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der absoluten Zufälligkeit des Daseins« und damit zugleich die »Idee des Weltgrundes, des in sich ruhenden, notwendigen Seins, des Absoluten oder Gottes« erwächst. (IV, 419) Damit stehen – so Plessners These – die »exzentrische Positionsform und Gott als das absolute, notwendige, weltbegründende Sein […] in Wesenskorrelation«. (IV, 424) Das exzentrische Wesen Mensch ist ein konstitutives In-defi nitivum, die Exzentrizität erlaubt keine eindeutige und endgültige Festlegung der eigenen Stellung und der seiner Stellung entsprechenden Wirklichkeit. Aus dieser unkomfortablen Lage befreit ihn die Religion, denn sie schafft ein »Defi nitivum«. Sie bietet dem Menschen den notwendigen Halt, den er aus eigener Kraft nicht schaffen kann: »Letzte Bindung und Einordnung, den Ort seines Lebens und seines Todes, Geborgenheit, Versöhnung mit dem Schicksal, Deutung der Wirklichkeit, Heimat schenkt nur Religion.« (IV, 420) Andererseits – und das ist das letzte Wort von Plessners Religionsphilosophie – liegt aber auch die Bedingung der Möglichkeit, die Nicht-Existenz eines Absoluten zu denken, in der menschlichen Existenzform: »Die Exzentrizität seiner Lebensform, sein Stehen im Nirgendwo, sein utopischer Standort zwingt ihn, den Zweifel gegen die göttliche Existenz, gegen den Grund für diese Welt und damit gegen die Einheit der Welt zu richten. […] Dem menschlichen Standort liegt zwar das Absolute gegenüber, der Weltgrund bildet das einzige Gegengewicht gegen die Exzentrizität. Ihre Wahrheit, ein existentielles Paradoxon, verlangt jedoch gerade darum und mit gleichem inneren Recht die Ausgliederung aus dieser Relation des vollkommenen Gleichgewichts und somit die Leugnung des Absoluten, die Auflösung der Welt.« (IV, 424) V. Plessners anthropologischer Ansatz macht philosophisch Ernst mit der Doppelnatur des Menschen, der ebenso Natur wie Geschichte ist. Dilthey, auf den sich Plessner immer wieder beruft und den er als großen Anreger der modernen philosophischen Anthropologie bezeichnet, hatte gelehrt, daß das Wesen des Menschen nur in seiner Geschichte zu fi nden sei. Da unter einer solchen Perspektive eine endgültige Antwort auf die Frage nach dem Was des Menschen unmöglich ist, muß eine Anthropologie, die sich die Diltheysche Einsicht zu eigen macht, darauf verzichten, den Menschen abschließend zu bestimmen. 34 Möglich bleibt so nur, eine StrukVgl. Plessner: »Philosophische Anthropologie«, in: ders.: Politik – Anthropologie – Philosophie. Aufsätze und Vorträge, hrsg. von Salvatore Giammusso u. HansUlrich Lessing, München 2001, 185. 34
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turformel zu fi nden, die die naturale Basis des Menschen ebenso berücksichtigt wie seine offenen Zukunft smöglichkeiten. Mit seiner Formel der »exzentrischen Positionalität« hat Plessner eine solche Strukturformel gefunden, die einerseits die Sonderstellung des Menschen im Reich des Lebendigen betont, zugleich aber auch seine biologische Herkunft festhält. Der Mensch, ebenso naturgebunden wie naturenthoben, wird in seiner Verwebung in Natur und Geschichte durch Plessners Anthropologie zur Sprache gebracht. Diese »im zoologischen Rahmen verbleibende und ihn sprengende Doppelnatur des Menschen« (VIII, 396) faßt Plessner mit seinem Begriff der exzentrischen Positionalität, der die Unmöglichkeit einer eindeutigen Fixierung der menschlichen Stellung zum Ausdruck bringt. (Vgl. IV, 419) Der Mensch ist seiner philosophischen Anthropologie zufolge ein konstitutiv heimatloses, ungesichertes, gefährdetes, vieldeutiges, nicht-festgestelltes Wesen, das sich immer wieder neu defi nieren muß, allerdings wohl wissend, daß diese Defi nitionen niemals defi nitiv sein können. Plessners zentrale anthropologische Kategorie bietet Schutz gegen Versuche, bestimmte menschliche Möglichkeiten zu verabsolutieren. Das Offenhalten des Menschenmöglichen rückt damit ins Zentrum von Plessners Anthropologie. Folgerichtig stellt Plessner in Schriften der dreißiger Jahre im Anschluß an den Dilthey-Schüler Georg Misch35 das »Prinzip der Unergründlichkeit des Menschen« (vgl. V, 160) in den Mittelpunkt seiner Anthropologie: »Die Unergründlichkeit seiner selbst ist das um des Ernstes seiner Aufgaben willen verbindliche Prinzip seines Lebens und seines Lebensverständnisses.« (V, 161) Anthropologische Strukturformeln dürfen daher »keinen abschließend-theoretischen, sondern nur einen aufschließend-exponierenden Wert beanspruchen«. (VIII, 39) Der philosophischen Anthropologie ist es daher auch verboten, »den Menschen, wenn auch in der Fülle ›aller‹ seiner Seinsdimensionen, auf das hin, was er ›eigentlich‹ sein kann und soll, zu formulieren oder defi nieren«. Ihre Aufgabe muß die »Sicherung einer Unergründlichkeit« sein, »welche den Ernst der Verantwortung vor ›allen‹ Möglichkeiten ausmacht, in denen er sich verstehen und also sein kann«. (VIII, 39) Damit zeige sich der »eigentlich philosophische Zweck« der philosophischen Anthropologie, der darin liege, »das Können des Menschen durch grenzenlose Einschränkung des Wissens um seine Unergründlichkeit und Unsicherheit gegen den Quellbereich seiner Zukunft einzuschränken, um zum Glauben an den Vgl. Georg Misch: Lebensphilosophie und Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung der Dilthey’schen Richtung mit Heidegger und Husserl, 2. Aufl . Leipzig und Berlin 1931, 50 und 237. 35
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Menschen wieder Platz zu bekommen«. (VIII, 51) Ihre Aufgabe ist folglich die einer »Kritik an einer drohenden Selbstvergötterung des Menschen«. Plessner erkennt – Jahrzehnte vor Hans Jonas – die »Notwendigkeit, theoretische Anmaßung zurückzuweisen«, die sich, anders als zu Kants Zeiten, nicht mehr ins Metaphysische, sondern »auf den Menschen [richtet], wie er seiner eigenen durch die Fortschritte der Wissenschaft und Technik riesenhaft gewachsenen Verfügungsgewalt sich selbst ans Messer liefert«. (VIII, 50) Weil der Mensch »durch sein Können eine Bedrohung seiner Zukunft geworden [ist]« (VIII, 51), gelte es, »der ständig rücksichtsloser werdenden Anmaßung der Politiker, Ökonomen, Ärzte, in Sachen Sterilisation, Eugenik, Rassenpolitik, Menschenzüchtung, d. h. dem Können des Menschen, sein Schicksal zu spielen, eine Schranke zu setzen«. (VIII, 50f.) Philosophische Anthropologie, die die Unergründlichkeit des Menschen, den »homo absconditus« (VIII, 357, 359), zur theoretischen Richtschnur nimmt, gewinnt auch eine besondere praktisch-politische Relevanz; sie wird zu einem Wächter der Würde des Menschen. (Vgl. VIII, 134)
VI. Obwohl man in bezug auf Plessners philosophische Anthropologie nicht von einer bewußten, systematisch geführten Hegel-Rezeption sprechen kann und Plessner sicher auch kein anonymer Hegelianer ist, muß festgehalten werden, daß neben vielfältigen anderen Einflüssen auch und nicht zuletzt Philosopheme und Begriffl ichkeit aus dem Fundus des Deutschen Idealismus sein anthropologisches Denken geprägt haben. Plessner hat Anregungen aus vielen Quellen, aufgenommen und verarbeitet, auch Gedankenmotive von Fichte und Hegel. Plessner verfolgt sicherlich nicht das idealistische Grundprojekt einer Theorie der Wirklichkeit aus einem Prinzip, er ist Phänomenologe und steht der Lebensphilosophie Diltheys nahe, aber seine Theorie des Organischen ist eine dezidierte »Logik« des Lebendigen und entwickelt die Stufen des Lebendigen dialektisch aus einem Prinzip, wobei allerdings dieses Prinzip nicht die Entfaltung der Vernunft ist, sondern das jeweilige Verhältnis zur Grenze des lebenden Körpers. Diese »Logik« berührt sich in frappierender Weise mit Hegels Überlegungen zur Naturphilosophie, wo sich zum Begriff der Natur die im Hinblick auf Plessner bemerkenswerte Formulierung fi ndet: »Die Natur ist als ein System von Stufen zu betrachten, deren eine aus der andern notwendig hervorgeht und die nächste Wahrheit derjenigen ist, aus welcher sie resultiert, aber nicht so, daß die eine aus der andern natürlich erzeugt würde, sondern in der inneren, den
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Grund der Natur ausmachenden Idee.«36 Auch Hegels Ausführungen zu den Stufen der Verwirklichung von Subjektivität weisen eine gewisse Affinität zu Plessners Stufenmodell des Organischen auf. Hier fi ndet sich etwa die im Hinblick auf Plessner aufschlußreiche Formulierung, daß das Tier »ans Zentrum gebunden [bleibt]«. 37 Erstaunlich ist auch Hegels Satz, der z. T. fast wörtlich bei Plessner wiederbegegnet: »nur als dieses sich Reproduzierende, nicht als Seiendes, ist und erhält sich das Lebendige; es ist nur, indem es sich zu dem macht, was es ist; es ist vorausgehender Zweck, der selbst nur das Resultat ist«. 38 Darüber hinaus zeigt auch Plessners LeibTheorie eine große Nähe zu Hegel. Während sich bei Hegel die Bemerkung fi ndet: »Der Leib ist die Mitte, durch welche ich mit der Außenwelt überhaupt zusammenkomme«, 39 formuliert Plessner – allerdings ohne Hinweis auf Hegel: »Sein Körper ist sein Leib geworden, jene konkrete Mitte, dadurch das Lebenssubjekt mit dem Umfeld zusammenhängt.« (IV, 296) 40 Plessner – so muß man also zusammenfassend sagen – verpaßt trotz gewisser inhaltlich-methodischer Übereinstimmungen mit Hegels Philosophie und einigen begriffl ichen Anklängen sowie gelegentlichen ausdrücklichen Bezugnahmen auf Hegel, wie etwa im Zusammenhang seiner Theorie der Mitwelt, wo Plessner auf Hegels Philosophie des Geistes verweist (IV, 379), eine wirklich systematische Hegel-Rezeption, die wegen einer deutlichen sachlichen Nähe zur Naturphilosophie Hegels und der methodischen Affi nität zu dessen dialektischer Methode (vgl. IV, 362) nahegelegen hätte und zweifellos fruchtbar gewesen wäre. So bleibt festzuhalten: Hegel ist für Plessner keine unmittelbare Inspirationsquelle, und die vielfältigen Konvergenzen mit Hegel müssen nicht, wie Plessner im Hinblick auf Übereinstimmungen bei Sartre und MerleauPonty mit eigenen Formulierungen festgehalten hat, auf direktem Einfluß beruhen. Denn, wie er so unnachahmlich lakonisch-pointiert bemerkt: »Es wird mehr in der Welt gedacht, als man denkt.« (IV, 34)
Hegel: TWA 9, 31. Ebd., 432. 38 Ebd., 435. 39 Hegel: TWA 10, 190. 40 An dieser Stelle hätte Plessner im übrigen durchaus auf Hegel verweisen können, da König ihm das Hegel-Zitat in einem Brief vom 6.3.1926 mitgeteilt hatte. Vgl. Josef König – Helmuth Plessner: Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., 126. 36 37
Der Geist und sein Sein. Nicolai Hartmann auf Hegelschen Wegen Walter Jaeschke
I. Philosophiegeschichte Zwischen Hegel und einem Denker wie Nicolai Hartmann, der seinen Weg im Umkreis des Marburger Neukantianismus begonnen und ihn in der Phänomenologie des 20. Jahrhunderts, im Umkreis Max Schelers, fortgesetzt hat und dann in eine nochmals andere Richtung weitergegangen ist,1 kann – so mag es scheinen – eigentlich nur ein ›garstiger breiter Graben‹ liegen. Auf dessen einer Seite steht der Vertreter der Klassischen deutschen Philosophie, auf der anderen der Neukantianer und Phänomenologe, auf der einen der ›deutsche Idealist‹, auf der anderen der ›kritische Realist‹, auf der einen Seite der Vertreter der »Systemphilosophie«, auf der anderen der Anwalt des »Problemdenkens«. Das Verhältnis scheint somit durch eine Reihe von ›idealtypischen‹ Entgegensetzungen bestimmt, und so ist es nicht leicht zu sehen, wie über diesen Graben hinüberzukommen sei, ja wie von der einen Seite aus derjenige überhaupt angemessen in den Blick kommen könne, der auf der anderen steht. 2 Doch ist es nicht erst die Aufgabe des Interpreten, diesen Graben zu überbrücken. Hartmann selbst hat dies getan – zunächst durch philosophiegeschichtliche Forschung: durch seine Studie über Aristoteles und Hegel 3 und vor allem durch sein Werk über Die Philosophie des deutschen Idealismus, dessen umfangreicheren zweiten Band er ausschließlich der Philosophie Hegels gewidmet hat – einer Darstellung von »Hegels Begriff der Philosophie«, der Phänomenologie, der Wissenschaft der Logik und schließlich, im vierten Abschnitt, einer Skizze des Systems »auf Grund Nicolai Hartmann (* 1882 Riga, † 1950 Göttingen), Promotion und Habilitation 1907 in Marburg, 1919–1925: Privatdozent, a.o. Professor und o. Professor in Marburg, 1925 in Köln, 1931 in Berlin, 1945 in Göttingen. 2 So etwa auch in dem Nicolai Hartmann gewidmeten Kapitel Wolfgang Röds in: Helmut Holzhey u. Wolfgang Röd: Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts. 2. Neukantianismus, Idealismus, Realismus, Phänomenologie, München 2004, 281–293 (= Röd (Hg.): Geschichte der Philosophie, Bd. XII). 3 Hartmann: Aristoteles und Hegel. Beiträge zur Philosophie des deutschen Idealismus III.1, Erfurt 1923. 1
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der Logik«. 4 Die aus ihr ersichtliche staunenswerte Vertrautheit Hartmanns mit Hegels Philosophie, seine sichere Hand bei ihrer Darstellung und sein von nur wenigen anderen erreichtes Verständnis für sie ist allerdings nicht als ein Indiz gedanklicher Übereinstimmung zu werten; vielmehr betont Hartmann, es gebe kein »zurück zu Hegel«, ebensowenig wie ein »zurück zu Kant«. Daraus folgt aber keine bloße Ablehnung – im Gegenteil: »Was Hegel uns bedeuten soll, ist nicht ein verlorenes Paradies der autonomen Vernunft , in das wir wieder einziehen sollten, sondern ein Reichtum geschauter und geformter Probleme, die noch ebensosehr die unsrigen sind, und darum eine Fundgrube geleisteter Gedankenarbeit, die geschichtlich wie systematisch noch lange nicht ausgeschöpft ist.« Doch so sehr er auch die Notwendigkeit der Kritik an Hegel betont: In seiner philosophiegeschichtlichen Präsentation zielt er zunächst auf die Voraussetzung aller Kritik, auf das angemessene Verstehen. 5 Bereits in dieser doxographischen Darstellung hebt Hartmann durch die Art der Behandlung ein Thema besonders hervor, auch wenn es vom Umfang her keine Sonderstellung genießt: Hegels Philosophie des Geistes. Hegel ist für ihn »von Anbeginn der Philosoph des Geistes« – des Geistes freilich nicht im Sinne eines Verborgenen, Geheimnisvollen, Mystischen, sondern desjenigen Geistes, der ›geistigen Wesen‹ das Nächstliegende ist, selbst wenn man sie zu der Annahme überredet hat, dergleichen gebe es gar nicht. Hartmanns Interesse richtet sich aber nicht auf Hegels Abhandlung des ›subjektiven Geistes‹; »Philosoph des Geistes« ist Hegel für ihn als ›Philosoph des objektiven Geistes‹. In diesem Begriff des ›objektiven Geistes‹ sieht Hartmann Hegels große und für dessen ›System‹ zentrale, aber auch unabhängig von der Konzeption dieses Systems gültige philosophische Einsicht: ›Objektiver Geist‹ ist für ihn »kein spekulativer Lehrbegriff, sondern ein schlicht deskriptiver Begriff, philosophische Formulierung eines Grundphänomens, das sich unabhängig vom Standpunkte« (sc. des Hegelschen Systems wie auch anderer Ansätze) »jederzeit aufzeigen und beschreiben läßt« – oder in phänomenologischer Sprache: »ein ursprünglich Geschautes« oder »rein Erschautes«, und damit auch eine »unverlierbare Errungenschaft«, ja »ein Übergeschichtliches« der Philosophie Hegels. Deshalb berühren sich hier philosophiehistorische Darstellung und systematisches Argument eng miteinander: Für Hegel wie für Hartmann ist ›objektiver Geist‹ »ein uns allen Wohlbekanntes, ein LebenseleHartmann: Die Philosophie des deutschen Idealismus. 1. Teil. Fichte, Schelling und die Romantik, Berlin u. a., 1. Aufl . 1923; 2. Teil. Hegel (1. Aufl ., 1929); dritte unveränd. Aufl . Berlin/New York 1974. 5 Hartmann: Philosophie des deutschen Idealismus, a. a. O., 241. 4
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ment, in dem wir alle darinstehen, außerhalb dessen wir gar kein Dasein haben, gleichsam die geistige Luft , in der wir atmen« – »die geistige Sphäre, in die Geburt, Erziehung und geschichtliche Zeitlage uns hineinstellen und hineinwachsen lassen; jenes allgemeine Etwas, das wir in Kultur, Sitte, Sprache, Denkformen, Vorurteilen, herrschenden Wertungen als überindividuelle und dennoch reale Macht kennen, gegen das der Einzelne nahezu macht- und wehrlos dasteht, weil es sein eigenes Wesen ebenso durchdringt, trägt und prägt wie das Wesen aller Anderen.«6 Doch trotz dieser weitgehenden Zustimmung zu Hegel: In den zuletzt zitierten Wendungen geht Hartmann inhaltlich bereits ein Stück über Hegels Begriff des ›objektiven Geistes‹ hinaus. Die Bestimmungen aber, die er als besonders charakteristisch für den ›objektiven Geist‹ hervorhebt, gelten ebenso für Hegels ›objektiven Geist‹: Es gibt ihn nicht ohne subjektiven Geist, ohne geistige Individuen; sie sind gleichsam das Bewußtsein des objektiven Geistes; er hat sein Bewußtsein nur in ihnen, nicht für sich selbst – und doch kann er nicht den Individuen zugeschrieben werden; er ist auch nicht die »Summe der subjektiven Geister«, sondern er hat eine andere, über sie hinausgehende (vom Vorhandensein der Individuen zwar abgelöste, aber doch nicht unabhängige) Realität; er ist eine »überpersönliche Wirklichkeit« – ein »geschaffenes geistiges Sein«, das »über seinen Schöpfer hinauswächst, ein Eigenleben entfaltet, zur Macht über ihn wird, ohne doch selbst ein Bewußtsein außer ihm zu haben.« In dieser – Hegelschen – Erkenntnis sieht Hartmann »die geschichtlich erste wohlgelungene Fundamentalbestimmung des geistigen Seins«, und er wertet es »als ein hohes Verdienst Hegels«, »daß er in diesem grundlegenden Punkt nicht zu metaphysischen Hilfskonstruktionen greift, keinen übermenschlichen Intellekt einführt – nach dem bekannten Vorbilde der Rationalisten – daß er sich nicht zu einem ›allgemeinen Ich‹ oder einem transzendentalen Subjekt rettet«. Durch solche »bequemen Lösungen« lasse Hegel sich nicht verführen – sondern er lasse »streng das Phänomen walten, wie er es fi ndet und nimmt den Widerspruch ungeschmälert auf« – den Widerspruch nämlich, daß die einzelnen Individuen »Schöpfer und Geschöpfe zugleich« des objektiven Geistes sind.7 Mit eben dieser Einsicht überwinde Hegel die geschichtlich bis zu ihm hin geltende »strikte Alternative« von Naturrecht und positivem Recht: Bis dahin seien »die Gesetze des Rechts, des Staates, der Moral« »entweder ewige, göttliche Gesetze, absolut, dem Menschen schlechthin vorgezeichnet, von undiskutierbarer Autorität; oder aber sie sind Menschenwerk, Satzung, ein in seiner Geltung 6 7
Ib., 496 f. Ib., 499–501.
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Gewordenes, an sich Zufälliges und Zerstörbares, der Auflösung anheimgegeben wie alles Entstandene«. Diese traditionelle, wirkungsgeschichtlich so mächtige Alternative entlarve Hegel als falsch: Es handele sich bei diesen Gesetzen »weder um Satzung und Menschenwerk noch um unwandelbare ewige Wahrheiten, sondern um ein Anderes, ein Drittes – nämlich um ein Allgemeines, Übersubjektives, und dennoch Real-Substanzielles, welches seine jeweiligen Ausprägungen in jenen umstrittenen Gesetzen, Normen, Wertungen hat.« 8 Noch in einer weiteren Hinsicht zeichnet Hartmann Hegels Begriff des ›objektiven Geistes‹ bereits hier aus: Nur der Geist, und paradigmatisch der ›objektive Geist‹, hat eine Geschichte – und mehr als das: Er hat nicht nur eine Geschichte, sondern er ist das eigentliche Medium von Geschichte: »er recht eigentlich ist dasjenige, was allein Geschichte im strengen Sinne hat« – und nochmals einen Schritt weiter: Geschichte »ist schließlich nur der in seine Stadien differenzierte Entwicklungsprozeß des objektiven Geistes«. 9 Im Abschnitt über »Philosophie der Geschichte« führt Hartmann dies weiter aus – nun aber in deutlicher Ambivalenz: »Hegels metaphysische Grundthese, daß das Absolute Vernunft ist,« zeige ihren dogmatischen Charakter nirgends so unverhüllt wie in der Geschichtsphilosophie; Geschichte sei für Hegel »ein zweckgerichteter Entwicklungsprozeß«, seine Geschichtssicht sei also »eine rein teleologische« – und damit in Hartmanns Augen eine gründlich verfehlte. Sie stehe »im Zeichen des Vorsehungsglaubens« – wenn auch nicht, wie er betont, eines naiven oder religiösen Vorsehungsglaubens –, und sie sei getragen von einem »ungeheuren geschichtlichen Optimismus«, der das »fortschreitende Verschwinden des Negativen« erwarte. Daß diese Züge der Geschichtsphilosophie Hegels – wenn man sie denn so (und nicht ganz zutreffend) beschreibt – Hartmann fremd bleiben, läßt sich trotz der Neutralität seines Berichts seiner Wortwahl entnehmen.10 Anders aber steht es um die geistesphilosophische Grundlegung der Geschichtsphilosophie. Hier läßt sich keine Distanz erkennen: »Geschichte hat nur der Geist. Geschichte ist nicht jedes beliebige Geschehen in der Zeit, sondern nur ein solches, das sich auch als das, was es ist, weiß. Der Mensch ist ein geschichtliches Wesen, weil er sich über die natürliche Welt und im Gegensatz zu ihr ›in die zweite Welt‹ des Geistes erhebt«, und er weiß »um seine eigene Geschichtlichkeit«. Auch die geschichtliche Realisierung des Geistes als des ›objektiven Geistes‹ in den Formen der 8 9 10
Ib., 503 f. Ib., 498, 502. Ib., 539 f.
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geschichtlich individualisierten »Volksgeister« beschreibt Hartmann sehr präzise, bis hin zum »wechselseitigen Immanenzverhältnis« von Volksgeist und Individuum und bis zu denjenigen Positionen Hegels, die Hartmann selber fremd geblieben sind – insbesondere wiederum zum Gedanken des »Zwecks« oder gar des »Endzwecks« der Geschichte, aber auch zu den theologischen Untertönen, die er in Hegels Ausführungen zu hören befürchtet, und schließlich zur Annahme der »großen Gerechtigkeit« des Weltgeschehens und des »Weltgerichts«.11 Erheblich distanzierter als die Darstellung des ›objektiven Geistes‹ und der Geschichtsphilosophie fällt Hartmanns Darstellung des Hegelschen »absoluten Geistes« aus. Er läßt bereits »dahingestellt sein«, ob diese Wortbildung »in glücklicher Formel« zum Ausdruck bringe, wodurch sich der ›absolute Geist‹ vom ›objektiven‹ unterscheide, nämlich durch das »Fürsichsein dessen, was der objektive Geist ist«: in Kunst, Religion und Philosophie. So beschränkt sich seine Darstellung auf ein angemessenes, aber nüchtern-distanziertes Referat, das – in den Abschnitten über Kunst und Religion – keine Anschlußpunkte für sein eigenes Philosophieren markiert oder zumindest erahnen läßt – abgesehen allenfalls von der Erwähnung von Hegels »tiefsinniger Bestimmung des Begriffs des Schönen«. 12 Noch weniger Möglichkeiten zur systematischen Anknüpfung sieht er in Hegels Religionsphilosophie: Hegels Gedankenwelt sei »von Grund aus eine religiöse; seine Philosophie ist Religion, die ihr eigenes Wesen gedanklich begreift .« Sie biete damit ein »in der Größe der Konzeption wohl einzigartiges«, aber doch auch ein eigenartiges Gesamtbild: Wohin der Mensch philosophisch blicke, überall sehe er Gott. Dennoch entgeht Hartmann nicht, daß die Beziehung zwischen Gott und Mensch für Hegel »ein zuinnerst dialektisches Verhältnis« ist: Einerseits ist der Mensch ganz in Gott aufgehoben, doch andererseits »ist Gott erst durch Vermittlung des Menschen wirklich«, und somit ist die vermeintliche Selbständigkeit Gottes und des Menschen, wie sie von der religiösen Vorstellung nahegelegt wird, ein bloßer Schein.13 Noch knapper als die beiden Abschnitte über Kunst und Religion fällt der Schlußabschnitt über »System und Geschichte der Philosophie« aus – teils deshalb, weil das »System der Philosophie« im Schlußabschnitt der Enzyklopädie Hegels ohnehin keinen separaten Platz neben der vorausgegangenen Entwicklung hat, teils weil Hegels Ausführungen über die Rückkehr des Systems in sich für den ›Problemdenker‹ Hartmann den Charakter eines »Wunders« haben, das 11 12 13
Ib., 541–552. Ib., 557. Ib., 563–569.
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nur in einem System möglich sei, »welches die absolute Vernunft zum Grundprinzip hat«. Dennoch zeichnet Hartmann Hegels »Identitätsthese« vom »Zusammenfallen logisch-systematischer und geschichtlicher Konsequenz« aus: In ihr sieht er »die Überwindung des oberflächlichen Geschichtsbegriffs, der in der polemischen Folge und gegenseitigen Bekämpfung der Systeme nichts als ein geschichtliches Arsenal menschlicher Irrtümer zu sehen weiß«, und somit »die Grundlage aller eigentlich verstehenden und auswertenden Geschichtsbetrachtung der Philosophie« – also ein überaus fruchtbares Prinzip, ja den Schlüssel, mit dem Hegel »sich die Schatzkammer der philosophia perennis erschloß«. Vielleicht aber auch umgekehrt – wenn man nämlich Hegels Kategorien philosophiegeschichtlichen Verstehens auf sein eigenes System anwende: So greift Hartmann nochmals den Gedanken der Wechselbeziehung des Individuums und des ›objektiven Geistes‹ auf und läßt in ihm seine Darstellung kulminieren: Hegel, der die anderen Systeme als Mittel auf dem Wege zu seinem System verstanden habe, sei mit eben diesem Gedanken selber »ein Mittel zu Zielen, die er nicht kannte, denen er dienen mußte, blind, nach dem Gesetz des objektiven Geistes.«14
II. Geist und geistiges Sein Hartmanns Philosophiegeschichte des ›deutschen Idealismus‹ ist fraglos noch immer als ein Standardwerk der Philosophiegeschichtsschreibung anzusehen. Doch hat sie nur wenige sichtbare Spuren in seinem eigenen Denken hinterlassen – mit einer Ausnahme: Seine Darstellung der Philosophie Hegels, insbesondere seiner Geistesphilosophie, kann als ein Präludium zu dem Werk verstanden werden, das er als nächstes, nur vier Jahre später, veröffentlicht: Das Problem des geistigen Seins.15 Wie sehr dieses Werk durch Hegels Geistesphilosophie geprägt ist, zeigt sich schon dem flüchtigen Blick – und Hartmann betont dies auch überaus freimütig sogleich in seinem Vorwort vom August 1932: »Ich muß es hier aussprechen, daß es gerade die langjährige, immer neu einsetzende innere Auseinandersetzung mit der Hegelschen Philosophie des Geistes gewesen ist, was mir die Zugänge zu dem Problem erschlossen hat, dessen Aufrollung ich hier vorlege. Daß bei Hegel hinter der Metaphysik des Geistes ein Ib., 569–572. Hartmann: Das Problem des geistigen Seins. Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften, 1. Aufl . Berlin/Leipzig 1933, 3. unveränd. Aufl . Berlin 1962. 14
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wertvolles Stück echter, an der Geschichte gewonnener Phänomenologie des Geistes steht – womit ich das Werk nicht meine, das diesen Titel trägt –, ist eine Einsicht, deren Gewicht mir erst langsam, im Maße meines eigenen Loskommens von der Hegelschen Dialektik und Metaphysik, zum Bewußtsein gekommen ist.«16 Auch wenn Hartmanns Anknüpfung an Hegel keineswegs unkritisch ist, und auch wenn er sie als eine erneute »Scheidung des Lebendigen und Toten in Hegel« versteht und wenn seine ›Geistesphilosophie‹ insgesamt eine Auseinandersetzung mit Hegel ist: In der Philosophie des 20. Jahrhunderts gibt es wohl kein Werk, das in vergleichbarer Weise durch Hegel angeregt, aber auch vorgeprägt ist und auch dort noch im Bannkreis seiner Philosophie verbleibt, wo es sich von ihr absetzt. 1. Psychisches und geistiges Sein Schon die Dreigliederung seines Werkes in den personalen, den objektiven und den objektivierten Geist lehnt sich – wenn auch mit der Absicht einer partiellen Revision – an Hegels Dreigliederung des Geistes in den subjektiven, den objektiven und den absoluten Geist an. Zu Beginn des ersten Teils über den ›personalen Geist‹ erörtert Hartmann allerdings – noch recht fern von Hegel – die »Stellung des Geistes im Schichtenbau der Welt«: In der Schichtung des Materiellen, des Organischen, des Psychischen und des Geistigen nimmt dieses die höchste Stelle ein; es wird getragen vom Psychischen, das seinerseits die beiden niederen Sphären des Organischen und Materiellen ›überbaut‹, während das Materielle durch das Organische ›überformt‹ wird.17 In diesem Modell des ›Aufbaus der realen Welt‹ liegt die schärfste Zäsur zwischen dem Organischen und dem Psychischen – denn für das Psychische und Geistige entfallen die zuvor so wichtigen, dem Materiellen und dem Organischen gemeinsamen Kategorien des Räumlichen und der Schwere.18 Diese Differenz entspricht sachlich der (nicht nur) Hegelschen Unterscheidung zwischen ›Natur‹ und ›Geist‹ – wobei aber für Hartmann Ib., IV. Ib., 66–101. – Diese Bezeichnungen ›Überbauung‹ und ›Überformung‹ stehen für die unterschiedlichen Verhältnisse, in denen diese Schichten zueinander stehen – je nachdem, ob sich die für sie jeweils gültigen Kategorien (etwa Räumlichkeit, Schwere) in den höheren Schichten fortsetzen oder ob sie durch andere ersetzt werden. Das begriffl iche Fundament für diesen Schichtungsgedanken bildet der dritte Teil von Hartmanns Ontologie: Der Aufbau der realen Welt. Grundriß der allgemeinen Kategorienlehre, 1. Aufl . Berlin 1940, 3. Aufl . 1964. 18 Hartmann: Problem des geistigen Seins, a. a. O., 69. 16 17
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jedes dieser beiden Gebiete noch eine interne Zweigliederung aufweist. Die erste, die Unterscheidung zwischen dem Materiellen und dem Organischen, die Hartmann als ›Überformung‹ deutet, ist zwar weniger scharf ausgebildet, aber dennoch präzise zu fassen – bei ihm wie in anderer Weise auch in Hegels Naturphilosophie. Weit schwieriger ist es hingegen, die Differenz zwischen dem Psychischen und dem Geistigen kategorial zu fassen. Hartmann beschreibt die Differenz des Geistigen und des Psychischen zwar anschaulich und überzeugend: Das seelische Sein habe jeder für sich, es sei unübertragbar und einem anderen im eigentlichen Sinne nicht zugänglich – im Unterschied zur Allgemeinheit des geistigen Seins. Der Gedanke hingegen sei etwas Allgemeines; einmal ausgesprochen sei er allen zugänglich, könne von ihnen nachgedacht, geprüft und vielleicht auch verworfen werden. Deshalb gilt: »Der Geist […] verbindet, das Bewußtsein isoliert.«19 Und so sieht Hartmann sich zu der Folgerung berechtigt, »daß die spezifischen Kategorien des Seelischen, die Subjektivität und das Bewußtsein, sich nicht darauf« – sc. auf das Geistige – »übertragen lassen« und das Verhältnis des geistigen Seins zum psychischen somit ebenfalls als ein »Überbauungsverhältnis« zu verstehen sei und sich hieraus auch die »einzigartige Autonomie« des Geistigen gegenüber der »Enge der seelischen Vorgänge« begreifen lasse. Dennoch zeigt sich in diesem Verhältnis eine Unklarheit, welche die klar gezogenen Abgrenzungslinien zu verwischen droht, und Hartmann räumt dies auch unumwunden ein. Von der ersten Form des Geistes her, vom personalen Geist, läßt sich die Abgrenzung gegenüber dem Psychischen nicht evident durchführen: »lägen die ausschlaggebenden Bestimmungen [des Geistes] beim personalen Geist, so bliebe der Unterschied der ganzen Sphäre [des Geistes] von der des Seelenlebens ein schwer greifbarer.«20 Dies allerdings deutet weniger auf »Überbauung« als auf einen graduellen Übergang vom Psychischen zum Geistigen – wenn auch auf einen Übergang, der zwei letztlich klar zu unterscheidende Seinsbereiche mit einander verbinIb., 71. – Vgl. ib., 140: »Das Bewußtsein trennt die Menschen. Der Geist verbindet sie.« 20 Ib., 71. – Vgl. 69: »Wäre der Geist nichts anderes als personaler Geist, so ließe sich die Andersheit des Verhältnisses auch nicht mit Bestimmtheit aufzeigen.« – Ähnlich Hartmann: Aufbau der realen Welt, a. a. O., 174: Der Unterschied des Geistigen und des Psychischen falle innerhalb der traditionell gedachten Sphäre des ›Geistigen‹ »nicht weniger schwer ins Gewicht« als im Bereich der ›Natur‹ »der Unterschied des bloß Physischen und des Lebendigen. Er ist nur wieder ein ganz anderer und nicht so leicht eindeutig zu fassen.« Für die Abgrenzung des Geistigen vom Psychischen beruft Hartmann sich auch hier auf die inzwischen vollzogene Trennung der Gegenstandsbereiche der Wissenschaften. 19
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det. Das Problem ihres Zusammenhangs ist im Begriff des Bewußtseins zu lokalisieren. Bei seinem Versuch, die Selbständigkeit des Geistes aufzuweisen, zunächst gegenüber dem »Leben«, kommt Hartmann auch auf die Beziehung zwischen Geist und Bewußtsein zu sprechen: Der Geist sei »nicht aus dem Bewußtsein zu verstehen. Geistiges Sein ist keine psychologische Angelegenheit. Dieser Satz darf als eine Errungenschaft der letzten Jahrzehnte gelten« – der Jahrzehnte nämlich des Kampfes gegen den Psychologismus, durch den der philosophische Blick auf das Reich des geistigen Seins erst frei geworden und geschärft worden sei. Neben dieser markanten Trennung von Geist und Bewußtsein stehen jedoch Sätze, die eine gewisse Ratlosigkeit erkennen lassen – wie etwa der folgende: »Freilich gehört das Bewußtsein irgendwie zum Geiste«. Auf die begriffliche Bestimmung dieses »irgendwie« wäre es jedoch angekommen. Und es macht die Unterscheidung nicht leichter, daß Hartmann sowohl von »geistlosem Bewußtsein« als auch von »geistigem Bewußtsein« spricht. Dem Bewußtsein scheint somit eine Doppelrolle zuzukommen: Es ist der Schicht des Psychischen zumindest benachbart – hierfür spricht auch seine Individualität. Doch andererseits reicht es ebenso in das Reich des Geistigen hinüber – denn auch wenn nicht alles Tun des Geistes bewußt ist, so gibt es doch (und auch für Hartmann) »geistiges Bewußtsein«; anderenfalls stünde es schlecht um den Geist. Und vor allem: »Selbstbewußtsein wird man schwerlich einem anderen als dem geistigen Sein zusprechen können.«21 Damit aber wird die Verbindung zwischen den Formen des psychischen und des geistigen Seins nochmals enger geknüpft – jedoch ohne daß dadurch beide gleichgesetzt werden sollen. Allerdings fragt sich dann, ob ein Modell wie das Hegelsche, das »Seele«, »Bewußtsein« und Geistiges im engeren Sinne als Differenzierungen innerhalb der einen umfassenden Sphäre des Geistigen versteht 22 (und dies, ohne dem Psychologismus zu verfallen!), nicht einen Vorzug gegenüber einer scharfen begrifflichen Scheidung der Schichten aufweist, die sich bei der Beschreibung der Phänomene dann doch nicht durchhalten läßt. 2. Subjektiver und personaler Geist Die hier aufgetretenen Schwierigkeiten lassen sich eigentlich erst von Hartmanns Begriff des personalen Geistes aus in den Blick nehmen und entscheiden. Daß er vom »personalen« und nicht wie Hegel vom »subHartmann: Problem des geistigen Seins, a. a. O., 48 f., 51; vgl. 108–115. Siehe – neben Hegels Enzyklopädie (1830), §§ 377–482 – jetzt Hegel: GW 25,1 bzw. 25,2 (erscheint 2011). 21
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jektiven Geist« spricht – dem jener doch weitgehend entspricht –, 23 ist wahrscheinlich zumindest zum einen Teil eine Folge des Umstandes, daß der »subjektive Geist« bei Hegel eben auch noch die Sphäre des Seelischen, also die ›Anthropologie‹, umfaßt, die Hartmann aus dem Begriff des personalen Geistes ausschließt. »Personaler Geist«: Damit ist die erste »Grundkategorie« des geistigen Seins genannt, auf die noch der »objektive« und der »objektivierte Geist« folgen. Doch allein der »personale Geist«, so Hartmann, »kann lieben und hassen, nur er hat ein Ethos, trägt Verantwortung, Zurechnung, Schuld, Verdienst; nur er hat Bewußtsein, Voraussicht, Willen, Selbstbewußtsein«24 – wobei allerdings »lieben und hassen« nach seiner sonstigen Trennung der Seinsschichten eher in den Bereich des Psychischen fallen, so daß sich auch hier wieder – nicht allein von Hegel her – die Frage stellt, ob nicht der Bereich des (personalen) Geistes den des seelischen Seins mit umfasse. Das Psychische und der personale Geist kommen ja auch in der Individualisierung überein, während deren Aufhebung das Proprium der beiden anderen Seinsformen ist: Das Bewußtsein und das Selbstbewußtsein sind ebenso individualisiert und ebensowenig von außen zugänglich wie seelische Regungen – und darin steht der »personale Geist« dem psychischen Sein näher als der nächst höheren Form des Geistes. Insofern könnte Hegels Begriff des ›subjektiven Geistes‹ ein Vorzug gegenüber dem des ›personalen Geistes‹ zukommen: Er impliziert eine Differenz, aber er zieht keine scharfe Trennlinie zwischen dem seelischen und dem geistigen Sein. Doch andererseits bietet Hartmanns Rede vom ›personalen Geist‹ einen Vorzug gegenüber Hegels Begriff des ›subjektiven Geistes‹, und darin dürfte der andere Grund dafür liegen, daß er vom ›personalen Geist‹ spricht: Hartmanns Ausführungen zu dieser ersten Form des geistigen Seins haben ihr Zentrum im Begriff der ›Person‹ – und damit in einem Begriff, den Hegel in seiner Philosophie des subjektiven Geistes ignoriert und allein in der Rechtsphilosophie verortet. 25 Seine Rede von ›Person‹ steht noch ganz in der Tradition des frühneuzeitlichen Naturrechts, das den Begriff der Person – von Thomas Hobbes her, aber über ihn hinausgehend von einem dominanten oder zumindest prägenden Sprachgebrauch der frühen Neuzeit her, an den auch Locke einmal anknüpft – in der Rechtssphäre verankert: ›Person‹ bezeichnet den Träger von Rechten, Hartmann spricht auch selbst einmal vom »subjektiven« statt vom »personalen Geist«; siehe: Problem des geistigen Seins, a. a. O., 102. 24 Ib., 73. 25 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 35 f., §§ 41–49, GW 14.1, 51 f., 55–60. 23
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denjenigen, der im eigenen Namen oder im Namen eines anderen handelt. 26 Dieser – gegenüber einer geradezu konturlosen vorangehenden Epoche der Begriffsgeschichte – prägnante, aber auch verengte Begriff der Person wird bereits in der Klassischen Deutschen Philosophie über den Bereich des Rechts hinaus erweitert, 27 und von der Phänomenologie und Anthropologie des zwanzigsten Jahrhunderts wird er erneut aufgenommen und weitergebildet; das letztere wird den Ausschlag für Hartmanns Rede vom ›personalen Geist‹ gegeben haben. Dies aber verleiht der Begriffsbildung ›personaler Geist‹ programmatischen Charakter. Unter diesem Titel stellt Hartmann – über die Reihe der einzelnen, auch von Hegel entwickelten Formen des subjektiven Geistes hinaus – den Gedanken der Personalität ins Zentrum seiner Abhandlung des ›personalen Geistes‹, und damit auch den Gedanken der »Einheit der Person«. Sie ist für ihn fraglos nicht mehr die substantiale Einheit der frühen Neuzeit, aber sie ist auch nicht eine Einheit, die – mit John Locke – auf dem Bewußtsein und der Erinnerungsfähigkeit beruht, 28 sondern sie ist eine selbstgeschaffene Einheit, sie beruht auf tätiger Identifi zierung: »Die Einheit des persönlichen Seins fällt einem nicht zu, sie ist und bleibt immer eine Frage des Einsatzes, des Einstehens für sich, der Kraft – die innere Synthese des in den Wandel Auseinandergerissenen zu vollziehen. Was wir Persönlichkeit, sittlichen Charakter, individuelles Ethos eines Menschen nennen, beruht ganz und gar auf dieser Kraft. Mit ihr steht und fällt die geistige Einheit des Menschen.«29 Diese Bestimmung zielt ausschließlich auf die Zugehörigkeit der Person zum ›geistigen Sein‹, während die Begriffe ›Bewußtsein‹ und ›Selbstbewußtsein‹ schon auf Grund der in ihnen gedachten Individualisierung noch eine Verbindung zum psychischen Sein assoziieren lassen. Doch die Akzentuierung des expansiven Hinausgreifens der Person auf andere Personen und auf »einen gewissen Ausschnitt der Welt, mit dem sie sich im Strom des Geschehens Thomas Hobbes: Leviathan, Teil I, § 16. Vgl. etwa Theo Kobusch: Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, 2. Aufl ., Darmstadt 1997; Birgit Sandkaulen: »Daß, was oder wer? Jacobi im Diskurs über Personen«, in: Walter Jaeschke u. dies. (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi – ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit, Hamburg 2004, 217–237; Jaeschke: »Person und Persönlichkeit. Anmerkungen zur Klassischen Deutschen Philosophie«, in: Alexander Haardt u. Nikolaj Plotnikov (Hg.): Diskurse der Personalität. Die Begriff sgeschichte der ›Person‹ aus deutscher und russischer Perspektive, München 2008, 61–74. 28 John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, Teil II, Kapitel 27: Über Identität und Verschiedenheit. 29 Hartmann: Problem des geistigen Seins, a. a. O., 91. 26 27
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schicksalsverbunden fühlt«, auf ihren »Lebenskreis« oder »Bannkreis«, in dem sie verwurzelt und der von ihr nicht ablösbar ist, macht die ›Person‹ ganz zu einer Gestalt des geistigen Seins. Das Selbstbewußtsein hingegen (gedacht nicht als formales Ichbewußtsein, sondern als »inhaltlich erfüllte« bzw. »wirkliche Selbsterkenntnis«) versteht Hartmann zwar als ein »Wesensmoment der Person«, aber doch als »sekundär, gemessen am ganzen geistigen Sein der Person«: Es sei »das nachträgliche Erfassen dessen, was die Person ohnehin schon ist.«30 Mit dieser Umformung der Hegelschen Lehre vom ›subjektiven Geist‹ zur Lehre vom ›personalen Geist‹ und ihrer Zentrierung im Begriff der Person geht Hartmann einen wichtigen Schritt über Hegel hinaus. Gleichwohl liegen ihre Wurzeln in Hegels Geistbegriff – und sogar noch tiefer, als Hartmann es an dieser Stelle anerkennt. Denn er wendet sich hier ausdrücklich gegen Hegel: »Wenn man den Geist mit Hegel als Fürsichsein versteht, so muß der Satz gelten, daß der Geist jederzeit das ist, was er von sich weiß. Aber der Satz ist von größter Fragwürdigkeit.« Diese Fragwürdigkeit erzeugt Hartmann allerdings erst, indem er das kleine Wort »jederzeit« in Hegels Gedanken einfügt und die Folgerung im ersten Satz, der Geist sei nur, als was er sich wisse, als ein bewegungsloses Wissen versteht, das eine undialektische Identität des Wissenden und des Gewußten voraussetzt. Dies jedoch ist nicht der Sinn der Hegelschen Rede vom Geist als einem Fürsichsein. Für Hegel ist dieses Fürsichsein ja dynamisch zu verstehen, und es fi ndet sich in unterschiedlichen Abstufungen: Basal ist es im unmittelbaren Rückbezug, der in der Tat für alles Geistige grundlegend ist. Dies erkennt auch Hartmann an: Es liege im Wesen des Geistes, »in aller Bezogenheit auf anderes eine gewisse Rückbezogenheit auf sich selbst zu haben. Er hat Reflexivität.« Diese basale Reflexivität ist sicherlich – mit Hartmann – nicht als vollendete »Selbsterkenntnis« zu beschreiben, aber sie ist doch die Grundlage, auf der diese sich erst erheben kann. Und allein diese basale interne Reflexivität des Geistes ist es auch, die der – für Personalität konstitutiven – ›tätigen Identifi zierung‹ wie auch der Schaffung und Ausgestaltung des »Bannkreises« der Person letztlich zu Grunde liegt: Beide sind ja nur unterschiedliche Formen des für Geistigkeit spezifischen Fürsichseins, das sich somit als grundlegend auch für den Begriff des ›personalen Geistes‹ erweist.
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Ib., 140–145.
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3. Objektiver Geist Der ›personale Geist‹ repräsentiert für Hartmann jedoch noch nicht den Geist in seiner eigentümlichen Gestalt; diese Gestalt zeigt sich ihm vielmehr erst im Hinausgehen über den ›personalen Geist‹ zum Geist als einer umfassenden, überindividuellen Wirklichkeit, als »eines überpersonalen geistigen Zusammenhanges, der offenbar nicht vom Ethos der Einzelperson erst aufgebaut, sondern von diesem schon vorgefunden wird.« Und Hartmann fährt im folgenden Absatz fort: »Diese Sphäre geistiger Gemeinsamkeit, dieses gemeinsame Geistesleben, das über die Individuen weggeht, sie verbindet und trägt, den Boden ihres Wachstums und ihrer Differenzierung bildet, ist das Leben des objektiven Geistes.«31 »Objektiver Geist«: Es ist – natürlich – Hegels Begriff des ›objektiven Geistes‹, der hier Pate gestanden hat – nicht allein bei der Auffi ndung des Wortes, sondern bei der Prägung des Begriffs. Hartmann hat sich keineswegs verborgen, daß er hier auf Hegelschem Grund weiterbaut: Hegel ist für ihn »der Entdecker des objektiven Geistes«, derjenige, der »der Philosophie des Geistes die Wege gewiesen« hat. 32 Doch trotz dieser programmatischen Anknüpfung an Hegel grenzt Hartmann seinen Begriff des »objektiven Geistes« auch von Hegel ab; er bemüht sich um ein eigenes Profi l dieses Begriffs. Eine Frucht dieser neuen Erarbeitung ist die erheblich erweiterte Fassung des Begriffs des objektiven Geistes: Während er bei Hegel nur den Bereich von Recht, Moralität und »Sittlichkeit« (in dem spezifisch Hegelschen Sinn der Institutionen des menschlichen Gemeinschaft slebens) umgreift , weitet Hartmann den ›objektiven Geist‹ zu dem eben genannten umfassenden »überpersonalen geistigen Zusammenhang« aus – zu einer Sphäre, die sich »zu objektiv gestalteten Gebilden« ausformt, die ablösbar sind »von der Person, deren Meinungen, Ansichten oder Anschauungen sie sind« und sich deshalb »zu einer Art Gemeinbesitz einer beliebigen Menge von Individuen auswachsen.«33 Hartmann kommt das Verdienst zu, den Begriff des objektiven Geistes von Hegels Engführung dieses Begriffs auf den Bereich von ›Recht‹ und ›Sittlichkeit‹ befreit zu haben; dies ist keine Verwässerung eines prägnanten Begriffs, sondern es ist gerade auch von Hegels Gedanken der Objektivierung des subjektiven Geistes her als konsequent zu werten, daß Hartmann den Umfang des ›objektiven Geistes‹ erheblich weiter faßt. Für ihn umfaßt er »Recht, Sitte, Sprache, politisches Leben nicht weniger als Glaube, Moral, Wissen, 31 32 33
Ib., 176. Ib., 198. Ib., 178.
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Kunst«. Im Interesse einer groben Orientierung könnte man – mit Hartmann – sagen: ›Objektiver Geist‹ ist alles, was Gegenstand der Geisteswissenschaften ist. 34 Deshalb kann er den ›objektiven Geist‹ als den Bereich der Wirklichkeit auszeichnen, der einerseits jedermann bekannt ist, ja »das Wohlbekannteste des Wohlbekannten«, 35 als »die große Selbstverständlichkeit unseres Menschenlebens, die wir nur deshalb nicht bemerken, weil wir in ihr ganz leben und atmen.«36 Aus eben diesem Grunde aber wird die Wirklichkeit nur selten unter dem Begriff des Geistes – und gar des ›objektiven Geistes‹ – konzeptualisiert; sie scheint vielmehr in eine Vielzahl von einander getrennter Bereiche zu zerfallen. Das Spezifi kum beider Ansätze – Hegels wie Hartmanns – liegt aber eben in der einheitlichen Konzeptualisierung dieses Bereiches als Geist, als eine überpersönliche, »überindividuelle Grundgestalt«. 37 Für Hartmanns Erweiterung des Begriffsumfangs des ›objektiven Geistes‹ lassen sich gute Gründe beibringen. Es ist ja keineswegs der Fall, daß allein die Sphäre von Recht, Moralität und Sittlichkeit als ›Objektivierung‹ des subjektiven Geistes angesehen werden kann. Gleiches gilt zum einen für die Sprache, die über den subjektiven als einen individuellen Geist hinausgeht und eben die Züge aufweist, die Hartmann als Charakteristika geistigen Seins auszeichnet: Sie ist eine überindividuelle Wirklichkeit, in die das Individuum hineinwachsen muß, die es aber auch weiter fortbildet, so daß es von ihr getragen wird und sie auch selber trägt. Daß Hegel den ›objektiven Geist‹ auf Recht und Sittlichkeit beschränkt, ist letztlich eine bloße Folge seiner Abtrennung des ›absoluten Geistes‹ vom ›objektiven Geist‹. Aber auch der ›absolute Geist‹ ist bei ihm – begriffl ich gesehen – eine, wenn auch eine spezifisch unterschiedene und ausgezeichnete, Form des ›objektiven Geistes‹ – was Hartmann ja bereits in seiner Darstellung der Philosophie Hegels ausdrücklich bekräft igt: »Auch der absolute Geist ist durchaus objektiver Geist« – es kommt zu diesem nur noch das Fürsichsein, das ausdrückliche Sichwissen des Geistes hinzu. 38 In diesem Aspekt dürfte Hartmann dem Begriff eines ›objektiven Geistes‹ besser gerecht geworden sein als Hegel. In anderer Hinsicht allerdings ignoriert Hartmann ein Spezifi kum des Hegelschen Begriffs des ›objektiven Geistes‹: Anders als in seiner historischen Darstellung zertrennt er hier den Zusammenhang zwischen dem 34 35 36 37 38
Ib., 188. Ib., 179. Ib., 177. Ib., 186. Hartmann: Philosophie des deutschen Idealismus II, a. a. O., 552.
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›subjektiven‹ (oder ›personalen‹) und dem ›objektiven Geist‹. Er spricht zwar einmal im Vorübergehen davon, daß aller geistige Inhalt (alles, »was ein geistiges Einzelwesen als seine Ansichten, Meinungen, Vorstellungen, Urteile, Vorurteile, Begriffe oder Anschauungen ausgibt oder vertritt«) die Tendenz habe, »sich zu objektiv gestalteten Gebilden auszuformen«, eine »innere Objektivität« zu gewinnen, vom meinenden Akt und Subjekt ablösbar zu werden »und sich zu einer Art Gemeinbesitz einer beliebigen Menge von Individuen aus[zu]wachsen«, gleichsam in einer »Expansion des Geistes«. Es geht bei dieser »Expansion« des ›subjektiven Geistes‹ zum ›objektiven‹ (oder eigentlich schon zum ›objektivierten‹) aber nicht nur um die »allem Urteil des Einzelnen« jederzeit schon entgegenkommende »Masse geprägter und herrschend gewordener Meinungen«; 39 es geht um die vom ›subjektiven‹ oder auch vom ›personalen Geist‹ getragene wie auch umgekehrt diesen tragende Ausformung entscheidender Bereiche der Wirklichkeit – des Rechts und des Staates, aber auch der Kunst, der Religion und der Philosophie. Am ›objektiven Geist‹ betont Hartmann »die innere Objektivität geprägter Inhalte«, und fraglos treffen seine Beobachtungen zu, daß »die innere Objektivität der geistigen Gebilde […] nicht an einer Verankerung im Realen« hängt und daß aller objektivierte geistige Inhalt »von Person zu Person« – und auch von Epoche zu Epoche! – »wandern« könne. Doch sein Satz »was einmal von einer Person im Ausdruck objektiviert ist, läßt sich überhaupt nicht mehr von ihr festhalten«, 40 erfaßt das Phänomen der Erzeugung des ›objektiven Geistes‹ nicht in seinem ganzen, von Hegel gesehenen Schwergewicht, und er gleitet stattdessen (wie ja auch Hartmanns Wendungen andeuten) vom ›objektiven Geist‹ schon in den Bereich des ›objektivierten Geistes‹ über. Bei der Genese des ›objektiven Geistes‹ (im Hegelschen Sinne) geht es aber nicht bloß um einzelne objektivierte Äußerungen, die sich ›auf Wanderschaft begeben‹; es geht um die vom subjektiven Geist getragene Ausformung eigentümlicher und wichtiger Bereiche des menschlichen – geistigen! – Lebens, vom Recht über die gesellschaft lichen und staatlichen Institutionen bis hin zu Kunst und Religion. Hartmann versteht die ›Objektivität‹ des ›objektiven Geistes‹ als Ausdruck teils des Umstandes, daß dieser uns »als etwas außer uns Seiendes entgegentritt« – etwa auch im »Geist eines Volkes«, also in der spezifischen Ausformung der Geistigkeit eines Volkes, die eine Größe ist, mit der man ›rechnen muß‹ –, teils und primär als Ausdruck der »inneren Objektivität der geistigen Gebilde« – ihrer »Geformtheit, Geprägtheit« und inhaltlich 39 40
Hartmann: Problem des geistigen Seins, a. a. O., 178. Ib., 181.
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greifbaren »Gestaltung«, die ein Verstehen solchen Geistes erlaubt. 41 Hegel würde beides keineswegs bestreiten – doch er denkt die ›Objektivität‹ des ›objektiven Geistes‹ primär vom Prozeß der Objektivierung her, also als Manifestation des subjektiven Geistes und namentlich des Willens. Das, was uns im ›objektiven Geist‹ – mit den Worten Hartmanns – »als Seiendes entgegentritt«, ist etwas, das wir selbst uns erst entgegengestellt haben – woher sollte es denn sonst sein? Es ist ja richtig: Der ›objektive Geist‹ hat den Charakter »eines überpersonalen geistigen Zusammenhanges, der offenbar nicht vom Ethos der Einzelperson erst aufgebaut, sondern von diesem schon vorgefunden wird.«42 Aber auch wenn der ›objektive Geist‹ fraglos nicht erst von einem einzelnen Individuum erzeugt ist und auch wenn er die einzelnen geistigen Individuen trägt, so muß er doch selber zunächst von diesen geistigen Individuen erzeugt sein: als Objektivierung ihrer Geistigkeit mittels der von ihnen vollzogenen Willensakte – als »das Werk aller«, wie es bei Hegel heißt. 43 Damit weist Hegel nicht nur die Verbindung auf zwischen dem ›subjektiven‹ oder ›personalen‹ und dem ›objektiven Geist‹ als zweier für sich selbständig bestehender Größen – er macht überhaupt erst plausibel, wie es zu ›objektivem Geist‹ kommt. Hartmann wendet einmal gegen Hegel ein, daß die »geistige Eigenart« einem Volke »nicht vom Himmel« zufalle – was fraglos richtig ist und Hegel nicht gänzlich unbekannt gewesen sein dürfte. Doch für Hartmanns ›Phänomenologie‹ scheint der ›objektive Geist‹ sogar als ganzer »vom Himmel« gefallen oder aber von Ewigkeiten her vorhanden gewesen zu sein – denn man erfährt nichts über seine Herkunft . Doch er kann ja nicht ›als Seiendes entgegentreten‹, wenn er nicht allererst durch Objektivierung als Seiendes gesetzt worden ist. Die beiden anderen, für Hartmann im Vordergrund stehenden Aspekte sind damit allerdings keineswegs dementiert: Die interne Objektivität kommt dem ›objektiven Geist‹ eben in Folge dieses Objektivierungsprozesses zu. Doch die spezifische Herkunft und Absicht der Hegelschen Rede vom ›objektiven Geist‹ scheint Hartmann entgangen zu sein – vermutlich deshalb, weil er den Hegelschen ›objektiven Geist‹ als »ein Wesen höherer Ordnung über dem Einzelmenschen, eine allgemeine Geist-Substanz mit eigener Seinsweise und eigenem Leben« versteht, zu der sich die »individuellen Geister« als Akzidenzien verhalten. 44 Doch von einem solchen Substanz-Akzidenz-Verhältnis kann hier keine Rede sein; Akzidenzien pfle41 42 43 44
Ib., 187–189. Ib., 176. Hegel: Fragment »seiner Form … (1803), GW 5, 377 u .ö. Hartmann: Problem des geistigen Seins, a. a. O., 6.
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gen ihre Substanzen nicht erst hervorzubringen. Es handelt sich vielmehr um das komplexe Verhältnis sowohl des Partizipierens des Einzelnen am ›objektiven Geist‹ als auch des Produzierens dieses ›objektiven Geistes‹: Es gäbe ihn ja nicht, wenn er nicht durch geistige Wesen geschaffen wäre, die ihn ebenso hervorbringen, wie sie in ihn hineingeboren werden und in ihm leben: Denn der ganze Bau der geistigen Welt geht, wie Hegel dies im letzten aus seinen Vorlesungen nachgeschriebenen Satz ausdrückt, aus dem Innersten, aus der Freiheit hervor. 45 Diese Produktion des ›objektiven Geistes‹ ist für Hegel überwiegend nicht als eine bewußte, beabsichtigte Objektivierung zu denken, sondern als eine Bewegung, die sich primär ›im Rücken des Selbstbewußtseins‹ vollzieht. Erst dieser Prozeß der Objektivation läßt aus der Sphäre des ›subjektiven‹ oder ›personalen Geistes‹ den ›objektiven Geist‹ hervorgehen – und deshalb läßt erst die Konzeptualisierung dieses Prozesses begreifen, wie es zu dem Gebilde ›objektiver Geist‹ kommt: Er ist nicht einfach ›vorhanden‹, auch wenn er dem einzelnen Subjekt zunächst als ein Unmittelbares entgegentritt und von ihm so erfahren wird, sondern er ist ein von den einzelnen Subjekten Erzeugtes, das sie sich gegenüberstellen. Diese Eigenständigkeit des ›objektiven Geistes‹ hat Hartmann wiederum sorgfältig beschrieben und von ›Gemeinschaft sphänomenen‹ abgegrenzt: »Die Gemeinschaft sphänomene sind eben als solche keine Geistesphänomene, wie eng sie auch mit ihnen verwoben sein mögen. Sie als solche sind vielmehr Kollektivphänomene.«46 Der ›objektive Geist‹ hingegen ist kein ›Kollektivum‹, sondern das vom Ganzen – aber auch von Gruppen und einzelnen Individuen – Produzierte, das ihnen Gegenübergesetzte und Gegenüberstehende: nicht das »Volk«, sondern die geistige Welt eines Volkes, die Welt seines Denkens, seiner künstlerischen und religiösen Produktion ebenso wie seiner Institutionen, die aber nicht auf den engen Rahmen des ursprünglich hervorbringenden Volkes begrenzt bleibt, sondern zu einer allgemeinen geistigen Welt wird.
Hegel: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831, Edition und Kommentar in sechs Bänden von Karl-Heinz Ilting, Bd. 4, Stuttgart-Bad Cannstatt 1974, 925 (Nachschrift David Friedrich Strauß): »Die Freiheit ist das Innerste, und aus ihr ist es, daß der ganze Bau der geistigen Welt hervorsteigt.« 46 Hartmann: Problem des geistigen Seins, a. a. O., 191. 45
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4. Absoluter und objektivierter Geist Im Begriff des ›objektiven Geistes‹ ist die Nähe zwischen der ›Geistesphilosophie‹ Hegels und Hartmanns Untersuchung des ›geistigen Seins‹ am leichtesten greifbar – und ein weiterer darin implizierter, bisher nicht berührter Aspekt wird unten noch anzusprechen sein. Mit der dritten »Grundgestalt« des geistigen Seins aber geht Hartmann einen eigenen Weg: Hegels ›absoluter Geist‹ erhält keinen Zutritt zu Hartmanns ›Phänomenologie des geistigen Seins‹. Er schließt ihn zwar nicht ausdrücklich aus; anders als in seiner philosophiegeschichtlichen Darstellung thematisiert er ihn im Kontext seines eigenen Entwurfs gar nicht und beschreibt diese dritte Gestalt – den ›objektivierten Geist‹ – ohne namentlichen Rekurs auf Hegel. ›Objektivierter Geist‹: Hartmann räumt ein, daß der Begriff der »Objektivation« sehr weit zu fassen sei: »der Einzelmensch objektiviert sich schon in seinen Worten, seinen Taten, im Wirken, in der Arbeit, im Werk. Was nur in seinen Gedanken war, tritt durch Verwirklichung in seinem Tun aus ihm heraus in die Gegenständlichkeit. Und überall, wo es sich um bestimmt geformte Dinge handelt, die er ersinnt und herstellt, da stellt er eben damit zugleich ein Bild seiner selbst her, in dem er erkennbar ist. Denn es ist Geist von seinem Geiste, der darin zum Gegenstande möglichen Erfassens wird«. »Jede Äußerung, jedes Wort, jede Geste, jedes Verhalten des Individuums ist schon Objektivation«47 – Objektivation des (personalen) Geistes. Doch trotz dieser weiten Fassung nimmt Hartmann diesen Begriff der Objektivation nicht schon in der Sphäre des ›objektiven Geistes‹, sondern erst hier – ohne dies ausdrücklich zu machen – von Hegel auf, während er den ›objektiven Geist‹ nicht ausdrücklich als Produkt einer Objektivation versteht. Allerdings spielt dieser weitgefaßte Begriff der Objektivation hier keine tragende Rolle; er bleibt im Hintergrund, zugunsten eines Begriffs des ›objektivierten Geistes‹, der an der ›Materialität‹ orientiert ist: Als die »reinsten Repräsentanten objektivierten Geistes« versteht Hartmann »die Schöpfungen der Literatur, der Dichtung, der bildenden Künste, der Musik« – ferner Denkmäler, Bauten, »ja in gewissen Grenzen auch Werkzeuge, Waffen, Nutz- und Zweckgegenstände, handwerkliche und industrielle Produkte« – letztlich alles, was der »Erfi ndungsgeist des Menschen« hervorgebracht hat. Ein Zweites kommt jedoch, wie man aus den Beispielen erkennt, zu diesem »Erfi ndungsgeist« hinzu: »objektivierter Geist in selbständiger Seinsform ist nur die in einem dauernden Material 47
Ib., 407,411.
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fi xierte Objektivation«. 48 In einem »erweiterten Sinne« rechnet Hartmann hierzu aber auch »die wissenschaft lichen und philosophischen Weltbilder (Systeme), mythische und religiöse Anschauungen; ferner die spezifisch geformten Begriffe, soweit in ihnen noch bestimmte Denk- und Anschauungsweise erkennbar ist, sowie die in ihnen verwandten Dogmen und Symbole, die ins Symbolische erhobenen und verallgemeinerten Gestalten (Helden, Götter, Schicksalsträger).«49 Damit, wie auch schon mit der für die Sphäre des ›objektivierten Geistes‹ paradigmatischen Kunst, fällt Hartmanns ›objektivierter Geist‹ gänzlich in denjenigen Bereich hinein, den Hegel als ›absoluten Geist‹ faßt – aber Hartmann thematisiert ihn (nahezu) nur nach der Seite der ›Objektivation‹, die Hegel nur im Vorübergehen betrachtet, und nicht als ›lebendigen Geist‹: Nicht die Religionen, sondern nur ihre »Dogmen und Symbole« sind ›objektivierter Geist‹. Hartmanns Interesse ist darauf gerichtet, diese ›Objektivationen‹ als solche zu thematisieren, sie in ihrer eigentümlichen Seinsweise zu bestimmen – als abgelöst von dem ›lebendigen Geist‹, der sie einmal hervorgebracht hat, wie auch von demjenigen, der sie vielleicht zu späterer Zeit und unter völlig veränderten Bedingungen wieder als ›Objektivationen‹ des Geistes eines längst vergangenen Volkes wiedererkennt. Die Religion als ›lebendiger Geist‹ gehört für ihn zum ›objektiven Geist‹, ihre »Dogmen und Symbole« hingegen zum ›objektivierten‹. Hartmann – könnte man in Hegels Perspektive einwenden – durchtrennt somit den im Begriff des ›absoluten Geistes‹ gedachten Zusammenhang zwischen dem ›lebendigen Geist‹ der Religion und seiner Selbstobjektivierung; Hegel – könnte man andererseits in Hartmanns Perspektive einwenden – unterscheidet hier zu wenig zwischen diesem ›lebendigen‹ und dem ›objektivierten Geist‹. In der Tat hat Hegel zwar ausführlich über Kunstwerke und über Religionen und ihre symbolischen Systeme gesprochen, aber er hat die spezifische Seinsart des ›objektivierten Geistes‹ nicht als eine solche eigentümliche Seinsart bestimmt, und er hat auch nicht in vergleichbarer Ausführlichkeit abgehandelt, daß »in aller Objektivation ein Realgebilde als sinnlich zugängliche Basis zugrunde liegt und vom geistigen Gehalt, der sich in ihm objektiviert, zu unterscheiden ist« – daß aller objektivierte Geist »seinem Wesen nach zweischichtig« ist, ein »Doppelgebilde« »von heterogener Seinsweise«: »Die sinnlich-reale Schicht existiert unabhängig vom auffassenden Geiste, der geistige Gehalt aber, der in ihr fi xiert ist – die Hintergrundschicht des Gesamtbildes – existiert immer nur ›für‹ einen auffassenden Geist.« Sie besteht »nur auf 48 49
Ib., 415. Ib., 416.
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Grund einer Wechselbeziehung zum lebenden Geist. Sie hat kein Ansichsein, sondern nur ein Für-ihn-Sein.«50 Auch hier also kommt das Fürsichsein, dieser »sonst wohl gefährliche und oft mißbrauchte Hegelsche Ausdruck« ins Spiel, denn er ist wohl auch hier »nicht zu entbehren«51 – und dies nicht zufällig: Eben in dieser »Wechselbeziehung« zwischen dem »lebenden Geist« und dem ›objektivierten Geist‹ (im weiten Sinne verstanden), in diesem Fürsichsein des Geistes in seiner Objektivation besteht für Hegel ja der ›absolute Geist‹. Die »Wechselbeziehung« fi ndet eben dadurch statt, daß der erkennende Geist erkennt, daß der erkannte »Geist von seinem Geiste« ist, wie Hartmann zuvor selber – übrigens mit Hegel! – das Genesiszitat variiert. Insofern thematisiert Hartmann hier also den Hegelschen ›absoluten Geist‹ – obschon er diesen Reiztitel sehr bewußt vermeidet. Und deshalb ließe sich – umgekehrt – Hartmanns ›objektivierter Geist‹ auch problemlos in Hegels Philosophie introduzieren: Denn dort gewinnt der Geist sein Fürsichsein und Selbstbewußtsein eben in seinem Sichwissen im ›objektivierten Geist‹. Hegel gibt auch Antwort auf eine Frage, die Hartmann – ebenfalls sehr bewußt – nicht stellt, wohl weil er der Ansicht ist, daß diese Antwort nicht von einer phänomenologisch verfahrenden Philosophie, sondern nur von einer ›Geistmetaphysik‹ her gegeben werden könne: die Frage, warum der Geist überhaupt ›objektiviert‹, warum er, sei es rudimentär als ›personaler Geist‹, sei es in komplexer Form als ›objektiver Geist‹, stets derartige ›Objektivationen‹ hervorbringt und gar nicht anders ›kann‹ als sich zu objektivieren. Für Hegel ist die Antwort naheliegend; etwas ungeschützt formuliert lautet sie: Geist objektiviert sich, weil er sich in diesen Objektivationen selber erkennen will und nicht anders als in ihnen erkennen kann. Hartmann verbietet sich eine solche, ihm wohl als ›metaphysisch‹ und ›teleologisch‹ erscheinende Antwort. ›Geist‹ ist für ihn das, was sich, sowohl als personaler wie auch als objektiver Geist, objektiviert – ohne die Frage nach dem Warum dieser Objektivation aufzuwerfen. Aber Hartmann beschreibt doch auch, daß der ›objektivierte Geist‹ – um nicht bloße Materialität, sondern als solcher zu sein – des ihn erkennenden Geistes bedarf und daß es in der Beziehung des Geistes auf den objektivierten Geist zu einem ›Fürsichsein‹ des Geistes kommt: zur Erkenntnis, daß der objektivierte Geist ›Geist vom eigenen Geiste‹ ist, und daß es in der Kunst auf eben dieses Fürsichsein ankommt. Die Auskunft hingegen, zu der Hegel sich berechtigt sieht, verweigert Hartmann: daß 50 51
Ib., 425 f. Ib., 122.
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es einen teleologischen Zusammenhang zwischen dem Sichobjektivieren des Geistes und seinem Beisichsein in seiner Objektivation gebe. Es dürfte aber kein unzumutbarer Rückfall in frühere Metaphysik sein, wenn man – mit Hegel – annimmt, daß eben dies der interne Zweck der Objektivation sei: daß der Geist Kunstwerke eben deshalb schafft, um sich in ihnen zu erkennen, um sein ›Fürsichsein‹ in ihnen zu haben, und daß es deshalb zu einem ›Genuß‹ des Kunstwerkes kommt und dieser Genuß der Selbstgenuß des Geistes ist. Man wird diese Zweckbeziehung – übrigens mit Hegel! – allerdings nicht als eine bewußte, abwägende zu verstehen haben, sondern als eine, die sich wiederum ›im Rücken des Selbstbewußtseins‹ von selbst macht (wie dies bei Hegel nicht wenige wichtige Dinge tun, und wohl sogar die wichtigsten und meisten). Es ist vermutlich noch nie ein Kunstwerk mit dem bewußt ausgesprochenen Vorsatz geschaffen worden, daß der Geist sich in ihm erkennen solle. Es ist aber vermutlich auch noch nie ein Kunstwerk geschaffen worden, ohne daß diese Absicht – nochmals: ›im Rücken des Selbstbewußtseins‹ – hierfür bestimmend gewesen wäre. Anders als dort, wo es um Herstellung von Gebrauchsgegenständen geht, liegt der Sinn der Objektivation bei der Herstellung eines Kunstwerks (aber auch der Ausbildung einer religiösen Symbolwelt) ausschließlich darin, dieses ›Fürsichsein‹ zu ermöglichen. Zudem erfolgt die Objektivation, das Schaffen des Kunstwerkes, ja stets durch ein Handeln, und Handeln läßt sich nicht ohne den Gedanken eines Zweckes denken, der dadurch erreicht werden soll. Und auch wenn der unmittelbare Zweck des Künstlers ein anderer, vielleicht äußerst profaner gewesen sein mag, so ist sein Zweck doch immer auch gewesen, ein Kunstwerk herzustellen – also einen Gegenstand, der erst – über die »sinnlich-reale« Vordergrundschicht hinaus – durch das ›Fürsichsein‹ des Geistes, das er ermöglicht, zu demjenigen wird, was er ist.
III. ›Geschichtsmetaphysik‹ und Phänomenologie der Geschichte Handeln: Dieses Stichwort leitet zurück zu einem für Hegel wie für Hartmann gleichermaßen zentralen Thema. Mit der Konzeptualisierung des ›objektiven Geistes‹ verbinden beide ja noch eine weitere, hier bisher vernachlässigte Einsicht – eine Einsicht und keine bloße Ansicht: Der ›objektive Geist‹ – und nur der ›objektive Geist‹, nicht der ›personale‹ und auch nicht der im Kunstwerk ›objektivierte‹ Geist! – ist ›geschichtlicher Geist‹. Dieser ist also kein ›weiterer Geist‹ neben dem ›objektiven‹; mit dem Begriff des ›geschichtlichen Geistes‹ ist vielmehr lediglich eine hervorstechende Eigenschaft des ›objektiven Geistes‹ hervorgehoben. Im
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strengen Sinne hat auch nur der ›objektive Geist‹ Geschichte, und auch alles nicht-geistige Sein – ein Berg, ein Bauwerk – hat ›Geschichte‹ nur in dem Maße, als es eine geistige Seite hat, mit der es in den ›objektiven Geist‹ hineinreicht. Hartmann spricht mehrfach geradezu identifi zierend vom ›objektiven oder geschichtlichen Geist‹: »Der objektive Geist in allen seinen Formen und Teilgebieten hat geschichtliche Realität, Sein in begrenzter Zeit, Gebundenheit seiner Existenz an sie.«52 Hegel ist es gewesen, der diese Verbindung von ›Geist‹ und ›Geschichte‹ erstmals nicht allein ins Bewußtsein gehoben hat (da ließe sich auch an Herder denken), sondern der diese Verbindung begriffl ich expliziert und systematisch verankert hat – und dies ist Hartmann auch sehr wohl bewußt gewesen. Er hält zwar einmal fest, die Erkenntnis, daß aller Geist Geschichte habe, sei eine »affi rmative Grundeinsicht des Historismus« – und dies sei ungeachtet der »Auswüchse« des Historismus hochzuschätzen. 53 Dies trifft sicherlich zu – aber es ist natürlich zunächst einmal eine »affi rmative Grundeinsicht« Hegels. Hartmann zögert auch keineswegs, dies anzuerkennen: Er nennt Hegel ja nicht allein den »Entdecker des objektiven Geistes«, sondern gerade auch des Geistes als des geschichtlichen Geistes: »für ihn prägte er diesen Terminus. Auf ihn bezog er das geschichtliche Geschehen, in ihm erblickte er den eigentlichen Geschichtsträger, den Schöpfer von Recht und Moral, Gemeinschaftsorganisation und Staat, Bildung, Zivilisation und Kultur. Denn diese Gebilde« – diese geistigen Gebilde, hätte er sagen können – »sind es, die Geschichte haben.«54 Auch zuvor schon bekräft igt Hartmann: »Die Hegelsche Philosophie hat einen Abschluß dieses gedanklichen Ringens gebracht, der die Einseitigkeiten der Vorgänger weit hinter sich läßt und an Großartigkeit alles übertrifft, was die Philosophie im Geschichtsproblem hervorgebracht hat.«55 Und dies ist kein bloßes und wohlfeiles Lippenbekenntnis: Auch mit dem Verständnis des ›objektiven‹ als des ›geschichtlichen Geistes‹, ja indem er »Das Problem des geistigen Seins« in der Perspektive von »Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften« (so der Untertitel) abhandelt, steht Hartmann – wie kein zweiter Denker des zwanzigsten Jahrhunderts! – in der Tradition Hegels. Doch trotz – vielleicht ja auch gerade wegen – dieser Nähe zur Geistesphilosophie und zur Geschichtsphilosophie Hegels ist Hartmann bestrebt, sein als ›phänomenologisch‹ verstandenes Konzept von Geschichtsphilo52 53 54 55
Ib., 195. Ib., 43. Ib., 198. Ib., 6.
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sophie erkennbar gegen Hegels »spekulative Metaphysik des Geistes« und der Geschichte abzugrenzen. Nicht allein die Anknüpfung an Hegel, auch die Abgrenzung von ihm durchziehen Hartmanns Werk, gleichsam von der ersten bis zur letzten Seite. Verdichtet sind sie, was die Geschichtsphilosophie betrifft , in den zwölf Thesen, in denen Hartmann einleitend die Grundlinien der Geschichtsphilosophie Hegels skizziert, und in den – ebenfalls zwölf – »Gegenthesen«, mit denen er sie im weiteren Fortgang kontrastiert. 56 In ihnen sucht Hartmann, ausdrücklich aus der Perspektive des Epigonen heraus, Distanz zu dem, was er »Hegels Metaphysik des Geistes« nennt. Seine eigene Methode versteht er als phänomenologisch, als beschreibend und auf unmittelbare Evidenzen zielend – und er versteht sie mit gutem Recht als eine gegenüber Hegel von Grund auf neue Erarbeitung und Beschreibung des Phänomens. 57 »Der objektive Geist«, so Hartmanns Auskunft , »in allen seinen Formen und Teilgebieten hat geschichtliche Realität, Sein in begrenzter Zeit, Gebundenheit seiner Existenz an sie«; 58 er »hat Geschichte, hat ein Dasein in bestimmter Zeit; er kommt auf, entwickelt sich und verschwindet wieder von der Bildfläche des geschichtlichen Lebens«. 59 Diese Bestimmungen sind allerdings noch wenig spezifisch; sie treffen im wesentlichen bereits auf Naturprozesse zu. Hartmann betont jedoch: »Nur der objektive Geist ist Geschichtsträger im strengen und primären Sinn; nur er ist es, der eigentlich ›Geschichte hat‹. […] Seine Wandlungen und Schicksale sind der geschichtliche Wandel und das geschichtliche Schicksal.«60 Doch wie läßt sich verstehen, daß dies so ist – und weiter: Wie läßt sich verstehen, daß diese Bewegung des Geistes und insbesondere des objektiven Geistes eine andere Verlaufsform hat als das Anfangen, Sichentwickeln und Vergehen des Organischen? Und selbst abgesehen von der notwendigen Abgrenzung vom organischen Sein: ›Geschichte‹ ist (für Hartmann wie für Hegel) auch nicht schon mit der »Individualität« oder mit der »Lebendigkeit« oder mit der »Existenz« und nicht einmal mit der »Zeitlichkeit« gegeben – denn auch der ›personale Geist‹ ist »individueller« und »lebendiger Geist« und hat Existenz, und er ist auch der Zeit – der einen Zeit, wie Hartmann betont – unterworfen: Aber der Lebenszusammenhang des personalen Geistes ist noch etwas anderes als ›Geschichte‹. Der ›subjektive‹ wie auch der ›personale Geist‹ haben für Hegel wie für 56 57 58 59 60
Ib., 6–9 bzw. 199–205. Ib., 199. Ib., 195. Ib., 194. Ib., 73.
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Hartmann keine Geschichte – zumindest nicht in einem der Geschichte des ›objektiven Geistes‹ vergleichbaren Sinn (und Gleiches gilt bei Hartmann für den »objektivierten Geist«, also für Kunstwerke und ähnliches). Dabei scheint der methodisch-bescheidenere Anspruch Hartmanns insofern einen Vorzug zu bieten, als er sich auf eine »bloße Beschreibung« des Phänomens beschränken und sich Ausführungen darüber ersparen kann, warum dies so ist – warum nur der Geist und sogar nur der ›objektive Geist‹ durch »Geschichtlichkeit« ausgezeichnet ist – wobei es allerdings philosophisch interessanter ist, sich diese Frage nicht zu ersparen, sondern sich um eine Antwort zu bemühen. In einem – sprachlich etwas verunglückten – Passus scheint dies für Hartmann letztlich nur ein Problem der Zeiterstreckung oder auch ein terminologisches Problem zu sein: »Die Zeitlichkeit und Vergänglichkeit« teile der objektive Geist »wie mit allem Lebendigen (auch dem geistlosen), so auch mit dem lebenden personalen Geiste. Sein Leben bewegt sich nur in anderem Tempo. Die größeren Zeitmaße eben sind die geschichtlichen.«61 Wäre dies eine erschöpfende Antwort, so wäre Geschichte allerdings hinreichend erfaßt, wenn man sie als diejenige Zeitlichkeit und Vergänglichkeit des Geistes ansähe, die sich lediglich durch ihre längere Dauer und ihren langsameren Entwicklungsrhythmus vom Leben des personalen Geistes unterschiede. Doch der Geschichtscharakter hängt – auch für Hartmann – letztlich nicht allein an dieser längeren Zeiterstreckung und am »Tempo«, sondern an anderen Bedingungen. Die Einheit eines menschlichen Lebens ist primär eine natürliche Einheit, zumindest ist sie nicht ablösbar von der natürlichen Einheit; geschichtliche Einheiten sind aber immer geistige Einheiten, und dies schon deshalb, weil ja auch ›Geschichte‹ im Unterschied zum einzelnen Geschehen nichts Reales, sondern etwas Geistiges ist – ein »Begriff«, und verständlicher Weise ein erst sehr spät, unter spezifischen gedanklichen Bedingungen erarbeiteter Begriff. Auch in diesem Aspekt stimmt Hartmann mit Hegel überein: Von ›Geschichte‹ ist nicht schon dort zu sprechen, wo Ereignisse, Geschehnisse vorliegen, aber auch nicht dort, wo diese Ereignisse berichtet werden, wo von ihnen erzählt wird – obschon hier fraglos die Wurzel des Wortes liegt. Doch Erzählung von Ereignissen ist nicht ›Geschichte‹. ›Geschichte‹ ist nicht Erzählung, sondern primär der Zusammenhang, der Gegenstand von Erzählung sein kann – und dieser Zusammenhang ist weder die Summe der erzählten Ereignisse noch ihr realer Zusammenhang, sondern er ist ein gedachter, ein begriffener Zusammenhang. 61
Ib.
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Auch Hartmann versteht unter ›Geschichte‹ nicht die einzelnen Geschehnisse und sogar »streng genommen, auch nicht die Teilprozesse, wie sie sich auf den einzelnen Geistesgebieten abspielen, sondern erst ihre Überschneidung, ihr Ineinandergreifen, ihre Schichtung und Wechselbedingtheit in einer Zeit und einem Gesamtgeschehen, kurz ihre konkrete Einheit.« Eine solche »konkrete Einheit« ist aber fraglos nichts Reales, sondern etwas Gedachtes, also nicht ein realer, sondern ein geistiger Zusammenhang, eine geistige Wirklichkeit. Und nicht schon dort, wo ein realer Zusammenhang besteht (der ja gar nicht als Geschichte gedacht zu sein braucht), sondern allein dort, wo ein solcher geistiger Zusammenhang herausgearbeitet und gedacht wird, ist im vollen Sinne von ›Geschichte‹ zu sprechen – und dies nicht nur im Kontext des philosophischen Geschichtsbegriffs, wie Hegel und Hartmann ihn ausgebildet haben, sondern überhaupt in dem spezifisch modernen, erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts herausgebildeten und philosophisch gehaltvollen Sinn. Hartmanns phänomenologische »Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie« gelten den »Bedingungen der Struktur des Geschichtsprozesses, die selbst keine geschichtlichen Bedingungen sind« und die »in Wesensstrukturen – sei es des geistigen Seins überhaupt, sei es der Geistesgebiete oder ihres Verhältnisses zueinander« liegen – und er hat auf diesem Gebiet mehr geleistet als andere. Und dennoch: Seine »Untersuchungen« bieten wenig Einsicht in die Vermittlung zwischen diesen »Bedingungen der Struktur des Geschichtsprozesses«, zwischen den von ihm angesprochenen »Wesensstrukturen« und dem ›Geschichtsprozeß‹ selbst. Dies dürfte damit zusammenhängen, daß Hartmann die Frage, warum der ›objektive Geist‹ und nur der ›objektive Geist‹ Geschichte hat, nur anklingen läßt, aber keine ausführliche Antwort auf sie gibt. Daß, wie er schreibt, alles Reale in der Zeit sei, reicht, wie er weiß, hierfür bei weitem nicht aus – denn dies gilt auch für den ›personalen Geist‹ und selbst für die Materie und das Organische, und dies um so mehr, als Hartmann ja nicht zwischen ›physikalischer Zeit‹ und ›Geschichtszeit‹ unterscheidet; vielmehr betont er mit impliziter, aber deutlicher Wendung gegen Heidegger, daß es nur eine Zeit gebe, die für alle Schichten des Realen identisch sei; die Zeitlichkeit verbinde »den lebenden Geist mit dem geistlosen Sein«, 62 und Gleiches gelte für »Prozessualität«. So muß das den Ausschlag gebende Konstituens für ›Geschichte‹ also auf anderem Gebiet zu suchen sein. Allerdings rückt Hartmanns Beschreibung den Geschichtsprozeß sprachlich doch wieder erstaunlich nahe an den Naturprozeß und an 62
Ib., 85–87.
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die Entwicklung des ›personalen Geistes‹ heran – nicht nur mit seiner Rede vom Aufkommen, Entwickeln und Verschwinden, sondern indem er – wie auch Hegel in den schwächsten Passagen seiner Geschichtsphilosophie – die traditionelle Lebensalter-Metaphorik aufgreift und auch an anderer Stelle nochmals bekräft igt, daß es einen »charakteristischen Unterschied von Frühzeit, Höhe und Niedergang gibt«, der »wie beim Individuum« von Perioden »des vitalen Lebens unterbaut« sei. 63 Und der Lebensprozeß des Einzelnen sei, so Hartmann, »der abgekürzte Prozeß der geschichtlichen Menschwerdung«64 – womit die Akzente doch wohl verschoben sind. Damit spricht er aber wiederum sowohl dem Natürlichen als auch dem Quantitativen eine Schlüsselstellung für die Entwicklungsform der Geschichte zu – obgleich er doch nur den ›objektiven‹ als den ›geschichtlichen Geist‹ verstehen will. Und selbst wenn Hartmann betont: »Im Grunde aber ist jeder geschichtlich-geistige Entwicklungsgang ein dynamischer Gestaltungsprozeß objektiven Geistes, und stets ringt in ihm eigene innere Determination mit einer Fülle äußerer Faktoren«, 65 so läßt sich dies problemlos auch auf den personalen Geist beziehen, für den ja ebenfalls die Prozesse der »Selbstgestaltung« und »Selbstverwirklichung« charakteristisch sind – und auch für diesen personalen gilt, daß der Geist stets »erst im Laufe seiner Entwicklung« erfährt, »was eigentlich er ist«. 66 Doch worin unterscheidet sich die geschichtliche Entwicklung nicht allein als geistige von der natürlichen, sondern wodurch unterscheidet sich die Entwicklung des personalen von der des objektiven Geistes – und vor allem: Wie kommt es überhaupt zur Ausbildung des geistigen Zusammenhangs, den wir ›Geschichte‹ nennen? Es ist eigentümlich, daß Hartmann Hegels Wort »Geschichtlichkeit« zwar geläufig verwendet, daß er ihm aber nicht die systematische Bedeutung für die Genese von Geschichte zuerkennt, die Hegel ihm gegeben hat. »Geschichtlichkeit« bezeichnet bei Hegel ja eine spezifische Disposition des menschlichen Geistes: das Ineinanderfallen von Zeitlichkeit und Reflexion auf Zeitlichkeit, das Bestimmtsein und sich als bestimmt Wissen durch die Kette der Ereignisse, aber auch das Moment der Distanz ihr gegenüber, das durch eben dieses erinnernde Wissen geschaffen wird: das Wissen, daß, was wir sind, wir nur geschichtlich sind 67 – aber eben damit auch das Wissen, daß diese
Ib., 202 f., 291. Ib., 290. 65 Ib., 292. 66 Ib., 104, 98. 67 Vgl. Jaeschke: Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule, Stuttgart 2003, aktualisierte Neuauflage 2010, 404–406. 63
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Bestimmtheit nicht eine von der Natur gesetzte Schranke ist, sondern sich der Freiheit verdankt, und das deshalb zugleich eine Sphäre des Handelns eröff net. Hartmanns »Grundlegung der Geschichtsphilosophie« läßt jedoch nicht allein diesen Begriff der Geschichtlichkeit vermissen, sondern auch noch den anderen soeben berührten Begriff: den des Handelns. Und auch wenn sich vom Begriff des Handelns her fraglos nicht alle Probleme der Geschichtsphilosophie aufschlüsseln lassen: Ohne den Begriff des Handelns wird eine Geschichtsphilosophie schwerlich auskommen – gerade wenn sie nicht bloß luft ige Behauptungen über Anfang, Sinn und Ende der Geschichte aufstellen, sondern die Bewegung der Geschichte verständlich machen möchte – selbst wenn sie diese letztlich ebenfalls als ›labyrinthisch-irren Lauf‹ beschreiben sollte. Und es hat mit dieser Absenz des Begriffs des Handelns zu tun, daß noch ein weiterer, zumindest in der Perspektive der Geschichtsphilosophie Hegels zu erwartender Begriff hier zwar nicht gänzlich fehlt, aber doch in seinem Rang und in seiner Reichweite deutlich herabgemindert ist: der Begriff des Zwecks. Hier allerdings dürfte der Schlüssel auch für die Absenz des Handlungsbegriffs liegen. Doch eben wegen des Fehlens dieses Zusammenhangs von Handeln und Zweck kann Hartmann in seiner »Grundlegung der Geschichtsphilosophie« nur konstatieren, daß der ›objektive Geist‹ der ›geschichtliche Geist‹ – im Sinne einer ›Bewegtheit‹ – sei; er kann aber nicht plausibel machen, wie es kommt, daß der ›objektive Geist‹ der ›geschichtliche Geist‹ ist und eine Geschichte hat. Dem Begriff des Zwecks bringt Hartmann nicht allein eine theoretische Geringschätzung, sondern eine schlecht verhüllte Aversion entgegen – und dies nicht erst in seinem nachgelassenen Werk über das ›teleologische Denken‹. 68 Denn hinter ihm wittert er – selbst bei Kant! – die geschichtliche Synthese des Aristotelischen Nous mit dem christlich-persönlichen Gottesbegriff. Schelling lasse gar im System des transscendentalen Idealismus »ohne Bedenken Gott als Lenker in der Geschichte walten«; bei Fichte sei dieser teleologische Gedanke besser »hinter den Schicksalen der ›Vernunft‹ in der Geschichte« versteckt, und »noch mehr verhüllt tritt er bei Hegel auf« – doch es erübrige sich, »diese konstruktiven Theorien einer Kritik zu unterwerfen«. 69 In Hartmanns Augen sind sie durch ihre theologischen Wurzeln hinreichend diskreditiert. Und diese Überzeugung erlaubt es ihm auch nicht mehr, das diffizile Verhältnis von zweckgerichteter Tätigkeit der Individuen und zweckgerichtetem Verlauf der 68 69
Hartmann: Teleologisches Denken, 1. Aufl . Berlin 1951, 2. Aufl . 1966. Hartmann: Problem des geistigen Seins, a. a. O., 308 f.
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Geschichte näher zu erkunden, in dem der Nerv von Hegels Aussagen über einen ›Zweck der Geschichte‹ liegt: daß die Zwecke, die die einzelnen Individuen, aber auch die Staatenindividuen verfolgen, aus ihrem Willen, also aus ihrem freien Willen hervorgehen, durch ihn gesetzt werden, und daß sie deshalb – neben all ihren Zielen, auf deren Realisierung sie unmittelbar gerichtet sind – immer auch auf die Verwirklichung von Freiheit zielen und diese Richtung auf Freiheit in der Interaktion der freien Willen (und selbst im Kampf der freien Willen gegeneinander) nicht gänzlich verlorengehen kann und deshalb im langen Lauf der Weltgeschichte (für die tausend Jahre wie ein Tag sind) Wirklichkeit gewinnt. Und diese Annahme unterstützt Hegel nicht durch einen ›metaphysischen Beweis‹, sondern durch einen weiten und geduldigen Gang durch die Weltgeschichte und insbesondere die Verfassungsgeschichte. Nun schließt Hartmann den Zweckbegriff – anders als den des Handelns – keineswegs vollständig aus seiner »Grundlegung der Geschichtsphilosophie« aus. Er weiß natürlich, daß Individuen sich Zwecke setzen und ihre Zwecke verfolgen. Er sucht jedoch diese Zwecksetzung auf die Ebene der Individuen, also des ›personalen Geistes‹, zu beschränken und sie dem ›objektiven Geist‹ abzusprechen: Der Gang der Geschichte könne nicht im Großen, sondern »nur im Kleinen zweckgerecht geleitet« sein, und die Weltgeschichte lasse »sich verstehen als das Ringen des Geistes mit diesem seinem inneren Mißgeschick«; »der zwecktätige Geist – den es wohl gibt – ist nicht der objektive, und der objektive ist nicht zwecktätig«. Diese scharfe Trennlinie verwundert allerdings angesichts der engen Verflechtung und Wechselbeziehung, die Hartmann zwischen dem ›personalen‹ und dem ›objektiven Geist‹ sonst so häufig konstatiert. Doch gleichsam als äußerstes Zugeständnis an den Zweckbegriff räumt Hartmann ein, »daß zwecktätiger und objektiver Geist sich immer nur ergänzen, aber nicht identisch werden können«.70 Dies letztere sicherlich nicht – aber schon auf Grund solcher wechselseitigen ›Ergänzung‹ wird der Zweckbegriff auch in die Sphäre des ›objektiven Geistes‹ introduziert. Und weil der ›objektive Geist‹ sein Bewußtsein letztlich im ›personalen Geist‹ hat, fi ndet sich der Zweckgedanke gleicherweise in beiden »Grundgestalten« des Geistes. Staaten pflegen nicht weniger zweckrational zu handeln als Individuen – vielleicht ja sogar noch in höherem Maße. Daraus ist – schon wegen der Divergenz der jeweils gesetzten Zwecke – sicherlich nicht zu folgern, daß Geschichte insgesamt zweckgeleitet verlaufe. Insofern bestehen Hartmanns Bedenken fraglos zu Recht.71 Doch dürfte es – gerade auch für 70 71
Ib., 328–330. Ib. 328: »Das politische Geschick der Völker ist im großen Ganzen nicht
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einen phänomenologischen Ansatz! – verfehlt sein, die Existenz solcher Zwecke und solchen zweckgerichteten Handelns auf der Ebene des ›objektiven Geistes‹ zu bestreiten. Es ist deshalb eine etwas irrationale ›Furcht vor der Metaphysik‹, vor der »Charybdis« »der Hegelschen Geistmetaphysik«,72 die Hartmann an vielen Stellen und gerade auch im Kontext des Zweckproblems die Feder führt; genauer: Die auch sonst im 20. Jahrhundert mehrfach anzutreffende Furcht, der Nähe zur Metaphysik verdächtigt zu werden, veranlaßt auch ihn dazu, eine möglichst tiefe Kluft zwischen den eigenen Ansatz und die frühere ›metaphysische‹ Form dieses Gedankens zu legen – und dies um so mehr, je näher er sich inhaltlich diesem früheren Ansatz weiß. Dies betrifft den Geschichtsbegriff; es betrifft zunächst aber allgemein den Geistbegriff. Man muß es aber wohl als eine Erscheinungsform von Dialektik ansehen, daß diese Furcht nicht allein eine solche Fluchtbewegung veranlaßt, sondern daß sie zugleich dazu führt, demjenigen, das man perhorresziert und fl ieht, allererst einen metaphysischen Charakter anzudichten – ihm die Krätze zu geben, um es kratzen zu können, wie Hegel gelegentlich mit Lessing sagt.73 Dies ist, wie gesagt, keine Idiosynkrasie Hartmanns, sondern ein Grundzug der philosophischen Rezeption des 20. Jahrhunderts, und er ist so verbreitet und beliebt, weil er zumindest ein gutes Gewissen macht – und daneben den Vorteil hat, daß der lautstarke Protest gegen die Metaphysik die eigene Nähe zu ihr überspielt. Eine solche größere Metaphysik-Nähe der sich als ›phänomenologisch‹ und ›empirisch‹ verstehenden Position Hartmanns dürfte bereits darin liegen, daß er den Produktcharakter des ›objektiven Geistes‹ nicht berücksichtigt – und deshalb vom bloßen Vorhandensein des ›objektiven‹ oder ›geschichtlichen Geistes‹ ausgehen muß. Es ist ja richtig: Für Hegel ist ›objektiver Geist‹ eine ›höhere Form geistigen Seins‹, wie auch für Hartmann – aber sie ist eben doch eine insgesamt vom ›subjektiven‹ zweckgeleitet, nicht vom Bewußtsein zusammengehalten, überwacht und erfaßten Aufgaben gemäß gesteuert. Es ist, im Großen gesehen, ebensosehr Verfehlen als Treffen, in seinen Abläufen ebensosehr sinnwidrig als sinnerfüllend. Es ist einer Fülle unbekannter, undurchschauter, ja vielfach ganz ungeahnter Mächte preisgegeben. Nur zum geringsten Teil sind es Mächte ›äußeren‹ Ursprungs, zum größten Teil sind es solche, die von innerer Entwicklung der Verhältnisse im Staate selbst hervorgetrieben werden. Aber zumeist sind es Mächte, die erst greifbar werden, wenn sie schon gewirkt, schon eine Situation geschaffen haben, die der Mensch dann nur noch erkennen, nicht aber aufh alten kann.« – Anders hat Hegel dies – trotz seines Festhaltens am Zweckbegriff ! – auch nicht gesagt. 72 Ib., 74. 73 Hegel: V 3, 161 mit Anm.
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oder ›personalen Geist‹ hervorgebrachte. Hartmann spricht davon, daß die »Vernunft metaphysik des Idealismus« bei Hegel in eine »Metaphysik des Geistes« übergehe, daß Hegel eine »allgemeine Geist-Substanz mit eigener Seinsweise und eigenem Leben« annehme 74 – doch mit dem Wort ›Substanz‹, das im 20. Jahrhundert zum Reizwort geworden ist, ähnlich wie »Wesen«, ist ja von Hegel hier nicht mehr ausgesagt als mit Hartmanns Behauptung, daß es eine Seinsschicht, genannt Geist, gebe. ›Substanz‹ nennt Hegel etwa den Volksgeist (in seiner frühen Zeit, so lange dieser Begriff bei ihm überhaupt eine tragende systematische Stellung hat) – und zwar eben deshalb, weil das einzelne Individuum in diesen allgemeinen Geist hineingeboren und durch ihn getragen wird, den es schließlich selber trägt und weiterbildet – und damit ist nichts anderes gesagt, als wenn Hartmann formuliert: »Das Charakteristische für geistiges Leben ist gerade dieses, daß die Einzelindividuen gar nicht für sich bestehen, ein isoliertes reales Dasein außerhalb der gemeinsamen geistigen Lebenssphäre also gar nicht haben.«75 Eben dieses – empirisch-phänomenologisch ja auch nachweisbare – Verhältnis nennt Hegel ›Substanzialität‹ – und deshalb ist Hartmanns Warnung vor der »Gefahr der Hegelschen Geistmetaphysik«76 gegenstandslos. Der ›phänomenologische‹ Ansatz kommt hier zu keinem anderen Resultat als der ›metaphysikverdächtige‹. Vor allem aber ignoriert Hartmann, daß Hegel dieses »eigene Leben« des Geistes weit enger an den einzelnen Geist zurückbindet und insofern sogar weniger ›metaphysisch‹ argumentiert als er selber. Und selbst wenn Hartmann schließlich beim ›objektiven Geist‹ ein »Miteinander und Ineinander von Individuum und objektivem Geist«, eine »koordinierte Wechselbedingtheit«, ein »gegenseitiges« »Tragen und Getragensein« zwischen »personalem und objektivem Geist« konstatiert,77 so kommen hierin doch die Erzeugung dieses Verhältnisses und die spezifisch unterschiedlichen Formen dieses Tragens und Getragenwerdens nicht zur Sprache. – Analog wäre mit Blick auf das Verhältnis des Geistes zur materiellen und organischen Natur zu argumentieren. »Als metaphysische Konstruktion sind alle diejenigen Züge dieser – sc. Hegelschen – Theorie zu bezeichnen, die den Boden des Aufweisbaren verlassen, – also alle, die von der Geist-Substanz handeln oder sie voraussetzen«. Dies allerdings dürfte – wie eben angedeutet – eher ein terminologisches Problem sein: Hegel spricht eben auch dort von ›Substanz‹, wo 74 75 76 77
Hartmann: Problem des geistigen Seins, a. a. O., 6. Ib., 69. Ib., 74. Ib., 75 f. bzw. 200.
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er nichts anderes als das bezeichnet, was Hartmann ›geistiges Sein‹ nennt – und insofern genießt die ›phänomenologische‹ Position keinen Vorzug gegenüber der als »metaphysische Konstruktion« bezeichneten und mit dieser Wortwahl auch schon diskreditierten. Aber Hartmanns Satz ist noch nicht zu Ende; er fährt fort: Als metaphysische Züge bezeichne er »ferner alle, die von der Zweckrichtung, Vorsehung oder Vernunft in der Geschichte sprechen oder darauf basieren; schließlich alle, welche den Optimismus eindeutigen Fortschritts betreffen.« Wie steht es in dieser Hinsicht um den Vorzug des sich selbst als ›phänomenologisch‹ verstehenden Ansatzes gegenüber dem metaphysikverdächtigen? Zunächst: ›Vorsehung‹ ist kein metaphysischer, sondern ein theologischer Begriff, und Hegel gibt sich in seiner Geschichtsphilosophie nicht wenig Mühe, ihn auf elegante Weise zur Seite zu schieben und zu diskreditieren.78 Darüber ist kein weiteres Wort zu verlieren. Doch wie steht es um den »Zweck« und um die »Vernunft in der Geschichte«? Hartmann zählt sie zu den Dingen, die »den Boden des Aufweisbaren verlassen« und deshalb aus einer phänomenologischen Geschichtsphilosophie auszuschließen seien. Daß man ihre Existenz nicht einfach ex cathedra dekretieren kann, ist unstrittig – doch sollte es wirklich so gar keine Anhaltspunkte für sie geben? Eines muß zumindest zu denken geben: Der sogenannte ›Metaphysiker‹ Hegel hält mehrere semesterlange Vorlesungen über »Philosophie der Weltgeschichte« (und vergleichbare Gebiete), in denen es empirisch genug zugeht, um solchen »Zweck« und solche »Vernunft« aus dem empirischen Material heraus anschaulich werden zu lassen; der ›Phänomenologe‹ Hartmann hingegen deklariert – nun wirklich ex cathedra und ohne derartiges empirisches Fundament! –, daß es dergleichen nicht gebe. Und auf Grund dieser dogmatisch vorgetragenen Überzeugung macht er sich auch gar nicht mehr die Mühe, Hegels Argumente für die Annahme einer Zweckbeziehung – und eines (übrigens gerade für Hegel sehr begrenzten) Fortschritts – in der Geschichte zu erwägen. Sogar in seiner philosophiegeschichtlichen Darstellung unterstellt Hartmann einmal, wie oben erwähnt, der Geschichtsprozeß sei für Hegel »dieses fortschreitende Verschwinden des Negativen«.79 Doch nichts trifft weniger zu. Hegel wendet sich vielmehr mit beißender Ironie gegen Fichtes »Ideal der moralischen Weltordnung«, daß »die Vulcane u.s.w. nicht immerdar so bleiben wie sie annoch sind, daß jene nach und nach ausbrennen, die Orcane zahmer, die Krankheiten weniger schmerzhaft, der Dunstkreis der
78 79
Hegel: Philosophie der Weltgeschichte. Einleitung 1830/31, GW 18, 146–149. Hartmann: Philosophie des deutschen Idealismus, a. a. O., 541.
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Wälder und Sümpfe verbessert werde u.s.w.« 80 Von solchem ›Fortschritt‹ also kann bei Hegel keine Rede sein. Der einzige Fortschritt, den er kennt, ist der »Fortschritt im Bewußtseyn der Freiheit« – und dies ist (man kann es nicht oft genug betonen, weil es fast stets mißverstanden wird) nicht der Fortschritt, daß es jeden neuen Tag ein Stückchen freiheitlicher zugehe in der Welt, sondern daß das Bewußtsein darüber fortschreitet, daß die geistige Welt als ganze aus Freiheit errichtet sei – daß alles, was frühere Generationen der ›Natur‹ oder ›Gott‹ zugeschrieben haben – das Recht, die Institutionen –, aus Freiheit hervorgebracht sei. Ähnliches ist mit Blick auf Hartmanns dezidierte Erklärung zu bedenken, daß die »Vernunft in der Geschichte« allein die individuelle Vernunft sei. Dies überrascht zumindest angesichts seiner hellsichtigen, begrüßenswerten Ausführungen über das enge Verhältnis des personalen und des objektiven Geistes. Wenn dieses Verhältnis wirklich durch ein solches ›Ineinander‹ geprägt ist, wie Hartmann schreibt – und mit Recht schreibt! –, dann muß es doch verwundern, daß die individuelle Vernunft sich in dieser engen Wechselbeziehung dem ›objektiven Geist‹ so wenig mitteilen soll und daß es nicht, etwa über die Ausbildung von Institutionen (die ja selber ›objektiver Geist‹ sind!) zur Ausbildung einer ›öffentlichen Vernunft‹ kommen soll, die sehr wohl – und aus sehr ›empirischen‹ Gründen – von der ›individuellen Vernunft‹ zu unterscheiden ist. Und dies ist um so mehr anzunehmen, als Hartmann andererseits sogar von einer »Autonomie« der jeweils höheren Seinsschicht spricht, ja von einer »Eigengesetzlichkeit des Geistes«. 81 Doch eben diese »Eigengesetzlichkeit« des autonomen Geistes nennt Hegel seine »Vernunft«. Ohne Zweifel hat Hartmann sehr viel – und mehr als andere im 20. Jahrhundert! – geleistet, um die Eigentümlichkeit und die »Eigengesetzlichkeit des Geistes« zu erkennen. Deshalb sei hier am Schluß die gar nicht so kurze Reihe seiner Mißverständnisse des Hegelschen Geschichtsbegriffs auch nicht weiter verlängert, sondern nur ein Punkt nochmals hervorgehoben, der vorhin bereits berührt worden ist: Das Verhältnis von ›Metaphysik‹ und ›Phänomenologie‹ ist bei Hartmann – und auch sonst mehrfach im 20. Jahrhundert! – keineswegs so eindeutig, wie diese vermeintlich so klare Kontrastierung glauben machen will; ja, der angeblich ›metaphysische‹ Ansatz Hegels ist empirisch sehr viel breiter und besser abgesichert als die ›phänomenologische‹ Konzeption, die sich ihm gegenüber als die bessere und zeitgemäße Alternative empfehlen möchte. Und
80 81
Hegel: Glauben und Wissen (1802), GW 4, 407. Hartmann: Problem des geistigen Seins, a. a. O., 60.
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die Furcht, in metaphysische Fangnetze zu geraten, verstellt dem Phänomenologen gelegentlich den Blick auf die Erscheinungen, an denen er sich zu orientieren vorgibt. Doch es kommt – hier wie auch sonst – nicht auf die griffigen Etikettierungen und Diskreditierungsmechanismen an, sondern auf die Durcharbeitung einer Konzeption. Und ohnehin steht zu befürchten, daß ein Ansatz, der Geschichte vom »Problem des geistigen Seins« her versteht, heute selber als ›Metaphysik des Geistes‹ gebrandmarkt wird – auch wenn er seinen phänomenologischen Charakter beteuert. Doch wie man ihn auch immer etikettieren möchte: Entscheidend ist der Beitrag, den diese ›geistesphilosophische Grundlegung‹ auf dem von Hegel gewiesenen Weg für das Verständnis sowohl des Geistes als auch der Geschichte geleistet hat.
Aus Phänomenologie mach Dialektik. Jean-Paul Sartres Anverwandlung Hegels Holger Glinka in memoriam Heinz Schneemann (1944–2010)
Wenn der vorliegende Sammelband die Bedeutung Hegels für die Philosophie des 20. Jahrhunderts zu ermessen sucht, dann liegt, wie sich noch zeigen wird, das Thema ›Hegel bei Sartre‹ nicht unmittelbar nahe. Denn auf den ersten Blick scheinen die Spuren, welche die Auseinandersetzung mit Hegel in Sartres Werk hinterlassen haben, nicht sonderlich tief zu sein.1 Sogar ließe sich treffl ich darüber streiten, ob Jean-Paul Sartre (1905–1980) primär überhaupt als Philosoph zu gelten habe 2 – seine philosophischen Arbeiten bezeichnet er selber auch einmal als »Krebsgeschwür«3 –, umfaßt doch sein beinahe überbordendes und gattungsübergreifendes Gesamtwerk – Sartre selbst spricht von »Schreibneurose«4 – neben philosophischen Schriften mehr noch Romane und Erzählungen, Als neuerliches Indiz hierfür taugt beispielsweise ein fehlender Aufsatz zu Sartres Hegel-Adaption in: Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Der französische Hegel, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 12, Berlin 2007. – Zur Zitation der Werke Sartres siehe die am Ende dieser Abhandlung entschlüsselte Siglierung. 2 Sartre selber beantwortet die Frage, ob er Philosoph oder Literat sei, salomonisch. – Siehe Obliques. Sondernummer 18–19, Paris 1978. – François Ewald erfaßt das grundsätzliche Problem: »Der Existentialismus führt einen neuen Stil in die Philosophie ein, denn sobald der Philosoph in Person in seiner Philosophie anwesend ist, sind die Gegensätze zwischen Literatur und Wissenschaft, Philosophie und Politik hinfällig, und es entwickelt sich eine nichtuniversitäre Denkweise.« – Siehe Magazine littéraire. Nr. 320, April 1994. – Hegel warnt in seiner Phänomenologie des Geistes ausdrücklich davor, nach dem Beispiel religiöser Schwärmer (und mancher Poeten, wäre hier zu ergänzen) Philosophie »erbaulich« zu betreiben (siehe Hegel: GW 9, 14) – und es impliziert selbstredend keinen Widerspruch, sich in Vorlesungen über die Philosophie der Kunst (in vier Berliner Phasen 1820–1829) wie auch andernorts ausführlich mit Gegenwart und Geschichte der schönen Literatur zu befassen. 3 In der Rückschau dann etwas zurückhaltender in: Simone de Beauvoir: Die Zeremonie des Abschieds und Gespräche mit Jean-Paul Sartre. August–September 1974, deutsch von Uli Aumüller u. Eva Moldenhauer, Hamburg 1983, 208 f.; siehe auch: 190. 4 Siehe Simone de Beauvoir: Die Zeremonie des Abschieds und Gespräche mit Jean-Paul Sartre, a. a. O., 36. 1
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Theaterstücke, Schriften zu Theater und Film, Drehbücher, Schriften zur Literatur, politische Schriften, Schriften zur bildenden Kunst und Musik, Reisebetrachtungen, Briefe, Tagebücher und autobiographische Schriften. Weltweit Aufsehen erregt der mittlerweile mit hohen nationalen und internationalen Ehrungen dekorierte Sartre, als er 1964 den ihm für Les Mots (1963) zuerkannten Nobelpreis für Literatur vor allem aus Protest gegen die politische Orientierung der schwedischen Akademie ablehnt. 5 Daß er aber auch zu den einflußreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts zählt, begründet Traugott König, Übersetzer vieler philosophischer Werke Sartres ins Deutsche, u. a. damit, Sartres bei seinem Erscheinen zunächst kaum beachtetes Werk L’être et le néant. Essai d’ontologie phénomenologique (1943) sei dasjenige »philosophische Werk, das schließlich am meisten auch von Nicht-Philosophen, Laien, Autodidakten gelesen wurde.« 6 Für das vorliegende Themenheft ergibt sich nun aber das Problem, daß Sartre nach eigener Aussage die wichtigsten philosophischen Impulse keineswegs Hegel-Studien verdankt, 7 sondern (angeregt u.a. durch Emmanuel Levinas 8) zunächst maßgeblich sind 9 seine Beschäft igung mit Husserls Phänomenologie sowie – wohl erst ab 1940/41 intensiver10 – der In der Begründung der Schwedischen Akademie heißt es, Sartre erhalte den Preis »for his work which, rich in ideas and fi lled with the spirit of freedom and the quest for truth, has exerted a far-reaching influence on our age«. Zu Sartres Ablehnung wird wie folgt Stellung genommen: »The 59-year-old author Jean-Paul Sartre declined the Nobel Prize in Literature, which he was awarded in October 1964. He said he always refused official distinctions and did not want to be ›institutionalised‹. M. Sartre was interviewed by journalists outside the Paris flat of his friend Simone de Beauvoir, authoress and playwright. He also told the press he rejected the Nobel Prize for fear that it would limit the impact of his writing. He also expressed regrets that circumstances had given his decision ›the appearance of a scandal‹.« 6 Siehe Sartre: SN, 1074. 7 Siehe Simone de Beauvoir: Die Zeremonie des Abschieds und Gespräche mit Jean-Paul Sartre, a. a. O., 211. 8 Siehe Sartre: »Über Merleau-Ponty«, in: Sartre: SüS, 71. 9 Letzten Endes – ohne dies hier detailliert entwickeln zu können – ermöglicht Sartres Unzufriedenheit mit Husserls Phänomenologie ihm ein Verständnis von Ontologie im Heideggerschen Sinne: »Philosophie ist universale phänomenologische Ontologie ausgehend von der Hermeneutik des Daseins, die als Analytik der Existenz das Ende des Leitfadens alles philosophischen Fragens dort festgemacht hat, woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt.« – Siehe Martin Heidegger: Sein und Zeit, Erste Hälfte, unveränderte 4. Aufl age, Halle a. d. S. 1935, § 7, 38. – ›Entspringen‹ und ›zurückschlagen‹ – siehe Hegels Phänomenologie des Geistes: »Das Resultat ist nur darum dasselbe, was der Anfang, weil der Anfang Zweck ist […].« – Siehe Hegel: GW 9, 20. – Siehe auch: GW 11, 25. 10 Sartre sagt später, er habe Heidegger »schon 1936 ein wenig gelesen«. – Siehe 5
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»Fundamentalontologie«11 Heideggers, deren beider Unterscheidung von Metaphysik und Ontologie12 er übernimmt.13 Und auch in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg befaßt sich Sartre nicht etwa verstärkt mit Hegel, sondern der Marxismus – die unüberbietbare »Philosophie unserer Zeit«, wie er sagt – samt der ihn bedingenden gesellschaft lichen Umstände rückt in den Fokus seines Interesses. So fi rmiert Sartre weder als Wegbereiter noch gar als Entdecker des Hegelianischen Werkes für die französische Philosophie des 20. Jahrhunderts. Vielleicht hat Sartre die französische Philosophie seiner Gegenwart wie kein zweiter Denker geprägt; doch auf das Werk Hegels konnte Sartre zugreifen, weil andere ihm den Weg geebnet haben.
I. Hegels Weg in die französische Philosophie Den Boden für eine spätere, wenngleich zunächst nur zögerliche Aneignung14 von Hegels Philosophie in Frankreich bereitet bereits gut einhundert Jahre früher ein Zeitgenosse Hegels: nämlich Victor Cousin (1792– 1867), der Hegel im Laufe seiner ersten Reise nach Deutschland (von Ende Juli bis Mitte November 181715) in Heidelberg erstmals begegnet, sich bald an ihm zu orientieren sucht und mit ihm zeitlebens freundschaft lich verbunden bleibt.16 Cousin schreibt:
Simone de Beauvoir: Die Zeremonie des Abschieds und Gespräche mit Jean-Paul Sartre, a. a. O., 229. 11 Siehe Martin Heidegger: Sein und Zeit, a. a. O., § 4. 12 Heideggers Fundamentalontologie in Sein und Zeit verbleibt nach dessen eigenem Verständnis weitestgehend im Bereich klassischer Metaphysik. Nach der sog. »Kehre« (1930–38) verwirft Heidegger die Pläne, einen neuen Grund der Ontologie zu fi nden. Stattdessen widmet er sich in seiner Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? (1929) der Frage nach dem Grund der Metaphysik überhaupt. 13 Siehe Sartre: SN, 530. 14 Siehe Jacques D’Hondt: »Hegel in Frankreich«, in: Dialektik 2. Hegel – Perspektiven seiner Philosophie heute, Köln 1981, 89–98. 15 Das erklärt auch den Beginn der behandelten Zeitspanne in: Andrea Bellantone: Hegel in Francia. (1817–1941). Tomo I e II, Soveria Mannelli 2006. – Zum Verhältnis Cousin – Hegel siehe ibid., 13–111. 16 »Dès les premiers mots, dit-il, j’avais plu à M. Hégel et il m’avait plu; nous avions pris confiance l’un dans l’autre; et j’avais reconnu en lui un de ces hommes auxquels il faut s’attacher, non pour les suivre, mais pour les étudier et les comprendre, quand on a le bonheur de les trouver sur sa route.« – Siehe Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen, hrsg. von Günther Nicolin, Hamburg 1970, 159 f. – Besonders Cousins Souvenirs d’Allemagne (1857) werden in Frankreich gelesen.
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»Le grand nom de Schelling retentissait dans toutes les écoles; ici célébré, là presque maudit, partout excitant cet intérêt passionné, ce concert d’ardens éloges et d’attaques violentes que nous appelons la gloire. Je ne vis pas Schelling cette fois; mais à sa place je rencontrai, sans le chercher et comme par hasard, Hegel à Heidelberg. Je commençai par lui, et c’est par lui aussi que j’ai fi ni en Allemagne. […] Hegel n’avait encore d’autre réputation que celle d’un disciple distingué de Schelling. Il avait publié des livres qu’on avait peu lus; son enseignement commençait à peine à se faire connaître davantage. L’Encyclopédie des sciences philosophiques paraissait en ce moment, et j’en eus un des premiers exemplaires. C’était un livre tout hérissé de formules d’une apparence assez scholastique, et écrit dans une langue très peu lucide, surtout pour moi. Hegel ne savait pas beaucoup plus le français que je ne savais l’allemand, et, enfoncé dans ses études, mal sûr encore de lui-même et de sa renommée, il ne voyait presque personne, et, pour tout dire, il n’était pas d’une amabilité extrême. Je ne puis comprendre comment un jeune homme obscur parvint à l’intéresser; mais au bout d’une heure il fut à moi comme je fus à lui, et jusqu’au dernier moment notre amitié, plus d’une fois éprouvée, ne s’est pas démentie. Dès la première conversation, je le devinai, je compris toute sa portée, je me sentis en présence d’un homme supérieur; et quand d’Heidelberg je continuai ma course en Allemagne, je l’annonçai partout, je le prophétisai en quelque sorte; et à mon retour en France, je dis à mes amis: Messieurs, j’ai vu un homme de génie. L’impression que m’avait laissé Hegel était profonde, mais confuse. L’année suivante j’allai chercher à Munich l’auteur même du système. On ne peut pas se moins ressembler que le disciple et le maître. Hegel laisse à peine tomber de rares et profondes paroles, quelque peu énigmatiques; sa diction forte, mais embarassée, son visage immobile, son front couvert de nuages, semble l’image de la pensée qui se replie sur elle-même.«17 Um Cousins Interesse am Hegelianismus nicht in falschem Licht erscheinen zu lassen – D’Hondt spricht unverhohlen von dessen »wirren philosophischen Einlassungen«18 –, ist darauf hinzuweisen, daß er Hegel wohl niemals expressis verbis zitiert; 19 zudem sieht er sich bald der ReligionsSiehe Fragments philosophiques. Par V. Cousin. Tome Premier. Troisième Edition. Préface de la deuxième édition, Paris 1838, 26 f. 18 Siehe Jacques D’Hondt: Hegel in Frankreich, a. a. O., 91. 19 Siehe Patrice Vermeren: »Victor Cousins Hegel«, in: Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Der französische Hegel, a. a. O., 34–48; hier: 38. – Siehe auch: Bernard 17
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philosophie des späten Schelling verpfl ichtet. Noch 1827 aber folgt Hegel einer Einladung Cousins, dessen Descartes-Ausgabe 20 er benutzt, nach Paris. Cousins persönlicher Bekanntschaft mit Hegel also verdankt sich der überragende Stellenwert, der Hegels Werk auch heute noch – besonders in der politischen Philosophie – in Frankreich zukommt. Rezeptionsgeschichtlich ungleich bedeutsamer für die nachhaltige Verbreitung der Hegelianischen Philosophie in Frankreich ist aber Augusto Vera resp. Auguste Véra (1813–1885), dessen pädagogische Ansichten in Orientierung an Hegel entstehen. 21 Vera studiert in Rom und an der Sorbonne, wird Professor in Paris und Straßburg. Ab 1851 (Coup d’etat gegen Napoleon) verbringt er neun Jahre in Großbritannien, wo er zentrale Werke Hegels ins Französische übersetzt und mit Kommentaren versieht: die drei Teile der kleinen Logik in der 1827er Enzyklopädie (EA 1859); 22 die Naturphilosophie; 23 Hegels Philosophie des Geistes 24 und schließlich die Philosophie der Religion. 25 Aber Vera fertigt nicht nur selber französische Hegel-Übersetzungen an, sondern regt auch andere an, ihn hierin zu unterstützen. 26 Vera deutet Hegels logische Idee als den Gott der kathoBourgeois: »Hegel in Frankreich«, in: Jahrbuch für Hegelforschung, hrsg. von Helmut Schneider, Band 6/7 (2000/2001), Sankt Augustin 2002, 55–76; hier: 58 f. 20 Siehe Œuvres de Descartes, publiées par Victor Cousin. Tomes cinquième, Paris 1824–1826. 21 Siehe den hier mißverständlichen Titel: Karl Rosenkranz: Hegels Naturphilosophie, Berlin 1868. – Das Werk behandelt die durch Vera ermöglichte Aufnahme der Hegelschen Philosophie in Frankreich und Italien hinsichtlich des im Titel genannten Schwerpunkts. 22 Siehe Logique de Hégel. Traduite pour la première fois et accompagnée d’une introduction et d’un commentaire perpétuel par A. Véra. Deuxième édition. Revue et corrigée. Tome premier / second, Paris 1874. 23 Siehe Philosophie de la nature de Hégel. Traduite pour la première fois et accompagnée d’une introduction et d’un commentaire perpétuel par A. Véra. Tome premier, Paris 1863. – Tome second, Paris 1864. – Tome troisième, Paris 1866. 24 Siehe Philosophie de l’esprit de Hégel. Traduite pour la première fois et accompagnée de deux introductions et d’un commentaire perpétuel par A. Véra. Tome premier, Paris 1867. – Tome second, Paris 1869. 25 Siehe Philosophie de la religion de Hégel. Traduite pour la première fois et accompagnée de plusieurs introductions et d’un commentaire perpétuel par A. Véra. Tome premier. Paris 1876. – Tome second, Paris 1878. 26 »Or en France, cette oeuvre [de Hégel, H. G.] était fort mal connue. Depuis la première réception qu’en avait proposée Augusto Vera au siècle dernier, une traduction avait certes été produit, sous la plume de Stanislas Jankelevitch […].« – Siehe Gwendoline Jarczyk/Pierre-Jean Labarrière: »Phenomenologie de l’esprit et Science de la logique. Perspectives nouvelles«, in: Jahrbuch für Hegelforschung, Band 6/7 (2000/2001), a. a. O., 99–116; hier: 109.
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lischen Tradition, eine These, für die er schon früh Kritik erntet. 1855 erscheint in Paris Introduction a la philosophie de Hegel, 1861 (wiederum in Paris) L’Hégélianisme et la philosophie. Bereits 1860 kehrt er nach Italien zurück, wo er Professor für Philosophie an der königlichen Akademie von Mailand wird. Trotz offensichtlicher Mängel bleiben Veras Übersetzungen bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die wichtigsten Quellen für das Hegel-Studium in Frankreich. Abgesehen von Cousin und Vera ist die eigentliche Hegel-Renaissance in Frankreich aber zuvörderst mit einem russischen Namen verbunden: Alexander Kojevnikov (1902–1968) alias Alexandre Kojève, wie er sich seit seiner Zeit in Frankreich nennt. Und von Kojève aus läßt sich die Frage beantworten, wie Sartre erstmals mit Hegels Philosophie in Berührung kommt. Vor Kojèves Pariser Zeit steht das Werk Hegels eindeutig zurück hinter einem vor allem mathematisch inspirierten Neukantianismus. 27 Kojève, in eine gutsituierte Moskauer Familie hineingeboren, studiert seit 1920 in Heidelberg und Berlin zunächst Sinologie und Sanskrit, später Philosophie und fernöstliches Denken. Nach seiner Dissertation über den Mystiker Wladimir Solovjev, die er 1924 bei Karl Jaspers einreicht 28 – bei Heinrich Rickert läßt sich Hegel nicht studieren 29 –, geht er 1928 nach Frankreich und nimmt 1937 die französische Staatsbürgerschaft an. In der »Sektion Religionswissenschaften« der Pariser École Pratique des Hautes Études, also abseits des eigentlichen universitären Betriebs, setzt er in den Jahren 1933–1939 in Vertretung Alexandre Koyrés (1892–1964), 30 dessen Aufsatz »Hegel à Iéna« (1934) ihm den Zugang zu Hegel ermöglicht, dessen Vorlesungen über Hegels Philosophie der Religion fort. 31 Partien dieser Vorträge gehen später ein in Kojèves legendäre Vorlesungen ausschließlich über die Phänomenologie des Geistes – das bestimmende Thema seines wissenschaft lichen Lebens. Mit seinen apologetischen Montagsvorträgen macht er schnell von sich reden, so daß sie neben ausländischen IntelDies betont auch: Walter Biemel: »Die Phänomenologie des Geistes und die Hegel-Renaissance in Frankreich«, in: Hegel-Studien Beiheft 11, Stuttgarter HegelTage 1970, Bonn 1974, 643–655; hier: 645. – Sartre selbst zitiert Biemels Werke. 28 Siehe Die Philosophie Wladimir Solowjews, Heidelberg 1924. 29 Siehe Iring Fetscher: »Vorwort des Herausgebers zur deutschen Erstausgabe«, in: Alexandre Kojève: Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes, hrsg. von Iring Fetscher, mit einem Anhang: »Hegel, Marx und das Christentum«, Frankfurt /M. 1975, 7. 30 Koyré gehört dem frühen Umkreis Husserls an und kann 1922 im V. Band von dessen Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung die Abhandlung Bemerkungen zu den Zenonischen Paradoxen (603–628) publizieren lassen. 31 Seit 1933 ist Kojève Professor für Philosophie in Paris. Sartre hingegen ver27
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lektuellen und Schrift stellern beinahe die gesamte spätere französische Intelligenzija hört und meistenteils nachhaltig von ihnen beeinflußt wird, wie z. B. Hannah Arendt, Raymond Aron, Georges Bataille, André Breton, Roger Caillois, Henri Corbin, 32 Jean-Toussaint Desanti, Pater Gaston Fessard, 33 Georges Gurvitch, Jean Hyppolite, Pierre Klossowski, Jacques Lacan, Robert Marjolin, Maurice Merleau-Ponty, Raymond Queneau, 34 Jean Wahl 35 und Éric Weil. 36 Sartre, der in diesen Jahren das Amt eines bringt die Jahre 1933/34 als Stipendiat des Institut Français in Berlin, nachdem er unmittelbar zuvor gemeinsame Reisen mit Simone de Beauvoir, die er 1929 kennenlernt, nach London und Italien unternimmt. In Berlin befaßt er sich – wenige Kilometer von der Bücherverbrennung in Berlin-Mitte entfernt – vor allem mit Husserls Phänomenologie und auch Heidegger; für ein Studium Hegels gibt es keine Hinweise. – Zu Sartres Berliner Zeit siehe Annie Cohen-Solal: Sartre. 1905–1980, aus dem Französischen von Eva Groepler, Hamburg 1988, 172–181. – Nach Ablauf des Stipendiums bereisen Sartre und de Beauvoir Deutschland, Österreich und die 1918 neugeschaffene Tschechoslowakei. 32 Corbin übersetzt für ein Journal erstmals Heidegger ins Französische. – Siehe M. Heidegger: »Qu’est-ce que la métaphysique?« Trad. de l’allemand par H. Corbin, précédé d’une introduction par A. Koyré. Leçon inaugurale donnée à l’Université de Fribourg-en-Brisgau le 24 juillet 1929, in: Bifur. Editions du Carrefour, Paris. 8 (juin) 1931, 5–27. – Wie bereits erwähnt: Sartre (dessen Essay Légende de la vérité [siehe Sartre: TE , 9–31] in dieser Folge erscheint) liest Heidegger erst rund zehn Jahre später. 33 Nach Samuel Jankélévitch zählt Pater Fessard neben Norbert Guterman zu den frühen Hegel-Übersetzern. 34 Erst 1947 gibt Queneau unter dem Titel Introduction à la lecture de Hegel in der Éditions Gallimard seine Nachschriften dieser Vorlesung heraus. 35 Inspiriert von seiner Lektüre der sog. theologischen Jugendschrift en Hegels veröffentlicht Wahl 1929 bei Rieder in Paris Le malheur de la conscience dans la philosophie de Hegel, das im »unglücklichen Bewußtsein« (der späteren »mauvaise foi« Sartres [siehe Sartre: SN, 119]) eine existentialistische Dimension der Phänomenologie des Geistes erkennt; sein Vorwort zu: Vers le concret. Etudes d’histoire de la philosophie contemporaine (1932), beruft sich – wenn auch kritisch – auf Hegels dialektische Philosophie: »Ce n’est que dans l’absence de pensée que le concret peut se révéler à nous. Ce n’est ce dont le jeune Hegel a eu le sentiment, de même que bien des poètes. Il y a une dialectique nécessaire précisément parce qu’il y a un réalisme. Le réel est la limite de la dialectique; il est son origine; il est sa fi n, son explication et sa déstruction.« (ebd., 23). – Biemel verweist zudem auf die Bücher von Emile Meyerson und Victor Basch. – Walter Biemel: »Die Phänomenologie des Geistes und die HegelRenaissance in Frankreich«, a. a. O, 646 f. – Zum aufkommenden Hegelianismus im Frankreich der 30er Jahre siehe auch: Olivier Agard: »Die Resonanz der deutschen zeitgenössischen Philosophie in den französischen philosophischen Fachzeitschriften zwischen 1933 und 1945«, in: Marion Heinz u. Goran Gretić (Hg.): Philosophie und Zeitgeist im Nationalsozialismus, Würzburg 2006, 23–43; hier: 29–35. 36 Eric Weil korrigiert in seiner Arbeit Hegel et l’etat (Paris 1950) die tradierten
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Gymnasialprofessors für Philosophie in Le Havre (1931–33 und 1934–36) bzw. in Laon (1936/37) bekleidet, wohnt diesen Vorlesungen merkwürdigerweise nicht bei; 37 selbiges gilt für Husserls Vorträge in der Sorbonne (1929). 38 Kojèves Vorlesungen über die Phänomenologie des Geistes, die im Vergleich mit anderen seiner Werke die weitaus größte Strahlkraft haben, werden nach dem Zweiten Weltkrieg in der Éditions Gallimard veröffentlicht, wenngleich größtenteils ohne Kojèves Unterstützung.39 Der mit Kojèves Vorlesungen einsetzende französische Hegelianismus wird unterstützt durch wichtige, zeitgleich realisierte Editionen. So legt Jean Gibelin 1937 eine französische Übersetzung von Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte in zwei Bänden vor; 40 1939 übersetzt Jean politischen Zuordnungen Hegels zu preußischem Chauvinismus und Reaktion. – Grundlegend dazu Takikangu Matensi: »Der Widerspruch als Grundlage von Moral und Politik in der Philosophie Eric Weils«, in: Georg Mohr u. Ludwig Siep (Hg.): Eric Weil – Ethik und politische Philosophie, Berlin 1997, 93–106. 37 Aber Hartmann scheint davon auszugehen. – Siehe Klaus Hartmann: Grundzüge der Ontologie Sartres in ihrem Verhältnis zu Hegels Logik. Eine Untersuchung zu »Lê’tre et le néant«, Berlin 1963, 3. – Bei allen philosophischen Vorzügen, die Hartmanns Untersuchung zweifelsohne auszeichnen: Seine Hinweise, Sartre habe gearbeitet »nach französischen Übersetzungen[ ] und setzt sich an zwei ausführlichen und vielen kleineren Stellen mit Hegel auseinander«, die ihn zu der Beurteilung führen: »Das Vorhandensein Hegelscher Gedanken in EN [d. h. L’être et le néant, H. G.] ist also keine theoretische Koinzidenz, ohne daß eine Rezeption vorgelegen hätte«, können schwerlich sinnvoll bestritten werden; jedoch seine entscheidende Voreinschätzung, Sartres Begriffe »wie Ansich, Fürsich, Für-Andere, Ansich-Fürsich, Begriffe, die in der Hegelschen Logik ihre Stelle haben. Zunächst dient Hegel hier nur als Hinweis auf den klassischen Ort dieser Begriffe« (siehe ibid., 4), um schließlich konstatieren zu können: »Sartres Philosophie in EN ist die konsequente Umformung der Hegelschen Logik unter dem Gesichtspunkt, daß die Immanenz des Denkens abgelehnt wird« (siehe ibid., 118), erbringen für die entwicklungsgeschichtliche Rekonstruktion von Sartres Lê’tre et le néant nicht wesentlich mehr als beispielsweise B.-H. Lévys Verdikt: »Das Sein uns [sic!] das Nichts ist die Phänomenologie des Geistes, nur besser.« – Siehe Bernard-Henri Lévy: Sartre, a. a. O, 536. 38 Aus diesen Pariser Vorlesungen geht die französische Erstausgabe der Cartesianischen Meditationen – so ihr späterer deutscher Titel – hervor. – Siehe Méditations Cartésiennes. Introduction a la Phénoménologie par Edmond Husserl. Traduit de l’allemand par Mlle. Gabrielle Peiffer et M. Emmanuel Levinas. Docteur de l’Université de Strasbourg, Paris 1931. 39 Siehe Alexandre Kojève: Introduction à la lecture de Hegel. Leçons sur la phénoménologie de l’esprit, Paris 1947. – Dt.: Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens, a. a. O. – Die eigentliche Redaktion besorgt Queneau, der seine eigenen Vorlesungsmitschriften mit denen anderer Hörer kompiliert. 40 Siehe Leçons sur la philosophie de l’histoire. (Ab der 2. Aufl . 1945 in einem Band; ab der 3. Aufl . 1963 mit Emendationen von Etienne Gilson; 4. Aufl ., Paris 1987.)
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Hyppolite erstmals die Phänomenologie des Geistes ins Französische; 41 sein ausführlicher Kommentar erscheint 1946. 42 Bereits 1938 besorgen Henri Lefebvre und Norbert Guterman die insbesondere für Sartres HegelStudium zentralen Morceaux choisis de Hegel, die es bei Gallimard im Jahr ihres Erscheinens auf sechs Auflagen bringen; 43 zudem liegen André Kaans Übersetzung Principes de la philosophie du droit (Paris 1940) 44 sowie die Wissenschaft der Logik – in neuer Übersetzung45 – auf Französisch vor. Sartre selber erklärt, er habe erst nach dem Ende des Kriegs die Phänomenologie des Geistes gelesen, und zwar in Hyppolites Übersetzung. Vor 1939 habe er Hegels Werk nur aus zweiter Hand gekannt. 46 Indes bietet Kojève keine treue Hegel-Interpretation, sondern kombiniert Hegel mit Marx und Heidegger, dessen neuartiger phänomenologischer Ansatz, wie er mit Sein und Zeit (1927, bis zur 6. Aufl . mit »Erste Hälfte« untertitelt) endgültig ans Tageslicht tritt, im damaligen Frankreich lebhaft diskutiert wird.47 Im Kern dreht sich Kojèves Hegel-Deutung, die Siehe La Phénoménologie de l’Esprit, 2 Bde., Paris 1939 und 1941 (seither zahlreiche Neuaufl agen). 42 Siehe Genèse et structure de la Phénoménologie de l’esprit. – Erst Hyppolites Ausgabe der Phänomenologie läßt in Sartre die Einsicht in die Notwendigkeit reifen, sich intensiver mit Hegel zu befassen, was besonders die 1947/48 entstehenden, aber erst posthum (1983) veröffentlichten Cahiers pour une morale, die voller KojèveHegel-Bezüge stecken, dokumentieren. 43 Siehe Morceaux choisis de Hegel, Paris 1938 (erneuter Nachdruck: Collection Idées, 2 Vols, Paris 1969). 44 Siehe hierzu: Myriam Bienenstock: »Die französische Rezeption von Hegels Philosophie des Rechts«, in: Jahrbuch für Hegelforschung, Band 6/7 (2000/2001), a. a. O., 77–98. 45 Siehe G. W. F. Hegel: Science de la logique, 4 tomes, Traduction de Serge Jankélévitch, Paris 1947–49 (Nachdruck in 4 Bänden 1969, 2. Aufl . 1971). 46 Siehe Jean-Paul Sartre: Über ›Der Idiot in der Familie‹. Gespräch mit Michel Contant und Michel Rybalka, in: Sartre: Lit, 164. – So gibt auch Thomas Flynn zu bedenken, »Sartre was not a serious reader of Hegel or Marx until during and after the war, like so many of his generation«. – Siehe Stanford Encyclopedia of Philosophy. – Sartres Hegel-Studium vollziehe sich auf Basis der marxistischen und protoexistentialistischen Hegel-Lektüre Kojèves. 47 Sartre rezipiert Sein und Zeit über Umwege: Sein Dienstverhältnis als Lehrer am Pariser Lycee Pasteur in den Jahren 1937–1942 wird unterbrochen, als er im September 1939 zum Militärdienst als Sanitäter eingezogen wird: Frankreich hat Deutschland am 3. September den Krieg erklärt. Ende Juni 1940, kurz vor dem Waffenstillstand, gerät Sartre mit seiner Einheit in deutsche Kriegsgefangenschaft . Während der deutschen Besatzung Frankreichs setzt Sartre im Kriegsgefangenenlager Stalag XII D in der Nähe von Trier seine Heidegger-Studien fort, insbesondere die Lektüre von Sein und Zeit. Im Unterschied zu anderen Gefangenen, die peu à peu als Zwangsarbeiter auf deutsche Fabriken und Bauernhöfe verteilt werden, kommt 41
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auch Batailles Heterologie und Lacans Psychoanalyse beeinflußen wird, um eine minutiöse Interpretation der von Hegel schon seit seiner frühen Jenaer Zeit entwickelten Herr-Knecht-Dialektik, wobei die Bewegung des »Anerkennens«, die allein ein Rechtsverhältnis in Hegels Verständnis begründe, als Zentrum der gesamten Hegelianischen Sozialtheorie verstanden wird 48 (was neulich erst wieder hinterfragt worden ist 49). Dieses Sartre im März 1941 mit Hilfe eines fi ngierten medizinischen Attestes frei. In den Jahren 1942–44 engagiert er sich aktiv in der Résistance. Nach der Landung alliierter Truppen in der Normandie am 6. Juni beschließen er und de Beauvoir, Paris zu verlassen. Sie kehren erst nach dem Beginn des Abzugs deutscher Truppen (19. August) zurück. Fortan lehrt Sartre am Pariser Lycee Condorcet, bevor er sich ab 1945 als freier Schrift steller endgültig in Paris niederläßt. 48 In Das Sein und das Nichts verdeutlich Sartre seine Analyse des Verhältnisses von Liebender – Geliebter mit der Herr-Knecht-Korrelation aus der Phänomenologie des Geistes (siehe ibid. B., IV., A.). – Siehe Sartre: SN, 648 ff. – Das Werk beinhaltet zwar subtile Analysen von Paarbeziehungen, aber die Partner haben weder eine familiäre Vergangenheit noch fi nden sie eine leibliche Fortsetzung. Kinder haben keinen Platz im »Liebespakt« Sartre /de Beauvoir, gleichsam das intellektuelle Idealpaar. (Wie nun gesichert ist, sucht der verheiratete Familienvater Hegel die Existenz eines unehelichen Sohnes zu verheimlichen. – Siehe Alexandra Birkert: Hegels Schwester. Auf den Spuren einer ungewöhnlichen Frau, Ostfi ldern 2008, 306 f.) Vergleicht man Hegels Phänomenologie des Geistes mit Sartres Überlegungen zum Thema, fi ndet man hier Beziehungsanalysen entfaltet in Form einer Genealogie der antiken Familie mit ihren Penaten, der Mann-Frau-Dyade sowie dem Bruder-Schwester-Verhältnis. – Siehe Hegel: GW 9, 240–251. – Siehe auch: GW 14,1, §§ 163 ff. – Erst diese integrale Familie bildet nach Hegel Sittlichkeit aus, die zwar keine letzte Geltung beanspruchen könne – das Gemeinwesen rangiere höher und habe sein Recht auch gegen die Pietät der Familie durchzusetzen –, jedoch als selbstbewußte Stufe im dialektischen Vermittlungsgang vollständig legitimiert ist »als normative Gemeinschaft«. – Siehe Susanne Brauer: Natur und Sittlichkeit. Die Familie in Hegels Rechtsphilosophie, Freiburg/München 2007, 18. 49 Siehe Georg W. Bertram: »Hegel und die Frage der Intersubjektivität. Die ›Phänomenologie des Geistes‹ als Explikation der sozialen Strukturen der Rationalität«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 56 (2008), 877–898. – Bertram zeigt, daß Hegels komplexe Antwort auf die Frage, wie »Anerkennung« sich in intersubjektiven Beziehungen herstelle, weder in dessen Überlegungen zum Selbstbewußtsein noch in denjenigen zur sittlichen Substanz vollständig sei, sondern sich erst komplettiere in dessen Ausführungen zum Gewissen. – Einen anderen Schwerpunkt setzt: Pirmin Stekeler-Weithofer: »La signoria dello spirito e la schiavitu del corpo: L’analisi hegeliana delle competenze dislocate nel corpo«, in: Rivista di Filosofia 2 (2008), 171–196. – Stekeler-Weithofer plädiert dafür, Hegels unglücklichen Ausdruck »Bewußtseine« zu entindividualisieren, um künft ige Interpretationen zu öff nen für einen Kampf der Anerkennung eines ›höheren‹ Bewußtseins oder Wissens durch ein ›niederes‹ Bewußtsein, etwa in einem u. a. begierdegesteuerten Tun aufgrund von direkten Rezeptionen.
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nicht vom allgemeinen, sondern dezidiert von einem einzelnen Selbstbewußtsein ausgehende Anerkennen bleibt ein für den Entwicklungsgang der Phänomenologie des Geistes konstitutives Moment, 50 und es ist auch schon für den frühen Jenaer Hegel von grundlegender Bedeutung. 51 Kojève interpretiert das spezifisch menschliche Verlangen nach Anerkennung – im Unterschied zum tierischen Begehren nach Selbsterhaltung – als Kennzeichen einer Begierde (»désir«). 52 Aber auch Hegel reflektiert auf die für das Selbstbewußtsein ontologischen Folgen der Begierde, wenn er sagt: »Das Selbstbewußtseyn in seiner Unmittelbarkeit ist Einzelnes und Begierde, – der Widerspruch seiner Abstraction, welche objectiv seyn soll, oder seiner Unmittelbarkeit, welche die Gestalt eines äußern Objects hat und subjectiv seyn soll. […] Die Begierde ist so in ihrer Befriedigung überhaupt zerstörend wie ihrem Inhalte nach selbstsüchtig, und da die Befriedigung nur im einzelnen geschehen, dieses aber vorübergehend ist, so erzeugt sich in der Befriedigung wieder die Begierde.« 53 Kojève geht einerseits davon aus, erst wenn Begierde umschlage in Verlangen, trete sie ins Sein; andererseits sucht Kojève aber auch die Nähe zu Hegels vergleichsweise umfassenderem Geistbegriff, den dieser durch eine aufwendige Analyse des Phänomens des Selbstbewußtseins gewinnt, wenn er sagt, das Sein der Begierde bewahrheite sich allererst als eine Form des Werdens: nämlich im Durchgang durch ein Anderes, womit gleichermaßen Anerkennung einhergehe. 54 Auch Sartre würdigt »Hegels geniale Intuition
Siehe das Kapitel IV., »A. […] Herrschaft und Knechtschaft« bzw. den Begriff der »Arbeit« in: Hegel: GW 9, 109–116. 51 Siehe z. B.: Hegel: GW 6, 307–314; 325 f. (Fragment 22); ebenso: GW 7, 146. (Metaphysik der Objektivität. Die Welt. – Der Begriff des Anerkennens wird hier allerdings nicht aus dem Begriff des Bewußtseins, sondern aus demjenigen der Gattung entwickelt, insofern Hegel hier den traditionellen Weltbegriff der metaphysica specialis als Gattungsprozeß neu bestimmt.) – Hegel führt den Begriff des »Anerkennens« bereits im Naturrechtsaufsatz (1802/03) ein; auch im System der Sittlichkeit kommt er vor. »Doch erst im Systementwurf I gewinnt er systematische Bedeutung, und im Systementwurf III wird er schließlich zum grundlegenden Begriff der Vergesellschaft ung.« – Siehe Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule, 2., aktualisierte Auflage Stuttgart/Weimar 2010, 163. 52 Vgl. mit: Sartre: SN, 669 ff . 53 Siehe Hegel: GW 20, § 426 bzw. 428. – Zudem aber sagt Hegel, »die Begierden, Triebe werden durch die Gewohnheit ihrer Befriedigung abgestumpft ; diß ist die vernünft ige Befreiung von denselben; die mönchische Entsagung und Gewaltsamkeit befreit nicht von ihnen noch ist sie dem Inhalte nach vernünft ig […].« – Siehe ibid., § 410, Anm. 54 In der Phänomenologie des Geistes, im IV. Kapitel der »Wahrheit der Gewißheit seiner selbst«, gewährleistet die »Begierde« Aufk lärung über die Unwahrheit des 50
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[…], daß er mich in meinem Sein vom Andern abhängig macht. Ich bin, sagt er, ein Fürsichsein, das nur durch einen Andern für sich ist« 55 (Sartres Denken des Anderen in seinem besonderen Verhältnis zu Hegel – »Der Skandal liegt also nicht, wie Hegel geglaubt hat, in der bloßen Existenz des Anderen« 56 – ist auch integraler Bestandteil der Frage nach Sartres Verhältnis zu Dialektik, die später erörtert wird). Kojèves originäre begriffl iche Zutat zum Hegelianischen Anerkennungskonzept besteht dagegen in einer Erweiterung des Begriffs des Begehrens: Um die begehrte Anerkennung anderer zu gewinnen, setze der Mensch seine eigene Existenz permanent aufs Spiel, werde seine Begierde doch allererst in der Negation der Begierde des Anderen gestillt. Aber gerade um willen der Anerkennung dürfe der gesellschaft liche Kampf nicht den Tod des Anderen verursachen, wie auch Hegel betont: »jedes der beiden Selbstbewußtseyn bringt das Leben des Andern in Gefahr und begiebt sich selbst darein, aber nur als in Gefahr […].« 57 Daher dürfe der Triumphator dieses Kampfes (auch Hegel spricht von »Kampf« 58) den Verlierer zeitlebens nur mit dem Tode bedrohen. Diese krisenhaften Anerkennungsinterdependenzen zwischen Herr und Knecht (Dialektik des Willens 59) befördern, so Kojève, letztlich den Untergang des Dominanten, wohingegen sich der Knecht allmählich zum Herrn über die Natur emanzipiere. 60 So nimmt Kojèves Analyse lediglich einseitigen Selbstverhältnisses des Selbstbewußtseins: »In dieser Befriedigung aber macht es die Erfahrung von der Selbstständigkeit seines Gegenstandes. Die Begierde und die in ihrer Befriedigung erreichte Gewißheit seiner selbst ist bedingt durch ihn, denn sie ist durch Aufheben dieses Andern; daß diß Aufheben sey, muß diß Andere seyn.« (siehe Hegel: GW 9, 107). 55 Siehe Sartre: SN, 432. – Indes legt Sartre Hegel hier zu eng aus, übersieht er doch, daß Hegels Begriff des »Anderen« eine flexible ontologische Dimension aufweist – und keineswegs rein sozialtheoretischer Natur ist, deren Sonderfall er gleichwohl auch sein kann, spricht doch Hegel selbst in diesem Kontext vom »Beginnen der Staaten« (siehe Hegel: GW 20, § 433) – ein zentraler Aspekt für Kojèves Phänomenologie-Deutung i. S. einer Keimzelle jedweder künft iger menschlicher sozial-wissenschaft licher Verhältnisse. 56 Siehe Sartre: KV, 863. 57 Siehe Hegel: GW 20, § 431. – In diesem Punkt mißverstehen Sartre/Kojève Hegel. – Siehe Sartre: KV, 119 f.; 357. 58 Siehe Hegel: GW 20, § 431. – Vgl.: Sartre: SN, 149, 637 (»Tod«), 648. 59 Vgl. mit: Hegel: GW 20, § 435. 60 Hierin folgt Sartre Kojève gänzlich; Hegel dagegen wirft er zum einen vor, »die Materie als Vermittlung zwischen den Individuen außer auch gelassen« zu haben (siehe Sartre: KV, 120), und zum anderen eine blutleere und geschichtsneutrale Untersuchung, »den Herrn und den Knecht analysiert zu haben, das heißt letztlich, im allgemeinen das Verhältnis eines beliebigen Herrn zu seinem Knecht, unabhängig von ihren Beziehungen zu anderen Knechten und anderen Herren. […] Im übrigen
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einen ontologischen Anspruch zurück, indem sie eine über das Sozialphilosophische hinaus wesentlich anthropologische Deutung gibt. Ob hiermit allerdings Hegels über empirische Selbstbewußtseinsverhältnisse hinausgehende ontologische Analyse der Anerkennungsproblematik nicht simplifi ziert und so um konstitutive Momente ihrer inneren Organisation gebracht wird, wäre eine separate Untersuchung wert. 61 Sartre jedenfalls adaptiert besagte anthropologische Auslegung im Zuge einer Kritik des Reflexionsmodells des Selbstbewußtseins, wie noch zu sehen sein wird. Wenn aber, wie es sich bisher darstellt, Sartre kaum dezidiert auf Hegels Philosophie rekurriert, ist die Frage berechtigt, warum eine solche Orchidee hier noch erst pflegen, sprich besagten schwachen Spuren Hegels im Werk Sartres überhaupt nachstellen. Indes: Aus dem Faktum, daß Sartre im Unterschied etwa zu Wahl, Kojève oder Hyppolite lediglich partielle Konfrontationen mit Hegel sucht – einige dieser Ausnahmen werden im folgenden zur Sprache kommen –, leitet sich nicht zwingend ab, daß die Konsequenzen, die Sartre aus seiner Art der Beschäft igung mit Hegel zieht, philosophisch unergiebig seien. Denn das Gegenteil ist der Fall. Gleichwohl – wie sich noch zeigen wird – ist dieses Zugeständnis selten zur Deckung zu bringen mit den Interessen eines Historikers der Philosophie 62 oder gar im speziellen mit denjenigen eines Erforschers der Entwicklungsgeschichte der Philosophie Hegels. Und so kann es im folgenden nicht die Aufgabe sein, Sartres Fehldeutungen Hegelianischer Philosopheme zu beklagen und diese sodann in der Reihe ihrer Erscheinungen zu arbeitet der Herr auch (außer zur Zeit der großen Konzentration des Grundbesitzes in Rom und von da an).« (ibid., 168, FN 1; 354); andererseits sagt Sartre in Question de méthode auch: »[…] ce qui oppose Kierkegaard à Hegel, c’est que, pour ce dernier, le tragique d’une vie est toujours dépassé. Le vécu s’évanouit dans le savoir.« (Siehe Sartre: Qm, 18, FN 1.) – Das Hegelianische Herr-Knecht-Philosophem spielt nicht zuletzt für Sartres politisches Denken eine wichtige Rolle (angewandt nicht nur auf »Liebe« [siehe Sartre: SN, 641–652], sondern auch auf das Verhältnis Antisemit – Jude, Kolonialherr – Kolonisierter, Bürger – Arbeiter sowie Mann – Frau [nach de Beauvoir »der Andere«]). An Hegel ergeht der Vorwurf, den objektiv-idealistischen Gesichtspunkt Gottes eingenommen und nicht vom Cogito ausgegangen zu sein; an Heidegger, daß er – das cogito ausblendend – die Beziehung zum Andern als »Mit-sein« verstehe und so den konfl iktuellen Charakter der Beziehung zum Anderen verkenne. 61 Siehe auch: Bernard Bourgeois: Hegel in Frankreich, a. a. O., 72. – Siehe hierzu außerdem: Walter Biemel: »Die Phänomenologie des Geistes und die Hegel-Renaissance in Frankreich«, a. a. O., 650 f. 62 Obgleich sich Sartre sehr wohl der Notwendigkeit philosophiehistorischer, genauer: methodengeschichtlicher Bildung bewußt ist, um als Original-Philosoph Geltung beanspruchen zu dürfen. – Siehe Simone de Beauvoir: Die Zeremonie des Abschieds und Gespräche mit Jean-Paul Sartre, a. a. O., 242.
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widerlegen. Sartre als Philosophen ernstnehmen bedeutet vielmehr, ihm ausdrücklich die Berechtigung eines originären Zugriffs auf Hegels Werk zuzugestehen. Denn Sartre agiert nicht mit dem Selbstverständnis eines Hegel-Interpreten. Und gerade daraus ergibt sich das Erfordernis, Sartres Hegel-Adaption in seiner philosophischen – und erst in zweiter Linie in seiner philologischen – Potenz anzuerkennen. Aber hieraus wiederum erwächst kein Dispens, zumindest die Eigenwilligkeit, ja – so erforderlich – die unübergehbaren Mißgriffe Sartrescher Hegel-Deutungen näher auszuloten. Indes: Eine Rede vom ›produktiven Mißverständnis‹ evozierte, vorschnell einen theoretischen Wert Hegelianischer Denkformen für Sartres Philosophie zu behaupten; ob aber eine solche Ansicht haltbar ist, muß und kann hier noch nicht entschieden werden. Wollte man ihr stattgeben, käme alles darauf an, konkrete Konsequenzen von Sartres Umgang mit Hegel aufzuzeigen, d. h. speziellen Wirkungen Hegelianischer Denkmotive in Sartres eigener Philosophie habhaft zu werden – doch diese wird im Rahmen der besonderen Thematik vorliegender Untersuchung nur in Auszügen behandelt werden können. Schließlich kann die Lösung auch nicht darin bestehen, hier Beiträge zu der vorgeblichen Geschichte eines Sartreschen Anti-Hegelianismus zu liefern, wie sie beispielsweise bei Bernard-Henri Lévy zu fi nden sind; in ihrer Ausschließlichkeit ist eine solche These zu eng gefaßt. In den postum publizierten Cahiers pour une morale 63 , einem Konvolut von Aufzeichnungen der Jahre 1947/48, führt Sartre ausdrücklich einen Dialog mit Hegel, der einen Bereich der Philosophie anspricht, den Sartre am Schluß von Das Sein und das Nichts zwar zu bearbeiten ankündigt (»Moralische Perspektiven« 64), dessen konkrete Realisierung indes zunächst einmal die Critique de la raison dialectique des Jahres 1960 65 ausmacht. Die Cahiers bezeugen Sartres Auseinandersetzung mit der Hegelianischen Position der – wie er sich an anderer Stelle ausdrückt – »gewordenen Wahr1983 im Verlag Gallimard, Paris; die deutsche Erstausgabe erscheint erst 22 Jahre später. 64 Siehe Sartre SN, 1068–1072 – Zu Sartres zwei Versuchen, »eine ›Moral‹ zu schreiben«, siehe Simone de Beauvoir: Die Zeremonie des Abschieds und Gespräche mit Jean-Paul Sartre, a. a. O., 38. 65 Sartre hat von diesem Werk »einen langen Abschnitt zurückbehalten, der nicht veröffentlicht worden ist und der nicht abgeschlossen ist und der einen zweiten Band darstellen sollte.« – Siehe Simone de Beauvoir: Die Zeremonie des Abschieds und Gespräche mit Jean-Paul Sartre, a. a. O., 524. – Sartre selbst kündigt diesen zweiten Band wie folgt an: »Der 1. Band der Kritik der dialektischen Vernunft endet genau in dem Moment, wo wir den ›Ort der Geschichte‹ erreichen, das heißt, man wird in ihm ausschließlich die intelligiblen Grundlagen einer strukturellen Anthropologie 63
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heit« 66 . Eine philosophische Einordnung dieser Interpretationen wird Verf. in nächster Zeit vorlegen; 67 soweit wir sehen, sind ihre Hegel-Bezüge im speziellen bisher noch kaum untersucht worden. Abgesehen von der bisher noch ausstehenden Antwort auf die Frage, worin denn für Sartre das – wenn auch eher gering zu veranschlagende – Motiv für seine Adaption Hegelianischen Gedankenguts bestehe, erweist sich dieses bei näherem Zusehen als so originell wie komplex zu rekapitulieren, denn – so die hier vertretene Überzeugung – Sartre hat zunächst die Phänomenologie in ihrer originären Gestalt (Husserl 68) und sodann in ihrer Heideggerschen Modifi kation zu bewältigen, um Hegelianischen Problemstellungen resp. Lösungsvorschlägen überhaupt erst ansichtig werden zu können. 69 Michael Theunissens These lautet, Sartre suche mit seiner Anknüpfung an fi nden – insofern natürlich diese synthetischen Strukturen eben die Bedingung einer ablaufenden und ständig orientierten Totalisierung bilden. Der 2. Band, der bald folgen wird, wird die Etappen der kritischen Progression nachzeichnen: er wird versuchen, nachzuweisen, daß es eine menschliche Geschichte mit einer Wahrheit und einer Intelligibilität gibt, und das keineswegs durch die Betrachtung des materiellen Inhalts dieser Geschichte, sondern durch den Nachweis, daß eine beliebige praktische Vielheit sich unaufhörlich totalisieren muß, indem sie auf allen Stufen ihre Vielheit verinnert« (siehe Sartre: KV, 72); siehe auch ibid., 868 (»strukturelle und historische Anthropologie«); 870 (»das Problem der Totalisierung selbst […], das heißt das Problem, wie sich im ablaufenden historischen Prozeß eine Wahrheit der Geschichte realisieren kann«). – Nach Sartres Tod wird der unvollendete 2. Teil unter dem Titel L’intellegibilité de l’histoire veröffentlicht. – Siehe Critique de la raison dialectique, éd. par Arlette Elkaïm-Sartre, Paris 1985. – Zu Sartres Idee einer »anthropologie structurelle« als »Fundierung für eine Theorie der Geschichte« siehe Klaus Hartmann: Sartres Sozialphilosophie. Eine Untersuchung zur ›Critique de la raison dialectique I‹, Berlin 1966, 54–56. 66 Siehe Sartre: WE, 26; ebenso: Sartre: KV, 868. – Vérité et existence, möglicherweise Sartres Reaktion auf die in Frankreich unter dem Titel De l’Essence de la Vérité erschienene Übersetzung des Heidegger-Vortrags Vom Wesen der Wahrheit (1930), entsteht 1948, knüpft also direkt an die Cahiers an. 67 Das Problem ist, daß Sartre »das Gute und das Böse als absolute Werte«, die ihm »im Katechismusunterricht entstanden« seien, einem »moralischen Bereich« zuzuordnen scheint, den er mit der Religion verbunden sieht (und dies sehr wohl für vermittelbar hält mit einer Moral ohne Gott). – Siehe Simone de Beauvoir: Die Zeremonie des Abschieds und Gespräche mit Jean-Paul Sartre, a. a. O., 560 f. – Damit aber fällt Sartre zurück hinter die Ablösungsbewegung autonomer moralischer von theonomen Versicherungsstrategien, wie sie das Studium der frühneuzeitlichen Geschichte des Naturrechts lehrt. 68 »Ich war ›Husserlianer‹ und sollte es lange bleiben. […] Ich brauchte vier Jahre, um Husserl auszuschöpfen.« (Siehe Sartre: TB, 267 f.) 69 In diese Richtung argumentiert auch: Klaus Hartmann: Grundzüge der Ontologie Sartres in ihrem Verhältnis zu Hegels Logik, a. a. O., 4.
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Hegel die phänomenologische Methode um das Prinzip der Dialektik zu erweitern.70 Diese Interpretation fi ndet in der vorliegenden Untersuchung keinen Partner; gleichwohl fi nden sich an ihrem Schluß Bemerkungen zu Sartres Verhältnis zur dialektischen Philosophie: Denn Sartre implantiert der Phänomenologie keine dialektischen Figuren, sondern bewahrt Aspekte seiner dezidiert deskriptiven phänomenologischen Perspektive für ein späterhin dialektisches Anliegen. Aber nochmals: Es ist nicht möglich und ließe der Themenstellung vorliegender Studie auch keine Gerechtigkeit widerfahren, im folgenden mit dem Anspruch auf auch nur annähernde Vollständigkeit die Aspekte Hegelianischer Einflüsse auf Sartres Philosophie darstellen und entsprechend kommentieren zu wollen. Vergleichsweise bescheiden werden z. B. Bemerkungen zu Sartres mit einem radikalen Engagement einhergehender politischer, will sagen marxistischer Phase ab 194571 ausfallen, der Fragen zum politischen Engagement sowie zur Möglichkeit einer Literaturtheorie vorhergehen. In diese Phase tritt Sartre 1946 ein mit seinem Aufsatz Matérialisme et Révolution, in dem im Zuge einer Erörterung des Unterschieds von ›materialistischer‹ und ›idealistischer‹ Dialektik der Name Hegel zwar öfter fällt, seine Philosophie jedoch nicht eingehend diskutiert wird; 72 bestenfalls mag mit der Unterscheidung dieser beiden Dialektiktypen ein Vorschein des Konzepts jener materialistischen Dialektik gesehen werden, die Sartre einige Jahre später in seiner Critique de la raison dialectique (1960) vertreten wird. 1952 folgt das umfangreiche Bekenntnis Les Communistes et la Paix, mit welchem Merleau-Ponty »eine neue Phase, die wir ultra-bolschewistisch nennen wollen«73 , anbrechen sieht; entsprechend ausführlich interpretiert er sie. Aber auch die Critique de la raison dialectique führt nirgends explizit eine Auseinandersetzung mit Hegels Dialektik, wohingegen die Siehe Michael Theunissen: »Sartre – ein Dialektiker?«, in: Dialektik 2. Der Kommentar, Köln 1981, 16–19; hier: 18. – Siehe v. a.: ders.: Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, 2., um eine Vorrede vermehrte Aufl age Berlin/New York 1977. – Und erneut in »Theorie der Temporalität« in: Sartre: Das Sein und das Nichts, hrsg. von Bernard N. Schumacher, Berlin 2003, 216–321; hier: 108; 110. 71 Den Auft akt bildet die in diesem Jahr von Sartre gegründete Zeitschrift Les Temps modernes, deren politische Leitung Maurice Merleau-Ponty untersteht. Das Periodikum wird bald zum einflußreichsten Publikationsorgan der französischen Linksintellektuellen. 72 Siehe Sartre: MR , bes. 198–217. 73 Siehe Maurice Merleau-Ponty: Die Abenteuer der Dialektik, Frankfurt/M. 1968, 120. (Titel der Originalausgabe: Les Aventures de la Dialectique, Paris 1955.) – Ein bemerkenswerter Vorwurf, verliert doch nach dem Zweiten Weltkrieg durch den Ost-West-Konfl ikt der Bolschewismus als politisches Phänomen und auch eigens als Begriff zunehmend an Bedeutung. 70
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marxistische darin ausführliche Rekonstruktionen erfährt. Ausdrücklich betont sei, daß eine adäquate Behandlung dieses Problemkreises keinesfalls weite Ausgriffe in den linken Flügel der Hegel-Schule, sprich in Marx’ Theorie bzw. in die Geschichte des historischen Materialismus – »der Ideologie einer aufsteigenden Klasse«74 – erfordert hätte: Von solchen nämlich nimmt Sartre selbst Abstand, 75 weil es (nicht zuletzt) in Wahrheit nicht darum gehe, »eine Dialektik zu entdecken: einerseits, weil das dialektische Denken sich historisch seit Beginn des letzten Jahrhunderts seiner selbst bewußt geworden ist, andererseits genügt die bloße historische oder ethnologische Erfahrung, dialektische Sektoren in der menschlichen Tätigkeit aufzudecken.«76 Die anschließenden Überlegungen nehmen folgenden Verlauf: Als eines der raren Beispiele für Sartres explizite Auseinandersetzung mit Hegel in Das Sein und das Nichts wird in einem ersten Schritt die dortige These von Hegels vorgeblicher Sein-Nichts-Dialektik befragt (II.); sodann soll erinnert werden an Sartres auf Basis von Husserl-Studien entwickelte Lehre von einem präreflexiven Cogito [»cogito préréflexif«] (III.), was die Möglichkeit eröff net für eine Unterscheidung von Sartres cartesianischem Ego cogitans (extrahiert aus Husserl-Heidegger) und Hegels Kritik an den Ich-Lehren, auf welche dieser in seiner Zeit reagiert (IV.). Diese Interpretationen stellen die Voraussetzung dar für Bemerkungen zu Sartres sog. »existentieller Psychoanalyse«, die zu Hegels Lehre vom subjektiven Geist ins Verhältnis gesetzt wird (V.), bevor abschließend Sartres ambitionierte Pläne in bezug auf die Dialektik skizziert werden (VI.).
II. »Sein« und »Nichts« bei Sartre und Hegel Der »Erste Teil« »Das Problem des Nichts« in Sartres Das Sein und das Nichts behandelt in seinem »Ersten Kapitel« »Der Ursprung der Negation« in einem dritten Abschnitt »Die dialektische Auffassung des Nichts«77. Bereits hinsichtlich der letztgenannten Titelei könnte – freilich überspitzt – Sartre entgegnet werden, Hegels Philosophie beweise in jeder ihrer Zeilen die Praxis spekulativer Dialektik – aber eben gerade nicht am Beginn der Wissenschaft der Logik, wo die näheren Verhältnisbestimmungen von Siehe Sartre: KV, 26. Siehe Sartre: KV, 41. 76 Siehe Sartre: KV, 869; siehe hierzu auch: ibid., 29. 77 Zum Überblick: Dieser III. Abschnitt gehört zum ersten Kapitel »Der Ursprung der Negation« besagten ersten Teils »Das Problem des Nichts«, der auf die mit »Auf der Suche nach dem Sein« betitelte »Einleitung« folgt. 74
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»Sein« und »Nichts« getroffen werden. Nichtsdestoweniger fi nden sich in dem in Rede stehenden Abschnitt Sartres Voraussetzungen für einige grundlegende Bestimmungen, die seine Philosophie von derjenigen Hegels unterscheiden. Sartres Vorwurf gegenüber Hegel lautet, Hegels Philosophie verfehle das Nichts, da sie es nicht als derivaten Modus des Seins verstehe: »vom Sein nimmt es [das Nichts, H. G.] sein Sein«78 , so Sartre, und spielt damit auf seine These von der ›logischen Verspätung‹ oder, wie er auch sagt, der »Nachherigkeit des Nichts«79 an, von der er die »logische Gleichzeitigkeit« 80 von Sein und Nichts in Hegels Lehre unterschieden wissen will. Dieser ontologischen Verhältnisbestimmung entnimmt Sartre die Kontrarietät von Sein und Nichts (Hegels These) im Unterschied zu der für seine These über das Sein beanspruchten Kontradiktionalität eines »logische[n] Später des Nichts« 81. Entscheidend für das folgende wäre nun ein Wissen davon, daß Sartre hier einen Problemverbund anspricht, der ausschließlich Hegels ersten Begriff des Seins, d. h. das Sein der Seinslogik, angeht. Dieses Sein in seiner absoluten Unmittelbarkeit in der Form tautologischer Identität – »als der abstrakteste der bestgewählte«, so Sartre Jahre später82 – entläßt aus sich die erste Negationsstufe, die in den zweiten Begriff des Seins überleitet, d. h. zum Sein der Wesenslogik – »des vermittelten Seyns« 83 der Reflexion – fi ndet (»Wesen ist aber das an und für sich aufgehobene Seyn« 84), um schließlich in der »absoluten Negation« (Negation der Negation, deren ontologischen Status Sartre rigoros bestreitet) der subjektiven Begriffslogik den Nachweis anzutreten, »daß das Seyn reiner Begriff an sich selbst, und nur der reine Begriff das wahrhafte Seyn ist«85 , d. h. zu einem restituierten, vollständig vermittelten Sein vordringt, das mit dem Denken selbst identisch ist: Das Wesen ist die Negation des Seins, der Begriff die Negation dieser Negation, wodurch das Sein methodisch, will sagen im Horizont der Idee, wiederhergestellt ist in einer »Bewegung […], die der Hegelschen Dialektik eigen ist, die ganz auf der Dynamik der Ideen beruht.« 86 In dieser Weise expliziert die Wissenschaft der Logik keine rein formale, sondern eine gleichermaßen ontologische wie metaphysische Logik i. S. antiker Logosphilosophie (»die logische 78 79 80 81 82 83 84 85 86
Siehe Sartre: SN, 70. Siehe Sartre: SN, 71. Siehe Sartre: SN, 67. Siehe Sartre: SN, 68. Siehe Sartre: MR, 201. Siehe Hegel: GW 11, 31. Siehe Hegel: GW 11, 244. Siehe Hegel: GW 11, 30. Siehe Sartre: MR, 201.
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Wissenschaft , welche die eigentliche Metaphysik oder reine speculative Philosophie ausmacht« 87). Daß Sartre tatsächlich den höchsten Anspruch Hegelianischer Logik ermißt, nämlich (als Konsequenz aus der Phänomenologie des Geistes, d. h. einer »Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseyns« – so der ursprüngliche Zwischentitel –) das »System der reinen Denkbestimmungen« 88 als sich selbst explizierende Einheit von Sein und Denken zu erweisen, könnte ihm nur dann zugestanden werden, wenn seine Bemerkung, »daß Hegel das Sein auf eine Bedeutung des Existierenden reduziert« 89 – für Sartre ist es »die immer anwesende Grundlage des Existierenden« 90 –, nicht i. S. einer allzu flachen Interpretation des Begriffs des Existierenden diskreditiert würde – oder besser gesagt: als eine These Hegels über das Sein, die – einmal gesetzt, sie sei zulässig – stringent sowohl den Voraussetzungen als auch den Folgen einer spekulativen Philosophie des Absoluten entspricht, eines Absoluten jedoch, welches erst Hegel aus dem »Gegensatze des Bewußtseyns« 91 zu befreien sucht, mithin desjenigen Absoluten, »das die Rationalisten des 17. Jahrhunderts logisch als ein Erkenntnisobjekt defi niert und konstituiert hatten.«92 Daß Sartre zumindest eine reflexionslogische Einsicht jenes Hegelianischen Ansatzes unterstellt werden Siehe Hegel: GW 11, 7. – Hegel sagt andernorts: »Die objective Logik tritt somit überhaupt an die Stelle der vormaligen Metaphysik. Erstens unmittelbar an die Stelle der Ontologie, des ersten Theils derselben, der die Natur des Ens überhaupt darstellen sollte […]. Alsdann aber begreift die objective Logik auch die übrige Metaphysik in sich […]. Die objective Logik ist daher die wahrhafte Kritik derselben […].« Siehe Hegel: GW 11, 32. 88 Siehe Sartre: SN, 64. – Hegel äußert sich zum »objectiven Werth und [der, H. G.] Existenz« solch reiner, sprich logischer »Denkbestimmungen« in: Hegel: GW 11, 22. 89 Siehe Sartre: SN, 66. – Sartres Th ese besagt, das Sein der Phänomene löse sich nicht in ein Seinsphänomen auf: »Das Existierende ist Phänomen, das heißt, es zeigt sich selbst als organisierte Gesamtheit von Qualitäten an. Sich selbst und nicht sein Sein. Das Sein ist einfach die Bedingung jeder Enthüllung: es ist Sein-zum-Enthüllen und nicht enthülltes Sein.« – Siehe Sartre: SN, 16. – Angewandt: Das Seinsphänomen erschließt sich für die Erkenntnis nicht durch die organisierte Gesamtheit von Qualitäten, d. h. durch die seienden Phänomene. Sartre spricht in diesem Zusammenhang von einem »Ruf nach Sein; als Phänomen verlangt [das] Seinsphänomen […] die Transphänomenalität des Seins« (ibid.). – Wir werden bald sehen, daß Sartre von hier aus zu seiner These von der Präreflexivität des Cogito überleitet. 90 Siehe Sartre: SN, 37. 91 Siehe Hegel: GW 11, 21. – Für Sartre unterliegt solches Denken den Bedingungen seiner Zeit: der »Zeit Hegels« eben. – Siehe Sartre: KV, 23. 92 Siehe Sartre: SN, 27. – Begriff sgeschichtlich wird das Absolute bereits im 15. Jahrhundert aus der Taufe gehoben. – Siehe Historisches Wörterbuch der Philosophie, 1, 14. 87
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kann, beweist seine weitergehende These zu Hegel, das »Sein ist vom Wesen umschlossen, das seine Grundlage und sein Ursprung ist.« 93 Daß hierbei die konzeptionelle Gliederung der Wissenschaft der Logik – die ja ihrerseits ein komplexes philosophisches Argument darstellt – unbedacht bleibt, 94 soll hier nicht weiter Thema sein; daß Sartre indes in Hegels Satz: »Die Wahrheit des Seyns ist das Wesen« 95 eine das (in seinem Sinne vorzunehmende) Bestimmungsverhältnis von Sein und Phänomen betreffende Logik des infi niten Regresses entlarvt (dann »bedürfte es eines Seins dieses Seins«), ist ein Hinweis auf die Unmittelbarkeit des »Seins-an-sich«, wie er es zu denken aufgibt, »wo wir nicht einmal eine Spur dieser ersten Struktur fi nden würden«96 . Ein sich aufhebendes Sein i. S. Hegels dagegen müsse, so Sartre, »so wie es ist[,] dem Verstand erscheinen«. Der Verstand jedoch, so schon der Jenaer Hegel, verbleibt in einer isolierenden Tätigkeit, d. h. in einer Beziehungsoperation, die den zu verbindenden endlichen Reflexionsbestimmungen äußerlich bleibt – und dieses Verhältnis ist nicht (mehr) dasjenige der Wissenschaft der Logik. Hegel betont bereits in der Phänomenologie des Geistes, das Individuum habe »das Recht zu fodern, daß die Wissenschaft ihm die Leiter wenigstens zu diesem Standpunkte reiche« 97, ihm in ihm selbst denselben aufzeige. Inwieweit dann davon gesprochen werden könnte, daß der logische Gang, den Hegels Wissenschaft der Logik nimmt, ein bewußt- oder geistloser sei (wovon weder Sartre 98 noch Hegel 99 selbst auszugehen scheinen), kann nicht das Thema dieser Untersuchung sein. Sartre referiert den »Gesichtspunkt Hegels« also mißverständlich, wenn er sagt, in »seiner Logik untersucht er ja die Beziehungen zwischen Sein und Nicht-Sein«100 . Nach Hegel sind zwar negationsfreie BeziehungsSiehe Sartre: SN, 66. – Siehe auch: ders.: KV, 250. »Die objective Logik, welche das Seyn und Wesen betrachtet, macht daher eigentlich die genetische Exposition des Begriffes aus« (siehe Hegel: GW 12, 11). 95 Siehe Hegel: GW 11, 241. 96 Siehe Sartre: SN, 66. 97 Siehe Hegel: GW 9, 23. 98 Siehe Sartre: SN, 68. 99 Hegel erteilt noch in der zweiten Aufl age (1832) seiner Seinslogik ausführlich Auskunft über das Verhältnis von Geist und Logik. – Siehe z. B. Hegel: GW 21, 5, 32 f., 54 f. 100 Siehe Sartre: SN, 64. – Der Rückgang auf den französischen Originaltext beweist das philosophische Problem: »C’est dans la Logique, en effet, qu’il étudie les rapports de l’Etre et du Non-Etre« (siehe Sartre: EN, 47), d. h. Sartre referiert Hegel terminologisch tatsächlich so, als ob dieser eine Negation logischen Seins behaupte. Bemerkenswert: Das deutsch-französische »Glossar« der verbesserten Übersetzung, die Hans Schöneberg und Traugott König besorgt haben, bildet dieses Problem nicht 93
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formen undenkbar, doch das Verhältnis von Sein und Nichts (und nicht »Nicht-Sein«, worin Negation begriffl ich bereits realisiert ist) ist nicht als Beziehung zu verstehen und somit auch nicht, wie Sartre meint, als bestimmte Negation (als deren Entdecker Sartre Hegel feiert101). Solche sieht Hegel allein im »Werden« gegeben, d. h. als Einheit in Gestalt eines interdependenten Ineinander-Verschwindens von Sein und Nichts, aus dessen Momenten (Entstehen/Vergehen) sich allererst »Dasein« ergibt. Daher sagt Hegel auch: »In der Sphäre des Seyns entsteht dem Seyn als unmittelbarem, das Nicht-seyn gleichfalls als unmittelbares gegenüber, und ihre Wahrheit ist das Werden.«102 Daß Sartre hier einem unseligen Hegel-Verständnis aufsitzt, erhellt nicht zuletzt daraus, daß er konkret von dem »Gegenteil«103 von reinem Sein und reinem Nichts spricht und diesen Gedanken ausgerechnet mit folgendem Zitat aus der Enzyklopädischen Logik abgesichert sieht: »Dieses reine Seyn ist nun die reine Abstraction, damit das absolut-Negative, welches, gleichfalls unmittelbar genommen, das Nichts ist.«104 Dieser Beleg ist umso erstaunlicher, als Sartre seine Bedeutung, die doch das Gegenteil dessen belegt, was er bestätigt wissen will, offensichtlich völlig verkennt. Nochmals: Für Hegel, sich auf Spinozas bekannte Wendung »Omnis determinatio est negatio« beziehend (wie auch Sartre weiß105), ist zwar jede Bestimmung Negation106 – aber Nichts ist keine Bestimmung, d. h. Nichts und Nicht-sein sind nicht dasselbe. Und er benennt »die Zweideutigkeit des Hegelschen Begriffs ›Sich-Aufheben‹, das bald ein Hervorbrechen aus der tiefsten Tiefe des betrachteten Seins zu sein scheint und bald eine äußere Bewegung, von der dieses Sein mitgerissen wird« – was allerdings nicht der von Hegel intendierten Doppelsinnigkeit des Aufhebungsbegriffs entspricht. Doch Sartre gibt zu bedenken: »Es genügt nicht, zu behaupten, daß der Verstand im Sein nur das fi ndet, was es ist, man muß auch erklären, wie das Sein, das
ab: Entsprechende Einträge zu »Nichts« oder »Nicht-Sein« bzw. »non-être« fi nden sich nicht; im französischen Glossar hätte »non-être« auf S. 1124 verzeichnet gehört; ansonsten werden die unterschiedlichen Formen des Nichts bei Sartre begriffl ich vollständig erfaßt (»il est néantisé«, »négatité«, »[se] néantiser«, »néantisation«, »néant« im Unterschied zu »rien«, »néantité«, »néant d’être«). Die Übersetzer schwanken auch zwischen »Nicht-Sein« und »Nicht-sein«, zwischen denen allerdings kein philosophischer Unterschied besteht. 101 Siehe Sartre: SN, 69, FN. 102 Siehe Hegel: GW 11, 249. 103 Siehe Sartre: SN, 65. 104 Vgl. Hegel: GW 20, § 87 mit: Sartre: SN, 65. 105 Siehe Sartre: SN, 68. 106 Siehe z. B.: Sartre: SN, 69, FN; 345.
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das ist, was es ist, nur das sein kann: eine derartige Erklärung würde ihre Legitimität aus der Betrachtung des Seinsphänomens als solchen herleiten und nicht aus den negierenden Verfahren des Verstandes.«107 Daher ist es auch verfehlt zu konstatieren, für »Hegel ›macht sich‹ das Sein zum Nichts, weil er implizit die Negation in seine Defi nition des Seins selbst eingeführt hat.«108 So vermag aus der Unterscheidung der Begriffe »Nichts« und »Negation« die Restitution des wahrhaften Anliegens der mit der Wissenschaft der Logik erneut aufgeworfenen Anfangsproblematik für die Philosophie als solche gewonnen werden, nämlich Hegels Vorschlag einer Antwort auf die Frage, wie das Verhältnis von Bewußtseinslehre (Phänomenologie des Geistes) und Logik näher zu bestimmen sei. Sartres Einwand, »wenn ich jede Bestimmung und jeden Inhalt des Seins negiere, so ist das nur möglich, indem ich behaupte, daß es mindestens ist«109, hätte Hegel bezogen auf die Operation bestimmter Negation zugestimmt; doch Sartre spricht hier seine Lehre von der Transphänomenalität des Seins an, die keine Entsprechung bei Hegel hat. Allein, so Hegel auch noch 1827 im Begriff der Religion, das »Sein ist weiter nichts als das Unsagbare, Begrifflose, nicht das Konkrete, […] ganz nur die Abstraktion der Beziehung auf sich selbst. […] Sein ist das Unmittelbare überhaupt, […] was heißt, daß die Vermittlung negiert ist.« Mit einem Wort: Für Hegel ist Sein kein (einfacher) Begriff, sondern lediglich die »abstrakte, allerdürft igste« Bestimmung desselben: nämlich die »abstrakte Beziehung auf sich selbst; mit ihr fängt die Logik an.«110 Wenn anders Sartre konstatiert: »Die Negation kann den Seinskern des Seins nicht erreichen, das absolute Fülle und gänzliche Positivität ist. Dagegen ist das Nicht-sein eine Negation, die auf diesen Kern gänzlicher Dichte selbst zielt. In seinem Innern negiert sich das Nicht-sein«111, macht er Hegel zum Vorwurf, er verfolge den Gedanken eines in sich widersprüchlichen (weil selbstreferentiellen) Nichts, d. h. er verfehle dessen eigentliche Wahrheit: nämlich Abwesenheit von etwas zu sein. Dies bedeutet jedoch gleichermaßen, daß Sartre – als Heidegger-Adept ansonsten durchaus differenziert die konzeptuelle Valenz von Nichts ermessend – Hegel hier eine Vermengung von einerseits bestimmter Negation i. S. logischer Operation und andererseits Nichts i. S. ontischer Konkretion unterstellt. Hegel behauptet nirgends, Nichts inhäriere das Prinzip bestimmter Negation. Gleichwohl: Sowohl 107 108 109 110 111
Siehe Sartre: SN, 67. Siehe Sartre: SN, 68. Siehe Sartre: SN, 68. Siehe Hegel: V 3, 326. Siehe Sartre: SN, 68.
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damit, daß »das Sein leer ist von jeder Bestimmung außer der Identität mit sich selbst«, als auch mit dem Folgesatz, »das Nicht-sein ist leer von Sein«, stimmt Sartre mit Hegel überein; die Konsequenz, die »man hier gegen Hegel in Erinnerung bringen muß, […] daß das Sein ist und daß das Nichts nicht ist«112 , verdeutlicht freilich die entscheidende Differenz in Sartres und Hegels Denken des Nichts – denn just dieses (und weniger das Sein) bereitet den Zankapfel. Ex ente nihil non fit, so Sartre wider die alte Metaphysik, und sagt es bündig: Das »Nichts sucht das Sein heim.«113 Wenn Sartre konstatiert, es sei »noch zu früh, diese Hegelsche Auffassung [sc. das von Sartre dialektisch verstandene Sein-Nichts-Verhältnis] als solche zu diskutieren«114 , bleibt dem Leser schließlich die Enttäuschung nicht erspart, daß es bei besagter Vertröstung Sartres geblieben ist. Zumindest aber sollten unsere bisherigen Ausführungen die grundsätzliche Problematik verdeutlicht haben: Sartres Hegel-Deutung dokumentiert v. a. eine Unempfänglichkeit für die Problematik möglicher Bezugsmodi von Phänomenologie des Geistes und Wissenschaft der Logik, d. h. den Status von Bewußtseins- bzw. Geistlehre in ihrem Verhältnis zu der Sphäre des »Logischen«, wie Hegel sie auch nennt. So kann Sartre beispielsweise die »einfache inhaltslose Unmittelbarkeit« der Nürnberger Logik auf das »reine Sein« der sinnlichen Gewißheit der Phänomenologie des Geistes beziehen – eine mindestens problematische Deutung.115 Weitere Interpretationsschwierigkeiten rühren nicht zuletzt daher, daß, wie bereits erwähnt, Sartres Analysen ihren Ausgang von ausgewählten Hegel-Passagen Lefebvres116 nehmen; erschwerend kommt hinzu, daß Sartre Hegels philosophisches Anliegen rekapitulieren zu können glaubt mit (dem Problembestand nur wenig zweckdienlichen) Zitaten aus Werken von Jean Laporte (1886–1948) – dessen Gedanke begriffl icher Vervollständigungen Hegel wohl als verendlichendes, begrenzendes oder bedingendes Denken verstanden hätte117 – über René Le Senne (1882–1954) – dessen hierarchiSiehe Sartre: SN, 69. Siehe Sartre: SN, 70. 114 Siehe Sartre: SN, 66. 115 Siehe z. B.: Sartre: SN, 65. 116 Siehe Sartre: SN, FN 31. 117 Wenn Sartre Laporte außerdem so adaptiert, »daß man abstrahiert, wenn man das isoliert denkt, was niemals isoliert existieren kann« (siehe Sartre: SN, 49), hätte er diesen Gedanken auch bei Hegel selbst fi nden können, der mit dem Prinzip der Relation die Wahrheit der Bestimmung der Einzelheit aufdeckt, oder wie es in der Begriff slogik (Allgemeines – Besonderes – Einzelnes) heißt: »Die Abstraktion, welche als die Seele der Einzelheit […] ist« (siehe Hegel: GW 12, 51). – Sartre (re-)formuliert diese These so, daß der »Idealismus […] mit Recht die Tatsache betont, daß die Beziehung die Welt macht« (siehe Sartre: SN, 545). 112 113
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sierende Verhältnisbestimmung von ›abstrakt‹ und ›konkret‹ gänzlich unhegelianisch ist – bis zu Octave Hamelin (1856–1907).118 Zudem bezieht Sartre zentrale Ansätze für seine Hegel-Deutung aus als Zitate ausgewiesenen Sentenzen, die so im Corpus Hegelianum nicht nachweisbar sind, und hier ist die Wendung »Wesen ist, was gewesen ist«119 nur die augenfälligste. Aus der Einsicht eines Ungenügens der Husserlschen Phänomenologie gewinnt Sartre seine originäre ontologische Zutat, nämlich die Entdekkung eines Seins der Phänomene, mithin seine These von der Transphänomenalität des Seins.120 Die Basis dieser Theorie fi ndet sich v. a. in Sartres in phänomenologischer Perspektive vorgenommenen Analysen der Faktizität des Bewußtseins (des Berkeleyschen »Seins des percipi«121), dessen Seinsweise die idealistische These falsifi ziere: »Wenn man […] um jeden Preis will, daß das Sein des Phänomens vom Bewußtsein abhängt, muß sich das Objekt nicht durch seine Anwesenheit von dem Bewußtsein unterscheiden, sondern durch seine Abwesenheit, nicht durch seine Fülle, sondern durch sein Nichts. Wenn das Sein dem Bewußtsein zugehört, ist das Objekt nicht das Bewußtsein, und zwar nicht in dem Maß, wie es ein anderes Sein, sondern wie es ein Nicht-sein ist.«122 Mit dem wahren Sein des Objekts: seinem reinen Nicht-sein, eröff ne sich, so Sartre, allererst der vollgültige Sinn der »Transzendenz des Bewußtseins«, deren Freilegung Husserl zu verdanken sei (auch wenn dieser später, so Sartre, »aus dem Noema als Korrelat der Noesis ein Nicht-Reelles macht« und so »seinem Prinzip vollkommen untreu«123 geworden sei). Daher sagt Sartre um willen der Vermeidung dieses Fehlers: »Das Bewußtsein ist ein Sein, dessen Existenz die Essenz setzt, und umgekehrt ist es Bewußtsein von einem Sein, dessen Essenz die Existenz impliziert, das heißt, dessen Erscheinung verlangt zu sein. Das Sein ist überall. […] Es versteht sich, daß dieses Sein kein anderes ist als das transphänomenale Sein der Phänomene und nicht Siehe Le problème de l’abstraction, Paris 1940; Introduction à la philosophie, Paris 1925 bzw. Essai sur le éléments principaux de la representation, Paris 1901. – Zur Kontrarietät als »Motor des dialektischen Prozesses« bei Hamelin siehe auch Sartre: KV, 46. 119 Vgl.: Sartre: SN, 101; 763 mit: Hegel: GW 11, 241. 120 Später betont Sartre die »Formalität« der Husserlschen Bewußtseinslehre: »Wir dagegen müssen unsere apodiktische Erfahrung in der konkreten Welt der Geschichte fi nden.« (Siehe Sartre: KV, 36.) 121 »Der Modus des percipi ist das Passiv.« (Sartre: SN, 29). – Die SolipsismusProblematik wird uns später ausführlicher beschäft igen. 122 Siehe Sartre: SN, 34. 123 Siehe Sartre: SN, 35. 118
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ein noumenales Sein, das sich hinter ihnen versteckte. Es ist das Sein dieses Tischs, dieses Tabakpäckchens, der Lampe, allgemeiner das Sein der Welt, das durch das Bewußtsein impliziert ist. Es verlangt einfach, daß das Sein dessen, was erscheint, nicht lediglich existiert, insofern es erscheint. Das transphänomenale Sein dessen, was für das Bewußtsein ist, ist selbst an sich.«124 Man sieht: Sartre reflektiert hier keineswegs den »Standpunkt des Idealismus«, von dem Hegels Phänomenologie des Geistes vorgezeichnet ist (und mit dem Sartre Hegels Denken vielmals inadäquat identifi ziert125): Wenn Fichte das Wissen auf die spontane Selbstgewißheit eines absolut gesetzten Ichs (das Selbstbewußtsein) zurückführt126 (welchen Ansatz Hegel prinzipiell legitimiert, jedoch nicht im Modus der Selbstexplikation angesiedelt sieht), so ist alle Gewißheit über die Welt im Absoluten unseres Selbstbewußtseins angelegt: Sie ist erste Ursache und absoluter Grund der Welt: »Die Vernunft ist die Gewißheit des Bewußtseyns alle Realität zu seyn: so spricht der Idealismus ihren Begriff aus.«127 Zwar leugnet auch Sartre weder die Erkenntnis- noch die Selbsterkenntnispotenz des Bewußtseins, gibt allerdings zu bedenken: »Aber es ist in sich selbst etwas anderes als eine zu sich zurückgewandte Erkenntnis.«128 Dahingegen sieht Hegel das Prinzip des Bewußtseins in der Alternative Realismus – Idealismus befangen und erörtert in extenso die Einseitigkeiten der Stand-
Siehe Sartre: SN, 36 f. Siehe z. B.: Sartre: KV, 22, 32, 37, 39. – Sartre erkennt in Hegels Idealismus zwar eine »Überlegenheit des […] Dogmatismus« (ibid., 22): der Dialektik nämlich; letztlich jedoch sei ein solcher dialektischer Dogmatismus unhaltbar, »weil sich die Dialektik als Rationalität in der unmittelbaren und alltäglichen Erfahrung enthüllen muß, und zwar sowohl als objektive Verbindung der Tatsachen wie auch als Methode zur Erkenntnis und Fixierung dieser Verbindung.« (ibid., 36). 126 »Das Bewußtsein von sich ist nicht paarig. Wenn wir den infi niten Regreß vermeiden wollen, muß es unmittelbarer und nicht kognitiver Bezug von sich zu sich sein.« (Sartre: SN, 21). 127 Siehe Hegel: GW 9, 133. – Zum »fünff ache[n] Defi zit«, das Hegel hier dem Fichteschen und Kantischen Idealismusbegriff vorrechnet, siehe Wolfgang Janke: Die dreifache Vollendung des Deutschen Idealismus. Schelling, Hegel und Fichtes ungeschriebene Lehre, Amsterdam/New York 2009, 156–159. (Fichte-Studien-Supplementa. Band 22) – Im »Idealismus des Bewußtseins« spricht sich für Sartre der »Primat der Erkenntnis« aus. – Siehe Sartre: SN, 24. – Als »Geist« wird die »absolute Identität« für Hegel zum moralischen Selbstbewußtsein und schließlich in der christlichen Religion die »Menschwerdung des göttlichen Wesens« als ein Allgemeines gedeutet: als Offenbarung der Einheit des menschlichen Selbstbewußtseins mit dem Göttlichen. 128 Siehe Sartre: SN, 19. – Off ensichtlich unrefl ektiert bleibt bei Sartre das historisch-systematische Prius des Selbsterkenntnis- vor dem Selbstbewußtseinskonzept (siehe die einschlägigen Artikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie). 124 125
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punkte des Idealismus und Realismus.129 »Das Bewußtseyn ist der Geist als concreter Gegenstand«130 , bestätigt noch der Hegel der Wissenschaft der Logik im Rückblick auf die Phänomenologie des Geistes. Auch wenn in Sartres Das Sein und das Nichts gleich zu Beginn »eine gewisse Zahl von Dualismen […], die die Philosophie in Verlegenheit gebracht hatten«131, interpretiert werden, wäre die Hypothese fehl am Platze, Sartre habe just dieser Hegelianische Problembestand bei der Abfassung seines Werkes vor Augen gestanden. Gleichwohl läßt Sartre keinen Zweifel: »Das Bewußtsein ist nicht ein besonderer Erkenntnismodus, genannt innerster Sinn oder Erkenntnis von sich, sondern es ist die transphänomenale Seinsdimension des Subjekts.«132
III. Sartres Lehre von der Präreflexivität des Cogito Wir haben gesehen: Um Sartres Strategien, einschlägige Aspekte Hegelianischen Denkens zu funktionalisieren, ansichtig zu werden, ist es vonnöten, Sartres eigene Philosophie in denjenigen Entwicklungsmomenten, die für das Thema vorliegender Abhandlung relevant sind, zu interpretieren. Sartre schreibt nicht nur kein Hegel-Buch133 , sondern er zählt prinzipiell nicht zu den Autoren philosophischer Monographien (anders als z. B. der Hyppolite-Schüler, spätere Essentialismus-Kritiker und offensive AntiHegelianer Gilles Deleuze134). Um willen eines tieferen Verständnisses des Einzelnen verfaßt Sartre Dichter-Monographien: über Baudelaire (1947); das böse Werk des »heiligen« Genet (1952, als Band 1 seiner Œuvres comSiehe Hegel: GW 6, 290–294. – Indem »das Einsseyn beyder« erwiesen werde, sei »das Bewußtsein diß Absolute« – Siehe ibid., 293. 130 Siehe Hegel: GW 11, 8. 131 Siehe Sartre: SN, 9. 132 Siehe Sartre: SN, 19. 133 Siehe hierzu auch: Bernhard Waldenfels: Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/M. 1983, 79. – Ebenso: Peter Kampits: Jean-Paul Sartre, München 2004, 45, 65. 134 Deleuze schreibt Bücher über Hume (1953), Nietzsche (1962, dessen Werke er mit Foucault kritisch ediert; seiner Freundschaft mit ihm widmet Deleuze 1986 das Buch Foucault), 1963 Kant, 1966 Bergson und 1968 Spinoza; diese Reihe beschließt das Leibniz-Buch (1986). Um kurz auf Foucault zurückzukommen: Pillen führt den Nachweis, Hegels Geist bleibe in Foucaults Dissertationsschrift Histoire de la folie à l’âge classique – Folie et déraison (1961), die für gewöhnlich als Manifest der Abkehr von Hegel gesehen wird, ungeachtet der Intentionen seines Verfassers präsent. – Siehe Angelika Pillen: Hegel in Frankreich. Vom unglücklichen Bewußtsein zur Unvernunft , Freiburg/München 2003. 129
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plètes); über Mallarmé (1953, 1983 postum publiziert) – in Sartres Augen ein Vertreter der »litterature engagee« –; sowie über L’idiot de la famille. Gustave Flaubert de 1821 a 1857 (3 Bände, 1971/72), die psychoanalytische Ansätze zeigt.135 Im Rahmen dieser nicht im strengen Sinne als literaturwissenschaft liche Werke zu bezeichnenden Arbeiten Sartres liegt mit Saint Genet, comédien et martyr (dt. 1982) eine mit psychoanalytischen Reminiszenzen durchsetzte Untersuchung vor, die einige wenige Hegel-Bezüge – meistenteils auf die Phänomenologie des Geistes – aufweist. Es verkennte jedoch die Verhältnisanteile, hier von einer ambitionierten Auseinandersetzung Sartres mit Hegels Denken zu sprechen, wie sie beispielsweise gut zwanzig Jahre später Jacques Derrida in Glas führt.136 Wie gesehen, hat Sartre zwar zu der Zeit der Abfassung seiner literaturkritischen Arbeiten längst zur Philosophie gefunden137 – aber zu Hegel im besonderen erst in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Dazu paßt, daß er Kojèves HegelVorlesungen verpaßt (wie übrigens auch jene vier Husserl-Vorlesungen an der Sorbonne, aus denen später die Cartesianischen Meditationen hervorgehen). Ob nun der alte Schulfreund Aron, Levinas oder Fernando Gerassi für Sartres über einen längeren Zeitraum so begeisterte wie produktive Aneignung der Husserlschen Phänomenologie verantwortlich zeichnen, 138 ist nicht entscheidend. Wenn Husserl über den Weg einer Unterscheidung von transzendentaler und formaler, d. h. die »objektiv-logischen« Bedingungen von Erkenntnis auslotender Logik spätestens mit den Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (Erster Teil, 1913) zum transzendentalen, d. h. die »noetischen« Voraussetzungen im Erkenntnisakt aufweisenden Subjekt fi ndet (oder wie viele seiner ersten, unbeirrbar an den Logischen Untersuchungen orientierten Schüler Bereits zu Beginn der 30er Jahre entdeckt Sartre die Romane Hemingways; während seines Berlin-Aufenthaltes 1933/34 begeistern ihn zudem die Werke Faulkners und Kafk as, er verfaßt den Essay A propos de Dos Passos et de »1919«. Hackenesch wertet Sartres Arbeiten zur Belletristik als Ausdruck des Bedürfnisses, eine »Einheit von Leben und Werk darzustellen«. – Siehe Christa Hackenesch: Jean-Paul Sartre, Hamburg 2001, 52. – Den poetologischen Hintergrund dieser Arbeiten bildet sein 1947 publiziertes Qu’est-ce que la littérature?, auf welches noch ein Jahrzehnt später geantwortet wird. – Siehe z. B.: Roland Barthes: Am Nullpunkt der Literatur, Zwei Essays, aus dem Französischen von Helmut Scheffel, Hamburg 1959. 136 Siehe Jacques Derrida: Glas, Paris 1974. – In dt. Übersetzung: Glas, München 2006. 137 Sartre kommt dazu, Philosophie statt Literatur zu studieren, als er 1923 Bergsons Essai sur les données immédiates de la conscience (1889, dt. Zeit und Freiheit [1911]) studiert. Bergson unterscheidet dort den Zeitbegriff der Natur- von demjenigen der sog. Humanwissenschaften. 138 Siehe Bernard-Henri Lévy: Sartre, a. a. O., 148 f. 135
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– so auch Sartre!139 – beklagen: hinter sie zurückfällt) und in einem zweiten Schritt Heidegger endgültig mit Sein und Zeit Husserls Phänomenologie »fundamentalontologisch« zu unterlaufen sucht, 140 gründet anders Sartres »Versuch einer phänomenologischen Ontologie« in einer Bewußtseinslehre, in deren Zentrum seine schon früh entwickelte These vom »präreflexiven Cogito« steht. So kommt das spätere Das Sein und das Nichts nicht aus dem Nichts, sondern setzt Sartres jüngere Arbeiten zur Bewußtseinsphilosophie insoweit voraus, als Sartre auch hier an der Lehre von der Präreflexivität des Cogito nicht nur festhält, sondern diese fortzuentwickeln sucht.141 Ihr komplexes Argument fi ndet sich bereits in La transcendance de l’ego142 und L’imaginaire (1940), die beide unter dem Einfluß Husserls stehen; von Hegel ist hier noch keine Rede. Sartre adaptiert Husserls seit den Ideen I gültige transzendentalphänomenologische Grundthese, auch ein reines, von sämtlichen Vormeinungen befreites Bewußtsein (dðï÷Þ) 143 sei stets »Bewußtsein von etwas«144 (intentio recta), oder wie Hegel sagt: »Bewußtseyn überhaupt […], welches einen Gegenstand als solchen hat«.145 Bei Sartre heißt es schlicht: »Aufmerksamkeit ist intentionale Richtung auf Objekte«.146 Jedweder »Akt des Bewußtseins«, geht Husserl noch weiSiehe Sartre: TE, 47. Heidegger kann Husserls radikale Ausklammerung des »Seinsglaubens« nicht akzeptieren: »Stelle ich mich über dieses ganze Leben und enthalte ich mich jedes Vollzuges irgendeines Seinsglaubens, der geradehin die Welt als seiende nimmt – richte ich ausschließlich meinen Blick auf dieses Leben selbst, als Bewußtsein von der Welt, so gewinne ich mich als das reine Ego mit dem reinen Strom meiner cogitationes.« – Siehe Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. Herausgegeben und eingeleitet von Prof. Dr. S. Strasser. – In: Husserliana. Edmund Husserl: Gesammelte Werke, Band I, Den Haag 1950. § 8. Das »ego cogito« als transzendentale Subjektivität. – Weil Husserl den ontologischen Status des Gegenstandes (íüçìá) nicht ausweist, verrät er aus Sicht Sartres das ursprüngliche Konzept der Intentionalität. Husserls Einklammerung, die eidetische Reduktion, verhindert es, Aussagen über das An-sich hinter den Phänomenen zu treffen. 141 Die Th ese verteidigt Sartre noch 1947 vor einer Pariser Professorenschaft , an der u. a. auch Hyppolite teilnimmt. 142 Siehe Recherches philosophiques. Band 6. 1936/37. 143 Siehe Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Sonderdruck aus »Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung«, Bd. 1, hrsg. v. Edmund Husserl, Halle an der Saale 1913. § 90. – Die Forderung nach Voraussetzungslosigkeit im Denken anerkennt auch Hegel als »ein sehr großes, wichtiges Prinzip.« – Siehe Hegel: V 9, 92. 144 Siehe Sartre: SN, 957. – Vgl. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, a. a. O., §§ 34, 36 ff., 84; zudem ders.: Cartesianische Meditationen, a. a. O., § 14. 145 Siehe Hegel: GW 20, § 417. 146 Siehe Sartre: SN, 484. 139
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ter, sei notwendig intentionaler Akt und daher mit den Vorstellungen von der Welt, d. h. den im und für das Bewußtsein erscheinenden Phänomenen, verbunden. Indes: Die reflexive Denkbewegung: daß das Erkennen sich gleichsam ›umbiegt‹ und auf sich selbst zurückbezieht (intentio obliqua), setzt bereits das Faktum des Erkennens voraus.147 So ist intentionales Bewußtseinsleben, wie Husserl es versteht, nicht nur auf seinen Gegenstand verwiesen, sondern mehr noch unbedingt auf diesen angewiesen. Auch Franz Brentano148 und Nicolai Hartmann149 greifen diese schon in der mittelalterlichen Philosophie getroffene Unterscheidung wieder auf. Auch Sartres Ausgangspunkt ist das Cogito, das allerdings im Unterschied zu Husserls Ansatz als Abstraktum begriffen wird, sofern es von seinem Cogitatum isoliert ist. Zunächst bleibt das unmittelbare Selbstbewußtsein für Sartre noch unauflöslich mit dem Gegenstandsbewußtsein verknüpft: »[…] jedes objektsetzende Bewußtsein ist gleichzeitig nicht-setzendes Bewußtsein von sich selbst.150 Wenn ich die Zigaretten in dieser Schachtel zähle, habe ich den Eindruck der Enthüllung einer objektiven Eigenschaft dieser Zigarettenmenge: es sind zwölf. Diese Eigenschaft erscheint meinem Bewußtsein als eine in der Welt existierende Eigenschaft. Ich muß nicht unbedingt ein setzendes Bewußtsein davon
Und mehr noch: Daß ich als Erkennender mich in meinem Erkennen als mich selbst weiß, ist allein dann garantiert, wenn ich als Erkennender einerseits und mein Erkanntes andererseits als Dyade anerkannt sind, d. h. nicht übereinstimmen, d. h. wenn Reflexion auch anderes ist als ›nur‹ Selbstreflexion. Sichergestellt wird hier, daß ich es bin, der etwas von mir Verschiedenes erkennt, d. h. Selbstreferenzialität per se in sich zur Unterscheidung drängt insofern, daß Erkanntes zwar mir als Erkennendem angehört, dieses aber nicht notwendig ein von mir unterschiedenes ›Ich‹ ist. – Lt. Hegels reifer Geistphilosophie heißt dies: »Insofern ich ein Bewußtsein habe, so bin ich das Verhalten zu einem Gegenstand; ich bin so als Verhältnis bestimmt; der Geist ist aber wesentlich dies, nicht bloß im Verhältnis zu sein, d. h. eine Beziehung zweier Seiten.« (Hegel: Begriff der Religion (1824), in: V 3, 221). 148 Siehe Wolfgang Blankenburg: »Überlegungen zum ›Selbst‹-Bezug aus phänomenologisch-anthropologischer Sicht«, in: Martin Heinze, Christian Kupke, Stephan V. Pflanz u. Kai Vogeley (Hg.): Psyche im Streit der Theorien, Würzburg 1996, 95–122; hier: 104. – Zudem: Gerhard Frey: »Möglichkeiten und Grenzen einer wissenschaft lichen Philosophie«, in: Journal for General Philosophy of Science 2 (1971), 14–26; hier: 19 f. 149 Siehe Kirstin Zeyer: Erkenntnistheorie im 20. Jahrhundert. Die kontroversen klassischen Positionen von Spicker, Cassirer, Hartmann, Dingler und Popper, Hildesheim 2005, 168 f. 150 So lautet – wörtlich – Sartres erste Th ese, die er am 2. Juni 1947 der Société Française de Philosophie vorlegt. – Siehe Sartre: SuS, 268. – Die erste deutsche Ausgabe des Jahres 1973 führt im Titel noch die irreführende Übersetzung von »Conscience de soi et connaissance de soi« mit »Bewußtsein und Selbsterkenntnis«. 147
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haben, daß ich sie zähle. Ich ›erkenne mich nicht als zählend‹. […] Ganz im Gegenteil, das nicht-reflexive Bewußtsein ermöglicht erst die Reflexion: es gibt ein präreflexives Cogito, das die Bedingung des kartesianischen Cogito ist.«151 Anders als Descartes’ (nativistischer) Ideen-Repräsentationalismus und auch Hegels monistisch-holistischer Begriffsrealismus, deren beider Erkenntnislehren ebenso das Gegenstandsbewußtsein zum zentralen Problem erheben, betont Sartre – quasi in direktem Gegensatz zu Husserls sog. »leistender« Subjektivität an sich152 resp. dem »transzendentalen Ego« – das Existenzbewußtsein: »jede bewußte Existenz existiert als Bewußtsein, zu existieren.«153 Gleichwohl tritt dieses Diktum nicht als logischer, sondern als existentieller Zirkel auf: als Typus einer Existenzbehauptung, die – ganz i. S. Heideggers154 – keiner (ihr wesenhaft fremden, weil äußerlich verbleibenden) theoretischen Fundierung bedürft ig ist. »Dieses Bewußtsein (von) sich dürfen wir nicht als ein neues Bewußtsein betrachten, sondern als den einzig möglichen Existenzmodus für ein Bewußtsein von etwas.«155 Die Einheit des Bewußtseins besteht sonach darin, mit seinem Existieren gleichermaßen zu erscheinen – »in diesem ständigen Überschreiten des Gegebenen, das das Bewußtsein ist.«156 Dementsprechend lautet Sartres ontologische Kritik an Descartes’ Rationalismus, »nicht gesehen zu haben, daß, wenn sich das Absolute durch den Primat der Existenz vor der Essenz defi niert, es nicht als eine Substanz erfaßt werden kann. Das Bewußtsein hat nichts Substantielles, es ist eine reine ›Erscheinung‹, insofern es nur in dem Maß existiert, wie es sich erscheint. [Hier ist Sartre ganz Husserlianer, welcher die Möglichkeit, vom Phänomen des Ich auf die Substanz desselben zu schließen, prinzipiell ausschließt. – H. G.157] Aber gerade weil es reine Erscheinung ist, weil es eine völlige Leere ist (da die ganze Welt außerhalb seiner ist), Siehe Sartre: SN, 21 f. – Kampits spricht hier von einer »Verdoppelung des Bewußtseins«. – Siehe Peter Kampits: Jean-Paul Sartre, a. a. O., 52. 152 Siehe Edmund Husserl: Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft , Sonderdruck aus: »Jahrbuch für Philosophie und Phänomenologische Forschung«, Bd. 10, Halle 1929, 14. 153 Siehe Sartre: SN, 23. 154 Siehe Martin Heidegger: Sein und Zeit, § 4, a. a. O., erster Absatz. 155 Siehe Sartre: SN, 23. 156 Siehe Sartre: G, 861. 157 Inwiefern »Bewußtsein als Nicht-Substantielles als eigener Seinstyp angesprochen und als solcher dem Seinstyp des Ansichsein gegenübergestellt werden« könne, fragt dagegen: Svaneke Schüler: »Jean-Paul Sartre – ein Vertreter des Substanzeni151
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wegen dieser Identität von Erscheinung und Existenz an ihm kann es als das Absolute betrachtet werden.«158 Das Bewußtsein vermag sich selbst nicht zum Gegenstand unmittelbarer Erkenntnis zu erheben. Erkennen ist thetisches (reflektierendes), präreflexives dagegen nicht-setzendes (unmittelbares) Bewußtsein. Schon früher aber leugnet der Phänomenologe Sartre, präreflexives Bewußtsein sei ichhaft : »es gibt kein Ich auf der unreflektierten Ebene. Wenn ich einer Straßenbahn nachlaufe, wenn ich auf diese Uhr schaue, wenn ich mich in die Betrachtung eines Porträts vertiefe, gibt es kein Ich. Es gibt Bewußtsein von-der-einzuholenden-Straßenbahn usw. und nicht-positionales Bewußtsein von dem Bewußtsein. De facto bin ich also in die Welt der Objekte versenkt, sie sind es, die die Einheit meiner Bewußtseine [sic!] konstituieren, die sich mit Werten, attraktiven und repulsiven Qualitäten präsentieren; aber ICH, ich bin verschwunden, ich habe mich vernichtet.«159 Hegel indes sieht etwas Richtiges, wenn er zu Descartes’ Antwort auf Gassendis gegen dessen fundamentum inconcussum gerichtetes Argument (»Ludificor, ergo sum.«) folgendes bemerkt: »Wenn ich sage: ›ich sehe, ich gehe spazieren‹, so ist Ich in der Bestimmung des Sehens, Gehens, aber ich bin darin auch denkend. […] Das Denken vorgestellt als Denkendes ist Ich; es ist das Allgemeine, was auch im Wollen, Fühlen, Gehen usf. ist.«160 In seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie untersucht Hegel Descartes’ ›Ego cogito‹ und würdigt den Initiator als »Anfänger der Philosophie in der neuen Welt, insofern sie das Denken zum Prinzip macht«,161 dealismus?«, in: Holger Gutschmidt, Antonella Lang-Balestra, Gianluigi Segalerba u. Antonella Lang-Balestra (Hg.): Substantia – Sic et Non. Eine Geschichte des Substanzbegriff s von der Antike bis zur Gegenwart in Einzelbeiträgen, Frankfurt/M. 2008, 461–471; bes.: 465. – Unbestreitbar ist, daß Sartre Einheit und damit auch Identität (A ist A) für das An-sich, nicht aber für das Für-sich gewährleistet sieht: Als Für-sich ist der Mensch das, was er nicht ist und also nicht das, was er ist. 158 Siehe Sartre: SN, 27. – Heidegger wiederum macht Sartre den Metaphysikvorwurf: »[Sartre] nimmt dabei existentia und essentia im Sinne der Metaphysik, die seit Plato sagt: Die essentia geht der existentia voraus. Sartre kehrt diesen Satz um. Aber die Umkehrung eines metaphysischen Satzes bleibt ein metaphysischer Satz.« (Siehe Heidegger: Über den Humanismus, Frankfurt/M. 1949, 20.) 159 Siehe Sartre: TE, 51. – Vorbereitungen dieses Gedankens trifft bereits: René Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit den sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, übersetzt und hrsg. von Arthur Buchenau, Hamburg 1994, 365 f. (Descartes’ Erwiderung auf die sechsten Einwände) – Kant setzt umgekehrt die ursprünglich synthetische Einheit der Apperzeption als Voraussetzung für Gegenstandserkenntnis an. 160 Siehe Hegel: V 9, 94. 161 Siehe Hegel: V 9, 90.
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obgleich Hegel auch nicht verschweigt, mit »der Methode der Ableitung seiner Gedanken werden wir nicht besonders zufrieden sein können.«162 Im Unterschied zu der strikt atheistischen Philosophie Sartres sieht Hegel den mit Descartes vollzogenen Durchbruch in »das Innerste der Innerlichkeit«163 als durch den Protestantismus beförderte Tendenz, die bis in seine eigene Gegenwart reicht: »Die Form der Philosophie, welche durch das Denken zunächst erzeugt wird, ist die der Metaphysik, die Form des denkenden Verstandes. Das zweite ist der Skeptizismus und Kritizismus gegen diesen denkenden Verstand. In jenes, in die Metaphysik, gehören Cartesius, Spinoza, Leibniz usf. [und] die französischen Materialisten. Das zweite Verhalten ist negativ dagegen, ist die Kritik der Metaphysik und der Versuch, das Erkennen für sich selbst zu betrachten, so daß die Bestimmungen aus dem Erkennen selbst abgeleitet werden, betrachtet wird, welche Bestimmungen sich aus ihm selbst entwickeln. Die erste Periode der Metaphysik umfaßt Descartes, Spinoza, Malebranche. – Die dritte, die zweite Periode der Metaphysik, [umfaßt] Leibniz, Locke und Wolff ; das vierte die Kantische, Fichtesche und Schellingsche Philosophie.«164 Obgleich das präreflexive Cogito i. S. Sartres gleichsam der Boden ist, auf dem sich sämtliche Bewußtseinsakte allererst vollziehen können, selber jedoch kein Objekt setzt, d. h. a-thetisches Bewußtsein ist, ist es nicht restlos vom reflexiven Cogito unterschieden: »Dieses Cogito setzt freilich kein Objekt, es bleibt innerhalb des Bewußtseins. Aber es ist dem reflexiven Cogito nichtsdestoweniger homolog, insofern es als die erste Notwendigkeit für das unreflektierte Bewußtsein erscheint, daß dieses von ihm selbst gesehen wird; es enthält also ursprünglich diese aufhebende Eigenschaft , für einen Zeugen zu existieren, obwohl dieser Zeuge, für den das Bewußtsein existiert, es selbst ist.«165 Und noch deutlicher:
Siehe Hegel: V 9, 91. Siehe ibid., 88. 164 Siehe ibid., 89 f. 165 Siehe Sartre: SN, 165 f. – Später vergibt Sartre das Charakteristikum des sichselbst-Bezeugens auch an Hegels dialektische Bewußtseinslehre: »Das Hegelsche Bewußtsein braucht keine dialektische Hypothese aufzustellen; es ist kein bloßer objektiver Zeuge, der von außen der Erzeugung der Ideen beiwohnt: es ist selbst dialektisch, es bringt sich selbst nach den Gesetzen des synthetischen Fortschreitens hervor; es braucht die Notwendigkeit in den Verbindungen nicht anzunehmen: es ist diese Notwendigkeit, es lebt sie.« – Siehe Sartre: MR, 216. – Sartre betont hier also das Prinzip der Immanenz, oder bei Hegel: die Selbstbewegung. 162
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»Denn das präreflexive Bewußtsein ist Bewußtsein (von) sich. Und eben diesen Begriff Sich muß man untersuchen, denn er defi niert das Sein des Bewußtseins selbst.«166 Schließlich: »Das Sich kann tatsächlich nicht als ein reales Existierendes erfaßt werden: das Subjekt kann nicht Sich sein, denn die Koinzidenz mit sich läßt […] das Sich verschwinden. Aber ebensowenig kann es Sich nicht sein, da das Sich Anzeige des Subjekts selbst ist. Das Sich stellt somit eine ideale Distanz in der Immanenz des Subjekts zu sich selbst dar, eine Weise, nicht seine eigene Koinzidenz zu sein, der Identität zu entgehen […].«167
IV. Kritik an Egologie resp. inhaltslosem Selbstbezug: ›Ich‹ bei Sartre und Hegel Eine Ausnahmeerscheinung seiner Zeit ist Sartre insofern, als er offensichtlich mit Hegels Nürnberger Propädeutik vertraut ist (zumindest zitiert er wiederholt aus ihr168). Sehr wahrscheinlich entnimmt Sartre Hegels Begriff des Selbstbewußtseins, wie ihn die Phänomenologie des Geistes konzipiert, jenen beiden Fassungen der Lehre von Herrschaft und Knechtschaft, die der Nürnberger Hegel in jeweils verkürzten Fassungen für Schüler darstellt. Wichtig ist hier, daß Sartre in Hegels Selbstbewußtseinslehre ein grundlegendes Modell der Struktur des Für-sich-seins erkennt: 169 eines Seins, dessen Natur sich des Nichts seines Seins bewußt ist.170 Wenn Sartre seinen eigenen Ansatz mehrfach von Hegels »Ich = Ich oder Ich bin Ich«171 unterscheidet, vermag dies leicht den verfehlten Eindruck zu erwecken, Hegel sei einem ›subjektiven Idealismus‹172 im Gefolge Fichtes, d. h. einer Siehe Sartre: SN, 168. – So Sartre auch zum Bewußtsein an sich bereits in: Sartre: I, 54. 167 Siehe Sartre: SN, 169. 168 Siehe z. B.: Sartre: SN, 65. 169 So auch: Martin Suhr: Jean-Paul Sartre zur Einführung, Hamburg 2001, 139–146. 170 Siehe z. B.: Sartre: SN, 119. 171 Siehe Sartre: SN, 434; 491; vgl.: Hegel: GW 10.1, 105 (Geisteslehre als Einleitung in die Philosophie. Diktat 1808/09 mit Überarbeitungen aus dem Schuljahr 1809/10) bzw. GW 10.2, 529 (Schülerhefte 1811/12 Christian S. Meinel). 172 Hier ist der in einer mit dem Begriff »Deutscher Idealismus« operierenden Philosophiegeschichtsschreibung etablierte Dreischritt ›subjektiver Idealismus‹ (Fichtes Wissenschaftslehre), ›objektiver Idealismus‹ (Schellings Naturphilosophie), ›absoluter Idealismus‹ (Hegels Geistphilosophie) angesprochen. Demgemäß hieße Kants Kritizismus ›transzendentaler Idealismus‹, wenngleich auch das insgesamt mannigfache Wendungen nehmende Denken Schellings um 1800 ›transzendentaler Idealismus‹ ist; nicht selten gilt 166
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das Subjekt als Einzelheit begreifenden Philosophie, zuzurechnen. Wahr ist zumindest: Bereits der Hegel der Differenzschrift (1801) findet lobende Worte für Fichtes »spekulatives Prinzip«, bemängelt jedoch dessen systematische Durchführung und erkennt darüber hinaus die Suche nach einem sich selbst begründenden Einheitsprinzip in der Nachfolge Kants an. Auch später noch konstatiert Hegel im Rahmen einer ›Geschichte der logischen Grundsätze‹ in der Wissenschaft der Logik: »Ein origineller Anfang der Philosophie aber kann nicht ganz unerwähnt gelassen werden, der sich in neuerer Zeit berühmt gemacht hat, der Anfang mit Ich.«173 Gleichwohl verweisen diese Einlassungen keinesfalls auf eine Hegelianische Adaption des Fichteschen Konzepts. Hegel nimmt hier nicht zum ersten Mal Stellung gegen eine Bewußtseinslehre, welche die Einzelheit, das Atomare (»Selbstbewußtseyn«) für den Beginn des Erkenntnisprozesses ausgibt (und identifi ziert mit einer solchen Position auch gar nicht Fichtes Philosophie): Selbst die erste, noch am wenigsten entwickelte Bildungsstufe der Phänomenologie des Geistes, das »Dieses und das Meinen«, wird überwunden, weil sich bereits in vereinzelten »sinnlichen Gewißheiten« der notwendige Überschritt zum Allgemeinen vollziehe174 – eine Logizität übrigens, die Sartre nicht nur anerkennt, sondern derer er sich ebenfalls bedient.175 Für Hegel ist die Bewegung des Isolierens, des Vereinzelns zwar konstitutiv für einen adäquaten Begriff des Denkens; doch solches Fixieren trete letztlich stets den Prozeß seiner Auflösung an. Demgemäß unterscheidet Hegel eine wissende, d. h. nach Art der Phänomenologie des Geistes gestaltete bewußtseinsphilosophische von einer nicht-wissenden, d. h. naturphilosophischen Selbstbeziehung. Diese unterschiedlichen Gestalten von ›Ich‹ generieren unterschiedliche Formen analytischer Kritik. Im Unterschied zu Kants »ursprünglich-synthetische[r] Einheit der Apperzeption« – das »Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können«176 – erklärt Hegel als Ahnherr eines ›objektiven Idealismus‹. Für diesen ist »die Kantische Kritik blos ein subjectiver (platter) Idealismus, der sich nicht auf den Inhalt einläßt, nur die abstracten Formen der Subjectivität und Objectivität vor sich hat, und zwar einseitigerweise bei der erstern, der Subjectivität, als letzter schlechthin affirmativer Bestimmung stehen bleibt« (Hegel: GW 20, § 46, Anm.). – Als Phänomenologe und damit einhergehend Theoretiker der Intentionalität vertritt Sartre zwei Thesen: 1. Keine Welt ohne Bewußtsein; 2. kein Bewußtsein ohne Welt. Insofern zählt Sartre zu den Realidealisten resp. Idealrealisten. 173 Siehe Hegel: GW 21, 62. 174 Siehe z. B. auch: Hegel: GW 20, § 422. 175 Gemeint ist Sartres Hegelianische Erörterung der Genet-Frage: »Mir geht es darum, ob ich stehlen soll«. – Siehe Sartre: G, 291 f. 176 Siehe Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft . Nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe neu herausgegeben von Raymund Schmidt. Hamburg 1976. B 131 f. (im folgenden KrV).
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Hegel (Kant hier den »ungeschickten Ausdruck[] zeihend«) im »Vorbegriff« der 1830er Enzyklopädie: »Ich ist das an und für sich Allgemeine, und die Gemeinschaft lichkeit ist auch eine aber eine äußerliche Form der Allgemeinheit. Alle andern Menschen haben es mit mir gemeinsam, Ich zu seyn, wie es allen meinen Empfi ndungen, Vorstellungen u. s. f. gemeinsam ist, die Meinigen zu seyn. Ich aber abstract als solches ist die reine Beziehung auf sich selbst, in der vom Vorstellen, Empfi nden, von jedem Zustand, wie von jeder Particularität der Natur, des Talents, der Erfahrung u. s. f. abstrahirt ist. Ich ist in sofern die Existenz der ganz abstracten Allgemeinheit, das abstract Freie. Darum ist das Ich das Denken als Subject, und indem Ich zugleich in allen meinen Empfi ndungen, Vorstellungen, Zuständen u. s. f. bin, ist der Gedanke allenthalben gegenwärtig und durchzieht als Kategorie alle diese Bestimmungen.«177 Wenn ›Ich‹ nach Hegel also zum einen »die reine Beziehung auf sich selbst [unabhängig, H. G.] von jeder Partikularität« – oder wie es in der 2. Auflage der Seinslehre heißt: »die einfache Gewißheit seiner selbst«178 ist –, geht damit zum anderen gleichermaßen einher, daß Selbstbewußtsein dasjenige Bewußtsein ist, »welches als solches die Selbstständigkeit des Subjects und Objects gegen einander hält […]; Ich hat als urtheilend einen Gegenstand, der nicht von ihm unterschieden ist, – sich selbst; – Selbstbewußtseyn.«179 So sieht Hegel das ›Ich‹ durchaus in der Kantischen Dimension des »Ich denke«; 180 auch spricht er vom »Ich als Beziehung auf ein Jenseitsliegendes« und konstatiert konsequentermaßen, Reinholds »Theorie des Bewußtseyns, unter dem Namen Vorstellungsvermögen«, 181 stelle die adäquate Auffassung der Kantischen Philosophie dar. Gemäß seiner eigenen Geistphilosophie dagegen ist ›Ich‹ nicht ein Anderer (i. S. Rimbauds späterem »je est un autre«182), sondern ›Ich‹ ist immer dann ›Ich‹, wenn es – forciert gewendet – nicht bei sich selbst ist: »Die Wahrheit des Bewußtseyns ist das Selbstbewußtseyn, und dieses der Grund von jenem, so daß in der Existenz alles Bewußtseyn eines andern Gegenstandes Selbstbewußtseyn ist; Ich weiß von dem Gegenstande als dem Meinigen (er ist
Siehe Hegel: GW 20, § 20, Anm., 65. Siehe Hegel: GW 21, 63; siehe auch: ibid. 33 und 27–33. 179 Siehe Hegel: GW 20, § 423. 180 Siehe z. B.: Hegel: GW 20, § 20. 181 Siehe jeweils: Hegel: GW 20, § 415, Anm. 182 Siehe Arthur Rimbaud: »Lettre à Paul Demeny de 15. Mai 1871«, in: ders: Œuvres complètes, Bibliothèqe de la Pléiade, Paris 1972, 250. 177 178
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meine Vorstellung), Ich weiß daher darin von mir. – Der Ausdruck vom Selbstbewußtseyn ist Ich = Ich […].«183 Der i. S. Hegels ›absolute‹ Inhalt ist demnach nicht: ›Ich‹ bin mir dieses Objekts bewußt, sondern: Es gibt ›Bewußtsein‹ von diesem Objekt. Bereits für den Hegel der Phänomenologie des Geistes also ist Bewußtsein wesentlich mit Selbstbewußtsein (›Ich‹) verwoben. Dieser Gedanke bleibt Sartre fremd. Sartres Lehre von der Transzendenz des Ego unterscheidet ›Ego‹ streng von ›Bewußtsein‹, das als Ich-loses transzendentales Feld, mithin ohne ›Ich‹ begriffen wird. Ein solches Überindividuell-Unpersönliches fungiert hier als Bedingung der Möglichkeit für den ontischen Aufweis dieses ›Ego‹ – aber eben nicht eines ›ego cogito‹. Die Einheit des Bewußtseins wird nach Sartre nicht durch ›Ich‹ als vorgängig-notwendiges material-formales Strukturmoment, sondern durch dessen ursprüngliches Bezogensein auf ›Welt‹, auf ein ›Außerhalb‹ garantiert. Im Unterschied zu Husserl denkt Sartre ›Ich‹ zwar i. S. einer »transzendentalen Seinssphäre«, nicht jedoch als »monadologische Intersubjektivität«184 ; anders Hegel, der – zumindest auf das Gefühl bezogen – »ein monadisches Individuum«185 ansetzt. Wie gesehen unterscheidet dagegen Sartre in Die Transzendenz des Ego ›Je‹ (›Ich‹ i. S. eines Einheitsprinzips der Handlung) von ›Moi‹ (›Ich‹ i. S. eines Einheitsprinzips [qualitativer] Zustände), und wir werden bald sehen, welcher theoretische Hintergrund diese Unterscheidung trägt.
V. Sartres »existentielle Psychoanalyse« und Hegels »bestimmungsloser Schacht« Sartre versteht also unter »Präreflexivität des Cogito« eine Art unpersönlicher Spontaneität oder reines Erleben, welche jedoch – und das ist wichtig – keinen theoretischen Beitrag leistet zur Aufhellung des Phänomens des Unbewußten. Sartre optiert vielmehr für eine »existentielle Psychoanalyse«, die Freuds Psychoanalyse zum Vorwurf macht, mit der Trieblehre einer »substantiellen Täuschung« zu unterliegen: Die Triebe würden als Substanz innerhalb des Ich und nicht als Relata, d. h. als Bezugsgrößen Siehe Hegel: GW 20, § 424. Siehe Husserl: Cartesianische Meditationen, a. a. O., Meditation V, §§ 42–62. – Nach Sartre müßte die phänomenologische Reduktion auch das transzendente ›Ich‹ betreffen und entsprechend ›aufheben‹. So konstatiert Sartre nicht für jeden »Akt« des Erkennens die Selbstliebe des Ich, sondern die Autonomie eines unreflektierten Bewußtseins. 185 Siehe Hegel: GW 20, § 405. – Hegel unterscheidet das Gefühl vom Bewußtsein, siehe ib. § 404; noch deutlicher: ders.: V 3, 285–291. 183
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menschlichen Bewußtseins zur Welt, begriffen. Sartres Kritik zielt außerdem auf Freuds Versäumnis, Wirkursache (Kausalität) und Zweckursache (Finalität) nicht strikt voneinander geschieden zu haben: Einerseits erkenne Freud im menschlichen Verhalten Wirkungen und in den Trieben Ursachen; andererseits sehe er mit den Trieben gleichermaßen die Möglichkeit gegeben, Ziele zu verändern. Seit Aristoteles jedoch wird causa efficiens von causa finalis unterschieden, 186 wobei die erstere den Bereich der Naturwissenschaften, wo Kausalketten und allgemeine Gesetze gebildet werden, betrifft. Sartre macht nun geltend, daß für die Geisteswissenschaften Zweckursachen Geltung beanspruchten – nur so lasse sich menschliches Handeln, d. h. der ursprünglich-existentielle Entwurf (als, so Heidegger, eigentlicher Sinn des Verstehens) folgenrelevant deuten. Mit diesem Plädoyer befi ndet sich Sartre in guter Gesellschaft nicht weniger Philosophen und Humanwissenschaft ler, welche in der Zeit um 1900 dafür streiten, für den Bereich des Humanen nicht Kausalitäts-, sondern Finalitätsgesetze anzusetzen.187 Sartre erkennt mit der Vernachlässigung des Individuellen ein inakzeptables Versäumnis der Psychologie als solcher, und wenn er auch in Das Sein und Nichts unverändert nachdrücklich die »existentielle Psychoanalyse« vertritt, dann soll diese Konzeption dort mehr noch in eine Theorie der Intersubjektivität münden, 188 welche die Klippen des Solipsismus, an denen Sartre zufolge seit Descartes sowohl Hegel als auch Husserl als auch Heidegger gescheitert seien, zu umschiffen ermögliche 189 (nämlich durch die präreflexive Begegnung mit mir selber vermöge des Anderen). Aber obwohl sich schon der Sartre der Transzendenz des Ego Siehe Aristoteles: Metaphysik, in der Übersetzung von Friedrich Bassenge, Berlin 1990, 1013a. 187 Ruft man sich ins Gedächtnis, daß mit der Einführung der neuen Wissenschaft sgattung der Human Science zwar einerseits auf die Tendenz zur inter- oder transdisziplinären Forschung reagiert worden ist, andererseits aber auch die über Jahrhunderte gewachsene Unterscheidung von Geistes- und Naturwissenschaften einer Gefährdung ausgesetzt wird, scheint die Frage berechtigt, inwieweit die Geltung einer causa finalis sich ausnahmslos anwenden läßt auf solche Disziplinen wie Psychologie und Erziehungswissenschaft , Soziologie und Soziale Arbeit, Anthropologie als Zweig der Philosophie, Humanbiologie, Humanmedizin und die Pflegewissenschaften, Humanethologie, Soziobiologie, Ethnologie und Volkskunde, Politikwissenschaften, Archäologie, Geschichtswissenschaft , Wirtschaft swissenschaft sowie zumindest in Teilbereichen auch viele andere Disziplinen wie Geographie, Architektur, Rechtswissenschaft , Informatik und die Ingenieurswissenschaften. 188 Zur näheren Ausarbeitung siehe Sartre: KV, 598–609. 189 Zu diesem Problemkomplex bei Sartre siehe Alfred Dandyk: Unaufrichtigkeit. Die existentielle Psychoanalyse Sartres im Kontext der Philosophiegeschichte, Würzburg 2002. 186
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auf die von Lacan 1936190 eingeführte Unterscheidung von »je« (als Subjekt eines Satzes in direkter Rede) und »moi« (als Personalpronomen für die Bezeichnung der psychischen Ich-Instanz) beruft, sieht Lacan die mit Das Sein und das Nichts geförderte Wirklichkeit der »existentielle[n] Negativität« lediglich »in den Grenzen bewußtseinsmäßiger self-Genügsamkeit« verblieben, »die, weil sie bereits in ihre Voraussetzungen eingeschrieben ist, die Illusion der Autonomie – der sie sich überläßt – verkettet mit den konstitutiven Verkennungen des Ich (»moi«). Ein Spiel des Geistes, das von den Anleihen bei der analytischen Erfahrung ganz besonders zehrt, um in der Anmaßung zu gipfeln, es könne eine existentielle Psychoanalyse begründen.«191 Sartre setzt also eine individuell einheitliche Grundstimmung an, die weder von einem Ich abhängig ist noch eines solchen bedarf. Diese »existentielle Psychoanalyse«, welche er zwar eingedenk, gleichwohl jedoch unabhängig von Husserls früher Kritik an der empirischen Psychologie bzw. an Brentanos allzu psychologistischem Intentionalitätskonzept entwickelt, 192 bestätigt – in Orientierung an Heidegger – die Freilegung eines ursprünglichen Möglichkeitsbereichs, der zwar dem präreflexiven Siehe Jacques Lacan: »Au-delà du ›Principe de réalité‹«, in: ders: Écrits, Paris 1966, 73–92. (Dt.: Jenseits des Realitätsprinzips, übers. von Franz Kaltenbeck, in: Lacan: Schriften III, Freiburg 1980, 17–37.) 191 Siehe Jacques Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. Bericht für den 16. Internationalen Kongreß für Psychoanalyse in Zürich am 17. Juli 1949«, in: ders.: Schriften I, ausgewählt und hrsg. von Norbert Haas, Freiburg 1973, 61–70; hier: 69. – Lacan zufolge prägt das »Spiegelstadium« die Zeit zwischen dem 6. und dem 18. Lebensmonat. Er versteht es als Voraussetzung dafür, das Ich zu fi nden, wohingegen Sartre den »Blick« als unhintergehbares Prinzip von Identitätskonstitution ansetzt. 192 Siehe Antonio Aguirre: Genetische Phänomenologie und Reduktion. Zur Letztbegründung der Wissenschaft aus der radikalen Skepsis im Denken E. Husserls, Den Haag 1970, 121 f. – Inwieweit Husserl von einem angemessenen Brentano-Verständnis geleitet ist, fragen Rudolf Bernet, Iso Kern u. Eduard Marbach: Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens, Hamburg 1989, 69 f.; bes. 86, 132 ff. – Bekanntlich fi ndet Husserl durch Brentano, der ihm eine Habilitation bei Carl Stumpf in Halle nahelegt, zur Philosophie. Brentano untersucht, wie sich das Gesamtspektrum innerer Wahrnehmung konkret beschreiben ließe. So ist auch sein Intentionalitätskonzept breiter angelegt als dasjenige Husserls und umfaßt dem Anspruch nach sämtliche psychische Phänomene, so auch das Emotive. Husserlianische Intentionalität dagegen erscheint vergleichsweise restringiert, betrifft sie doch primär Weisen des Erkennens. Sartre sucht Brentanos ambitionierten Begriff von Intentionalität zu erweitern, behandeln doch schon seine frühen philosophischen Arbeiten nicht allein Formen des Erkennens existierender Dinge, sondern gerade auch Bewußtwerdungsprozesse irrealer Phänomene, aber auch Gefühle sowie Wertvorstellungen. 190
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Bewußtsein zuzurechnen ist (mithin bekannt, aber nicht erkannt ist); jedoch erst für das zur Reflexion gekommene Bewußtsein wird das auftauchende Ich zum Zeichen von Persönlichkeit. So steht dieses Ich auf dem Boden des besagten vorbegriffl ich-ontologischen Entwurfs, zeigt diesen aber nur unvollständig: »Sie sehen diesen Baum hier, gut. Aber [S]ie sehen ihn an eben diesem Platz, wo er steht: am Straßenrand, mitten im Staub, allein und unter der Hitze gekrümmt, zwanzig Meilen von der Mittelmeerküste entfernt. Er könnte nicht in Ihr Bewußtsein eintreten, denn er ist nicht von der gleichen Natur wie das Bewußtsein. […] Diese Notwendigkeit für das Bewußtsein, als Bewußtsein von etwas anderem als von sich zu existieren, nennt Husserl ›Intentionalität‹.«193 Vollständige Intentionalität umgreife, so Sartre, auch den Reflex des Ansich-seins: Nicht allein ist Bewußtsein (resp. Für-sich-sein) immer schon gerichtet auf Etwas, sondern gleichermaßen kommt Etwas (einem Ansich-sein) eine Abstrahlung zu, die aufmerken läßt.194 Solches »Erlebnis« – Sartre verwendet Husserls deutschen Ausdruck195 – vermag seinerseits zwar einem i. S. Husserls verstandenen »transzendentalen Ego« phänomenologisch thematisch werden, kann jedoch – und das ist entscheidend – mit Blick auf den Vollzug des Erkennens von diesem zuvor nicht initiiert worden sein.196 Glaubt, wie gesehen, Sartre zunächst, daß mit Husserls Konzept der Intentionalität ein Schritt in Richtung einer Lösung des Solipsismus-Problems gemacht werde (»diese Überschreitung des Bewußtseins durch sich selbst«197), sieht er in Das Sein und das Nichts Husserl am Solipsismus scheitern198 – und fi ndet so (philosophiehistorisch delikat) Zugang Siehe Sartre: IPhH, 34 f. Dieses Wechselverhältnis gilt auch für die rekursive Struktur des Hegelianischen Geistbegriff s bezogen auf ein Wissen vom Anderen: Geist ist Sichwissen im Anderen seiner selbst, das Wissen vom Anderen muß mich angehen, damit ich es wissen kann. 195 Siehe z. B.: Sartre: SN, 405. 196 Auch noch Descartes hält eine Rückwirkung der Gegenstände auf das Denken für unmöglich. Gleichwohl steht dies für ihn nicht im Widerspruch dazu, schrankenloses Erkennen durch methodisch sichere Anleitung gewährleistet zu sehen. – Siehe René Descartes: Regulae ad directionem ingenii. Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft , kritisch revidiert, übersetzt und hrsg. von Heinrich Springmeyer, Lüder Gäbe u. Hans Günter Zekl, Hamburg 1973, Regula I, 1. (Sonnen-Metapher; anders zur Begrenzung des Erkenntnisbegriff s: VIII, 3 ff.) 197 Siehe Sartre: IPhH, 36. 198 Siehe Sartre: SN, 428. – »[…] ein immer tieferer Graben trennte mich von Husserl: seine Philosophie entwickelte sich im Grunde zum Idealismus […] [und] seine Widerlegung des Solipsismus war wenig schlüssig und kümmerlich.« (Siehe Sartre: TB, 268 f.) 193
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zum Selbstbewußtseinskapitel der Phänomenologie des Geistes. Mit Kojéve deutet er Hegel anthropologisch und bemerkt zu Hegels Verständnis der Reflexionsleistung des Selbstbewußtseins: »Hegels geniale Intuition ist […], daß er mich in meinem Sein vom Andern abhängig macht. Ich bin, sagt er, ein Fürsichsein, das nur durch einen Andern für sich ist. […] So scheint der Solipsismus endgültig außer Gefecht zu sein.«199 Wie aber geht Sartre die Solipsismusproblematik, d. h. die Hypothese, lediglich unmittelbar gegebenen Bewußtseinsinhalten komme reales Sein zu, im einzelnen an? Sein Ausgangspunkt ist die im »Dritten Teil« von Das Sein und das Nichts erörterte Seinsstruktur des »Für-Andere« (eigentlich »être-pourautri«), nachdem die Dimension des »Für-sich-seins« (»pour-soi«) das vorgängige Thema der Untersuchung im »Zweiten Teil« gewesen ist. Besagter dritter Teil ist untergliedert in die drei Kapitel »Die Existenz Anderer«, »Der Körper« sowie »Die konkreten Beziehungen zu anderen«. Im genannten ersten Kapitel untersucht Sartre verschiedene Lösungsvorschläge zum Problemkreis des Solipsismus. Wenn die Konsequenz dieses Philosophems darin besteht, daß dem Bewußtsein sowohl Erkenntnisfähigkeit als auch -leistungen Anderer unzugänglich bleiben, betrifft der Solipsismus den – in Sartres Worten – Dualismus von Interiorität (»intériorité«) und Exteriorität (»extériorité«). Diese Dichotomie beansprucht er mit seiner Lehre vom Blick überwinden zu können. Die nähere Bestimmung des »Für-Andereseins« – dem, so Sartre, Hegels »l’être pour l’autre«200 vorarbeite – muß also den Beweis der Existenz Anderer zur Voraussetzung haben. Beispiel für einen Bewußtseinsmodus, der durch das »Für-sich« nicht vollständig beschreibbar ist, sei das Schamgefühl (»honte«). Die dreipolige Signatur der Scham: »ich schäme mich meiner, wie ich Anderen erscheine«, führt Sartre zu einem wohlbekannten Hegelianischen Begriff: »die Scham ist ihrer Natur nach Anerkennung. Ich erkenne an, daß ich bin, wie andere mich sehen.«201 Aus dieser gleichsam ontologischen wie phänomenoloSiehe Sartre: SN, 432. Siehe Sartre: EN, 292. – Der Abgleich mit dem Sartreschen Originaltext beweist hier, daß in der deutschen Ausgabe von L’être et le néant »l’être pour l’autre« mit dem angeblich in Hegels Phänomenologie des Geistes vorfi ndlichen Begriff »Fürein-Anderes-Sein« (siehe Hegel: TWA 3, 137) übersetzt wird. Dieser Begriff aber ist so dort – und wahrscheinlich sogar im gesamten Werk Hegels – nicht nachweisbar. Bei Hegel: GW 9, 103, steht »für ein anderes seyn«. 201 Siehe Sartre: SN, 406; ebenso: 417. – Daß diese Wahrheit – verbunden mit der Freiheit der Wahl – gleichwohl ein schreckliches Schicksal verantworten kann, zeigen Sartres im Dezember 1945 in Les Temps modernes erscheinenden Betrachtungen zur Judenfrage (Réfl exions sur la question Juive; ursprünglicher Titel: Portrait de l’antisémite). – Siehe Sartre: BJ, 165. 199
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gischen Betrachtungsweise erklärt sich, wie vermöge eines Jemand die Dimension des Für-sich transzendiert wird. Dieses Für-Andere unterscheidet sich vom Für-sich fundamental; ein gegenseitiger Bezug ist unmöglich, obgleich Sartre einräumt, das Für-sich verweise auf das Für-Andere. Vor die Klippe des Solipsismus gestellt sagt er: »Er [der Andere, H. G.] hat mich nach einem neuen Seinstypus konstituiert, der neue Qualifi kationen tragen muß.«202 Da Sartre nun Hegel als Fortschritt gegenüber Husserl in der Analyse der solipsistischen Problemstellung begreift, fällt seine Husserl-Kritik vergleichsweise kurz aus: Husserls Hauptargument zur Vermeidung des Solipsismus laute, die Annahme eines Anderen sei zwingend, damit überhaupt Welt sei. So betreffe ein Zweifel am empirischen Ego gleichermaßen das eigene empirische Ego und dessen sämtliche Weltbezüge. Sartre sieht allerdings ein solches empirisches Ego unterschieden von Kants transzendentalem Subjekt: »Was man also zeigen müßte, ist nicht der Parallelismus der empirischen ›Egos‹, den niemand bezweifelt, sondern der der transzendentalen Subjekte.«203 Mithin kann auf diesem Wege keinerlei Beweis für das Sein des Anderen erbracht werden, da eine Erkenntnis der Interiorität des Anderen als für sich bestehendes, souveränes transzendentales Ego unmöglich ist, bemißt sich doch lt. Sartre für Husserl das Sein gerade nach der Erkenntnis (eine in dieser Ausschließlichkeit sicherlich kaum haltbare Kritik). Dadurch hingegen, daß Hegel die Existenz des Bewußtseins als Bewußtsein von sich fasse, lasse seine Philosophie den Anderen zur Erscheinung kommen, wodurch es gelinge, die engen Grenzen empirischer Egologie zu überschreiten. Selbstbewußtsein hingegen finde zur Identität mit sich selbst, indem es sich vom Anderen ausschließe und abgrenze (so wie der Andere auch). Für Sartre betrifft eine solche interdependente Negationsbeziehung »die Verbindung durch interne Negation«204 . Ist mit dieser wechselseitigen Abhängigkeitsbeziehung: »So wie ich dem Anderen erscheine, so bin ich« 205 , der Solipsismus »endgültig außer Gefecht«206 gesetzt? Sartre gibt auch hier einen negativen Bescheid, indem er zunächst sein bereits gegen Husserl gewendetes Argument wiederholt: Auch Hegel habe das ontologische Problem der Existenz Anderer lediglich »überall in Erkenntnisbegriffen formuliert«207 ; doch Sartre geht diesmal Siehe Sartre: SN, 407. Siehe Sartre: SN, 426. – Kants transzendentales Subjekt ist das Prinzip der Einheit des Bewußtseins, insofern ist eine »Parallelität« desselben undenkbar. 204 Siehe Sartre: SN, 430. 205 Siehe Sartre: SN, 431. 206 Siehe Sartre: SN, 432. 207 Siehe Sartre: SN, 433; die Erkenntnis sei »hier Maß des Seins«; Hegels absoluter Idealismus betreibe eine »Gleichsetzung von Sein und Erkennen« (ibid., 436). 202 203
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noch zwei Schritte weiter, indem er Hegel mit einem doppelten »Optimismusvorwurf«208 konfrontiert: Denn zum einen erliege Hegel einem epistemologischen Optimismus, indem er den Anderen als Bewußtsein, welches dem Bewußtsein des Ich gegeben ist, vergegenständliche, wodurch dessen »Leben« verfehlt werde. Aus dieser Gegenständlichkeit des Anderen resultiere eine Modifi kation seines Bewußtseins im Akt seines Erkanntwerdens – was aber das Haupterfordernis von Sartres eigener Bewußtseinslehre: ein dem Erkennen vorgängiges Bewußtsein, verfehle. Ein Erscheinen des Bewußtseins als Gegenstand der Erkenntnis verändert dieses also grundlegend. So hätte für Sartre eine Rede vom Sein des Bewußtseins ein »radikales Ausschließen jeder Gegenständlichkeit«209 zur Bedingung, und daher, so seine Hegel-Kritik, gehe der Andere durch sein Erscheinen für das Ich-Bewußtsein seines ursprünglichen Status als eigenes Bewußtsein (von) sich und somit als eines »Ich im Anderen« 210 verlustig: Schließlich sei »Gegenstand sein gerade Nicht-ich-sein«211. Dagegen zielt der ontologische Optimismusvorwurf primär auf Hegels »Das Wahre ist das Ganze«212 : Hinsichtlich der Pluralität der Bewußtseine resultiere aus einer solchen adaequatio veri et omni, daß jedes einzelne Bewußtsein lediglich Moment des Ganzen in seiner Totalität sei. Dadurch büße jedwedes Bewußtsein nicht nur seine Selbständigkeit ein, sondern habe zudem in totaler Äquivalenz zu koexistieren: Das Bewußtsein vergesse sich gewissermaßen selbst. Das Bewußtsein (von sich) unterscheide sich bei Hegel nicht mehr von den Bewußtseinen der Anderen (»der Pluralität der Bewußtseine« 213): Das Bewußtseinsprinzip als solches wird reduziert auf eine bloße Abstraktion. Den Grund für diese Verfehlung sieht Sartre in Hegels Mißdeutung der »Natur jener besonderen Seinsdimension […], die das Bewußtsein (von) sich ist« 214 . Wenn Sartre aber konstatiert, der Solipsismus sei dann widerlegt, wenn ausgehend von der Interiorität des Seins des eigenen Bewußtseins das Sein des Anderen als Transzendenz erfaßt sei und diese Transzendenz als Bedingung eigenen Seins fungiere, ist – eingedenk des zuvor Erörterten – an ihn die Frage zu richten, ob eine solche Kritik an Hegels Geistbegriff überhaupt verfange. Immerhin jedoch
Siehe Sartre: SN, 436. Siehe Sartre: SN, 438. 210 Siehe Sartre: SN, 436. 211 Siehe Sartre: SN, 439. 212 Siehe Hegel: GW 9, 19. – Für Hegel bedeutet die ganze Wahrheit durchgängige Bestimmheit, aber dieses Prinzip greift Sartre nicht an. 213 Siehe Sartre: SN, 442. 214 Siehe Sartre: SN, 442. 208 209
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schreibt Sartre Hegel gut, auf ein transzendentales Subjekt als Möglichkeitsbedingung für die Erfahrung eines Anderen zu verzichten und stattdessen die Existenz des Bewußtseins als Selbstbewußtsein vom Anderen abhängig zu machen, wodurch für Sartre zumindest die Möglichkeit einer Interioritätsbeziehung durch Interioritätsnegation gegeben ist. Sartres Forderung, im Unterschied zu der in Hegels absolutem Idealismus errichteten Sein-Denken-Korrelation möge das An-sich-Sein als solches und als vom Erkennen unterschieden betrachtet werden, impliziert einen von ihm selbst geforderten neuen Bezug zwischen dem Ich und dem Anderen, der »zunächst und fundamental eine Beziehung von Sein zu Sein, nicht von Erkenntnis zu Erkenntnis«215 beschreibe. Der bei Hegel noch manifeste Primat der Erkenntnis gehöre durch einen Primat des Seins ersetzt. So fi ndet Sartre zu Heideggers Ontologie des »Mitseins« 216 , die ihm als Fundament für sein eigenes Konzept dient: nämlich vom Sein ausgehend durch die Analyse des Blicks einen dem Solipsismus widerstehenden Beweis des Seins des Anderen zu führen. Meine Ich-Identität, so Sartre, ist somit keine Leistung einer Selbstzuschreibung, sondern wird von außen gestiftet: durch den »Blick«217 (»le regard«) des Anderen – der indes meine Freiheit, die mir in ängstlicher Stimmung zu Bewußtsein komme, 218 gefährde. So bedeutet die Existenz des Anderen die Voraussetzung, mich in den Blick zu nehmen, um den Entwurf meiner selbst, den anders das Ich niemals
Siehe Sartre: SN, 443. Daß Sartre einiges Heideggers in Sein und Zeit eingeführtem Existenzial des »Mitsein« (siehe ibid. § 25–27) verdankt (siehe Sartre: SN, bes. 447–456; 720–723), betont zu Recht Annette Sell. Mit diesem seien »für Sartre Ansätze im Hinblick auf die Beziehung von Ich und Anderem enthalten« (A. Sell: »Die Anerkennung des Menschen. Zu den ontologisch-phänomenologischen Interpretationen der Phänomenologie des Geistes von Heidegger, Marcuse, Fink und Sartre«, in: Archivio di filosofia 2–3 (2009), 155–164, hier: 160). – Inwiefern Sartre Heideggers Unterscheidung von »Mitsein« und »Mitdasein« entgeht, kann hier nicht gezeigt werden. 217 Siehe Sartre: SN, 457–538. 218 Siehe Sartre: SN, 91, zudem Sartre: TB, 197 f. – Off ensichtlich adaptiert Sartre Kierkegaards Begrebet Angest (Der Begriff Angst) des Jahres 1844, kennt aber auch den deutschen Ausdruck Stimmungen (Sartre: SN, 447–452; man denke zudem an Heideggers Lehre von den »Grundstimmungen«). Im Sprung in den Glauben solle laut Kierkegaard die Angst besiegt werden; für Heidegger bedeutet Angst eine Grundbefi ndlichkeit, in der das »Dasein« auf sich selbst zurückgeworfen werde. In der Angst eröff ne sich der Existenz (später »Ek-sistenz«) ihre Endlichkeit und ihre Nichtigkeit, denn »Dasein« sei »Sein zum Tode«. – Siehe Martin Heidegger: Sein und Zeit, a. a. O., §§ 46–53. – Zudem: ders.: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, in: GA 29/30. – Siehe auch: Otto Friedrich Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt/M. 1941. 215 216
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vollständig wisse, allererst in den Prozeß des Erkennens zu heben und entsprechend einzubinden. So aber – und dem wäre bei anderer Gelegenheit nachzugehen – behandelt Sartre Präreflexives wie Reflexives. Bei Hegel hingegen ist die Separierung des Selbstbewußtseins von organischer und unorganischer (lebendiger/toter) Natur die entscheidende Bestimmung der »die Teilgeschichten des Rechts, des Staates, der Kunst, der Religion und der Philosophie« durchziehenden »unendlichen Subjektivität«: ihre Negativität. 219 Reines Selbstbewußtsein unterscheidet sich von animalischem Selbstgefühl oder unmittelbarem Selbstbewußtsein. Die Begierde ist nicht mehr auf die Natur, sondern auf eine andere Begierde ausgerichtet. Die gesamte Dialektik des Selbstbewußtseins setzt bei Hegel ein mit dem Kampf um Leben und Tod – so korrekt auch bei Kojéve 220 –, reicht bis zur Unterwerfung des Menschen im dualen Herrschaftsverhältnis, um schließlich in der Loslösung oder Befreiung vom Herrn als einer gleichberechtigten Anerkennung zu münden. Der Knecht sei frei wie der Herr – jedoch in verschiedenen Stufen der Realisierung. Sartre modifi ziert Hegels dialektische Wendung des von Fichte 221 adaptierten Konzepts der Anerkennung, das hinausgeht über Kants Metaphysische Anfangsgründe des Rechtslehre (1797), »die in dieser Frage ambivalent bleiben«. 222 Wenn, wie gesehen, seine Kritik an Hegel lautet, dieser kenne lediglich ein thetisches Bewußtsein vom Anderen, resultiert daraus, »Hegel kann sich nicht einmal denken, daß es ein Für-Andere-Sein geben kann, das nicht letztlich auf ein ›Gegenstand-sein‹ reduzierbar ist. Deshalb kann das allgemeine Selbstbewußtsein, das sich durch alle diese dialektischen Phasen Siehe hierzu: Walter Jaeschke: »Die Unendlichkeit der Subjektivität«, in: Francesca Menegoni u. Luca Illetterati (Hg.): Das Endliche und das Unendliche in Hegels Denken, Hegel-Kongreß in Padua und Montegrotto Terme 2001, Stuttgart 2004, 103–116; hier: 110 f. 220 Bezogen auf den entsprechenden Abschnitt der »Vorrede« der Phänomenologie des Geistes sagt Kojéve: »Et ce passage montre clairement le rôle primordial que joue l’idée de la mort dans la philosophie de Hegel« (Alexandre Kojève: Introduction à la lecture de Hegel. Leçons sur la Phénoménologie de l’Esprit professées de 1933 à 1939 à l’École des Hautes Études réunies et publiées par Raymond Queneau, Paris 1947, 529). – Die »bewegungslose Tautologie des: Ich bin Ich« taucht in der Phänomenologie des Geistes bald wieder auf, nämlich bereits im Abschnitt »Die Wahrheit der Gewißheit seiner selbst« (siehe Hegel: GW 9, 104). 221 Siehe Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts, in: J. G. FichteGesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaft en, Werke Band I, 3: Werke 1794–1796, hrsg. von Reinhard Lauth und Hans Jacob unter Mitwirkung von Richard Schottky, Stuttgart-Bad Cannstatt 1966, 349–360. 222 Siehe hierzu: Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule, a. a. O., 171. 219
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hindurch zu befreien sucht, nach seinem eigenen Geständnis einer reinen leeren Form gleichgesetzt werden: dem ›Ich bin Ich‹.« 223 Wenn der Andere kein Produkt meiner mir selbstbewußten Spontaneität sein soll, sondern ich ihm überhaupt nur begegnen kann, weil er ontisches Faktum ist, geht ein solcher Bezug freilich nicht in einer SubjektObjekt-Relation auf. Dies allerdings sucht auch Hegel – besonders in der »Vorrede« seiner Phänomenologie des Geistes – zu zeigen. 224 Der »Kampf um Anerkennung« (Axel Honneth) kommt für Sartre allerdings nicht wie bei Hegel in einer Bewegung gegenseitigen »Anerkennens« an sein Ende, sondern verdeutlicht vielmehr die Notwendigkeit, menschliches Dasein pradoxal zu beschreiben: Zwar sei Anerkennung notwendig; sie bleibe jedoch unter entfremdeten Bedingungen prinzipiell versagt und falle so in ein bloßes Sollen zurück. Sartre: »Um zu irgendeiner Wahrheit über mich zu gelangen, muß ich durch den anderen gehen. Der andere ist für meine Existenz unentbehrlich, wie übrigens auch für die Kenntnis, die ich von mir selbst habe. Unter diesen Bedingungen entdeckt mir die Entdeckung meines Innersten zugleich auch den anderen, als eine mir gegenüberstehende Freiheit, die nur für oder gegen mich denkt und will. So entdecken wir sofort eine Welt, die wir Inter-Subjektivität nennen werden, und in dieser Welt entscheidet der Mensch darüber, was er ist und was die anderen sind.«225 So verficht Sartre weder eine Dialektik der Irrationalität (sc. der Kontingenzexistenz) noch die Theorie eines freien vernünft igen Willens, sieht er doch den Willen (gleichermaßen Affekte und Triebe) aus der Einheit des präreflexiven Cogito hervorgehen, d. h. aus einem existentiellen Entwurf. Sartres in Conscience de soi et connaissance de soi explizierte Kritik am »groben« 226 Freudschen Unbewußten, 227 d. h. eines dreiteiligen psychischen Apparates (›Unbewußtes‹, ›Bewußtes‹ und ›Vorbewußtes‹ oder, wie es später im Drei-Instanzen-Modell heißt: »Es«, »Ich« und »Über-Ich«228), Siehe Sartre: SN, 433. Siehe hierzu auch: Oded Balaban: »Is there a Real Subject in Hegel’s Philosophy?«, in: Hegel-Studien 43 (2008), 37–66. 225 Siehe Sartre: EH, 166. 226 Siehe Sartre: M, 54. 227 »Ich will sagen, daß es mir als Franzose echter kartesianischer Tradition und rationalistischer Prägung unmöglich war, ihn [Freud, H. G.] zu verstehen, daß mich die Idee des Unbewußten völlig schockierte.« – Siehe Sartre: SüS, 15. 228 Siehe Sigmund Freud: »Das Ich und das Es«, in: ders.: Psychologie des Unbewußten, Studienausgabe Band III, Frankfurt/M. 1982, 273–325. – Sartre sieht hier 223
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beträfe in ideengeschichtlicher Perspektive einige Aspekte der Theorie des – wie Hegel in seiner Enzyklopädie sagt – »concreten« oder »subjectiven Geistes« (gefächert in »Anthropologie« [bezogen auf einen von der alten »rationellen Psychologie« unterschiedenen empirischen Seelenbegriff ] – »Phänomenologie des Geistes« [Bewußtseins- und Vernunft lehre] – »Psychologie« [theoretisch-praktischer Geist] 229) – die freilich Sartre unberücksichtigt läßt: »Die psychoanalytische Interpretation begreift das bewußte Phänomen als die symbolische Realisierung einer von der Zensur verdrängten Begierde. Halten wir fest, daß für das Bewußtsein diese Begierde nicht in ihrer symbolischen Realisierung impliziert ist.«230 Hegel umreißt den Begriff des Unbewußten in der »Realphilosophie« des Jenaer Systementwurfs III (1805/06) wie folgt: »Der Mensch ist diese Nacht, diß leere Nichts, das alles in ihrer Einfachheit enthält – ein Reichthum unendlich vieler Vorstellungen, Bilder, deren keines ihm gerade einfällt –, oder die nicht als gegenwärtige sind. Diß die Nacht, das Innre der Natur, das hier existirt – reines Selbst, – in phantasmagorischen Vorstellungen ist es rings um Nacht, hier schießt dann ein blutig Kopf, – dort eine andere weisse Gestalt plötzlich hervor, und verschwindet ebenso – Diese Nacht erblickt man wenn man dem Menschen ins Auge blickt – in eine Nacht hinein, die furchtbar wird, – es hängt die Nacht der Welt hier einem entgegen.«231 Diese Passagen künden von Teilbereichen noch kaum entwickelter Vorformen einer Philosophie des subjektiven Geistes, in deren Weiterbestimmung Hegel Verhältnisse des Bewußtseins zugunsten geistiger Selbstverhältnisse zunehmend in den Hintergrund treten läßt. In der dritten Auflage seiner Enzyklopädie (1830) schließlich werden diese Bestimmungen direkt auf das Ich bezogen bzw. von diesem unterschieden: »Jedes Individuum ist ein unendlicher Reichthum von Empfi ndungsbestimmungen, Vorstellungen, Kenntnissen, Gedanken u. s. f.; aber Ich bin darum doch ein ganz einfaches, – ein bestimmungsloser Schacht, in welchem alles dieses aufbewahrt ist ohne zu existiren. Erst wenn Ich mich an meine Vorstellungen erinnere, bringe Ich sie aus jenem Innern heraus zur Existenz vor das Bewußtseyn.«232
zudem eine die Ganzheit des Menschen auflösende Zerteilung am Werk, die zudem mit einem »dialektischen Konfl ikt« belegt sei. – Siehe Sartre: KV, 18, FN 1. 229 Siehe Hegel: GW 20, § 387. 230 Siehe Sartre: STE, 284. 231 Siehe Hegel: GW 8, 187 f. 232 Siehe Hegel: GW 20, § 403, Anm.
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So entwickelt Hegel also im Unterschied zu Sartre eine Theorie des Unbewußten, die im Kontext der »Erinnerung« im »subjectiven Geist« erörtert wird. 233 Hier werden nicht mehr oder noch nicht wieder bewußte Formen einer Memorabilität des Ich analysiert, die allerdings belastet sind mit der Schwierigkeit, daß Erinnern als bewußt vollzogener Akt eines einfachen, bestimmungslos gedachten ›Ich‹ begriffen wird.234 Dieter Sturma konstatiert denn auch zu Recht eine Paradoxie, sei doch »der Begriff des Unbewußten […] nur dann sinnvoll anwendbar, wenn er einen Sachverhalt bezeichnet, der eine Beziehung zur Kontinuität des Bewußtseins hat, anderenfalls könnte er von der semantisch undurchsichtigen Bestimmung ›Nicht-Bewußtes‹ gar nicht abgesetzt werden.« 235 Wenn Sturma denkt, Hegel erweitere die empirische zu einer »spekulativen Psychologie«236 – wie in der Enzyklopädie geschehen 237 –, hat dies jedoch zur Voraussetzung, daß Hegel schon früher, genauer im Jenaer Systementwurf II (1804/05), in Auseinandersetzung mit Leibniz’ monadologischer Verknüpfungstheorie 238 eine Destruktion der Einzelheitsvorstellung der traditionellen Seelenlehre, wie sie über Jahrhunderte die psychologia rationalis vertritt, vornimmt. Den eigentlichen Anlaß dieses Unternehmens bildet hierbei Hegels Prüfung der Reichweite bzw. Tauglichkeit der Erkenntnis der Gegenstände der – so seine zu dieser Zeit noch dunkle Titulierung – »Metaphysik der Objektivität«: Seele, Welt und Gott bzw. höchstes Wesen (oder »absolute Gattung«, wie Hegel sich auch ausdrückt). Hegel behandelt hier offensichtlich die vorkantische metaphysica specialis. Voraus geht dabei eine Analyse des tradierten metaphysischen Erkenntnisbegriffs aufgeschlüsselt als absolutes Ich oder Selbstverhältnis des Erkennens als System von Grundsätzen, d. h. der drei Denkgesetze ›Satz der Identität‹ (als Siehe Hegel: GW 20, §§ 450–454. Siehe hierzu: Hermann Schmitz: »Hegels Begriff der Erinnerung«, in: Archiv für Begriff sgeschichte 9 (1964), 37–44. 235 Siehe Dieter Sturma: »Hegels Th eorie des Unbewußten. Zum Zusammenhang von Naturphilosophie und philosophischer Psychologie«, in: Hegel-Jahrbuch 1990, hrsg. von Heinz Kimmerle, Wolfgang Lefèvre u. Rudolf W. Meyer †, Bochum 1990, 193–201; hier: 193. 236 Siehe Dieter Sturma: »Hegels Th eorie des Unbewußten«, a. a. O., 196 u. ö. 237 D. h. Hegel hat vor, »den Begriff in die Erkenntniß des Geistes wieder einzuführen«. – Siehe Hegel: GW 20, § 378. 238 Für Leibniz rangieren Wesen oder Monaden, die über deutliche, d. h. mit Gedächtnis (»memoire«) einhergehende Perzeptionen verfügen, als Seelen (§ 19), wohingegen diejenigen unter ihnen, die vernünft iger Erkenntnis, d. h. der Reflexion fähig sind, Geist (»esprit«) besitzen und sonach vernünft ige Seelen (»Ames raisonables«, § 29) genannt werden. – Siehe Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Prinzipien der Philosophie oder die Monadologie. – In: ders.: Philosophische Schriften. Band I. Kleine 233
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tautologische Sich-selbst-Gleichheit eine Auflösung jedweden Erkenntnisaktes), ›Satz vom ausgeschlossenen Dritten‹ bzw. ›Satz des Grundes‹. Catia Goretzki führt hierzu aus: »Wenn Hegel […] den Grund, als dem Erkennen strukturell gleich und dennoch von diesem unterschieden, mit der Seele identifiziert, so entspricht das dem vorkantischen Verständnis, demzufolge die Seele die rein geistige und daher unteilbare und unsterbliche Substanz des individuellen Menschen ausmacht, durch die er mit Gott verbunden und an Gott gebunden, von diesem aber gleichwohl verschieden ist. Hegel muß also den Grund in dieses ambivalente Verhältnis zum Erkennen setzen, um mit jenem in plausibler Weise zum ersten Gebiet der metaphysica specialis überleiten zu können. Nun wird er im folgenden aber dieses Verständnis der Einfachheit und Unsterblichkeit der Seele seiner Kritik unterziehen, insofern das Denken, durch das der Mensch geistiges Wesen wird, nicht als Einfachheit bzw. reine Allgemeinheit und damit auch nicht als unveränderlich aufgefaßt werden kann. Die strikte Trennung von Geistigem und Seiendem, die sich aus dieser einseitigen Auffassung ergibt und die Grundlage für das vorkritische Verständnis der Seele wie übrigens auch für dasjenige der beiden anderen Gegenstände der metaphysica specialis ist, kann somit nicht aufrecht erhalten werden.«239 Für Hegel manifestiert sich die Not des menschlichen Individuums, sich selbst in seiner Einzelheit erhalten zu wollen, in Form des Seelenbegriffs der alten Metaphysik, d. h. als Ausdruck der Beziehung des Menschen zu Gott. Wenn dagegen Sartre, dessen Philosophie nicht selten als Vermittlung von Ontologie und Psychologie gedeutet wird, die Frage nach einer solchen Beziehung des Menschen zu Gott abseits des überkommenen metaphysischen Problembestands zu beantworten sucht, geschieht dies eingedenk des Erfordernisses, restlos die Folgerungen aus einer konsequent atheistischen Einstellung ziehen zu müssen. Denn Sartres Philosophie versteht sich keineswegs – wie aus christlicher Warte aufgenommen – als Zeugnis der Verzweiflung des Menschen. Der atheistische Existentialismus endet nicht in einem Beweis, Gott existiere nicht – denn selbst gesetzt den Fall, er existiere, ändere dies nichts an der Lage des Menschen. So gleicht die Frage nach Gott nicht der Frage nach seiner Existenz. Die Rücksicht des Menschen Schriften zur Metaphysik. Opuscules métaphysiques. Französisch und deutsch, hrsg. von Hans Heinz Holz, Frankfurt/M. 1965, 439–483. 239 Siehe: Catia Goretzki: Die Selbstbewegung des Begriff s. Stufen der Realisierung der spekulativen Metaphysik Hegels in den Jahren 1801–1804/05, Hamburg 2011, 188 (Hegel-Studien Beiheft 54).
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auf sich erfordert zu akzeptieren, daß er vor sich selbst nicht zu retten ist: daß er absolut frei ist. Zweifellos aber konzipiert Sartre seine Freiheitslehre unabhängig von Hegels Lehre des objektiven Geistes (was uns von der Thematisierung eines Bezugs entbindet). Wäre dem nicht so, hätte es hier zu einer Erörterung von Hegels Kritik an der subjektivistischen Freiheit, wie sie die Romantiker verstehen, kommen müssen – eine Haltung, welcher der sog. »existentialistische« Sartre recht nahe steht. 240 Indes: Nicht plausibel erscheint, wie Sartre den für sein Denken zentralen Freiheitsbegriff gewinnt: Auch wenn der Identität von Denken und Freiheit, wie sie die traditionelle Metaphysik voraussetzt, die Anerkennung verweigert wird, 241 resultiert aus einer Verabsolutierung individuellen Existierens nicht zwingend das Faktum persönlicher Freiheit – denn die Unmöglichkeit, die Freiheit des anderen philosophisch zweifelsfrei auszuweisen, führt im Umkehrschluß nicht zwingend zum Begriff der Freiheit meiner selbst. Die veritative Dignität existenziell-ontologischer Freiheit bleibt so in bestimmter Hinsicht hinter derjenigen der politisch verstandenen Freiheit eines Hegel zurück.
VI. Mit Hegel über Marx hinaus oder: Sartres totale Dialektik Das Verdikt, daß dialektisches Philosophieren in der modernen französischen Philosophie keine eigene Tradition hat ausbilden können, ließe sich philosophiehistorisch leicht belegen. So könnte die französische Philosophie seit Descartes, welcher noch auf Pierre de la Ramées Institutiones dialecticae (Paris 1543) reagiert, denn auch als Plädoyer für eine Kultivierung von Intuition oder Phantasie vorgestellt werden; 242 von daher paßt es ins Bild, daß – soweit wir sehen – einzig Sartre (einmal abgesehen von dem Marx-Philologen Luis Althusser) größere »dialektische Abenteuer« im Gefolge Hegels resp. Marxens riskiert. Ob allerdings der Sartre der Critique de la raison dialectique (1960) tatsächlich Marxist ist, ist so deutlich nicht: »quand j’avais vingt ans, en 1925, il n’y avait pas de chaire de marxisme à l’Université et les étudiants communistes se gardaient bien So auch Edo Pivčević: Von Husserl zu Sartre. Auf den Spuren der Phänomenologie, München 1972, 187. 241 So auch Christa Hackenesch: Jean-Paul Sartre, a. a. O., 34. 242 Verhältnisanteile dieser Art werden auch schon bei Descartes erörtert: Claus Zittel: Theatrum philosophicum. Descartes und die Rolle ästhetischer Formen in der Wissenschaft , Berlin 2009, bes. 79–89. – Sartre bezieht Descartes auf Hegel insoweit, als er in dem durch Descartes’ skeptische Initiative unter Beweis gestellten »Vermögen, sich loszulösen, sich zurückzuziehen, […] so etwas wie eine Vorwegnahme der Hegelschen Negativität« erkennt. – Siehe Sartre: CF, 160. 240
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de recourir au marxisme ou même de le nommer dans leurs dissertations; ils eussent été refusés à tous leurs examens. L’horreur de la dialectique était telle que Hegel lui-même nous était inconnu.«243 So gibt Hans Mayer zu bedenken, Sartres »Ontologie und Erkenntnistheorie lehnt das marxistische Grundprinzip einer dialektischen Subjekt-Objekt-Relation ebenso ab wie die materialistische Grundthese vom ›Primat der Außenwelt‹.« 244 Aber so gerät auch die marxistische Dialektik von Theorie und Praxis ins Wanken. Als eine weitere ›dialektische Ausnahme‹ wäre zu erinnern an Merleau-Pontys Les Aventures de la Dialectique (1955), die eine marxistische Geschichtsteleologie befehden und für ein offenes Geschichtsverständnis streiten, das sich in konkreten Handlungs- und Sinnkontexten entfalte; und nicht zuletzt erneuert Merleau-Ponty auch seine Kritik an Sartres Begriff der absoluten Freiheit (das »gewisse Etwas«).245 Dosse läßt seine Geschichte des Strukturalismus mit der »Verfi nsterung eines Sterns« beginnen – gemeint ist wieder Sartre. 246 Dialektische Begriffsbewegun-
Siehe Sartre: Qm, 22. Siehe Sartre: W, 206. – Mayers Ansatz, in Sartres Beschäft igung mit der französischen Dichtung des 19. und 20. Jahrhunderts den Willen zur Ausbildung einer säkularisierten Ersatzreligion zu sehen, überzeugt nicht; allerdings wäre zu fragen, warum Sartre zum Ende seines Lebens ein Interesse am jüdischen Messianismus ausbildet (worüber Mayer schweigt). Den entsprechenden Hintergrund bildet hier ein Teil der Gespräche Sartres mit Benny Lévy, die im April 1980 in der Zeitung Nouvel Observateur veröffentlicht werden. – Siehe Benny Lévy: L’espoir maintenant. Les entretiens de 1980, présentés et suivis du Mot de la fi n par Benny Lévy, Lagrasse verdier 1991. – Dieser Dialog, der in Deutschland erst 1993 unter dem Titel Brüderlichkeit und Gewalt publiziert wird, überrascht die Öffentlichkeit und irritiert auch Simone de Beauvoir. Sartre diskutiert mit Lévy neue politische Standpunkte – insbesondere im Hinblick auf zwischenmenschliche Beziehungen – sowie die Frage nach den »sozialen Bedingungen gelingender Selbstverhältnisse«. Ob diese Gespräche tatsächlich als Annäherung Sartres an Lévys Philosophie oder sogar an dessen jüdischen Glauben zu deuten seien (wie sogleich geschehen), gehört nicht hierher. – Benny Lévy, alias Pierre Victor, ein zeitweilig staatenloser Philosoph und Schrift steller, kommt im Alter von elf Jahren nach Belgien, übersiedelt dann nach Frankreich, wo er von 1965 bis 1970 die École Normale Supérieure besucht. Im Pariser Mai ’68 tritt er als politischer Aktivist hervor. Von September 1973 bis zu Sartres Tod am 15. April 1980 ist er dessen Privatsekretär. Zuvor steht er Sartre bei der Gründung der Tageszeitung Libération zur Seite. 245 Siehe Maurice Merleau-Ponty: Die Abenteuer der Dialektik, a. a. O., 159. 246 Siehe François Dosse: Geschichte des Strukturalismus, Zwei Bände, hier: Band 1: Das Feld des Zeichens, 1945–1966, aus dem Franz. von Stefan Barmann, 2. Aufl ., Hamburg 1998, 23–31. – Lévi-Strauss, M. Foucault, Althusser u. a. werfen Sartre seit den 60er Jahren ein simplifi zierendes, v. a. aber überkommenes subjektivistischbewußtseinsphilosophisch verengtes Denken vor. 243
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gen Hegelianischer Philosophie verliefen gemäß strukturalistischem Reglement diachron (lt. Sartre i. S. kultureller Erfahrungen 247), d. h. die Gesamtheit möglicher Aufhebungsfiguren bildet ein System topischer Hierarchie. Dagegen ermöglicht die Synchronie (für Sartre das Tor zur »Vergangenheit« 248) wirklicher Widerspruchsformen lediglich die Auflösung ihrer Wirklichkeit zugunsten und unter der Voraussetzung erneuerter synchroner Onto-Logien: »In diesem Sinne ist die diachrone Evolution (als vergangene und […] als zukünft ige) in der synchronen Totalisierung gegenwärtig« 249, d. h. für Sartre als »Verzeitlichung«250 . Löst sich gemäß Hegels System das geistige Interesse der Geschichte mit der Realisierung der Ideen der Französischen Revolution in der Schlacht bei Jena 251 ein, könnten seither keinerlei neue politische Ideen mehr zur Welt kommen, sondern nur noch Verbesserungen und Vertiefungen ihrer grundsätzlichen Anliegen erreicht werden (so auch Kojève). Das Zeitalter des historischen Menschen und des politischen Handelns im strikten Sinne ist an sein Ende gelangt. In diese Richtung interpretiert auch B.-H. Lévy »die christliche Seite Hegels und die apostolische Berufung seiner ersten Kommentatoren«. 252 Sartre setzt anders an: »Für unsere Erfahrung […] werden wir alles irgend Greifbare verwenden, weil in den einzelnen Leben jede Praxis die ganze Kultur benutzt und gleichzeitig synchron (in der aktuellen Gesamtheit) und diachron (in seiner menschlichen Tiefe) geschieht und weil unsere Erfahrung selbst ein kulturelles Faktum ist.«253 »Man kann […] sagen, daß es in der Kritik der dialektischen Vernunft gegenüber Das Sein und das Nichts und in gewisser Weise im Flaubert gegenüber der Kritik der dialektischen Vernunft einen Fortschritt gibt, weil sie in bestimmten Punkten weitergehen. […] [Die Kritik der dialektischen Siehe Sartre: KV, 54. Siehe Sartre: KV, 54. 249 Siehe Sartre: KV, 56. 250 Siehe Sartre: KV, 55 f. u. ö. 251 Eigentlich: mit der Doppelschlacht am 14. Oktober 1806 in der Nähe der Orte Jena und Auerstedt. 252 »Zog nicht gerade Napoleon unter seinem Fenster vorbei, als er das Wort ›Ende‹ unter die letzte Zeile der Phänomenologie setzte? Und ist es nicht eine höhere List der Vernunft , daß ich, Kojève, sein Evangelist, hundertfünfzig Jahre später genau an dem Tage meinen Kommentar abschloß, an dem Hitler Frankreich den Krieg erklärte?« – Siehe Bernard-Henri Lévy: Sartre, a. a. O., 523. – Mit Blick auf Hegels Geschichts- und Staatsphilosophie sowie dessen Philosophie-Begriff als solchen unterliegt Lévy erstaunlicherweise immer noch alten, von der Hegel-Forschung längst beseitigten Mißverständnissen. – Zur »Hegelschen Freiheit« siehe auch: Sartre: TB, 112 f. 253 Siehe Sartre: KV, 57. 247
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Vernunft, H.G.] löst mehr Probleme, sie gibt eine richtigere Beschreibung der Gesellschaft. Nur wäre sie ohne Das Sein und das Nichts nicht möglich gewesen […].«254 Mehr noch sagt Sartre, er sei von Das Sein und das Nichts »zu einer dialektischen Idee gelangt.«255 Seine Stellungnahmen zur Dialektik betreffen meistenteils Fragen zu methodologischen Differenzen in den Natur- und Geisteswissenschaften – eine Tendenz, die sich auch in seiner ab 1945 vertieften Auseinandersetzung mit Hegel zeigt. Vehement beharrt Sartre darauf, Dialektik gelte ausschließlich für den humanwissenschaftlichen Bereich und habe – entgegen Friedrich Engels’ Dialektik der Natur, welche die dialektische Ganzheit »mit Hilfe undialektischer Verfahrensweisen, wie Vergleiche, Analogien, Abstraktion und Induktion«256 riskiere – in den analytisch 257 verfahrenden Naturwissenschaften keinen Ort258 – »es sei denn um den Preis eines absoluten Idealismus«. 259 In der »Conclusion« des der Critique de la raison dialectique vorangehenden, in der deutschen Ausgabe nicht enthaltenen Essai Questions de méthode. Marxisme et existentialisme heißt es gegen Ende: »Tant que la doctrine ne reconnaîtra pas son anémie, tant qu’elle fondra son Savoir sur une métaphysique dogmatique (dialectique de la Nature) au lieu de l’appuyer sur la compréhension de l’homme vivant, tant qu’elle repoussera sous le nom d’irrationalisme les idéologies qui – comme l’a fait Marx – veulent séparer l’être du Savoir et fonder, en anthropologie, la connaissance de l’homme sur l’existence humaine, l’existentialisme poursuivra ses recherches.«260 Und tatsächlich fi nden abseits des geradezu dröhnenden Schweigens zwischen Sartre und Michel Foucault auch konstruktive Debatten statt wie z. B. jene zwischen Lévi-Strauss und Sartre (in den Jahren 1960–71). Lévi-Strauss kritisiert in La pensée sauvage (1962) die Trennung zwischen
Siehe Simone de Beauvoir: Die Zeremonie des Abschieds und Gespräche mit Jean-Paul Sartre, a. a. O., 530 ff. 255 Siehe Simone de Beauvoir: Die Zeremonie des Abschieds und Gespräche mit Jean-Paul Sartre, a. a. O., 231. 256 Siehe Sartre: KV, 35 f. 257 Siehe Sartre: KV, 61. 258 Siehe Sartre: MR, 203–226. 259 Siehe Sartre: EM, 122. 260 Siehe Sartre: Qm, 100. – Th eodor Schwarz, auch positive Aspekte in Sartres Marxismus-Rezeption würdigend, kommt zu dem Ergebnis, der Marxismus könne weder existentialisiert noch als mit einem solchen Fundament versehen begriffen werden. – siehe T. Schwarz: Jean-Paul Sartres Kritik der dialektischen Vernunft , Berlin 1967. 254
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Analytik und Dialektik, die auch Sartres Kritik der dialektischen Vernunft zugrunde liegt: Analytisches Denken, so Lévi-Strauss, gelte absolut, es erfasse den Menschen als Objekt. Entsprechend sieht er Dialektik gerade nicht ausschließlich auf den geisteswissenschaft lichen Bereich beschränkt. Dagegen betont Sartre (dem Lévi-Strauss einen verfehlten, weil mythologischen Geschichtsbegriff vorwirft 261), es sei gerade das analytische Denken, welches den Menschen verobjektiviere; gleichwohl fi nde es seine Vollendung erst im dialektischen Denken »als lebendige Logik der Aktion«262 , hier werde der Mensch als Subjekt-Objekt gedacht. So gründe eine erlebnishaft-existentielle Dialektik in menschlicher Geschichte – dem »Bereich der Totalisierung«263 , als deren umfassendsten philosophischen Ausdruck Sartre den Hegelianismus begreift 264 – sowie täglicher Praxis: »Wenn man […] die marxistischen Gedanken zu Ende denkt, dann gibt es eine notwendige Welt, es gibt keine Kontingenz, nur Determinismen, Dialektiken; es gibt keine kontingenten Tatsachen.«265 Solches dialektisches Denken sei Charakteristikum einer Philosophie, die sich gegen die Einzelwissenschaften zu behaupten wisse. Hegel positioniert sich zu dem von Platon bis Kant reichenden Streit zum philosophischen Unterschied von Verstand und Vernunft dergestalt, daß er einen Konnex von Vernunft und Dialektik begründet, 266 was Sartre nicht nur aufgreift , sondern mehr noch als notwendigen Schritt erachtet, damit Dialektik nur »nicht ein blindes Gesetz«267 sei. Auch in der Diskussion mit Lévi-Strauss also adap-
Siehe Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken, Frankfurt/M. 1968, 282–310 (Kapitel IX. Geschichte und Dialektik). 262 Siehe Sartre: KV, 39. 263 Siehe Sartre: KV, 51. – Das absolut Konkrete, der historische Mensch, »das Individuum – der befragte Befrager – bin ich«. – Ibid., 54, 57. 264 Siehe Sartre: Qm, 18. 265 Siehe Simone de Beauvoir: Die Zeremonie des Abschieds und Gespräche mit Jean-Paul Sartre, a. a. O., 187. – Eine zum Begriff geronnene Kontigenzerfahrung, die Sartre bereits in La nausée (1938) antreibt (die ursprünglichen Titel sind Factum sur la contingence und später Melancholia), bleibt indes prägend: »Das Wesentliche ist die Kontingenz. Ich will sagen, daß die Existenz ihrer Defi nition nach nicht die Notwendigkeit ist. Existieren, das ist dasein, ganz einfach; die Existierenden erscheinen, lassen sich antreffen, aber man kann sie nicht ableiten. Es gibt Leute, glaube ich, die das begriffen haben. Nur haben sie versucht, diese Kontingenz zu überwinden, indem sie ein notwendiges und sich selbst begründendes Sein erfanden. Doch kein notwendiges Sein kann die Existenz erklären: die Kontingenz ist kein Trug, kein Schein, den man vertreiben kann; sie ist das Absolute, folglich die vollkommene Grundlosigkeit.« – Siehe Sartre: E, 204. 266 Hegel: GW 20, §§ 79–82. 267 Sartre: KV, 38, Punkt e). 261
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tiert Sartre Hegels Grundpositionen (wenn auch in marxistischer Version: Hegel = Weltlauf; Marxisten = historischer Prozeß268) gegen dessen positivistisch-szientifischen Ansatz. In der Kritik der dialektischen Vernunft, deren Unternehmen die Systeme Hegels und Marxens zur Voraussetzung hat, 269 wird gegen den Marxismus der Vorwurf erhoben, Besonderes nicht zu begreifen, weil er es in allgemeinen Bestimmungen aufgehen lasse: »Penser, pour la plupart des marxistes actuels, c’est prétendre totaliser et, sous ce prétexte, remplacer la particularité par un universel; c’est prétendre nous ramener au concret et nous présenter sous ce titre des déterminations fondamentales mais abstraites. Hegel, du moins, laissait subsister le particulier en tant que particularité dépassée: le marxiste croirait perdre son temps s’il tentait, par exemple, de comprendre une pensée bour-geoise dans son originalité. A ses yeux ce qui importe seulement c’est de montrer qu’elle est un mode de l’idéalisme.«270 So sieht Sartre eine recht eigentlich schon mit seiner Esquisse d’une théorie des émotions (1939) vorbereitete »progressiv-regressive Methode«271 vor, die sämtliche Vermittlungsleistungen erbringen solle: Sie ist regressiv, d. h. sie steigt vom Erlebten »nach allen Strukturen der Praxis« 272 herab. Der geplante zweite Teil des Werkes solle schließlich »eine synthetische und progressive Defi nition der ›Rationalität der Aktion‹«273 bieten. Wolle man die dialektische Vernunft der Kritik unterwerfen wie einst Kant die (in Sartres Worten) »analytische Vernunft«, »müssen wir durch uns selbst die ›situierte‹ [dialektische, H. G.] Erfahrung ihrer Apodiktizität realisieren«274 , d. h. Sartre insinuiert eine »Notwendigkeit als apodiktische Struktur der dialektischen Erfahrung«275 , die eine regressive ist. Grundsätzlich also habe Kant den richtigen Weg beschritten, die Vernunft einer Selbst-
Siehe auch Sartre: G, 298. Siehe Sartre: KV, 51. – Zur Zeit davor siehe ibid., 56 f. 270 Siehe Sartre, Qm, 40. – Problematisch ist allerdings, daß Sartre »abstrakt« nicht selten i. S. von »unvollständig« begreift . 271 Möglicherweise rekurriert Sartre hiermit (unausgesprochen) auf die von Kant angewandte Methode der regressiven Synthesis (im Bereich der rationalen Kosmologie: Schluß von einem gegebenen Bedingten auf die ins Unendliche laufende Reihe seiner Bedingungen [aufsteigend]), die »in antecedentia« im Unterschied zur progressiven Synthesis [absteigend, »in consequentia«] verläuft . – Siehe Kant: KrV, B 438. 272 Siehe Sartre: KV, 40; ebenso 56. 273 Siehe Sartre: KV, 41. 274 Siehe Sartre: KV, 40. 275 Siehe Sartre: KV, 73. 268 269
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prüfung zu unterziehen, obwohl das Geschäft einer solchen analytischen Vernunft undialektisch und damit geschichtslos verfahre. Nichtsdestoweniger sei dieses Projekt »als universales und reines Schema der Naturgesetze nichts anderes als das Resultat einer synthetischen Umformung, oder besser, ein bestimmtes praktisches Moment der dialektischen Vernunft.«276 Somit kehrt ein bereits für Das Sein und das Nichts konstitutives philosophisches Moment wieder: nämlich die Transzendenz, die hier nun das nähere Verhältnis von analytischer und dialektischer Vernunft bestimmt, wenn letztere als »Kritik und Überschreitung« 277 ersterer gedeutet wird. So greift Sartre wie vor ihm auch Hegel das Anliegen Kants auf, beide sind aber dabei von dem besonderen Interesse, Geschichte zu denken, geleitet. Wenn die dialektische Vernunft (man glaubt Hegel zu hören) »Vernunft in der Geschichte«278 repräsentiere, identifi zieren Sartre-Marx Geschichte mit der Geschichte des Menschen. »Genaugenommen«, so Sartre, »ist eben die Identität dieser beiden totalisierenden Prozesse zu beweisen.«279 Folglich »erleidet der Mensch [als konkrete Person, H. G.] einerseits die Dialektik als eine feindliche Macht, andrerseits schafft er sie.«280 Hegels Philosophie entfaltet den Gedanken einer Synonymität von immanentem Selbstvollzug und Dialektik (»die dialektische Bewegung, dieser sich selbst erzeugende, fortleitende und in sich zurückgehende Gang«281), oder mit Sartre: »einer unüberschreitbare[n] Intelligibilität […] als Gesetz der Welt und des Wissens«282 , als deren systematische Totalisierung Sartre Hegels System gilt. 283 Unter diesen Voraussetzungen gesteht Sartre dem historischen Materialismus zwar das Moment der Explikation, nicht aber der Konstitution zu: Man könne sagen, daß er »sein eigener Beweis im Medium der dialektischen Rationalität ist, aber daß er diese Rationalität nicht selbst begründet, sogar und vor allem dann nicht, wenn er die Geschichte seiner Entwicklung als konstituierte Vernunft rekonstruiert. Der Marxismus ist die sich bewußtwerdende Geschichte selbst. Er gilt nur durch seinen materiellen Inhalt, der nicht in Frage steht und nicht in Frage stehen kann. Aber eben gerade weil
Siehe Sartre: KV, 60. Siehe Sartre: KV, 41. 278 Siehe Sartre: KV, 37. 279 Siehe Sartre: KV, 73. 280 Siehe Sartre: KV, 37; ebenso 73. 281 Siehe Hegel: GW 9, 45. 282 Siehe Sartre: KV, 38 resp. 45. – Zu Sartres Unterscheidung einer ersten und zweiten Intelligibilität siehe ibid., 59–67. 283 Siehe Sartre: Qm, 108. 276
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seine Realität in seinem Inhalt liegt, sind die internen Verbindungen, die er aufdeckt, als Teile seines realen Inhalts formal unbestimmt.«284 Nochmals: Besagtes charakterisiere den historischen Materialismus, nicht jedoch die Dialektik als solche, welche »auf ontologischer Ebene als die einzige Art von Verhältnissen [erscheine, H. G.], die durch in bestimmter Weise situierte und konstituierte Individuen eben auf Grund ihrer Konstitution zwischen ihnen hergestellt werden können«285 . Und Sartre bekennt sich – in Überbietung des Marxismus – noch einmal zu Hegels Programm, wenn er fordert: »In der konkreten Realität muß gezeigt werden, daß sich die dialektische Methode nicht von der dialektischen Bewegung unterscheidet«286 . Dabei bedient er sich abermals des Begriffs der »Struktur«, Materiellem dialektisches Sein zu entnehmen: Die Struktur »bestimmte[r] Bereiche der Materialität«287 beweise die Wirklichkeit der Dialektik. Abseits der Frage, ob auch bereits Hegels Philosophie reale Widersprüche, wie sie für eine spätere Entfremdungstheorie des Marxismus konstitutiv sind, entdecke (mit Sartre: eine »Dialektik im Objektiven«288 , »die realen Entfremdungen, die die konkrete Geschichte hervorbringt«289), sieht Sartre ein »praktisch-inertes Feld« als Realisierungsstätte von Entfremdung bereitet. Daher auch kann nach Sartre der i. S. Hegels bevorzugte Gegenstand objektiver Geistlehre: der Staat, niemals zum wahrhaften Ausdruck der Totalität seiner Partizipanten gerinnen, stütze er sich doch lediglich auf »Serialität«, d. h. auf eine »identité comme alterité«290 ; gleichwohl hält Sartre mit Hegel an der Einheit des Praktischen und Theoretischen fest, gehe es doch darum, »in der Geschichte und in diesem Augenblick der Entwicklung der menschlichen Gesellschaften die Instrumente des Denkens, durch die die Geschichte sich denkt, als gleichzeitig praktische Instrumente, durch die sie sich schafft , zu prüfen, zu kritisieren und zu begründen.«291 Dialektische Vernunft »als Geschick aller und als Freiheit eines jeden«: nämlich als »totale Durchsichtigkeit (sie ist nichts anderes als wir selbst)«292 .
284 285 286 287 288 289 290 291 292
Siehe Sartre: KV, 41. Siehe Sartre: KV, 38 f. Siehe Sartre: KV, 38. Siehe Sartre: KV, 38. Siehe Sartre: KV, 59. Siehe Sartre: KV, 69, FN 1. Siehe Sartre: CRD, 311. Siehe Sartre: KV, 42. Siehe Sartre: KV, 40.
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Zitierte Schriften Sartres: BJ CF CRD
E
EH
EM EN G
IPhH
I
KV Lit M
»Betrachtungen zur Judenfrage«, in: ders.: Drei Essays. Mit einem Nachwort von Walter Schmiele, Frankfurt/M.–Berlin 1962, 108–190. »Die cartesianische Freiheit«, in: ders.: Situationen. Essays, Reinbek bei Hamburg 1965, 157–171. Critique de la raison dialectique (précédé de Question de méthode). Tome I. Théorie des ensembles pratiques, Paris 1960 (Bibliothèque des idées). Der Ekel. Roman. Mit einem Anhang, der die in der ersten französischen Ausgabe vom Autor gestrichenen Passagen enthält. Deutsch von Uli Aumüller, Reinbek bei Hamburg 1981. »Der Existentialismus ist ein Humanismus«, in: ders.: Der Existentialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays. 1943–1948, Reinbek bei Hamburg 2000, 145–192. Entwürfe für eine Moralphilosophie. Deutsch von Hans Schöneberg und Vincent von Wroblewsky, Reinbek bei Hamburg 2005. L’être et le néant. Essai d’ontologie phénomenologique, Paris 1943 (Bibliothèque des idées). Saint Genet, Komödiant und Märtyrer. Deutsch von Ursula Dörrenbächer, in: ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, in Zusammenarbeit mit dem Autor hg. von Traugott König, Schriften zur Literatur, Band 4, Reinbek bei Hamburg 1982. »Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: die Intentionalität«, in: ders.: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931–1939, hg. und mit einem Nachwort von Bernd Schuppener, übers. von Uli Aumüller, Traugott König und Bernd Schuppener, in: ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, in Zusammenarbeit mit dem Autor hg. von Traugott König, Philosophische Schriften, Reinbek bei Hamburg 1982, 33–38. Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft . Deutsch von Hans Schöneberg. Mit einem Beitrag »Sartre über Sartre«, Reinbek bei Hamburg 1971. Kritik der dialektischen Vernunft , Reinbek bei Hamburg 1967. Was kann Literatur? Interviews, Reden, Texte. 1960–1976, Reinbek bei Hamburg 1985. »Ein neuer Mystiker«, in: ders.: Der Existentialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays. 1943–1948. Deutsch von Werner Bökenkamp, Hans Georg Brenner, Margot Fleischer, Traugott König, Günther Scheel, Hans Schöneberg und Vincent von Wroblewsky, in: ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, in Zusammenarbeit mit dem Autor und Arlette Elkaïm-Sartre begründet von Traugott König, hg. von Vincent von Wroblewsky, Philosophische Schriften 4, Reinbek bei Hamburg 2000, 9–54.
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Holger Glinka
»Materialismus und Revolution«, in: ders.: Der Existentialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays. 1943–1948, a. a. O., 193–266. »Question de method«, in: ders.: Critique de la raison dialectique (précéde de Question de méthode). Tome 1. Théorie des ensembles pratiques, Paris 1960, 13–111 (Bibliothèque de Idées). »Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis«, in: ders.: Der Existentialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays. 1943–1948, a. a. O., 267–328. Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, hg. von Traugott König. Deutsch von Hans Schöneberg und Traugott König, Reinbek bei Hamburg 2004. »Skizze einer Theorie der Emotionen«, in: ders.: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931–1939, a. a. O., 255–321. »Sartre über Sartre. Ein Interview«, in: Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft , a. a. O., 11–37. Tagebücher. Les carnets de la drôle de guerre. November 1939–März 1940. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, in: ders.: Gesammelte Werke, in Zusammenarbeit mit dem Autor und Arlette Elkaïm-Sartre hg. von Traugott König, Autobiographische Schriften, Briefe, Tagebücher, Hamburg 1998. »Die Transzendenz des Ego«, in: ders.: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931–1939, a. a. O., 39–96. Die Wörter. Aus dem Französischen mit einer Nachbemerkung von Hans Mayer, Reinbek bei Hamburg 1965. »Wahrheit und Existenz«, hg. von Arlette Elkaïm-Sartre, Deutsch von Hans Schöneberg und Vincent von Wroblewsky, in: ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, in Zusammenarbeit mit dem Autor und Arlette Elkaïm-Sartre begründet von Traugott König, hg. von Vincent von Wroblewsky, Philosophische Schriften 10, Reinbek bei Hamburg 1998. Was ist Literatur? Ein Essay, Hamburg 1958 (rowohlts deutsche enzyklopädie, hrsg. von Ernesto Grassi, Universität München).
III.
marxistische tradition und kritische theorie
Lenin liest Hegel Andreas Arndt
1. Am Beginn des ersten Weltkrieges, inmitten der zusammenbrechenden europäischen Ordnung, mit der zugleich auch die organisierte internationale Arbeiterbewegung – die II. Internationale – zugrundeging, zog sich der in die Schweiz geflüchtete russische Politiker Wladimir Iljitsch Uljanow, bekannt unter seinem Decknamen Lenin, in die Berner Bibliothek zurück, um dort philosophische Literatur zu studieren. Vom September 1914 bis zum Mai 1915 las er u. a. Ludwig Feuerbachs Darstellung, Entwicklung und Kritik der Leibnizschen Philosophie, Hegels Wissenschaft der Logik (unter Einbeziehung der Logik in der Enzyklopädie), Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Ferdinand Lassalles Heraklit sowie die Metaphysik des Aristoteles, dazu etliche Sekundärliteratur. Die umfängliche und intensive Lektüre schlug sich in ebenso umfänglichen Exzerpten und kommentierenden Anmerkungen nieder, die im Druck immerhin knapp 300 Seiten füllen, wozu auch ein eigenständiger Entwurf unter dem Titel Zur Frage der Dialektik gehört.1 Letzterer wurde 1925 veröffentlicht, die anderen Texte 1929 und 1930 in den Lenin-Sammelbänden IX und XII, in denen nach Lenins Tod Schriften und Entwürfe aus seinem Nachlaß ediert wurden. 2 Das Programm, das Lenin in einem Dreivierteljahr absolvierte, würde auch heute gewiß Jedem, der sich ernsthaft um die Hegelsche Philosophie bemüht, zur Ehre gereichen. Warum aber mühte sich der 44jährige revolutionäre Politiker an Hegels Wissenschaft der Logik ab? Offenbar war es nicht der resignative Rückzug in die Stille der Bibliothek, nachdem die revolutionäre internationale Arbeiterbewegung, die ja ihrem Programm nach auch eine internationale Friedensbewegung war, in den Fluten des Vgl. Lenin: Werke, 40 Bde., Berlin 1955 ff. (im folgenden zitiert mit der Sigle LW), Bd. 38. 2 Leninski Sbornik IX, Moskau und Leningrad 1929; Leninski Sbornik XII, Moskau und Leningrad 1930. 1
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Andreas Arndt
nationalstaatlichen Chauvinismus untergegangen war. Zwar bekannte Lenin seiner Geliebten Ines Armand: »Ich treibe mich in den Bibliotheken herum: habe mich nach ihnen gesehnt«; 3 zugleich nahm er jedoch auch seine ausgedehnte publizistische und organisatorische Tätigkeit wieder auf, um die internationale Arbeiterbewegung gegen die den Krieg unterstützenden sozialdemokratischen Parteien auf neuer Grundlage zu reorganisieren. 4 Die Zeiten, die Lenin in der Bibliothek verbrachte, sind zunehmend eher den politischen Aktivitäten abgerungen. Warum also las Lenin Hegel gerade in dieser kritischen Situation? Für Lenin gab es offenbar einen Zusammenhang zwischen dem theoretischen Rüstzeug der Parteien der II. Internationale und ihrem Versagen angesichts des europäischen Krieges. Sie hatten die Grundlagen der Marxschen Theorie verdrängt, mit der sie die gesellschaft lichen und politischen Entwicklungen und die Aufgaben der Arbeiterbewegung zu bestimmen versuchten; diese Grundlagen wieder in Erinnerung zu rufen und damit die Marxsche Theorie wieder zu einem Instrument politisch-gesellschaft licher Standortund Handlungsbestimmung zu machen, war – so meine These – Lenins Anliegen, als er sich in Hegels Werke vertiefte. Er konnte sich dabei ohne weiteres auf Marx selbst stützen, der im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapital geschrieben hatte, die Dialektik – und gemeint ist hier das, was er als »Kern« der Hegelschen Dialektik bezeichnet – sei »ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär«. 5 Lenin kannte dieses Nachwort sehr gut, aber er hatte es bis dahin – dem mainstream des Marx-Verständnisses in der II. Internationale folgend – ganz anders gelesen. In seiner frühen Schrift von 1894 gegen die Narodniki, die »Volksfreunde«, hatte Lenin sich damit und mit anderen Äußerungen von Marx und Engels zur Dialektik relativ ausführlich auseinandergesetzt, um schließlich zu dem Schluß zu kommen, daß es »unsinnig« sei, »dem Marxismus Hegelsche Dialektik vorzuwerfen«. 6 Marx’ Dialektik wird dabei – im Gefolge der Theorien des russischen Marxisten Georgi Plechanow – weitgehend mit einem naturhistorisch orientierten Determinismus gleichgesetzt; die dialektische Methode besteht demzufolge darin, »daß die Gesellschaft als ein lebendiger, in ständiger Entwicklung begriffner Organismus betrachtet wird«.7 Diese nicht eben spektakuläre WürdiLenin: Briefe, 10 Bde., Berlin 1967 ff. Bd. 4, 5 f. Vgl. hierzu die Übersicht in Gerda und Hermann Weber: Lenin-Chronik. Daten zu Leben und Werk, München 1974. 5 Karl Marx: Das Kapital, Bd. 1 (Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Berlin 1956 ff., Bd. 23), 28. 6 LW 1, 167. 7 Ebd., 158. 3 4
Lenin liest Hegel
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gung der Dialektik verschwindet indessen in zahlreichen Warnungen, das Instrument der Dialektik könne subjektiv mißbraucht werden, was eher an Eduard Bernstein erinnert, der – ich komme darauf gleich zurück – die Dialektik als »Fallstrick« bezeichnet hatte. Lenins Hegel-Lektüre ist also – und das gilt auch für Lenins eigene intellektuelle Biographie – so etwas wie die Wiederentdeckung des Hegelschen Erbes in der Theorie von Karl Marx. Ich werde also zunächst (2) etwas weiter ausholen müssen, um deutlich zu machen, wie die Diskussionslage war, auf die sich Lenin mit seiner Hegel-Lektüre bezog. Im Anschluß daran möchte ich (3) zeigen, wie Lenin Hegel liest, um dann (4) darauf einzugehen, welche Folgerungen Lenin aus seiner Lektüre zog. Und schließlich möchte ich (5) noch einen kurzen Blick auf die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Leninschen HegelLektüre werfen, die – so meine These – zugleich einen Teil der Wirkungsgeschichte Hegels im 20. Jahrhundert darstellt.
2. Marx’ kritischer Umgang mit Hegel hatte bei den Theoretikern der Arbeiterbewegung kaum Spuren hinterlassen. 8 Dabei muß man sich allerdings vergegenwärtigen, daß die hierfür wichtigsten einschlägigen Texte – wie die Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, 9 die Pariser Manuskripte 10 und die Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie 11 – erst in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts veröffentlicht wurden, übrigens in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit Lenins »Philosophischen Heften« und auch mit den Editionen der Jenaer Entwürfe Hegels, in denen die Thematisierung der Arbeit und der Sphäre der politischen Ökonomie ausführlicher und differenzierter als in den späteren Texten hervortritt12 und die ihrerseits Anlaß gegeben haben, das Verhältnis von Marx und Hegel neu zu durchdenken wie etwa bei Herbert Marcuse und Zum weiteren Rahmen vgl. Andreas Arndt: »Hegel-Kritik«, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, hrsg. von W.-F. Haug, Bd. 5, Hamburg 2002, Sp. 1243–1258; ders.: Lenin – Politik und Philosophie. Zur Entwicklung einer Konzeption materialistischer Dialektik, Bochum 1982, 597 ff. 9 Karl Marx/Friedrich Engels: Gesamtausgabe, Abt. 1, Bd. 1., Berlin 1929. 10 Karl Marx/Friedrich Engels: Gesamtausgabe, Abt. 1, Bd. 3., Berlin 1932. 11 Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 2 Bde., Moskau 1939 und 1941. 12 Hegel: Zur Politik und Rechtsphilosophie, hrsg. von Georg Lasson, Leipzig 1923; Jenenser Realphilosophie, Bd. 1.2, hrsg. von Johannes Hoff meister, Leipzig 1931. 8
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Georg Lukács.13 Von solchen Diskussionen konnte am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts noch keine Rede sein. Marx’ Aussage in dem bereits erwähnten Nachwort zur 2. Auflage des Kapital, er habe in diesem Buch »hier und da« mit der Hegel »eigentümlichen Ausdrucksweise« »kokettiert«,14 wurde weitgehend so verstanden, als sei der Bezug auf Hegel bei ihm bloße Arabeske. Max Adler, ein führender Kopf des Austromarxismus, der ein »Marxismus ohne Hegel« war,15 hat dies auf den Punkt gebracht: »Von den dem Marxismus zugrundeliegenden Denkelementen hat die Dialektik bis jetzt eigentlich nur bei den Gegnern größere Beachtung gefunden. […] Ja, es scheint fast, als ob auch viele Anhänger der Lehren von Marx und Engels die Meinung ihrer Gegner teilten, daß die Dialektik im Grunde eine unwesentliche Zutat zum System des Marxismus sei, entsprungen nur aus dem historischen Zusammenhang, den seine Begründer als Schüler Hegels mit dessen Philosophie hatten, so daß bei Angriffen auf die Dialektik keine ernste Gefahr für die Unversehrtheit dieses Systems selbst zu befürchten wäre.«16 So hat Georgi Plechanow – nach Engels’ Tod nicht nur in Rußland die philosophische Autorität unter den Marxisten – vor allem auf die Kontinuität der materialistischen Tradition im Marxismus Wert gelegt und Hegel nur am Rande behandelt; Karl Kautsky, der international anerkannte Gralshüter der Marxschen Theorie in der II. Internationale, bekannte: »Philosophie war nie meine starke Seite, und wenn ich auch ganz auf dem Standpunkt des dialektischen Materialismus stehe, so glaube ich doch, daß der ökonomische und historische Standpunkt von Marx und Engels zur Not auch mit dem Neokantianismus vereinbar ist.«17 Friedrich Engels hatte völlig Recht, als er feststellte, sich auf Hegel einzulassen sei, »um die Sache beim Namen zu nennen, […] ›weder Kautskys noch Bernsteins‹ Sache«.18
Herbert Marcuse: »Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus«, in: ders.: Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft , Frankfurt/M. 1969, 7–54; Georg Lukács: Der junge Hegel. Über die Beziehung von Dialektik und Ökonomie, 2 Bde., Frankfurt/M. 1973. 14 Karl Marx: Das Kapital, Bd. 1, a. a. O., 27. 15 Vgl. Wilhelm Raimund Beyer: »Austromarxismus als Marxismus ohne Hegel«, in: ders.: Freibeuter in Hegelschen Gefilden, Frankfurt/M. 1983, 73–86. 16 Max Adler: Marxistische Probleme, Stuttgart 3. Aufl age 1919, 18. – Adler selbst rekonstruiert Hegels Dialektik als (den Gegenständen äußerliche) Methode in einem kantianischen Rahmen; vgl. Arndt: Lenin, a. a. O., 726 f. 17 Zit. in: Marxismus und Ethik, hrsg. von Hans-Jörg Sandkühler u. Rafael de la Vega, Frankfurt/M. 1974, 19. 18 Gespräche mit Marx und Engels, hg. von Hans Magnus Enzensberger, 2 Bde., Frankfurt/M. 1973, 667. 13
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Bernstein selbst ging indessen noch weit über Kautskys Indifferenz hinaus, indem er den Hegelianismus für das Schlechte – und das heißt: für die revolutionäre Seite der Marxschen Theorie – verantwortlich machte. In seinem Buch Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, in dem er 1899 das Programm des »Revisionismus« entwickelte, warnte Bernstein vor den »logischen Purzelbäume[n] des Hegelianismus«, mit denen man »im Sumpfe« lande: »Was Marx und Engels großes geleistet haben, haben sie nicht vermöge der Hegelschen Dialektik, sondern trotz ihrer geleistet«.19 Dies veranlaßte sogar Karl Kautsky zu einer Verteidigung des Hegelianismus, denn, so fragte er in seinem Artikel »Bernstein und die Dialektik«: »Was bleibt […] vom Marxismus übrig, wenn man ihm die Dialektik nimmt«? Notwendig sei die Dialektik, weil sie allein es erlaube, Entwicklung zu begreifen, denn die »Triebkraft aller Entwicklung ist […] der Kampf der Gegensätze.«20 Hierunter verstand Kautsky allerdings, wie dann in seinen späteren Werken deutlich wurde, eher den struggle for life als den dialektischen Widerspruch. 21 Bernstein allerdings beharrte darauf, daß die Dialektik ein »Fallstrick« sei, wobei er letztlich neokantianisch argumentierte: wir haben alles, was jenseits der (historisch variablen) Grenze der sicheren wissenschaft lichen Erkenntnis liegt, als unerkennbares »Ding an sich« zu behandeln, wodurch wir für das diesseitige Gebiet »den logischen Widerspruch mit allen seinen Zweideutigkeiten« los seien; leugnen wir aber die Grenze, »so tragen wir den Widerspruch in unsere ganze Weltauffassung hinein und laufen Gefahr, bei der ersten Gelegenheit das Recht unseres Verstandes einer mysteriösen höheren Vernunft und widerspruchsvollen Dialektik zu opfern«, wodurch die Dialektik »Antrieb und Anleitung zu willkürlicher Konstruktion« werde. 22 Dies sei bei Marx 1848 und danach der Fall gewesen, als er – so Bernstein – mit »terroristischen Anweisungen« Politik machen wollte und damit einer »geschichtlichen Selbsttäuschung« erlegen sei, »die gerade bei einem Manne von dem Wissen und der theoretischen Einsicht eines Marx nur durch irgend welchen Rückfall in eine falsche Dialektik erklärt werden kann.«23 Aus diesen Debatten zog Chaim Schitlowski, der mit
Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Berlin u. a. 1975, 71. 20 Karl Kautsky: »Bernstein und die Dialektik«, in: Die Neue Zeit 17 (1899), 39. 21 Vgl. v. a. Karl Kautsky: Vermehrung und Entwicklung in Natur und Gesellschaft , Stuttgart 1920. 22 Eduard Bernstein: »Die Notwendigkeit in Natur und Geschichte«, in: Die Neue Zeit 17 (1899), 331. 23 Ebd., 356. 19
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seiner Kritik am Hegelianismus Bernstein wesentlich beeinflußt hatte, 24 den Schluß, man müsse die Hegelsche Dialektik, die bereits »tot« sei, nun endgültig auch in Gestalt der »Marx-Hegelschen Metaphysik« totschlagen, um die verhängnisvolle »Verbindung des idealistischen Ziels mit der materialistischen Geschichtsauffassung« – d. h. die revolutionäre Orientierung – aufzulösen. 25 Insgesamt waren die philosophischen Debatten innerhalb der II. Internationale von den allgemeinen philosophischen Konjunkturen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts geprägt; Neukantianismus, ein spinozistisch eingefärbter Monismus und ein szientifischer Materialismus und Positivismus dominierten wie auch sonst, 26 nur daß im Rahmen der Arbeiterbewegung die Verträglichkeit bzw. Unverträglichkeit dieser Positionen mit den jeweils für wesentlich erachteten sozialistischen Theorien und Programmen zusätzlich erörtert wurde. Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, daß sich im Spektrum dieser Positionen bei den Anhängern des mit Marx bekannt gewesenen Handwerkerphilosophen Joseph Dietzgen auch ein Hegelianismus behauptete, der die Dialektik als Theorie der Versöhnung von Gegensätzen interpretierte und damit dem Revisionismus einen Unterbau geben wollte. 27 Lenins Hegel-Lektüre ist allererst vor dem hier angedeuteten Hintergrund zu verstehen; er wendet sich sowohl gegen die revisionistische Verwerfung der Dialektik als Fallstrick als auch gegen die Versöhnungsmetaphysik. Indessen ist damit noch nicht erklärt, weshalb Lenin überhaupt auf die Hegelsche Dialektik zurückkommt, hatte er bis dahin doch eher die Position vertreten, daß die Marxsche Dialektik – die bei ihm indessen ebenso unbestimmt blieb wie bei Kautsky – mit Hegel nichts zu tun habe. Tatsächlich ging der Hegel-Lektüre eine Marx-Lektüre voraus, die Lenin zu einer neuen Einschätzung veranlaßte. Im September 1913 war eine vierbändige Auswahl des Briefwechsels zwischen Marx und Engels erschienen, für die August Bebel und Eduard Bernstein als Herausgeber verantwortlich zeichneten. 28 Lenin arbeitete diesen Briefwechsel innerhalb kurzer Zeit durch, wobei er umfangreiche Exzerpte mit kommentie-
Vgl. Chaim Schitlowsky: »Beiträge zur Geschichte und Kritik des Marxismus«, in: Deutsche Worte 16 (1895), Wien, 193–211, 337–372. 25 Ch. Schitlowski: »Die sogenante Krise innerhalb des Marxismus«, in: Sozialistische Monatshefte 8 (1900), 466 f. 26 Vgl. Andreas Arndt u. Walter Jaeschke (Hg.): Materialismus und Spiritualismus. Philosophie und Wissenschaften nach 1848, Hamburg 2000. 27 Vgl. hierzu Arndt: Lenin, a. a. O., 608 f. 28 Stuttgart 1913. 24
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renden Anmerkungen anfertigte. 29 Etwa ein Viertel dieser Anmerkungen bezieht sich auf Fragen der Philosophie und der Dialektik, wobei die Hegelsche Logik und Marx’ Auseinandersetzung mit ihr im Kapital im Mittelpunkt stehen. 30 Indem Lenin den Inhalt der Briefe gegen ihre revisionistische Interpretation durch Bernstein wendet, entdeckt er in diesen Briefen zugleich die Bedeutung Hegels für die Marxsche Theorie; Lenins Marx-Lektüre bringt einen Hegel-Marxismus hervor, den Lenin dann in Bern aus den Quellen zu studieren unternimmt.
3. Marx liefert nicht nur das Motiv, sondern auch die Gebrauchsanweisung für Lenins Hegel-Lektüre. Die vieldeutigen Marxschen Metaphern aus dem Nachwort zur zweiten Ausgabe des Kapital – »Kern« und »Hülle«, Umstülpen« etc. – sowie Engels’ Rede von dem auf den Kopf gestellten Materialismus Hegels 31 initiieren zunächst eine Lektüre nach dem Aschenputtel-Prinzip: die »schlechten«, idealistischen Passagen werden getilgt, die »guten«, wo der Materialismus durchzuschimmern scheint, werden notiert. In Lenins Anmerkungen liest sich das dann so: »Blödsinn über das Absolute […]. Ich bemühe mich im allgemeinen, Hegel materialistisch zu lesen: Hegel ist auf den Kopf gestellter Materialismus (nach Engels) – d. h., ich lasse den lieben Gott, das Absolute, die reine Idee etc. größtenteils beiseite.«32 Nach dieser Maxime ist die Seinslogik rasch bewältigt; die Wesenslogik hält dafür mit den Reflexionsbestimmungen einen »Kern« bereit: die Selbstbewegung als innerlich notwendige Bewegung: »wer würde glauben, daß das der Kern der ›Hegelei‹, der abstrakten und abstrusen (schwerfälligen, absurden?) Hegelei ist?? Diesen Kern mußte man entdecken, begreifen, hinüberretten, herausschälen, reinigen, und das eben haben Marx und Engels getan.«33 Wenig später, noch immer in der Wesenslogik, wagt Lenin eine erste Bilanz des Erbsenzählens und spricht von »9/10 Schale, Schutt«. 34 Louis Althusser kommentiert völlig zu
W. I. Lenin: Konspekt zum »Briefwechsel zwischen Karl Marx und Friedrich Engels 1844–1883«, Berlin 1963 (russische Erstveröffentlichung Moskau 1959). 30 Vgl. Arndt: Lenin, a. a. O., 258 ff . 31 Vgl. Friedrich Engels: »Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie«, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, a. a. O., Bd. 21, 277. 32 LW 38, 94. 33 Ebd., 131. 34 Ebd., 144. 29
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Recht: »Was für ein Verlust!«35 Nach seiner Auffassung ist dieser Verlust jedoch notwendig, um an Hegel das zu retten, was überhaupt zu retten ist: der Gedanke eines nichtteleologischen, subjektlosen Prozesses (den Althusser von Spinoza beziehen möchte). 36 Tatsächlich beginnt aber gerade nach dieser Bilanz eine einschneidende Veränderung in der Leninschen Lektüre. Das Aschenputtel-Verfahren wird ersetzt durch eine kritische Rekonstruktion und Aneignung, die sich auf den Hegelschen Zusammenhang einläßt und ihn nicht mehr fragmentiert. Je weiter sich Lenin durch die subjektive Logik durcharbeitet, desto umfangreicher und intensiver werden seine Exzerpte und Anmerkungen. Mehr als die Hälfte seiner Notizen beziehen sich auf die Lehre vom Begriff , und davon fast zwei Drittel auf den Abschnitt über die Idee. 37 Von Schale und Schutt ist schließlich nicht mehr die Rede; stattdessen heißt es am Schluß der Lektüre: »Bemerkenswert, daß im ganzen Kapitel über die ›absolute Idee‹ fast mit keinem Wort Gott erwähnt ist […], und außerdem […] hat das Kapitel fast gar nicht spezifisch den Idealismus zum Inhalt, sondern sein Hauptgegenstand ist die dialektische Methode. Fazit und Resümee, das letzte Wort und der Kern der Hegelschen Logik ist die dialektische Methode […]. Und noch eins: In diesem idealistischsten Werk Hegels ist am wenigsten Idealismus, am meisten Materialismus. ›Widersprechend‹, aber Tatsache!«38 Indem Lenin das Kapitel über die absolute Idee als den eigentlichen »Kern« der Wissenschaft der Logik identifi ziert, verändert sich seine Sicht auf dieses Werk und auf die Hegelsche Philosophie im Ganzen. Nicht mehr der äußerliche Gegensatz von Idealismus und Materialismus ist bestimmend für die Auseinandersetzung, sondern die Struktur der Vermittlung von »Sein« und »Denken« innerhalb der Logik, eine Struktur, die die Logik durchzieht und die in dem Methodenkapitel ihrerseits auf den Begriff gebracht wird. Damit geht Lenin, ohne sich dessen voll bewußt zu sein, in der Tat auf Marx’ Konzeption eines »neuen« Materialismus zurück, den jener gerade in Hegels Identitätsphilosophie begründet sah; 39 Louis Althusser: Lenin und die Philosophie, Reinbek 1974, 77. Vgl. Andreas Arndt: »Die Stellung der Philosophie Spinozas zur materialistischen Dialektik. Anmerkungen zum Spinozismus in Althussers Marx-Interpretation«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 35 (1981), 90–110. 37 Vgl. Arndt: Lenin, a. a. O., 684 f. 38 LW 38, 226. 39 Vgl. Andreas Arndt: »Der Begriff des Materialismus bei Karl Marx«, in: Kurt Bayertz, Myriam Gerhard u. Walter Jaeschke (Hg.): Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Band 1: Der Materialismus-Streit, Hamburg 2007, 260–274. 35
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den Gegensatz dieses »neuen« Materialismus auch zum Feuerbachschen hat Lenin jedenfalls wiederholt notiert. Das veränderte Verständnis Hegels im Verlauf der Lektüre ergibt sich nicht zuletzt aus einem genuin philosophischen Leitfaden, den Lenin gleich zu Beginn seiner Lektüre ergreift. Nicht zuletzt aufgrund der Verbreitung des Neukantianismus auch unter den Theoretikern der II. Internationale ist er besonders sensibel für Hegels Kant-Kritik. Bereits in Materialismus und Empiriokritizismus, seiner politisch-philosophischen Streitschrift von 1909, 40 hatte er sich zum Thema Kant geäußert und Kant der »Halbheit« 41 bezichtigt: soweit er Dinge an sich anerkenne, sei er Materialist; soweit er ihre Unerkennbarkeit behaupte, sei er Agnostiker, soweit er apriorische Formen des Erkennens für Sinnlichkeit und Verstand annehme, sei er Idealist. Um diese Halbheiten zu beseitigen, forderte Lenin eine Kantkritik »von links«. 42 Diese Aufspaltung der Kantischen Philosophie in »gute«, materialistische und »schlechte«, agnostizistische und idealistische Elemente entspricht dem anfänglichen Verfahren der Hegel-Lektüre. Hegel belehrt Lenin aber sogleich – schon in der Vorrede zur 2. Ausgabe der Seinslogik – daß es gerade darauf ankomme, sich nicht in Trennungen und fi xen Gegensätzen herumzutreiben, wenn er Kant dahingehend kritisiert, daß das Ansich als Jenseits des Gedankens »nur ein Gedankending […] der leeren Abstraktion« sei. 43 Was Lenin auf dem Standpunkt von 1909 noch als eine idealistische Kantkritik »von rechts« abqualifi ziert hätte, beginnt ihm 1914 einzuleuchten. 44 Er hält das »Wesen des Arguments« in zwei Punkten fest: »(1) bei Kant trennt […] die Erkenntnis Natur und Mensch; in Wirklichkeit schließt sie sie zusammen; (2) bei Kant steht die ›leere Abstraktion‹ des Dinges an sich an Stelle des lebendigen Ganges, der Bewegung unseres sich immer mehr vertiefenden Wissens von den Dingen.«45 Zweifellos hält Lenin, wie ja auch Marx, weiterhin daran fest, daß die Dinge nicht begriffl icher oder gedanklicher Natur sind; er sieht aber ein, daß auch der Unterschied von Denken und Sein vermittelt werden muß und in dieser Vermittlung das eigentliche Problem liegt. Das Dialektische, so Vgl. zu dieser Lesart der Leninschen Schrift , die sich von den gewöhnlichen Lektüren Lenins abgrenzt, Arndt: Lenin, a. a. O., Kap. 3. 41 LW 14, 195; zum folgenden ebd., 195 f. 42 LW 14, 196. 43 Hegel: GW 21, 14; von Lenin zitiert LW 38, 83. 44 Vgl. allerdings, LW 38, 158 f., wo er notiert, Hegel habe Kants Schwanken zwischen Empirismus und Idealismus vom Standpunkt eines konsequenteren Idealismus aus kritisiert. Geändert hat sich aber der Rahmen der Leninschen Argumentation, sofern der Gegensatz des Idealismus und Idealismus sich ihm relativiert hat. 45 LW 38, 83 f. 40
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zitiert Lenin wenig später, sei »Fassen des Entgegengesetzten in seiner Einheit«, was er jetzt so kommentiert: »Ein Unterschied zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven besteht, aber auch er hat seine Grenzen.«46 Auf der Grundlage dieser Einsicht kann Lenin dann sogar den Gedanken der »Verwandlung des Ideellen in das Reale« affi rmieren und notiert sich »gegen den Vulgärmaterialismus«: »Der Unterschied des Ideellen vom Materiellen ist ebenfalls nicht unbedingt, nicht überschwenglich.«47 Lenins Überlegungen münden schließlich in eine massive Selbstkritik: »Die Marxisten kritisierten […] die Kantianer und die Anhänger Humes mehr auf Feuerbachsche (und Büchnersche) als auf Hegelsche Art.«48 Lenins Auseinandersetzung mit Hegels Kant-Kritik macht deutlich, daß die anfängliche Lektürestrategie einer Scheidung von »Hülle« und »Kern« nach den Kriterien »idealistisch« und »materialistisch« daran scheitert, daß diese Entgegensetzung selbst, statt als unmittelbar gegebenes Kriterium gelten zu können, vermittelt werden muß. Indem er dies erkennt, kehrt Lenin der Sache nach zu dem Marxschen Konzept eines »neuen«, auf Hegel zurückgehenden Materialismus zurück, der die Form der Vermittlung in den Mittelpunkt stellt, die sich bei Marx als »gegenständliche Vermittlung« nach dem Modell der wirklichen Arbeit darstellt. 49 Lenin setzt hier den Begriff der »Praxis« ein, den er bei Hegel vor allem in den Ausführungen zur Arbeit und zum Werkzeug im TeleologieKapitel des Objektivitäts-Abschnitts der Lehre vom Begriff wiederfi ndet. 50 Allerdings gebraucht Lenin den Begriff der Praxis vielfach in einem sehr weiten, theoretisch nicht spezifi zierten Sinne, wie z. B. überall dort, wo er auf die »milliardenfache« Wiederholung von Begriffen und logischen Figuren als Grundlage ihres axiomatischen Gebrauchs verweist. 51 Wichtiger als der Praxis-Begriff, der von vielen Interpreten auch deshalb besonders herausgestellt wurde, weil er einen Gegensatz zum angeblich anschauenden Materialismus von Materialismus und Empiriokritizismus zu bezeichnen scheint, ist in Lenins Aufzeichnungen jedoch die Kategorie der Totalität; sie bezeichnet einen allseitigen Vermittlungszusammenhang, in dem auch Natur und Geist, Sein und Denken, Subjektives und Objektives nur Momente sind. Dieser Gedanke geht Lenin im ZusammenEbd., 90. Ebd., 106. 48 Ebd., 169. 49 Vgl. A. Arndt: »Gegenständliche Vermittlung und Arbeit des Begriff s. Marx’ Auseinandersetzung mit Hegels Arbeitsbegriff«, in: Renate Wahsner (Hg.): Hegel und das mechanistische Weltbild, Frankfurt/M. [u. a.] 2005, 148–158. 50 Vgl. LW 38, 177 ff . 51 Vgl. ebd., 181. 46 47
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hang mit der Hegelschen Kant-Kritik schon an der Figur des Übergehens in Anderes in Hegels Seinslogik auf. »Allseitige, universelle Elastizität der Begriffe, Elastizität, die bis zur Identität der Gegensätze geht – das ist das wesentliche. Diese Elastizität, subjektiv angewendet, = Eklektizismus und Sophistik. Elastizität, objektiv angewendet […], ist Dialektik, ist die richtige Widerspiegelung der ewigen Entwicklung der Welt.«52 Dialektik wird demnach im weitesten Sinne verstanden als die Erfassung und Darstellung, als gedankliche Reproduktion einer prozessierenden Totalität. Dieser Bezug auf die Kategorie der Totalität gibt Lenin nun einen weiteren Leitfaden für das Sich-verständlich-machen der Hegelschen Logik an die Hand, nämlich den Rückbezug auf die »Logik« des Marxschen Kapital: 53 So, wie die einfache Wertform bei Marx bereits alle Widersprüche des Kapitalismus in nuce enthalte, so bedeute bei Hegel »schon die einfachste Verallgemeinerung, die erste und einfachste Bildung von Begriffen« den Beginn der Rekonstruktion des »objektiven Weltzusammenhangs durch den Menschen.«54 Im Kapital, so geht Lenin jetzt auf, »kokettiert« Marx nicht nur mit Hegels Ausdrucksweise, sondern er hat »die Dialektik Hegels in ihrer rationellen Form auf die politische Ökonomie angewendet.«55 Hieraus zieht Lenin dann die berühmte und viel zitierte Folgerung: »Man kann das ›Kapital‹ von Marx und besonders das I. Kapitel nicht vollständig begreifen, ohne die ganze Logik von Hegel durchstudiert und begriffen zu haben. Folglich hat nach einem halben Jahrhundert nicht ein Marxist Marx begriffen!!«56 Damit soll sicher nicht gesagt sein, daß sich die Kritik der politischen Ökonomie ohne Studium der Hegelschen Logik überhaupt nicht begreifen lasse; wohl aber ist gemeint, daß ein vollständiges Begreifen der Marxschen Theorie einschließlich ihrer wissenschaft stheoretischen Grundlagen ohne Hegel nicht möglich sei. Lenins Aphorismus ist das Gründungsdokument des Hegelmarxismus, wie er dann vor allem im westlichen Marxismus zur Geltung kam.
52 53 54 55 56
Ebd., 100. Vgl. ebd., 168–170 Ebd., 168 f. Ebd., 168. Ebd., 170.
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4. Lenins Hegel-Lektüre läuft auf eine Konzeption universeller Vermittlung hinaus; dies hatte – völlig zu Recht – bereits Wilhelm Goerdt in den Mittelpunkt seiner Interpretation der Leninschen Dialektik-Konzeption gestellt, 57 wobei allerdings das Verhältnis zu Hegel unterbestimmt blieb. Frank-Alexander Koch hat in seiner von Dieter Henrich inspirierten Münchener Dissertation (1977) den Anknüpfungspunkt darin gesehen, daß Lenin vor allem auf Hegels Reflexionstheorie zurückgehe, »die Aufhebung aller Unmittelbarkeiten in Reflexion«, wobei er jedoch die Dialektik »in eine autonome Reflexionskompetenz« ummünze, der letztlich jeder Halt fehle. 58 In der Tat führt Lenins Hegel-Lektüre nicht zu einer systematischen Begründung von Dialektik mit und gegen Hegel; die Annotationen zur Logik bleiben, wie ich es in meiner Dissertation genannt habe, »Hinweise für eine systematische Darstellung«. 59 Diese Hinweise wären hoffnungslos überfordert, wollte man aus ihnen eine stringente systematische Begründung extrapolieren. Das Ergebnis der Leninschen Hegel-Lektüre ist somit kein systematischer Traktat über die dialektische Methode (wie ihn etwa Marx zu schreiben beabsichtigte), sondern die Niederschrift von Merkposten, worauf es beim Gebrauch der dialektischen Methode ankommt. Diese Merkposten fi nden sich innerhalb der Notizen und Anmerkungen zur Wissenschaft der Logik in 16 »Elementen der Dialektik, 60 die im Zusammenhang mit Hegels Darstellung der absoluten Idee als absoluter Methode niedergeschrieben wurden; sie fi nden sich weiter in dem Fragment »Zur Frage der Dialektik«, in dem Lenin die Ergebnisse seiner Lektüre zu verdichten suchte. Der Theorietypus, zu dem solche Merkposten gehören, ließe sich am angemessensten als Topik beschreiben, die ja ohnehin zu den Beständen dialektischen Denkens gehört. 61 Lenins Merkposten sind auf den ersten Blick wenig spektakulär. Auf den zweiten Blick wird jedoch erkennbar, daß er – offenbar orientiert an dem Marxschen Verfahren im Kapital – die Reproduktion einer Totalität als Vermittlungszusammenhang vom Einzelnen, den Elementen der Totalität aus ansetzen will. So bezieht sich die »Objektivität der Betrachtung« Wilhelm Goerdt: Die ›allseitige universale Wendigkeit‹ (gibkost’) in der Dialektik V.I. Lenins, Wiesbaden 1962. 58 Frank-Alexander Koch: Dialektik als Strategie. Studie zur materialistischen Erkenntnis- und Revolutionstheorie – am Beispiel Lenins, München 1977. 59 Vgl. Arndt: Lenin, a. a. O., Kap. 6. 60 LW 38, 212–214; auf die Zählung dieser Elemente beziehen sich im folgenden die Ziffern im Text. 61 Vgl. Rüdiger Bubner: Dialektik als Topik, Frankfurt/M. 1991. 57
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(1) gerade nicht auf das Allgemeine, sondern auf das einzelne »Ding«, das dann (2) in der »Totalität der mannigfaltigen Beziehungen« zu den anderen Dingen sowie in seiner Entwicklung (3) zu betrachten ist. In diesem Zusammenhang treten (4) seine »innerlich widersprechenden Tendenzen (und Seiten)« hervor, so daß es (5) als »Summe und Einheit der Gegensätze« gefaßt werden kann, deren Entfaltung zu verfolgen ist (6). Hieran knüpft – mit Hegel – das analytisch-synthetische Verfahren an (7), das Lenin in den folgenden 8 Elementen noch differenziert, ohne freilich – und dies ist eine Konsequenz seines Ansatzes beim Einzelnen – zu einer systematisch gerundeten Totalität als Selbstbezüglichkeit des Begriffs qua Idee zu kommen. Auch hierin kehrt Lenin zur Marxschen Hegel-Kritik zurück, wie sie etwa in der Kritik des Hegelschen Staatsrechts von 1843 formuliert wurde, die Lenin noch nicht kennen konnte. In dem Fragment »Zur Frage der Dialektik« wird dann aufgenommen, was Lenin im Anschluß an die »Elemente« notiert hatte: »Die Dialektik kann kurz als die Lehre von der Einheit der Gegensätze bestimmt werden«. 62 Lenin interpretiert das nun als »Spaltung des Einheitlichen«, wobei die »Einheit« nur vorübergehend, der »Kampf« der Gegensätze aber absolut sei. 63 Dies ist indessen keine Gebrauchsanweisung für rücksichtslosen Klassenkampf und Parteisäuberungen, denn Lenin äußert dies im Zusammenhang mit dem Programm, »an Hand der Geschichte der Wissenschaft«64 die Dialektik zu fundieren, wofür ihm dann – wie könnte es anders sein – wiederum das Kapital als ausgezeichnetes Beispiel dient. Das Problem, das Lenin in systematischer Hinsicht berührt, im Rahmen seiner Topik aber weder explizit macht geschweige denn löst, ließe sich am ehesten in Anlehnung an Adornos Konzeption negativer Dialektik beschreiben als Prävalenz des Nichtidentischen (des »Kampfes« der Gegensätze) und als Kritik der Prävalenz des Allgemeinen bei Hegel (Ausgang beim Einzelnen und Nichtabschließbarkeit des Prozesses). Wem das zu hoch gegriffen ist, der mag sich vergegenwärtigen, daß die Topoi einer von Marx inspirierten Auseinandersetzung mit Hegel nicht unendlich variabel sind. Der Ertrag der Leninschen Hegel-Lektüre besteht demnach weniger in Ansätzen zur systematischen Ausarbeitung derjenigen philosophischen Problematiken, die in den Notizen berührt werden, als vielmehr in der Rückgewinnung einer Problematik, die bereits durch Marx’ Verhältnis zu Hegel vorgegeben, die aber im Zuge der auch bis tief in die Arbeiter62 63 64
LW 38, 214. LW 38, 338 f. Ebd., 338.
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bewegung hineinreichenden philosophischen Entwicklung des späteren 19. Jahrhunderts geradezu verdrängt worden war. Daß Lenin dies gegen den vorherrschenden Zeitgeist gelingt, überhebt seine Aufzeichnungen der Trivialität, die solchen Aneignungsbemühungen sonst oft anzuhaften pflegt. Indessen: Es ist die Rückgewinnung einer Problematik und nicht ihre Lösung. Völlig unangemessen war daher die vor 1989 parteioffi ziell gepflegte Auffassung, mit Lenin beginne eine neue Etappe der Entwicklung der Dialektik und womöglich der Philosophie insgesamt. 65 Lenin selbst war sich des vorläufigen Charakters seiner Resultate durchaus bewußt und hat – anknüpfend an sein Fragment »Zur Frage der Dialektik« – später versucht, hierzu ein wissenschaft liches und philosophisches Forschungsprogramm zu initiieren, das er 1922 in einem Aufsatz mit dem Titel »Über die Bedeutung des streitbaren Materialismus« vorschlug. Hierbei ging es ihm einerseits um Aufk lärung, um die Vermittlung elementaren wissenschaft lichen Wissens an die (zum großen Teil noch analphabetischen) Massen, wobei die Religionskritik im Mittelpunkt stehen sollte, zum anderen aber auch darum, empirische Wissenschaft ler und Philosophen durch die Organisation eines »systematische[n] Studium[s] der Dialektik Hegels vom materialistischen Standpunkt aus«66 zusammenzuführen. Hierzu stellt er sich »eine Art ›Gesellschaft materialistischer Freunde der Hegelschen Dialektik‹« vor. 67 In seinen eigenen Arbeiten hat Lenin nach 1914 wiederholt von der dialektischen Topik Gebrauch gemacht, die er durch seine Hegel-Lektüre gewonnen hatte. Beispielhaft in dieser Hinsicht ist die Gewerkschaft sdebatte 1921 mit Trotzki und Bucharin, in der Lenin fast wörtlich auf seine »Elemente der Dialektik« zurückkommt, um die »undialektische« Argumentationsweise seiner Kontrahenten deutlich zu machen. 68 Und auch die Leninsche Imperialismusschrift läßt sich methodologisch vor dem Hintergrund dieser Topik als der Versuch lesen, die für die politische Praxis entscheidenden »Widersprüche« der gegenwärtigen Totalität des Weltkapitalismus herauszupräparieren. 69
Vgl. z. B. Geschichte der marxistischen Dialektik. Die Leninsche Etappe, Berlin 1976 (zuerst russ. 1973). 66 LW 33, 219. 67 Ebd., 220. 68 Vgl. Lenin: »Noch einmal über die Rolle der Gewerkschaft en«, in: LW 32, bes. 73–85. Vgl. Arndt: Lenin, a. a. O., 580 ff. 69 Vgl. Arndt: Lenin, a. a. O., Kap. 4. 65
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5. Auf das von Lenin in dem Aufsatz »Über den streitbaren Materialismus« entwickelte Projekt stützte sich in der sowjetischen Philosophie der 20er Jahre die Gruppe um Deborin, als sie die ›Mechanizisten‹ (v. a. Bucharin), aber auch ›Hegelianer‹ (wie Lukács) kritisierte, bevor sie selbst ins Visier Stalins geriet und Ende 1930 einer »formalistische[n] Entstellung der materialistischen Dialektik« für schuldig befunden70 und Deborin nun vorgeworfen wurde, Marx und Lenin durch »Hegels Brille« gelesen zu haben.71 Stalin, der »Dschinghis-Khan mit Telefon«, wie Bucharin ihn nannte, war von Anfang an unglücklich über die Veröffentlichung der »Philosophischen Hefte« Lenins, weil darin Verwirrung über die Grenzziehung zwischen Materialismus und Idealismus angerichtet werde. Aus diesem Grunde wehrte er sich bis zu seinem Tod, diese Texte in die als kanonisch geltende Lenin-Gesamtausgabe aufzunehmen.72 Mit dem (angeblich von Stalin verfaßten) Text »Über dialektischen und historischen Materialismus«, der 1938 im »Kurzen Lehrgang der Geschichte der KpdSU (B)«, abgesegnet durch Beschluß des Zentralkomitees, erschien, war Hegel wiederum zum entbehrlichen Ornament der Marxschen Theorie geworden. Folgerichtig machte dann Stalins Chefideologe Shdanov 1944 die Legende von Hegel als Philosophen der preußischen Reaktion wiederum offi ziell zur Richtlinie der Hegel-Kritik.73 Als dann, nach Stalins Tod, nach dem berühmten Diktum Ernst Blochs, wieder Schach, d. h. Dialektik, statt Mühle gespielt werden sollte, verstellte die Konstruktion des Leninismus in der Philosophie wiederum den unbefangenen Blick auf die Problematik, die Lenin gerade zurückgewonnen hatte. Außerhalb der Sowjetunion und vor allem in Westeuropa indessen zündete das Leninsche Projekt eines materialistischen Studiums der Hegelschen Dialektik. Die revolutionäre Dialektik wurde zur Chiff re für das theoretische Selbstverständnis einer ganzen Generation von Intellektuellen, die mit der russischen Revolution und mit Lenin sympathisierten. In der Tradition des marxistischen Denkens war dies ohne Beispiel, und so kann auch, wie dies der amerikanische Politologe Kevin Anderson 1995 in
Vgl. A. Deborin u. N. Bucharin: Kontroversen über dialektischen und mechanistischen Materialismus, Frankfurt/M. 1969, 318. 71 L. Sziklai: Georg Lukács und seine Zeit, Berlin u. Weimar 1990, 80. 72 Vgl. Dieter Uhlig u. Wladislaw Hedeler: »Nachwort«, in: Nikolai Bucharin: Philosophische Arabesken, Berlin 2005, 425. 73 Vgl. L. Sziklai: Georg Lukács, a. a. O., 91. 70
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seiner Monographie »Lenin, Hegel and Western Marxism«74 ausführlich begründet hat, die Wirkung Lenins auf den westlichen Hegel-Marxismus kaum hoch genug veranschlagt werden. Allgemein akzeptiert wurde vor allem in den westeuropäischen Diskussionen auch Lenins Vorschlag, die Marxsche Auffassung der Dialektik aus der »Logik« des Kapital zu rekonstruieren. Zugespitzt formuliert: Der westliche Hegel-Marxismus, der sich dann vielfach dezidiert gegen den Parteimarxismus der Sowjetunion und ihres Einflußbereichs wenden sollte, hat einen wesentlichen Ursprung in Lenins Rückwendung zu Hegel. Dies, eine Hegel-Renaissance im marxistischen Denken mit angestoßen zu haben, ist sicher kein als gering einzuschätzendes Resultat der Leninschen Hegel-Lektüre. Welche Potenzen in Lenins Projekt selbst lagen, läßt sich aus Nikolai Bucharins Gefängnisheften erahnen, die dieser in der Todeszelle schrieb und vor seiner Hinrichtung Stalin übergeben ließ: eine Interpretation, die von Lenins Notizen aus erneut Hegel liest und auf dieser Grundlage das Projekt einer materialistischen Dialektik zu entwickeln versucht. Stalin ließ das Manuskript liegen; sein theoretischer Abgesang auf Bucharin und auf Lenin erschien wenig später in Gestalt des berüchtigten Artikels »Über dialektischen und historischen Materialismus«. Damit war die Allianz der Marxschen Theorie mit Hegel aufgekündigt, welche die II. Internationale verdrängt, Lenin wiedergewonnen und die für einen historischen Augenblick Rußland und Westeuropa intellektuell einander näher gebracht hatte.
University of Illinois-Press, 1995. – Anderson kommt vielfach zu gleichen Einschätzungen wie ich in meiner Dissertation, die er aber nicht kennt. 74
Das »Geklapper der Triplizität«. Adornos Hegelrezeption Daniel Althof
Adorno versteht sich selbst als Anti-Systematiker und sieht sich mit seiner negativen Dialektik in striktem Gegensatz zu Hegels positiver Dialektik. Adornos Kritik an Hegel ist vielfältig. Der Hegelsche Begriff schiebt sich vor das, was das Denken begreifen will.1 Hegels Dialektik ist ein Sophismus, 2 das Objekt in die systematische Kohärenz eingepasst,3 und der Geist maßt sich an, das ontologisch Letzte zu sein.4 Die Kritik an Hegel kulminiert in dem bekannten Diktum, das Ganze sei das Unwahre. 5 In dieser einfachen Negation des programmatischen Satzes Hegels, das Ganze sei das Wahre, scheint sich eine Opposition auszudrücken, die die größtmögliche Distanz zu Hegel sucht. Der Aufsatz dagegen möchte zeigen, daß im Gegenteil Adorno in vielen Aspekten in einer zunächst unvermuteten Nähe zu Hegel steht. Dabei wird einerseits deutlich, daß Hegel in Adornos Darstellung selbst gar nicht so konsequent als Gegenpol, sondern genauso als Verbündeter auftritt. D. h. Hegel wird in die Nähe Adornos gebracht. Andererseits aber wird sich genauso erweisen, daß sich Adornos Denken in Bahnen bewegt, gegen die es sich selbst in Form der Hegelkritik abzusetzen glaubt. D. h. Adorno wird in die Nähe Hegels gebracht. Ersteres zeigt sich in den Drei Studien zu Hegel, die, wie im Vorwort zu diesen angekündigt, als »Vorbereitung eines veränderten Begriffs von Dialektik«6 zu verstehen sind. Letzteres liegt in der Durchführung dieses veränderten Begriffes in der Negativen Dialektik. Ziel ist es damit, Adornos Hegelrezeption, die in erster Linie als Kritik wahrgenommen wird, einerseits zu differenzieren und andererseits selbst kritisch zu beleuchten. Ein weiteres Ziel ist darin zu sehen, die in der Kritik liegende
Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Gesammelte Schriften Bd. 6, Frankfurt/M. 1971, 17. (Im Weiteren GS 6) 2 Adorno: GS 6, 175. 3 Adorno: GS 6, 174. 4 Th eodor W. Adorno: Drei Studien zu Hegel, Gesammelte Schrift en Bd. 5, Frankfurt/M. 1971, 261. (Im Weiteren GS 5) 5 Th eodor W. Adorno: Minima Moralia, Gesammelte Schrift en Bd. 4, Frankfurt/ M. 1971, 55. 6 Adorno: GS 5, 250. 1
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Absetzung von Hegel zu analysieren, um letztlich die Verwandtschaft beider Versionen von Dialektik anzudeuten.
I. Drei Studien zu Hegel Als Standortbestimmung für Adorno sind die Drei Studien zu verstehen, um mittels einer möglichst differenzierten Auseinandersetzung mit Hegels System die Angelpunkte herauszuarbeiten, die eine negative Dialektik möglich machen und rechtfertigen. Entgegen aller Vermutung wird Hegel nicht von Beginn einer Kritik unterzogen, wie sie oben angedeutet wurde. In den Drei Studien zu Hegel gelangt Adorno stellenweise 7 zum gegenteiligen Ergebnis. Hegel wird verstanden als Wegbereiter, ja quasi als Vertrauter, an dessen Denken sicherlich auch schon in den Studien Kritik geübt wird. Aber diese Kritik tritt im Grunde hinter die Affi rmation zurück, nimmt sie doch eine systematische Schlüsselposition ein. So bezieht sich Adorno auf Hegels Denken nicht nur als willkommene Argumentationshilfe, die man hätte auch beiseitelassen können. Vielmehr hat Adorno das Zwingende seines Systems erkannt, dem nicht schlicht ein Standpunkt kontrastiert werden kann. Der »Ernst und das Verpfl ichtende von Hegels Philosophie« erlauben es nicht, sich nach, über oder jenseits von Hegel zu wähnen, um Abschließendes über diesen Klassiker zu Papier zu bringen. »Will man nicht mit dem ersten Wort von ihm abprallen, so muß man, wie unzulänglich auch immer, dem Wahrheitsanspruch seiner Philosophie sich stellen«, so Adorno, »anstatt sie bloß von oben und darum von unten her zu bereden.« 8 Adorno ist Hegels System der Äther des Gedankens, dem man sich nur um den Preis der Aufgabe des Gedankens selbst entziehen kann. Adorno hat mit aller Schärfe die Sogkraft des Denkens erkannt, die Hegel entwickelt. Die Konsequenzen stehen Adorno klar vor Augen. Alle Kritik bleibt als denkende dem System selbst wiederum verhaftet: Kritik an den Details »verfehle das Ganze, das ohnehin dieser Kritik Rechnung trage«, und umgekehrt »aber sei das Ganze als Ganzes zu kritisieren abstrakt«, das sich »nur als Totalität, im konkreten Zusammenhang all ihrer Momente […] ausweise.«9 Als Ausweg und zugleich großer Anspruch, an dem letztlich Adornos Hegelrezeption und dessen Kritik gemessen werden müssen, bleibt die Einsicht, daß man »dem Ganzen nachgeht, auf das Diese eigentümliche Formulierung ist einer Schwierigkeit der Hegelrezeption Adornos geschuldet, auf die noch zurückzukommen sein wird. 8 Adorno: GS 5, 251. 9 Adorno: GS 5, 252. 7
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er selber ging.«10 Wesentliche Aspekte dieses Ganzen hat Adorno in den Drei Studien zu Hegel selbst herausgearbeitet. Als ein erster Schritt werden an Hand der Analysen Adornos Grundmotive Hegels freigelegt, die bei Adorno selbst eine zentrale Rolle spielen. Die Ähnlichkeiten werden nicht äußerlich zwischen beiden aufgedeckt, sondern von Adorno selbst zugestanden.11 Diese stehen jedoch im Gegensatz zur benannten Hegelkritik Adornos. Motive und Ziele Nichtidentität Die Darstellung des Hegelschen Denkens hebt in den Drei Studien nicht mit dem Diktum an, daß das Ganze das Unwahre sei, sondern mit einer Würdigung Hegels, die letztlich darauf hinausläuft , daß die Einzelurteile es sind. Sie können nicht wahr sein, da sie in ihrer Eingeschränktheit die Komplexität der Wirklichkeit nicht adäquat fassen können. »Hegel hat das aber nicht einfach proklamiert«, betont Adorno12 , »sondern aus der immanenten Kritik der Logik und ihrer Formen gewonnen. Er demonstrierte, daß Begriff, Urteil, Schluß, unvermeidliche Instrumente, um mit Bewußtsein eines Seienden überhaupt sich zu versichern, jeweils mit diesem Seienden in Widerspruch geraten; daß alle Einzelurteile, alle Einzelbegriffe, alle Einzelschlüsse, nach einer emphatischen Idee von Wahrheit, falsch sind.«13 Adorno: GS 5, 252. Auch Rentsch bemerkt die Nähe beider Denker. Vgl. Thomas Rentsch: »Vermittlung als Negativität. Der Wahrheitsanspruch der ›Negativen Dialektik‹ auf der Folie von Adornos Hegelkritik«, in: ders.: Negativität und praktische Vernunft , Frankfurt/M. 1999. So schreibt er, daß Adorno »einen nach allen Seiten ausgefransten Hegelianismus vertritt, in welchem weder Subjekte mit sich selbst so vermittelt sind, daß sich ihre Identität einstellte, noch, daß sich zwischen Subjekt und Objekt so etwas wie eine ›Identität von Identität und Nichtidentität‹ ergäbe.« (257) Über diese Bahnen aber lässt sich sagen, so Rentsch, daß »im inneren Kern der Denkbewegung der Negativen Dialektik, und insbesondere ihrer Sprachkritik, […] Gedanken am Werk [sind], die dem jungen Hegel in Jena von 1805/06 eigentümlich waren.« (261) – Hier soll zudem gezeigt werden, daß Adorno in den Drei Studien – also in seiner eigenen Rekonstruktion – auch den reifen Hegel als diesen Vordenker präsentiert. 12 Die Stärke von Adornos Hegelkritik sieht auch Rentsch zunächst darin, »daß sie in gewissem Sinne viel tiefer ansetzt als jede ›äußerliche‹ Ideologiekritik, nämlich im Innersten der systematischen Logik-Konzeption Hegels selbst.« Vgl.: Thomas Rentsch: »Vermittlung als Negativität«, a. a. O., 254. 13 Adorno: GS 5, 314. 10 11
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Wahrheit und Durchsichtigkeit, die Adorno zufolge Hegels Denken treiben und keineswegs die »Verdunkelung der Vernunft«14 , können für Hegel allein dadurch erreicht werden, indem die Wahrheit von Einzelurteilen abgelöst und zu einem Ansich, eben dem Ganzen, wird15, das dann die Unzulänglichkeit des Beschränkten hinter sich gelassen hat. Damit ist nicht nur Hegels Begriff gerechtfertigt. Der Begriff rückt auch in die entscheidende Position, um mit dieser komplexen Wirklichkeit umgehen zu können, die sich einem statischen Zugriff entzieht. Wenn nämlich ein naiver »Abbildrealismus« scheitert, weil es Philosophie nach Adorno mit dem zu tun hat, »was nicht in einer vorgegebenen Ordnung von Gedanken und Gegenständen seinen Ort hat, wie es der Naivetät des Rationalismus dünkte, und was nicht auf jener als ihrem Koordinatensystem bloß abzubilden ist«16 , so ändert sich die Aufgabe der Philosophie. Sie wird zur »Anstrengung, zu sagen, wovon man nicht sprechen kann; dem Nichtidentischen zum Ausdruck zu helfen, während der Ausdruck es immer doch identifi ziert. Hegel versucht das.«17 Hegels Begriff ist nun gerade nicht Inbegriff der Identität und Simplifi zierung, sondern selbst in den Augen Adornos Reaktion auf voreilige Identifi zierung, die für Adorno exemplarisch in der Philosophie des Positivismus vorliegt.18 Hegel wird damit nicht nur zufälliger Verbündeter in der Kritik dieses Reduktionismus. Aufgrund überhaupt der Eigenheit des Hegelschen Begriffes, der absolute Grund zu sein, wird dieser zum Zentrum der Kritik des Positivismus. Adorno wendet mit Hegel ein, das Allgemeine sei real. Als dieser Angelpunkt der Kritik kann der Begriff aber nur in Anspruch genommen werden, indem Adorno dem Allgemeinen selbst diese Realität einräumt. Hegels Begriff wird demzufolge hier nicht nur in Übereinstimmung mit Adornos Vorhaben gebracht, das Sich-Entziehende zu sagen. Es deutet sich zugleich auch an, daß Adorno in die Nähe Hegels geraten muß, wenn die Realität des Allgemeinen keine leere Hülse bleiben soll. Adorno: GS 5, 286. Adorno: GS 5, 284. 16 Adorno: GS 5, 336. 17 Adorno: GS 5, 336. 18 »Bei ihm ist die Kritik jenes positivistischen Wissenschaft sbetriebs bereits voll entfaltet, der heute in der ganzen Welt zunehmend als einzig legitime Gestalt von Erkenntnis sich aufspielt. Hegel hat ihn, längst ehe es so weit war, als das agnostiziert, als was er heute in ungezählten leeren und stumpfsinnigen Untersuchungen offenbar wird, als Einheit von Verdinglichung – also falscher, der Sache selbst äußerlicher, nach Hegels Sprache abstrakter Objektivität – und einer Naivetät, die den Abguß der Welt, Tatsachen und Zahlen mit dem Weltgrund verwechselt.« (Adorno: GS 5, 312) 14
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Dialektik als Kritik Vor dem Hintergrund des Bemühens um die Erweiterung der Sprache und um das Aufbrechen der Erstarrung der einfachen Urteilslogik erscheint Adorno das Hegelsche Verfahren daher grundsätzlich als Kritik der Naivität. Es ist wie Adornos Denken in einem »eminentem Sinn kritische Philosophie«19, keineswegs Dogmatismus der Vernunft. Der Kern der Dialektik ist die »bestimmte Negation«, die sich nicht in Gleichgültigkeit gegenüber dem Gegenstand übt, sondern im Gegenteil »auf der Erfahrung der Ohnmacht von Kritik« basiert, die keinen Boden gewinnen kann, »solange sie im Allgemeinen sich hält, etwa den kritisierten Gegenstand erledigt, indem sie ihn von oben her einem Begriff als dessen bloßen Repräsentanten subsumiert.«20 Damit ist auch Hegels Dialektik kein schwarzes Loch, in das unerbittlich alle Differenz hineingezogen würde, sondern wesentlich ein kritisches Verfahren, dem es um das Objekt geht. Der Weg in den Singular des Begriffes, d. h. in das Ganze, ist hier noch keineswegs das Unwahre und fl ieht nicht vor dem Einzelnen, sondern bleibt Adorno verbunden mit dem Faktum – das auch für seine Dialektik gelten soll –, »daß sie eigentlich erst dort anhebt, wo sie aufsprengt, was dem herkömmlichen Denken für opak, undurchdringlich, bloße Individuation dünkt.«21 Die nur als Bewegung des Begriffes denkbare Hegelsche Dialektik verliert damit keineswegs den Kontakt zur Realität. Dialektik »ist das unbeirrte Bemühen, kritisches Bewußtsein der Vernunft von sich selbst mit der kritischen Erfahrung der Gegenstände zusammenzuzwingen.«22 Auch die Hegels.
Spekulation, Konkretion und Objektbezug In den Drei Studien ist das System Hegels eine einzige Anstrengung, »geistige Erfahrung in Begriffe zu übersetzen«. 23 Die Spekulation ist keineswegs dumm und leer 24 , sondern die »materiale Fülle Hegels selber
Was Adorno dieser Analyse hinzufügt, ist bemerkenswert: »Hegels Einwand gegen die unreflektierte Arbeit des Verstandes ist ebenso vernünft ig wie seine Korrektur an ihr.« (Adorno: GS 5, 312) 19 Adorno: GS 5, 315. 20 Adorno: GS 5, 318. 21 Adorno: GS 5, 318. 22 Adorno: GS 5, 258. 23 Adorno: GS 5, 368. 24 Wie es Adorno an anderer Stelle sagt. Vgl. dazu: Adorno: GS 6, 152.
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Funktion des spekulativen Gedankens.«25 Spekulation, »deren vulgärer Begriff mit dem Hegelschen nichts zu tun hat«26 , ist der Lebensnerv, der das System in der Logik als auch in der Realphilosophie durchzieht und überhaupt erst Hegel in die Lage versetzt, diese Fülle an Phänomenen aufzuschließen. 27 Adorno bringt Hegel in seine Nähe, wenn er konstatiert, daß für Hegel nicht die höchste Abstraktion die Wahrheit ist, sondern das durch den Begriff aufgeschlossene Konkrete. 28 Nicht ist also die Spekulation die Flucht vor der Wirklichkeit, sondern überhaupt erst das Eindringen in diese. 29 Hier leistet anscheinend der Begriff, was der Begriff Adorno zufolge an anderer Stelle leisten soll, aber ihm doch unmöglich ist. 30 Das Objekt wird vom Begriff demnach auch nicht verdeckt.31 Adorno konstatiert dies und sieht sein eigenes Ziel, dem Objekt Vorrang einzuräu-
Adorno: GS 5, 254. Adorno: GS 5, 252. 27 Wie wichtig Adorno die Erkenntnis ist, daß das so abstrakt gescholtene System Hegels im krassen Gegensatz dazu höchste Konkretion nicht nur zulässt, sondern überhaupt erst möglich macht, lässt sich auch daran erkennen, daß er sie in verschiedenen Variationen in den 3 Analysen einfl icht. Vgl. dazu z. B. in Erfahrungsgehalt GS 5, 306 f. und in Aspekte GS 5, 293 f. 28 »Er hat gewußt, was heute trotz allen Geredes vom Konkreten und gerade in der Magie der unbestimmten Konkretion, die keinen Gehalt hat als die eigene Aura, verfälscht und verloren ward: daß Philosophie nicht ihren Gegenstand in den obersten allgemeinen Begriffen um deren vermeintlicher Ewigkeit und Unvergänglichkeit willen suchen darf, die sich dann der eigenen Allgemeinbegriffl ichkeit schämen. Er hat, wie nach ihm wohl nur noch der Nietzsche der Götzendämmerung, die Gleichsetzung des philosophischen Gehalts, der Wahrheit mit den höchsten Abstraktionen verworfen und die Wahrheit in eben jene Bestimmungen gesetzt, mit welchen die Hände sich zu beschmutzen die traditionelle Metaphysik zu edel war.« (Adorno: GS 5, 280) 29 Adorno: GS 5, 280. 30 Adorno: GS 6, 62. 31 Die Begriff skritik fi ndet in den Studien auf den Positivismus ihre Anwendung, jedoch Hegel wird explizit von dieser Kritik ausgenommen: »Um mit den sauberen und klaren Begriffen operieren zu können, deren sie sich rühmt, legt Wissenschaft diese fest und urteilt dann ohne Rücksicht darauf, daß das Leben der mit dem Begriff gemeinten Sache in dessen Fixierung nicht sich erschöpft . Das Aufb egehren des von der Wissenschaft noch nicht zugerichteten Geistes gegen praktikable Begriffsbestimmungen, bloße Verbaldefi nitionen; das Bedürfnis, Begriffe nicht als Spielmarken zu hantieren, sondern in ihnen, wie der Name es will, zu begreifen, was die Sache eigentlich ist und was sie an wesentlichen und untereinander keineswegs einstimmigen Momenten in sich enthält, gibt den Kanon jenes als unbesonnen-souverän gescholtenen Hegelschen Idealismus ab, der die Sache durch ihren Begriff ganz aufschließen will, weil Sache und Begriff am Ende eins seien.« (Adorno: GS 5, 308 f.) 25
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men, auch bei Hegel: »Überall beugt Hegel sich dem eigenen Wesen des Objekts, überall wird es ihm erneut unmittelbar, aber eben solche Unterordnung unter die Disziplin der Sache verlangt die äußerste Anstrengung des Begriffs.«32
Subjekt-Objekt und Identität Vor diesem Hintergrund scheint sogar das Absolute, oder wie Adorno es nennt: das Subjekt-Objekt, keineswegs der radikalen Kritik anheimzufallen, wie der Satz »Das Ganze ist das Unwahre« nahe zu legen scheint. Prägnant liest man in den Drei Studien zu Hegel: »Gerade die äußerste idealistische Spitze seines Denkens, die Konstruktion des Subjekt-Objekts, ist keineswegs als Übermut des losgelassenen Begriffs abzutun.«33 Überhaupt ist dieses Subjekt-Objekt Bedingung dafür, »von der Sache aus zu denken, ihrem eigenen Gehalt gleichsam passiv sich zu überantworten«34. Weit entfernt davon, als blindes Absolutes sich über das Objekt zu legen, bildet das Subjekt-Objekt den Versuch, eins zu sein mit den Sachen und als Alternative zur einfachen Urteilslogik sich resistent zu machen »gegen die Versuchung des unkritischen Akzeptierens der Fassade«35. Adorno präsentiert den Inbegriff der Hegelschen Hybris als nachvollziehbaren Zug Hegels, der aus den Problemanalysen nur konsequent diese Folgerung ziehen muß und darüber hinaus keine irrationale Einheit von Subjekt und Objekt bildet, »sondern die je voneinander sich unterscheidenden Momente des Subjektiven und Objektiven festhält und doch wiederum als durcheinander vermittelte begreift .«36 Somit ist weder das Subjekt-Objekt Hegels eine abstrakte Hülle noch der Begriff eine Anmaßung, vielmehr aus zwingenden Erwägungen zumindest hinsichtlich der Motive einsichtig und in ihrer Durchführung gehaltvoll.
32 33 34 35 36
Adorno: GS 5, 256. Adorno: GS 5, 255. Adorno: GS 5, 255. Adorno: GS 5, 257. Adorno: GS 5, 256.
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Kritik und Affirmation Nach der Analyse der Grundtheoreme Hegels, wie wir sie in den Drei Studien fi nden, ist festzuhalten, daß Adorno sie in Linie mit seinen eigenen Motiven und Zielen sieht. 37 Keinesfalls also präsentiert Adorno Hegels Denken lediglich als Pol, gegen den es sich abzugrenzen gilt. Der Hegelsche Begriff schiebt sich nicht vor das, was das Denken begreifen will, sondern schließt es auf. Die Dialektik ist kein Sophismus, das Objekt nicht der systematischen Kohärenz eingepasst, und der Geist maßt sich keineswegs an, das ontologisch Letzte zu sein, sondern formuliert nur die systematische Bedingung, diesen Zusammenschluß von Subjekt und Objekt sinnvoll zu denken. Wenn Adorno Hegel so viel zugesteht, daß man in dieser Darstellung sogar von einem Bündnis zwischen beiden sprechen kann, so könnte die Kritik an Hegel eigentlich nur eine Modifi kation an marginaler Stelle bedeuten, um Hegel vielleicht an veränderte Bedingungen anzupassen. Es wäre auch noch verständlich, Hegels Denken einer Kritik zu unterziehen, weil Aneignung als solche nur eine ist, wenn Arbeit an der Sache geleistet wird, die sie auch verändert. Denn »Bildungselemente«, so Adorno, »die ins Bewußtsein geraten, ohne in dessen Kontinuität eingeschmolzen zu werden, verwandeln sich in böse Gift stoffe, tendenziell in Aberglauben, selbst wenn sie an sich den Aberglauben kritisieren«. 38 Adorno hält so auch unmißverständlich fest, »daß keine Lektüre Hegels, die ihm Gerechtigkeit widerfahren läßt, möglich ist ohne Kritik an ihm.«39 Gleichwohl bleibt die Kritik an Hegel in dem Diktum bestehen, das Ganze sei das Unwahre, das alle vorher gemachten Zugeständnisse mit einem Male durchstreicht. Liegt hier ein Widerspruch vor? Die Problemanalyse Adornos die Gesellschaft betreffend – mit dem Schlagwort Verblendungszusammenhang ist viel gesagt –, dürfte der Hegelschen Analyse der Entfremdung, die schon aus seinen frühen Schriften bekannt ist, nicht unverwandt sein. Was schon auf einer erkenntnistheoretischen Ebene in der Kritik an der herkömmlichen Urteilslogik, die im einzelnen Urteil Wahrheit zu haben glaubte, hinsichtlich der Verwandtschaft beider Denker impliziert war, wird von Adorno genauso auf einer gesellschaft stheoretischen Ebene bemerkt. Vgl. dazu Adorno: GS 5, 313. Der Zustand der Entfremdung habe Hegel getrieben, sich nicht mit dem Gegebenen zufrieden zu geben. So ließe sich ein weiteres Motiv Entfremdung und Versöhnung anführen, das jedoch hinsichtlich der Fokussierung auf den Begriff beiseitegelassen wird. Diesen Aspekt arbeitet aber Rentsch weiter aus. Vgl. Thomas Rentsch: Vermittlung als Negativität, a. a. O. 38 Th eodor W. Adorno: Th eorie der Halbbildung, Gesammelte Schrift en Bd. 8, Frankfurt/M. 1971, 111 f. 39 Adorno: GS 5, 373. 37
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Wie kann Adorno seine Ziele in Hegels Figuren sehen, um dann doch radikal mit Hegel zu brechen? Man könnte versucht sein anzunehmen, daß zwar einerseits die Anstrengungen Hegels von Adorno grundsätzlich zugestanden werden, aber andererseits eine eingehende Analyse der tiefen Strukturen das Projekt Hegelscher Dialektik als gescheitert entlarvt. Adorno müsste – in diesem Szenario – als Resultat dieser Analyse eingestehen, der Begriff wäre trotz aller anderslautenden und nichtsdestoweniger vielversprechenden Hoff nungen nicht zureichend in eine solche Dialektik eingebettet, die die ambitionierten Ziele realisierte. Hier wäre also der imaginierte Verlauf solcher Art, daß entsprechend der angeführten Affi rmation Hegels dessen Denken die Verstellung des Objektes durch das Einzelurteil vermittels seiner Dialektik aufbrechen und das Allgemeine nicht nur mit Konkretion anreichern, sondern sogar zum Sagen des Sich-Entziehenden tauglich machen möchte. Aber in diesem Verlauf würde Adorno nachweisen, daß Hegel in letzter Instanz aus darzulegenden Gründen doch scheitert. Dieses Szenario wäre eines, das Hegel als eben diesen Wegbereiter zeichnet, der daher nur einer minimalen Korrektur bedarf, um – weitergedacht – mit ihm ans Ziel zu gelangen. Dem ist aber nicht so. Die Kennzeichnung des Begriffes als abstrahierend, klassifi zierend, abschneidend und willkürlich, die schon in den Drei Studien zu fi nden ist, wird nicht zum Resultat der Analyse, sondern ist trotz aller affirmativen Zugeständnisse an Hegel Voraussetzung dieser. Insofern es sich jedoch so verhält, gerät Adornos Hegelrezeption in eine Uneindeutigkeit. Einerseits präsentiert Adorno an verschiedenen Stellen in den Drei Studien Hegels Grundtheoreme der Intention nach als kompatibel mit seinen eigenen. Jedoch wird andererseits schon in den Studien, aber verstärkt und hauptsächlich in der Negativen Dialektik, eine Kritik formuliert, die gänzlich im Gegensatz, ja im Widerspruch zur Affi rmation gesehen werden muß. Weil schon in den Studien Diagnosen zur Methode, dem Begriff und zur Identität von Subjekt und Objekt zu fi nden sind, die im Grunde ganz offen und unverdeckt das Gegenteil dessen sagen oder implizieren, was an anderer Stelle Hegel zugestanden wird, besteht auch nicht die Möglichkeit, die Affi rmation den Drei Studien, aber die damit unvereinbare Kritik der Negativen Dialektik zuzuschreiben. Die Geschlossenheit der Hegelschen Philosophie lässt es auch nicht zu, einzelne Aspekte zu affi rmieren, um hernach zu konstatieren, daß bei »allem jedoch […] Hegels Philosophie als eine des Geistes den Idealismus festgehalten« habe 40 , so als verderbe diese plötzliche Wendung die Partie. Die einzelnen Aspekte, die Adorno
40
Adorno: GS 5, 259.
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affi rmiert – und das betont er ja auch selbst immer wieder –, sind nichts anderes als dieser Idealismus bzw. ohne diesen überhaupt nicht denkbar. In Anbetracht der vielschichtig ausgebreiteten Affirmation ist dies einerseits verwirrend und, weil mit dieser nicht zu vermitteln, widersprüchlich. Um einer konsistenten Hegelrezeption willen wäre Adorno vor die Alternative zu stellen, entweder eine solche Affi rmation wählen zu wollen und eine andere Kritik wählen zu müssen, oder an dieser Kritik festhaltend die Grundlage für eine solche Affi rmation zu verspielen. Scheint diese grundsätzliche Widersprüchlichkeit in Adornos Hegelrezeption nicht lösbar41, so bleibt allein das Scharnier von Adornos Hegelkritik selbst freizulegen, aus dem seine zumindest in der Negativen Dialektik eindeutige Ablehnung Hegels einen Zusammenhalt gewinnt. Indem jedoch dieser Zusammenhalt von diesem Grundwiderspruch durchdrungen ist, hat dies fatale Konsequenzen für die Durchführung der Kritik.
Robert Sinnerbrink fällt es in seinem Buch Understanding Hegelianism, Stocksfield 2007, auf, daß Adorno ein sehr ambigues Verhältnis zu Hegel hat. Auch wenn Adornos Probleme mit seinem Theorieansatz kurz diskutiert werden, wird aber auf diese Spannung nicht weiter eingegangen. Christiane Thompson dagegen plädiert in ihrem Buch Bildung und die Grenzen der Erfahrung. Randgänge der Bildungsphilosophie, Paderborn 2009, dafür, daß Adorno entsprechend seiner Verweigerung der Identität, also in seiner Verweigerung einer festen Position, auch im Umgang mit klassischen Texten eine solche verweigert. Sie schreibt: »Was auf den ersten Blick wie eine Inkonsistenz aussieht, spiegelt die Einsicht wider, daß Hegels Denken, Hegels Philosophie nicht identifi ziert oder festgelegt werden kann.« (111) Sie verweist auch im Zuge dessen auf das Diktum Adornos, daß »kein philosophisches Denken von Rang sich resümieren läßt, daß es den üblichen wissenschaft lichen Unterschied von Prozeß und Resultat nicht akzeptiert«. (Theodor W. Adorno: »Anmerkungen zum philosophischen Denken«, in: Gesammelte Schriften, Bd. 10.2, 604) Obgleich aber die Verweigerung gegen die Identität seine Dialektik prägt, steht dieser These nichtsdestoweniger der Anspruch Adornos entgegen, Hegels Denken immanent aufzusprengen. Dieser Anspruch – darauf hat auch Gerhard Gamm in »Sur-realität und Vernunft . Zum Verhältnis von System und Kritik bei Theodor W. Adorno«, in: ders. (Hg.): Angesichts objektiver Verblendung. Über Paradoxien kritischer Theorie, Tübingen 1985, 115–191, aufmerksam gemacht – impliziert eine Inanspruchnahme der Logik der Identifi kation, um überhaupt sinnvoll von immanenter Kritik sprechen zu können. Nimmt man also diesen ernst und möchte man gegen Identität an Hand der Philosophie Hegels argumentieren, dann legt man damit fest, worin der Fehler der Identität genau besteht. Darin liegt des weiteren auch die Inanspruchnahme der Identität für die eigene Position, auch wenn diese eine der Nicht-Identität sein möchte. 41
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II. Auf den Begriff gebracht Wahrheit, Subjektivität, Objektivität, Einheit des Ganzen, Spekulation und ihre dialektische Bewegung sind Aspekte des Hegelschen Begriffes, mit dem diese untrennbar verbunden sind. Man kann und muß sagen: diese konstituieren in ihrer Gesamtheit den Begriff, wobei genauso gesagt werden muß, sie werden in ihrer Gesamtheit überhaupt erst durch den Begriff konstituiert. Der Begriff ist die absolute Grundlage, zu der er sich dadurch gemacht hat, indem alle Bestimmung nur er selbst ist. Eine Kritik an den einzelnen Aspekten führt zwangsläufig auf den Begriff, und umgekehrt bleibt eine Kritik am Begriff unvollständig, ließe sie diese Aspekte des Begriffes unbeachtet. Diese Schlüsselstellung hat auch Adorno einerseits erkannt und entsprechend den Begriff nicht nur in eine Zentralstellung seiner Hegelkritik gebracht, sondern auch – insofern die Hegelkritik kein Selbstzweck ist – zum Gravitationszentrum seines eigenen Denkens gemacht. Andererseits wird diese Schlüsselstellung gerade für seine Kritik nicht berücksichtigt, indem die grundlegenden Aspekte des Hegelschen Begriffes gänzlich ignoriert werden. Nur so ist Adorno der gewählte Einstieg für die Kritik überhaupt möglich.
Adornos Begriff des Begriffes Die Diagnose der Geschiedenheit von Begriff und Sache ist der Ansatzpunkt für Adornos Kritik an Hegel. Er konstatiert: »Denken ist dem eigenen Sinn nach Denken von etwas. Noch in der logischen Abstraktionsform des Etwas, als eines Gemeinten oder Geurteilten, die von sich aus kein Seiendes zu setzen behauptet, lebt untilgbar dem Denken, das es tilgen möchte, dessen Nichtidentisches, das, was nicht Denken ist, nach. Ratio wird irrational, wo sie das vergißt, ihre Erzeugnisse, die Abstraktionen, wider den Sinn von Denken hypostasiert.«42 Als grundauf falsch und sich selbst widersprechend muß demnach der idealistische Begriff abgetan werden. Dabei legt der Begriff hierfür selbst Zeugnis ab. Denken – was Hegel in seiner Hypostasierung des Begriffes übersehen musste – ist bezogen auf Etwas, nicht selbstbezüglich. 43 Dieses Etwas ist das »denknotwendige SubAdorno: GS 6, 44. Auch Poos will am Anfang der Logik nachweisen, daß das bei Adorno so bezeichnete und gegen das spekulative Denken ins Feld geführte Etwas und ein individuelles Subjekt immer schon mitgedacht werden müssen, damit die Bewegung des Begriffs überhaupt zustande kommt. So muß man das Sein als Etwas denken, weil »jene Selbstbewegung andernfalls im unmittelbaren Verschwinden des Seins im Nichts 42 43
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strat des Begriffs«. 44 Es ist die »durch keinen weiteren Denkprozeß abzuschaffende Abstraktion des mit Denken nicht identischen Sachhaltigen«. 45 Erst im Aufnehmen dieses Sachhaltigen füllt sich, so ist es darin impliziert, das sonst leere Denken mit Inhalt. Denn für »die Form Sachhaltiges überhaupt ist konstitutiv die inhaltliche Erfahrung von Sachhaltigem.«46 Für Adorno ist das Denken eine »methodologische Veranstaltung der Abstraktion«47. Die sogenannte ›reine Form‹ ist selbst immer ein Verweis auf ein der Form äußerliches. Erst durch die Bezogenheit auf die Welt, in der Erfahrungen gemacht werden, sind der Begriff und unser Denken über die Welt mit Gehalt gefüllt und nur so überhaupt sinnvoll gedacht. Für Adorno ist Hegels Denken aus dieser Perspektive schlicht eines »ohne Gedachtes«. Genauer besehen ist der Begriff keineswegs absolute Grundlage. Nur die Hybris und mangelnde Aufmerksamkeit auf das, was der Begriff aus sich selbst verlangt, lassen solche Konzeptionen entstehen. Führt man den Begriff auf seine eigentliche Struktur zurück, hat der Begriff keine begründende Kraft , weil er nur ein Relatum in der Relation ist, die ihm ein ihm notwendig fremdes Relatum gegenüberstellt. Wenn Hegel seinerseits so argumentiert, daß nichts ohne Vermittlung sei, um die herausgehobene Stellung des Begriffes zu untermauern – und Adorno fokussiert dieses Argument in einer Weise, daß dies als die Basis des Hegelschen Begriffes erscheint –, so hat das »lediglich privativen und epistemologischen Charakter«48 . Für Adorno kann es nicht mehr sein, als der Ausdruck der Unmöglichkeit, ohne Vermittlung das Etwas zu bestimmen. Aber wenn der Begriff so zu bestimmen ist, besagt Hegels Argument »kaum mehr als die Tautologie, Denken von Etwas sei eben Denken.« 49 endete.« (38) Die »Darstellbarkeit des Seins als gleich dem Nichts« bedarf zudem des »Eingriffs des Subjekts konstitutiv«, um »die Bewegung der Logik als Selbstbewegung des Begriffs plausibel machen zu können.« (38) Wenn jenes Etwas unveräußerlich ist, dann wäre, so bringt es Poos auf die Formel, »die Vergegenständlichung, auch ließe sich sagen: die Verdinglichung im von Hegel zugemuteten reinen Denken, […] immer notwendig vollzogen: Denken denkt Denken in unbewußter Analogie zum Denken von Dingen.« (36) – In dieser Arbeit von Poos fi ndet sich zudem weitere Kritik an Hegel im gleichen Stil wie sie Adorno vorträgt. Die Thesen werden weitestgehend übernommen und gegen Hegel vorgebracht. Eine kritische Analyse der Einwände fehlt. Vgl. Matthias A. Poos: Die Nichtrepräsentierbarkeit des ganz Anderen. Studien zu Adorno, Benjamin, Büchner, Goethe, Thomas Mann, de Sade, Frankfurt/M. 1989. 44 Adorno: GS 6, 139 (Kursivierung vom Autor). 45 Adorno: GS 6, 139 (Kursivierung vom Autor). 46 Adorno: GS 6, 139. 47 Adorno: GS 6, 109 Fußnote. 48 Adorno: GS 6, 173. 49 Adorno: GS 6, 173.
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Immanente Sprengung Wie sich an der Argumentation gegen den Hegelschen Begriff bereits zeigt, indem Adorno auf eine Denknotwendigkeit hinweist, erschöpft sich Adornos Absicht eigentlich nicht darin, einen alternativen Begriff des Begriffes zu präsentieren, sondern Hegels Begriff über sich selbst zu eben dieser alternativen Version zu treiben. Nur so ist eine Kritik an Hegel möglich, die aus einer immanenten Entwicklung zur Neubegründung einer anderen Dialektik führt. Adorno zufolge hätte Hegel die Differenz sehen müssen, aber auch – und das ist das Entscheidende – sehen können. Denn weil »die eskamotierte Differenz durch Dialektik erkennbar ist«, so Adorno, »behält in dieser totale Identifi kation nicht das letzte Wort. Sie vermag deren Bannkreis zu verlassen, ohne ihm dogmatisch von außen her eine vorgeblich realistische These zu kontrastieren.«50 Der Begriff selbst muß nur »festgehalten« und »seine Bedeutung mit dem unter ihm Befaßten konfrontiert« werden, dann »zeigt sich in seiner Identität mit der Sache, wie die logische Form der Defi nition sie verlangt, zugleich die Nichtidentität, also daß Begriff und Sache nicht eins sind.«51 »Die philosophische Analyse trifft immanent, im Inneren der vermeintlich reinen Begriffe und ihres Wahrheitsgehalts, auf jenes Ontische, vor dem es dem Reinheitsanspruch schaudert«. 52 Anders gesprochen treibt die Dialektik, die Hegel betrieb und irrtümlicher Weise als in sich abgeschlossen betrachtete, weiter über sich selbst hinaus, indem sie ihren Mangel, ohne eines naiv realistischen Anstoßes von außen zu bedürfen, selbst durchschauen und korrigieren kann. Der Widerspruch – so präsentiert sich Adornos Argumentation an der Oberfläche – kann aufgrund begrifflicher Unzulänglichkeit aufgehoben werden. Adorno ist nun dem eigenen Anspruch nach derjenige, der diesen Mangel erkennt und immanent behebt. Adornos Hegelkritik befi ndet sich jedoch in einem hier nun klar zu konstatierenden Grundwiderspruch, der nicht nur darin besteht, daß Affi rmation und Kritik unvermittelt nebeneinander bestehen. Vielmehr ist die Durchführung der Kritik selbst betroffen. Denn einerseits funktioniert seine Kritik nur dadurch, daß er die Analyse am Hegelschen Begriff ansetzt, um dessen Unhaltbarkeit am Ende denknotwendig erwiesen zu haben. Andererseits hebt seine Kritik an Hegels Begriff unvermittelt mit dem zu erreichenden Resultat an und setzt dessen Scheitern schon voraus. Der eigentlich erst zu erreichende, aber von Anfang an zugrunde 50 51 52
Adorno: GS 6, 174. Adorno: GS 6, 141. Adorno: GS 6, 141 (Kursivierung vom Autor).
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gelegte Begriff ist nun dezidiert nicht der Hegelsche. Es ist nach Adorno der Begriff, der den Bezug auf Etwas etc. fordert. Dieser ist demnach explizit unabhängig von allem gedacht, was der Hegelsche Begriff sein könnte. Der immanente Konfl ikt in Adornos Hegelkritik zeichnet sich schon im Aufeinanderprallen von Affi rmation und Kritik in den Drei Studien ab bzw. anders gewendet: Dieses Kollidieren ist selbst Resultat des Konfl ikts. Der Übergang von der Affi rmation zur Kritik ist mit jenem »Bei allem jedoch […]« eben deshalb so unvermittelt, weil aufgrund der Tiefenstruktur der Kritik immer schon klar ist, daß Hegels Begriff nur zur Illustration der Falschheit rekonstruiert wird und ihm keine systematische Relevanz für die Urteilsbildung zukommt. De facto ist damit die gesamte Argumentation Adornos ein schlichter Zirkel, der sich nicht nur unter jener Oberfläche verbirgt, sondern diese überhaupt konstituiert und die Immanenz der Kritik letztendlich aufhebt. Adornos Version ist nicht zu wählen, weil sich Hegels Begriff als widersprüchlicher erwiesen hat, sondern Hegels Begriff ist widersprüchlich, weil Adorno jene Version zugrunde legt. Daß in Anbetracht dieser Lage Adorno den Aspekt der Immanenz selbst so stark macht, bleibt nur mit Verwunderung festzuhalten.
Hegels Wahrheit in der Unwahrheit Daß jedoch aus diesem Befund zum Begriff tatsächlich diese radikale Kritik an den obig aufgezählten Aspekten Hegels folgen kann, ist leicht einzusehen. Ein solcher Begriff, der sich als ein Relatum dieser Relation für die ganze Relation hält, es aber nicht ist, kann sich nur vor das ihm entgegengesetzte Relatum schieben und es verdecken. Der Wahrheit ist damit keineswegs gedient, indem sich der Begriff mit seinen Prinzipien in einer abgehobenen Sphäre über den Dingen verselbständigt und gerade nicht auf diese bezogen seinen Inhalt gewinnt. Der Objektbezug ist mit einem solchem Begriff widerrufen. Daß daran eine kritische Dialektik auch nichts mehr ändern kann, sondern im Gegenteil diesem Begriff nur als Vehikel dient, den Verlust von Wirklichkeit voranzutreiben, bedarf keiner Erwähnung. Sie ist in solcher Konzeption nur Ausdruck eines losgelassenen Begriffes, der sich befreit vom Widerstand eines Objektes an sich selbst berauscht. Spekulation ist der Name dafür. Objekt ist solcher Philosophie nicht mehr jenes Ontische – das andere Relatum –, das sich ihm entgegenstellt, sondern der Platzhalter für eine Konstruktion des Begriffes innerhalb des Begriffes, die vom Begriff ganz beherrscht wird. Dieser Kern des Hegelschen Denkens ist die Unwahrheit, die jedoch im gleichen Moment in dem Maße zu ihrer Wahrheit wird, wie Adorno an der
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Analyse der Gesellschaft interessiert ist, die von einer allgegenwärtigen Allgemeinheit nicht nur gefährlich umschlossen, sondern unaufhebbar durchdrungen ist. Das Hegelsche Allgemeine als dieses totale, lückenlose System, dessen Inbegriff Gewalt ist, trifft demnach die gegenwärtige Situation der Gesellschaft direkt ins Mark und ist gerade aufgrund ihrer (logischen) Unwahrheit legitimiert, die (gesellschaft liche) Wahrheit zu enthüllen. 53 An die Hegel-immanente logische Analyse des Begriffes lagert sich ein Hegel-externes Interesse an der gegenwärtigen Gesellschaft an, um sich gegenseitig zu durchdringen. So ist nicht nur festzustellen, daß Adorno die Hegel-immanente Analyse nutzt, um gegenwärtige gesellschaft liche Zusammenhänge zu analysieren, sondern zudem, daß diese zurückgewendet werden auf das Hegelsche Denken selbst und mit einfl ießen in die Hegel-immanente Kritik. Gerade in Aspekte fi nden sich längere Ute Guzzoni bringt diesen Zusammenhang in eine Systematik (Ute Guzzoni: Hegels »Unwahrheit«. Zu Adornos Hegelkritik, Hegel-Jahrbuch 1975, Köln 1976). Hegels Wahrheit bestehe für Adorno zunächst darin, »daß in seinem System auch das Einzelne, Endliche und Differente als ein solches gesetzt und bestimmt wird.« (242) Indem er sich also dem Heterogenen entgegenstellt, ist es die erste, theoretische Wahrheit (W1). Darin, daß Hegel allerdings »die Möglichkeit eines dem Begriff heterogen Bleibenden negieren will, liegt für Adorno Hegels ›Unwahrheit‹.« (242) Dies ist die theoretische Unwahrheit (U1). Das Wahre an Hegels Unwahrheit ist nun der »sich mit sich selbst zum absoluten System zusammenschließende Begriff […] als wahre Entsprechung zur Geschlossenheit der gesellschaft lichen Allgemeinheit«. (244) Dies wäre nun die geschichtliche Wahrheit von U1 (W2 von U1). Die geschichtliche Unwahrheit von W1 besteht nun darin, daß es Einzelne aufgrund des gesellschaft lichen Bannes gerade nicht gibt (U2 von W1). »Der Wahrheit und Unwahrheit auf der spekulativen Ebene stehen umgekehrt Unwahrheit und Wahrheit auf der geschichtlich-realen Ebene gegenüber.« (244) »Die geschichtliche Wahrheit [(W2)] selbst ist spekulativ unwahr.« (244) Das wäre nun U3 von W2 (die geschichtliche Wahrheit W2 als unwahr erkannt). Spekulativ wahr wäre »eine Allgemeinheit, die dem Nichtidentischen seine Nichtidentität beließe und es gleichwohl in seinem kommunikativen Zusammenhang, in seiner werdenden Konstellation mit anderen anerkennen würde.« (244f) Dies wäre W3 von U2 (die geschichtliche U2 korrigiert). Die Wahrheit »– und zwar diejenige Wahrheit, von der her die gegenwärtige Wahrheit durchschaubar wird [dies wäre W3] – besteht nicht irgendwo neben und auch nicht irgendwann nach der Unwahrheit [der geschichtlichen U2]; sie kann nur in der Unwahrheit selbst entstehen und aufgefunden werden. Die Unwahrheit selbst muß dazu kommen, die Wahrheit aus sich herauszustellen.« (245) – Zusammengefasst geht Guzzoni folgend vor: theoretische These: W1 = Einzelnes gibt es; U1 = bei Hegel gibt keine Einzelne; gesellschaftliche Realität: U2 = Einzelnes gibt es tatsächlich nicht; W2 = Einzelnes gibt es tatsächlich nicht, aber Hegel hat das mit U1 zufällig getroffen; Ebene der Idealität: U3 = es wurde als Unwahrheit erkannt, daß es keine Einzelnen gibt; W3 = es wurde als Wahrheit/Tatsache erkannt, daß es Einzelnes geben soll, diese gibt es tatsächlich aber nicht. 53
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Abschnitte zum Zusammenhang von Gesellschaft , Arbeit und System in diesem Sinne. 54 Solche Anleihen sind erhellender Natur. Adorno jedoch gebraucht sie bisweilen auch, wenn es z. B. darum geht, das Scheitern der Identität von Subjekt und Objekt, von Begriff und Wirklichkeit daran nachzuweisen, daß sich bis heute das Individuum nur als ein unterdrücktes erfährt. 55 »Wie aber die These von der Vernünft igkeit des Wirklichen von der Wirklichkeit dementiert wurde«, wendet Adorno auf diesen Hegel-externen Aspekt verweisend ein, »so ist die identitätsphilosophische Konzeption philosophisch zusammengebrochen. Die Differenz von Subjekt und Objekt läßt in der Theorie so wenig sich ausmerzen, wie sie in der Erfahrung von der Wirklichkeit bis heute geschlichtet ward.« 56 Auch wenn die Hegelexternen Anleihen keine ausgreifende Funktion in der Hegel-immanenten Analyse inne haben, sondern diese typische Verschränkung im wesentlichen auf einen illustrierenden Aspekt beschränkt bleibt, zieht sich dieses Vorgehen dennoch als charakteristisch durch Adornos Hegelrezeption. Der offene Widerspruch, Hegel-immanente Analyse mit Hegel-externen Elementen betreiben zu wollen, ist demnach vorhanden, aber dennoch in seiner Marginalität als Besonderheit abzumildern, die nicht sogleich das gesamte Projekt in Gefahr bringt. Es unterstreicht mehr Adornos Intention, Hegels Philosophie nicht nur um ihrer selbst willen zu würdigen, sondern systematisch für sich in Anspruch zu nehmen. Dieser charakteristische Zug der Hegelrezeption Adornos legt allerdings ein zentrales Motiv für die Radikalisierung seiner Hegelkritik frei. Damit nämlich an Hand des Hegel-internen Aspekts der externe auf die beabsichtigte Weise analysiert werden kann, bedarf es der Identifi zierung des Hegelschen Begriffes mit Gewalt und gleichmachender Identität. Nur ein sich am Einzelnen vergehender Begriff kann zum Urbild für eine am Einzelnen sich vergehende Gesellschaft werden.57 Würde Adorno seiner Vgl. z. B. Adorno: GS 5, 316. vgl. Adorno: GS 5, 322 f. 56 Adorno: GS 5, 322 f. 57 Obgleich Adorno ein reales Allgemeines hier in seinen Unterdrückungspotenzialen als Negatives beschreibt, muß doch im Auge behalten werden, daß das Allgemeine für Adorno ein reales bleibt. Anders könnte seine Kritik am Positivismus nicht aufrecht erhalten werden. Entsprechend der Kritik an Hegel ist das Allgemeine zwar Urbild der Unterdrückung, aber entsprechend der eigenen Ziele Adornos bleibt Hegels Allgemeines Urbild des zu gewinnenden Begriffes. Adornos Denken ist immer schon gekennzeichnet von einer Allgemeinheit des Begriffes, der der Grund für den Verlust des Objektes ist, und zugleich von einer Allgemeinheit des Begriffes, den es gerade wegen seiner Realität festzuhalten gilt. 54 55
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Affi rmation treu bleiben, hieße das nichts geringeres, als daß Hegel plötzlich gar nicht mehr solche Wahrheit mittels seiner Unwahrheit exemplifizieren könnte, da schlicht einem so präsentierten Hegel keine Gewalt- und Unterdrückungspotentiale abgeschöpft werden könnten. Dieser Hegel wäre nun wieder derjenige, der in gleicher Absicht kämpfend als Vorreiter Adornos selbst begriffen werden müsste. Die Aufhebung des Gegenpols zu Adorno, der sich vom identifi zierenden Begriff Hegels abstoßen möchte, würde nicht nur eine Absetzung unmöglich machen, sondern implizieren, daß in Hegel schon längst eine Lösung vorläge. Er wäre nicht Inbegriff des Problems, sondern Inbegriff der Lösung. Erinnert sei daran, daß Adorno Hegel bereits so präsentiert hatte.
III. Kritik oder Affirmation Lässt man Adornos Hegelrezeption bis an diesen Punkt Revue passieren, ergibt sich ein recht durchwachsenes Bild. Es fragt sich, wie man sich zu seiner Kritik verhalten soll. Dieser letzte Schritt ist noch zu tun und ist umso dringlicher anzugehen, da man in Adornos Denken eine Rezeption vor sich hat, die einerseits ein Hegelbild zeichnet, das Kernwahrheiten der Hegelschen Philosophie gegen naive Simplifi zierungen herauszuheben in der Lage sich zeigte, aber andererseits in eine Festschreibung dieser Simplifi zierung zurückfällt. Dies ist umso tragischer, als die Philosophie Adornos zumindest eine Generation von Philosophen zu prägen wusste, deren Hegelbild von seiner Rekonstruktion geprägt ist. 58 Für diesen letzten Schritt wird Adornos Umgang mit dem Hegelschen Begriff noch einmal thematisch, um darin auch der Sogkraft des Hegelschen Begriffs zu begegnen, aus der sich Adorno befreien wollte.
So etwa bei Hermann Schweppenhäuser. Sein Aufsatz »Spekulative und Negative Dialektik« ist im Grunde eine Reprise der Gedanken, die wir bei Adorno auch schon fi nden. In einer bemerkenswerten Bildkraft geht Schweppenhäuser der spekulativen Dialektik nach, um Motivationen Hegelschen Denkens und Besonderheiten seiner Dialektik herauszuarbeiten. Hierbei bildet in einem großen Umfang der affi rmative Bezug desgleichen den Anfang. Dieser wird dann durch eine Kritik abgelöst, die sich an Adorno orientiert. Einschlägige Themen sind auch hier der Begriff, Subjektivität, Gesellschaft und Versöhnung. Vgl.: Hermann Schweppenhäuser: »Spekulative und negative Dialektik«, in: Oskar Negt (Hg.): Aktualität und Folgen der Philosophie Hegels, Frankfurt/M. 1970. – Auch wenn man meinen mag, daß dieser Adorno-Schüler ein Sonderfall ist, so fi ndet sich in der Sekundärliteratur zu diesem Thema, wie vereinzelt in Fußnoten aufgezeigt, ein zustimmendes Verhalten zur radikalen Kritik Adornos an Hegel. 58
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Der Sog des Begriffs Wenngleich es unmöglich ist, eine erschöpfende Rekonstruktion des Hegelschen Begriffes zum Zwecke der Bereitstellung einer Basis für die Bewertung der Kritik Adornos zu leisten, so ist dies zugleich auch nicht nötig. Da sich Adornos Kritik des Begriffes an eine Metaphysik richtet, die tatsächlich Hegel selbst mit zum Teil den gleichen Vorwürfen konfrontiert hat, die Adorno Hegels Begriff entgegenhält, ist die grundlegende Schieflage der Kritik Adornos offensichtlich. Hegels eigenen Einwänden gegen die Abstraktion sowie gegen den zur Wahrheit unfähigen endlichen Begriff oder auch die eindimensionale Urteilslogik ist als solchen zu entnehmen, daß einer Rekonstruktion des Hegelschen Begriffes als eines ebensolchen abstrahierenden und gewalttätigen mit starkem Vorbehalt zu begegnen ist. Als Resultat einer eingehenden Analyse könnten solche Urteile durchaus denkbar sein. Jedoch gilt es nochmals zu bemerken, daß es Adorno maßgeblich versäumt, eine solche überhaupt zu betreiben. Die Affi rmation der Hegelschen Grundeinsichten war in der Tat ein Anfang einer solchen Analyse, die die Komplexität des Denkens Hegels zu Tage förderte. Wie aber festgestellt werden musste, erfolgt die Kritik an Hegel nun nicht in einer Kontinuität zu den gewonnenen Einsichten, sondern im radikalen Bruch mit diesen. 59 Genau in dem Maße, wie dieser Bruch zwischen Affi rmation und Kritik sich in seiner Radikalität in der Negativen Dialektik festschreibt, zerfällt der präsentierte Hegel in zwei Teile, deren für die Affi rmation zugrunde gelegter Teil in Vergessenheit gerät. Der für die Kritik maßgebliche Teil dagegen beruht auf einer Version des Hegelschen Begriffes, dessen Verfasstheit genau die Kriterien eines gewalttätigen Allgemeinen daher erfüllt, weil Adorno den Begriff im Kontrast zum Besonderen versteht. 60 Er restringiert den Begriff auf eben die endliche Dimension, welche durch
Wenn Rentsch schreibt, Adorno versuche, »das kritische Potential der Hegelschen Dialektik sowohl festzuhalten als auch gegen unkritische, hypostasierende und schematische, formalistische Verständnisse von Vermittlung bei Hegel selbst zu wenden«, dann bezieht er sich wohl optimistischer Weise auf die Drei Studien zu Hegel und übersieht den Bruch. Vgl.: Thomas Rentsch: »Vermittlung als Negativität«, a. a. O., 253. 60 Auf diese Vorwürfe reagiert im übrigen Hegel selbst, wenn er zugesteht, daß es sicherlich Kritik geben mag, die dem Denken vorwirft , »daß das Denken hart und einseitig sei und daß dasselbe in seiner Konsequenz zu verderblichen und zerstörenden Resultaten führe. Auf solche Vorwürfe, insofern dieselben ihrem Inhalt nach berechtigt sind, ist zunächst zu erwidern, daß dadurch nicht das Denken überhaupt und näher das vernünft ige, sondern nur das verständige Denken getroffen wird.« (Hegel TWA 10, § 80 Zusatz. Im Weiteren: Enzyklopädie.) 59
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das Konzept des sogenannten unendlichen Begriffs überhaupt überwunden wird, indem dieser gerade die Opposition zum Besonderen abgebaut wissen möchte. 61 Das impliziert, daß zum einen der unendliche Begriff sich nicht als ein Relatum der Relation eigenmächtig zum Ganzen macht, weil der Dualismus, auf dem dieser Vorwurf basiert, immer schon in einer Bewegung durch ihn hindurch aufgehoben ist 62 , auf die einzugehen und zu analysieren Adornos eigentliche Aufgabe gewesen wäre. Zum anderen maßt sich der Begriff auch nicht an, das andere Relatum aus sich selbst zu bestimmen. 63 So präsentiert, gerät der ganze Hegelsche Begriff in einen falschen Kontext. Nie ging es Hegel um die Bestimmung eines bestimmten einzelnen Objektes, sondern vielmehr darum, das Bestimmen eines einzelnen Objektes in seinen Grundkategorien und Voraussetzungen überhaupt denken zu können. 64 Diese kleine Verschiebung impliziert zwar
Vgl. dazu auch Birgit Sandkaulen: »Weltgeist und Naturgeschichte. Adornos Geschichtsphilosophie mit und gegen Hegel«, in: Axel Honneth u. Christoph Menke (Hg.): Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Klassiker Auslegen, Berlin 2006, 169–187. Sie weist darauf hin, daß Adorno das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem als eines von zwei Kategorien präsentiert und Hegels dritte Kategorie, das Einzelne, entweder unter das Besondere subsumiert oder es als gleichbedeutend mit dem Besonderen gebraucht. »Nicht etwa präsentiert er Hegels Vorlage unter Berücksichtigung ihrer drei Terme, um ihr dann ›negativ‹ zu begegnen, vielmehr präsentiert er sie ihrerseits auch immer schon nur in einer auf zwei Pole reduzierten Form. Das hat gravierende Konsequenzen, deren markanteste die ist, daß Adorno die ganze Hegelsche Denkform, ihrem Sinn völlig zuwider, nicht etwa in eine zweistellige ›Dialektik‹ transformiert, sondern vielmehr in den Typus einer dualistischen Refl exionsphilosophie zurückverwandelt, die Hegel zu überwinden gerade angetreten war.« (184) 62 Bozzetti übt auch Kritik an Adorno in bezug auf dessen Hegelrezeption im allgemeinen und das Verständnis des Begriffes im speziellen – jedoch nur thesenartig und nicht in erhellender Tiefe ausgebreitet. So habe Adorno die Negation falsch verstanden (85), und die Charakterisierung des Hegelschen Denkens als formal sei auch nicht nachzuvollziehen. (86) Aber hier kommt Bozzetti über ein Konstatieren nicht hinaus. Eine detaillierte Untersuchung fi ndet leider nicht statt, gleichwohl es der Titel dieser Arbeit nahe legt. Vgl.: Mauro Bozzetti: Hegel und Adorno. Die kritische Funktion des philosophischen Systems, Freiburg 1996. 63 Schon Hegel reagierte auf einen ähnlichen Vorwurf von Krug, der die Idealisten aufforderte, seine Schreibfeder zu deduzieren. 64 Der Vorwurf Adornos, Hegels Begriff kreise nur als ewiges Sich-selbst-Gleiches um sich selbst und damit nicht um das Besondere, entbehrt jeder Grundlage und kann in diesem Sinne also nicht als Vorwurf gelten – aber auch aus dem Grunde, daß Hegel neben den unendlichen Begriffen natürlich auch solche kennt, die der Vorstellung Adornos entsprechen. Explizit weist er darauf hin, daß für endliche Gegenstände auch endliche Begriffe ihre Anwendung fi nden (vgl. Hegel, Enzyklopädie, 61
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die Abkehr vom Objekt, aber nicht auf die von Adorno unterstellte Weise. Es ist eine Abkehr vom Denken des Objektes zum Denken des Denkens, das als solches die Relationalität zwischen Subjekt und Objekt überhaupt grundzulegen vermag. Hegel entwickelt damit in der Logik ein kategoriales Gerüst, das nicht nur jeder begriffl ichen Auseinandersetzung zugrunde liegt, sondern umso mehr auch jedem Objektbezug. Die Begriffe, die in der Logik entfaltet werden, lassen sich zudem durch ihren Charakter nicht am Besonderen gewinnen. Sie müssen für die Bestimmung des Besonderen überhaupt vorausgesetzt werden. Weil sie nicht als auf etwas bezogen verstanden werden können, sind sie auch gar nicht von empirischen Konstellationen der Dinge abhängig. 65 Ein Entwickeln der Begriffe in rein begriffl icher Sphäre ist daher Hegel gar nicht als Versäumnis anzulasten, sondern gehorcht nur der Logik der Sache. Adornos Einwand, den er zum Zentrum seiner immanenten Kritik macht, der Begriff verlange objektiv, mit einem nicht-begriffl ichen Inhalt überhaupt erst konfrontiert zu werden, damit er sich mit Sinn vollsaugen könne, erweist sich für Adorno in diesem Sinne selbst als eine folgenschwere Hypothek. Denn wenn Adorno mit diesem Argument Hegel immanent aufsprengen möchte, so bestätigt er doch ungewollt dasjenige, was er damit zu bestreiten gedenkt. Seine Einsicht gewinnt er ja nun nicht an einem nicht-begriffl ichen Objekt, mit dem sich diese Einsicht mit Sinn vollsaugen hätte können. Seine Einsicht soll im Gegenteil aus dem Begriff selbst denknotwendig folgen. Der Unterschied zwischen Hegels und Adornos Vermittlung dieser Erkenntnis liegt nun allein darin, daß Adorno sie bei Hegel als eklatanten Fehler entlarvt zu haben meint. Neben der Nähe Hegels zu Adorno hinsichtlich der Ziele und Motive ist damit auch die Nähe von Adornos Verfahren zu dem Hegels offenbar geworden. Diese Nähe vermag er gerade vermittels seiner Kritik an Hegel nicht zu tilgen. Seine Schritte, die ihn aus dem Sog her-
§ 28 Zusatz). Man denke auch an die von Hegel getroffene Unterscheidung zwischen Wahrheit und Richtigkeit (vgl. Hegel, Enzyklopädie, § 172 Zusatz). Diese Dimension, die dem alltäglichen Verständnis entspricht, ist dabei dann keine dem Hegelschen Verständnis des Begriffs externe, sondern in seine Konzeption integriert. 65 Englisch weist auch auf diese Diskrepanz zwischen den Begriff skonzeptionen hin: »Mit dem Erfahrungsgehalt der Hegelschen Philosophie allerdings wird begriffliche Mimesis [Adornos, D.A.] nicht fertig. Man könnte so weit gehen, zu behaupten, daß Adorno sich einen semantischen Raum, den Hegel eröff net, wieder verschließt.« (43) Den entscheidenden Fehler sieht Englisch bei Adorno in der Einengung der Erkenntnisrelation auf den Bezug des Begriffes auf einen Gegenstand. Vgl.: Felicitas Englisch: »Adorno und Hegel. Ein Mißverständnis über die Sprache«, in: Gerhard Gamm (Hg.): Angesichts objektiver Verblendung. Über die Paradoxien Kritischer Theorie, Tübingen 1985.
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ausführen sollen, führen in ihn hinein. Nicht nur die Motive und Ziele beider Denker können damit in einem Verwandtschaftsverhältnis gesehen werden, sondern auch die Durchführung selbst. 66 Dazu zählt nun nicht nur, daß Adorno selbst dem Begriff eine Realität zuschreiben muß, wie Hegel es getan hat. Adorno bewegt sich selbst im Begriff und damit in der Dimension, um die es Hegel von Anfang ging. Es geht für beide um die Klärung der Begriffe, die einem Objektbezug immer schon vorgelagert sind. Diese Klärung erfolgt nur vermittels des Begriffes selbst. Muß man dies aber konstatieren, so fragt es sich, worin noch der Vorwurf an Hegel bestehen kann. Man kann es so formulieren: Adornos Nachweis, daß der Hegelsche Begriff des Begriffs falsch ist, ist gerade der Nachweis dafür, daß er so falsch nicht sein kann. Man steht mit anderen Worten vor der Entscheidung, Adornos Philosophie im Kritisieren Hegels das Scheitern an Hand eigener Kriterien zu attestieren oder, im Retten der Adornoschen Philosophie, auch Hegel zu rehabilitieren.
Probleme Adornos Die Falle, in der Adorno sitzt, wird damit auch offenkundig. Die Vermittlung von Subjekt und Objekt wird einerseits in der Hegelschen Variante scharf kritisiert, andererseits aber von Adorno in einer alternativen Variante nicht wirklich geleistet. Einmal sollen Subjekt und Objekt nicht identisch sein, dann aber auch nicht beziehungslos auseinanderfallen. Ersteres untermauert er wortgewaltig mit seiner Kritik an Hegel. Das Zweite aber ist mehr offenes Programm als ausweisbares Ergebnis. In seinem Versuch, die Dialektik Hegels durch Dialektik aufzubrechen, um zum Ontischen zu gelangen, mischen sich überraschende Ausgriffe auf Momente, deren
Es handelt sich um eine Verwandtschaft , keine Gleichheit. Wie nah oder entfernt diese Verwandtschaft letztlich ist, bleibt hier offen. Die Differenzen generell zwischen Hegel und Adorno müssten trotz der Nähe ausgearbeitet werden. Nach dem Gesagten aber scheint es, daß die Differenz nun nicht in einer Parteinahme Adornos für eine Hegel angeblich entgegengesetzte Seite liegt. Dies kann daher nicht funktionieren, weil Adorno (eigentlich) erkennt, 1) daß die Gegensätze von Identität und Nicht-Identität bzw. Allgemeinem und Besonderem oder Totalität und Einzelheit keine starren sind, deren »gute« Seiten einfach zu haben wären, und 2) daß Hegel nicht schlicht als Vertreter der »bösen« Seite zu brandmarken ist. Schon allein weil sich Adorno bewußt ist, hier nur durch die gegenseitige Vermittlung der Gegensätze gehen zu können, bleibt die Differenz zu Hegel keine schroffe. Das hat entsprechende Auswirkungen auf die Dialektik Adornos. Diese scheint mir eine größere Nähe zu der Hegels zu implizieren, als sie von Adorno selbst zugestanden wird. 66
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prinzipielle Einbindung zur Überwindung des Dilemmas im Rahmen seiner Philosophie als nicht möglich, aber im Zuge seiner Intentionen als alternativlos zu bezeichnen sind. Rückgriffe dieser Art werden eingearbeitet, wenn trotz der eigentlich vollkommenen Verstellung auf eine ungegängelte Erfahrung rekurriert wird, die ein Außerhalb darstellt, das unter den Theoriekonstellationen gar nicht sinnvoll eingeholt werden könnte, 67 vermag doch eigentlich der Begriff seines abstrahierenden und abschneidenden Wesens nicht entledigt zu werden. Daß es aber neben diesem untauglichen Begriff nun auch einen wahren Begriff zu fi nden gilt, der als Begriff eine neue Dimension aufschließt, ist angesichts der so ausweglosen Lage naheliegend. Adorno hält fest: »Wahrhafter Vorrang des Besonderen wäre selber erst zu erlangen vermöge der Veränderung des Allgemeinen. Ihn als Daseiendes schlechthin zu installieren ist eine komplementäre Ideologie.«68 Ist dies nicht unmotiviert, so doch vor dem Hintergrund gerade seiner Hegelkritik uneinholbar. Zieht man jedoch seine affi rmative Rekonstruktion des Hegelschen Denkens heran, präsentieren sich die Dinge in einem andern Licht. Der Hegel, den Adorno als Vordenker vorstellt, hält Potenziale bereit, das Dilemma zu lösen. Wie oben im ersten Teil gezeigt wurde, versteht Adorno den Hegelschen Begriff als Ausdruck einer Bemühung um Nicht-Identität. Was als »Veränderung des Allgemeinen« zu erlangen wäre, liegt also in Hegels Variante Adorno zufolge schon immer vor. Wenn nämlich, wie Adorno feststellte, der Begriff sich nicht vor das schiebt, was das Denken begreifen will, sondern es aufschließt; die Dialektik kein Sophismus, das Objekt nicht der systematischen Kohärenz eingepasst ist und der Geist sich keineswegs anmaßt, das ontologisch Letzte zu sein, sondern darin die systematische Bedingung formuliert ist, diesen Zusammenschluß von Subjekt und Objekt sinnvoll zu denken, dann erfüllt dies die Kriterien für das veränderte Allgemeine. Diesen Aspekt seiner Hegelrezeption hat der Adorno der Negativen Dialektik verdrängt. Es bleibt sicherlich noch offen und höchst problematisch, ob der unendliche Begriff sich tatsächlich in der Lage zeigt, das Nicht-Identische zu denken. Es ist dennoch nicht fraglich, daß ein in Kontinuität mit der Affi rmation Adornos rekonstruierter und letztlich auch kritisierter Hegel keiner solchen Kritik anheimfallen kann, wie sie Adorno in der Negativen Vgl. dazu Birgit Sandkaulen: »Adornos Ding an sich. Zum Übergang der Philosophie in Ästhetische Theorie«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 68 (1994), 393–408. Und auch Sandkaulen: Weltgeist und Naturgeschichte, a. a. O., 180. 68 Adorno: GS 6, 307. 67
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Dialektik vorträgt. Hegel würde man gerecht, wenn dessen Motive und Ziele ernst genommen und nicht durch Schwundstufen dieser substituiert würden, durch die er künstlich auf Distanz gehalten wird. Die negative Dialektik als die unaufhörlich kritische Bewegung des Begriffes will jenseits einer Entscheidung für einen Pol die Vermittlung zwischen allen Momenten sichern, ohne das Objekt zu verlieren. Das heißt: Adornos Dialektik muß sich absichern a) gegen ein einseitiges Festhalten eines einzelnen Aspektes, da alles Stillstellen der Bewegung in ein Resultat einer Festschreibung in eine Identität gleichkommt, aus der Adorno gerade ausbrechen möchte. Wie sich an der Kritik des Positivismus zeigt, muß sich Dialektik weiter absichern b) gegen eine Unmittelbarkeit, in der leichtfertig Wahrheit vermutet wird, und das heißt auch gegen ein Stillstellen der Dialektik durch ein Außerhalb. Insofern Adorno aber auch einer Begriffstotalität kritisch opponiert, darf Dialektik c) nicht in einer Vermittlung aufgehen, die von abstrakten Prinzipien geleitet ist, was desgleichen heißt, daß Dialektik sich absichern muß gegen ein Stillstellen der Dialektik aus dem Inneren. Kündigt Adorno wie in der Negativen Dialektik die Nähe zu Hegel zweifach auf, indem er einmal bestreitet, daß es Hegel um gleiche Ziele ging wie ihm, und dann auch nicht zugesteht, desgleichen wie Hegel auf einen von Empirie unabhängigen Begriff angewiesen zu sein, beraubt er sich aller Auswege, im Begriff zu einer Lösung zu kommen. Unlösbar wird das Dilemma nämlich dann, wenn Adornos Insistieren auf einer prinzipiellen Opposition von Begriff und Objekt den Graben zwischen beiden so zementiert, daß in Anbetracht der orientierungslosen Vermittlung eine Erfahrung prinzipiell nur im Modus des Falschen gedacht werden kann. Nicht nur ist jetzt jedes Resultat prinzipiell falsch, sondern bleibt ein Unmittelbares uneinholbar und die Vermittlung trügerisch. Gerade indem Adorno Hegels Dialektik für unzureichend erklärt, scheitert seine eigene. Adorno kennt keine Vernunft mehr, die bei den Dingen schon ist; er will sie nicht mehr kennen, da sie ihm das Urbild der Unterdrückung darstellt. Der Vorwurf willkürlicher Begriffe droht mit dem gesamten Gewicht auf Adorno selbst zurückzufallen. Wie falsch Adorno mit der Rekonstruktion des Begriffes bei Hegel liegt bzw. wie nah Hegel einer Lösung kommt, wird vor diesem Hintergrund nochmals deutlich. Denn der Hegelsche Begriff lässt nicht ein ganz anderes uneinholbar gegenüber stehen, sondern holt dies ein, indem der Begriff die Sache selbst ist. Dabei ist diese Identität – und dies ist eben, wie Hegel immer wieder beteuerte, von unendlicher Wichtigkeit – eine andere, als sie Adorno so gerne sehen möchte: keine, die ein anderes gleich macht, sondern eine, die anzeigt, daß das, was Adorno zusammenbringen will, immer schon gleich ist. 69 Es ist der Versuch Hegels, 69
Gerhard Gamm geht in seinem Werk: Nicht nichts. Studien zu einer Semantik
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dahin zu gelangen, wo sich diese Probleme, wie sie Adorno umhertreiben, nicht mehr stellen und aufgelöst haben. Es scheint fast so, als würde Hegel schon damals auf Adornos Vorwürfe antworten, wenn er immer wieder die Ermahnung wiederholt, daß »die spekulative Identität nicht jene triviale [sei], daß Begriff und Objekt an sich identisch seien«. Dieser Vorwurf war ihm zu seiner Zeit wiederkehrend gemacht worden. Daß dies sich so verhält, zeigt aber nur, daß der Kernvorwurf Adornos kein unbekannter, sondern so alt wie falsch ist: »eine Bemerkung, die oft genug wiederholt worden ist, aber nicht oft genug wiederholt werden könnte, wenn die Absicht sein sollte, den schalen und vollends böswilligen Mißverständnissen über diese Identität ein Ende zu machen; was verständigerweise jedoch wieder nicht zu hoffen steht.«70 Schlußbemerkung Adorno ist nicht generell dieser vehemente Hegelkritiker, dessen AntiSystem allein als ein Gegen-Entwurf zu Hegels System zu verstehen ist. Dies zeigte sich in zweierlei Hinsichten. Erstens rückt Adorno selbst Hegels Denken hinsichtlich der Ziele und Motive in die Nähe seines eigenen Denkens. Beide sehen sich konfrontiert mit einer Philosophie, die Wirklichkeit in eine starre und eindimensionale Ontologie presst, die ihrer Komplexität nicht gerecht wird. Zumindest in den Drei Studien präsentiert Adorno Hegel als einen Denker, der daher genauso wie Adorno des Unbestimmten, Frankfurt/M. 2000, auf die Perspektive der Versöhnung in Hegels Philosophie ein, die keineswegs nur von Hegel vorgegaukelt werden musste. »Versöhnung. – Man macht es sich an dieser Stelle zu einfach, wenn man in der Diktion Adornos fortfährt und glaubt, mit dem Zwischenruf ›falsche Versöhnung‹, ›erpreßte Versöhnung‹ die richtige Antwort parat zu haben: ein durchaus realistisches Motiv fundiert Hegels Begriff der Versöhnung.« (27) Gamm geht für den Beleg seiner These auf Hegels praktische Philosophie zurück, die bereits sehr früh ihre Ausformulierung gefunden hat. Hegel, so Gamm, sagt zu ›Versöhnung‹ auch ›Verzeihung‹. »Beide Begriffe zielen auf dasselbe: ›auf das versöhnende Ja, worin beide Ich von ihrem entgegengesetzten Dasein ablassen‹«. (27) Gamm erläutert das an Hand des Handlungsbegriffes und der damit verquickten Fehlbarkeit der Handelnden. Diese Versöhnung darf aber nicht als »gemeinsam geteilter Wertehorizont« verstanden werden oder als eine »Selbst und Anderes überwölbende Rahmenvernunft«. (29) Die »Differenz individueller Handlungsperspektiven« würde zunichte gemacht. Der »spekulative Begriff oder die Bewegung ›steter Versöhnung‹ läßt sich nicht in Form einer abstrakten Identität ausdeuten und stillstellen, das heißt subsumtionslogisch über eine Identitätsform beschreiben, die Selbst und anderes Selbst unter ein ›Segeltuch-Allgemeines‹ bringt und Vernunft den Triumph nennt, die Differenz der Perspektiven aus der Außenperspektive eines göttlichen Beobachters […] zu vereinnahmen.« (29) 70 Hegel, Enzyklopädie, § 193 Anmerkung.
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1) selbst daran arbeitet, die starre Identität dieses simplen »Abbildrealismus« aufzubrechen und der dahinter verborgenen Wahrheit – in dem Sinne der Nicht-Identität – zum Ausdruck zu verhelfen. Die Dialektik Hegels ist 2) für Adorno genauso eine Kritik und keineswegs Festschreibung des Bestehenden, die 3) sich dem Objekt beugt und keine abstrakte Veranstaltung des losgelassenen Begriffes ist. Der Begriff ist daher nicht als dogmatische Vernunft letztes Aufgebot einer alten Metaphysik, in der vorgefertigte Lösungen lägen. Er ist im Gegenteil Motor und Ausdruck einer permanenten Erosion aller Vorgaben und scheinbar gewissen Gegebenheiten, die vom einfachen Begriff zementiert werden. Hegel laboriert an den gleichen Punkten wie Adorno. Das, so wurde gezeigt, erkennt er eigentlich auch. Daß Adornos Denken nicht als dieser strikte Gegenentwurf zu demjenigen Hegels gesehen werden kann, zeigte sich zweitens daran, daß Adorno trotz seiner fundamentalen Kritik an Hegels Begriff seine Dialektik nicht in gänzlicher Abgrenzung zu der Hegels und damit nicht in Übereinstimmung mit dem von ihm eingeklagten Begriff formulieren konnte. Adorno bleibt mit seiner Kritik an Hegel, und das heißt auch mit seinem alternativen Begriff des Begriffes, an Bedingungen gebunden, die eigentlich Zentrum seiner Kritik waren. Somit haben sich die Dinge fast ins Gegenteil verkehrt: Die Kritik widerlegt nicht Hegel und bestätigt nicht die alternative Variante des Begriffes. Vielmehr widerlegt die Kritik sich selbst und führt letztlich über den alternativen Begriff auf das Anliegen des Hegelschen zurück. Es bleibt wohl festzuhalten, daß hier auf das Anliegen Hegels zurückgeführt wird. Keineswegs bestätigen sich hier die gesamte Hegelsche Version der Dialektik, lediglich die wesentlichen Motive und Ziele, die darin einen Zusammenhalt gewinnen, daß ein einfacher Zugriff auf angeblich fertige Wirklichkeit, um einen Begriff mit ihr abzugleichen, nicht möglich ist. Wenn nun auch nur das Anliegen Hegels wiedergewonnen ist, so bestätigt sich doch darin, d. h. an Hand der Hegelkritik Adornos selbst, die Unhaltbarkeit ihrer Anlage. Die Hegelsche Bewegung des Begriffes und die negative Dialektik Adornos ergeben sich (unter anderem) aus der Einsicht in die Haltlosigkeit aller Gegebenheit. Wie Adorno dann aber den »Vorrang des Objekts« realisieren will, bleibt angesichts des für Adorno nur verfälschenden Begriffes und der falschen Erfahrung ein Rätsel. Von dieser Warte her zeigt sich gleichwohl noch einmal mehr, warum Adorno Hegels Dialektik in den Drei Studien den eigenen Anliegen so gemäß präsentieren kann, führt doch Hegel mit seinem Konzept des konkret Allgemeinen nur aus, was bei Adorno als noch offen bezeichnet werden muß. Daß er im weiteren Verlauf seine Position nicht in Kontinuität mit seiner Affi rmation der Hegelschen Philosophie, sondern im Bruch damit zu formulieren sucht, entstellt nicht nur Hegels
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Denken, sondern verstellt Adorno auch den Blick auf mögliche Lösungen. Zu konstatieren gilt nach alledem, daß sich Adorno von Hegel lösen möchte, er aber dem Sog des Begriffes nicht entkommt. Hinsichtlich seines Umgangs mit dem Begriff Hegels kann man also resümierend festhalten: Adorno meint an der Spitze der Hegelschen Philosophie angesetzt, diese gebrochen und weitergedacht zu haben. Tatsächlich aber reduziert er Hegel auf Verstandesmetaphysik und setzt somit den Hebel da an, wo Hegel selbst schon gehebelt hat. Die Implikation für Adornos Projekt liegt nun auch auf der Hand. Er wollte vermittelst der Kritik an Hegel diesen immanent überwinden und einen neuen Begriff von Dialektik begründen. Die Rekonstruktion des Hegelschen Begriffes, wie sie durch Adorno in seiner Kritik erfolgt, wollte auf die immanenten Erfordernisse des Begriffes aufmerksam machen. Die Bezogenheit auf das Nicht-Begriffl iche, die Hegel angeblich hätte sehen müssen und auch können, ist aber kein Erfordernis des Begriffes, sondern einer Variante, die Adorno Hegel unterschiebt. Hegel hat sie gesehen, jedoch dem endlichen Begriff vorbehalten. Der unendliche Begriff möchte die Unzulänglichkeiten des endlichen Begriffes für das Begründungsunternehmen seines Systems auffangen. Das hatte Adorno selbst zugestanden, aber letztlich ignoriert. Eine Neubegründung des Begriffes aus dem Begriff ist damit im Anfang gescheitert. Es ist keine Neubegründung aus dem Hegelschen Begriff. Das »Geklapper der Triplizität« ist hörbar nur in Adornos Rekonstruktion. Zudem: Scheitern die Vorwürfe Adornos gegenüber dem Hegelschen Begriff, scheitern im selben Maße auch die Vorwürfe, die sich an die anderen Aspekte richten. Womit Adorno in dieser scheinbaren Überwindung und Neubegründung ringt, ist genau die Situation, in der sich Hegel schon vorfand. Es ist die Spannung zwischen einerseits einer reinen Erfahrung auf der einen Seite – wie Jacobi sie einklagt – und einer Vermittlung andererseits, die dieser Erfahrung auch gerecht werden soll. Adornos Denken ist nun geprägt von dieser Spannung selbst, indem er erneut da ansetzt, wo Hegel ansetzte. Daß beides für Adorno nicht vereinbar ist, weil er lediglich auf einen endlichen Begriff setzt, aber Erfahrung nicht mobilisieren kann, da sie verstellt ist, treibt ihn zuweilen zu einem neuen Allgemeinen, dessen Kriterien vom Hegelschen Begriff erfüllt zu werden scheinen. Zuweilen nimmt er Zuflucht in einer ungegängelten Erfahrung, auf die Jacobi rekurriert. Adorno reproduziert damit nur die Konstellation, die den Deutschen Idealismus generell und insbesondere Hegel wesentlich getrieben hat. Adorno weigert sich nun aber, seine Nähe zu Hegel zuzugestehen. Adorno steht damit vor der Entscheidung, die Nähe anzuerkennen und das »veränderte Allgemeine« zu ergreifen oder selbst zu springen. Da beginnt für Adorno der Weg jedoch von neuem, den er beinahe beschritten hätte.
Mit Hegel gegen den ›Positivismus‹ – mit Hegel zum ›Wesen des Menschen‹. Herbert Marcuses Interpretation der Hegelschen Urteilslehre Christoph J. Bauer
Petersen? Petersen sei angeblich gleich nach seinem Rigorosum in eine Fabrik gegangen. […] Proletkult, sagte ein Student am Tisch, der typische Proletkult, und zitierte Marcuse. Uwe Timm: Heißer Sommer, 248
Das Verhältnis der Vertreter der sogenannten ›Frankfurter Schule‹ zur Philosophie Hegels muß als durchaus widersprüchlich bezeichnet werden. Obwohl Hegel in den Auseinandersetzungen um die Rolle der Philosophie in der spätkapitalistischen Gesellschaft jeweils im Mittelpunkt steht, läßt sich beobachten, daß die Beschäft igung mit Hegel immer auch darauf ausgerichtet ist, dessen Philosophie zu überwinden oder zumindest scharfe Kritik an bestimmten Aspekten seines Denkens zu üben. Herbert Marcuse1 muß in diesem Zusammenhang ohne weiteres als derjenige Vertreter Herbert Marcuse, geboren 1898 Berlin, gestorben 1979 Starnberg; 1919/20 Studium der Germanistik in Berlin; ab 1920 in Freiburg; 1922 Promotion (Der deutsche Künstlerroman; veröffentlicht in Schriften, Bd. 1, Frankfurt/M. 1978; Springe 2004), anschließend Rückkehr nach Berlin; ab 1928 erneut in Freiburg, Studium bei Martin Heidegger; 1932 Habilitation (Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit, 1. Aufl . Frankfurt/M. 1932, 2. Aufl . 1968); 1933 Emigration in die Schweiz, 1934 in die USA; Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung; Marcuse leistet einen ideengeschichtlichen Beitrag zu den Studien über Autorität und Familie (Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung, Paris 1936); veröffentlicht in: Schriften, Bd. 3, Springe 2004; 1941 Reason and Revolution: Hegel and the Rise of Social Theory (New York; deutsche Ausgabe: Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaft stheorie, Darmstadt und Neuwied 1962); 1942–51 Mitarbeiter am Office of Strategic Services (OSS); 1951–54 Mitarbeit an Studien über den Sowjet-Marxismus am Russian Institute der New Yorker Columbia University und in Harvard; 1954 Professur an der Brandeis University für Philosophie und Politologie; 1955 Eros and Civilization: A Philosophical Inquiry into Freud (Boston; deutsche Ausgabe: Eros und Kultur. Ein philosophischer Beitrag zu Freud, Stuttgard 1957; Neuausgabe unter 1
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der ›Frankfurter Schule‹ bezeichnet werden, der sich umfassend mit der Philosophie Hegels auseinandergesetzt hat. Darüber hinaus kann gesagt werden – und der vorliegende Beitrag soll Argumente für diese Behauptung liefern –, daß der Einfluß Hegels, trotz der Kritik an bestimmten Positionen seiner Philosophie, neben den Einflüssen von Marx, Freud und – zu Anfang – Heidegger entscheidend war für Marcuses eigenes Denken. Untersucht man bestimmte Aspekte seiner Gesellschaftskritik, so läßt sich auch behaupten, daß der Einfluß Hegels deshalb größer war als derjenige von Freud und Marx, weil er bis in die sechziger Jahre hinein an der Hegelschen Konzeption der Dialektik grundsätzlich festhält. Allein die Hegelsche Philosophie, die – wie Marcuse im Vorwort zu seinem zweiten großen Hegel-Buch Vernunft und Revolution hervorhebt – »gut eine negative Philosophie genannt werden« 2 kann, stellt ihm die Werkzeuge bereit, mit denen er jene Entwicklungen angemessen kritisch fassen kann, durch welche sich die in seiner sicherlich populärsten Schrift – dem Eindimensionalen Menschen3 – analysierte »fortgeschrittene Industriegesellschaft« auszeichnet. Die Hegelsche Dialektik erweist sich allein als geeignet, die dem Titel Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt/M. 1965); 1958 Soviet Marxism: A Critical Analysis. (New York; deutsche Ausgabe: Die Gesellschaft slehre des sowjetischen Marxismus, Darmstadt und Neuwied 1964); 1964 One Dimensional Man: Studies in the Ideology of Advanced Industrial Society (Boston; deutsche Ausgabe: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der Fortgeschrittenen Industriegesellschaft , Neuwied und Berlin 1967); 1965 Professur für Politologie an der University of San Diego in Kalifornien; 1968/69 mehrmonatiger Aufenthalt in Europa. Vorträge und Diskussionen mit Studenten in Berlin, Paris, London und Rom. 1969 An Essay on Liberation. (Boston; deutsche Ausgabe: Versuch über die Befreiung, Frankfurt/M. 1969). (Quelle: H. Brunkhorst/ G. Koch: Herbert Marcuse: Eine Einführung, Wiesbaden o. J. Vgl. ebd. die Bibliographie der Veröffentlichungen Marcuses und der sich auf ihn beziehenden Literatur, 121–136; vgl. weiterhin Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung, 6. Aufl ., München 2001) und Martin Jay: Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung, 1923–1950, aus dem Amerikanischen von H. Herkommer und B. von Greiff, Frankfurt/M. 1976. 2 Herbert Marcuse: Schrift en, Bd. 4: Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaft stheorie (zuerst 1941), Springe 2004, 11 (VR). Für Marcuse ist es von daher nicht erforderlich, eine »Negative Dialektik« im Sinne Adornos zu konzipieren, da Hegels Konzeption für ihn nicht auf die Herstellung von Identität reduziert werden kann, sondern bereits ausreichend den Aspekt der Negativität in den Vordergrund stellt. 3 Herbert Marcuse: Schrift en, Bd. 7: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft (zuerst 1964), Springe 2004 (EM).
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entscheidenden Stoßrichtungen seines eigenen Denkens zu begründen, das sich zum einen mit der Frage auseinandersetzt, inwiefern die gegenwärtige gesellschaft liche Situation veränderbar ist bzw. sich aus sich selbst heraus verändert, das zum andern geprägt ist durch die Gegnerschaft zu den aus seiner Sicht die Wissenschaft swelt dominierenden philosophischen Positionen dessen, was Marcuse ›Positivismus‹ nennt. Um die wesentliche Bedeutung der Philosophie Hegels für Marcuses eigenes Denken deutlich zu machen, soll im vorliegenden Beitrag Bezug genommen werden auf eine Formulierung im Eindimensionalen Menschen, in der die von Marcuse allerdings nicht offengelegte Anwendung von aus der Philosophie Hegels gewonnenen Werkzeugen zurückverweist auf seinen ersten umfassenden Versuch der Auseinandersetzung mit der Philosophie Hegels, die Habilitationsschrift Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit4 von 1932. Geht man nämlich der Frage nach, welche Argumente Marcuse entwickelt, um unter dem Rückgriff auf die von ihm so genannten »zweidimensionalen, dialektischen Denkweisen« die demgegenüber eindimensionalen, in der »fortgeschrittenen Industriegesellschaft« herrschenden, »Sprechweisen« aufzubrechen und so einen möglichen Ausweg aus den sich tendenziell verfestigenden Strukturen der von Marcuse konstatierten »Gesellschaft ohne Opposition« (EM 11) zu weisen, so stößt man unweigerlich auf einen ganz bestimmten Abschnitt der Hegelschen Logik, welcher Marcuse allein geeignet scheint, zur Begründung solcher »Werturteile« (EM 12, 142, 265) zu dienen, wie er sie als unabdingbar für seine Auffassung von »kritischer Theorie«5 ansieht, nämlich auf den Abschnitt über »Das Urtheil des Begriffs« in der subjektiven Logik. 6 Im folgenden soll der Interpretation der Hegelschen Logik durch Marcuse und der Bedeutung dieser Interpretation für seinen eigenen Ansatz nachgegangen werden. Zwar liegt es bei der Lektüre des Eindimensionalen Menschen nahe, Hegel bereits an verschiedenen Stellen als den wegweisenden Vertreter jener den eindimensionalen gegenüber positiv hervorgehobenen »zweidimensionalen dialektischen Denkweisen« auszumachen, oder an Hegel zu denken, wenn Marcuse die falsche »Vereinigung der Gegensätze« kritisiert, die den zeitgenössischen »kommerziellen und politischen Stil« charakteri-
Herbert Marcuse: Schriften, Bd. 2: Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit (zuerst 1932), Springe 2004 (HO). 5 Das Urteil, daß »das menschliche Leben lebenswert ist oder vielmehr lebenswert gemacht werden kann oder sollte« stellt für Marcuse das »Apriori der Gesellschaft stheorie« dar (EM, 12). 6 Hegel: GW 12, 84–89; vgl. EM, 12. 4
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sierten, jedoch wird dessen Name in den angesprochenen Zusammenhängen – wie gesagt – zumeist nicht genannt. So ist im Zusammenhang mit Marcuses Begriff der Vernunft als der »umstürzenden Macht«, der »Macht des Negativen« (EM 139), ebensowenig explizit von Hegel die Rede wie in den, an dieser Stelle im Mittelpunkt des Interesses stehenden, Abschnitten des Eindimensionalen Menschen, in denen offenkundig wird, daß auch der Standpunkt, von welchem konstatiert werden kann, daß sich eine Gesellschaft im Zustand der »Paralyse« befi nde, nur vor dem Hintergrund der Hegelschen Philosophie gewonnen werden kann, deren Rationalität erst die offenkundige Irrationalität der herrschenden »Denkgewohnheiten« bestimmbar macht: Marcuse zufolge sei nämlich erst der »widerspruchsvolle, zweidimensionale Denkstil« die »innere Form […] aller Philosophie, die die Wirklichkeit in den Griff bekommt«, denn nur eine solche Philosophie führe zu der Erkenntnis, daß die »Sätze, welche die Wirklichkeit bestimmen, […] etwas als wahr« behaupten, das »nicht (unmittelbar) der Fall ist«. Auf diese Weise würden sie aber dem widersprechen, »was der Fall ist« und dessen Wahrheit leugnen. (EM 148) Werde beispielsweise der Satz ausgesprochen ›der Mensch ist frei‹, so stellt nach Marcuse, wenn ein solcher Satz wahr sein soll, »die Kopula ›ist‹ ein ›Sollen‹, ein Desiderat fest« (ebd.), indem sie Verhältnisse »verurteile«, unter denen – um beim Beispiel zu bleiben – der Mensch nicht frei ist; eine im Urteil formulierte »kategorische Feststellung« verkehre sich auf diese Weise in einen »kategorischen Imperativ«, sie stelle keine Tatsache fest, sondern »die Notwendigkeit, eine Tatsache zu schaffen.« (EM 149) 7 Das dialektische Denken verstehe somit »die kritische Spannung zwischen ›ist‹ und ›sollte sein‹ zunächst als einen ontologischen Sachverhalt, der der Struktur des Seins selbst zukommt«, jedoch intendiere »die Erkenntnis dieses Seinszustandes – seine Theorie – […] von Anfang an eine konkrete Praxis«. (Ebd.) Daß die Redeweise vom Verhältnis von ›Sein‹ und ›Sollen‹ in den Urteilen über die Wirklichkeit mit den wesentlichen Intentionen der Philosophie Hegels in Verbindung gebracht werden kann, erschließt sich allerdings nur demjenigen, der sich entweder unmittelbar mit der Hegelschen Urteilslehre oder aber – über die Lektüre des Eindimensionalen Menschen hinaus – mit Marcuses Buch Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit beschäft igt hat. Ist dies nicht der Fall, läuft der Rezipient dagegen Gefahr, die grundlegende Bedeutung der Hegelschen Philosophie In diesem Zusammenhang ist an die Auff assung zu erinnern, die Marx in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie wie folgt formuliert: »Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der 7
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in diesem Punkt zu übersehen, denn insbesondere die Aussage, daß die »Erkenntnis des Seinszustandes – seine Theorie – […] von Anfang an eine konkrete Praxis« (EM 149) verlange, könnte den Leser dazu verleiten, diese Stelle mit der Kritik in Verbindung zu bringen, die Marcuse in seinem knapp zehn Jahre nach seiner Habilitationsschrift erschienenen zweiten Hegel-Buch Vernunft und Revolution insbesondere an dessen Spätphilosophie formulieren sollte. Demnach habe Hegel aber sowohl in seiner Logik als auch in seiner praktischen Philosophie ›Erkennen‹ höher bewertet als ›Handeln‹, weshalb Logik und praktische Philosophie letztlich den »Stempel der Resignation« trügen. (VR 150) 8 Im Zusammenhang mit der nun folgenden Rekonstruktion der Bezugnahme Marcuses auf die Hegelsche Logik im allgemeinen und die Hegelsche Urteilslehre im besonderen wird aber exemplarisch deutlich, wie wenig es vom Standpunkt einer »kritischen Theorie der Gesellschaft« möglich ist, auf die oft mals programmatisch kritisierte Philosophie Hegels – insbesondere aber auf dessen Logik – zu verzichten. 9 II. Seit dem Jahr 1928 hielt sich der Sozialist Marcuse – und das mag zunächst erstaunen – bei Heidegger in Freiburg auf, und der Einfluß Heideggers wird nicht nur im sprachlichen Duktus deutlich, in welchem Hegels OntoMensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist […].« (Karl Marx: »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung«, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, hrsg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1956ff, Bd. 1, 358.) 8 Vgl. dazu auch den Vortrag, den Marcuse 1966 auf dem Hegel-Kongreß in Prag gehalten hat. Marcuse zufolge nimmt die Negation in Hegels Dialektik dann einen »Scheincharakter« an, wenn sich am Ende die »Positivität der Vernunft , der Fortschritt« durchsetze und sich auf diese Weise der »konformistische Charakter« der Hegelschen Philosophie zeige. Herbert Marcuse: »Zum Begriff der Negation in der Dialektik«, in: ders.: Werke, Bd. 8: Aufsätze und Vorlesungen 1948–1969. Versuch über die Befreiung, Springe 2004, 194–199. 9 Vgl. in diesem Zusammenhang insbesondere den Teil II von Vernunft und Revolution, der den Titel »Die Entstehung der Gesellschaft stheorie« trägt. Demnach wurden die »kritischen Tendenzen« der Hegelschen Philosophie in die Marxsche Gesellschaft stheorie zwar aufgenommen und von ihr fortgesetzt. Hegel ist aus der Sicht Marcuses jedoch der »letzte« gewesen, der die »Welt als Vernunft« interpretieren konnte: »Sein System brachte die Philosophie bis zur Schwelle ihrer Negation und bildete daher das einzige Glied zwischen der alten und der neuen kritischen Theorie, zwischen Philosophie und Gesellschaft stheorie«; schon die »innere Entwicklung der abendländischen Philosophie« mache den »Übergang zur kritischen Theorie der Gesellschaft zu einer Notwendigkeit« (VR, 224).
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logie und die Theorie der Geschichtlichkeit verfaßt ist. Marcuse folgt also offensichtlich ebenfalls jenem »ontologischen Bedürfnis«, das Adorno in seiner 1966 erschienenen Negativen Dialektik bei gewissen Zeitgenossen auszumachen glaubte.10 Marcuse selbst behauptet in der Einleitung zu seinem Buch, daß das, »was diese Arbeit zu einer Aufrollung und Klärung der Probleme« beitrage, der »philosophischen Arbeit Martin Heideggers« zu verdanken sei. (HO 8) Es wird jedoch sehr schnell ebenfalls deutlich, daß dieses vordergründige Bekenntnis zu Heidegger, dessen Philosophie wesentlich Marcuses Programm zu bestimmen scheint, wenn er sich vornimmt, die »Geschichte als eine Weise des Seins« zu untersuchen, und dieses ›Sein‹ wiederum »auf sein Geschehen, auf seine Bewegtheit zu befragen« (HO 1), sich letztlich gegen Heidegger selbst richtet, indem die von Heidegger betonte, unhintergehbare Differenz zwischen Sein und Seiendem von Marcuse mit Hegel tendenziell zurückgenommen wird. Dessen Bestimmung des Absoluten als ein »negatives Absolutes« gehe zwar zunächst auch dahin, das Absolute als die Negation eines jeweiligen Seienden zu verstehen; jedoch erweise sich dieses Absolute auch als die »jedes einzelne Seiende umgreifende Einheit und Totalität des Seins«, aus »der heraus erst jedes Seiende als dies Bestimmte bestimmt werden kann«, weshalb es auch »Grund und Boden jeder Relation« ist. (HO 12) Deutlicher wird die Tendenz zur Überwindung der »ontologischen Differenz« in der Hegel-Interpretation Marcuses, wenn nachfolgend die Aufgabe der Philosophie grundsätzlicher als die Wiederherstellung der Totalität bestimmt wird, in der die »Welt der Entzweiung« aus sich selbst heraus ihren Untergang fi ndet. (HO 13) Von der Philosophie Heideggers ist im Zusammenhang mit diesem Vorhaben nicht mehr die Rede – und das wird letztlich auch in den weiteren Werken Marcuses so bleiben.11 Daß dagegen Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt/ M. 2003, 69–103. Adorno wendet sich hier bekanntlich gegen Heidegger; inwiefern er, indem er den letzteren massiv kritisiert, auch seinen Kollegen Marcuse trifft , wäre zu überprüfen, jedoch müßte Adornos Kritik – »in all ihren einander sich befehdenden und sich gegenseitig als falsche Version ausschließenden Richtungen ist Ontologie apologetisch« (ebd., 69) – sowohl für die Bemühungen Marcuses wie für diejenigen von Nicolai Hartmann und Georg Lukács genauso zutreffen, wie die Behauptungen: »Ontologie möchte, aus dem Geist heraus, die durch den Geist gesprengte Ordnung samt ihrer Autorität wiederherstellen« (ebd., 94) und: »Das Bedürfnis nach Halt, nach dem vermeintlich Substantiellen ist nicht derart substantiell, wie seine Selbstgerechtigkeit es möchte; vielmehr Signatur der Schwäche des Ichs, der Psychologie bekannt als gegenwärtig typische Beschädigung der Menschen« (ebd., 102). 11 Hinsichtlich des möglichen Einflusses Heideggers auf das Denken Marcuses in dessen Aufsätzen während der 20er-Jahre vgl. Alfred Schmidt: »Existential-Ontologie und historischer Materialismus bei Herbert Marcuse«, in: Jürgen Habermas 10
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die zunehmende Orientierung an Marx bereits in Hegels Ontologie Spuren hinterläßt, daß es sich bei der zu kritisierenden »Welt der Entzweiung« um die durch den Kapitalismus geprägte Welt handelt, wird unten näher erläutert werden. Die Motivation der Arbeit Marcuses besteht nach eigener Aussage also zunächst darin, das »Geschehen des Seins überhaupt als ›lebendige‹ Bewegtheit« (HO 3) zu begreifen. Der Anlaß, sich in diesem Zusammenhang mit Hegel auseinanderzusetzen, besteht für ihn darin, daß Hegel in der Auseinandersetzung mit Kant einen »neuen Seinsbegriff« herausgearbeitet habe, demzufolge der »Grundsinn von Sein« die ursprüngliche Einheit der Gegensätze von ›Subjektivität‹ und ›Objektivität‹ sei, diese Einheit von Hegel als »einigende Einheit gefaßt und als das Geschehen des Seienden selbst begriffen« werde. (HO 5) »Totalität« wird in diesem Zusammenhang also als »einigende Einheit« und nicht als dem hier wie später kritisierten »positiven« Denken des »eindimensionalen Menschen« zugehörig – und auf diese Weise diskreditiert – zurückgewiesen.
(Hg.): Antworten auf Herbert Marcuse, Frankfurt/M. 1968, 17–49. Schmidt bezieht sich in erster Linie auf die Aufsätze: Beiträge zu einer Phänomenologie des Historischen Materialismus, Über konkrete Philosophie, Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus und Über die philosophischen Grundlagen des wirtschaft swissenschaftlichen Arbeitsbegriff s (veröffentlicht zwischen 1928 und 1933; wiederveröffentlicht in Schriften, Bd. 1: Der deutsche Künstlerroman. Frühe Aufsätze, Springe 2004). Für Schmidt gilt hinsichtlich der genannten Studien, was demnach auch für Hegels Ontologie zutreffe, nämlich, daß der »Boden, auf dem existentialontologische und marxistische Tendenzen sich in Marcuses Philosophie aneinander abarbeiten, […] die Theorie der Geschichte« sei. Inwiefern für diesen Aspekt, wie er in Hegels Ontologie diskutiert wird, der Einfluß des Heideggerschen Verständnisses von ›Geschichtlichkeit‹ wichtig ist, muß an anderer Stelle diskutiert werden; Resultat der vorliegenden Untersuchung ist jedoch zunächst, daß für Marcuse die Struktur der Hegelschen Logik für sich selbst spricht und nicht nach der Verbindung zur Perspektive Heideggers verlangt. Folgt man Rolf Wiggershaus (Die Frankfurter Schule, a. a. O., 119 f.), so war Marcuses Vorstellung von Heidegger die, daß dessen Werk den Punkt verkörpere, an dem die »›bürgerliche Philosophie‹ von innen her transzendiert wurde in Richtung auf die neue, die ›konkrete Philosophie‹«. Was Marcuse an Heidegger kritisiert habe, und zwar »von Anfang an«, sei demnach die Tatsache, daß Heidegger nicht unter »Hineinnahme des Heute und seiner Situation« die wirklich entscheidenden Fragen behandelt habe: »Was ist konkret eigentliche Existenz? Wie ist und ist überhaupt konkret eigentliche Existenz möglich?« sowie, daß Heidegger weiterhin nicht auf die »konkreten geschichtlichen Bedingungen, unter denen ein konkretes Dasein existiert« eingegangen sei, daß er weiterhin auf das einsame Dasein zurückverweise, statt zur Entschlossenheit der Tat voranzuschreiten. (Marcuse-Zitate aus Beiträge zu einer Phänomenologie des Historischen Materialismus (Schriften, Bd. 1, Springe 2004), 364 f.).
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Mit seinem Verständnis des Absoluten sei es Hegel eben nicht darum zu tun, »die Gegensätze auszustreichen und zu nivellieren«, sondern das Absolute umgekehrt auch als eine sich »notwendig entzweiende« Einheit zu denken.12 Hegels Verständnis des Absoluten im gerade skizzierten Sinne ist für Marcuse deshalb so wichtig, weil er es als den einzigartigen Versuch ansieht, jene »Welt der Beruhigung« (HO 10) aufzubrechen, die jedoch gerade nicht dadurch eine Welt der Beruhigung sei, daß sie durch den Gedanken der Totalität geprägt ist, sondern im Gegenteil durch ein Denken in Gegensätzen, den Gegensätzen von Vernunft und Sinnlichkeit, Intelligenz und Natur und durch den für Marcuse entscheidenden Gegensatz von »absoluter Subjektivität und absoluter Objektivität«. (Ebd.) Gerade das Denken der Beruhigung, welches ein jeweils begegnendes Seiendes als ein »so und so bestimmtes Positives« akzeptiere, schließe das Negative von sich aus, nicht jedoch das Denken der Totalität im Sinne Hegels, das allein deutlich mache, daß das vorschnell ausgeschlossene Negative im Gegenteil »zu dem Sein des Positiven selbst gehört«, weshalb jedes Seiende auch ein »bedingtes und bedingendes« sei. (HO 11) Indem von Hegel »Bewegtheit als Grundcharakter des Seins« erkannt wurde, habe dieser bereits die Tradition der Zweiheit von Subjektivität und Objektivität von Descartes bis Kant überwunden, in welcher der »Vorrang der Subjektivität« dazu geführt habe, die »Geschichtlichkeit als Seinsweise der Subjektivität entweder ganz zu übersehen oder sie im Gegensatz zur Seinsweise der Objektivität zu bestimmen.« (HO 7) 13 In der über Kant Brunkhorst/Koch weisen in diesem Zusammenhang mit Recht darauf hin, daß Marcuse »schon früh aus dem intensiven Studium der idealistischen Denkbewegung von Hegel bis zum jungen Lukács gelernt« habe, daß nämlich »die Differenzierungen der Moderne, daß Entzweiung und Entfremdung nicht nur Verlust des Ursprungs und der Einheit sind, sondern eben auch der Fortschritt, angesichts dessen der Rückgang in unvermittelte Einheit der Rückfall in Barbarei wäre. Das hat er später gegen allzu rousseauistisch gesonnene Rebellen der sechziger Jahre wie auch gegen frühe Poststrukturalisten und Subkulturtheoretiker […] immer wieder geltend gemacht« (Brunkhorst/Koch, a. a. O., 13). 13 Interessant wäre in diesem Zusammenhang der Vergleich der Problemstellung Marcuses mit der Begründung, die Georg Lukács für sein Projekt der Ontologie des gesellschaftlichen Seins liefert, der hier jedoch nicht geleistet werden kann. Interessant wäre darüber hinaus auch der Vergleich der beiden Interpretationen der Hegelschen Philosophie durch Lukács und Marcuse. Vgl. Georg Lukács: Werke, Bd. 13/14: Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, Darmstadt und Neuwied 1984/1986. Zur Lukácsschen Konzeption einer marxistischen Ethik, die den hier dargestellten Bemühungen von Marcuse grundsätzlich verwandt ist, vgl. Britta Caspers: »Bemerkungen zu Lukács’ Konzeption einer marxistischen Ethik«, in: Christoph J. Bauer, dies. u. Werner Jung (Hg.): Georg Lukács – Kritiker der unreinen Vernunft , Duisburg 2010, 161–182. 12
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hinausführenden Aufnahme von dessen ursprünglicher synthetischer Einheit der Apperzeption gehe Hegel davon aus, daß jedes Gegebene unter der Einheit von Denken und Sein stehe, und diese Einheit demzufolge keine nachträgliche erkenntnißmäßige Einigung von ursprünglich Getrenntem sei. Vielmehr sei, indem auf diese Weise Denken und Sein sich einen, überhaupt erst das Denkende und Seiende in seiner Wahrheit, sei das ›Subjektive‹ erst Subjektives und das ›Objektive‹ erst Objektives. (HO 31) Einheit sei so nur im »Geschehen einer Synthesis«, in welcher zugleich die Differenz ist. Aus Hegels Sicht habe Kant, indem er die Synthesis als »›leere Identität‹ des reinen Ich-denke« genommen habe, die Möglichkeit verschenkt, diese als ontologisches ›Prinzip‹ einer absoluten Synthesis zu denken, durch welche aber »jedes Seiende erst als Seiendes ist«. (HO 37) Für Hegel sei es dagegen so, daß nur weil »die reine Wesenheit des Seienden« nichts anderes sei als die geschehende Synthesis des Einen und Mannigfaltigen, auch die »Synthesis des urteilenden menschlichen Subjekts a priori die Wahrheit des Seins zum Ausdruck bringen« könne. Die ›Welt‹ sei insofern nicht Gegenstand des menschlichen Ich, »nichts ihm seinsmäßig entgegen-stehendes, – sondern sie ›gehört‹ ganz ursprünglich zu seinem Sein, als die Negativität, durch die es allein erst Positivität ist, als die Mannigfaltigkeit, durch deren Synthesis es überhaupt erst ist, – wie alles Seiende erst durch solche Synthesis ist.« (HO 41) Marcuse betont in diesem Zusammenhang ausdrücklich, daß, wenn sich Seiendes als ›objektive Welt‹ oder auch das ›subjektive Ich‹ des Menschen aus der Totalität des Prinzips als Ursprung sondert, mit diesem Prinzip »natürlich kein dem Sein transzendenter Grund gemeint«, der Ursprung vielmehr »das Sein selbst des Seienden« sei, »wodurch es allein ist«. (HO 42) 14 Das Sein in seiner »einfachen Einheit« als »Sichselbstgleichheit im Anderssein« trage in sich auf diese Weise den »absoluten Unterschied«, habe also von daher immer schon den »fundamentalen Charakter«, in sich zwiespältig, gebrochen zu sein. (HO 47) Alles Seiende ist demzufolge nicht einfach, sondern müsse sich im Anderssein »bewähren und behaupten«, d. h. sein Sein »gegen die Negativität herausstellen, darstellen, offenbaren«, d. h. sich selbst hervorbringen oder »manifestieren«: »Die absolute Differenz des Seins ist also zugleich Grund und Boden seiner Konkretion«, es sei
Vgl. Marcuses Bestimmung des Begriff s ›Transzendenz‹ im Eindimensionalen Menschen: Demnach werden die Ausdrücke ›transzendieren‹ und ›Transzendenz‹ von ihm »durchweg im empirischen, kritischen Sinne verwandt: sie bezeichnen Tendenzen in Theorie und Praxis, die in einer gegebenen Gesellschaft über das etablierte Universum von Sprechen und Handeln in Richtung auf seine geschichtlichen Alternativen (realen Möglichkeiten) ›hinausschießen‹« (EM, 13, FN 1). 14
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lebendig insofern, als es erst zum Sein werde: Und in diesem Zusammenhang zitiert Marcuse nun jene Formulierung Hegels aus der Urteilslehre, deren Bedeutung für sein Denken noch in den oben genannten Stellen des Eindimensionalen Menschen offenkundig wird: »Es ist aber die Wahrheit [der Sache, HM], daß sie in sich gebrochen ist in ihr Sollen und ihr Seyn; diß ist das absolute Urtheil über alle Wirklichkeit.«15 Wie später im Eindimensionalen Menschen, nun aber in direkter Bezugnahme auf Hegel, hebt er diesen Aspekt der Hegelschen Urteilslehre in ihrer Bedeutung für sein eigenes Projekt hervor, hier allerdings zunächst mit dem Argument, nur sie ermögliche es, ›Sein‹ als ›Bewegtheit‹ zu fassen. In der Folge beschäft igt sich Marcuse zuerst mit den seinslogischen Aspekten der Bestimmung eines jeweiligen Seienden, mit der Intention, den Charakter der »negativen Einheit« des Seienden herauszuarbeiten, das Realität nur habe, indem es negiert werde und in diesen Negationsverhältnissen die mit dem Hinweis auf Hegels Urteilslehre angedeutete »innere Zwiespältigkeit seines Daseins« (HO 53) austrage. Ziel dieser Darstellung ist es – was ja durchaus auch mit der Programmatik Heideggers in Einklang steht – einen radikalen Begriff der Endlichkeit zu gewinnen, wonach die endlichen Dinge zwar sind, ihre Wahrheit aber ihr Ende sei, was – so läßt sich folgern – entsprechend auch für alle gesellschaft lichen Verhältnisse gelten müßte. (HO 62) Entscheidend ist für Marcuse in diesem Zusammenhang, daß es in dieser Bestimmung der Endlichkeit »nicht mehr nur um die ›kritische‹ Endlichkeit menschlicher Erkenntnis oder des menschlichen Daseins etwa gegenüber der Unendlichkeit des intuitus originarius, Gottes« gehe, sondern um die Endlichkeit des Seienden überhaupt. (HO 63) Durch Hegel werde der Begriff der Endlichkeit zum erstenmal »herausgenommen aus der theologischen Tradition und auf den Boden der rein philosophischen Ontologie gestellt«, womit die Endlichkeit nunmehr »überhaupt kein Gegenüber« mehr habe. Auf diese Weise habe Hegel (und nicht etwa Heidegger) aber eine »völlig neue Dimension aufgebrochen: die universale Geschichtlichkeit des Seienden.« (Ebd.) Das hier beschriebene Geschehen des endlichen Seienden sei diesem insofern vollständig immanent. Aus dieser radikal immanenten Bestimmung des Endlichen lasse sich nun »formal-dialektisch« die Konsequenz ziehen, daß jedes Endliche prozeßhaft über sich selbst hinausgehen, d. h. sein Anderes werden müsse, welches aber die Unendlichkeit sei: Die Endlichkeit sei von daher »an sich selbst und ineins mit ihrer Endlichkeit Unendlichkeit.« (HO 64) Erneut Hegel: GW 12, 88; Marcuse zitiert (HO, 50) nach der durch Georg Lasson besorgten Ausgabe der Logik von 1923, 306 f. 15
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fi ndet sich nun eine Bezugnahme auf das hier im Blickpunkt stehende Verhältnis von ›Sein‹ und ›Sollen‹, wie es von Hegel in seiner Urteilslehre bestimmt wird, und zwar insofern Marcuse behauptet, daß es das Sein des endlichen Seienden ausmache, »sein Ansichsein als Selbst-Bestimmung, seine Selbst-Bestimmung als Sollen zu haben«. Mit der Bestimmung des ›Sollens‹ als »ontologischem Charakter des endlichen Seienden« habe Hegel den Begriff des Sollens aus der »geschichtslosen Sphäre der kantischen Pfl ichtethik« hinübergenommen »in den Boden des konkreten Geschehens.« (HO 65) In welcher Weise sich diese Behauptung anhand des Hegelschen Textes verifi zieren läßt, bleibt an dieser Stelle allerdings weiterhin offen. Mit der Bestimmung der »Wahrheit« (HO 67) des endlichen Seienden als Unendlichkeit gewinnt Marcuse jedoch zunächst wiederum ein für ihn entscheidendes Argument gegen jene Sichtweise, welche er im Eindimensionalen Menschen zum Zielpunkt seiner Kritik macht: Wohl sei das Sein des Endlichen in seinem Hinausgehen über sich selbst Vergehen, jedoch verschwinde das Endliche auf diese Weise nicht, sondern komme in diesem Vergehen gerade zu sich selbst, wohingegen das »isoliert genommene, fixierte, einzelne Seiende«, der Gegenstand des im Eindimensionalen Menschen beschriebenen ›eindimensionalen‹ Denkens, allerdings vergehe. (HO 65) In der sich nun anschließenden Interpretation der Wesenslogik als der Lehre von der »gegenwärtigen Gewesenheit«, welche der eigentliche systematische Ort sei, an dem die »Entdeckung der Geschichtlichkeit des Seienden ihre Aufbewahrung in der ›Logik‹ gefunden« (HO 79) habe, die sich durch die zweidimensionale Differenz von »Gewesenheit und Gegenwärtigkeit, Wesen und Dasein, ansichseiender und erscheinender Welt« (ebd.) auszeichne, werde offenkundig, daß sich in dieser »dimensionalen Zwiespältigkeit« nunmehr die wesenslogische Bewegtheit als der »wesentliche Grund und die wesentliche Einheit des Seienden« konstituiere. (HO 80) Die Bestimmung des Wesens als Identität verlaufe nur »durch und im Aufheben und Setzen ihres Negativen« (HO 86), das Wesen werde erst durch die Negation real. Die Vermittlung des Wesens mit sich selbst sei insofern »reale Vermittlung«, das »Begründen und Geschehenlassen […] des real existierenden Dinges«. (HO 88) Indem sich aber gemäß der Analyse der Wesenslogik zeige, daß ein Ding nur in seinen wechselnden Eigenschaften existiert, werde auch in diesem Zusammenhang erneut die Unhaltbarkeit jener erkenntnistheoretischen Positionen bestätigt, auf die Marcuse kritisch abzielt, welche nämlich darauf ausgehen, ein bestimmtes »Einzelding als wesenhafte in sich gegründete Einheit im Strom des Geschehens zu fi xieren.« (HO 93) Ein solches Ding löse sich jedoch, wie sich bereits – folgt man der Interpretation Marcuses – in der Seinslogik gezeigt hatte (HO 65),
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auf. Jedes existierende Seiende erweise sich vielmehr als ein Vermitteltes, stehe in der Totalität universaler d. h. unendlicher Vermittlung. Was Marcuse unter »Zweidimensionalität« versteht, wird in der Darstellung der »dimensionalen Zwiespältigkeit« des Wesens zunehmend deutlich. Wenn es jedoch in dieser Hinsicht aus einer bestimmten Perspektive so aussähe, als treibe die Wirklichkeit »sich blind in einer unendlichen Reihe von Zufälligkeiten« (HO 107) herum, so sei darauf zu verweisen, daß diese vordergründige »unendliche Reihe von Zufälligkeiten« in Wahrheit aus dem Zusammenhang aller realen Möglichkeiten einer Sache bestehe. Insofern konstituiere sich in der Bewegtheit aller Zufälligkeiten die Wirklichkeit als Notwendigkeit. Das Wesen der unmittelbar vorfi ndlichen Wirklichkeit bestehe somit darin, in den in ihm angelegten Möglichkeiten über sich hinauszuweisen. In diesem Prozeß werde die so aufgehobene Wirklichkeit nicht eine wesentlich andere, sondern es sei nur »die eigene Wesentlichkeit der aufgehobenen Wirklichkeit, die sich in der neuen realisiert.« (HO 108) ›Wirklichkeit‹ wird also als Prozeß der notwendigen Realisation der eigenen Möglichkeiten eines jeweiligen Seienden verstanden, jedoch sei die »Notwendigkeit der Bewegtheit des Wirklichen« aufgrund der Zufälligkeit der jeweiligen faktischen Unmittelbarkeit nur eine »relative«. (HO 109) ›Zufälligkeit‹ ist für Marcuse von daher nicht etwas, das als Argument gegen die Notwendigkeit der hier dargestellten Bewegung, der das Seiende unterworfen ist, genannt werden kann; vielmehr sei ›Zufälligkeit‹ gerade der »letzte und tiefste Charakter allen Seins«, des Seins aller endlichen Dinge. Wirklichkeit könne nur dann ›absolut‹ sein, »nur dann als Wirklichkeit Notwendigkeit sein, wenn sie auch die Zufälligkeit als Notwendigkeit realisiert hat.« (HO 110) Mit der »Bestimmung des Wirklichen als Substanz« sei nun aber die von Anfang an »im Blick stehende wahre ›Einheit‹ des Seienden in der Bewegtheit des Seins gewonnen«, eine Einheit der Negativität, als ein »Sich-selbst-gleich-sein im Anderssein«. (Ebd.) Das Wirkliche sei nun bereits als substantielles Verhältnis »Ursache seiner selbst« (HO 123), jedoch müsse sich die Wirklichkeit insofern vollenden, als sie Subjekt, d. h. begreifendes Sein werden müsse. Das Besondere der Hegelschen Konstruktion der Logik bestehe nun darin, daß die Objektivität von Hegel selbst als ›Subjekt‹ angesetzt werde, »als ein Seiendes, dessen Sein Sich-verhalten im An- und Fürsichsein ist.« (HO 127) Begreifen sei so »das eigene Tun und Wesen der Objektivität selbst«, und das Begreifen des menschlichen Bewußtseins und seine Begriffe können nur deshalb wahr sein, d. h. das Wesen der Objektivität treffen, weil das Begreifen das eigene Wesen der Objektivität ausmache (HO 133), womit Marcuse den Übergang zur »subjektiven Logik« bzw. zur »Lehre vom Begriff« und damit zu dem für die
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hier angesprochene Argumentation zentralen Abschnitt der Hegelschen Urteilslehre vollzieht.
III. Wiederum ohne den Namen Hegel zu nennen, defi niert Marcuse im Eindimensionalen Menschen den ›Begriff‹ folgendermaßen: »›Begriff‹ soll die geistige Vorstellung von etwas bezeichnen, das als Ergebnis eines Reflexionsprozesses verstanden, erfaßt und gewußt wird. Dieses Etwas kann ein Gegenstand der täglichen Praxis oder eine Situation sein, eine Gesellschaft , ein Roman. Wenn sie begriffen, auf ihren Begriff gebracht sind, sind sie auf jeden Fall Gegenstände des Denkens geworden, und damit sind ihr Inhalt und ihre Bedeutung identisch mit den realen Gegenständen der unmittelbaren Erfahrung und doch von diesen verschieden. ›Identisch‹ insofern, als der Begriff dasselbe Ding bezeichnet, ›verschieden‹ insofern, als er das Ergebnis einer Reflexion ist, die das Ding im Zusammenhang (und im Licht) anderer Dinge verstanden hat, die in der unmittelbaren Erfahrung nicht erschienen und die das Ding ›erklären‹ (Vermittlung). […] Dementsprechend bedeuten alle Begriffe der Erkenntnis ein Übergehen: sie gehen über die deskriptive Bezogenheit auf besondere Tatsachen hinaus. Und wenn die Tatsachen solche der Gesellschaft sind, dann gehen die Begriffe der Erkenntnis auch über jeden besonderen Zusammenhang von Tatsachen hinaus – in die Prozesse und Verhältnisse hinein, auf denen die jeweilige Gesellschaft beruht und die in alle besonderen Tatsachen eingehen und dabei die Gesellschaft konstituieren, erhalten und zerstören.« (EM 124f.) In der Interpretation der Hegelschen Urteilslehre arbeitet Marcuse nun jene Aspekte heraus, deren Bedeutung für seinen eigenen Ansatz sich bereits in der Interpretation der objektiven Logik gezeigt hat. Er bezieht sich hier auf Aspekte, die auch aus anderer Perspektive verschiedentlich als Kern der Hegelschen Philosophie oder gar als »zweite Revolution der Denkungsart« bezeichnet wurden.16 Entscheidend an der Hegelschen Philosophie ist Marcuse zufolge zunächst, daß hier ›Objektivität‹ nicht als ein Von der »zweiten Revolution der Denkungsart« spricht Bruno Liebrucks. Zitiert nach Thomas Sören Hoff mann: »Hegels Urteilstafel«, in: Max Gottschlich u. Michael Wladika (Hg.): Dialektische Logik. Hegels ›Wissenschaft der Logik‹ und ihre realphilosophischen Wirklichkeitsweisen, Würzburg 2005, 73. 16
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vom Subjekt nur Gedachtes verstanden werde, sondern das »Ansich der Dinge und des Gegenständlichen überhaupt« meine, weshalb ›objektive‹ Bestimmungen von Hegel als Bestimmungen der »Sache selbst« verstanden würden.17 Hegel mache diesbezüglich gegen Kant geltend, daß die dem Begriff »vorausgesetzten Stufen« nicht die »erkenntnismäßig-psychologischen« des Gefühls, der Anschauung und der Vorstellung sind, sondern – wie Marcuse selbst in Hegels Ontologie darzustellen gedachte – die »ontologischen Stufen« Sein und Wesen. (HO 134) 18 Der Begriff sei auf diese Weise ineins ›Grund‹ und ›Wahrheit‹ des Seins und Wesens. Im konkreten Falle sei der Begriff aber auch ein »konkret geschichtlicher Sachverhalt« (HO 135), in welchem die Einheit von Allgemeinem und Besonderem im jeweils Einzelnen präsent sei. Auf diese Weise sei der Begriff aber »wesentlich negative Einheit«. (HO 137) Er habe »Prinzip-Charakter«, indem er »Prinzip seiner Unterschiede« sei; seine Allgemeinheit stelle im Verhältnis zu ihren Einzelheiten insofern wiederum ein »Geschehen« dar, in welchem das Prinzip sich realisiere bzw. das Allgemeine sich besondere. (HO 138) Das sich realisierende Allgemeine wird von Hegel bekanntlich als Gattung gefaßt, und die »lebendige Bewegtheit« der Realisierung dieses Allgemeinen entspreche demnach dem von Hegel verwendeten Begriff der genesis. Die Allgemeinheit des Begriffs sei insofern in ihren Einzelheiten wirklich, die doch zugleich niemals das Wesen der Allgemeinheit erschöpfen, vielmehr immer nur eine Besonderung, Beschränkung, Negation derselben seien. (HO 139) Die Negation des Begriffs vollziehe sich wiederum als »Ur-Teilung des Seienden« (HO 140), als »Verendlichung« (HO 141), worin sich der Begriff verliere, aber so, daß »er gerade in diesem Verlust erst bei sich selbst ist«. (Ebd.) 19 Da der Begriff nur in der Vereinzelung existiere, könne er Wirklichkeit nur erlangen, indem er sich verliert, d. h. verendlicht. (HO 142) Für Marcuse gehört diese aus seiner Sicht »erste ontologische Urteilstheorie« deshalb zu den »Kernstücken« der Hegelschen Logik, weil nur bei Hegel deutlich werde, daß jedes »echte Urteil« die »absolute HO, 133; Marcuse bezieht sich hier auf den 2. Zusatz zu § 41 der Hegelschen Enzyklopäde der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). 18 Marcuse unterläßt es aber, darauf hinzuweisen, daß die Momente von ›Anschauung‹ und ›Vorstellung‹ von Hegel dem Subjektiven Geist zugeordnet werden und hier dem ›Denken‹ vorangehen. Inwiefern diese Momente des Geistes auf die drei Bereiche der Logik bezogen werden können, muß allerdings an anderer Stelle diskutiert werden. 19 Hinsichtlich des Verhältnisses der Hegelschen Urteilstheorie zu Hölderlins Rede von der »Ur-teilung« vgl. Rainer Schäfer: »Hegels identitätstheoretische Deutung des Urteils«, in: Andreas Arndt, Christian Iber u. Günter Kruck (Hg.): Hegels Lehre vom Begriff, Urteil und Schluß, Berlin 2006, 48–68. 17
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Differenz des Seins im Blick« hat. Nur die Hegelsche Urteilstheorie gehe »nicht auf das Urteil als Denk- oder Erkenntnisform bzw. als logisches Gebilde«, vielmehr werde das Urteil hier als »Grundphaenomen des Seins selbst« genommen. (HO 141) Warum dieses »Kernstück« der Hegelschen Philosophie auch zum »Kernstück« seiner eigenen Theorie werden konnte, die sich in der eingangs zitierten Rede vom Verhältnis von ›Sein‹ und ›Sollen‹ im Eindimensionalen Menschen artikuliert, deutet sich in der Darstellung der Hegelschen Urteilslehre bereits an, wird aber noch nicht in vollem Umfang offenbar: Indem mit Hegel erstmals verstanden wurde, daß »jedes echte Urteil« die »absolute Differenz des Seins im Blick« habe (HO 143), sei auch deutlich geworden, daß jedes »echte Urteil« entsprechend ein »Messen« sei: Es messe nämlich – wie Hegel gezeigt habe – das »Daseiende an seinem Ansichsein« (HO 144), es beurteile den Sachverhalt des »Entsprechens oder Nicht-Entsprechens« (ebd.) 20 bzw. »Angemessenoder Unangemessen-seins« (ebd.) 21 jedes Seienden, es verstehe das Sein als ein »Sollen«, das den Maßstab für das jeweilige Seiende abgebe. Die »echten« Prädikate des Urteils seien daher, wie Marcuse – Hegel zitierend – schreibt, »gut, schlecht, wahr, schön, richtig usf.«, weil nur solche Urteile ausdrücken, daß die »Sache an ihrem allgemeinen Begriffe, als dem schlechthin vorausgesetzten Sollen gemessen und in Uebereinstimmung mit demselben ist oder nicht«. (GW 12, 84 22) Marcuse weist die Redeweise vom Sachverhalt des »Entsprechens oder NichtEntsprechens« als Zitat aus der durch Georg Lasson besorgten Ausgabe der Logik aus. Jedoch fi ndet sich in dem entsprechenden Abschnitt über das »apodiktische Urteil« diese Formulierung so nicht, wenngleich sachlich richtig ist, daß es sich beim apodiktischen Urteil um ein Urteil handelt, das darüber befi ndet, ob »das Subject seinem Begriffe entspricht oder nicht« (GW 12, 88; vgl. Hegel: Wissenschaft der Logik, hrsg. v. Georg Lasson, Zweiter Teil, Leipzig 1923, 306). 21 Entsprechend der Redeweise vom »Entsprechen oder Nicht-Entsprechen« fi ndet sich auch die Redeweise vom Sachverhalt des »Angemessen- oder Unangemessen-seins« bei Hegel so nicht. Die vollständige Passage, auf die Marcuse sich hier bezieht, zitiert er selbst dann auf der gleichen Seite (HO, 144) weiter unten. Hegel sagt hier bezogen auf das »assertorische Urteil«: »Das Subject ist ein conretes Einzelnes überhaupt. Das Prädicat drückt dasselbe als die Beziehung seiner Wirklichkeit, Bestimmtheit oder Beschaffenheit, auf seinen Begriff aus. (Diß Haus ist schlecht, diese Handlung ist gut.) Näher enthält es also, a) daß das Subject etwas seyn soll; seine allgemeine Natur hat sich als der selbstständige Begriff gesetzt; b) die Besonderheit, welche nicht nur um ihrer Unmittelbarkeit, sondern um ihrer ausdrücklichen Unterscheidung willen von ihrer selbstständigen allgemeinen Natur, als Beschaff enheit und äußerliche Existenz ist; diese ist um der Selbstständigkeit des Begriff s willen ihrerseits auch gleichgültig gegen das Allgemeine, und kann ihm angemessen oder auch nicht seyn« (GW 12, 85; vgl. Ausgabe Lasson, a. a. O., 303). 22 Die Stelle bei Hegel lautet vollständig: »Solches Urteil [d. h. ein »Urtheil des 20
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Ein jeweiliges »konkretes Daseiendes« kann also seinem Ansichsein angemessen sein oder auch nicht. Dies »Angemessen-sein-können« deutet für Marcuse aber darauf hin, daß »die Bewegtheit des Begriffs im Urteil noch nicht vollendet ist.« (HO 145) Die »Ur-teilung« sei demnach nicht das »Letzte, Endgültige, sondern von sich aus auf die verlorene Einheit als ihr Sollen angelegt«, weshalb es die »Bewegtheit des Seins« ausmache, »die verlorene Angemessenheit an sein Ansichsein wiederzugewinnen.« (Ebd.) Allerdings muß als ausgesprochen fraglich bezeichnet werden, ob Hegel die Verwirklichung des »Ansichseins« im Sinne eines solchen »Wiedergewinnens« verstanden hat. Warum für Marcuse dieses »Wiedergewinnen« jedoch so wichtig ist, wird im nächsten Abschnitt deutlich. Doch zunächst zurück zu Marcuses Interpretation der Hegelschen Urteilslehre. Für Marcuse kommt es darauf an, deutlich zu machen, daß es durchaus richtig sei, wenn Hegel sagt, die Wahrheit einer Sache bestehe darin, daß »sie in sich gebrochen ist in ihr Sollen und Seyn« (welches das »absolute Urtheil über alle Wirklichkeit« (GW 12, 88) sei), jedoch sei auf der anderen Seite ebenso zu betonen, daß in der Beziehung von ›Sollen‹ und ›Sein‹ weder das jeweilige Seiende auseinanderfalle (vielmehr mache diese Beziehung gerade die Konkretion des Seienden aus (HO 147)), noch daß es sich bei dem ›Sein‹ als ›Sollen‹ um eine »jenseits des Seienden aufgerichtete Norm« handele (vielmehr handele es sich um eine »im Sein des Seienden selbst liegende ›Bestimmung‹« (Ebd.)). Insofern sei der Begriff aber nicht nur in sich selbst das Urteil, die Differenz, sondern auch »die im Urteil immer schon mitgemeinte Einheit, […] die vermittelnde Mitte, die die ur-geteilten Extreme der Differenz […] vermittelt, zusammenhält, zusammenschließt«, weshalb sich das »Urteil des Wirklichen erst im Schluß erfülle«. 23 Hier erst werde die »Struktur des Seienden« wieder in Hinsicht auf den Begriff einer Sache »zusammengeschlossen«. (HO 151) Daß die Problematik von Urteil und Schluß sich als Problemstellung in den weiteren Abschnitten der Lehre vom Begriff durchhält, wird Marcuse zufolge spätestens dann deutlich, wenn im Abschnitt über die Teleologie von einer erneuten »Ur-Teilung der Objektivität« die Rede sei, indem mit der Zweckbeziehung einerseits »unmittelbar schon die UnangemessenBegriff s«, CJB] enthält daher erst eine wahrhafte Beurtheilung; die Prädicate gut, schlecht, wahr, schön, richtig u. s. f. drücken aus, daß die Sache an ihrem allgemeinen Begriffe, als dem schlechthin vorausgesetzten Sollen gemessen, und in Uebereinstimmung mit demselben ist, oder nicht« (vgl. Ausgabe Lasson, a. a. O., 302). 23 Analog beurteilt auch Friedrike Schick die Hegelsche Konstruktion, derzufolge die Schlußlehre notwendige Folge der Urteilslehre ist. Friedrike Schick: »Die Urteilslehre«, in: A. F. Koch u. dies. (Hg.): G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik, Berlin 2002, 222.
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heit des jeweiligen Daseins gegenüber dem Zweck gesetzt« sei (HO 159), andererseits die »wahre Zweckbeziehung« durchaus als eine Bestimmung dem Seienden selbst zugewiesen werde. (HO 160) Wenngleich sich aus der Bestimmung des Zweckverhältnisses innerhalb der Objektivität ableiten lasse, daß »innerhalb der Objektivität streng genommen eine Realisierung des Zweckes gar nicht möglich ist, daß eigentlich alle Objekte nur Mittel, nur in der Aufreibung da sind« (HO 161), so existiere durch die »Ur-Teilung der Objektivität in Mittel und Zweck das freie Fürsichsein der Subjektivität« gemäß Hegels eigener Formulierung nicht mehr nur als »Sollen und Streben«, sondern als »concrete Totalität«, und insofern als identisch mit der »unmittelbaren Objectivität.« (GW 12, 172; vgl. Ausgabe Lasson 405) Das Verhältnis von Objekt und Zweck stellt sich als ein »in sich geschlossener Bewegungszusammenhang« dar, als »konkrete Totalität«, in welcher der Zweck einerseits immer noch jenseits des Objekts liege und andererseits immer schon im jeweiligen Objekt realisiert sei. Auf diese Weise zeige sich, daß das ›Sollen‹ sich bereits in der Verwendung von Mitteln zur Realisation von Zwecken in der Sphäre der Objektivität tendenziell verwirklicht. 24 Wenn Hegel in der folgenden Bestimmung der »Idee« als der »freien und wahren Realität des Begriffs« nachzuweisen gedenke, daß diese auch »Objektivität, Äußerlichkeit« d. h. Existenz habe, so sei demgegenüber hervorzuheben, daß Sein auf diese Weise »die Bedeutung der Wahrheit erreicht« habe. (GW 12, 175; vgl. Ausgabe Lasson 409) ›Wahrheit‹ sei somit ein »Charakter des Seins« selbst geworden, von daher nicht etwa nur auf der Seite des Erkennens anzusiedeln. (HO 164) Entsprechend sei für Hegel aber auch Wahrheit »ihrem Wesen nach Bewegtheit« (HO 165) und nicht etwas Starres, wie für die später von Marcuse angegriffenen Vertreter des ›eindimensionalen‹ Denkens. Wenn man nun jedoch annehme, daß – entsprechend dem von Marcuse dargestellten Hegelschen Programm – die »Objektivität als die Realität der Idee« immer schon das sei »was sie ›sein soll‹«, ein Schluß, der ja dem gängigen Vorurteil von der Gegenwartsaffi rmation Hegels entspräche, so sei deutlich zu machen, daß die Objektivität gegenüber ihrem Begriff gleichwohl ein »Anderes, Entgegenstehendes, Negatives« bleibe (HO 166), daß auch die Idee nach Hegel nie als »für sich bestehendes Sein«, sondern nur als »Werden« sei. Die Hegelsche Konzeption der ›Idee‹ ist für Marcuse deshalb so wichtig, weil Hegel auch sie als negative Einheit fasse, als »Einheit, die nur in der Zweiheit Einheit sein Von einer Kritik an der »instrumentellen Vernunft«, wie sie von Adorno/ Horkheimer in der Dialektik der Aufk lärung geübt wurde, kann hier noch nicht Rede sein. 24
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kann«. (HO 172) Nur auf der Basis einer solchen Bestimmung von Idee werde aber deutlich, daß ein isoliert betrachtetes ›existierendes Ding‹ niemals Idee sein könne, und daß ›Idee‹ »nicht von dem abstrakten Begriff der formalen Logik her interpretiert werden« dürfe. (Ebd.) Die Idee existiere auf diese Weise aber noch in verschiedenen Gestalten, das »Sein der Idee ist wahr nur auf dem Grunde der Ur-Teilung« (ebd.) ihrer selbst. In der im Anschluß an die Momente der Idee erfolgenden Analyse der »Bewegtheit« der absoluten Idee parallelisiert Marcuse diese mit der Bestimmung des Begriffs der ›Entwicklung‹ in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, die von Hegel dort unter Zugrundelegung der Kategorien energeia und dynamis durchgeführt werde. (HO 196) In der Bewegung, die vom Unmittelbaren ausgehe und sich über die begreifende »negative Beziehung auf sich« vollziehe, werde das Seiende »Subject, Person, Freyes« (GW 12, 246; vgl. Ausgabe Lasson 496f.); die negative Beziehung auf sich werde so zum »Reich der Freiheit«. (HO 200) Das Seiende sei erst jetzt ein »wahrhaft Konkretes« bzw. »wahrhaft Wirkliches« geworden, indem es sich in der »Negativität existierend gesetzt« und so ein Positives geworden ist, das in »allem Anderssein bei sich selbst und […] selbst nur im wirklichen Anderssein« ist. (HO 201) Die Bewegung der Idee – und man kann schließen: auch die Bewegung der Geschichte – vollziehe sich also zwischen Ansichsein (Vermögen, potentia, dynamis) und Fürsichsein (Wirklichkeit, actus, energeia); sie bestehe somit darin, das Mögliche selbst zur Wirklichkeit zu bringen (HO 202), ein Prozeß, der für das »begreifende Sein« entsprechend als »Bewußtwerden« zu beschreiben sei. Gehe man dem Verhältnis zwischen Ansichsein und Fürsichsein nach, so erweise sich ersteres als das »wahrhaft Allgemeine«, da in ihm bereits alle Möglichkeiten der Entwicklung angelegt seien. (HO 204) Den Gründen für diese starke Betonung der Bedeutung des ›Ansich‹, der dynamis, durch Marcuse soll im Folgenden nachgegangen werden.
IV. Aus welchem Grunde – aus welchen Gründen – ist der Abschnitt über das »Urteil des Begriffs« in der Hegelschen Logik aber für Marcuses eigene ›kritische Theorie‹ von Bedeutung? Meiner Auffassung nach lassen sich diesbezüglich zwei Aspekte unterscheiden. Der erste betrifft das aus der Sicht von Marcuse verbreitete – und zu kritisierende – Selbstverständnis der Natur- und Gesellschaftswissenschaften im 19. und 20. Jahrhundert; der zweite hat zu tun mit Marcuses Marx-Rezeption. Doch zunächst zum ersten Aspekt:
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1. Die von Hegel vollzogene »zweite Revolution der Denkungsart« liefert Marcuse die entscheidenden Argumente gegenüber jenen Wissenschaft stheorien, die er unter dem Begriff ›Positivismus‹ zusammenfaßt. Was Marcuse unter ›Positivismus‹ versteht, läßt sich zunächst unter Bezug auf sein zweites Hegel-Buch Vernunft und Revolution rekonstruieren. Hier beschäft igt sich Marcuse unter der Überschrift »Die Grundlagen des Positivismus und die Entstehung der Soziologie« (VR 283) zunächst mit den Positionen Comtes 25 , mit Stahls »positiver Philosophie des Staates« und mit Schellings »positiver Philosophie«. Es erscheint aus seiner Sicht nur auf den ersten Blick widersinnig, Schellings und Stahls »positive Philosophie« mit dem Positivismus Comtes in Verbindung zu bringen, denn letztlich ziele auch Schellings Philosophie auf das »wahrhaft Wirkliche und Existierende ab und behaupte auf Grund dieses Merkmals, ›positiv‹ zu sein.« (ebd.) Darüber hinaus zeige sich dessen spätere Philosophie zunehmend an »Erfahrung« orientiert, wenngleich sich sein Begriff von »Erfahrung« nicht auf die »Fakten des äußeren und inneren Sinnes« beschränken lasse, wohingegen die »positiven« Befunde für Comte eine »Angelegenheit tatsächlicher Beobachtung« gewesen seien. (VR 284) Jedoch sei die Gemeinsamkeit der genannten Ansätze darin zu sehen, daß es sich um eine »bewußte Reaktion gegen die kritischen und zerstörerischen Tendenzen der französischen Aufk lärung« (ebd.) gehandelt habe, zu denen auch die Hegelsche als eine »negative Philosophie« gerechnet werden müsse, deren Kern darin zu sehen sei, daß sie »jegliche widervernünft ige und unvernünft ige Wirklichkeit« verwerfe und auf diese Weise – wie Stahl festgestellt habe – das »Prinzip der Revolution« enthalte. (VR 285) Der ›Positivismus‹ – wie Marcuse ihn versteht – zeichnet sich also nicht allein durch eine bestimmte Erkenntnis- bzw. Wissenschaftstheorie aus, sondern impliziert darüber hinaus eine bestimmte politische Theorie, da durch ihn nicht allein sinnlich wahrnehmbare Gegenstände in ihrem Vorhandensein als Tatsachen »fi xiert« werden, sondern tendenziell auch bestimmte gesellschaft liche bzw. politische Zustände – die bestehende Ordnung. Insofern sei es auch nicht zufällig gewesen, daß Schelling von Friedrich Wilhelm IV. nach Hegels Tod den Auft rag erhielt, »die Drachensaat« des Hegelianismus auszurotten. (Ebd.) 26 Auguste Comte: Cours de la philosophie positive, Paris 1864. In Bd. IV, 267 schlägt Comte vor, den allgemeinen Lehrsatz von der Unwandelbarkeit der Naturgesetze auch auf die Gesellschaft stheorie anzuwenden, um diese von der Theologie und Metaphysik zu befreien und in den Rang einer Wissenschaft zu erheben. (Nach VR, 301) 26 Neben den genannten Positionen beschäft igt sich Marcuse auch mit den französischen Frühsozialisten (Saint-Simon, Fourier, Sismondi, Proudhon), welche in 25
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Im Eindimensionalen Menschen werden die von Marcuse kritisierten Tendenzen in der Wissenschaft in den Kapiteln »Vom negativen zum positiven Denken: technologische Rationalität und die Logik der Herrschaft« und »Der Triumpf des positiven Denkens: eindimensionale Philosophie« (EM 159–213) diskutiert. So habe in der Folge der Wissenschaft sentwicklung in der Moderne die »Quantifi zierung der Natur, die zu ihrer Erklärung in mathematischen Strukturen führt, […] die Wirklichkeit von allen immanenten Zwecken« abgelöst und »folglich das Wahre vom Guten, die Wissenschaft von der Ethik« abgetrennt. Die Welt der »rationalen« Wissenschaften werde in der »eindimensionalen« Gesellschaft als zuständig für die »objektive Realität« verstanden, wohingegen die »Welt der Werte« in den Bereich des Subjektiven verlegt werde. (EM 162f.) Im Bereich der Philosophie verbindet Marcuse »positives Denken« mit der Sprachanalyse, deren »therapeutischer«27 Charakter sich darin zeige, daß sie darauf aus ist, »Denken und Sprache von verwirrenden metaphysischen Begriffen zu heilen«. (EM 184) Sprachanalyse ende auf diese Weise in Affi rmation und erfülle das Programm des »planmäßigen Angriffs auf transzendente, kritische Begriffe«. (EM 104) Durch eine solche Weise der Affi rmation zeichneten sich auch der »therapeutische Empirismus« und der »Operationalismus« aus, die beide letztlich auf eine »unmittelbare Identifi kation von Vernunft und Faktum« (ebd.) abzielten. Das Programm des ›Positivismus‹ dieser Spielart sei 1. auf die »Bestätigung des erkennenden Denkens durch die Erfahrung von Tatsachen« ausgerichtet, 2. durch die »Orientierung des erkennenden Denkens an den Naturwissenschaften als dem Modell für Sicherheit und Exaktheit« und 3. durch den »Glauben, daß der Fortschritt der Erkenntnis von dieser Orientierung abhängt« (EM einer den oben genannten vergleichbaren Weise die »herrschenden sozialen und ökonomischen Verhältnisse […] als die reale Basis des historischen Prozesses« angesehen hätten, oder – wie Sismondi – die »ökonomischen Antagonismen des Kapitalismus« als die »Strukturgesetze der modernen Gesellschaft« (VR, 287). Ausführlicher beschäft igt sich Marcuse anschließend mit den Poitionen Saint-Simons, Comtes und Stahls, um dann die von Lorenz von Stein vorgenommene »Überführung der Dialektik in Soziologie« (VR, 327) bzw. seine Überführung der Dialektik in ein »Ensemble objektiver Gesetze« zu kritisieren, durch die von Stein die »kritischen Elemente der Dialektik« neutralisiert habe (VR, 339). Auf diese Kritik kann hier jedoch nicht eingegangen werden. 27 Vom »therapeutic positivism« spricht B. A. Farrell, der auf diese Weise die Philosophie Wittgensteins und seiner Schule charakterisiert, welche bestimmte philosophische Problemstellungen als allein auf sprachlichen Konfusionen gründend betrachtet haben. Siehe B. A. Farrell: »An appraisal of therapeutic positivism«, in: Mind 55 (1946), 25–48, 133–150. Marcuse nennt im Eindimensionalen Menschen diesen Bezug jedoch nicht.
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186) bestimmt. Es werde durch die Philosophie Wittgensteins gestützt, der versichert habe, daß die Philosophie »alles so läßt, wie es ist« (EM 187), da sie – nach Wittgensteins eigener Aussage – »den täglichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antasten«28 dürfe. In dieser Aussage erkennt Marcuse jedoch die totale »Unterwerfung unter die Herrschaft der etablierten Tatsachen« (EM 192), die er schon bei Schelling, Stahl, Comte u. a. festgestellt hatte. Der mit der Sprachanalyse verbundene ›Neopositivismus‹, »bei all seinem Erforschen, Bloßstellen und Klären von Zweideutigkeiten und Dunkelheiten«, lasse sich jedoch gerade nicht auf jene »große[] und allgemeine[] Zweideutigkeit« ein, durch die das »vorgegebene Universum der Erfahrung« (EM 197) in Wahrheit geprägt sei. Gegenüber einer Behauptung, wie derjenigen des Bischofs Butler, die G.E. Moores Principia Ethica29 ›schmücke‹ – »Alles ist, was es ist und nichts anderes« (Marcuse: »es gibt kein unphilosophischeres Motto« (EM 198)) – sei aber zu betonen, daß die »historische Aufgabe der Philosophie und die philosophische Dimension« gerade in der »intellektuellen Auflösung, ja Zerstörung der gegebenen Tatsachen« bestehe. (EM 199) Nach Maßgabe einer solchen Aufgabenstellung müsse eine »wahrhaft philosophische Bedeutungsanalyse« aber den Bedeutungsdimensionen des individuellen Entwurfs, des vorgegebenen überindividuellen Systems von Ideen, Werten und Zielsetzungen und der jeweiligen Gesellschaft , in der sich bestimmte Begriffe konstituieren, Rechnung tragen, weil »die sprachlichen Ausdrücke an ihnen allen teilhaben«. (EM 211f.) Die hier wiedergegebenen Positionen Marcuses verweisen zum einen auf den sogenannten ›Positivismus‹- bzw. ›Werturteilsstreit‹, der in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Europa und den U.S.A. geführt wurde; zum anderen wird aber deutlich, daß Marcuses spätere Kritik an ›Positivismus‹ und ›Neopositivismus‹ offenkundig in Kontinuität steht zu den Intentionen der oben dargestellten Hegel-Interpretation von 1932, ja ohne diese gar nicht denkbar ist. Als Beispiel für die Nähe der späteren Position zu den früheren kann jene Formulierung genannt werden, in der Marcuse bereits 1932 unter Rekurs auf Hegel betont hatte, daß eine »Sache« nicht einfach nur »da« ist, sondern »stets da [ist] in einem bestimmten Verhalten zu ihrem Begriff als ihrem Sollen, […] immer so oder so beschaffen [ist] im Sinne des gut oder schlecht.« (HO 146) Schon aus der hier entwickelten Darstellung der »inneren ›Gebrochenheit‹ des Seins« läßt sich ableiten, daß weder die Gegenstände der Natur noch Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, in: ders.: Schriften, Frankfurt/M. 1960, 345. 29 G. E. Moore: Principia Ethica, Cambridge 1903. 28
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diejenigen in der Sphäre der Gesellschaft im Sinne einer positivistisch ausgerichteten Wissenschaft als »glatte[] Einheit[en]« erkannt werden können; die »mathematischen Naturwissenschaften« und die sich auf die naturwissenschaft lichen Methoden beziehenden Gesellschaftswissenschaften sind aufgrund der ihrer Methodologie fehlenden »Negativität« des ›Sollens‹ nicht in der Lage, jene ›Gebrochenheit‹ des Seins zu fassen. (HO 156) Bezieht man das Logik-Konzept Hegels auf die tatsächliche Entwicklung der Wissenschaften im 19. und 20. Jahrhundert, so kann es in der Tat als ein Angriff gegen bestimmte Grundüberzeugungen derjenigen Wissenschaft stradition verstanden werden, welche ihre Basis in der Kantischen Philosophie sieht: denn im Unterschied zu Kant konzipierte Hegel seine Urteilslehre als einen hierarchisch gegliederten Prozeß, wonach etwa die »Urteile des Daseins« zur Bestimmung eines Gegenstandes wenig beitragen. Ihm zufolge kann ein positives Urteil wie ›die Rose ist rot‹ »schwerlich dafür gelten, daß es grosse Urtheilskraft zeige« (GW 12, 84), da es nur »eine einzige Eigenschaft«30 des betreffenden Subjekts nennt, wohingegen aber das »Urtheil des Begriffs […] vielmehr das objective und die Wahrheit gegen sie [die vorangehenden, demgegenüber niederen Urteilsformen, CJB] [ist], eben weil ihm der Begriff, aber nicht in äusserer Reflexion oder in Beziehung auf ein subjectives, d. h. zufälliges Denken, in seiner Bestimmtheit als Begriff zu Grunde liegt.« (GW 12, 84) Während also nach Hegel die Urteile des Begriffs als »objective Urteile« gelten müssen, trägt dagegen laut Kant die »Modalität der Urteile 31 […] nichts zum Inhalte des Urteils bei«, sondern gehe nur subjektiv »den Wert der Kopula in Beziehung auf das Denken überhaupt« an. 32 Die grundverschiedenen Wege, die Aufgaben der Wissenschaft zu beschreiben, werden in den hier nur angerissenen Positionen bereits deutlich. Marcuses Kritik verweist also – so läßt sich zusammenfassend sagen – auf den sogenannten ›Positivismusstreit‹, der in Europa zwischen Adorno und Habermas auf der einen, Popper und Albert auf der anderen Seite geführt wurde, obwohl er sich selbst an dieser Diskussion nicht an prominenter Stelle beteiligt hat. 33 Die Eigenständigkeit seiner Positivismus-KriRainer Schäfer: »Hegels identitätstheoretische Deutung des Urteils«, a. a. O., 57. Die von Hegel »Urtheile des Begriffs« genannte vierte Gruppe der Urteilstafel werden von Kant Urteile der »Modalität« genannt. Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 70/B 95. 32 Ebd. B 99 f./A 74. Vgl. zu dieser »Spiegelverkehrung«: Thomas Sören Hoff mann: »Hegels Urteilstafel«, a. a. O.; vgl. weiterhin zur allgemeinen Problematik der Hegelschen Lehre vom Urteil: Rainer Schäfer: »Hegels identitätstheoretische Deutung des Urteils«, a. a. O.; Friedrike Schick: »Die Urteilslehre«, a. a. O., 203–224. 33 Inwiefern seine auf der Basis seiner Hegel-Interpretation ruhende Kritik am 30 31
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tik besteht darin, daß sie auf der intensiven Auseinandersetzung mit der Hegelschen Logik im allgemeinen und dessen Urteilslehre im besonderen beruht und sich, was seine Gegner betrifft , an der angelsächsischen Diskussion um die Frage nach der Bedeutung von ›Werturteilen‹ in der Wissenschaft orientiert.34 2. Der zweite Aspekt von Marcuses Beschäft igung mit der Hegelschen Urteilslehre bezieht sich auf seine Lektüre der Marxschen ÖkonomischPhilosophischen Manuskripte 35, in denen sich bekanntlich eine starke Orientierung des jungen Marx an einem vorausgesetzten ›Ansich‹ – dem Menschen als »Gattungswesen« – fi ndet. Wie Marcuse in seinem Aufsatz Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus von 1932 – also demselben Jahr, in dem auch Hegels Ontologie erschien – mit Recht ausführt, gewinnt auch Marx die grundlegenden Kategorien seiner Theorie aus der »nachdrücklichen Auseinandersetzung« mit der Hegelschen Philosophie. 36 Allerdings verweisen diese »grundlegenden Kategorien« – Arbeit, Vergegenständlichung, Entfremdung, Aufhebung, Eigentum – auf eine Auseinandersetzung mit der Phänomenologie des Geistes, nicht auf die Wissenschaft der Logik. Geht man jedoch davon aus, daß es dem frühen Marx in den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten darum zu tun ist, die Möglichkeiten aufzuweisen, das »Gattungswesen Mensch«, den »Menschen als Menschen« bzw. das »Wesen des Menschen« aus den Entfremdungsverhältnissen des Kapitalismus zurückzugewinnen – ein Projekt, dem Marcuse zumindest 1932 zustimmt –, so muß es nicht verwundern, daß die Darstellung der Marxschen Schrift durch Marcuse an dessen eigene – hier dargestellte – Interpretation der Hegelschen Logik erinnert, derzufolge jedes »konkrete Daseiende« seinem »Ansichsein angemessen sein [kann] oder auch nicht« – wonach zwar richtig sei, daß das Seiende sich niemals der »Urteilung« entziehen könne, jedoch die »Bewegtheit des Seienden« darauf ausgerichtet sei, die »verlorene Angemessenheit an sein Ansichsein wiederzugewinnen«. (HO 145) Vor dem Hintergrund der Positivismus indirekten Einfluß auf die Positionen von Adorno und Habermas genommen hat, kann an dieser Stelle allerdings nicht mehr untersucht werden. 34 Entsprechend wird Marcuse auch von A. Hügli in seinem Artikel »Werturteil; Werturteilsstreit« im Historischen Wörterbuch der Philosophie (Bd. 12, Sp. 619 ff.) dem »angelsächsischen Raum« zugeordnet. 35 Karl Marx: »Ökonomisch-Philosophische Manuskripte«, in: Karl Marx/ Friedrich Engels: Werke, Berlin 1956 ff., Bd. 40, 465–588. 36 Herbert Marcuse: »Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus« (1932), in: ders.: Schriften, Bd. 1: Der deutsche Künstlerroman; Frühe Aufsätze, Springe 2004, 509–555, hier 510 (NQ).
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zeitgleichen Beschäft igung mit der Marxschen Konzeption des »Gattungswesens« wundert es umgekehrt ebensowenig, wenn er die Hegelsche Konzeption in Hegels Ontologie mit den folgenden Worten erläutert: »Jedes Wirkliche [steht] ganz unmittelbar in Beziehung zu anderen Wirklichen, und zwar so, daß diese Beziehung mit sein Sein als eben dieses Wirkliche konstituiert, – zunächst in Beziehung zu den anderen Wirklichen derselben Gattung. Der einzelne Mensch steht durch seine besondere Beziehung zum Mensch-sein (Gattung) in Beziehung zu allen anderen Menschen, und der Charakter dieser Beziehung ist näher der, daß das Mensch-sein in sich ein konkret zu erfüllendes ›Sollen‹, eine ›Bestimmung‹ und einen ›Zweck‹ darstellt, zu dem sich jeder einzelne Mensch in einer besonderen Weise der Angemessenheit oder Unangemessenheit befi ndet, auf den hin er sich in seinem Dasein gleichsam ständig bewegt. Die Gattung als ›Sollen‹ ist so das ›Element, in dem sich die einzelnen Menschen bewegen, durch das sie miteinander in Beziehung stehen.« (HO 149) Die – offensichtlich in diesem Sinne zu verstehende – konkrete »philosophische Interpretation des menschlichen Wesens und seiner geschichtlichen Verwirklichung« (NQ 510) führe, so Marcuse, für den jungen Marx zur Bestimmung des »Kommunismus« als der »wahrhaften Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung«. 37 Eine solche Vorstellung von der »wahrhaften Auflösung des Widerstreits« scheint nur auf den ersten Blick im Gegensatz zu stehen zu Marcuses Kritik an den ›Positivisten‹ und deren Tendenz zur Fixierung der Gegenstände. Doch in der Interpretation der Marxschen Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte durch Marcuse wird deutlich, daß auch aus seiner Sicht die Bewegung der notwendigen »Ur-teilung« aller Dinge nur als ein jeweiliger Teilprozeß in der Entwicklung des Begriffs zu verstehen ist, daß in der Fortsetzung dieser Entwicklung aber durchaus die abschließende Verwirklichung aller Möglichkeiten einer bestimmten Sache im Vordergrund steht. Von daher besteht aus seiner Sicht kein Widerspruch zur Betonung der Prozeßhaft igkeit alles Seienden darin, wenn darauf bestanden wird, daß die immanente Bewegung eines bestimmten realen Gegenstandes aufgrund seiner Endlichkeit an einem Punkt wirklich zu ihrem Ende kommt, denn: »eine neue Gestalt der gegenständlichen Welt wird […] immer nur 37
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auf dem Grunde und in der Aufhebung einer schon vorliegenden früheren Gestalt.« (NQ 531) Für die Entwicklung des Menschen als »Gattungswesen« bedeutet das aber in der Konsequenz, daß die spezifischen Negationsverhältnisse, denen der Mensch in der historischen Phase des Kapitalismus unterworfen ist, an einem bestimmten Punkt notwendig vollständig überwunden sein müssen. Für Marcuse kommt dieser Punkt zum einen der Revolution gleich, in deren Folge der Mensch als Mensch in all seinen Möglichkeiten erst verwirklicht werden – in deren Folge der von Marx als »Selbsterzeugungsakt des Menschen« bezeichnete Prozeß, der »die Totalität menschlichen Seins umreißenden Bestimmung des Menschen« erst vollendet werden kann. (NQ 520f.) Zum anderen ist für Marcuse diese realgeschichtliche Revolution der gesellschaft lichen Verhältnisse ineins zu setzen mit einer Revolution der theoretischen Erkenntnis, in deren Folge das »Faktum« der im Kapitalismus herrschenden Entfremdungsverhältnisse als die »totale Verkehrung und Verdeckung« dessen erscheint, »was die Kritik als das Wesen des Menschen und der menschlichen Arbeit bestimmt hatte.« (NQ 533) Das Ergebnis einer solchen Interpretation des Umschlags in der Entwicklung der Gesellschaft und der Wissenschaften bezeichne dann wiederum die »Stelle, wo die philosophische Kritik in sich selbst unmittelbar zur praktisch-revolutionären Kritik« werde. (Ebd.) Der Mensch ist nach Marx also ein »Gattungswesen« – d. h. nach Marcuse: Ein »Wesen, welches die ›Gattung‹ zum Gegenstand hat.« (NQ 521f.) In der Bestimmung dieses Verhältnisses ist dann die oben dargestellte Interpretation der Hegelschen Logik mit Händen zu greifen: Die ›Gattung‹ eines Seienden sei demnach »das allen besonderen Bestimmtheiten des Seienden gemeinsame ›Prinzip‹ seines Seins: das in allen seinen Besonderheiten sich als dasselbe erhaltende Allgemeine, – das allgemeine Wesen dieses Seienden.« (NQ 522) Indem der Mensch sich die ›Gattung‹ eines jeden Seienden zum Gegenstand machen könne, könne ihm aber das »allgemeine Wesen jedes Seienden gegenständlich werden«: Der Mensch kann »jedes Seiende als das haben, was es seinem Wesen nach ist«, d. h. aber, daß er »nicht auf die jeweilige faktische Bestimmtheit des Seienden und sein unmittelbares Verhältnis zu ihr eingeschränkt« ist; er kann das Seiende vielmehr »so nehmen, wie es über jede unmittelbare faktische Bestimmtheit hinaus in seinem Wesen ist; er kann die in jedem Seienden steckenden Möglichkeiten erkennen und ergreifen; er kann jedes Seiende nach dessen ›inhärentem Maß‹ [Ökonomisch-Philosophische Manuskripte. 88, CJB] ausschöpfen, verändern, bilden, bearbeiten, weiterführen«. (Ebd.) Was in Hegels Ontologie unter dem Gesichtspunkt der Logik theoretisch analysiert wurde, stellt sich für Marcuse mit Marx nun als praktisches Verhältnis – als Arbeit – dar, welche die »spezifisch menschliche Lebenstä-
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tigkeit sei«, durch die sich die Gattung Mensch durch alle Entfremdungsverhältnisse, d. h. durch die »Zwiespältigkeit« der Negationsverhältnisse hindurch »vergegenständlicht«, d. h., »verwirklicht«, eine Fähigkeit, durch die der Mensch eben auch die »bloße Dinghaft igkeit der Gegenstände« (NQ 529) aufheben könne. Hinsichtlich der Frage, ob Marx mit der Rede von der »Wesensbestimmung des Menschen« nicht in gleicher Weise eine »idealistische Abstraktion« vornehme, wie er es in der Deutschen Ideologie anderen vorgeworfen hatte, verweist Marcuse darauf, daß im hier diskutierten Zusammenhang der Gegner jedoch die ›Nationalökonomie‹ sei, »die eine bestimmte geschichtliche Faktizität in die starre und ›ewige‹ Gesetzmäßigkeit angeblicher ›Wesensverhalte‹« (NQ 534) umdeute, also ebenfalls jene Tendenzen zur »Verdinglichung« zum Ausdruck bringe, die Marcuse als Züge des ›Positivismus‹ kritisiert hatte. Gegen jene, die ›Wesen‹ und ›Faktizität‹ gegeneinander ausspielen wollten, sei aber einzuwenden, daß für Marx – und entsprechend der Interpretation von Hegels Ontologie auch für Hegel – Wesen und Faktizität keine getrennten, voneinander unabhängigen »Regionen oder Ebenen« seien und das Wesen des Menschen entsprechend nicht ein abstraktes, sondern ein in der »Geschichte und nur in der Geschichte bestimmbares Wesen« sei. (NQ 535) Insofern sind die »Wesensbestimmungen« des Menschen für Marcuse – so das Ergebnis seiner Hegel-Interpretation – nicht, wie aufgrund der Bezugnahme Marxens auf Feuerbach immer wieder behauptet wurde, anthropologische, sondern ontologische Bestimmungen des oben beschriebenen Prozesses. Darüber hinaus werde das zunächst vorausgesetzte »Wesen des Menschen« aber im Sinne der in diesem Zusammenhang maßgeblichen Umdeutung des Begriffs des ›Sollens‹ »zum unerbittlichen Antrieb der Begründung der radikalen Revolution«. (NQ 536) 38 V. Daß aus der Sicht Marcuses jede gesellschaft liche Situation aufgrund der Diskrepanz von Sein und Sollen grundsätzlich immer schon Veränderungen unterworfen ist, ist also Ergebnis des ersten Hegel-Buches, und Bedenkt man, welche Rolle in der späteren Kritik der politischen Ökonomie für Marx die in den Bestimmungen des Kapitals angelegten ›doppeldeutigen‹ Verhältnisse spielen (»Der Doppelcharakter der Ware«, der »doppelt freie Lohnarbeiter« etc.), daß darüber hinaus die Marxsche Wertformanalyse sich ausgehend von einem »Werturteil« vollzieht (20 Ellen Leinwand = ein Rock), so wäre auch über die Notwendigkeit einer Untersuchung des Marxschen Spätwerks aus der Perspektive der Hegelschen Urteilslehre und der Analyse Marcuses nachzudenken. 38
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so kann der Streit nur in bezug auf die der jeweiligen historischen Situation angemessenen oder unangemessenen konkreten Schritte der Praxis geführt werden, welche im Anschluß an die Analyse dieser Gegenwart und den Befund ihrer Unangemessenheit hinsichtlich dessen, was sein soll, zu gehen sind. 39 Wie auch immer die Wahl bezüglich eines solchen Weges ausfallen mag, Bedingung für die Bereitstellung der realen Möglichkeit einer solchen Wahl ist aus der Perspektive Marcuses, daß sich eine Wissenschaft sauffassung durchsetzt, welche die Wissenschaft als negative Wissenschaft bzw. Philosophie als negative Philosophie versteht, d. h. die sich als Wissenschaft versteht, die die Frage nach der Angemessenheit oder Unangemessenheit der von ihr untersuchten Gegenstände an ihre jeweiligen Begriffe berücksichtigt. Dieses Attribut – negative Philosophie zu sein – billigt Marcuse aber – nicht unter anderem, sondern vor allem – der Hegelschen Philosophie zu. 40 Und so verwundert es zunächst nicht, daß Marcuse auch auf dem Kongreß der Internationalen Hegel-Gesellschaft 1966 in Prag erneut mit Hegel versucht, einen möglichen Ausweg aus der Tendenz der »Stillstellung der Dialektik der Negativität« zu weisen. Indem er nun jedoch behauptet, daß Hegel in seiner Konzeption der Grundlinien der Philosophie des Rechts das Verhältnis der bürgerlichen Gesellschaft zum Staat – »trotz allen sehr geschickt ausgearbeiteten dialektischen Übergängen«41 – so darstelle, daß der Staat der bürgerlichen Gesellschaft letztlich von Außen aufgezwungen werde, hat er seine frühe – optimistische – Position und damit auch den Boden der Hegelschen Philosophie verlassen, die – gemäß seiner Interpretation von 1932 – darauf ausgerichtet ist, das Transzendieren der Momente einer Entwicklung in
Die Problematik der Möglichkeiten und Herausforderungen einer solchen ›Wahl‹ war für Georg Lukács wiederum Anlaß, das Projekt einer Ethik ins Auge zu fassen, die er dann jedoch nicht mehr ausformulieren konnte. Vgl. erneut: Britta Caspers: »Bemerkungen zu Lukács’ Konzeption einer marxistischen Ethik«, a. a. O. 40 »Hegels kritische und rationale Maßstäbe, besonders aber seine Dialektik, mußten notwendig mit der herrschenden gesellschaft lichen Wirklichkeit in Konfl ikt geraten. Aus diesem Grunde könnte sein System mit dem Namen, den ihm seine zeitgenössischen Gegner gegeben haben, gut eine negative Philosophie genannt werden. Um ihren destruktiven Tendenzen entgegenzuwirken, entstand in dem Jahrzehnt nach Hegels Tod eine positive Philosophie, die es unternahm, die Vernunft der Autorität etablierter Tatsachen unterzuordnen« (VR, 11). Marcuse kommt es in Vernunft und Revolution auch darauf an, deutlich zu machen, daß der Nationalsozialismus ein »Gegner Hegels« war, beispielsweise, weil der Nationalsozialismus das ›Volk‹ zur »ursprünglichen und höchsten politischen Wesenheit« erhob, für Hegel das Volk aber »derjenige Teil des Staates« gewesen sei, »der nicht weiß, was er will« (VR, 364). 41 Herbert Marcuse: Zum Begriff der Negation, a. a. O., 197. 39
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die Immanenz des Ganzen einzuholen. Allerdings glaubt Marcuse sich wiederum aufgrund des Befundes der im Eindimensionalen Menschen vorgenommenen Analyse der »fortgeschrittenen Industriegesellschaft« zu dieser Konsequenz gezwungen: »In dem Maß, in dem die antagonistische Gesellschaft sich zu einer ungeheuren repressiven Totalität zusammenschließt, verlagert sich sozusagen der gesellschaft liche Ort der Negation. Die Macht des Negativen erwächst außerhalb dieser repressiven Totalität aus Kräften und Bewegungen, die noch nicht von der aggressiven und repressiven Produktivität der ›Gesellschaft im Überfluß‹ erfaßt sind, oder sich von dieser Entwicklung schon befreit und deshalb die historische Chance haben, einen wirklich anderen Weg der Industrialisierung und Modernisierung, einen humanen Weg des Fortschritts zu gehen.«42 Inwiefern sich dieses so skizzierte, jenseits bestimmter gesellschaft licher Zusammenhänge angesiedelte, »Außen« von jenem immanenten »Außen«, der Negativität der Hegelschen Dialektik, unterscheidet, wäre allerdings zu diskutieren. Eine solche Diskussion kann hier nicht umfassend geführt werden; jedoch kann gesagt werden, daß, wenn sich dieses »Außen« letztlich als ein ›ganz Anderes‹ erweisen sollte, es sich in der Tat nicht mehr mit dem Standpunkt vereinbaren ließe, den Marcuse mit seiner ontologisch orientierten Analyse der Hegelschen Logik von 1932 gewonnen hatte. Ein so verstandenes »Außen« würde den einheitlichen ontologischen Zusammenhang des Seins mit dem Seienden zerreißen. 43 Ebd. 199; Stoßrichtung dieser ›neuen‹ Orientierung ist die Kritik des sogenannten ›westlichen‹ Marxismus an der Auff assung des ›Marxismus-Leninismus‹, bei der Überwindung des Kapitalismus spiele das Proletariat eine entscheidende Rolle. Nach der Auff assung Marcuses, wie er sie in den sechziger Jahren vertritt, ist das ›Proletariat‹ jedoch durch die Entwicklung falscher Bedürfnisse und deren Befriedigung sowie durch die manipulative Wirkung der Medien in solchem Maße in die Gesellschaft integriert, daß es nicht mehr als Träger revolutionärer Veränderung fungieren könne. Stattdessen werden als mögliche Träger revolutionärer Veränderung die »Geächteten und Außenseiter: die Ausgebeuteten und Verfolgten anderer Rassen und anderer Farben, die Arbeitslosen und Arbeitsunfähigen« (EM, 267) genannt, denen einzig eine oppositionelle Haltung zukommen könne, weil sie von der Gesellschaft zu Außenseitern gemacht würden, sich auf diese Weise aber eine nicht gleichgeschaltete Haltung erhalten könnten. Zu diesen Randgruppen zählen für Marcuse auch Teile der Intellektuellen und Künstler sowie die Jugendbewegungen. Vgl. dagegen beispielsweise den Versuch der Begründung der besonderen Rolle des Proletariats in Lukács’ Geschichte und Klassenbewußtsein von 1923. 43 Zur Kritik an Marcuses – mit der Konstruktion des hier beschriebenen ›Außen‹ verbundenen – Konzeption der »großen Weigerung« vgl. Hans Heinz Holz: 42
Mit Hegel gegen den ›Positivismus‹
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Die Darstellung der Interpretation der Hegelschen Logik in Marcuses Buch Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit hat allerdings gezeigt, daß vom Standpunkt der begriffl ichen Analyse der Struktur des Seins alles Seienden der Gedanke einer Situation, welche durch den Stillstand des dialektischen Fortgangs geprägt ist, und so auch der Gedanke, hier könne nur ein ›Außen‹ dafür sorgen, die verfestigte Situation in eine Entwicklung zurückzuführen, in der Tat kaum nahe liegt. Jedoch läßt sich vom Standpunkt von Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit her zeigen, daß eine solche Situation des Stillstandes nur dann eintreten kann, wenn in dem der Gesellschaft immanenten Verhältnis von Subjektivität und Objektivität sich die Seite der Subjektivität zu jenem ›eindimensionalen‹ Denken verfestigt, das der ursprünglichen unendlichen Bewegtheit der Objektivität nicht mehr angemessen ist. Auf diese Weise würde eine veränderte Sphäre der unbewegten Objektivität produziert werden, welche jene Subjektivitäten tendenziell unter sich zu subsumieren imstande wäre, die noch dialektisch zu denken in der Lage waren. Der gesamtgesellschaft liche Prozeß würde auf diese Weise insofern seinem Untergang entgegenstreben, als dieser Untergang ein Untergang jener dialektisch orientierten Subjektivität ist. Diesbezüglich wäre aber erst zu erweisen, ob der gesamtgesellschaft liche Prozeß in diesem Sinne einer »negativen Dialektik« und damit einer Verfallsgeschichte ausgeliefert ist, oder ob dieser Prozeß nicht vielmehr doch wesentlich durch eine »Dialektik der Negativität« im Sinne Hegels und des Marcuse von 1932 geprägt ist – nicht doch unter dem optimistischen Signum des Fortschritts zu fassen ist.
Utopie und Anarchismus. Zur Kritik der kritischen Theorie Herbert Marcuses, Köln 1968; Robert Steigerwald: Marcuses dritter Weg, Köln 1969; Paul Mattick: Kritik an Herbert Marcuse, Frankfurt/M. 1969; Wolfgang Fritz Haug: »Das Ganze und das ganz Andere. Zur Kritik der reinen revolutionären Transzendenz«, in: Jürgen Habermas (Hg.): Antworten auf Herbert Marcuse, a. a. O., 50–88.
IV.
postmoderne und gegenwart
Differenz: zwischen Hegel und Derrida Karin de Boer
1. Einleitung Derridas Werk scheint sich zunächst einmal allen Regeln der akademischen Philosophie zu widersetzen, da es immer wieder die vermeintliche Grenze zwischen Philosophie und Literatur durchbricht. Die literarischen Elemente, die es in jedem philosophischen Text gibt, nehmen bei Derrida einen so großen Raum ein, daß sie die philosophische Argumentation unterbrechen, verbiegen und manchmal sogar übertönen. Dies hat dazu geführt, daß sein Werk von der Literaturwissenschaft mit großem Enthusiasmus aufgenommen wurde, während ein Teil der philosophischen Welt es gerade deshalb ablehnte.1 Diese Ablehnung wird meiner Ansicht nach seinen Texten jedoch nicht gerecht. Schließlich befi ndet sich Derrida mit seinem Versuch, Literatur und Philosophie zu verbinden, bereits in bester Gesellschaft von Philosophen wie Platon, Kierkegaard und Nietzsche. Darüber hinaus steht meines Erachtens aber auch bei Derrida eine rein philosophische Frage auf dem Spiel, nämlich die Frage nach der Möglichkeit und der Grenze der Philosophie selbst. In diesem Aufsatz werde ich mich ausschließlich mit der rein philosophischen Seite von Derridas Werk beschäft igen. Ich werde dies tun, indem ich seine Philosophie als eine Radikalisierung der Kritik der philosophischen Vernunft interpretiere, wie sie von Kant und Hegel entwickelt wurde. Da sich Derrida viel expliziter mit Hegel als mit Kant auseinandergesetzt hat, beschränke ich mich auf Derridas Verhältnis zu Hegel. 2
Einige wichtige Ausnahmen sind zu fi nden bei R. Gasché: The Tain of the Mirror: Derrida and the Philosophy of Refl ection, Cambridge MA/London 1986, und S. Barnett (Hg.): Hegel after Derrida, London/New York 1998. Barnett bemerkt zu Recht, daß die Untersuchung der philosophischen Dimension von Derridas Werk in den Vereinigten Staaten – wovon Hegel after Derrida zeugt – dem Werk von Gasché viel verdankt. Siehe auch A. Kern u. Ch. Menke (Hg.): Philosophie der Dekonstruktion. Zum Verhältnis von Normativität und Praxis, Frankfurt/M. 2002. 2 Was Derridas Verhältnis zu Kant angeht, verweise ich auf P. Rothfi eld (Hg.): Kant after Derrida, Manchester 2003. 1
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Karin de Boer
Derrida hat selbst wiederholt auf seine Verwandtschaft zu Hegel hingewiesen. So unterstreicht er die »tiefgreifende[n] Beziehungen zwischen der so geschriebenen differánce und dem Hegelschen Diskurs, wie er gelesen werden muß.«3 In diesem Text werde ich erstens soweit wie möglich die Übereinstimmungen zwischen Hegel und Derrida hervorheben. 4 Um dann zweitens auch den unauflösbaren Unterschied zwischen Hegel und Derrida zu erfassen, werde ich différance als eine Form der Negativität interpretieren, die sich von Hegels Begriff der absoluten Negativität unterscheidet. Indem ich Derridas Werk auf das Moment reduziere, das sich sozusagen im Element des reinen Denkens bewegt, tue ich der Bedeutung desselben ohne Zweifel Gewalt an. Ich hoffe allerdings, daß gerade auf diese Weise auch der unauflösbare Unterschied zwischen Hegel und Derrida auf wirklich philosophische Weise verstanden werden kann. Genausowenig wie die Kritik, die Kant und Hegel entwickeln, betrifft die Kritik Derridas ausschließlich die Philosophie. Die Begriffe, Prinzipien und Voraussetzungen, um die es in der Philosophie geht, sind genau die Begriffe, Prinzipien und Voraussetzungen, die jeglichem Denken zugrunde liegen. Derridas Kritik der Vernunft bezieht sich darum von Anfang an auch auf das Denken, das sich als ethisches oder politisches Handeln vollzieht. Seine Kritik hinterfragt vor allem die Annahme, daß sich unser Denken und Handeln auf Prinzipien stützt, die letztendlich die adäquate Verwirklichung unserer Ziele garantieren. Derridas Kritik richtet sich allerdings ebensosehr gegen einen Pessimismus, der lediglich die Kehrseite dieser optimistischen Haltung darstellt. Vielmehr versucht er, auf philosophische Weise zu verdeutlichen, daß beide Positionen unhaltbar sind. In diesem Aufsatz werde ich nicht auf sein Spätwerk eingehen, in dem er sich ausdrücklich mit ethischen und politischen Fragen beschäfJ. Derrida: »La différance«, in: ders: Marges de la philosophie, Paris 1972, 15 / Die différance, in: Randgänge der Philosophie, Wien 1988, 40 (hiernach: MP). 4 In dem Aufsatz »Diff érance und autonome Negation: Derridas Hegel-Lektüre« (in: M. Frank: Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur deutsch-französischen Hermeneutik und Texttheorie, Frankfurt/M. 1993, 446–470) hebt auch Manfred Frank die Parallele zwischen Derridas Begriff der différance und Hegels Negativitätsbegriff hervor. Im Gegensatz zu Frank meine ich aber, daß es unmöglich ist, Derridas Begriff der diff érance auf eine der Formen des Denkens zu reduzieren, die in der Wissenschaft der Logik aufgegriffen werden (vgl. 462 f.). In Structural Infinity (in: R. Gasché: Inventions of Difference. On Jacques Derrida Cambridge MA/London 1994) untersucht Rodolphe Gasché das Verhältnis zwischen diff érance und Hegels Begriff der schlechten Unendlichkeit. Er legt dar, daß »if infi nite substitutability is an obstacle to ultimate totalization, to a true infi nite, the reasons cannot be of the order of a fi nitude that is tributary to the sensuous, or the empirical. The infi nity in question can thus no longer be spurious either.« (137, vgl. 148). 3
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tigt. 5 Ich konzentriere mich stattdessen auf Derridas frühe Arbeiten, die meines Erachtens die besten Anhaltspunkte bieten, um Derridas Kritik der Vernunft als ein wichtiges Moment der Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts zu verstehen.
2. Derridas Kritik der Vernunft Wie bereits gesagt, vertrete ich die Meinung, daß Derridas Philosophie eine Kritik der Vernunft darstellt, die ihre Möglichkeiten und Grenzen auslotet. Was er 1972 in einem Interview dazu sagt, verweist unverkennbar auf Kants kritisches Projekt: »[W]as mir in einer geschichtlichen Situation wie der unseren notwendig und dringlich erschien, ist eine allgemeine Festlegung der Entstehungsbedingungen und der Grenzen der Philosophie, der Metaphysik und all dessen, wovon sie getragen wird und was sie trägt.« 6 Kant entwickelte seine kritische Philosophie, um die Grenze desjenigen Denkens zu bestimmen, das seinen Inhalt nicht der Sinnlichkeit verdankt. Diese Selbstkritik sollte einerseits den Konfl ikt zwischen den damals vorherrschenden philosophischen Strömungen aufheben und andererseits die Möglichkeit einer a priorischen Grundlegung der naturwissenschaft lichen Erkenntnis nachweisen. Obwohl Hegel Kants Lösung des Konfl ikts zwischen Empirismus und Rationalismus sicherlich geschätzt hat, wandte er sich in wenigstens zweierlei Hinsicht gegen Kant: Während Kant die Philosophie mit ihrer immanenten Grenze konfrontierte, verstand Hegel Philosophie erstens als eine Form des Erkennens, die nicht an die Bedingungen naturwissenschaft licher Objektivität gebunden ist. Zweitens radikalisierte Hegel Kants Begriff der Antinomien, indem er ontologische Gegensätze wie die zwischen Wesen und Erscheinung, Innen und Außen, Denken und Natur, Freiheit und Notwendigkeit aufhob. Dies geschieht namentlich in der Lehre vom Wesen, dem zweiten Teil der Wissenschaft der Logik.7 Hegels Kritik der Vernunft betrifft also in erster Linie jene Philosophie, die ontologische Gegensätze verabsolutiert.
Siehe zum Beispiel J. Derrida: Politiques de l’amitié, Paris 1994 / Politik der Freundschaft , Frankfurt/M. 2000. 6 J. Derrida: Positions, Paris 1972, 69 / Positionen, übersetzt von D. Schmidt, Graz/Wien 1986, 104 (hiernach: Pos). 7 Im Rahmen dieses Aufsatzes kann ich nicht auf Hegel selbst eingehen. Siehe dazu meine Monographie: On Hegel: The Sway of the Negative, Basingstoke 2010, und 5
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Wir werden sehen, daß auch Derridas Kritik der philosophischen Vernunft sich gegen derartige ontologische Gegensätze richtet. In dieser Hinsicht haben ihre Projekte mehr miteinander gemein, als auf den ersten Blick scheinen mag. Derrida entwickelt seine Kritik jedoch im Gegensatz zu Hegel nicht, indem er die zugrunde liegende Einheit dieser Gegensätze begreift , sondern gerade indem er zeigt, daß scheinbar entgegengesetzte Bestimmungen sich derart voneinander unterscheiden, daß sich ihr Unterschied überhaupt nicht zu einem Gegensatz entwickeln kann und sich darum auch nicht dialektisch aufheben läßt. Insofern Hegel seine Kritik der modernen Philosophie um eines Denkens willen entwickelt, das die Gegensätze aufhebt, richtet sich Derridas Kritik der Vernunft auch – und vielleicht sogar in erster Linie – gegen Hegels spekulative Wissenschaft . Wie schon Hegel versucht auch Derrida, die Unhaltbarkeit einer bestimmten philosophischen Position von innen heraus sichtbar zu machen. Diese kritische Bewegung führt bei Derrida jedoch nicht zu einer Position, die die vorhergehende Position als untergeordnetes Moment in sich aufnimmt. Dies gilt auch für seine Beziehung zu Hegel. Die Einseitigkeit der Hegelschen Philosophie könne allein durch eine kaum merkliche Verschiebung sichtbar gemacht werden. So schreibt Derrida in bezug auf Batailles Hegel-Interpretation: »Die Wiederinterpretation ist eine simulierte Wiederholung des Hegelschen Diskurses. Im Verlauf dieser Wiederholung legt eine kaum wahrnehmbare Verschiebung alle Artikulationen auseinander und schneidet in alle Nahtstellen des nachgeahmten Diskurses ein.« 8 »In dieser Simulierung […] löse ich mich los vom absoluten Wissen, indem ich es als solches seinem Platz zuweise, es einordne und es in einen Raum einschreibe, den es nicht mehr beherrscht.«9 Dies gilt meines Erachtens auch für Derridas eigenes Werk. Ich möchte heute ausschließlich auf das Prinzip eingehen, das Derrida ins Spiel bringt, meinen Aufsatz: »The Dissolving Force of the Concept: Hegel’s Ontological Logic«, in: The Review of Metaphysics 57 (2004), 787–822. In Zur Dekonstruktion des Hegelschen Zweckbegriff s (in: A. Kern u. Ch. Menke (Hg.): Philosophie der Dekonstruktion. Zum Verhältnis von Normativität und Praxis, Frankfurt/M. 2002, 80–102) illustriere ich Derridas Verhältnis zu Hegel anhand des Abschnitts der Wissenschaft der Logik, der dem Begriff der Teleologie gewidmet ist. 8 J. Derrida: »De l’économie restreinte à l’économie générale«, in: ders.: L’écriture et la différence, Paris 1967, 382 / Dt: »Von der beschränkten zur allgemeinen Ökonomie«, in: Die Schrift und die Diff erenz, übersetzt von R. Gasché, Frankfurt/M. 1976, 394 (hiernach: ED). Vgl. MP, 15/40. 9 ED, 396/409.
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damit sich das absolute Wissen seiner Einseitigkeit bewußt wird. In dem bereits genannten Interview aus Positionen erklärt Derrida, daß différance genau die Funktion eines derartigen Prinzips erfüllt: »Da es immer noch das Verhältnis zu Hegel ist, das es zu erläutern gilt – ein schwieriges Unterfangen, das zum Großteil noch vor uns liegt und das gewissermaßen nie abgeschlossen werden kann, […] – habe ich versucht, die différance […] von dem Hegelschen Unterschied (la différence) zu unterscheiden. Und dies eben gerade an dem Punkt, wo Hegel, in der großen Logik, den Unterschied als Widerspruch bestimmt, mit dem alleinigen Ziel, ihn […] in die Selbstpräsenz einer onto-theologischen oder onto-teleologischen Synthese aufzulösen.«10 Derrida würde différance vielleicht ungern als Prinzip auffassen wollen, da die Philosophie Prinzipien oft dazu benutzt hat, um die Wirklichkeit im Ganzen zu begreifen. Ein Prinzip kann allerdings auch als dasjenige verstanden werden, was eine gewisse Bewegung ausdrückt, was dem Denken Richtung gibt und ihm ermöglicht, die Unzulänglichkeit anderer Prinzipien aufzuzeigen. In meinen Augen fungiert différance genau als so ein kritisches Prinzip. Um die Bedeutung dieses Prinzips hervorzuheben, werde ich später zeigen, daß Derrida von zwei verschiedenen Formen der différance ausgeht. Zunächst werde ich jedoch kurz auf die Texte eingehen, in denen sich Derrida direkt mit Hegel beschäft igt.
3. Die Texte Zunächst ist festzustellen, daß sich Derrida mit Hegels Werk in bemerkenswert wenigen Texten auseinandergesetzt hat. Der einzige Artikel, der sich direkt mit Hegel befaßt, ist »Der Schacht und die Pyramide. Einführung in die Hegelsche Semiologie«. In diesem Text aus dem Jahre 1972 geht Derrida namentlich auf Hegels Begriff des Zeichens im dritten Teil der Hegelschen Enzyklopädie ein.11 Ein weiterer Aufsatz, in dem Hegel Pos, 59–60/91–92, Übersetzung geändert. Derrida verweist hier anscheinend auf die folgende Passage aus der Wissenschaft der Logik: »Der Unterschied überhaupt ist schon der Widerspruch an sich; denn er ist die Einheit von solchen, die nur sind, insofern sie nicht eins sind, – und die Trennung solcher, die nur sind als in derselben Beziehung getrennte.« (Hegel: GW 11, 279, vgl. 288–89). Aus der zitierten Passage aus Positionen geht eindeutig hervor, daß Derridas Kritik Heideggers Identität und Differenz, Pfullingen 1957, Tribut zollt. Es fällt auf, daß Derrida in Die différance und Positionen nicht auf diesen Text verweist. 11 MP, 79–127/85–118. Derrida weist auch auf Hegels Vorlesungen über die Ästhe10
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eine wichtige Rolle spielt, ist der bereits zitierte »Von der beschränkten zur allgemeinen Ökonomie. Ein rückhaltloser Hegelianismus«. In diesem Aufsatz folgt Derrida in gewisser Weise Batailles Lesart von Hegel, die, wie Derrida selbst bemerkt, von Kojèves anthropologischer Deutung der Phänomenologie des Geistes abhängig bleibt. Diesen Text halte ich vor allem aufgrund der Passagen für wichtig, in denen Derrida die Form der Negativität, die Bataille gegen Hegel ins Feld führt, von ihren anthropologischen Konnotationen löst. Einige weitere Artikel in Randgänge der Philosophie und Die Schrift und die Differenz enthalten Abschnitte, die zwar auf Hegel verweisen, die jedoch nicht der Aufgabe gewachsen sind, der Derrida sich nach eigenen Worten widmen will. Glas (1974), das einzige Buch, das Hegel gewidmet ist, geht insbesondere auf Der Geist des Christentums und auf verschiedene Texte über die Familie ein. Derrida hat sich also niemals umfassend mit Texten wie der Phänomenologie des Geistes und der Wissenschaft der Logik auseinandergesetzt. Dies stimmt in gewissem Sinne mit seinem methodischen Prinzip überein: Der Gegensatz zwischen dem Wesentlichen und dem Unwesentlichen ist gerade einer der Gegensätze, die Derrida zu dekonstruieren versucht. Es könnte sein, daß Derrida tik und die Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte hin. Derridas Text basiert auf einem Vortrag, den er 1968 während des Seminars von Jean Hyppolite hielt. Dieses Seminar war Hegels Logik gewidmet. Derrida sagt darüber am Beginn seines Textes: »Anstatt in der Logik zu verweilen, […] [werden wir] vor allem auf Umwegen vorgehen, indem wir Texten folgen, die besser geeignet sind, die architektonische Notwendigkeit der Beziehung zwischen Logik und Semiologie zu erweisen. Da auf einige dieser Texte schon Jean Hyppolite in Logique et existence eingegangen ist, werden wir implizit permanent auf dieses Buch – und insbesondere auf das Kapitel Sens et sensible – Bezug nehmen.« (MP, 81/85, Übersetzung geändert). Dieses Kapitel ist Hegels Begriff des Verhältnisses zwischen Denken und Sprache gewidmet. Der Einfluß Jean Hyppolites auf Derridas Hegel-Verständnis ist weitreichender, als Derrida hier eingesteht. Derrida war seit 1957 bestrebt, bei Hyppolite eine Dissertation über besagtes Thema abzufassen. Nach dessen Tod im Jahre 1968 gibt er diesen Plan aber defi nitiv auf. Siehe J. Derrida: »The time of a thesis: punctuations«, in: A. Montefiore (Hg.): Philosophy in France Today, Cambridge 1983. Weitere Erläuterungen über Derridas Beziehung zu Hyppolite gibt L. Lawlor: Derrida and Husserl. The Basic Problems of Phenomenology, Bloomington and Indianapolis 2002, 88–104. Lawlor zufolge war Derridas Beziehung zu Hegel in großem Maße von Hyppolites HegelLesart abhängig. Hyppolite verband Hegel erstmalig mit Heidegger und Husserl, sprach sich gegen die einflußreiche anthropologische Interpretation von Kojève aus und wandte sich Hegels Logik zu. Es ist wahrscheinlich, daß Derrida über Hyppolite auch die Passagen aus der Wissenschaft der Logik kennen gerlernt hat, in denen Hegel behauptet, daß sich der Unterschied notwendigerweise zum Widerspruch entwickelt. In Hyppolites Logique et existence (Paris 1953) werden einzelne dieser Passagen (Hegel: GW 11, 288–89) zitiert und kommentiert (156–57).
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meinte, über einige Umwege doch den Kern der Hegelschen Philosophie berühren zu können. Es könnte aber auch sein, daß er nie die Geduld hatte, der Bewegung des Textes zu folgen, der seiner eigenen Kritik der reinen Vernunft in höchstem Maße verwandt ist, nämlich der Wissenschaft der Logik. Auch in diesem Aufsatz werde ich das nicht leisten können. Ich werde lediglich versuchen, das Prinzip, das Derridas Begriff der Philosophie zugrunde liegt, vor dem Hintergrund der Wissenschaft der Logik zu verstehen. Dies geht allerdings nicht, ohne kurz auf Derridas Umweg über die Linguistik seiner Zeit einzugehen.
4. Différance als Produktion willkürlicher Unterschiede In Grammatologie (1967) entwickelt Derrida seinen Begriff der différance zunächst im Kontext der strukturalistischen Linguistik de Saussures, die zu jener Zeit intensiv diskutiert wurde. Daraus könnte man nun schließen, daß différance in erster Linie ein linguistisches Prinzip ist. Das ist meines Erachtens aber nicht der Fall. Derrida schließt einerseits am Werk de Saussures an, um zu zeigen, wie sich différance in der Sprache vollzieht, aber er zeigt andererseits auch, daß de Saussure der radikalen Bedeutung dieses Prinzips nicht Genüge tut. De Saussure wird dem Prinzip der différance insoweit gerecht, als er die Erzeugung sprachlicher Bedeutung aus dem Unterschied der Signifi kanten (das heißt: Laute und Schrift zeichen) untereinander versteht. Eine Sprache konstituiert sich durch ein Netzwerk von Unterschieden, die nicht auf ein positives Element zurückzuführen sind. Derrida zufolge hält de Saussure jedoch hinsichtlich des Unterschieds zwischen Signifi kat und Signifi kant selbst am ontologischen Unterschied zwischen Innen und Außen fest: »Die Seite des Signifi kats wird insofern nicht als eine Spur betrachtet, als sie immer noch ursprünglich von der Seite des Signifi kanten unterschieden wird: eigentlich bedarf sie des Signifi kanten nicht, um das zu sein, was sie ist. […]. Diese Bezugnahme auf den Sinn eines außerhalb jedes Signifi kanten denkbaren und möglichen Signifi kats bleibt abhängig von der Onto-Theo-Teleologie, auf die wir bereits hingewiesen haben.«12
J. Derrida: De la grammatologie, Paris 1967, 107 / Grammatologie, übersetzt von H. J. Rheinberger und H. Zischler, Frankfurt/M. 1983, 128 (hiernach: Gramm), vgl. MP, 12/36. 12
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De Saussure würde also voraussetzen, daß ein Signifi kat im Gegensatz zum Signifi kanten über eine gewisse Eigenständigkeit verfügt. Während ein Signifi kant nur aufgrund seines Unterschiedes zu anderen Signifi kanten etwas bedeutet, wäre die Bedeutung beispielsweise des Wortes ›Rose‹ unmittelbar gegeben. Derrida untergräbt diesen Unterschied, indem er die Macht der différance nicht auf das Element äußerer Signifi kanten beschränkt. Seiner Auffassung nach verdanken die Signifi kate ihre Identität ebenso ihrem unaufhebbaren Unterschied zu anderen Signifi katen. Jegliche Bedeutung verdankt ihre Identität einem Element, das sie nicht selbst erzeugt hat und worüber sie keine Macht hat. Auch Bedeutungen müssen also als Resultat der Bewegung verstanden werden, in der sich die Signifi kanten voneinander unterscheiden. Da die Bedeutung von etwas nicht der Bewegung vorausgeht, in der sich Signifi kanten voneinander unterscheiden, kann niemals garantiert werden, daß die Bedeutung eines Wortes sich gleich bleibt, wenn die Signifi kanten, die darauf verweisen, oder der Kontext, in dem es auft ritt, sich verändern. Indem man die Konstitution sprachlicher Bedeutung aus dem Prinzip der différance heraus versteht, wird der Unterschied zwischen Innen und Außen aber nicht vollständig vernichtet. Eher ist es so, daß das ›Innen‹ nicht gegen die Willkür geschützt wird, die traditionellerweise ausschließlich dem Element der Äußerlichkeit zugeschrieben wird.13 Dieser Gedanke ist meines Erachtens weniger relevant in bezug auf sprachliche Bedeutungen als in bezug auf den ontologischen Gegensatz zwischen Innen und Außen, dem nach Derridas Urteil auch die Linguistik de Saussures verhaftet bleibt. Derrida zufolge bringt de Saussure ein Prinzip ins Spiel, das es dem Denken ermöglicht, sich von der traditionellen Linguistik zu befreien. Allerdings entwickelt Derrida die Implikationen dieses Prinzips auf eine Weise, durch die sich auch der ontologische Gegensatz zwischen Innen und Außen, an dem de Saussure festhält, als unhaltbar erweist.14 Es ist jedoch fraglich, ob der Begriff der différance, In Der Schacht und die Pyramide geht Derrida davon aus, daß Hegels Begriff der Sprache wie auch der von de Saussure den Gegensatz zwischen Seele und Körper voraussetzt (MP, 94/96). Er geht allerdings nicht darauf ein, wie Hegel diesen Gegensatz aufhebt. 14 Derrida merkt hierzu in einer Fußnote der oben zitierten Passage an: »Wenn wir, um die Notwendigkeit einer derartigen ›Dekonstruktion‹ nachzuweisen, uns vornehmlich an den Text Saussures gehalten haben, so nicht allein deshalb, weil Saussure bis heute die Linguistik und die Semiologie beherrscht, sondern auch, weil er unserer Meinung nach sich an einer Grenze befi ndet: in der Metaphysik, die es zu dekonstruieren gilt, und zugleich jenseits des Zeichenbegriffs, […] dessen er sich noch bedient.« (Gramm, 107/128). 13
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wie er im Kontext der Linguistik auft ritt, für eine derartige Dekonstruktion wirklich geeignet ist. Es bleibt undeutlich, inwieweit die Bewegung, die den Unterschied zwischen sprachlichen Signifi kanten erzeugt – worum es bei de Saussure geht –, etwas mit der Bewegung zu tun hat, die Gegensätze wie den zwischen Innen und Außen hervorruft – worum es Derrida primär zu gehen scheint. Man könnte sagen, daß sich die Form der différance, die Derrida in diesem Zusammenhang entwickelt, auf die Bewegung bezieht, in der sich das Eine äußerlich vom Anderen unterscheidet. Diese Bewegung läßt sich vielleicht am besten mit demjenigen vergleichen, was Hegel abstrakte Negativität nennt.15 Diese abstrakte Negativität erzeugt einen Unterschied zwischen dem Einen und dem Anderen, ohne daß sich das Eine in dem wieder fi nden kann, von dem es sich unterscheidet. Diese Negativität tritt im Element der Äußerlichkeit als die gleichgültige Folge zeitlicher Momente auf.16 Im Element des reinen Denkens erscheint dieselbe Negativität dagegen als der Begriff, der es dem Denken ermöglicht, äußerlich zwischen dem Einen und dem Anderen zu unterscheiden. Die Wissenschaft der Logik zeigt diesbezüglich, daß der Begriff des Unterschieds völlig unzureichend ist, um als ontologisches Prinzip zu fungieren.17 Auch Derrida beschränkt sich nicht auf die Bestimmung von différance als einer Bewegung, die willkürliche Unterschiede zwischen dem Einen und dem Anderen erzeugt. Auch er würde sagen – zumindest wenn er sich in Hegels Worten hätte ausdrücken wollen –, daß dies nur eine der Weisen ist, auf die différance sich selbst bestimmt.18
Vgl. Hegel: GW 21, 103. »Die Zeit ist das Negative im Sinnlichen; der Gedanke ist dieselbe Negativität, aber die innerste, die unendliche Form selbst, in welcher daher alles Seiende überhaupt aufgelöst wird.« (Hegel: TWA 12, 103). Vgl. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften II, § 258, Anmerkung. 17 Obwohl der Begriff des Unterschieds an sich »der sich auf sich beziehende Unterschied ist«, bezieht sich der Verstand lediglich auf die äußerliche Form dieses Begriff s. Der Verstand setzt damit den abstrakten Gegensatz zwischen Gleichheit und Ungleichheit voraus. Diese »Ungleichheit ist Unterschied, aber als ein äußerlicher, der nicht an und für sich der Unterschied des Ungleichen selbst ist.« (Hegel: GW 11, 268). 18 Vgl.: »Sowie der Unterschied sich bestimmt, bestimmt er sich als Gegensatz, manifestiert er sich, gewiß, aber seine Manifestation ist zugleich […] eine Reduktion der différance, des Restes, der Abspreizung.« (J. Derrida: Glas, Paris 1974, 263 / Glas. Totenglocke, übersetzt von H.-D. Gondek u. M. Sedlaczek, Paderborn 2006, 263). 15 16
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5. Différance als die Produktion konflikthafter Unterschiede Auch in dem Aufsatz Die différance verweist Derrida auf die Linguistik de Saussures. Und auch hier versteht er die Entwicklung willkürlicher sprachlicher Unterschiede als eine Auswirkung der différance.19 Zugleich versteht Derrida différance hier aber auch als ein Prinzip, das den ontologischen Gegensätzen zugrunde liegt, die die Geschichte der Philosophie geprägt haben. Derrida zufolge verdankt die Philosophie ihre Entwicklung gerade ihrem Unvermögen, der radikalen Bedeutung dieses Prinzips gerecht zu werden. Auf Nietzsche verweisend, behauptet Derrida, daß die Philosophie Unterscheidungen wie die zwischen Innen und Außen, Geist und Natur, Idee und Erfahrung, Notwendigkeit und Zufall, Denken und Materie zu Unrecht als hierarchische Gegensätze bestimmt. Indem sie das tut, habe sich die Philosophie von der Bewegung abgewendet, in der beide Momente bestrebt sind, sich zum absoluten Prinzip zu erheben. Die ontologischen Gegensätze, auf denen die Philosophie fußt, zeugen lediglich von dem Versuch, diese ursprüngliche Auseinandersetzung zwischen den unterschiedenen Momenten zu bändigen. Diesbezüglich behauptet Derrida, daß »die Philosophie in und von der différance lebt und blind ist gegen das Selbe (le même), das nicht das Identische ist. Das Selbe ist gerade die différance (mit a), die als ein Umweg (comme passage détourné) von einem Differenten zum anderen führt. […] Man könnte auf diese Weise alle Gegensatzpaare wieder aufgreifen, auf denen die Philosophie aufbaut und von denen unser Diskurs lebt, um an ihnen nicht etwa das Erlöschen des Gegensatzes zu sehen, sondern eine Notwendigkeit, die sich so ankündigt, daß einer der Termini als différance des Anderen erscheint […] (das Intelligible als von dem Sinnlichem sich unterscheidend (différant), als aufgeschobenes Sinnliches (sensible différé); der Begriff als aufgeschobene und sich unterscheidende Anschauung (intuition différée – différante); die Kultur als aufgeschobene und sich unterscheidende Natur; jedes Andere der physis – techne, nomos, thesis, Gesellschaft, Freiheit, Geschichte, Geist, usw. – als aufgeschobene physis (physis différée) oder als sich unterscheidende physis (physis différante)). […] Diese ›aktive‹ […] Zwietracht verschiedener Kräfte […] können wir mithin différance nennen.«20 Dieser Abschnitt ist meiner Meinung nach aus zweierlei Gründen wich19 20
MP, 12–13/36–37. Dieser Text basiert auf einem Vortrag aus dem Jahre 1968. MP, 18–19/43–44, Übersetzung geändert.
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tig. Zunächst behauptet Derrida hier, daß die Philosophie sich kritisch den ontologischen Gegensätzen zuwenden müsse, die die Geschichte der Philosophie geprägt haben. Wie bereits gesagt, stimmt diese Reflexion mit der Lehre vom Wesen überein, die den Kern von Hegels Wissenschaft der Logik ausmacht. Wie schon Hegel fordert auch Derrida das Denken dazu auf, die Unhaltbarkeit dieser Gegensätze einzusehen, und ebenfalls wie Hegel tut er dies aufgrund eines bestimmten Prinzips. Dieses Prinzip – différance – bezeichnet er in der zitierten Passage mit dem Terminus ›das Selbe‹: In allen Gegensätzen, die die Geschichte der Philosophie bestimmt haben, wirkt stets dasselbe Prinzip, allerdings derartig, daß seine eigentliche Bedeutung nie angemessen verstanden worden ist. 21 Im Gegensatz zu Hegel begreift Derrida die Geschichte der Philosophie jedoch als eine Geschichte, die der ursprünglichen Differenz zwischen scheinbar entgegengesetzten Bestimmungen nie gerecht geworden ist. Um zu verdeutlichen, was er damit meint, soll das Verhältnis zwischen Geist und Natur hier als Beispiel dienen. Anders als beispielsweise Platon, Descartes und Kant bestimmt Derrida das Verhältnis zwischen Geist und Natur nicht als Gegensatz. In Abgrenzung zu Hegel versteht er ihr Verhältnis allerdings auch nicht aus ihrer ursprünglichen Einheit heraus. Der Geist stellt kein Prinzip dar, das aus sich selbst den Gegensatz zwischen Geist und Natur hervorbringt und sich als die Einheit seiner entgegengesetzten Bestimmungen vollzieht. Derrida scheint demgegenüber von dem Gedanken auszugehen, daß die Natur selbst von Streit oder Uneinigkeit gekennzeichnet ist. 22 Auch Hegel versteht die Natur als einen »unaufgelöste[n] Widerspruch«. 23 Aber für Hegel bedeutet dies, daß die faktische Natur, die der Zufälligkeit unterliegt, ihrem letztendlichen Prinzip, nämlich dem Begriff als solchem, widerspricht. 24 Aus seiner Perspektive muß der Streit zwischen der faktischen
Derrida übernimmt hier stillschweigend Heideggers Unterschied zwischen »das Gleiche« und »das Selbe« (vgl. Heidegger: Identität und Differenz, a. a. O., 35). 22 Derrida stützt sich an dieser Stelle wohl auf die folgenden Ausführungen von Hyppolite: »La Nature, en effet, est la négation du Logos. […] Certes la nature est aussi ce qui reflète son autre; elle contient donc cette diff érance de soi, elle indique le Logos, le sens. […] Il y a donc dans la nature cette contradiction non résolue; […] elle est Nature et Logos en même temps.« (J. Hyppolite: Logique et existence, a. a. O., 132 (meine Hervorhebung)). Nur im letzten Kapitel übt Hyppolite, sich auf Marx beziehend, Kritik an Hegel: »Il a méconnu la nature, car au lieu d’en partir, il y a vu un terme relatif, non originaire.« (ebd., 236). Vgl. L. Lawlor: Derrida and Husserl: The Basic Problems of Phenomenology, a. a. O., 99. 23 Hegel: Enzyklopädie II, § 248, Anmerkung. 24 Hegel: Enzyklopädie II, § 250. 21
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Natur und ihrem reinen Prinzip in einer stetig zunehmenden Überwindung der natürlichen Äußerlichkeit münden. Derrida scheint demgegenüber auf einen Streit innerhalb der Natur selbst zu verweisen, dessen Ausgang prinzipiell nicht entschieden werden kann. Aus Derridas Perspektive erscheint der Gegensatz zwischen Natur und Geist also eher als Resultat – oder Effekt – eines ursprünglicheren Streites. Man könnte vielleicht sagen, daß gerade das Unvermögen der Natur, ihre immanente Uneinigkeit aufzuheben, die Entwicklung des Geistes ermöglicht. So wie Bedeutung durch die Bewegung bewerkstelligt wird, in der sich Signifi kanten voneinander unterscheiden, so wird der Geist durch die Bewegung ermöglicht, in der sich die Natur von sich selbst unterscheidet. Hegel zufolge kann der Geist ausschließlich mittels der natürlichen Äußerlichkeit zu sich selbst kommen. Derrida suggeriert hingegen, daß sowohl die Natur als auch der Geist nur mittels eines Umwegs (un passage détourné) auf sich selbst zukommen können. Da Derrida zufolge die Natur dem Geist nicht untergeordnet ist, ist der Geist auch nicht notwendigerweise in der Lage, die Äußerlichkeit, die der Natur zugeschrieben wird, zu überwinden. Weil beide Momente gleichermaßen bestrebt sind, sich das jeweils Andere ihrer selbst zu unterwerfen, drohen beide, die Verwirklichung des Anderen unmöglich zu machen. Das Ergebnis dieses Streits muß für immer offen bleiben. 25 Dieser Gedanke zieht wichtige Konsequenzen nach sich – sowohl für den Begriff des Geistes als auch für alle anderen Momente, die innerhalb der klassischen ontologischen Gegensätze für ›hochwertiger‹ oder ›mächtiger‹ gehalten werden. In der zitierten Textpassage geht Derrida stets von den Momenten aus, die in der Geschichte der Philosophie als zweitrangig beurteilt wurden. Die Natur ist dasjenige, was nicht mit sich selbst übereinstimmt (nature différée), und sie vollzieht sich als Uneinigkeit zwischen sich selbst und dem Anderen ihrer selbst (nature différante). 26 Gleichzeitig »Ohne diese Möglichkeit der Differenz würde das Verlangen nach der Präsenz als solcher nicht zum Leben erweckt werden. Gleichzeitig heißt das, daß dieses Verlangen die Bestimmung seiner Unstillbarkeit schon in sich trägt. Die Differenz bringt hervor, was sie versagt, sie ermöglicht gerade das, was sie unmöglich macht.« (Gramm, 206/247–248). 26 In der zitierten Passage scheint Derrida die Gegensätze vor allem umzudrehen und damit die quasi-empirischen Positionen von Nietzsche und Marx zu übernehmen. In Positionen erweist sich dies allerdings lediglich als das erste Moment einer doppelten Bewegung: »Einerseits muß man eine Phase des Umbruchs (renversement) durchlaufen. […] [Man hat] es bei einem klassischen philosophischen Gegensatz nicht mit der friedlichen Koexistenz eines Vis-à-vis, sondern mit einer gewaltsamen Hierarchie zu tun. Eines der beiden Glieder beherrscht […] das andere. […] Eine 25
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behauptet Derrida allerdings, daß beide Momente in ihrem Unterschied zum jeweils Anderen verstanden werden müssen. Dies bedeutet, daß die Natur nicht ursprünglicher ist als der Geist. Denn sobald wir von dem Gegensatz zwischen Natur und Geist ausgehen, haben wir das, was die Verwirklichung des Geistes zu bedrohen scheint (Willkür, Gewalt, Chaos), bereits einer Äußerlichkeit zugeschrieben, die von anderer Ordnung ist als der Geist selbst. Was dem Unterschied zwischen Natur und Geist vorausgeht ist eher eine gewisse Äußerlichkeit, ein gewisses Chaos, Gewalt und Willkür. Und was wir gewöhnlich unter Geist verstehen, ist Derrida zufolge nichts anderes als der Versuch, diese ursprüngliche Äußerlichkeit, Chaos, Gewalt und Willkür zu bezwingen. Dieser Versuch zieht den ontologischen Gegensatz zwischen Natur und Geist nach sich und, insofern er ausdrücklich in der Philosophie vollzogen wird, alle ontologischen Gegensätze, die die Macht des Geistes über das Andere seiner selbst bekräft igen sollen. 6. Negativität Ich habe bisher zu zeigen versucht, daß Derrida zwei Formen von différance unterscheidet. Im Element der sprachlichen Äußerlichkeit erscheint différance als die Bewegung, die willkürliche Unterschiede erzeugt und dadurch sprachliche Bedeutung ermöglicht. Im Element des reinen Denkens erscheint différance andererseits als die Bewegung, die ontologische Gegensätze wie den zwischen Geist und Natur, Innen und Außen, Vernunft und Wille, Wesen und Erscheinung, Unendlichkeit und Endlichkeit, Dekonstruktion des Gegensatzes besteht zunächst darin, im gegebenen Augenblick die Hierarchie umzustürzen. Wer diese Umbruchphase vernachlässigt, übersieht die konfl iktgeladene und unterwerfende Struktur des Gegensatzes.« (Pos, 56–57/87–88). Diese Bewegung muß jedoch andererseits verknüpft werden mit dem »Auft auchen […] eines Begriff s dessen, was sich innerhalb der vorangegangenen Ordnung nicht mehr fassen lässt.« (Pos, 57/89). Derartige Begriffe können »nicht mehr innerhalb des philosophischen (binären) Gegensatzes verstanden werden, und ihm dennoch innewohnen, ihm widerstehen, ihn desorganisieren, aber ohne jemals einen dritten Ausdruck zu bilden, ohne jemals zu einer Lösung nach dem Muster der spekulativen Dialektik Anlass zu geben.« (Pos, 58/90). Man könnte sagen, daß diese Begriffe – pharmakon, Marge, Supplement, Schrift – verschiedene Bestimmungen des Begriffes différance sind, das heißt der Bewegung, die jede Selbstverwirklichung oder Selbstidentifi kation von etwas sowohl ermöglicht als auch unmöglich zu machen droht. Diese Doppelbewegung müsste verhindern, daß die Dekonstruktion wieder angeeignet wird »innerhalb einer Dialektik Hegelscher Prägung, […] denn der Hegelsche Idealismus besteht ja gerade darin, die binären Gegensätze des klassischen Idealismus aufzuheben.« (Pos, 59/91).
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Freiheit und Notwendigkeit erzeugt. In diesem letzteren Element deutet différance auf einen Unterschied zwischen scheinbar entgegengesetzten Bestimmungen hin, der sowohl ihren Gegensatz als auch ihre dialektische Einheit untergräbt. Der Unterschied zwischen diesen beiden Formen von différance gleicht unverkennbar dem Hegelschen Unterschied zwischen abstrakter und absoluter Negativität. Absolute Negativität bezieht sich auf die Bewegung, in der etwas sein Gegenteil von sich unterscheidet, um es als untergeordnetes Moment in sich selbst aufnehmen zu können. Diese Negativität, die Hegel zufolge jeglichem Prozeß der Selbstbestimmung zugrunde liegt, verwirklicht sich namentlich im Element des Geistes. Sie bildet auch das absolute Prinzip der spekulativen Wissenschaft selbst. Wie gesagt, bezieht sich abstrakte Negativität demgegenüber auf die Bewegung, in der etwas von etwas anderem unterschieden wird, ohne daß es zugleich es selbst bleiben kann. Diese Form der Negativität beherrscht die Sphäre der Äußerlichkeit. Hegel faßt das Verhältnis zwischen diesen Formen der Negativität selbst als dialektische Einheit auf. Dies tut er, indem er die Negativität, die jeder Selbstverwirklichung zugrunde liegt, zum absoluten Prinzip erhebt und indem er jene Negativität, die äußerlichen Unterschieden zugrunde liegt, als untergeordnetes Moment begreift . Auf diese Weise kann er die Geschichte des Geistes als eine Geschichte darstellen, in der die abstrakte Negativität in zunehmendem Maße überwunden wird. 27 Gerade indem er Negativität aus dem Gegensatz zwischen abstrakter und absoluter Negativität heraus begreift , wendet sich Hegel Derrida zufolge von einer Negativität ab, die jegliche Form von Selbstverwirklichung sowohl ermöglicht als auch bedroht: »Da Hegel zu schnell darüber hinweg ging, hat er sich blind gemacht für das, was er in der Gestalt der Negativität aufgedeckt hatte. […] Man muß ihm darum […] bis zu dem Punkt folgen, wo man […] seine Entdeckung der allzu bewußten Interpretation entreißen kann, die er von ihr gegeben hat.«28 Derrida suggeriert hier, daß Hegel die Bewegung, in der Unterschiede erzeugt und vernichtet werden, zu Recht als Negativität aufgefaßt hat. 29
»In der Tat liegt nirgends eine größere Aufforderung zu solcher versöhnender Erkenntnis als in der Weltgeschichte. Diese Aussöhnung kann nur durch die Erkenntnis des Affi rmativen erreicht werden, in welchem jenes Negative zu einem Untergeordneten und Überwundenen verschwindet.« (Hegel: TWA 12, 28). 28 ED, 381/393, Übersetzung geändert. 29 Während der Diskussion des Vortrags im Jahre 1968, der später unter dem 27
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Aber indem er die Bewegung, die die Einheit entgegengesetzter Bestimmungen erzeugt, zum absoluten Prinzip erhob und die Bewegung, die unaufhebbare Unterschiede hervorruft , zu einem untergeordneten Moment herabsetzte, wird er Derrida zufolge der differierenden Negativität nicht gerecht, die dem unlösbaren Streit zwischen ontologischen Bestimmungen zugrunde liegt. 30 Wie bereits gesagt, vollzieht sich die differierende Negativität, die Derrida von Hegels Interpretation zu befreien versucht, einerseits als die Bewegung, die willkürliche Unterschiede hervorruft , und andererseits als die Bewegung, die unauflösbare ontologische Gegensätze erzeugt. Es wird jedoch nicht ohne weiteres deutlich, wie Derrida selbst das Verhältnis zwischen diesen beiden Formen von différance versteht. Ihre gemeinsame Wurzel kann vielleicht als die Bewegung bezeichnet werden, in der unauflösbare Unterschiede hervorgebracht werden. Die Geschichte der Philosophie zeuge demnach von dem Versuch, beide Formen von différance zu negieren. Vielleicht könnte man einerseits sagen, daß die Kultur im allgemeinen und die Philosophie im besonderen dies tun, indem sie die Bewegung, die willkürliche Unterschiede erzeugt, lediglich dem Element der Äußerlichkeit zuschreiben, das heißt der Zeit, der Natur, dem Körper, dem Willen oder den Signifi kanten. Diese Reduktion von différance unterstellt jedoch andererseits, daß die Philosophie ihr eigenes Element bereits vom Element der Äußerlichkeit unterschieden haben muß. Indem es den Unterschied zwischen Innen und Außen als hierarchischen Gegensatz bestimmt, versucht das Denken also, die Form von différance, die dem unaufhebbaren Unterschied zwischen Innen und Außen selbst zugrunde
Titel Die diff érance erschien, gab Derrida folgende Antwort auf eine der an ihn gerichteten Fragen: »You asked me when the word diff érance or the concept of diff érance took its place within metaphysics. I would be tempted to say: with Hegel, and it is not by chance that it is precisely the interest that Hegel took in the thought of différance, at the moment when philosophy was closing itself, completing itself, or, as we say, accomplishing itself, which obliges us today to connect the thought of the end of metaphysics and the thought of différance. It is not by chance that Hegel is fundamentally the one who has been the most systematically attentive within metaphysics to différance. And perhaps – but this is a question of reading – there is a certain irreducibility of diff érance in his texts.« (Zitiert nach: D. Wood u. R. Bernasconi (Hg.): Derrida and Différance, Evanston, IL 1988, 95). 30 »Ohne zu vergessen, daß die ungeheuren Revolutionen von Kant und Hegel den Wert eines Bruches besitzen, könnte man zeigen, daß sie in dieser Hinsicht nur die unerschütterlichste philosophische Bestimmung der Negativität erweckt oder aufgedeckt haben. […] Die ungeheure Revolution bestand […] darin, das Negative ernstzunehmen und seiner Arbeit Sinn zuzumessen.« (ED, 380/392).
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liegt, unschädlich zu machen. Es ist aber gerade im Element des reinen Denkens – das heißt in der Geschichte der Philosophie –, daß sich différance wirklich als die Bewegung vollziehen kann, die scheinbar entgegengesetzte Bestimmungen hervorruft. Alle Gegensätze, die in der Geschichte der Philosophie aufgetreten sind, können auf diese Weise als Versuche verstanden werden, den ursprünglichen Streit zwischen unterschiedenen ontologischen Bestimmungen zu verdrängen und damit die Macht des Geistes über das Andere seiner selbst zu sichern.
7. Différance, Unterschied und Gegensatz Bis hierher habe ich versucht, das Verhältnis zwischen Hegel und Derrida zu begreifen, indem ich verglich, was Derrida unter différance und was Hegel unter Negativität versteht. Als nächstes möchte ich nochmals auf einen Abschnitt aus Positionen eingehen, in dem Derrida selbst das Verhältnis zwischen diesen beiden Prinzipien reflektiert: »[I]ch habe versucht, die différance (deren a unter anderem ihren produktiven und streitigen Charakter bezeichnet) von der Hegelschen Differenz zu unterscheiden. Und dies eben gerade an dem Punkt, wo Hegel in der großen Logik die Differenz als Widerspruch bestimmt, mit dem alleinigen Ziel, sie […] aufzulösen. […] Die Streitigkeit (conflictualité) der différance – die man nur unter der Bedingung als Widerspruch bezeichnen kann, daß man diesen in einer langwierigen Arbeit von dem Hegelschen abgrenzt – […] [läßt] sich nie ganz aufheben.«31 Leider ist Derrida dieser Arbeit nicht nachgegangen. Der Textabschnitt bietet allerdings einige Hinweise, die es uns erlauben, Derridas Verhältnis zu Hegel näher zu bestimmen. Zunächst verweist Derrida auf die Beziehung zwischen Hegels Begriff des Unterschieds und dem Begriff der différance. Wie bereits erwähnt, versteht Hegel den Begriff des Unterschieds als eine Kategorie, die es dem Denken ermöglicht, äußerliche Unterscheidungen zu erzeugen, also zum Beispiel weiße von roten Rosen zu unterscheiden. Daß diese Kategorie unzureichend ist, wird eigentlich erst offenkundig, wenn sie zum ontologischen Prinzip erhoben wird. Denn aufgrund dieser Kategorie kann das Denken zwar zum Beispiel Unendlichkeit von Endlichkeit unterscheiden, aber es kann der Bewegung nicht gerecht werden, in der der Begriff Unendlichkeit seine entgegengesetzten Bestimmungen hervorruft und deren scheinbare Selbständigkeit aufhebt. Derrida wäre 31
Pos, 59–60/91–92, Übersetzung geändert.
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sich mit Hegel darüber einig, daß der Begriff des Unterschieds nicht ausreicht, um den Streit zwischen unterschiedenen Bestimmungen zu fassen. Die Begriffe Gegensatz und Widerspruch – zwischen denen Derrida zu Unrecht nicht unterscheidet – eignen sich hierfür in der Tat besser. Denn nur wenn sich das philosophische Denken den Widerspruch zwischen verschiedenen Bestimmungen vor Augen führt, wird es auch die Einheit entgegengesetzter Bestimmungen erkennen können. Hegel begreift den Begriff des Unterschieds allerdings als unzureichende Form des logischen Begriffs, das heißt als Form der Bewegung, in der sich etwas von sich selbst unterscheidet, um sich selbst zu bestimmen. Obwohl der Begriff des Unterschieds an sich gerade dieses absolute Prinzip ist, stimmt sein faktischer Gebrauch nicht mit diesem Prinzip überein. Derrida dagegen würde den Begriff des Unterschieds eher als einen Begriff verstehen, der auf unzureichende Weise die differierende Negativität zum Ausdruck bringt, die er différance nennt. In diesem Fall brauchte sich ein Denken, das die Wirklichkeit aufgrund äußerlicher Unterscheidungen begreift , nicht notwendigerweise zu einem Denken zu entwickeln, das die Wirklichkeit aufgrund aufhebbarer Gegensätze versteht. Es könnte sich ebenso gut zu einem Denken entwickeln, das den Streit zwischen unterschiedenen Bestimmungen gerade als unauflösbar begreift . Aus dieser Perspektive betrachtet, werden beide Seiten immer wieder von neuem versuchen, sich als absolutes Prinzip durchzusetzen. Derridas Anmerkungen über die Begriffe Unterschied und Widerspruch reichen jedoch bei weitem nicht aus, um die Bewegung der Wissenschaft der Logik zu erfassen. Derrida hätte auf jeden Fall angeben müssen, daß auch Hegel selbst diese Begriffe in der Lehre vom Wesen als unzureichende Bestimmungen des logischen Begriffs vorführt. Wer sich wirklich mit Hegel auseinandersetzen will, kann sich nie darauf beschränken, auf einzelne Begriffe hinzuweisen, die in der Logik erörtert werden.
8. Derridas Begriff der Geschichte der Philosophie Ich habe zeigen wollen, daß Derridas Kritik der reinen Vernunft die Kritik Hegels auf eine Weise radikalisiert, die mit Hegels Radikalisierung von Kant vergleichbar ist. Hegel treibt Kants Kritik der reinen Vernunft auf die Spitze, indem er die ontologischen Gegensätze, die die Geschichte der Philosophie bestimmt haben, dem Unvermögen der Vernunft in Rechnung stellt, ihre wahre Einheit zu begreifen. Dieser Gedanke ermöglicht es Hegel, die Geschichte der Philosophie als eine Geschichte zu verstehen, in der das Denken die unzulänglichen Bestimmungen ihres absoluten Prin-
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zips in zunehmendem Maße aufhebt. Dieser Gedanke ermöglicht es Hegel darüber hinaus, die Weltgeschichte als eine Geschichte zu begreifen, in der die Vernunft sich in zunehmendem Maße verwirklicht. Wir haben gesehen, daß sich auch Derridas Kritik der Vernunft gegen den Versuch der Philosophie richtet, die Wirklichkeit als solche aufgrund ontologischer Gegensätze zu verstehen. Derridas Kritik betrifft allerdings ebenfalls die spekulative Wissenschaft , die diese Gegensätze aufhebt. Während diese Gegensätze Hegel zufolge auf der Negation ihrer ursprünglichen Einheit beruhen, fußen sie nach Derrida vielmehr auf der Negation ihrer ursprünglichen Uneinigkeit. Weil der Unterschied zwischen scheinbar entgegengesetzten Bestimmungen wie Innen und Außen, Wesen und Erscheinung, Unendlichkeit und Endlichkeit nicht zweitrangig ist, kann er wohl verdrängt, aber nicht aufgehoben werden. Im Gegensatz zu Hegel hat Derrida nie einen Versuch unternommen, die Geschichte der Philosophie systematisch zu begreifen. Aber wenn er dies getan hätte, dann hätte er zeigen müssen, daß die Philosophie niemals wirklich in der Lage gewesen ist, ihrem eigentlichen Prinzip – différance – gerecht zu werden. Bei einem Philosophen wie Platon erscheint différance vor allem als dasjenige, wovon die Philosophie sich abwendet. De Saussure hingegen stellt sich diesem Prinzip in gewisser Weise, meint Derrida. Er versucht, bei beiden denjenigen Elementen auf die Spur zu kommen, die auf so etwas wie différance verweisen. Daraufh in läßt er diese Elemente sich derartig entwickeln, daß sich das ontologische Prinzip, auf das sich das Denken glaubte berufen zu können, als unhaltbar erweist. Im bereits genannten Aufsatz La différance sieht Derrida nicht nur de Saussure, sondern auch Nietzsche, Freud und Heidegger als Philosophen, die in gewissem Maße versucht haben, den Implikationen von différance nicht aus dem Weg zu gehen. Dies gilt sicherlich auch für Bataille und für alle Philosophen, die sich nach Hegel gegen einen ungehemmten Glauben an die Vernunft und den Fortschritt gewendet haben. Man könnte sagen, daß diese Philosophen – jeder auf seine Art – darauf hinweisen, daß Gewalt, Verlust, Angst und Sinnlosigkeit sich nicht unbedingt den Versuchen der Vernunft , sich selbst zu verwirklichen, unterordnen lassen. Sie verweisen darauf, daß die Vernunft von etwas außerhalb ihrer selbst abhängig ist, das sie nicht als untergeordnetes Moment in sich selbst aufnehmen kann und das ihre Verwirklichung ebenso möglich macht als auch unmöglich zu machen droht. In dieser Hinsicht stellt Derridas Frühwerk einen Versuch dar, die Philosophie nach Hegel auf philosophische Weise zu erfassen, das heißt, das Prinzip dieser Philosophie von ihren unzureichenden Bestimmungen zu lösen und ›für sich‹ werden zu lassen. Ich habe zeigen wollen, daß die Art,
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auf die Derrida dies tut, Hegels Philosophie näher steht als jeder anderen Philosophie. Einzelne Textauszüge, die ich zitiert habe, verdeutlichen, daß sich Derrida dieser Verwandtschaft sehr bewußt war. Vielleicht hat er sich gerade darum in vielen seiner Texte soweit wie möglich von Hegel fern halten wollen. Die Arbeit, die die Philosophie Derrida zufolge in bezug auf Hegel leisten müßte, ist daher noch immer eine Arbeit, »die zum Großteil noch vor uns liegt und […] gewissermaßen nie abgeschlossen werden kann«. 32 Aus dem Niederländischen von Katharina Borchardt
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Pos, 59/91.
Brandoms Hegel Robert B. Pippin
Bob Brandoms herausragendes Werk Tales of the Mighty Dead versteht sich als »rekonstruierende Metaphysik« und legt dabei besonderes Augenmerk auf die Metaphysik der Intentionalität. So verwundert es kaum, daß Brandom sich an früheren impliziten Erscheinungen seiner eigenen Theorie der wesentlichen Elemente einer erfolgreichen Erklärung der Intentionalität orientiert: laut Brandom sollte solch eine Beschreibung funktionalistisch, inferentialistisch, holistisch, normativ und sozialpragmatisch sein. Außerdem ist mittlerweile etwas deutlicher geworden, daß sie auch geschichtlich vermittelt sein sollte. Brandom selbst möchte zeigen, daß die Intentionalität nicht das grundlegendste Phänomen menschlicher Geistigkeit ist. Stattdessen ist sie laut ihm vielmehr derivativ und hängt von der Normativität, das heißt vom Erlangen gesellschaft lich anerkannter normativer Status ab, welche ihrerseits wiederum aus normativen Grundhaltungen bestehen. In diesem Zusammenhang muß Brandoms Hegel sich als vielversprechender ›Brandomianer‹ avant la lettre herausstellen. ›Es explizit zu machen‹ ist für Hegel genauso wichtig wie für Brandom; daher spielen die folgenden Hegelschen Gedanken (und noch viele andere) alle auch in Brandoms Theorie eine wichtige Rolle: die Begriffe des Für-sich-seins und des Für-andere-seins und deren Untrennbarkeit; der Unterschied zwischen Gewißheit und Wahrheit; der Angriff auf jede Form von logischem oder empiristischem Atomismus; das Bestehen auf einem Holismus; die Zurückweisung eines jeden Cartesischen Dualismus zwischen Körper und Geist zugunsten einer kompatiblen und systematisch verknüpften Unterscheidung zwischen dem Faktischen und dem Normativen; 1 die Unabdingbarkeit des Erreichens gesellschaft lich anerkannter Status für die Möglichkeit der Sinnverständlichkeit und des Verstehens. Ich möchte nun eine Reihe von Fragen über Brandoms Hegel stellen, aber ich sollte von Anfang an einräumen, daß die Relevanz dieser Fragen Meiner Meinung nach ist Brandom vollkommen im Recht, wenn er darauf hinweist, daß die Sphäre des Geistigen die ›normative Ordnung‹ (Brandom 2001, 94) darstellt. Siehe auch Pippin 1999; Brandom 1994, 30 ff. und 624 ff. 1
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Robert B. Pippin
von der Bedeutung der am Anfang von TMD verteidigten2 ›de re‹-Methode der Interpretation abhängt. Einerseits nehme ich Brandoms Zugeständnis zur Kenntnis, daß seine Methodologie »Auswahl, Ergänzung und Annäherung« (TMD, 111) beinhaltet, wobei das Wort ›Auswahl‹ hier die Quelle einer potenziellen Kontroverse bildet, da man sich leicht vorstellen kann, daß sie als Passepartout genutzt wird, sobald sich Fragen bezüglich der Texttreue ergeben. Dieses Problem der ›Auswahl‹ ist besonders heikel, da, wie Brandom natürlich weiß, der Umfang von Hegels Theorie der Normativität in seiner Phänomenologie erheblich weitreichender ist, als die von Brandom bisher kommentierten Themenkomplexe in Hegels Werk. So befaßt sich Hegels Theorie mit Religion, Kunst, Bestattungsriten, den Kreuzzügen, Sklaverei, Schädellehre, Hedonismus, Moral und Vergebung. In der Tat scheint Hegels Version der Theorie effektiv genau jenes zu leisten, was Chomsky Sorgen bereitete, als er Davidson (den ehemaligen Empfänger des »Internationalen Hegelpreises«) kritisierte. Als Chomsky Davidson beschuldigte, »die Grenze zwischen der Kenntnis einer Sprache und der Kenntnis unserer Orientierung in der Welt überhaupt auszulöschen«, und sich beschwerte, daß dies das Studium der Brandom 2002, ab hier im Text als TMD bezeichnet. Brandoms Verständnis philosophischer Texte steht im Einklang mit seinem Verständnis des Verstehens: die Bedeutung solcher Texte ist eine Frage inferentiell artikulierter Verbindlichkeiten; wir verstehen die Bedeutung eines Begriffs in einem bestimmten Text, indem wir nachvollziehen, wie er von einem Autor benutzt wird, welche Manöver er ermöglicht, was er vorschreibt und wie er in der Gemeinschaft zur jeweiligen Zeit verstanden (genutzt) werden würde. Alternativerweise können wir versuchen zu verstehen, wie ein ursprünglicher Begriff in einem späteren Zusammenhang benutzt werden würde, wie zum Beispiel in dem unsrigen. In diesem letzteren Falle fragt man sich nicht, was die Autorin dachte, daß auf ihre Prämissen folge, sondern was tatsächlich auf sie folgt. Man kann darauf fokussieren, wovon der begriffliche Inhalt handelt; worauf der Autor festgelegt sein muß, wenn die Wahrheit erhalten bleiben soll unter Berücksichtigung dessen, was man jetzt weiß, beziehungsweise angesichts der logisch-expressiven Ressourcen, über die man nun verfügt. Dies ist grob gesagt das, was Brandom mit dem Unterschied zwischen verschiedenen Interpretationen oder ›Spezifi kationen begrifflichen Inhalts‹ meint, oder mit ›diskursiver Buchführung‹ und mit der Unterscheidung zwischen de dicto und de re. Die Einführung seines eigenen semantischen Arsenals, inklusive der essentiellen Unterscheidung zwischen dem Eingehen und dem Zusprechen von Verbindlichkeiten, dient Brandoms hermeneutischen Absichten auf ausgezeichnete Weise. Wie das meisterhafte Kapitel 8 in Making it Explicit illustriert, sind diese beiden Spezifi kationen nicht Zuschreibungen von verschiedenen Glaubenssätzen, also von Glaubenssätzen mit verschiedenen Inhalten. Vielmehr »spezifizieren [sie] den einzelnen begrifflichen Inhalt eines einzelnen Glaubenssatzes auf zwei verschiedene Arten, aus zwei verschiedenen Perspektiven, in zwei verschiedenen Zusammenhängen von unterschiedlichen HilfsVerbindlichkeiten« (TMD, 102). 2
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Sprache (verstanden entweder als Davidsonianisch oder aber holistisch als Brandomianisch/Hegelianisch) in Richtung einer »Theorie von Allem und Jedem« verschieben würde, hätte Hegel einfach genickt, zugestimmt und gewartet, ob noch etwas kommen werde, was er als Kritik anerkennen könnte. 3 Denn letztendlich sagt Hegel ja: »Das Wahre ist das Ganze«. Es ist natürlich möglich, das meiste von Hegels Werk ›gezielt auszuschließen‹, um sich auf das zu konzentrieren, was ›von Hegels idealistischem, pragmatischem, historizistischem Holismus für eine Theorie des begrifflichen Inhalts relevant ist‹. Jedoch stellt sich dabei zumindest die Frage, ob diese Elemente in Hegels Denken auf solch eine Art und Weise isolierbar sind, und ob, im Lichte von Hegels vollständiger Theorie der Normativität und besonders seiner Theorie des normativen Wandels (also letztlich, was Hegel als seine philosophische ›Theorie des Alles‹ verstand), 4 sogar die Rolle, die diese Begriffl ichkeiten in einer Theorie des begriffl ichen Inhalts spielen, anders aussehen muß. Es besteht also eine gewisse Gefahr, daß die von mir gestellten, etwas weiter gefaßten Fragen für den besonderen Zweck irrelevant erscheinen, für den Brandom Hegels ›objektiven Idealismus‹ einsetzen möchte; beziehungsweise daß diese Fragen, sobald die Natur der Begrifflichkeit deutlich geworden ist, zum Objekt weiterer Nachforschungen werden könnten. Ich glaube jedoch nicht, daß unsere Aufgaben auf diese Art aufgeteilt werden können, und mein Verständnis dieser Problematik ist von Brandoms eigenen, selbstauferlegten Anforderungen inspiriert. Zum Beispiel, wenn er Fragen wie die folgende stellt: »Passen die Begriffe des objektiven Idealismus und der begriffl ichen Bestimmungen, die aus den zwei Hegel-Kapiteln [in TMD] resultieren, zu den anderen Aussagen Hegels?« (TMD, 114) Eben diese Frage möchte ich stellen, 5 vor allem weil ich mir nicht sicher Chomsky 2000, 146. Siehe auch Richard Rortys sehr wertvolle (nicht Hegelianische) Antwort auf Probleme dieser Art in Rorty 2004, 219–35. 4 Chomsky glaubt natürlich, daß holistisch orientierte Begriffsrollenlinguisten sich auf eine vollständige, naturwissenschaft liche Theorie festlegen müßten und daß ihr Verständnis der Sprache kein eigenständiges Forschungsprogramm für moderne Neuro-Linguisten übriglassen würde. 5 Diese Frage der ›Verantwortung‹ dem Text gegenüber stellt ein verzwicktes Problem dar, denn unabhängig davon, wie man es faßt, läuft man stets Gefahr, den Eindruck zu erwecken, als ob man auf irgendeiner Art Priorität einer de dicto-Interpretation besteht, und dies ist nicht, so scheint mir, was Brandom sagen will. Diese Annahme würde uns zum Denken einer im Text eingeschlossenen, ursprünglichen oder essentiellen Bedeutung zurückführen, statt sie auf eine prozeßartige, inferentielle Weise zu verstehen, wie Brandom dies vorschlägt. Die de re-Interpretation ist etwas anderes, etwas unterschiedliches, und philosophisch gesehen genauso respektabel. Nur um ein Beispiel zu nennen: Sobald Strawson sowohl das Problem der Rechtfertigung von synthetischen 3
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bin, ob Brandom wirklich erhalten kann, was er aus Hegel herausholen möchte, ohne daß sich so etwas wie hegelianische, umfassende Fragen stellen, die sich auf eine ›Theorie von Allem und Jedem‹ beziehen. (Außerdem schien mir die Auseinandersetzung mit Brandoms Hegel ohne den Import einer beachtlichen Menge von Brandoms Brandom – aus Making it Explicit – unmöglich.) 6 Es gibt zahlreiche Beispiele für die Entstehung dieses Problems. Ich kann hier lediglich vier wohlbekannte Hegelsche Aussagen und Brandoms Auseinandersetzung mit ihnen (oder den Mangel einer Auseinandersetzung) besprechen. Wie es in solchen Fällen leider üblich ist, bleibt mir keine Zeit, um angemessen zu beschreiben, wieviel ich von diesen hervorragenden und inspirierenden Aufsätzen gelernt habe. Die Aussagen lauten: (I) Hegels Philosophie ist ein Idealismus. (II) Dieser Idealismus ist ein Holismus. (III) Vernünft ige Normen müssen als im Laufe der Zeit und durch die Gesellschaft eingesetzt verstanden werden. Dies bedeutet, daß die bindende Kraft dieser Normen daher rührt, daß wir uns ihnen unterworfen haben (sie sind ›selbst-gesetzt‹) und daß spätere Normen aus den verschiedenen Zusammenbrüchen und Krisen in vorhergehenden, vorläufigen Institutionen verstanden werden können. Laut Hegel ist unsere Fähigkeit, Normen als eben solche Resultate zu verstehen, ein wesentlicher Bestandteil der Behauptung, daß spätere Normen eine weiter entwickelte,
Urteilen a priori als auch die Behauptung des Kantischen Idealismus, daß wir nur Erscheinungen kennen, abgelehnt hat, bleibt nicht viel in seiner de re-Rekonstruktion übrig, das Kant als eine Verbindlichkeit hätte anerkennen können. Aber es bleibt etwas von Kant übrig nach der ›Auswahl‹ und ›Ergänzung‹, etwas davon, wie Kant wirklich aussieht in dem neuen Kontext der Strawsonschen deskriptiven Metaphysik. Was übrig bleibt ist die Unterscheidung zwischen Begriffen und Intuitionen, die Diskursivität des menschlichen Intellekts und die Idee, daß es ›Grenzen‹ für jegliche Erfahrung gibt, die wir nachvollziehen könnten. Die de re-Interpretation ist ein Prozeß, eine Art und Weise in unserem Gebiet zu navigieren, aber zu einem gewissen Grad gelenkt von dem Verständnis eines historischen Autors. Selbst wenn Interpretation auf diese Weise verstanden wird, muß es diese Führung geben, dieses Eingehen auf, zum Beispiel, Hegels Verständnis von begrifflichem Inhalt, selbst wenn es durchgehend in einem nicht-Hegelianischen, neuen, ›logisch expressiven‹ Vokabular ausgedrückt wird. (Dies ist bereits eine Variante einer weit verbreiteten und sehr groben intuitiven Reaktion auf Brandoms Inferentialismus: daß das Verstehen des Inhalts eines Begriffs nicht nur das Verstehen seiner inferentiellen Artikulation sein kann, da diese materialen Implikationen und Inkompatibilitäten selbst bereits geleitet sein müssen (legitimiert sein müssen) durch Berufung auf ein Begreifen von etwas, das solche inferentiellen Prozesse leitet. Brandom stehen verschiedene Antworten auf diesen Vorwurf zur Verfügung. Dieses Problem wird im folgenden öfters auftauchen.) 6 Brandom 1994, im folgenden als MIE angeführt.
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erfolgreichere Verwirklichung der Berufung auf Vernunft in menschlichen Angelegenheiten darstellen und daß sie somit eine umfangreichere Verwirklichung der Freiheit ermöglichen. Des weiteren muß laut Hegel mindestens ein wichtiger Aspekt dieser Entwicklung eine Art gesellschaftlichen ›Kampf um Anerkennung‹ beinhalten, der manchmal gewalttätig ist und nur innerhalb eines Zustandes tatsächlicher Wechselseitigkeit aufgelöst werden kann. (IV) Und zuletzt: Philosophie ist geschichtlich, fundamental und immer ›Kind ihrer Zeit‹. Diese Aussage beinhaltet mehrere kontroverse Aspekte. Der kontroverseste wurde eben erwähnt: Die menschliche Geschichte soll als fortschrittliche Verwirklichung der Freiheit verstanden werden, und dies aufgrund der Tatsache, daß die Vernunft in menschlichen Angelegenheiten immer ›wirklicher‹ wird und daß die Freiheit Selbst-Herrschaft im Einklang mit Vernunftgesetzen darstellt. In jedem dieser drei Fälle werden Hegels Ansprüche von Brandom nicht nur beschnitten, sondern die Abwesenheit dieser weiter gefaßten Ziele hat zur Folge, daß für Brandoms Projekt Probleme entstehen müssen, die nicht mit den von diesem Projekt zur Verfügung gestellten Mitteln gelöst werden können. I. Das erste dieser Probleme stellt der von Hegel auf vielerlei Art verwandte Ausdruck des Idealismus dar.7 Unabhängig von der Bedeutung, die Hegel diesem Ausdruck sonst beimißt, möchte er mit ihm sicherlich auch einen Angriff auf wenigstens eines der Dogmen des Empirismus andeuten. Die ersten drei Kapitel der Phänomenologie des Geistes zielen klar und deutlich auf das Argument ab, daß keine Erklärung des Ursprungs von Begriffen und kein Gebrauch einer solchen, die Objektivität der Begriffe rechtfertigenden Erklärung, sich auf irgendeinen vermeintlich unmittelbar gegebenen oder nicht-abgeleiteten Inhalt berufen kann. Dabei spielt es keine Rolle, ob dieser Inhalt als sinnlich oder als anderweitig fundamental oder rechtfertigend verstanden wird. Der selbst im Begriffsrealismus oder in rationalistischen noesis-Theorien vorherrschende Mangel irgendeines direkt wahrgenommenen Inhaltes hat zur Folge, daß wir eine andere Erklärung benötigen, um normative Einschränkungen bezüglich der EntManchmal ist Idealismus nur ein anderes Wort für Philosophie, manchmal (so wird behauptet) wird es heraufbeschworen, um jegliche ontologische Bindung an endliche Besonderheiten anzugreifen (vergleiche Hegel 1969a, 154 f.; 1969b, 145); manchmal (so wird behauptet) bedeutet es soviel wie die platonische Behauptung, daß alle Realität wirklich eine Manifestation der ›absoluten Idee‹ darstellt. 7
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stehung und der Verständlichkeit urteilsartiger Aussagen dort zu rechtfertigen, wo diese überhaupt gerechtfertigt werden können. Dies bedeutet nicht, daß eine dieser normativen Einschränkungen nicht so etwas wie ›was uns die Erfahrung darüber nicht zu sagen erlaubt‹ sein kann, aber die Art und die Funktionalität dieser Einschränkung muß sich von jeglicher Berufung auf Unmittelbarkeit, auf das Gegebene etc., unterscheiden. Dies kann man in der Tat als Idealismus bezeichnen, da es die Möglichkeit der Erfahrung, des erfahrungsbasierten Wissens und den Erfolg der geleisteten Erklärung von begriffl ichen Regeln abhängig macht, die selbst nicht empirisch abgeleitet sind – wobei dies voraussetzt, daß die Möglichkeit empirischer Erfahrung selbst bereits von solch einem Unterscheidungsvermögen abhängt. Man kann also sagen, daß das benötigte Unterscheidungsvermögen und die Unterscheidungsprozesse ›von uns beigesteuert werden‹, und daß sie außerdem nur durch unsere Praxis einen Inhalt erlangen, und nicht etwa aufgrund einer Erklärung, die bis zu etwas direkt in der Erfahrung Verfügbarem zurückverfolgt werden kann. 8 Da viele Interpreten Kants Version dieses Anspruchs lange Zeit so verstanden haben, daß diese Abhängigkeit bedeute, daß wir nicht im gewöhnlichen Sinne äußere Objekte, sondern stattdessen nur verstandesabhängige Dinge oder Erscheinungen erfahren, und da Hegel, ungeachtet seiner anderen Aussagen, dies eindeutigerweise nicht behauptet, müssen wir zumindest in Hegels Fall bezüglich der Bedeutung dieser Abhängigkeit Vorsicht walten lassen. Brandom bietet an dieser Stelle eine nützliche Unterscheidung an. Er empfiehlt uns, zwischen Sinnabhängigkeit und Bedeutungsabhängigkeit zu unterscheiden. Dies soll uns zu der Einsicht verhelfen, daß es keinen Beleg dafür gibt, daß Hegel seine eigene Behauptung einer Abhängigkeit als irgendetwas anderes als Sinnabhängigkeit verstanden hat; das heißt, Hegel glaubte nicht, daß alle endlichen Besonderheiten in ihrer Existenz von Begriffen abhängen, welche diese Besonderheiten herauspflücken können, oder daß solche Objekte nur dann existieren können, wenn und solange sie in einem menschlichen oder göttlichen Geist gedacht werden. Vielmehr sind in Brandoms Beispielen die Begriffe ›einzelner Ausdruck‹ und ›Objekt‹ gegenseitig sinnabhängig. Man kann das eine nicht verstehen, ohne zumindest implizit auch das andere und damit auch die grundlegenden Beziehungen zwischen ihnen zu verstehen.‹ Ebenso verhält es sich mit dem Begriff der ›Tatsache‹ und mit dem ›was in einer Aussage geltend gemacht werden kann‹; ebenso mit Gesetz und Notwendigkeit In Hegels radikaler Sprache sind Begriffe ›selbst-bestimmend‹. Er argumentiert durchgehend, daß der Begriff sich seinen eigenen Inhalt gibt. Siehe Pippin 2003. 8
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auf der einen Seite, und der kontrafaktischen, robusten Inferenz auf der anderen. 9 Es gibt solche gegenseitigen Sinnabhängigkeiten – im wesentlichen zwischen modal robusten, materialen Ausschließungen in der Wirklichkeit einerseits und den subjektiven Prozessen, die versuchen, solche Ausschließungen zu identifi zieren und inkompatible Verbindlichkeiten zu vermeiden, andererseits –, und dies hilft einem dabei, manche der weitläufig bekannten Kampfrufe in Hegels Darstellung seines Idealismus zu interpretieren. So zum Beispiel in seiner Differenzschrift : »[D]as Prinzip der Spekulation ist die Identität von Subjekt und Objekt«,10 das heißt, das Prinzip des spekulativen Idealismus ist die gegenseitige Sinnabhängigkeit subjektiver Prozesse und bedeutungsvoller Aussagen über Objekte.11 Diese Interpretation des ›objektiven Idealismus‹, das heißt der Anspruch, daß die Verstehbarkeit des Begriffs einer objektiven Welt von dem subjektiven Prozeß des Erkennens von Irrtümern in der Erfahrung und der Zurückweisung inkompatibler Verbindlichkeiten abhängig ist und daß dieser Begriff nur in der Terminologie eines solchen Prozesses verstanden werden kann, ist sicherlich eine – wenn auch vielleicht eine schwache – Variante von Kants radikaler, transzendentaler Wende. Dies bedeutet also, daß alles ›Reden von Objekten‹ nur soviel wie die regelgeleitete synthetische Einheit (der einzig bestimmte, erfahrungsgegebene Inhalt, welcher dem Begriff gegeben werden kann) sein kann und somit, daß das Objekt nur »das [ist], in dessen Begriff das Mannigfaltige vereint ist«. Aber dieses Kantische Erbe scheint auch zwingend die Kantische Frage zu stellen, wie robust Brandoms Beschreibung dieser Abhängigkeit – die ich seine schwache Kantische Variation genannt habe – ist.12 Eine viel umfangreichere Verteidigung solcher Ansichten, besonders bezüglich der Rolle einzelner Ausdrücke, fi ndet man in Kapitel VI in Brandom 1994. Der große Vorteil von Brandoms Fassung des Problems des Idealismus besteht darin, daß sie die Begriffl ichkeit der normativen Tatsache demystifiziert. Siehe Brandom 1994, 625, und besonders Habermas 2000 und Brandoms Antwort (2000b). 10 Hegel 1977a, 80; Hegel: GW 4, 6. 11 Es fi ndet sich eine Form der Bedeutungsabhängigkeit in Brandoms umfangreicherer Theorie, aber sie ist, wie er sagt, ›asymmetrisch‹. Es könnte keine begriffsnutzenden, urteilenden Subjekte geben, wenn die Realität nicht eben auf die Art und Weise begrifflich ausgedrückt wäre, wie Brandom es vorschlägt; aber nicht andersherum. 12 Diese Ausdrücke sind alle relativ. Brandoms Variante ist viel stärker als Kants in anderer Hinsicht, da er die inferentiellen Praktiken, von denen das Sprechen über Objekte (symmetrisch) abhängt, als wesentlich gesellschaft lich versteht, und außerdem denkt er, daß sie Verbindlichkeiten involvieren, die eingegangen und einem von anderen zugeschrieben werden. So interpretiert Brandom zumindest Hegels allgemeine Anmerkungen, die die Struktur des Subjekts mit der Struktur des Begriffs verbinden, TMD, 216 ff. 9
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Mit anderen Worten: Als Kant behauptete, daß es eine ›Sinnabhängigkeit‹ zwischen Begriffl ichkeiten wie ›Ereignis‹ und ›Fähigkeit zwischen einer Folge von Vorstellungen und einer Vorstellung von Folge zu unterscheiden‹ gebe, daß diese Unterscheidung selbst möglich sein muß, da es sonst keine Einheit der bewußten Wahrnehmung gebe, und daß diese Einheit nur unter der Bedingung möglich sei, daß alle sukzessiv in einer Mannigfaltigkeit sinnlich angeschauten Elemente gemäß einem Gesetz (und also mit Notwendigkeit) aufeinander (zumindest aus einigen anderen Elementen) folgen, machte er nicht die triviale Beobachtung, daß die Bedeutung einer jeden Aussage über Unterschied und Einheit in unserer Erfahrung davon abhängt, was für uns – ungeachtet unserer Fähigkeiten zur Unterscheidung – als unterscheidbar gilt (so als ob unsere Unterscheidungsfähigkeiten auf irgendeine Weise bestimmten, was verständliche Aussagen über unterscheidbare Objekte sinnvoll ausmachen könnte). Diese Art von Beobachtung ist nur im Kontext von Positionen wie der des Psychologismus, des positivistischen Verifi kationsbegriffes oder etwa im Kontext von Kants Projekt der transzendentalen ›notwendigen Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung‹ und dem damit einhergehenden Bedürfnis nach einer Deduktion von Relevanz. Man kann auch sagen, daß sie relevant sei für den Idealismus von Wittgensteins Tractatus, in dem die Grenzen der Sprache die Grenzen der Welt sind, und ich verstehe noch nicht, was es sein könnte, das laut Brandom seine eigene Position vor dem Trivialitätsvorwurf schützt. Außerdem, da laut Kant die Rede von Objekten von unseren epistemischen Bedingungen sinnabhängig ist, glaubt Kant die Frage aufwerfen zu müssen: ›Selbst wenn dies für uns die einzige Art und Weise darstellt, den erfahrungsmäßigen Sinn eines ›Ereignisses‹ zu fassen, wie verhält es sich dann aber mit den Ereignissen selbst, wenn man sie unabhängig von unseren Bedingungen für sinnvolle Aussagen über Ereignisse betrachtet?‹ Diese Frage könnte selbst bereits einen Fehler darstellen (was Hegel sicherlich gedacht hat). Es ist aber nicht eindeutig, warum oder auf welche Weise Brandom dies denken sollte. Es ist lediglich die beachtliche Allgemeinheit der Behauptungen über Objekte, Tatsachen und Gesetze, die eine solche Frage für Brandom müßig macht; das heißt, wer könnte der Behauptung widersprechen, daß die Art und Weise des Verstehens von Tatsachen mit dem Verständnis des Inhaltes von Aussagen zusammenhängt?13 In einer strikt Kantischen Perspektive von Brandoms Theorie mag es so aussehen, daß mit einer ›empirischen Deduktion‹ auszukommen ist (was tatsächlich eine Art historisch offener Ansatz ohne deutliche Trennung zwischen reinen und empirischen Begriffen ist), und daß wir keine ›transzendentale Deduktion‹ benötigen. Und wenn 13
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Dieser Gedanke ist in einem Hegelschen Zusammenhang insofern von Bedeutung, als Hegel an einen radikalen begrifflichen Wandel auf einer Ebene glaubte, die Kant (mit Schrecken) als kategorisch oder konstitutiv, beziehungsweise als empirisch unantastbar bezeichnen würde. Dies bedeutet, daß es möglich sein muß, daß sich in einer sinnstiftenden Praxis eine Art von Lücke öffnet, eine Lücke zwischen demjenigen, was Hegel (subjektive) Gewißheit nennt, und dem, was er als ›Wahrheit‹ bezeichnet. Dies können wir vorläufig einfach als den Anfang einer Art von Unzulänglichkeit in einer bis dahin geschmeidig verlaufenden Praxis bezeichnen. Diese Lücke ist also praxis-intern; es ist dementsprechend keine empirische Unzulänglichkeit oder ein skeptischer Zweifel darüber, wie Objekte an sich selbst wären. Außerdem, falls wir Brandoms Reformulierungen folgen wollen, muß dies als eine Art ›Zusammenbruch von Bedeutung‹ verstanden werden. All dies scheint zu suggerieren, daß wir zumindest sagen sollten, daß ein jedes subjektive Vermögen oder ein jeder Prozeß, den wir zu identifizieren versuchen als ›alles was ein Objekt oder eine objektive Struktur oder einen Wertanspruch oder eine Verbindlichkeit für uns bedeuten könnte‹, vorläufig sein muß und daß diese Vorläufigkeit erklärt werden muß. Die Betonung von Hegels Interesse an einem grundlegenden und historischen Wandel von konstitutiv-normativen Verbindlichkeiten ist mit Brandoms Hegelinterpretation nicht unbedingt unvereinbar. Ich empfinde es jedoch als bezeichnend, daß Hegel diesen Aspekt beschreibt, indem er über die Beziehung zwischen ›dem Dieses‹ und der sinnlichen Gewißheit, ›dem Ding und den vielen Eigenschaften‹ sowie der Wahrnehmung, ›Kraft‹ und Verstand, ›Leben‹ und Selbst-Bewußtsein, Vernunft und Selbst usw. spricht; und daß er nicht für eine allgemeine Abhängigkeit zwischen unterscheidbarer und unterscheidender Fähigkeit plädiert. Das heißt, es existiert eine bestimmte Erklärung dessen, worin diese Sinnabhängigkeit wirklich bestehen könnte und wie diese Ko-Variationen aussehen könnten; dabei ist es besonders bemerkenswert, daß Hegel die Geschichte dieser vermeintlichen Abhängigkeiten und der ›Erfahrung‹ ihrer Mangelhaftigkeit in der Form einer idealisierten Erzählung mitteilt. Um vielleicht doch noch wirklich-geschichtliche Entwicklung in Hegels Erzählung vom objektiven Idealismus zu integrieren, muß außerdem die konstitutive (und gesellschaft lich institutionalisierte) Abhängigkeit, um die es geht, mit viel substantielleren Aussagen beginnen, so daß diverse historische Fehlschläge (besonders Fehlschläge, die nicht von empirischer Entdeckung abhängen) erklärt werden können. Hegel die Phänomenologie eine ›Deduktion‹ des Standpunktes der philosophischen Wissenschaft nennt, scheint er mehr im Hinterkopf zu haben als diese allgemeine Abhängigkeitsaussage.
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Dieses Problem des normativen Wandels wird uns noch ein paar Mal begegnen. Momentan können wir nur feststellen, daß wir bei all den Aspekten der von Kant erwirkten Veränderung der Fragestellung, bei deren Verständnis Brandom uns geholfen hat – nämlich vom Charakter und der Qualität unseres Zugriffs auf Begriffe bis hin zur Frage des normativen Zugriffs von Begriffen auf uns –, auch verstehen müssen, wie Hegel die Fragestellung noch einmal neu gefaßt hat. Das heißt, wir müssen nachvollziehen, warum Hegel so großen Wert auf die Tatsache legte, daß ein Begriff diesen normativen Zugriff verlieren kann. In typisch Hegelscher Sprache ausgedrückt: Erst wenn wir diesen Verlust des normativen Zugriffs des Begriffs verstanden haben, können wir verstehen, was der normative Zugriff des Begriffs überhaupt bedeutet. 14 Dieser Aspekt ist auch wichtig, wenn wir von dichten normativen Begriffen sprechen und von der Art der Bindungsmacht, die man ihnen nach Hegel zusprechen kann. Denn die grundlegenden ethischen Begriffe, an denen Hegel interessiert ist, fungieren ebenfalls sowohl als instituiert (mehr gemacht als gefunden) als auch als konstitutiv. Man wird ein Bürger, indem man als ein solcher angenommen und anerkannt wird; es gibt nur Bürger, insofern diese Regeln bei der Unterscheidung von gesellschaft lichen Rollen angewendet werden. Trotzdem ist es immer noch möglich, daß solch eine Praxis in einer Art und Weise fehlzuschlagen beginnt, die nichts damit zu tun hat, was für ›Bürgertum-an-sich‹ wesentlich ist und was von einer vorherigen Praxis einfach ›ausgelassen‹ wurde (wie zum Beispiel in Hegels Erklärung der Fehlschläge des römischen oder jakobinischen Bürgertums), und (um wieder einmal etwas vorwegzunehmen) die nicht einfach damit zusammenhängt, was eine zeitlich spätere Gemeinschaft tatsächlich als Bürger ›wiederhergestellt‹ hat. Zugegeben, da Brandom sich gegen Carnap auf die Seite Quines schlägt, macht es ihm nichts aus, sogar radikalen Bedeutungswandel auch ›in‹ der Erfahrung einzugestehen. Er gibt uns seine eigene Analogie zum Gewohnheitsrecht, um solchen Wandel mitsamt seinem progressiven Charakter zu erklären. Darüber möchte ich mehr im letzten Abschnitt sagen.
II. Brandoms Holismus ist bereits deutlich geworden. Er ist paradigmatischerweise durch seine ›materialen Ausschlüsse‹ defi niert: Ausgeschlossen sind alle Dualismen von ›Begriff und Anschauung‹ oder von ›Begriffs14
Hegel 1977b, 51; Hegel 1999, 57.
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Schema und Inhalt‹ sowie ein jeder Atomismus bezüglich des Begriffsinhalts. Brandom bietet uns verschiedene Formulierungen dieses Standpunktes an, wobei zahlreiche von diesen sehr lehrreich im Hinblick auf geschichtliche Veränderungen im modernen Begriff der Repräsentation sind (wie etwa die heraufdämmernde Einsicht, daß »die vertikalen Beziehungen zwischen Gedanken und Dingen entscheidend von den horizontalen Beziehungen zwischen Gedanken und Gedanken abhängen« (TMD, 26)). Dieses Hegelsche Motiv bringt uns zum Herzstück von Brandoms eigener Theorie der inferentiellen Rationalität, zu seiner Beschreibung der doppelten deontischen Buchführung und zu seiner reichhaltigen Darstellung der Verschiedenartigkeit material-inferentieller Beziehungen.15 Es ist unmöglich, all den Details gerecht zu werden, die Brandom als Manifestationen dieser Theorie bei Hegel interpretiert, und es ist ebenso unmöglich angemessen auszudrücken, wie extrem lehrreich vieles in dieser Diskussion ist. Ich muß mich hier auf das potentielle Hauptproblem konzentrieren, das Brandom in Hegels Version des Holismus entdeckt.16 Es geht dabei um folgendes: Brandom unterscheidet zwischen »schwachem individuationalen Holismus« und »starkem individuationalen Holismus«. Der erstere besagt, daß eine notwendige Bedingung der Möglichkeit der bestimmten Inhaltsfülle von Begriffen eine »Artikulation durch Beziehungen der materialen Inkompatibilität« ist (womit er, wenn man seinen Abhängigkeitssatz berücksichtigt, unter diesen Beziehungen sowohl die Beziehungen zwischen Eigenschaften und Zuständen als auch zwischen Sätzen und Prädikaten meint). Der starke individuationale Holismus besagt, daß Artikulationen durch materiale Inkompatibilität ausreichend für Bestimmtheit sind (TMD, 183). Hegel scheint ja nicht mit einer vorangehenden Menge von Möglichkeiten zu beginnen, so daß ihm Siehe die lapidare Zusammenfassung in seinem einführenden Kapitel in TMD: »Fünf Konzeptionen der Rationalität«, ebenso wie Brandom 2000a. 16 Hier scheint mir eine Anmerkung angebracht, die ein Thema anspricht, welches mir in diesem Zusammenhang zu weitläufig zu sein scheint. Oft, wenn Hegel »Das Wahre ist das Ganze« sagt, meint er nicht einen Holismus in Brandoms Sinne, sondern eine Art Vollständigkeit, die die deutsche Literatur als die ›Abgeschlossenheit‹ des Hegelschen Systems bezeichnet. Dies schließt die Behauptung mit ein, daß für eine Art von Begriff (zum Beispiel, welcher Art auch immer das Subjekt der Wissenschaft der Logik ist), vollständige Bestimmtheit (und wir können uns nie mit irgendetwas anderem zufrieden geben) ein Verständnis der vollständigen inferentiellen Artikulationen eines jeden Begriffs innerhalb eines Systems, das selbst vollständig oder geschlossen ist, voraussetzt. (Siehe Hegel 1969b II, 486; 1969a, 826). Brandom hat (auf weise Art, wie mir scheint) diese Bedingung gelockert, aber wie am Anfang bemerkt, gibt es noch einen weiteren Sinn, in dem Hegel eine Theorie der linguistischen Bedeutung mit einer ›Theorie von Allem und Jedem‹ verbindet. 15
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das Wissen um das vom Begriff Ausgegrenzte helfen würde, so etwas wie die Positionierung eines solchen Begriffes im logischen Raum zu etablieren (etwa in einem disjunktiven Syllogismus). Außerdem behauptet er, daß Unmittelbarkeit als Unmittelbarkeit (so wie etwa direkt-rezeptive Unmittelbarkeit) unbestimmt ist (und dies ist die Annahme, die Brandom ›ergänzen‹ oder ändern will). Deshalb kann es scheinen, als ob Hegel Bestimmtheit ausschließlich als Angelegenheit dieser Beziehungen materialer Ausschließung versteht, oder als das, was Brandom als »symmetrische relative Individuation« bezeichnet. Wenn aber alles durch Beziehungen materialen Ausschlusses bestimmt ist, dann sind »die Relata auf gewisse Weise in die zwischen ihnen herrschenden Beziehungen aufgelöst«, und wir sind mit der offensichtlichen Frage konfrontiert: »Beziehungen zwischen was«? (TMD, 187). (Dies ist übrigens ein traditionsreiches Problem in der Geschichte der Diskussionen über Hegel. Die frühere und sehr einflußreiche Darstellung Hegels als eines starken individuationalen Holisten war die britische, monistische, ›interne Beziehungen‹-Variante von Hegels Metaphysik.) Dieser Frage liegt jedoch eine Annahme zu Grunde, die mir unhegelianisch erscheint, und zwar eine Art irreführender, ausschließender entweder/oder-Disjunktion. Es erscheint plausibel anzunehmen, daß wir uns im Prozeß des immer besseren Verstehens eines begriffl ichen Inhalts, das heißt im Verlaufe empirischen Entdeckens oder sich wandelnder normativer Praktiken, mit einer provisorischen, fi xierten Bezeichnung der Relata zufrieden geben. Das heißt entweder mit einer provisorischen Defi nition oder mit einem Positionsgeber paradigmatischer Fälle, der sich selbst im Lichte einer weiter gefächerten, inferentiellen Artikulation verändern kann, ja, der sich vielleicht sogar sehr erheblich verändern kann. Wir könnten sogar eine kleine Menge von offensichtlich inferentiellen Artikulationen isolieren und diese als privilegiert behandeln, während wir das, was wir als Relata behandeln, an seinem Platz lassen, damit wir verschiedene andere inferentielle Artikulationen (von ihm, dem Relatum, das so locker aber effektiv defi niert ist) entdecken können. Wir könnten dies auf geradezu pragmatische Weise tun, ohne uns dem Essentialismus oder der Analytizität oder etwa der Ansicht zu verschreiben, daß es wirklich eine privilegierte Menge von inferentiellen Beziehungen gebe. Zum Beispiel erhält bei Hegel der Begriff der menschlichen Subjektivität, welcher anfangs durch das einfache Bewußtsein bestimmt ist – also durch die Möglichkeit, daß ein Subjekt sich zu einem Objekt verhält – im Laufe der Phänomenologie einen ›Inhalt‹. Das heißt, er wird zu einer Funktion sehr vieler verschiedener reflektierender und sozialer und ethischer Vermögen, die laut Hegel (unglaublich aber wahr) letztendlich notwendige
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Bedingungen selbst für die Möglichkeit einer einfachen Beziehung zu einem Objekte darstellen. Ich sehe keinen Grund zur Annahme, daß Hegel, sobald wir einmal die Menge der verschiedenen Vermögen verstanden haben, uns auch eine Antwort auf die Frage schuldet: ja, aber was ist hier das Relatum, was ist dasjenige, das diese Vermögen hat oder das diese inferentiellen Möglichkeiten in sich trägt? Es ist immer möglich, vorläufig Designate auszuwählen, um ein umfangreicheres Vermögen einzuführen. Jedoch kann uns nur eine grammatikalische Illusion (ein »Paralogismus«, wie Kant es in diesem besonderen Fall genannt hat), die von der Sprechweise des ›das, was‹ erzeugt ist, zu der Annahme veranlassen, daß wir ein durchgehend unverrückbares Relatum benötigen. (Selbst Kants eigene ›Merkmale‹-Theorie der Begriffsbestimmung läßt sehr viel Freiraum beim Etablieren der Bestimmung des Begriffs.) 17 Ich vermute, daß Brandom diese Frage stellt und zu beantworten versucht, weil er Hegels objektiven Idealismus mit einer Art direkter Einschränkung durch die sinnliche Welt kompatibel machen möchte (also mit einer Art und Weise, die Relata in inferentiellen Beziehungen auf eine Weise zu fi xieren, die nicht den Akt des Vorstellens, des Aussagens oder irgendeinen Inhalt mit einbezieht, die jedoch unsere Anwendung von Begriffen an eine Befreiung von der Sinnlichkeit bindet), weil er auf eine intuitiv sehr nachvollziehbare Art und Weise eine strenge Ko-Variation zwischen subjektiven Prozessen und objektiven Tatsachen und Objekten erhalten möchte (Beziehungen ohne fi xierte Relata sind offensichtlich in dieser Hinsicht nicht intuitiv nachvollziehbar), und weil er, wie er meint, eine durch Sellars inspirierte Vorstellung davon hat, wie dies geschieht. Hier soll das helfen, worauf Brandom sich häufig mit dem Ausdruck »Harman«-Einsicht bezieht. Laut dieser gibt es einen Unterschied zwischen inferentiellen Beziehungen und inferentiellen Prozessen.18 Wie Brandom selbst sagt: »Inferenz ist ein Prozeß; Implikation ist eine Beziehung« (TMD, 192). Diese Unterscheidung wird uns erlauben, vorsichtiger beim Verstehen dessen zu sein, was wir meinen, wenn wir begriffl ichen Inhalt mit »Beziehungen« materialer Ausschließung in Verbindung bringen. Laut Hegel heißt dies, daß wir nicht darauf verfallen sollten, materiale Ausschließung überall als ein einfaches ›in Beziehung Stehen‹ von Relata zu Siehe die Besprechung empirischer Begriffe in der zweiten Hälfte von Kapitel IV in Pippin 1981. Siehe auch John McDowell’s Kritik an Brandom bezüglich der Begriffsbestimmung in McDowell 1999. 18 Das heißt, um Brandoms Bild zu verwenden: Modus ponens lehrt nicht, daß man von ›Falls p, dann q und p’ auf q schließen sollte. Man könnte bessere Gründe haben, nicht auf q zu schließen. Modus ponens drückt nur eine logische Beziehung aus, die einschränkt, was wir tun sollten (niemals: alle p; wenn p, dann q; und ~q). 17
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sehen (oder als, per impossibile, nur ›in Beziehungen Stehen‹). Objektive Beziehungen der Inkompatibilität können, laut Brandoms Behauptung der Sinnabhängigkeit, nur als Prozesse des Auflösens und des Vermeidens subjektiver Inkompatibilitäten von Verbindlichkeiten verstanden werden, und die fi xierte Begriffsbestimmung muß unter diesen ›objektiv idealistischen‹ Bedingungen erklärbar sein. Sobald wir verstehen, daß die fraglichen Beziehungen als Implikationsbeziehungen gelten, weil sie den Wandel des vernünft igen Glaubens im Laufe eines anhaltenden inferentiellen Prozesses einschränken, und sobald wir verstehen, wie dieser Prozeß funktioniert, wird unsere vorherige Sorge bezüglich Hegels starken Holismus nicht mehr ganz so argwöhnisch erscheinen. Denn nach Brandom müssen wir im Rahmen unserer diskursiven Praxis immer mit einer Art von vorherig unterschiedenem Gegebenen beginnen – er schlägt Zeichen wie etwa propositionale Buchstaben vor. (Dies soll unsere Intuitionen auf der ›Objektseite‹ befriedigen.) Diese Analogie ist angeblich von ›orthodoxer mathematischer Abstraktion durch die Formierung von äquivalenten Klassen‹ inspiriert worden. Ich persönlich glaube, daß sein Argument deutlicher in seiner Zusammenfassung von Hegels Aussagen über Wahrnehmung hervortritt. In seinem Hegelianischen Beispiel der Eigenschaftenbestimmung versucht Brandom sein Modell der holistischen Rollenabstraktion zu konkretisieren, indem er die angeblichen »Stufen« in Hegels Theorie bespricht. Nach diesen Stufen werden Eigenschaften zuerst als atomistisch gedacht, das heißt ihre Bestimmtheit wird ohne jegliche Rücksicht auf ihre Beziehung untereinander gedacht. Darauf folgend – angesichts der Unbestimmtheit der Resultate auf der ersten Stufe – wird ihre Bestimmung als Ausschluß inkompatibler materialer Beziehungen gedacht. Nach Brandom droht auf dieser letztgenannten Stufe die Auflösung der vorher genannten Relata. Diese Beziehungen zwischen Rollen können jetzt als vollständig aus Beziehungen bestehend gedacht werden. Dies ist der Fall, da die ›Unmittelbarkeit‹ – die als eine Art Zeichen denjenigen Inhalt der Erfahrung kennzeichnet, auf den differentiell geantwortet wurde – es bereits möglich gemacht hat, einer Klasse oder Menge solcher Kennzeichen auf der Spur zu bleiben, und dies obwohl sie rein für sich gesehen ein je ne sais quoi bleiben. Das Wichtigste ist (und es ist unmöglich, dies zu stark zu betonen), daß diese Unmittelbarkeit nicht repräsentierend ist, das heißt, als ein Zeichen für etwas Anderes gilt. Unser Vermögen, auf einfach differenzierende oder nicht-inferenzierende Art und Weise zu antworten, leistet einen Beitrag zum Prozeß der Bestimmung des Inhalts (zu dem, das in Beziehung steht). Es tut dies aber anfänglich nur in Form unserer differentialen Reaktionsfähigkeit und dadurch, daß diese Objekte möglicherweise
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eine höherstufige, inferentielle Unterscheidung ausdrücken, die implizit in der Unterscheidbarkeit des Objekts vorhanden, aber nicht direkt als solche wahrnehmbar ist. Wir müssen in diesem Prozeß die Arbeit der Bestimmung verrichten. » […] [M]an muß die holistischen Rollen in Stufenform aufbauen, indem man mit etwas beginnt, das als unmittelbar ausgelegt wird, und dann die Vermittlung nachvollzieht, die implizit darin enthalten ist, daß man etwas als bestimmt versteht.« (TMD, 206) 19 Dieses Verständnis des Verhältnisses zwischen Unmittelbarkeit und Vermittlung (und das Bestehen darauf, daß Unmittelbarkeit eine so ähnlich geartete Rolle in der Erfahrung spielt) kommt mir ziemlich Sellarsianisch vor (zumindest so wie Brandom ihn interpretiert) und führt zum gleichen Problem, das man in (Brandoms) Sellars fi ndet. Dieses Problem ist die unhegelianische Sprechweise von »Stufen« anstatt von »Momenten« und diese Art und Weise, uns mit der Sinneswelt durch lediglich kausal ausgelöste ›Antworten‹ in Verbindung zu setzen. Der Titel von Brandoms Kapitel über Sellars lautet »Die Zentralität von Sellars zweilagiger Theorie der Beobachtung«, und die ›Zweiheit‹, um die es hier geht, ist dem soeben Zusammengefaßten ähnlich. Die erste Lage ist das, was aus der »verläßlichen differentialen Disposition zur Antwort« (VDDA) resultiert. Wir teilen mit nicht-menschlichen Tieren, manchen Maschinen und sogar mit manchen normalen Objekten die Fähigkeit, differenziert und verläßlich auf bestimmte Umweltreize zu reagieren. Aber Reaktionen dieser Art, selbst wenn sie die Äußerung eines Wortes einschließen, sind nicht repräsentational, das heißt sie haben noch keinen Inhalt, und laut Sellars ist dies in erster Linie daher der Fall, da noch keine Verbindlichkeit mit irgendetwas hergestellt worden ist. Die Verbindung entsteht erst bei der Anwendung von Begriffen und der Zuschreibung einer Verbindlichkeit durch andere Subjekte. (Zu diesem Thema fi nden sich zahlreiche mehrdeutige Formulierungen. Im zweiten Hegelkapitel sagt Brandom bezüglich unmittelbar hervorgerufener Reaktionen, daß in diesen Fällen Besonderheiten eine »Autorität über die Allgemeinheiten oder Begriffe ausüben, die auf sie angewendet werden« (TMD, 224). Aber da diese Reaktionen nur hervorgerufen sind, oder uns »abgerungen« wurden, sollte sich die Frage der Autorität gar nicht stellen. Nach Brandom ist Autorität oder eine normative Aussage im allgemeinen etwas Gewährtes, nicht etwas Hervorgerufenes.) Ein noch größeres Problem ergibt sich, sobald man versucht, eine Verbindung zwischen diesen beiden Dimensionen herzustellen, da die 19
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Die Formulierung ›Als unmittelbar konstruiert‹ würde bereits zuviel vorwegneh-
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erste sich auf das bezieht, was kausal hervorgerufen wird, und die zweite eine normative Verbindlichkeit beinhaltet, die wohl nicht nur provoziert, verursacht oder von den VDDAs direkt hervorgerufen wurde. Reaktionen solcher Art scheinen daher nicht ›richtungsweisend zu sein‹, und wenn man sie nur als VDDAs betrachtet, scheinen sie in Hinsicht auf dasjenige, dem ich letzten Endes verpfl ichtet bin, normativ inaktiv zu sein. 20 Wenn sogar die Empfi ndung »durch und durch normativ ist« (und das Wort »verläßlich« deutet dies bereits an), dann erscheinen diese kausalen Episoden hervorgerufener Reaktionen wie eine Schaufensterdekoration, die einen hypothetischen Verläßlichkeitstheoretiker oder Externalisten oder Kognitivisten besänft igen soll. Obwohl manches davon richtig sein mag, argumentiert Brandom, daß es keine globale Unabhängigkeit zwischen der Reaktion auf Beobachtung und der Nutzung des Begriffes gibt, und er merkt an, daß »rein theoretische Begriffe kein autonomes Sprachspiel konstituieren, das heißt ein Spiel, das man spielen könnte, obwohl man sonst kein anderes spielt« (TMD, 366). Jedoch lautet der von ihm dafür unmittelbar genannte Grund, daß ›man in der Lage sein muß, begrifflich auf die Aussagen anderer zu antworten, um überhaupt sprechen zu können‹ (Ibid.). Damit gibt er aber beinahe zu, daß das, was allgemein als verläßliche Reaktionsfähigkeit gilt (etwas, das etabliert sein muß, damit eine Beziehung zwischen diesen beiden ›Lagen‹ überhaupt möglich ist), selbst durch eben jene soziale Normativität vermittelt wurde, die Brandom an anderer Stelle sonst so ausdrücklich betont. Falls andere in der Sprechgemeinschaft solche Dinge wie die Zuschreibung von ›Verläßlichkeit‹ verwalten, wird ein Teil des Inhaltes solch einer Norm schließlich damit beginnen, für Individuen als Norm zu funktionieren, und zwar als ein konstituierendes Element des sinnlich Aufgenommenen innerhalb des Unterscheidungsprozesses selbst. Brandom gibt also zu, daß sich unsere Einstellungen als Konsequenz von systematischen Fehlerquellen wandeln (TMD, 366–7). Und Brandom gibt ebenfalls zu, daß im Kontext dichter Moralvorstellungen zwei solcherart unterschiedliche Stränge schwer vorstellbar sind, ganz so als ob man in der Lage wäre, differenzierend auf Manifestationen von Mut oder Grausamkeit in einer nur kausal hervorgerufenen Art und Weise zu reagieren (TMD, 367). Da Hegels Philosophie zweifellos systematisch ist, ist es schwer vorstellbar, daß die Nichtanwendbarkeit der von Brandom vorgeschlagenen Stufenbau-Metapher der Unmittelbarkeits-Vermittlungs-Beziehung (auf diesen Fall) nicht bedeutet, daß etwas mit der Kerntheorie nicht stimmt. Solch ein Ansatz findet sich in Sellars Werk, aber dieser hängt von zwei Begriffen ab, die man am besten aus Sellars 1963 herausarbeitet: Abbilden und Analogie. 20
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Die hieraus zu ziehende Lehre scheint vielmehr zu sein, daß man sich Brandoms Interpretation von Hegels Unmittelbarkeitskonzept noch einmal genauer ansehen muß. Anstatt von »Stufen«, die auf irgendeine Weise den zwei Lagen von Sellars – d. h. den Lagen des ›verläßlichen Beantworters und des sich normativ verbindenden Beobachters‹ – nachempfunden sind, scheint mir Hegel einen noch tiefgreifenderen prozeduralen Holismus zu vertreten. Laut Hegel ist selbst der Charakter der direkten sinnlichen Erfahrung vermittelt, und dies läßt weder zu, alles in einen ›starken individuationalen Holismus‹ zusammenfallen zu lassen, noch läßt sich auf dieser Basis Brandoms Stufenbau-Modell annehmen. Stattdessen streitet Hegel die Trennbarkeit von unmittelbaren und vermittelten Elementen ab. Er tut dies, obwohl er auf dem Gedanken beharrt, daß beide Arten von Elementen eine Rolle spielen. Ich schlage vor, daß Hegel – in Brandoms Sprache ausgedrückt – folgendes sagt: Die Tatsache, daß die atomistisch verstandene Eigenschaft sbestimmung mißlingt, bedeutet nicht, daß unsere unmittelbar hervorgerufenen Wahrnehmungsreaktionen deshalb als nicht-repräsentierende, zeichenartig unterscheidbare Objekte konstruiert werden sollten, die so etwas wie die Grundlage einer Abstraktion für bereits inferentiell ausgedrückte Rollen darstellen. Vielmehr bedeutet es, daß ein vollständigeres, adäquateres Bild dieser zwar ein-schichtigen, aber komplex und untrennbar strukturierten Dimension der Erfahrung benötigt wird. 21 Zugegebenermaßen liefert uns dies ein viel weniger robustes Bild davon, wie man auf die Welt antwortet, und es scheint auch dem Konzept der gegenseitigen Verantwortlichkeit eine wichtigere Rolle zuzusprechen. Da jedoch laut Brandom kein unmittelbares Element der Erfahrung alleine die Begriffsanwendung verursacht oder einschränkt, hat er dieses Problem ohnehin. Nachdem Brandom in seinem Kapitel über Sellars das grundlegendste Motiv seines Inferentialismus folgendermaßen defi niert: »das Begreifen eines jeden Begriffs setzt das Begreifen mehrerer Begriffe voraus«, muß er auch eine Frage stellen, die durch seine ausführliche Darstellung der holistischen Rollenabstraktion nicht gestützt wird. Diese Vergleiche Hegels Bemerkung, »daß die Kantischen Formen der Anschauung und die Formen des Denkens gar nicht als besondere isolierte Vermögen auseinanderliegen, wie man es sich gewöhnlich vorstellt. Eine und ebendieselbe synthetische Einheit […] ist das Princip des Anschauens und des Verstandes« (Hegel: GW 4, 327). Ein offensichtliches Eingeständnis fi ndet sich hier: dies – ›ein vollständigeres, angemesseneres Bild, etc.‹ – ist leicht versprochen, aber schwer eingelöst. Brandom hat es deutlicher als jeder andere gemacht, wie schwierig und kompliziert die Probleme in wahrnehmungsbasiertem Wissen, einzelner Bedeutung und Modalität sind, denen sich eine inferentialistische, rationalistische, sozialpragmatische Position stellen muß, sei es Hegels oder Brandoms. 21
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Frage lautet: »wie gut muß man beim Unterscheiden sein […] um als den Begriff begreifend zu gelten«. Er antwortet, daß dies vollkommen davon abhängt, wie man von den anderen Mitgliedern der Sprechgemeinschaft behandelt wird. Es hängt also davon ab, daß man einen ›gesellschaft lichen Status‹ erreicht hat, indem man als jemand anerkannt wird, der solch einen Status erreicht hat. Diese Vorstellung unterminiert meiner Meinung nach sowohl die tatsächliche Rolle, die eine Berufung auf unsere unmittelbare Reaktionsfähigkeit auf die Welt in der diskursiven Praxis spielt, und außerdem läßt sie auch das Problem des inferentialistischen Positivismus wieder auft reten. Unser gesunder Menschenverstand und unsere realistischen Intuitionen verlangen hier immer noch nach einer Antwort auf die Frage: Worauf stützt sich die Gemeinschaft , wenn sie solch einen Status gewährt? Stützt sie sich einfach auf das, was zukünft ige Gemeinschaften vielleicht entscheiden würden? Was schränkt die Gewährung eines solchen Status ein?22 Ist die grundlegende Frage nicht einfach ein Stück weiter nach hinten verschoben worden? Hegel hat hierauf eine Antwort, aber sie beinhaltet jene ehrgeizige Theorie der Verwirklichung der Freiheit und jene ›Bedeutungszusammenbrüche‹, die bereits früher erwähnt worden sind und die nun wieder wichtig werden.
III. Dieses letztgenannte Problem – unsere kollektive Verantwortung für unsere Normen – wirft natürlich die Frage nach dem Wesen des ›Brandom’schen Sozialismus‹ auf, der von ihm ›semantischer Pragmatismus‹ genannt wird. Dieser ist einerseits äußerst wichtig für seine Theorie der Normativität – und damit auch für seine Theorie des möglichen begriffl ichen Inhalts – und spielt andererseits eine wichtige Rolle für die Art und Weise, wie er die Geschichtlichkeit von Normen und den normaDies ist in etwa das Problem, das im Austausch zwischen Brandom und McDowell auft ritt. McDowell stellt typischerweise die Begrifflichkeit der Selbstgesetzgebung in Frage, indem er behauptet, daß »die Quelle der Normen in uns liegt«, in dem Sinne nämlich, daß die Normen »für die Praxis des Denkens konstitutiv sind«, und: »Wir haben keine Wahl, Denkende zu sein oder nicht« (John McDowell: »Selbstbestimmende Subjektivität und externer Zwang«, in: Christoph Halbig, Michael Quante u. Ludwig Siep (Hg.): Hegels Erbe, Frankfurt/M. 2004, 205). Aber der Einwand, daß ein jeder Gesetzgeber von eben jenen Rationalitätsnormen gelenkt wird, die angeblich erst ›gewährt‹ werden müssen, kann aus jeder Perspektive gemacht werden. So etwa Habermas 2000, 24. Ich glaube nicht, daß Hegel dieses Paradoxes beschuldigt werden kann. Siehe die Referenzen in der folgenden Fußnote. 22
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tiven Wandel erklärt. Ich möchte argumentieren, daß Brandom in keinem dieser Fälle Hegels Begriffe der Vergesellschaft ung und der Geschichtlichkeit hinreichend berücksichtigt. »Wir benötigen eine der grundlegendsten Hegelschen Verbesserungen von Kants normativem Rationalismus: ein Verständnis der normativen Status wie etwa der Verbindlichkeit, der Verantwortung und der Autorität als sozialer Errungenschaften. Hegel konstruiert die durch das Anwenden eines Begriffes stattfi ndende Selbstbindung als das Einnehmen einer bestimmten Art von sozialer Stellung, also als das Innehaben einer gewissen Art von sozialem Standpunkt« (TMD, 32). All dies scheint mir ziemlich richtig zu sein und eine substantielle und äußerst wertvolle Reformulierung der Beziehung zwischen Kant und Hegel darzustellen. Sobald Brandom jedoch mit seiner Besprechung des Wesens dieses gesellschaft lichen Status fortfährt, erscheint mir seine Ausführung zwar nicht unbedingt falsch, aber in bedenklicher Weise unvollständig. Laut Brandoms eigenem Ansatz (und auch in seiner Darstellung der Position Hegels) hängen die Verbindlichkeiten, die man eingeht, von einem selbst ab. Aber der Inhalt dieser Verbindlichkeiten, das, woran man sich bindet, indem man sich an die Aussage P bindet, hängt nicht von einem selbst ab; dies ist von anderen »verwaltet«. (»Ich binde mich, aber dann bestehen sie darauf« (TMD, 220).) Diese anderen Buchhalter beantworten auch Fragen bezüglich der Verbindlichkeiten, die man eingehen darf, unabhängig von dem, was man selbst behauptet zu dürfen. Wie wir vorher gesehen haben: Ob man den gesellschaft lichen Status eines kompetenten Anwenders von Begriffen innehat, hängt ausschließlich von der Anerkennung durch andere Buchhalter ab. Brandoms Aussage, daß die normative Verbindlichkeit eine Angelegenheit der Selbstbindung ist, wird der zutiefst Kantischen und von Hegel aufgenommenen und weitläufig ausgeweiteten Position der Normativität als notwendigerweise selbst-gesetzgebend weitgehend gerecht, wobei Hegel seinerseits vielen wichtigen Fichtischen Verbesserungen dieser Vorstellung folgt. Ich könnte nicht emphatischer beipfl ichten, daß dies das zentrale Herzstück ist, das den Rationalismus der kantischen und nachkantischen deutschen Tradition von seinen rationalistischen Vorgängern unterscheidet. 23 Kants Idee, daß wir nur an das gebunden sind, woran wir Ich habe diese Interpretation nach-Kantianischer Philosophie in zahlreichen Artikeln seit den späteren 1990er Jahren verteidigt, besonders im Dotterer Vortrag in der Staatlichen Universität von Pennsylvania, der in deutscher Fassung unter dem Titel »Über Selbstgesetzgebung« erschienen ist (Pippin 2003); siehe auch 2000a, 2000b, und 23
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uns selbst binden, fi ndet sich überall in dem, was wir deutschen Idealismus nennen; es tritt wieder in Fichtes Konzept der Selbstsetzung hervor und manifestiert sich deutlich in Hegels ansonsten mysteriösen Aussagen, daß der Geist ein ›Produkt seiner selbst ist‹ oder daß der Begriff ›sich selbst seine Wirklichkeit gibt‹. Dies ist allerdings bei allen drei Denkern eine hochgradig metaphorische Vorstellung; es gibt kein ursprüngliches Moment der Selbst-Bindung, ebensowenig wie es ein Fichte’sches Ich gibt, das die Erfahrung durch die Setzung des Nicht-Ichs von neuem beginnen läßt. Die Metapher läßt sich diskursiv auch nur schwer interpretieren; es mag so erscheinen, daß Brandom sich einer Theorie verschrieben hat, die – wie McDowell schon gesagt hat – »die Normen aus einem normativen Nichts zur Existenz bringt«24. Da Hegel die Aussage jedoch in der ersten Person Plural formuliert und zudem als etwas darstellt, das im Laufe der Zeit geschieht, ist für ihn jede Sorge bezüglich eines Übergangs von einer normfreien zu einer normativen Situation viel weniger relevant. Es gibt keine ursprünglich normfreie Situation, sondern nur einen fortschreitenden, kontinuierlichgeschichtlichen Prozeß der Einführung oder der Sozialisierung in die normativen Praktiken einer Gemeinschaft . Dieser Prozeß fordert Loyalität auf vielerlei praktische, involvierte und großenteils implizite Art und Weise. Er erhält sie in einer ähnlich umfassenden Anzahl von Praktiken der Zustimmung, der Bestätigung, des Unterhalts und in einer Vielzahl von Modalitäten der Selbstgesetzgebung und der Selbstverpfl ichtung. 25 So denkt Hegel zum Beispiel, daß die Kunst eine dieser Modalitäten darstellt. Doch wie schon gesagt: Sollte die ›Autonomie-These‹ lauten: »was sie [die Normen] verbindlich macht, ist die Tatsache, daß man sie als verbindlich ansieht« (TND, 219), dann ist es extrem schwierig, eine nicht-metaphorische Vorstellung dieser Selbst-Auferlegung zu entwickeln. Sobald wir uns über die Sphäre explizit assertorischer Urteile (»Dies Metall ist Molybdän« (TMD, 221)) und expliziter Performative (»Ich verspreche, dich morgen früh zum Flughafen zu fahren« (Ibid.)) hinaus begeben, sind praktischere seit neuestem in 2003. Dies sind alles vorläufige Kapitel aus Hegel’s Practical Philosophy. Rational Agency as Ethical Life, New York 2008. Siehe auch Pinkard 2002 bezüglich einer Beschreibung der deutschen Philosophie, die Entwicklungen und Lösungsvorschläge in diesem Problemfeld nachvollzieht. 24 Smith 2002, 277. Ich antworte detaillierter auf McDowells Sorgen bezüglich dieses Problems in Pippin 2005. 25 Dies ist einer der Gründe, warum Brandoms Anrufung von Pufendorf und der starken »Aufdrängungs«-Metapher, wie ein »Mantel, der über ihre [der natürlichen Welt] Nacktheit geworfen ist«, aus Hegelianischer Perspektive irreführend subjektivistisch ist (siehe MIE, 48).
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und implizitere Formen der ›Verbindlichkeit‹ viel schwieriger zu erkennen; und dies ist sowohl für ein Individuum als auch für einen möglichen Buchhalter der Fall. (Die Taten einer Person und das, was sie sonst noch zu sagen bereit ist oder gesagt hat, geben uns einen gewissen Aufschluß über die Verbindlichkeit, aber sobald wir uns jenseits von Molybdän oder Transportversprechen bewegen, wird die Situation sofort sehr kompliziert.) Darüber hinaus ist es genauso wichtig, daß eine ständige, unvermeidbare Auseinandersetzung über die Behauptungen stattfi ndet, die im Namen dieser Regeln im Laufe der Geschichte gemacht werden. Ebenso muß sich über Zuschreibung und Anspruchsbehauptungen und -verneinungen ausgetauscht werden, da sich der Kontext ihrer Anwendung wandelt und damit das ursprüngliche Verständnis unter Druck gesetzt wird; gerade weil solche Praktiken bezüglich ihres Umfangs selten explizit oder wohldefi niert sind. Hegel interessiert sich am meisten dafür, was wir als den grundlegenden Unterschied (falls es einen gibt) zwischen denjenigen Praktiken der Buchhaltungs-Aufsicht, die den historischen Tatbestand normalisieren, einerseits und einer Art von progressiver normativer Entwicklung andererseits bezeichnen würden. Und selbst dies läßt noch viel metaphorischen Spielraum zu, da – in den von Brandom entliehenen Worten Haugelands – »transzendentale Konstitution« immer »soziale Institution« ist 26 ; das heißt, es gibt keine eindeutig nicht-metaphorische Lesart davon, wie man von ›Gesellschaften‹ sagen kann, daß sie irgendetwas ›gestalten‹ (oder, vor allem, wie sie zu gestalten versuchen und trotzdem daran scheitern und schließlich mit bloßer, zwangsweiser Durchsetzung weniger gegen viele oder vieler gegen wenige enden, anstatt mit etwas, das als Selbst-Bindung gegenüber einer selbst-eingesetzten Herrschaft verstanden werden kann). Aber es gibt zumindest keinen Grund anzunehmen, daß dies im Rahmen einer verfassungsgebenden Versammlung stattfi ndet, in der ursprüngliche, grundlegende Regeln aufgestellt werden und in der ein Gehorsamsversprechen geleistet wird; und es gibt gute Gründe, dies als ein lösungsbedürft iges Problem anzuerkennen, sobald wir über das Wesen tatsächlich normativ-gesellschaft licher Bindungen sprechen wollen und nicht nur über einen Sozialisierungserfolg, der auf einer Basis von ›Zuckerbrot und Peitsche‹ stattfi ndet. Hegel glaubt tatsächlich, daß die Bedeutung der Kontinuitäten und Krisen, welche bei den Versuchen der Einrichtung und Erhaltung von Loyalität auft reten, systematisch erschlossen werden kann: »Großhandel« anstatt »Einzelhandel«, um einen Ausdruck Brandoms zu bemühen. Hegel glaubt außerdem, daß wir ohne solch eine systematische Erschlie26
Haugeland 1982.
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ßung nicht in der Lage sind, nachfolgende normative Verbesserungen von nachfolgenden Rekonfigurationen sozialer Macht im Dienste der Unterstützung eines neuen Regimes zu unterscheiden. 27 Ohne dieses ehrgeizigere Unterfangen läßt sich ein sozial pragmatischer, inferentieller Holismus wie der von Brandom nicht von einem ›inferentiellen Positivismus‹ unterscheiden. Mit anderen Worten, während Brandom den von ihm so genannten Regularismus vermeiden kann, beziehungsweise weil er es rechtfertigen kann, einer Gemeinschaft eine ursprüngliche Intentionalität zuzusprechen und bei ihr nicht nur Verhaltensgleichförmigkeiten festzustellen (das heißt, er kann die Behauptung rechtfertigen, daß ihre Mitglieder das normative Spiel des Begründens und des Fragens nach Gründen spielen und dabei Verbindlichkeiten anderer sowohl verbindlich machen als auch anderen zusprechen und sie bewerten), erklärt er jedoch nicht, wie entweder ein externer Beobachter dieser Gemeinschaft oder aber einer ihrer internen Teilnehmer die Autorität der Normen, auf deren Grundlage die Zusprechungen und Bewertungen gemacht worden sind, angemessen kritisieren kann. Außerdem kann Brandom nicht erklären, wie jene Normen daran scheitern, solch eine Kritik angemessen zu beantworten. Er kann beschreiben, was geschieht, wenn solch eine Kritik stattfi ndet, aber er versucht die Frage nach dem vermeintlichen Wert von Kritik im allgemeinen zu vermeiden. Dies sollen die Teilnehmer ausdiskutieren, und Brandoms eigene Darstellung bleibt somit ›phänomenalistisch‹. 28 Ohne solch eine weiterreichende Erklärung bleiben wir jedoch lediglich histoHegel glaubt, daß Teilnehmer historischer Gemeinschaften auf verschiedene Art und Weise unter der Unvernunft leiden können, was Brandom inkompatible Verbindlichkeiten nennt. Ferner argumentiert er, daß diese Art des Leidens den wichtigsten begrifflich-normativen Wandel erklären und ihn als progressiv (wo es dies zu leisten imstande ist) darstellen kann. Er glaubt, daß die Berufung auf die Vernunft eine soziale Macht darstellt, die von der bloßen Ausübung sozialer Macht, die als angemessene Vernunft auft ritt, unterschieden werden muß – selbst wenn Philosophen dies nur rückblickend leisten können. 28 Für Brandom ist Intentionalität derivativ und hängt in ihrer Erklärbarkeit von Normativität ab. Diese Normativität ist als eine deontische Angelegenheit normativer Status zu verstehen, die wiederum von deontischen Einstellungen eingesetzt sind. Die Abhängigkeit der Normen von Einsetzung oder von Auferlegung, die aus solchen Einstellungen resultiert, ist der normative Phänomenalismus. So viel – daß normative Status wie zum Beispiel Verbindlichkeiten Produkte sozialer praktischer Einstellungen sind – steht außer Frage. Die Forderung lautet, daß sie nicht nur solche Produkte sein können, Punkt. Denn der Inhalt der Einstellungen muß auch erklärt werden, und laut Hegel wird dies zu einer Forderung nach Priorität des ›objektiven Geistes‹ vor dem ›subjektiven Geist‹ führen, oder nach Priorität der ›Einsetzung von Bedeutung‹. Etwas gilt als Geschenk nicht nur wegen der Einstellungen der Teilnehmer, die die Einrichtung 27
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rische Soziologen (oder unterbeschäft igte explizit-Macher). Zugegebenermaßen sind wir dann explizit-Macher dessen, was Teilnehmer als das charakteristisch Normative und seine Geschichte bezeichnen. Dennoch wären wir darauf beschränkt, die Varianten der Kritik und der Verteidigungen, die ›die Teilnehmer‹ zu gegebener Zeit und an gegebenem Ort als angemessen ansehen, lediglich aufzuzeichnen. Alternativ können wir sie auf unserem gegenwärtigen Buchhaltungs-Report vermerken, aber all dies fände ohne eine Erklärung statt, wie ›die Teilnehmer‹ zu ›uns‹ geworden sind. Mit anderen Worten: Während illegitime Ansprüche auf normative Autorität eindeutigerweise immer noch mutmaßliche Normen darstellen und während das Spiel des Begründens und des Fragens nach Gründen begonnen hat, sobald man sich auf sie beruft , wird der Unterschied zwischen manipuliertem oder erzwungenem und Norm-verantwortlichem Verhalten solange nichtig sein, solange wir es nicht schaffen, den Unterschied zwischen nur mutmaßlicher und tatsächlicher Berufung auf Autorität zu fundieren. Die Tatsache, daß ich Sie bedrohe, bietet Ihnen in gewissem Sinne einen Grund, mir zu gehorchen, und Sie würden in gewissem Sinne auf eine Weise gehorchen, die durch einen Grund motiviert ist, nämlich durch Ihr Interesse an Ihrem Wohlbefi nden. Aber es ist nur schwer ersichtlich, wie man dies als eine Antwort auf eine Berufung auf eine eindeutig normative Autorität beschreiben könnte. 29 (›Positivismus‹ ist hierfür ein passender Ausdruck, nicht nur weil Brandoms Variante des Idealismus manchmal ein wenig an Verifi kationismus erinnert, 30 sondern weil, normativ gesprochen, das, was Hegel ›Positivität‹ genannt hat, das von ihm selbst erkannte Problem und Hauptproblem gewesen ist – und zwar ist dies der Fall bei seinen ersten Schriften über das Christentum und die frühe christliche Gemeinschaft bis hin zu seinen letzten Schriften über Politik. Dabei bezog sich Hegel auf die erfolgreiche Verwaltung desjenigen, des Geschenkemachens am Leben erhalten, da diese Einstellungen bereits die institutionellen Regeln der Praxis reflektieren, in die die Individuen hineinsozialisiert wurden. 29 Es steht Brandom offen, frei zuzugeben, daß Buchhaltungs-Praktiken zusammenbrechen können, sich wandeln können, etc. Aber falls dies alles sein sollte, das wir darüber zu sagen haben, sieht es wie etwas aus, das den Teilnehmern passiert ist, anstatt wie etwas, das sie getan haben; es sieht dann aus wie etwas, das sie sich selbst angetan haben, und zwar mit einer Absicht. Das Erstere mag tatsächlich alles sein, was wir letztlich sagen können, aber das Letztere ist Hegels erzählerischer Anspruch. 30 Bezüglich Brandoms Unterscheidung seiner selbst vom Verifi kationismus siehe Brandom 1994, 121 ff. Unter Berufung auf Dummetts Unterscheidung argumentiert Brandom, daß sie, die Verifi kationisten, dazu berechtigt sind, Bedeutung an diejenigen Umstände zu binden, unter denen ein Ausdruck benutzt werden kann. Aber sie vernachlässigen dabei die Tatsache, daß die angemessenen Konsequenzen seiner Benutzung ebenfalls relevant sind.
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welches zwar als Norm erscheint, aber was, sogar trotz tatsächlicher Anerkennung und Unterstützung durch die betroffenen Individuen, immer noch jenes äußerst wichtige Element vermissen läßt, das die entfremdete Beziehung zum Gesetz von einer tatsächlich affi rmativen – selbstauferlegten – Beziehung unterscheiden würde.) Ich möchte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, daß Brandom sich der von ihm so bezeichneten »Ich-Wir«-Konzeption der Sozialität verschrieben hat. 31 In den Kapiteln 1 und 8 von MIE wird klar und deutlich gezeigt, daß dies nicht der Fall ist und daß sein Sozialitätsverständnis von der ›Ich-Du‹-Art ist. Mit dem Ausdruck der ›Buchhaltungs-Aufsicht‹ beziehe ich mich hier auf dasjenige, was für die meisten Buchhalter letztendlich folgendes bestimmt: wie diese Buchhalter auf eine gemeinsame Art und Weise die Unterscheidung zwischen dem machen, ›was ein anderer für das hält, was gemacht werden sollte‹ und dem, ›was tatsächlich gemacht werden sollte‹. Ich beziehe mich also auf dasjenige, »das bestimmt, wie sich die Einstellungen derer, die übereinander Buch führen, zu den Tatsachen verhalten.« (MIE, 632) Wie bereits erwähnt, möchte Brandom nicht so weit gehen, das heißt er will nicht weiter als bis hierhin gehen. Vielmehr hält er die Bedingungen für den Erfolg seiner Theorie dann für erfüllt, sobald er erklärt hat, worin »Objektivität« im Rahmen seiner inferentiellen Semantik bestehen wird (sie besteht darin, in der Lage zu sein, zwischen normativem Status (objektiv richtig) und normativer Einstellung (als richtig angenommen) zu unterscheiden); alles andere würde laut Brandom der wirren Behauptung gleichkommen, daß Philosophie nicht urteilen kann. (MIE, 601) 32 Wir müssen bei diesem Verständnis der Objektivität als »einem strukturellen Aspekt der sozial-perspektivischen Form begriffl icher Inhalte« innehalten (MIE, 597). Philosophisch gesehen sollten wir mit der Aussage einverstanden sein, daß die »konstante Möglichkeit einer Unterscheidung zwischen dem, wie die Dinge sind, und dem, wie sie von einem Gesprächspartner gesehen werden, in die soziale Artikulation von Begriffen eingebaut ist« (Ibid.). Dieser Formalismus ist der wohl unhegelianischste Aspekt von Brandoms Theorie. Laut Hegel werden wir nie wirklich wissen, was es genau bedeutet, entsprechend unterscheiden zu können (was nicht zu verwechseln ist mit dem, was individuelle, perspektivengeDies ist ein weiteres Motiv mit Bezug auf Brandoms Hegelinterpretation, das selbst eines Buches würdig wäre. Hegel spricht von »einem Ich, das ein Wir geworden ist«, aber er meint damit nicht, daß das, was eine ›Gemeinschaft‹ tatsächlich als wahr oder verpfl ichtend versteht, dadurch ein Kriterium der Wahrheit oder des Rechts oder verpflichtend oder gut für jedes individuelle ›Ich‹ ist. Dies ist genau das, worüber Brandom sich im ›Ich-Wir‹-Diskurs Sorgen macht. 32 Siehe auch Rosen 1997 und Brandoms Antwort 1997. 31
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bundene Buchhalter zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten für die Unterscheidung gehalten haben), außer wir vollziehen die geleistete Unterscheidung als konkret ›verwirklicht‹ nach und fi nden eine Methode um zu verstehen, ob wir besser darin werden, solch eine Unterscheidung zu machen. (Wenn wir dies nicht tun, enden wir mit dem, was ich als inferentiellen Positivismus bezeichne.) 33 Auf eine Formel gebracht: Brandom glaubt, daß Bedeutung oder begriffl icher Inhalt eine Frage der Anwendung ist, es sind inferentielle Artikulationen innerhalb eines gesellschaft lichen Spiels des Begründens und des Fragens nach Gründen. Er hat recht wenn er sagt, daß Hegel dem zustimmt, aber Hegel beansprucht auch, daß die Frage nach der Autorität dieser Artikulationen, die auf bestimmte Weisen und zu bestimmter Zeit erlangt wurde, unabdingbar für die Frage nach solchem Inhalt ist, und daß wir diese Dimension nicht verstehen können, außer insofern die möglichen Artikulationen ›verwirklicht‹ sind. (Um ein Beispiel zu nennen: Die Einsicht in den Sachverhalt, warum die grundlegenden Normen der Sittlichkeit im antiken Griechenland scheiterten (so wie sie es taten), das heißt, warum sie ihre Effektivität einbüßten, lehrt uns laut Hegel etwas über den Unterschied zwischen der angeblichen Autorität einer Berufung auf eine Norm und der wirklichen Autorität; und dies hätte auf keine andere Weise gelernt werden können.) 34 Wie wir gleich sehen werden, bindet dies Hegels Begriff der Philosophie viel enger an die Geschichte als Brandom dies tut.
Noch einmal: Ich hoffe, daß deutlich geworden ist, daß damit Brandom nicht dasjenige vorgeworfen werden soll, was er ›Regularismus‹ genannt hat, also eine Reduktion von Normen auf bloße Regelmäßigkeiten in der Praxis. Wir können den Unterschied zwischen der Berufung auf Normen und dem Zusammenfassen des ›wie wir meistens vorgehen‹ verstehen (zum Beispiel kann das letztere nur in sehr seltsamen Umständen jemandem als ein Grund angeboten werden; zudem müssen, in Brandoms Sprache ausgedrückt, Verbindlichkeiten als von akzeptablen Buchhaltungsregeln eingesetzt verstanden werden, nicht als ein Produkt wirklichen Buchhaltens) und trotzdem darüber verwirrt sein, wie man die Berufung auf eine autoritative Norm vom bloßen Schein einer Berufung unterscheiden soll. 34 Es gibt verschiedene Arten, diese Begriffl ichkeit von Verwirklichung auszubuchstabieren. Eine davon wäre die traditionellere pragmatische Betonung einer Art ›erfolgreich mit der Wirklichkeit fertig werden‹-Testes, wo man es, ausgerüstet mit verschiedenen kognitiven Ansprüchen, nicht schafft, praktische Zwecke zu erreichen; dies ist der paradigmatische Fall einer empirischen Lernerfahrung. Siehe Habermas 2000, 330. Es gibt eine Menge falscher Positiva in diesem Ansatz, aber im allgemeinen ist er näher an Hegels Theorie als Brandoms, wie etwa in Hegels Jenaer Schriften über Arbeit, in der Theorie der Begierde in der Phänomenologie und an dem erforderlichen Übergang zwischen beobachtender und praktischer Vernunft im dortigen Vernunft kapitel zu erkennen ist. 33
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Ich behaupte, daß aus einer Hegelschen Perspektive das Problem von Brandoms Ansatz weniger in einer Leerstelle, einer Lücke besteht, die offenzulassen für Brandom offensichtlich kein Problem darstellt (vergleiche die frühere Diskussion der ›Selektion‹ nur einiger Hegelscher Themen), sondern darin, daß es, wie ich meine, unerlässlich ist, diese Lücke zu schließen. Dies mag ein wenig unfair erscheinen. Schließlich hat Brandom Hegel in ein außergewöhnliches, beeindruckendes Projekt hineingezogen, welches sowohl für sich genommen als auch als Erklärung von Hegels Position sehr viel erreicht hat: es stellt eine Methode zur Verfügung, anhand derer die Buchhalter-Aktivitäten ausreichend verstanden werden können, um verschiedene Sorten begriffl ichen Inhalts zuzuschreiben. Diese sind unter anderem: nicht-logischer propositionaler Inhalt und Inhalte, die mit Prädikaten und einzelnen Ausdrücken, Pronomen, Demonstrativa und Eigennamen und sogar mit dem logisch expressiven Inhalt von Konditionalen, Negation, Quantifi katoren und so weiter assoziiert werden. Und dabei habe ich nicht einmal die Ingeniosität der Brandomschen Beweisführung erwähnt, die zeigt, wie anaphorische Ketten in kommunikativem Erfolg funktionieren oder wie man etwa beides sicherstellen kann: Ko-Referenz und symbolische Wiederholbarkeit »quer durch die verschiedenen Repertoires von Verbindlichkeiten, die verschiedenen Gesprächspartnern entsprechen, hindurch.« (MIE, 588) Und dennoch, wie undankbar dies auch klingen mag, es gibt etwas äußerst Wichtiges in Hegels Projekt, das nicht in Brandom oder in Brandoms Hegel erscheint. Dieses Problem ist dort am offensichtlichsten, wo sich Brandoms Hauptproblem – das Problem der begriffl ichen Bestimmtheit, das heißt des begriffl ichen Inhalts – mit der Frage der begriffl ichen Autorität überschneidet. Dies sind solche Fälle, in denen jeder versteht, worum es sich bei dem Begriff handelt oder vorgibt, dies zu wissen (der vermeintliche Inhalt ist bestimmt), aber wo ernsthafte Uneinigkeit darüber herrscht, ob der Anspruch des Begriffs erfüllt ist, das heißt, ob der Begriff gerechtfertigt oder legitim ist, und ob er wirklich irgendetwas ›begreift‹. (Diese beiden Dimensionen des Problems sind offensichtlich untrennbar, da jede Anwendung eines Begriffes eine normative Behauptung ist, das heißt eine Behauptung, die nicht besagt, daß etwas als zusammengehörig gedacht worden ist, sondern daß etwas als zusammengehörig gedacht werden sollte oder sogar werden muß.) Diese Unterscheidung interessiert Hegel dann am meisten, wenn es um Wandel geht oder um einen teilweisen Zusammenbruch der fundamentalen, paradigmatisch-normativen Prinzipien, auf die Buchhalter sich stützen, wenn sie zwischen dem unterscheiden, was ein anderer zu tun berechtigt zu sein glaubt, und dem, was zu tun er wirklich berechtigt ist (oder was ihm verboten ist oder was er einfach tun soll-
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te) – also wenn es um solche Fälle wie göttliches oder menschliches Recht, Behauptungen des Glaubens und der Aufk lärung, Behauptungen des Naturrechts, der moralischen Freiheit, revolutionärer politischer Autorität oder moralischer Reinheit geht. (Wenn die Buchhalter die normative Welt auf bestimmte Weise aufteilen, indem sie etwa zwischen dem ›Gesetz des Herzens‹ und dem ›Wahn des Selbstbetrugs‹ unterscheiden, bedeutet ihre Buchhaltung bereits etwas; sie enthält materiale, normative Implikationen, die den Parteien, die im Spiel sind, nicht zur Verfügung stehen, und die oft den eigenen Absichten dieser Parteien zuwider laufen. Diese Buchführung hängt auch nicht einfach davon ab, wie zukünft ige Buchhalter – im Sinne historischer Tatsachen – die Implikationen ihrer Verbindlichkeiten ausweiten, ergänzen und verändern werden. Es stellt eine Beschränkung von Brandoms Ansatz und ein Kennzeichen für seinen Unterschied zu Hegel dar, daß seine Theorie der ›Bedeutungsnormativität‹ in dieser Weise reduktionistisch ist und daß sie dieses Phänomen auf die Zustände von Einstellungen von Individuen reduziert.) 35 Die intuitiv einleuchtendste Manifestation dieser Einschränkung und des daraus resultierenden Positivismus erscheint in Kapitel drei des ersten Teils von MIE, und zwar im Beispiel des ›Schillings der Königin‹. Brandom erinnert hier an die Praxis des achtzehnten Jahrhunderts, nach der das bloße Akzeptieren des Angebots eines solchen Schillings schon soviel bedeutete wie den Eintritt in die königliche Marine. Diese Praxis sollte als öffentliches Zeichen der Akzeptanz für diejenigen Analphabeten fungieren, die nicht in der Lage waren, einen Vertrag zu unterschreiben. Doch diese Praxis wurde häufig von Werbern mißbraucht, um betrunkenen Opfern in Hafenspelunken trickreich eine solche Akzeptanz zu entlocken. Viele von Hegels Argumenten für die Priorität der Sozialität sind mittlerweile wohlbekannt. Die Teilnahme an einer bestimmten Form von gesellschaft lichem Leben ist ebenso transformativ wie instrumentell nützlich, und dementsprechend gibt es einen zu großen Unterschied zwischen dem, was ein Individuum durch solche Teilnahme wird, und was es ohne sie wäre, als daß das prä-institutionelle Individuum als Standard für die Rationalität und Autorität der Institution fungieren könnte. Solche gesellschaftlichen Institutionen verhalten sich auch ursprünglicherweise formativ im Bezug auf individuelle Identitäten, und somit wären sie gleichfalls Bedingungen für die mögliche Entwicklung selbst von rationalen Egoisten und rational egoistischer ›Kultur‹. Somit können sie nicht, nicht einmal idealerweise, als das Produkt solcher Individuen angesehen werden. Ebensowenig können die Institutionen, die instrumentell notwendig sind, um individuellen Egoismus oder Gewissens-Befolgung zu beschützen und zu garantieren, selbst ohne die Beziehungen des Vertrauens und der Solidarität erhalten werden, welche nicht von Überlegungen des individuellen Interesses oder des individuellen Gewissens unterstützt werden können. Vergleiche in Rousseaus Gesellschaftsvertrag das Kapitel I.8 und Pippin 2001. 35
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So sagt Brandom: »Diejenigen, die akzeptierten, erfuhren die Bedeutung dessen, was sie getan hatten – die Verbindlichkeit, die sie eingegangen waren, und somit die Veränderung ihres Status – erst beim Erwachen aus der Benommenheit« (MIE, 163, meine Hervorhebung). Ich glaube, die meisten von uns würden intuitiv sagen, daß die bloße Tatsache, daß andere einem Individuum solch eine Verbindlichkeit zuschrieben, noch lange nicht bedeutete, daß dieses Individuum tatsächlich, im Sinne einer normativen Tatsache, wirklich daran gebunden war. Oder, mit anderen Worten, daß die Praxis etwas illegitimerweise als Verbindlichkeit wertete, das eigentlich gar nicht als Verbindlichkeit qualifi ziert war. Aber nach Brandom bedeutet das Eingehen einer Verbindlichkeit für ein Individuum lediglich, irgendetwas zu tun, das es anderen angemessen erscheinen läßt, diesem Individuum eine Verbindlichkeit zuzuschreiben – wobei ›angemessen‹ hier eine Frage der etablierten, wirklichen Praxis ist. Brandoms Ansatz erlaubt zwischen dem zu unterscheiden, was als Verbindlichkeit erschien, aber in Wirklichkeit keine war (der Werber hat aus Versehen die falsche Münze verwandt), aber er macht keinen Unterschied zwischen dem, was andere als einen Statuswandel werten und dem, was wirklich einen Statuswandel ausmacht. Alles, was dieses zuletzt Genannte für Brandom einschließt, ist ein Wandel in den Zuständen der Einstellung der anderen, und solch ein Ansatz erlaubt es dem Problem, welches Hegel seine ganze Karriere lang beschäft igte, nicht einmal aufzutreten: nämlich dem Problem der ›Positivität‹, also einer durch andere erwirkten Unterdrückung, die im Einklang mit angemessenen, öffentlich anerkannten Praktiken – und somit mit einem Status von ›eingegangenen Verbindlichkeiten‹, die als solche von dem unterdrückten Individuum nicht anerkannt werden – stattfi ndet. Was für Hegel zutiefst problematisch zu sein scheint, ist für Brandom ein komplett unproblematisches Beispiel für die Zuschreibung von Verbindlichkeiten. (In dieser Hinsicht ist Brandoms Zugeständnis, daß sich ›die ganze Gemeinschaft‹ in ihrer Art und Weise des Buchführens irren könne, und daß dies selbst ›im Lichte ihrer eigenen Maßstäbe‹ passieren kann, eine leere Geste. Wie Brandom sagen würde: Wenn wir nicht wissen, was das Zugeständnis ein- und was es ausschließt und wie es in solchen Fällen wirklich benutzt werden könnte, ist es ein inhaltsloses Zugeständnis. Die Tatsache, daß Brandom bereit ist zu bekräftigen, daß unser armer, betrunkener Matrose in der Tat normativ dazu verbunden ist, in der königlichen Marine zu dienen – daß er wirklich diese Verbindlichkeit eingegangen ist –, stimmt einen nicht gerade hoff nungsvoll bezüglich dessen, was solch einen Inhalt ausmachen könnte.) 36 Während 36
Siehe Brandoms Ausführungen über Dummetts Besprechung des Ausdrucks
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Brandom manchmal den Eindruck erweckt, daß seine in MIE verteidigte Position, beziehungsweise die Position, die er Hegel zuspricht, Fragen über tatsächliche – im Gegensatz zu eingebildeten – Ansprüchen auf normative Autorität einfach offenläßt, würde ich behaupten, daß Brandom sich offensichtlicherweise bezüglich der Fragen von Normativität, Verbindlichkeit, Anspruch und Pfl icht bereits entschieden hat; und wie seine Entscheidung lautet, ist im vorliegenden Abschnitt deutlich geworden. Worauf es letztlich ankommt ist die Frage, auf welche Art und Weise oder in welchem Ausmaß man eine gewisse Dimension menschlicher Sozialität – das heißt die Einrichtung, den Erhalt, die Sanktionierung, und das Verwalten normativer Verbindlichkeiten – zum wesentlichen Bestandteil der eigenen Semantik machen kann, ohne so etwas wie eine viel umfangreichere Gesellschaft stheorie anbieten zu müssen. Solch ein Ansatz müßte eine vollständige Beschreibung der gesellschaft lichen Bindung oder eine voll entwickelte normative Theorie sein – eine Theorie dessen, was als der Unterschied zwischen ›der Ausübung normativer Autorität‹ und ›der Ausübung von Zwangsgewalt‹ gilt. 37 Brandom ist sicherlich davon überzeugt, daß er eine allgemeingültige Beschreibung der Normativität und ein ausreichendes Bild der Sozialität geliefert hat. Bezüglich des ersteren beruft er sich oft auf »Kants Unterscheidung zwischen der Sphäre der Natur und der Sphäre der Freiheit, deren Bewohner durch ihre Konzeption von Regeln gebunden sind – das heißt durch Regeln, welche sie nur binden können, weil sie sie als verbindlich anerkennen« (TMD, 219). Wie Boche (Brandom 1994, 126 ff.). Brandom hat recht, wenn er sagt, daß die erklärende Aufgabe der Philosophie dabei helfen kann, deutlich zu machen, daß die Konsequenzen, die durch die Nutzung eines Ausdrucks (wie Boche) impliziert werden, material gesehen schlechte Inferenzen (daß alle Deutschen ungewöhnlich aggressiv und kriegsliebend sind) offenbaren, aber er beruft sich hier auf eine Inferenz, die jeder (oder die meisten) als empirisch einfach falsch bezeichnen würden. Im Großen und Ganzen ist dies nicht, was ›entdeckt‹ wird oder was an einer Aussage relevant ist, nämlich daß der Status eines Herrschers, oder die Natur der Ehre, oder der private Besitz von Kapital alle material schlechte Inferenzen implizieren, als ob die Schlechtigkeit der Inferenz in diesem empirischen Sinne entdeckt werden könnte. Selbst bezüglich des Ausdrucks Boche ist es sehr unwahrscheinlich, daß seine Nutzung unziemlich wurde, als seine empirische Falschheit schließlich aufgezeigt worden war. 37 Es gibt hier eine Parallele zu einer Bemerkung, die Brandom in Begründen und Begreifen macht, daß »es mir in diesem Essay gelungen ist, eine Menge über begriffl ichen Inhalt zu sagen, ohne darüber zu sprechen, was durch solche Inhalte repräsentiert wird« (AR, 77). Man könnte sagen, daß es Brandom gelungen ist, eine Menge über die soziale Verwaltung von Normen zu sagen, ohne uns viel darüber zu verraten, was eine Norm ist (was sie material ausschließt) oder was eine Gesellschaft oder eine gesellschaftliche Verwaltung ist.
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gesagt, dies hilft uns nicht viel weiter bei dem Versuch zu verstehen, was als solches Tun gilt (›das Anerkennen von Autorität‹) und was die Frage nach dem Umfang und dem Inhalt dessen, woran ich mich gebunden habe, beantwortet. 38 Wenn Brandom behauptet, daß das letztere eine Angelegenheit sei, die von anderen verwaltet werden muß, lassen sich leicht Fälle vorstellen, in denen solch eine Berufung nichts entscheidet und nur zu weiterer Kontroverse führt (zum Beispiel wenn eine angeblich repräsentative Versammlung in meinem Namen handelt oder wenn andere mir Verbindlichkeiten auf der Basis von etwas zuschreiben, von dem angesichts der institutionellen Regeln der Wahl und Vertretung gesagt werden kann, daß ich mich selbst darauf festgelegt habe). Außerdem ist es genau diese Unbestimmtheit, die für Hegel wichtig ist. Seine Theorie – insbesondere die der praktischen Vernunft – ist von solch radikal historisch-selbstrechtfertigender Art, daß wesentliche Elemente verloren gehen werden (wie zum Beispiel dieser unvermeidliche Konfl ikt), wenn wir bei Brandoms Begriffl ichkeit der »Verhandlung« zwischen »jenen, die die Verbindlichkeit zuschreiben, und demjenigen, der sie anerkennt« (TMD, 221) stehen bleiben. In einer Fußnote macht Brandom deutlich, daß er sich dieses Problems wohlbewußt ist. »Die Rede von Verhandlung mutet zu friedliebend an, um als Beschreibung der von Hegel dargelegten Art von Auseinandersetzung und Konfrontation inkonsistenter Ansprüche durchzugehen. Aber, obwohl ich dies hier nicht weiter verfolgen kann, glaube ich, daß es gute Gründe gibt, die von Hegel so geschätzte kriegerische, kompromißlose Sprache, als in diesem Punkte irreführend anzusehen. Für ihn ist nichts
Es gibt auch Textpassagen in TMD, die einen über die Festigkeit der Unterscheidung zwischen Natur und Norm, Tatsache und Sollen nachdenken lassen. Im SellarsAufsatz schlägt Brandom vor, daß die Reaktionsfähigkeit auf Normen mit der verläßlichen ursächlich hervorgebrachten differentialen Disposition zur Antwort assimiliert oder als eine weitere Manifestation von dieser verstanden werden kann und sie nicht die Anerkennung dessen ist, was man begründet zu sagen hat. Siehe TMD, 360: »Außer diesen Spracheinstiegsmanövern muß der Sprachschüler auch die inferentiellen Manöver in der Umgebung von ›grün‹ meistern: Zum Beispiel, daß die Bewegung von grün zu ›farbig‹ legitim ist, die Bewegung zu ›rot‹ nicht, und so weiter. Die Übung dieser grundlegenden Sprache-Sprache Manöver besteht in dem Erwerb von mehr verläßlichen, differentiellen Antwortdispositionen, nur daß nun die Stimuli, ebenso wie die Antworten, Aussprüche sind.« Dies klingt nach Quine in seiner behavioristischsten Stimmung und nicht nach etwas, das mit Kant oder Hegel zu tun hat. Man bemerke jedoch die Aussage auf S. 626 unten von Making it Explicit über nicht-reduzierbare Normativität. Kann ein antrainiertes Sprache-Sprache Manöver, das wesentlich durch einen Ausspruch-Stimulus ausgelöst wurde, als normative Verbindlichkeit gelten? 38
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vollkommen anders, noch gibt es für ihn irgendwelche schlechthin inkonsistenten Ansprüche oder Begriffe. Es sind immer materiale Unvereinbarkeiten des Inhalts (mehr als formale Inkonsistenzen), deren gegenseitige Konfrontation eine Änderung von Verbindlichkeiten verlangt.« (TMD, 388). Dieser Abschnitt mutet seltsam an. Wie Brandom bereits vermutet, hat er in der Tat einen ›Können wir uns nicht einfach alle vertragen‹-Besänft igungs- oder Befriedungsklang an sich, der überhaupt nicht zur Phänomenologie paßt. Brandom ist nahe daran zu sagen: Hätte Hegel Brandoms inferentielle Semantik besser verstanden (wofür die erforderlichen Ressourcen bereits in anderen Aspekten von Hegels Projekt implizit vorhanden sind) und hätte er somit nicht manchmal verhandelbare materiale Inkompatibilitäten mit formalen Inkonsistenzen oder mit dem Aufeinanderprallen brutaler Andersheit verwechselt, hätte er nicht solchen ›kriegerischen‹ Tendenzen gefrönt. Mir ist jedoch keine Evidenz dafür bekannt, und Brandom liefert auch keine, daß Hegels Emphase auf der ›Gewalt‹, die das Bewußtsein durch seine eigene Hand erleidet, nur das Resultat einer solchen Ansicht von bloßer Andersheit oder von formalen Inkonsistenzen ist. Wenn diese beiden Punkte zugestanden werden, bleibt noch viel Raum für das, was Hegel oft als tragischen Konfl ikt behandelt. 39 Außerdem sind Hegels ›Schlachtbank der Geschichte‹-Formulierungen nicht das Ergebnis von Verpfl ichtungen innerhalb einer philosophischen Anthropologie (worin, angeblich, ein gewalttätiger Kampf um Ansehen und letztlich Anerkennung als wesentliche Aspekte der menschlichen Natur zum Erklärungsmittel für gesellschaft lichen und normativen Wandel werden). Es gibt einen anderen Grund dafür, daß Hegel bei jeder Beschreibung der gesellschaft lichen Vermittlung, die für kommunikativen Erfolg, politische Stabilität oder Sittlichkeit 40 benötigt wird, so daran gelegen ist, daß man nie von der Tatsache abstrahieren sollte beziehungsweise niemals ignorieren sollte, daß es sich nie nur um schlicht menschliche Akteure oder Subjekte handelt und daß ein jedes dieser Subjekte immer erst als dem Willen eines anderen unterworfen oder als in der Lage, andeAntigone und Kreon stimmen beide darüber ein, daß es sowohl ein göttliches Recht als auch ein menschliches Recht gibt und daß jedes an seinem eigenen Ort bleiben sollte. Ihr Streit ist sowohl ›material‹ und keine Frage brutaler Andersartigkeit, aber er ist trotzdem tragisch. Nach Hegels Lesart haben beide recht. 40 Das Bild, das Brandom manchmal heraufbeschwört, ist Fred Astaires und Ginger Rogers »Tanz« der Sozialität, inklusive verschränkter, geteilter Verbindlichkeiten, während trotzdem ihm bzw. ihr jeweils verschiedene Bewegungen und somit individuelle Besonderheiten erlaubt werden. Siehe auch seinen Austausch mit Habermas. 39
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re dem eigenen Willen zu unterwerfen – das heißt als Knecht oder als Herr – gedacht werden muß. Dies ist der Fall, da laut Hegel der Status einer Person oder eines freien Akteurs, der in der Lage ist, sein eigenes Leben zu führen und sich in seinen Taten wiederzuerkennen, tatsächlich nicht eine ontologische Kategorie darstellt, sondern wie Brandom vollkommen richtig feststellt, vielmehr eine historische und soziale Leistung. Die zentrale Aufgabe dieser Leistung ist es, zwischen dem zu unterscheiden, was wir vorher als die Differenz zwischen der Verwaltung sozialer Macht (vielleicht vollständig mit der ›willentlichen‹ Unterwerfung zahmer Untertanen) und dem Erreichen einer Lebensform, in der die Freiheit des einen von der Freiheit aller abhängt, identifi zierten. Letztlich kommt bei Hegel alles darauf an, ob er tatsächlich eine historische, entwicklungsartige Methode entdeckt hat um zu beweisen, daß diese Unterscheidung gemacht werden kann (ohne jegliche Form des moralischen Realismus oder des Universalismus des Kantischen ›Moralgesetzes‹); es kommt darauf an zu sagen, welche institutionelle Form des Lebens diese Desiderata wirklich erreicht und ob er in der Lage ist zu zeigen, daß es die unvollendete und sich noch immer entwickelnde Leistung der Moderne ist, dies alles begonnen zu haben. Hegels Anspruch auf philosophische Unsterblichkeit beruht auf diesem neuartigen Versuch zwischen vermeintlichen Ansprüchen auf normative Legitimität, die in Wirklichkeit die Ausübung von Zwangsgewalt zugunsten ungleichen Vorteils (nicht-gegenseitig anerkennende Status) sind, und erfolgreichen Ansprüchen auf normative Legitimität zu unterscheiden. Er tut dies, indem er mit dem Bild einer Situation beginnt, die nur durch die Ausübung von Macht geregelt ist, und zeigt, daß der letztliche Nachhaltigkeitsmangel solch einer Beziehung ›erfahrungsmäßig‹ oder ›intern‹ demonstriert werden kann, das heißt, daß das letztliche Erreichen des Akteursstatus einen anerkennungsfähigen gesellschaft lichen Status voraussetzt, der nicht allein durch die Ausübung von Macht erreicht werden kann. 41 Als Herzstück dieses innerlich selbst-verneinenden EntwickBrandom gibt sicher gerne zu, daß die Mitglieder der gesamten Gemeinschaft bezüglich der Verbindlichkeiten, auf die sie ein Anrecht haben, falsch liegen könnten. Falls dies so sein sollte, kann dies nur »angesichts ihrer eigenen Maßstäbe« falsch sein, also »falsch angesichts dessen, wie sie sich festgelegt haben, um solche Fragen angemessen zu beantworten und die Antworten zu bewerten«. Dies fi ndet sich in Fußnote 29 in Kapitel 3 von MIE, 674. Aber Hegel behandelt dies nicht als etwas, das von einem außenstehenden Deuter entdeckt werden kann. Er (Hegel) will verstehen, was im wirklichen Spiel des Gebens von und des Fragens nach Gründen schief läuft, das heißt, wenn die Dinge beginnen, »nach ihren eigenen Maßstäben falsch zu laufen«. Wie diese ›Falschlaufen‹-Erfahrung gemacht wird, spielt eine Rolle in der Etablierung dessen, was ›Richtiglaufen‹ wäre. 41
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lungsprozesses wird sich schließlich Hegels Theorie der Freiheit erweisen, die einerseits für erfolgreiche normative Selbstregulierung erforderlich ist, die aber auch durch eben jene Formen institutioneller Praxis behindert oder blockiert wird, die implizit eben jenen Status (der freien Subjekte) erfordern. Dies erweist sich als eine lange Geschichte, und ich bin mir bewußt, daß Brandom denkt, daß seine Version das Meiste davon abdeckt. In der Tat, in einem anderen Essay über Hegel, der hier nicht berücksichtigt wird, hat er eine reichhaltige und provokante Lesart von Hegels Aussagen entwickelt, die besagt, daß sich Anerkennungsbeziehungen aus erotischen Beziehungen ›entwickeln‹ und daß reflexive Selbstbeziehungen von der Fähigkeit abhängen, anderen normative Einstellungen zuzusprechen. Schließlich stellt sich heraus, daß ich nur ein Subjekt sein kann, für das Dinge sein können, indem ich jene anerkenne, die mich anerkennen, indem ich anerkannt werde von all jenen, die ich anerkenne, und indem ich all jene anerkenne, die jene, die ich anerkenne, anerkennen (was ingeniöser Weise auch mich mit einschließt). Dies ist nach Brandom die Beschreibung dessen, wie man »die äußerst wichtige Grenze zwischen dem bloß Natürlichen und dem beginnenden Normativen überschreitet«. 42 Aber auch hier besteht wieder der letztendlich wichtigste Zug darin, anderen Subjekten Verbindlichkeiten oder normative Einstellungen in der Befriedigung von Bedürfnissen zuzuschreiben. Ich verstehe den Anderen als ein Subjekt, das dieses Objekt als zur eigenen Bedürfnisbefriedigung angemessen ansieht. Das heißt, daß ich ihn nicht als ein Wesen verstehe, das bloß auf verläßliche Weise differenzierend auf das reagiert, was solch eine Antwort hervorruft. Und dies bedeutet für dieses andere Subjekt wiederum das Zuschreiben eines möglichen Unterschiedes zwischen dem, was eine angemessene Befriedigung etwa von Hunger ist, und demjenigen, ›was ist‹. Dies macht uns wiederum nicht nur mit der grundlegenden Bedingung bekannt, die notwendig ist, um die Einstellung als normativ gelten zu lassen (zwischen dem, was als K angesehen wird, und dem, was K ist), durch Berufung auf das, was sich unproblematischerweise als empirisch unbefriedigend erweist (ein Mensch kann keine Felsen essen); diese einfache empirische Widerlegung bleibt das einzige deutliche Beispiel dafür, wie dieser Unterschied ausgeprägt werden kann. Die Abwesenheit eines jeglichen unproblematischen ›Anspruchbefriedigers‹ für irgendeinen komplexeren menschlichen Anspruch auf Angemessenheit oder Korrektheit ist der Grund dafür, daß, so möchte ich behaupten, Hegels Interesse sich so schnell dem Thema des Kampfes zuwendet, das heißt dem 42
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Gefecht oder dem Kampf um Anerkennung, was wiederum ein Motiv ist, das Brandom ignoriert. 43 Dies ist auch der Grund, warum in Brandoms Ansatz das Problem mit der Behauptung der Herrschaft durch den Herrn lediglich eine Frage nach der ›Über-Verallgemeinerung‹ der menschlichen Fähigkeit zur Selbst-Konstitution durch den Herrn ist, dem es an Rücksicht bezüglich der Wichtigkeit des Unterschiedes zwischen dem, wie ich die Dinge sehe, und dem, wie sie sind, mangelt. 44 Aber der Herr in Hegels Drama hat nicht nur einen Fehler gemacht. Er repräsentiert eine unmittelbare Option im unvermeidlichen Kampf um die Bestimmung, wie wir diese Unterscheidung machen sollen, sobald wir uns jenseits der Sphäre des Eßbaren und des nicht Eßbaren und ähnlicher Dinge bewegen. Diese Hegelsche Streitfrage scheint mir auch nicht durch die Rede von fortwährenden Verhandlungen zwischen Individuen und Buchhaltern gefaßt zu sein. Erstens gibt es keinen Grund zu erwarten, daß es einen ›neutralen‹ Begriff dessen gibt, was als eine angemessene, beiden Parteien verfügbare Verhandlung zählt. Die relevante Unterscheidung ist daher, um einen Kantischen und Sellarsschen Ausdruck zu bemühen, nicht so sehr diejenige zwischen dem Raum der Ursachen und dem Raum der Gründe, zwischen der Subsumtion unter das Gesetz und der Anerkennung des Begriffes eines Gesetzes, sondern zwischen der illusorischen Berufung auf Legitimität und Autorität einerseits und einer zu rechtfertigenden Berufung andererseits, zwischen, wie es so schön heißt, der Tatsache der Macht und der Tatsache der Vernunft. Die Abwesenheit solch eines gemeinsamen Maßes in dem, was als Verhandeln zählt, ist einer der Gründe, warum die Frage nach der wahrhaften Unterscheidung zwischen der Tatsache der Macht und der Tatsache der Vernunft immer wieder aufbricht und warum sie das Herzstück der Erzählung von Hegels Phänomenologie ausmacht. (Ich sollte auch anmerken, daß Brandom sich dessen sicherlich bewußt ist und solch ein ›Foucaultsches‹ Problem in seiner Antwort auf Habermas zur Sprache bringt. Aber auch hier stellt er lediglich fest, daß das Spielen des Spiels des Begründens und Fragens nach Gründen kategorisch davon unterschieden ist, daß man Dinge mit Worten tut – wie etwa Macht ausIn 2004a sagt er tatsächlich, daß eine Verbindlichkeit, besonders eine grundlegende, oder identitätskonstituierende, ein solches Ding sei, für das man Opfer bringen müsse, aber er behandelt die Erwähnung eines Lebensrisikos als ein ›Metonym‹ dieses Opfers. 44 Es ist mir nicht klar, warum sich Brandom angesichts seiner Prämissen zu diesem kompromißlosen Anspruch auf ›Überverallgemeinerung‹ berechtigt fühlt. Man nehme die empirische Tatsache an, daß all die anderen Buchhalter darin übereinstimmen, daß der Herr vollkommen berechtigt ist, sich so zu konstituieren, wie er möchte. Was rechtfertigt dann Brandoms Anspruch auf ›Überverallgemeinerung‹? 43
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üben –, er erklärt uns jedoch nicht, wie man diese Unterscheidung machen soll, und ob das Letztere nicht gut verkleidet als das Erstere auft reten könnte, was es, wie der frühe Foucault sagt, immer tut.) 45
IV. Brandoms Ansichten über das, was er über menschliche Sozialität sagen muß, um den Anforderungen seiner Theorie des begriffl ichen Inhalts zu genügen, sind sicherlich nicht solcherart, daß sie keinerlei Raum für die ›Herausforderungen‹ lassen, die ›Verhandlung‹ anregen. 46 Außerdem hat er eine Methode des Nachdenkens über den Entwicklungsprozeß zur Verfügung gestellt, der aus solchen Herausforderungen und Reaktionen hervorgeht. Ich habe bereits Zweifel geäußert, ob das ›Verhandlungs‹-Modell uns auf Hegelschen Gleisen sehr viel weiterbringt, aber dieses Bild verlangt nach einer unabhängigen Betrachtung. Es gibt zwei Prämissen, die wir zuerst untersuchen müssen. Brandom interpretiert Hegels auff ällige Anmerkung, daß das »Ich«, also das selbstbewußte Subjekt der Erfahrung, der Begriff ist, der »zur Existenz gediehen ist«, (TMD, 226) als eine Affirmation des folgenden Gedankens: Genauso wie man nur in anerkennungsbasierten Beziehungen mit anderen zu einem inhaltsvollen Selbst wird, genauso sind auch Begriffe nur im gesellschaft lichen Spiel des Begründens und Fragens nach Gründen inhaltsvoll. Das heißt, sie haben nur einen Inhalt im Spiel der doppelten Buchführung über das Unternehmen und das Zuschreiben/Bewerten von Verbindlichkeiten. Der Geist als Ganzes ist als ein Selbst modelliert, und das bedeutet, daß er die »anerkennungsbasierte Gemeinschaft all jener, die solchen normativen Status haben, und all ihrer normativ signifi kanten Aktivitäten« (TMD, 227) ist. Diese Interpretation wird dann mit einem fundamental Brandomschen Leitmotiv verknüpft. »Alles, was zum Zweck der Institutionalisierung begriffl icher Normen, das heißt bei der Bestimmung dessen, worauf wir uns mit der Anwendung von Begriffen verpfl ichtet haben, erforderlich ist, sind andere Anwendungen des fraglichen Begriffes […] Die Anwendungen des Begriffes […], die bereits gemacht worden sind, üben daher bereits eine bestimmte Art der Autorität über mögliche zukünft ige Anwendungen des Begriffes aus […]« (TMD, 229).
45 46
Brandom 2000, 360. Vergleiche MIE, 178.
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Aber ebenso: »Die Autorität der vorherigen Anwendungen, welche die begriffl iche Norm institutionalisiert haben, wird ihrerseits durch zukünft ige Anwendungen verwaltet, welche wiederum Bewertungen vergangener Anwendungen mit einschließen.« Das Vergleichsmodell sind hier gewohnheitsrechtliche Anwendungen des Präzedenzrechts, in denen jeder Richter eine Tradition vergangener Entscheidungen über Fälle erbt und auf jene vergangenen Fälle vertrauen muß, ja nur auf sie vertrauen kann, um über neue, manchmal radikal neue Fälle zu entscheiden. Die Autorität der Tradition »besteht in der Tatsache, daß die einzigen Gründe, auf die sich der Richter berufen kann um seine Entscheidung zu rechtfertigen, prozeduraler Natur sind« (TMD, 231). Brandom hält dies für ein gutes Modell der Hegelschen dialektischen Ansprüche auf Kontinuität und Wandel innerhalb einer normativen Tradition, aufgrund der Tatsache, daß normative Entwicklungen in einem Sinne ›gefunden‹ und in einem anderen Sinne ›gemacht‹ werden. Dieses Modell paßt recht gut zu Brandoms eigener und auch zu Teilaspekten von Hegels Theorie, da es beiden äußerst wichtig ist, daß die normative Bedeutung einer Aktion oder eine Verbindlichkeit, die ich eingehe, beinahe immer dasjenige ›überholt‹, welches ich bewußterweise für jenes halte, dem ich verbunden bin; und ›das Einholen‹, das heißt das in der Lage sein, diese weiteren Aspekte expliziter zu machen, scheint der Hegelschen ›Entwicklung‹ oder ›Bildung‹ sehr zu ähneln. 47 Dieses Modell hat angeblich auch den zusätzlichen Vorteil, daß es erklärt, was Brandom ansonsten für unerklärlich hält: nämlich wie Hegel von der menschlichen Gemeinschaft , vom Geist als Ganzem, als einem ›Selbst‹ sprechen kann, aber dennoch auf dem unreduzierbar gesellschaftlichen Charakter dieses Selbst besteht. Von wem könnte in diesem Sinne gesagt werden, daß er den Geist als ganzen sich selber gegenüber für verantwortlich hält, da es kein anderes soziales Subjekt außerhalb des Geistes gibt, welches in anerkennungsbasierten Beziehungen zu ihm steht? Die unterschiedlichen Zeitintervalle sollen die Lösung dieses Problems darstellen. »[D]ie Gegenwart erkennt die Autorität der Vergangenheit an, und übt ihrerseits eine Autorität über sie aus, wobei die Verhandlung der Konfl ikte zwischen den beiden von der Zukunft verwaltet wird« (TMD, 234). Brandom nennt diesen Aspekt seines Projektes »semantischen Externalismus«. Siehe Brandom 2004b, 250, bezüglich einer interessanten Anwendung dieser Begrifflichkeit. 47
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Brandom ist somit darauf aus, ein Problem zu lösen, das Hegel gar nicht hat (ebensowenig wie Brandom später), und die Lösung, die Analogie zum Gewohnheitsrecht, geht trotz ihres in vielerlei Hinsicht erkenntnisfördernden Charakters nicht weit genug um zu erfassen, was Hegel mit seiner Verquickung von ›normativem Leben‹ und historischer Zeit beabsichtigt. Das Problem besteht wieder darin, daß Hegels Position viel substantieller ist und viel weniger formell als jene, die Brandom ihm zuschreibt. Dies liegt daran, daß einer der Aspekte dessen, was im Verlaufe historischer Zeit explizit gemacht worden ist, nicht nur eine Menge bestimmter normativer Verbindlichkeiten (welche von einer zukünft igen ethischen Gemeinschaft verwaltet, verändert und vielleicht substantiell revidiert werden) ist, sondern vielmehr die Natur der normativen Autorität selbst. Das heißt, es ist die ›Wahrheit‹, daß solche Autorität von der Gesellschaft eingerichtet und an die Forderungen der Vernunft gebunden ist. – Diese Forderungen werden in Form von gesellschaft lichen Rollen ausgeprägt, deren grundlegende Struktur begonnen hat, sich in einer Form zu entwickeln, die letztendlich mit der wahren Natur der normativen Autorität konsistent ist, anstatt mit ihr in unterschwelliger Spannung zu liegen. Die Gegenseitigkeit des anerkennungsgeprägten Status (der wahren Quelle normativer Autorität) ist laut Hegel in zahlreichen modernen Institutionen (dem Rechte-schützenden, repräsentativen modernen Staat, der modernen Kernfamilie, die sowohl auf romantischer als auch auf elterlicher Liebe fußt, der modernen, eigentumsbasierten Marktwirtschaft und der bürgerlichen Gesellschaft als auch in der späten protestantischen Religion und Theologie und im lyrischen Romantizismus, dem letzten Höhepunkt der Kunst) verkörpert. Diese werden von Hegel nicht als gerechte Vorschläge für zukünft ige Verwaltung und Änderung angesehen. Brandoms Gewohnheitsrechts-Modell funktioniert gut, wenn wir bedenken, wie man Hegels substantielle, institutionelle Beschreibung ›auf den neuesten Stand bringen‹ und den Anwendungsbereich solch eines zivilen und ethischen Status auf Frauen und eigentumslose Bürger erweitern könnte. Sie funktioniert jedoch nicht im Hinblick auf die Forderungen, die Hegel hinsichtlich der Autorität dieser grundlegenden Rollen und Funktionen selbst machen will. 48 Ihre Autorität stammt von der entwicklungsbasierten Rechtfertigung, die Außerdem ist die gewohnheitsrechtliche Praxis hier unvollständig beschrieben. Laut manchen Annahmen versucht ein zeitgenössischer Richter, indem er ein Präzedens auf eine neue Art von Fall anwendet, dem zu Grunde liegenden moralischen Prinzip treu zu bleiben, welches wahrscheinlich das gleiche ist, das die vorherigen Entscheidungen animierte. Nach anderen Annahmen stellt das Modell der Vernunft – wenn die Frage lautet, was der Entscheider eines vorherigen Falles ›nun vernünft ig fi nden würde‹ –, so etwas dar wie etwa ›sicherstellen, daß es jedem im wirtschaft lichen Sinne besser 48
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Hegel für seine einzigartige Beschreibung der Natur und der Autorität der Freiheit (›der wertvollste und heiligste Besitz des Menschen‹) 49 gegeben hat. All dies verhält sich parallel zu der Art und Weise, in der Brandoms eigene Theorie des begriffl ichen Inhalts selbst eine normative Behauptung darstellt. Sie stellt nämlich die Behauptung dar, daß die Sache auf diese Weise explizit gemacht werden soll, das heißt als eine Frage der inferentiellen Artikulation und der etablierten gesellschaft lichen Status und dergleichen. Brandoms Theorie ist somit nicht das bloße Fortsetzen einer Tradition (einer unter vielen philosophischen Traditionen) und wird selbst einmal später der ›Autorität der Zukunft‹ untergeordnet werden. Unter der Annahme, daß sie selbst als philosophische Behauptung gemeint ist und nicht nur die Interpretation und Anwendung anderer Behauptungen darstellt, hat Brandoms Theorie wohl eine eigene Autorität inne. 50 Aus dem gleichen Grund ist die Analogie zum Gewohnheitsrecht zu schwach, um Hegels Verständnis des begriffl ichen Wandels zu fassen. Wie bereits erwähnt, versucht Hegel eine Beschreibung der Art und Weise, wie normative Begriffe ihren Halt zu verlieren beginnen, in eine besondere Art von historischer Erklärung zu integrieren; das heißt, er erklärt, wie Begriffe als ihre Autorität verlierend erfahren werden. Diese Art der Erklärung wertet sowohl Krisen als auch inkompatible Verbindlichkeiten oder tragische Dilemmata als aus dem Inneren der eigenen Erfahrungen der Gemeinschaft entstehend und nicht als ein Resultat der Tatsache, daß sich zufällig ein neuer Fall ergeben hat. Es ist möglich, daß einige dieser Krisen daraus entstehen, daß man versucht, eine vertraute Norm auf einen neuen, problematischen Fall anzuwenden, aber in beinahe allen bedeutsamen Fällen in Hegels Phänomenologie ist dies nicht der Fall, und die Beschreibung der zu Grunde liegenden Krise deutet auf eine entwicklungsartige Beschreibung der Beziehung zwischen Freiheit und Autorität hin, die die basale ›Handlung‹ des Buches ausmacht. Mit anderen Worten, gegenwärtige Begriffs-Anwender sind nicht nur durch vergangene Fälle geleitet, sondern auch durch sie eingeschränkt und außerdem zukünft igen Richtern unterworfen. In den meisten Fällen ist die Natur der normativen gehen wird‹. In anderen Fällen versucht man sehr aufwendig, sich einfach vorzustellen, was ein Verfassungsautor oder vorheriger Richter selbst (eben diese tatsächliche Person) jetzt entscheiden würde. 49 Hegel 1999, § 215. 50 Ich nehme es als offensichtlich an, daß Brandoms antirealistischer, rationalistischer, konstruktivistischer Ansatz der Normen im allgemeinen – wenn er geglaubt oder ›verwirklicht‹ wird –, die verschiedensten Resultate in der realen Welt heraufbeschwören wird, und zwar von alltäglichen gesellschaft lichen Praktiken bis hin zum Recht (wo seine Position wieder wie Rechtspositivismus klingt).
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Autorität greifbar, und die Burkesche, Whigische Behauptung, daß diese Autorität immer am besten geschichtlich übermittelt und als Autorität über die Gegenwart ausübend verstanden werden sollte, müßte als eine Episode in dieser Streitsache angesehen werden und könnte nicht als die allgemeingültige Form einer jeden solchen Streitfrage gelten. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Sebastian Stein
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Personenregister
Adler, Max 278 Adorno, Theodor W. 12, 287, 291– 316, 318, 322, 333, 338 f. Agard, Olivier 221 Aguirre, Antonio 252 Albert, Hans 338 Albizu, Edgardo 143 Althof, Daniel 12, 291 Althusser, Luis 263 f., 281 f. Álvarez Gómez, Mariano 159 Ameriks, Karl 408 Anderson, Kevin 289 f. Arendt, Hannah 221 Aristoteles 29, 39, 41, 76, 82, 95, 97, 102, 109, 111, 181, 207, 251, 275 Armand, Ines 276 Arndt, Andreas 12, 66, 82, 140, 146 f., 275, 277 f., 280–284, 286, 288, 290, 330 Aron, Raymond 221, 241 Asmuth, Christoph 148 Astaire, Fred 399 Aster, Ernst v. 81 Aumüller, Uli 215, 271 Bacon, Francis 36 Bain, Alexander 32 Balaban, Oded 259 Barmann, Stefan 264 Barnett, Stuart 349 Barthes, Roland 241 Basch, Victor 221 Bassenge, Friedrich 251 Bast, Rainer A. 54 Bataille, Georges 221, 224, 352, 354, 366
Bauch, Bruno 47 f., 69, 102 f., 107–112 Baudelaire, Charles 240 Bauer, Christoph J. 12, 317, 324 Bayertz, Kurt 282 Beaufort, Jan 168 Beauvoir, Simone de 215–217, 221, 224, 227–229, 264, 266 f. Bebel, August 280 Beiser, Frederick C. 408 Bell, Alexander Graham 27 Bellantone, Andrea 217 Benjamin, Walter 302 Bensch, Hans-Georg 147–149 Bergson, Henri 58, 240 f. Berkeley, George 32, 238 Bernasconi, Robert 363 Bernet, Rudolf 252 Bernstein, Eduard 277–281 Bernstein, Richard 19 f., 43, 45 Bertram, Georg W. 224 Beyer, Wilhelm Raimund 278 Biemel, Walter 152, 220 f., 227 Bienenstock, Myriam 223 Birkert, Alexandra 224 Blankenburg, Wolfgang 243 Bloch, Ernst 51, 289 Boer, Karin de 12, 143, 349, 351 f. Bökenkamp, Werner 271 Bollnow, Otto Friedrich 257 Bonaparte, Napoléon 219, 265 Bonsiepen, Wolfgang 12, 47 f., 84, 107 Borchardt, Katharina 367 Borsche, Tilman 21, 45 Bösch, Michael 125, 139
410
Personenregister
Bourgeois, Bernard 219, 227 Bozzetti, Mauro 309 Bradley, Francis Herbert 35 Brandom, Robert 12, 369–408 Brandt, Reinhard 81 f. Brauer, Susanne 224 Brenner, Hans Georg 271 Brentano, Franz 243, 252 Breton, André 221 Brunkhorst, Hauke 318, 324 Bubner, Rüdiger 150, 286 Bucharin, Nikolai 288–290 Buchenau, Arthur 245 Büchner, Georg 284, 302 Burke, Edmund 407 Butler, Joseph (Bischof) 337 Caillois, Roger 221 Caird, Edward 18, 33 Carnap, Rudolf 378 Caspers, Britta 324, 343 Cassirer, Ernst 12, 47, 69, 77, 101, 110, 113–140, 243 Cerf, Walter 407 Chomsky, Noam 370 f., 407 Clairmont, Heinrich 84 Cohen, Hermann 47 f., 69, 76–86, 96, 99, 108, 110, 112 f. Cohen-Solal, Annie 221 Cohn, Jonas 47 f., 71, 102–107, 109, 112 Coleridge, Samuel Taylor 17 Comte, Auguste 20, 117, 135, 335– 337 Contant, Michael 223 Corbin, Henri 221 Coriando, Paola-Ludovika 157 Cousin, Victor 217–220 Cover, Alessandra 149 Cramer, Konrad 86, 150 Cramer, Wolfgang 103 Cusanus, Nicolaus (Nikolaus von Kues) 78, 102
Dalton, Thomas 22, 26, 45 Dandyk, Alfred 251 Darwin, Charles 46 Davidson, Donald 370 f. Deborin, Abram 289 Deleuze, Gilles 240 Demeny, Paul 249 Denker, Alfred 148 Derrida, Jacques 12, 241, 349–367 Desanti, Jean-Toussaint 221 Descartes, René (Cartesius) 28, 43, 77, 170, 219, 231, 244–246, 251, 253, 263, 271, 324, 359, 369 Descombes, Vincent 407 Dewey, Jane 20, 45 Dewey, John 12, 17–46 D’Hondt, Jaques 217 f. Dietzgen, Joseph 280 Dilthey, Wilhelm 51, 55, 168 f., 176–178 Dingler, Hugo 243 Dorrenbächer, Ursula 271 Dosse, François 264 Driesch, Hans 166, 171 Dummett, Michael 391, 396 Dux, Günter 163, 166 Edel, Geert 82, 86, 102 Ehrenberg, Hans Philipp 166 Einstein, Albert 118 Elkaïm-Sartre, Arlette 229, 271 f. Engels, Friedrich 266, 276–281, 321, 339 Englisch, Felicitas 310 Enzensberger, Hans Magnus 278 Ewald, François 215 Farrell, Brian A. 336 Faulkner, William 241 Fessard, Gaston (Pater) 221 Fetscher, Iring 220 Feuer, Lewis 17, 46
Personenregister
Feuerbach, Ludwig 275, 281, 283 f., 342 Fichte, Johann Gottlieb 50, 54f., 64, 80, 82, 102, 148, 152, 165–168, 178, 182, 207, 211, 239, 246–248, 258, 388, 407 f. Fink, Eugen 216 Fischer, Kuno 48, 51–53, 103 Flach, Werner 67, 69–81 Flaubert, Gustave 241, 265 Fleischer, Margot 271 Flynn, Thomas 223 Foucault, Michel 240, 264, 266, 402 f. Fourier, Charles 335 Frank, Manfred 350 Frege, Friedrich Ludwig Gottlob 47, 103, 110 f. Freud, Sigmund 140, 250 f., 259, 317 f., 366 Freudenthal, Gideon 126, 139 Frey, Gerhard 243 Fries, Jakob Friedrich 50, 107 Frings, Manfred S. 163 Fulda, Hans Friedrich 48, 55, 76 f., 82, 90, 103, 108 Gäbe, Lüder 253 Gabriel, Gottfried 89 Gadamer, Hans-Georg 51, 86, 101, 144–146 Gamm, Gerhard 300, 310, 313 f. Gasché, Rodolphe 349 f., 352 Gassendi, Pierre 245 Gehlen, Arnold 164 f., 175 Genet, Jean 240f. 248, 271 George, Stefan 51 Gerassi, Fernando 241 Gerhard, Myriam 282 Giammusso, Salvatore 176 Gibelin, Jean 222 Gilson, Etienne 222 Glinka, Holger 12, 215, 229 Goerdt, Wilhelm 286
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Goethe, Johann Wolfgang v. 104, 302 Goldstein, Julius 46 Gondek, Hans-Dieter 357 Goretzki, Catia 262 Görland, Ingtraud 144 Gottschlich, Max 329 Grassi, Ernesto 272 Green, Thomas H. 18, 31, 33, 37 Greiff, Bodo v. 318 Gretić, Goran 221 Groepler, Eva 221 Gurvitch, Georges 221 Guterman, Norbert 221, 223 Gutschmidt, Holger 245 Guzzoni, Ute 305 Haardt, Alexander 191 Haas, Norbert 252 Habermas, Jürgen 322, 338 f., 345, 375, 386, 393, 399, 402, 407 Hackenesch, Christa 13, 126, 133f., 138–140, 241, 263 Hahn, Lewis 18, 27, 46 Halbig, Christoph 386, 407 f. Haldane, Richard B. 18 Hall, G. Stanley 27 Hamelin, Octave 238 Hamilton, William 26 Hamlin, Cyrus 139 f. Hampe, Michael 21, 46 Harris, Henry S. 407 Harris, William T. 18 Hartmann, Eduard v. 47 Hartmann, Klaus 71, 222, 229 Hartmann, Nicolai 12, 77, 181–212, 243, 322 Hartshorne, Charles 46 Hartung, Gerald 115, 133, 139 Haug, Wolfgang Fritz 277, 345 Haugeland, John 389, 407 Hedeler, Wladislaw 289 Heidegger, Martin 12, 83, 87, 90 f., 139, 143–146, 148–161, 177, 205,
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Personenregister
216 f., 221, 223, 227, 229, 231, 236, 242, 244 f., 251 f., 257, 317f., 321–323, 326, 353 f., 359, 366, 407 Heidemann, Dietmar 55 Heidt, Sarah 407 Heimsoeth, Heinz 77 Heintel, Erich 101, 103 Heinz, Marion 54, 221 Heinze, Martin 243 Helmholtz, Hermann v. 27 Henrich, Dieter 286 Hensel, Paul 167 Heraklit 92, 95 f., 102, 275 Herbart, Johann Friedrich 76 Herkommer, Hanne 318 Herrmann, Friedrich-Wilhelm v. 144, 153, 157 Herz, Marcus 120 Hessen, Sergius 70 Hetzel, Andreas 45 f. Heymans, Gerald 110 Hitler, Adolf 265 Hobbes, Thomas 190 f. Hodgson, Shadworth H. 27 Hoff mann, Thomas Sören 329, 338 Hölderlin, Friedrich 154, 330 Holz, Hans Heinz 262, 344 Holzhey, Helmut 47, 77 f., 80, 82– 84, 86–88, 103, 181 Honigsheim, Paul 51 Hönigswald, Richard 47, 103 Honneth, Axel 259, 309 Horkheimer, Max 333 Hügli, Anton 339 Hume, David 22, 24, 26, 32, 240, 284 Husserl, Edmund 87, 91, 116, 145, 148, 166–168, 177, 216, 220–222, 229, 231, 238, 241–244, 250–253, 255, 263, 271, 354, 359 Hyppolite, Jean 221, 223, 227, 240, 242, 354, 359
Iber, Christian 66, 82, 146 f., 330 Illetterati, Luca 258 Ilting, Karl-Heinz 197 Imdahl, Georg 145 Jacob, Hans 258 Jacobi, Friedrich Heinrich 191, 316 Jaeschke, Walter 12 f., 147, 181, 191, 206, 225, 258, 280, 282 James, William 21, 44, 46 Janke, Wolfgang 239 Jankélévitch, Samuel/Serge/ Stanislas 219, 221, 223 Jarczyk, Gwendoline 219 Jaspers, Karl 152, 220 Jay, Martin 318 Jegelka, Norbert 87 Joas, Hans 43, 46 Jonas, Hans 178 Jung, Werner 324 Kaans, André 223 Kafk a, Franz 241 Kaltenbeck, Franz 252 Kampits, Peter 240, 244 Kant, Immanuel 10, 12, 18 f., 22–25, 33, 36–38, 40–43, 48–51, 53–55, 60, 65, 68 f., 71 f., 74, 77 f., 81, 85–89, 93, 98, 101–103, 107 f., 110–115, 117–120, 123–125, 129, 132 f., 138–140, 167, 178, 182, 207, 239 f., 245–249, 255, 258, 267–269, 283–285, 323–325, 327, 330, 338, 349–351, 359, 363, 365, 372, 374–378, 381, 385, 387, 397 f., 400, 402, 407 f. Kautsky, Karl 278–280 Kern, Andrea 349, 352 Kern, Iso 87, 252 Kertscher, Jens 43, 45 f. Keyserling, Hermann 163 Kierkegaard, Sören 227, 257, 349 Kimmerle, Heinz 71, 261 Klass, Tobias Nikolaus 115, 139
Personenregister
Klossowski, Pierre 221 Knittermeyer, Hinrich 88 Knöbl, Wolfgang 43, 46 Kobusch, Theo 191 Koch, Anton Friedrich 147, 332, 408 Koch, Frank-Alexander 286 Koch, Gertrud 318, 324 Kojève, Alexandre (Kojevnikov, Alexander) 220, 222 f., 225–227, 241, 254, 258, 265, 354 Köhnke, Klaus Christian 139 König, Josef 167, 179 König, Traugott 216, 234, 271 f. Kopernikus, Nikolaus 81 Koyré, Alexandre 220 f. Krause, Ralf 46 Kreis, Guido 123, 131, 140 Kreiter, Erik 48, 53 Krijnen, Christian 48, 53–55, 67, 75–77, 82, 90, 102 f., 108 Krois, John Michael 116, 139 f. Kroner, Richard 67–71, 106, 109 Kruck, Günter 330 Külpe, Oswald 102 Kupke, Christian 243 Labarrière, Pierre-Jean 219 Lacan, Jacques 221, 224, 252 Lang-Balestra, Antonella 245 Lange, Friedrich Albert 77 Laporte, Jean 237 Lapoujade, David 21, 46 Lassalle, Ferdinand 275 Lasson, Georg 277, 326, 331–334 Lauth, Reinhard 258 Lawlor, Leonard 354, 359 Lazarus, Moritz 76 Le Senne, René 237 Lefebvre, Henri 223, 237 Lefèvre, Wolfgang 71, 261 Leibniz, Gottfried Wilhelm 20, 39, 77, 102, 240, 246, 261, 275 Lembeck, Karl-Heinz 82 Lenin (Wladimir Iljitsch Ulja-
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now) 12, 275–278, 280–290, 321, 344 Lessing, Gotthold Ephraim 209 Lessing, Hans-Ulrich 12, 163, 167, 169, 176 Levinas, Emmanuel 216, 222, 241 Lévi-Strauss, Claude 264, 266 f. Lévy, Benny (Pierre Victor) 264 Lévy, Bernard-Henri 222, 228, 241, 265 Levy, Heinrich 47, 89 Liebmann, Otto 47 Liebrucks, Bruno 329 Locke, John 31 f., 190 f., 246 Loft s, Steve 140 Lotze, Hermann 48, 50, 54, 89, 103, 108–110, 112 Lucas, Hans-Christian 154 Lugarini, Leo 143 Lukács, Georg 51, 278, 289, 322, 324, 343 f. Mabille, Bernard 143, 153 Malebranche, Nicolas 246 Mallarmé, Stéphane 241 Mann, Thomas 302 Marbach, Eduard 252 Marck, Siegfried 47, 71, 82, 87, 106 Marcuse, Herbert 12, 257, 277, 278, 317–345 Marjolin, Robert 221 Marquard, Odo 163, 166 Marsh, James 17 Marx, Karl 12, 217, 220, 223, 230 f., 263 f., 266–270, 276–290, 317 f., 320 f., 323 f., 334, 339–344, 359 f. Marx, Wolfgang 85 Mattick, Paul 345 Mayer, Hans 264, 272 McDowell, John 381, 386, 388, 408 Mead, George Herbert 40 Meinel, Christian S. 247 Menegoni, Francesca 258 Menke, Christoph 309, 349, 352
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Personenregister
Menne, Albert 108 Merleau-Ponty, Maurice 179, 216, 221, 230, 264 Meyer, Rudolf W. 261 Meyerson, Emile 221 Mill, John Stuart 26, 32, 36, 43 Miller, Arnold V. 407 Misch, Georg 177 Möckel, Christian 115, 118, 136– 138, 140 Model, Anselm 71 Mohr, Georg 222 Moldenhauer, Eva 215, 272 Montefiore, Alan 354 Moore, George Edward 337 Morris, George S. 18, 27, 33 Müller, Ernst 140 Müller, Olaf 71 Mutzenbecher, Almut 167 Natorp, Paul 47 f., 76–78, 81–102, 107, 112 Negt, Oskar 307 Newton, Isaac 49, 82 Nicolin, Günther 217 Nietzsche, Friedrich 52, 58, 240, 296, 349, 358, 360, 366 Nisbet, Hugh Barr 407 Nohl, Herman 51 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 58 Oberauer, Alexander 408 Oelkers, Jürgen 106 Ollig, Hans-Ludwig 47 f., 77, 102 f. Orlik, Franz 81 f. Orth, Ernst Wolfgang 47, 82, 85– 87, 103, 116, 140 Paredes Martín, María del Carmen 159 Parmenides 61, 95 f. Pätzold, Detlev 48, 53, 55, 67, 77, 82, 102, 121 f., 138, 140
Paul, Hermann 56 Peirce, Charles Sanders 27, 44, 46 Pfeiffer, Gabrielle 222 Pflanz, Stephan V. 243 Pietrowicz, Stephan 167 f. Pillen, Angelika 240 Pinkard, Terry 388, 408 Pippin, Robert B. 12, 369, 374, 381, 387 f., 395, 408 Pivčević, Edo 263 Planty-Bonjour, Guy 154 Platon 39, 61, 77 f., 81 f., 84 f., 95 f., 102, 109, 267, 349, 359, 366, 373 Plechanow, Georgi 276, 278 Plessner, Helmuth 12, 163, 165–179 Plotin 102 Plotnikov, Nikolaj 191 Pöggeler, Otto 146, 154 Poos, Matthias A. 301 f. Popper, Karl 243, 338 Proudhon, Pierre-Joseph 335 Pufendorf, Samuel v. 388 Quante, Michael 386, 407 f. Queneau, Raymond 221 f., 258 Quine, Willard Van Orman 378, 398 Quinton, Anthony M. 18, 46 Ragland, Clyde P. 407 Ramées, Pierre de la 263 Ratner, Joseph 40 Ratner, Sidney 40 Recki, Birgit 139 Rehberg, Karl-Siegbert 164 Reid, Thomas 26 Reinhold, Carl Leonhard 249 Reininger, Robert 103 Rentsch, Thomas 293, 298, 308 Rheinberger, Hans-Jörg 355 Richter, Cornelia 138, 140 Rickert, Heinrich 12, 47–49, 51,
Personenregister
54–76, 84, 86, 95 f., 98 f., 102 f., 105, 107–112, 166, 220 Riedel, Manfred 153 f. Riehl, Alois 47, 103 Rimbaud, Arthur 249 Röd, Wolfgang 181 Roger, Ginger 399 Rölli, Marc 12, 17, 35, 45 f. Rorty, Richard 21, 46, 371, 408 Rosen, Gideon 392, 408 Rosenkranz, Karl 219 Rossi, Paolo 116, 140 Rothfield, Phillip 349 Rousseau, Jean-Jacques 324, 395 Rudolph, Enno 140 Rybalka, Michel 223 Saatkamp, Herman J. 46 Sade, Marquis de (Donatien Alphonse François de Sade) 302 Sainte-Beuve, Charles-Augustin 135 Saint-Simon, Claude-Henri 335 f. Sandkaulen, Birgit 191, 309, 312 Sandkühler, Hans-Jörg 278 Saner, Hans 152 Sartre, Jean-Paul 12, 179, 215–217, 220–272 Sass, Hans-Martin 52 Saussure, Ferdinand de 355–358, 366 Schäfer, Alfred 106 Schäfer, Rainer 330, 338 Scheffel, Helmut 241 Scheel, Günther 271 Scheler, Max 116, 163–165, 168, 181 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 50, 77, 80, 107, 148, 150, 152, 165, 182, 207, 218 f. 239, 246 f., 335, 337, 407 f. Schick, Friedrike 332, 338 Schiemann, Gregor 131, 140 Schitlowski, Chaim 279 f. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 106, 140
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Schlipp, Paul A. 45 Schmidt, Alfred 322 f. Schmidt, Dorothea 351 Schmidt, Raymund 248 Schmiele, Walter 271 Schmitz, Hermann 261 Schneemann, Heinz 215 Schneider, Helmut 219 Schneider, Herbert W. 27, 46 Schneider, Ulrich Johannes 215, 218 Schöneberg, Hans 234, 271 f. Schopenhauer, Arthur 52 Schottky, Richard 258 Schüler, Svaneke 244 Schulz, Wolfgang K. 106 Schumacher, Bernard N. 230 Schuppener, Bernd 271 Schüßler, Ingrid 149 Schwarz, Theodor 266 Schwemmer, Oswald 126 Schweppenhäuser, Hermann 307 Sedgwick, Sally 408 Sedlaczek, Markus 357 Segalerba, Gianluigi 245 Sell, Annette 12, 143, 145, 149, 257 Sellars, Wilfrid 381, 383–385, 398, 402, 408 Seth, Andrew 18 Seubold, Günter 150 Shdanov, Andrei Alexandrowitsch 289 Sieg, Ulrich 77, 85 Siep, Ludwig 222, 386, 407 f. Sijmons, Jaap 101 Sinnerbrink, Robert 300 Sismondi, Jean-Charles-Léonard Simonde de 335 f. Smith, Nicolas H. 388, 408 Solovjev, Wladimir (Solowjew) 220 Spencer, Herbert 18, 22 Spengler, Oswald 135 Spicker, Gideon 243 Spinoza, Baruch de 77, 122, 235, 240, 246, 280, 282
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Personenregister
Springmeyer, Heinrich 253 Stahl, Friedrich Julius 335–337 Stähler, Tanja 148 Stalin, Josef 289 f. Steigerwald, Robert 345 Stein, Lorenz v. 336 Stein, Sebastian 407 Steinthal, Heymann 76 Stekeler-Weithofer, Pirmin 224 Stolzenberg, Jürgen 77, 82 f., 90 f. Strauß, David-Friedrich 54, 197 Strawson, Peter 371 f. Ströker, Elisabeth 163, 166 Strube, Claudius 152 Stumpf, Carl 252 Sturma, Dieter 261 Suhr, Martin 45, 247 Sziklai, Lászlo 289 Taine, Hippolyte 135 Tenorth, Heinz-Elmar 106 Theunissen, Michael 229, 230 Thompson, Christiane 300 Timm, Uwe 317 Torrey, Henry A. P. 17, 46 Trendelenburg, Friedrich Adolph 18, 76 Troeltsch, Ernst 55 Trotzki, Leo 288 Tycho Brahe 81 Uexküll, Jakob Johann v. 169 Uhlig, Dieter 289 Utz, Konrad 408 Vater, Michael 148 Vega, Rafael de la 278 Véra, Auguste (Vera, Augusto) 219 f. Verene, Donald P. 113, 115, 117, 136–140 Vermeren, Patrice 218
Vespa, Mauro 149 Vico, Giambattista 127 Vogeley, Kai 243 Volkelt, Johannes 102 Vollhardt, Friedrich 55 Wagner, Hans 103 Wahl, Jean 221, 227 Wahsner, Renate 82, 284 Waldenfels, Bernhard 240 Wallace, William 18 Weber, Gerda 276 Weber, Hermann 276 Weber, Max 56 Weil, Éric 221 f. Weiss, Paul 46 Wessels, Hans-Friedrich 84 Westbrook, Robert B. 18, 20, 23, 46 Wiehl, Reiner 77, 82, 150 Wiggershaus, Renate 45 Wiggershaus, Rolf 45, 318, 323 Wilhelm, Friedrich IV. 335 Windelband, Wilhelm 47–55, 72, 74, 103, 111, 166 f. Wittgenstein, Ludwig 336 f., 376 Wladika, Michael 329 Wolff, Christian 246 Wolzogen, Christoph v. 87 Wood, Allen 407 Wood, David 363 Wroblewsky, Vincent v. 271 f. Wundt, Wilhelm 28, 56, 102 Wunsch, Matthias 12, 113, 139, 140 Zeidler, Kurt Walter 47, 85, 103, 108, 110 f. Zekl, Hans Günter 253 Zeyer, Kirstin 243 Zischler, Hanns 355 Zittel, Claus 263