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German Pages 194 Year 2007
Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 46
Höchste Gerichte an ihren Grenzen Herausgegeben von MEINHARD HILF, JÖRN AXEL KÄMMERER, DORIS KÖNIG
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Höchste Gerichte an ihren Grenzen
Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 46
Höchste Gerichte an ihren Grenzen Herausgegeben von
Meinhard Hilf, Jörn Axel Kämmerer, Doris König
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-12516-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 * Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort „Höchste Gerichte an ihren Grenzen“ war eine Vorlesungsreihe überschrieben, die in den Jahren 2005 und 2006 an der Bucerius Law School stattfand. Auch wenn das Projekt in gemeinsamer Regie der drei Völker- und Europarechtler an der Hochschule durchgeführt wurde, ist seine Verwirklichung doch in erster Linie Meinhard Hilf zu verdanken, auf dessen Initiative die Vorlesungsreihe zurückgeht und der sie federführend betreute. Sieben Repräsentanten oberster Gerichte auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene referierten an der Bucerius Law School über Grenzen, an die ihre Rechtsprechungstätigkeit mitunter stößt. Die Mehrdeutigkeit des gewählten Leitbegriffs – „Grenzen“ – bot ausreichenden Raum für auf die Gerichte individuell zugeschnittene Betrachtungen ihrer ganz spezifischen „Grenzprobleme“. Während überstaatliche Gerichte nicht selten unter finanziellen und kapazitären, ja auch Sprach- und Verständnisgrenzen leiden, dominieren andernorts funktionale Begrenzungen, wie sie sich aus dem Prüfungsanspruch anderer Spruchkörper zwangsläufig ergeben. Bereits die Formulierung – „höchste Gerichte“ – deutet solche Konfliktpotenziale an: Zuhöchstsein kann, sobald es von mehreren Akteuren zugleich reklamiert wird, nur relativ verstanden werden, und wo Kompetenzparallelen bestehen, bedarf es, wenn sich schon kein Vorrang eines Höchstgerichts vor dem anderen begründen lässt, so doch immerhin der Koordination. Grenzen trennen – und entfremden – nicht nur, sie haben, wie man weiß, auch verbindende Funktionen. Exemplarisch steht dafür das Diktum vom „Kooperationsverhältnis“, in welchem das Bundesverfassungsgericht nach eigener Aussage zum Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften steht. Auch wenn dieser sich das Schlagwort nicht zu Eigen gemacht
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hat, würdigen die Präsidenten beider Gerichte Hans-Jürgen Papier und Vassilios Skouris im Einklang mit EuGH-Generalanwalt Francis Jacobs das Verhältnis in diesem Band einträchtig als ein konstruktives. Rar sind Konflikte auch zwischen dem EuGH und dem gleichfalls in Luxemburg ansässigen, als oberstes Gericht für den Europäischen Wirtschaftsraum agierenden EFTA-Gerichtshof; ganz im Gegenteil inspirieren die beiden Gerichte einander geradezu, wie dessen Gerichtspräsident Carl Baudenbacher verdeutlicht. Zu einem Ringen um die Justizhoheit und damit um den Verlauf von Rechtsprechungsgrenzen kommt es hingegen mitunter zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, auch wenn der von manchen befürchtete Showdown bislang ausgeblieben ist. Während jedes der beiden Gerichte sich in Grundrechtsbelangen als oberste Autorität versteht, werden Divergenzen beim Funktionsverständnis sowie bei der Auslegung bestimmter Grundrechte offenbar. Solche offenen Dissense zwischen Höchstgerichten, wie sie im Bereich der Pressefreiheit („Caroline“-Rechtsprechung) aufgetreten sind und nicht nur unterschwellig auch bei der zur Zeit der Herstellung dieses Bandes noch schwelenden Sorgerechtsstreitigkeit „Görgülü“ belegbar sind, können Instanzgerichte in Loyalitätskonflikte stürzen. Georg Ress, der den Straßburger Gerichtshof in diesem Band repräsentiert, klagt indes auch über Grenzen anderer Art, unter anderem die Überlastung des Gerichtshofs, dessen Ausstattung zur Bewältigung der Fülle von Individualbeschwerden nicht mehr ausreiche. Ob Papiers in diesem Buch unterbreiteter Vorschlag, die Straßburger Menschenrechtskontrolle möge für den Fall zuvor erfolgter Grundrechtsprüfung durch ein Verfassungsgericht auf eine Art Evidenzprüfung reduziert werden, jenseits des Rheins als Remedium begrüßt oder nicht vielmehr als Danaergeschenk verstanden werden dürfte, sei hier dahingestellt. Komplexer noch als im Dreieck zwischen Karlsruhe, Straßburg und Luxemburg erweist sich die judikative Grenzziehung mit Blick auf oberste Instanzgerichte: Sie müssen sich, wie Bertram Zwanziger für das Bundesarbeits-
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gericht darlegt, sowohl mit dem Bundesverfassungsgericht als auch mit den europäischen Höchstgerichten arrangieren. Wo die Letzteren völlig übereinstimmen, wie etwa in der Frage der Bindungswirkung Straßburger Entscheidungen, läuft dies zwangsläufig auf eine implizite Parteinahme des obersten Fachgerichts für eines der Grundrechtsgerichte hinaus. Die internationalen Gerichtshöfe werden in diesem Band durch Hans-Peter Kaul, Richter am Internationalen Strafgerichtshof im Haag und Präsident seiner Vorverfahrensabteilung, repräsentiert. Die Grenzen seiner Jurisprudenz sind – bis jetzt – meist anderer Natur als die der deutschen und europäischen Gerichte: Zum guten Teil sind es logistische und kapazitäre Grenzen, doch auch staatliche Souveränität stellt sich der Tätigkeit des Gerichtshofs immer wieder begrenzend entgegen. Die Frage, in welchem Maße Völkerrecht die Tätigkeit nationaler und europäischer Gerichte Beschränkungen unterwirft, besonders im Bereich der Grundrechtsjudikatur, wird in mehreren Beiträgen angesprochen, weist über den Gegenstand des Bandes aber im Grunde bereits hinaus. Das Europäische Gericht erster Instanz hat in den Rechtssachen „Kadi“ und „Yusuf“ gegenüber Gemeinschaftsrechtsakten, die zur Umsetzung von „smart sanctions“ des UN-Sicherheitsrats erlassen werden, ohne dass ein Umsetzungsspielraum besteht, eine allerdings auf die Verletzung von „ius cogens“ beschränkte Zuständigkeit für die gemeinschaftsgrundrechtliche Prüfung angenommen. Künftigen „Grenzkonflikten“ kann der EuGH, wie immer er als Rechtsmittelinstanz entscheidet, nicht entgehen: Bestätigt er die Entscheidung des EuG, muss er die Majorisierung durch das Bundesverfassungsgericht oder den EGMR fürchten; nimmt er hingegen einen weiteren Prüfungsrahmen in Anspruch, riskiert er den Konflikt mit dem UNSicherheitsrat. An dieser Konstellation wird zugleich offenbar, dass die Grenzen höchster Gerichte nicht starr sind, sondern sich ständig im Fluss befinden. Diese permanente Grenzdynamik ist ursächlich dafür, dass ein Bericht über ein „höchstes Gericht an seinen Grenzen“ immer nur eine Momentaufnahme sein kann. Als solche
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mögen die hier versammelten Beiträge verstanden werden, wenngleich die Aktualität und mitunter auch Brisanz der enthaltenen Aussagen ungebrochen sind und über den Vortragszeitpunkt weit hinausreichen. Auch künftige justizielle Konflikte und Probleme rühren immer wieder an die gleichen Grundsatzfragen. Der Vortragscharakter der Texte ist bei der Drucklegung in vielen Fällen erhalten geblieben; Aktualisierungen wurden, soweit erforderlich, im Haupttext oder in Fußnoten vorgenommen. Allen, die am Zustandekommen der Vortragsreihe und dieses Buches Anteil hatten, sei an dieser Stelle herzlich gedankt, besonders den Sekretärinnen der beteiligten Lehrstühle, Frau Karin Schramm und Frau Susi Lohmann, sowie Frau Wiss. Mitarb. Christine Schreiber. August 2007
Für die Herausgeber Jörn Axel Kämmerer
Der Internationale Strafgerichtshof – Grenzen und Herausforderungen Von Hans-Peter Kaul* Zu Beginn dieses Berichtes1 sollen – im Zeitraffer, ohne Anspruch auf Vollständigkeit – zunächst einige Daten in Erinnerung gerufen werden, welche bestimmte Linien der Rechtsentwicklung aufzeigen und den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in eine historische Perspektive bringen: – 1872 – Der Schweizer Gustave Moynier, direkter Nachfolger von Henry Dunant als Gründer des Internationalen Roten Kreuzes (IKRK), entwirft das erste Statut für einen Internationalen Strafgerichtshof. – 1945 / 1947 – Die Internationalen Militärtribunale von Nürnberg und Tokio etablieren das Prinzip der individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit auch von führenden Staatsvertretern und Militärs für ihre Taten. – 1948 – Art. VI der Völkermordkonvention sieht die Schaffung eines Internationalen Strafgerichtshofs vor. – 10. Dezember 1948 – Die Vereinten Nationen bekennen sich, erstmals in der Geschichte der Menschheit, in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu allgemeinen, * Der Verfasser ist Richter am Internationalen Strafgerichtshof. Er war von 1996 bis zu seiner erstmaligen Wahl im Jahr 2003 als Beamter des Auswärtigen Amtes deutscher Verhandlungsführer und Delegationsleiter für das Strafgerichtsvorhaben. 1 Der Beitrag beruht auf einen Vortrag, den Richter Kaul am 11. Mai 2006 in der Bucerius Law School in Hamburg gehalten hat. Neuere Entwicklungen, die bis Juli 2007 zu verzeichnen waren, sind, soweit erforderlich, berücksichtigt.
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unveräußerlichen Menschenrechten, die alle Staaten fortan auch gegen Willkür und Gewalt schützen müssen. – 1949 – Die vier Genfer Abkommen schaffen die Grundlagen des modernen humanitären Völkerrechts und legen fest, was fortan im Krieg verboten ist. – 1993 / 1994 – Die ad hoc-Strafgerichtshöfe zum ehemaligen Jugoslawien und zu Ruanda werden geschaffen. – 17. Juli 1998 – Nach unendlichen Mühen endet die RomKonferenz doch erfolgreich: Der Gründungsvertrag des Internationalen Strafgerichtshofs, das Römische Statut, wird mit 120 Ja-Stimmen, 21 Enthaltungen und sieben NeinStimmen angenommen. Mit „Nein“ stimmen Irak, Libyen, die USA, Israel, China, Jemen und Katar. – 11. März 2003 – Der Internationale Strafgerichtshof wird in Den Haag im Beisein von Kofi Annan und Königin Beatrix feierlich eröffnet.
Unsere neue Institution in Den Haag ist das erste auf vertraglicher Grundlage beruhende Strafgericht in der Geschichte der Menschheit, welches auf Dauer international Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen verfolgen soll, wenn nationale Strafrechtssysteme versagen2. Für unser Gericht finden seit längerem bereits Ermittlungen im Kongo, in Uganda, in Bezug auf Darfur / Südsudan und seit dem 22. Mai 2007 auch in der Zentralafrikanischen Republik statt. Dazu ist das Gericht seit dem 17. März 2006 in einer neuen Phase: Seit diesem Tag – ich war damals Richter vom Dienst – haben wir einen kongolesischen Beschuldigten 2 Hans-Peter Kaul, Construction Site for More Justice: The International Criminal Court After Two Years, American Journal of International Law 99 (2005), S. 370 ff.; ders., Baustelle für mehr Gerechtigkeit – Der Internationale Strafgerichtshof in seinem zweiten Jahr, VN 4 (2004), S. 141 ff.; ders., Der Aufbau des Internationalen Stragerichtshofs, Schwierigkeiten und Fortschritte, VN 6 (2001), S. 215 ff.; ders., Durchbruch in Rom – Der Vertrag über den Internationalen Strafgerichtshof, VN 4 (1998), S. 125 ff.; ders., Auf dem Weg zum Weltstrafgerichtshof, Verhandlungen und Perspektiven, VN 5 (1997), S. 177 ff.
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im Gewahrsam und vor den Schranken des Gerichts, Thomas Lubanga Dyilo. Ihm werden schwere Kriegsverbrechen gem. Art. 8 des Römischen Statuts vorgeworfen, insbesondere die Zwangsrekrutierung von Kindersoldaten und ihre Verwendung zur aktiven Teilnahme an Feindseligkeiten3. Die zuständige Vorverfahrenskammer I hat vom 9. – 28. November 2006 eine Verhandlung abgehalten, um die Anklagepunkte zu bestätigen, die der Ankläger zum Gegenstand des Hauptverfahrens zu machen beabsichtigt. Diese wurden am 29. Januar 2007 bestätigt. Das Hauptverfahren kann somit beginnen. Weitere Verfahren werden folgen, wenn – das ist ein großes Fragezeichen – bereits erlassene Haftbefehle4 gegen Beschuldigte in Uganda und Sudan vollstreckt werden5. Bei meinem Bericht möchte ich auf drei Fragenbereiche eingehen: Erstens: Was sind die wichtigsten Grundprinzipien des Internationalen Strafgerichtshofs? Zweitens: Wo steht der Internationale Strafgerichtshof heute? Wie weit ist insbesondere sein Aufbau fortgeschritten? Drittens: Zum Schluss ein Ausblick: Was sind bedeutsame Grenzen, wie sind die weiteren Perspektiven des Internationalen Strafgerichtshofs?
Warrant of Arrest, ICC-01 / 04 – 01 / 06 – 2. Warrants of Arrest for Joseph Leony, Dominic Ongwen, Okot Odhiambo, Raska Lukwiya, Vincent Otti, ICC-02 / 04 – 01 / 05 – 53 bis 57. Erwähnenswert ist, daß mit seinem Tod das Verfahren gegen Raska Lukwiya mit der Entscheidung vom 11. Juli 2007 eingestellt worden ist (ICC-02/04 – 01 / 05 – 248). Warrants of Arrest for Ali Muhammad Ali Abd-Al-Rahman („Alikushayb“) and Ahmad Muhammad Haron („Ahmad Harun“), ICC-02 / 05 – 01 / 07 – 2 bis 3. 5 Submission of information on the status of the execution of the warrants of arrest in the situation in Uganda, ICC-02 / 04 – 01 / 05 – 116; siehe auch Kasaija Phillip Apuuli, The ICC Arrest Warrants for the Lord’s Resistance Army Leaders and Peace Prospects for Northern Uganda, Journal of International Criminal Justice 4 (2006), S. 186 f. 3 4
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I. Grundprinzipien Ganz wichtig ist zunächst folgendes: Der Strafgerichtshof ist keine umfassende, keine globale Superstrafinstanz mit Zuständigkeit für alle und jedes schwere Verbrechen. Im Gegenteil sind Römisches Statut und Strafgerichtshof in ihrer Reichweite kompromisshaft begrenzt6. Gerade weil es so große, oft unrealistische Erwartungen an unser junges Gericht gibt, erscheint es richtig, die wichtigsten Beschränkungen noch einmal in Erinnerung zu rufen: Entscheidende Voraussetzung für die Ausübung der Zuständigkeit des Gerichtshofs ist vor allem, dass kein Staat, der Gerichtsbarkeit über die Sache hat, willens oder in der Lage ist, die Strafverfolgung ernsthaft zu betreiben. Wenn ein Staat also seine Verpflichtung zur Verfolgung schwerster Verbrechen ernst nimmt, ist der Strafgerichtshof von vornherein nicht zuständig. Die Strafverfolgung durch nationale Gerichte hat Vorrang7. Anders ausgedrückt: Der Strafgerichtshof hat, anders als die ad-hoc-Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und für Rwanda, keine vorrangige oder konkurrierende, sondern nur nachrangige, ergänzende Gerichtsbarkeit. Der Internationale Strafgerichtshof ist damit eine Art Reserveinstitution, ein Gericht für den Notfall, dass nationale Strafrechtssysteme versagen8. Bei diesem sogenannten Prinzip der Komplementarität handelt es sich um das wichtigste Funktionsprinzip, ja die entscheidende Grundlage des Internationalen Strafgerichtshofs überhaupt9. Wenn also jemand die Frage 6 Kaul, VN 4 (2004), S. 144; David Hunt, The International Criminal Court – High Hopes, ,Creative Ambiguity‘ and an Unfortunate Mistrust in International Judges, Journal of International Criminal Justice 2 (2004), S. 56 ff. 7 Siehe Art. 17 des Römischen Statuts. 8 Hans-Peter Kaul, The International Criminal Court: Key Features and Current Challenges, in: Herbert R. Reginbogin / Christoph J.M. Safferling (Hrsg.), Die Nürnberger Prozesse – Völkerstrafrecht seit 1945, 2006, S. 246. 9 Siehe Markus Benzing, The Complementarity Regime of the International Criminal Court: International Criminal Justice Between State
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stellt: „Was ist das überhaupt Wichtigste, was man über den Internationalen Strafgerichtshof wissen soll?“, dann ist es dieses Prinzip der Komplementarität oder auch Subsidiarität, was man kennen und verstehen sollte. Darüber hinaus unterliegt die Gerichtsbarkeit anderen wichtigen Beschränkungen. Ihr unterstehen nach Art. 5 Abs. 1 des Römischen Statuts in materieller Hinsicht, ratione materiae, ausschließlich Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen des Angriffskrieges. Letzteres muss allerdings noch tatbestandlich definiert werden, und es muss darüber hinaus auch im Verhältnis zum Sicherheitsrat der UNO (siehe besonders Art. 39 der UNO-Charta) geklärt werden, unter welchen Bedingungen der Internationale Strafgerichtshof seine Gerichtsbarkeit ausüben kann10. Auch besteht eine Begrenzung der bereits operativen Tatbestände darin, dass jeweils eine bestimmte Dimension erreicht werden oder eine bestimmte Schwelle überschritten sein muss. Völkermord etwa richtet sich immer gegen eine gesamte nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche (Art. 6). Verbrechen gegen die Menschlichkeit setzen tatbestandsmäßig immer einen ausgedehnten oder systematischen Angriff gegen die Zivilbevölkerung voraus (Art. 7), in den sich die einzelnen Verbrechen einfügen müssen. Für Kriegsverbrechen ist der Gerichtshof insbesondere dann zuständig, wenn diese als Teil eines Plans oder einer Politik oder in großem Umfang begangen werden (Art. 8). Letzteres bedeutet zugleich, dass ein individuelles, vereinzeltes KriegsSovereignty and the Fight Against Impunity, Max Planck Yearbook of United Nations Law 7 (2003), S. 591 ff. 10 Siehe Oliver Fixson / Gerd Westdickenberg, Das Verbrechen der Aggression im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, in: Jochen Frowein / Klaus Scharioth / Ingo Winkelmann / Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Verhandeln für den Frieden / Negotiating for Peace – Festschrift für Tono Eitel, 2003, S. 483 ff.; Mauro Politi / Giuseppe Nesi (Hrsg.), The International Criminal Court and the Crime of Aggression, 2004.
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verbrechen eines einzelnen oder einzelner Soldaten nicht vor den Gerichtshof kommen wird. In zeitlicher Hinsicht, ratione temporis, ist der Gerichtshof nur zuständig für Taten, die nach In-Kraft-Treten des Römischen Statuts begangen wurden, also nach dem 1. Juli 2002. Insofern ist der Gerichtshof keine Institution, die historisches Unrecht aufarbeiten kann. Die Zuständigkeit des Gerichtshofes hinsichtlich des Personenkreises schließlich, die Gerichtsbarkeit ratione personae, ist ebenfalls nicht umfassend. Sie ist vielmehr – sieht man von der Überweisung einer „Situation“, in der anscheinend Kernverbrechen begangen wurden, durch den UN-Sicherheitsrat ab11 – grundsätzlich nur in zwei Fällen eröffnet: Zum einen, wenn die genannten Verbrechen auf dem Gebiet eines Vertragsstaates begangen werden, und zum anderen, wenn sie durch eine Person verübt werden, die Staatsangehörige einer Vertragspartei ist12. Zugleich hat diese Begrenzung der Gerichtsbarkeit ratione personae die Konsequenz, dass der Internationale Strafgerichtshof mittel- und langfristig universale Mitgliedschaft aller oder fast aller Staaten braucht, um ein Gericht mit wirklich weltweiter Zuständigkeit zu werden. Eine weitere Beschränkung tatsächlicher Art stellt die vollkommene, hundertprozentige Abhängigkeit des Strafgerichts11 Von dieser Möglichkeit hat der VN-Sicherheitsrat mit der Resolution 1593 vom 31. März 2005 erstmals in Bezug auf Darfur / Südsudan Gebrauch gemacht. Siehe dazu Andreas Zimmermann, Two Steps Forward, One Step Backwards? Security Council Resolution 1593 (2005) and the Council’s Power to Refer Situations to the International Criminal Court, in: Pierre-Marie Dupuy / Bardo Fassbender / Malcolm B. Shaw / KarlPeter Sommermann (Hrsg.), Völkerrecht als Wertordnung – Festschrift für Christian Tomuschat, 2006, S. 681 ff. 12 Art. 12 Abs. 2 des Römischen Statuts. Siehe dazu Hans-Peter Kaul, Preconditions to the Exercise of Jurisdiction, in: Antonio Cassese / Paolo Gaeta / John R. W. D. Jones (Hrsg.), The Rome Statute of the International Criminal Court: A Commentary, 2002, Bd. 1, S. 607 ff.; Michael P. Scharf, The ICC’s Jurisdiction Over the Nationals of Non-Party States: A Critique of the U.S. Position, Law and Contemporary Problems 64 (2001), S. 67 ff.
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hofs von wirksamer strafrechtlicher Zusammenarbeit der Vertragsstaaten dar13. Ein absolut entscheidender Bereich ist die Frage der Durchführung von Festnahmen und Überstellungen nach Den Haag14. Der Strafgerichtshof hat keine eigene Polizei, keine Vollzugsgewalt, auch keine Soldaten. Wie sollen Festnahmen in fernen Ländern ohne die Hilfe von Staaten erfolgen? Der entscheidende Punkt ist: Der Gerichtshof kann nur so stark sein, wie ihn effektive, verzugslose und nachhaltige strafrechtliche Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten macht15.
II. Aktuelle Lage Wie ist die derzeitige Lage des Gerichtshofs, wie weit sein Aufbau fortgeschritten, in der Kanzlei, bei der Anklagebehörde, in den Kammern des Gerichts? Der Anfang war mühsam und bescheiden: Am 1. Juli 2002, bei Inkrafttreten des Römischen Statutes, betritt ein Vorausteam von fünf Personen, von mir als deutschem Verhandlungsführer mit größter Mühe durchgesetzt, erstmals ein völlig leeres, 15-stöckiges Bürogebäude in Den Haag, um dort die Aufbauarbeit für das Gericht aufzunehmen. Erste Tat: Anschaffung von fünf Telefonen, fünf PCs und einem Faxgerät, von ersten Büromöbeln usw. Was nun die derzeitige Lage des Strafgerichtshofs angeht, so lassen Sie mich dazu einen Satz voranstellen, der schlag13 Hans-Peter Kaul / Claus Kress, Jurisdiction and Cooperation in the Statute of the International Criminal Court, Principles and Compromises, Yearbook of International Humanitarian Law 2 (1999), S. 157 ff. 14 Dies betonte auch Chefankläger Moreno-Ocampo in seiner Ansprache „Building a Future on Peace and Justice“ auf der Konferenz in Nürnberg am 24. / 25. Juni 2007, siehe http: //www.icc-cpi.int/library/organs/ otp/speeches/LMO-nuremberg-20070625_English.pdf. 15 Jakob Katz Cogan, International Criminal Courts and Fair Trials – Difficulties and Prospects, Yale Journal of International Law 27 (2002), S. 119; Hans-Peter Kaul, Der Internationale Strafgerichtshof – Stand und Perspektiven, in: Frank Neubacher / Anne Klein (Hrsg.), Vom Recht der Macht zur Macht des Rechts, Kölner Kriminalwissenschaftliche Schriften, Bd. 48, 2006, S. 93 ff., 95.
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wortartig die gegenwärtige Situation umreißt: Derzeit befindet sich das Gericht bereits zunehmend im Übergang von der Aufbauarbeit zur konkreten strafverfolgenden und gerichtlichen Tätigkeit, siehe besonders das bereits erwähnte laufende Verfahren gegen Thomas Lubanga Dyilo. Ein knapper Überblick: Wie andere Richter habe auch ich im Herbst 2003 meine Arbeit als frisch ernannter Vollzeitrichter am Strafgerichtshof aufgenommen. Zusammen mit der Präsidentschaft und den Richterkollegen habe ich seither in wechselnden Rollen – mal als Beobachter, mal als Akteur, gelegentlich als treibende Kraft – verfolgt, wie der Strafgerichtshof dauerhaft und weiterhin mit mindestens fünf zentralen Aufgaben befasst ist, vielleicht mehr, die alle gleichzeitig bewältigt werden müssen, mit täglich neuen Schwierigkeiten, unter Zeitdruck, und auch unter dem Druck der weiterhin großen Erwartungen der internationalen Öffentlichkeit: Erstens: Der Strafgerichtshof muss seinen fortschreitenden Aufbau zu einer leistungsfähigen und professionellen internationalen Organisation und zugleich zu einem voll arbeitsfähigen internationalen Gericht konsolidieren und in absehbarer Zeit abschließen16. Zweitens: Das Gleiche gilt für die Anklagebehörde, die sich einerseits selbst zu einem leistungsfähigen internationalen Strafverfolgungsapparat für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen entwickeln muss17; sie muss dabei gleichzeitig bereits jetzt – und das macht die Schwierigkeit aus – Untersuchungen besonders im Kongo, in Uganda, der Zentralafrikanischen Republik und in Bezug auf Darfur aktiv vorantreiben, Tausende von Kilometern von Den Haag entfernt. Drittens muss das Gericht dazu ein neues Netzwerk internationaler strafrechtlicher Zusammenarbeit aufbauen und über die derzeit 10518 Vertragsstaaten hinaus noch mehr Ver16 17
Kaul, VN 4 (2004), S. 144. Ibid., S. 143.
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tragsstaaten gewinnen, damit es weltweit wirksam arbeiten kann19. Viertens: – Dieser Punkt hängt eng mit dem letztgenannten zusammen und ist besonders schwierig, weil er eine in Kap. 9 des Römischen Statuts angelegte Strukturschwäche des Gerichts betrifft20 – die Vertragsstaaten und der Gerichtshof müssen, in absehbarer Zeit, ein System „bester Praktiken“ effektiver strafrechtlicher Zusammenarbeit entwickeln – unbürokratisch, direkt, flexibel, mit schnellem Fluss von Erkenntnissen und unterstützenden Maßnahmen. Dieses System muss der Tatsache Rechnung tragen, dass der Strafgerichtshof nur so stark sein kann, wie ihn die Vertragsstaaten machen. Dies gilt insbesondere für Festnahmen und Überstellungen nach Den Haag. Derzeit wird immer deutlicher, dass die Frage, wer Festnahmen und Überstellungen für den Strafgerichtshof durchführt, ein fundamentales Dilemma, vielleicht das ungelöste Problem schlechthin für den Strafgerichtshof darstellt21. Im ehemaligen Jugoslawien haben NATO- und Koalitionssoldaten die meisten Festnahmen für das Jugoslawientribunal durchgeführt. Wie sollen nun Festnahmen für unser Gericht, etwa im Kongo oder in Uganda, erfolgen? Es wäre fatal, wenn die Vertragsstaaten den Gerichtshof in dieser Frage allein lassen würden, etwa nach dem Motto: „Wir haben Euch gegründet und das Geld für die ersten Haushalte gegeben, nun seht zu, wie ihr die Täter vor Euer Gericht bekommt!“ Das kann nicht funktionieren, hoffentlich ist dies allen klar. Die Vertragsstaaten und auch die Sicherheitsratsmitglieder, die uns die Darfur-Situation überwiesen haben, müssen nun über18 Diese Zahl schließt Japan ein, dessen Beitritt am 1. Oktober 2007 wirksam wird. 19 Kaul (Fn. 14), S. 99. 20 Kaul / Kress (Fn. 12), S. 157 ff. 21 Siehe dazu Han Ru Zhou, The Enforcement of International Arrest Warrants by International Forces – From the ICTY to the ICC, Journal of International Criminal Justice 4 (2006), S. 208 ff.
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legen, wie sie den Strafgerichtshof bei der entscheidenden Frage von Festnahmen und Überstellungen unterstützen können. Fünftens: Die Vertragsstaaten, darunter besonders die EUStaaten und andere große Mitgliedsländer, müssen weiterhin alle Möglichkeiten offen halten, um besonders die USA in absehbarer Zeit doch zu einer konstruktiven Haltung zu bewegen22. Der Strafgerichtshof kann seinerseits hierzu beitragen, indem er wie bisher unter Beweis stellt, dass die bekannten US-Vorwürfe und Kritiken (angebliches Risiko politisch motivierter Strafverfahren, angeblich unkontrollierbarer Ankläger, angeblich keine ausreichenden Verfahrensgarantien) haltlos sind und auch dann nicht richtiger werden, wenn sie immerzu wiederholt werden. Wo stehen wir jetzt23? In der Zwischenzeit haben sich die vier Organe des Gerichtshofs nach Art. 34 des Römischen Statuts, d. h. die Präsidentschaft, die Kammern, die Anklagebehörde und die Kanzlei, in eigenen Strukturen etabliert. Die Verfahren der gerichtlichen Zusammenarbeit spielen sich zunehmend ein. Das Personal des Strafgerichtshofs ist schnell – vielleicht zu schnell – auf 766 angewachsen, darunter 29 Deutsche. Gegenwärtig haben wir Personal aus bereits über 60 Staaten, alle meist hochmotiviert, aber aus unterschiedlichen Systemen und Traditionen, mit unterschiedlichen Ausbildungen. Die Aufgabe, daraus ein eingespieltes Team mit einer gemeinsamen Verwaltungskultur zu formen, ist sehr sehr schwierig; sie wird noch geraume Zeit in Anspruch nehmen. Dennoch funktioniert vieles, noch nicht alles, immer besser.
22 Kaul, VN 4 (2004), S. 147. Zur Problematik der Haltung der BushAdministration zum Internationalen Strafgerichtsof, siehe Andreas Zimmermann / Holger Scheel, Zwischen Konfrontation und Kooperation, Die Vereinigten Staaten und der Internationale Strafgerichtshof, VN 4 (2002), S. 137 ff. 23 Siehe Kaul, AJIL 99 (2005), S. 370 ff.
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Das Gericht ist damit zunehmend arbeitsfähig in der kritischen Phase des Übergangs zu gerichtlicher Tätigkeit. Weitere Stichworte: Seit 2003 haben 3 Vertragsstaaten die Lage auf Ihrem Staatsgebiet dem Chefankläger überwiesen: Uganda24, Kongo25 und die Zentralafrikanische Republik26. Die Elfenbeinküste hat sich als erster Nichtvertragssstaat in einer Erklärung nach Art. 12 Absatz 3 des Römischen Statuts der Gerichtsbarkeit unterworfen27. Der Sicherheitsrat der VN hat am 31. März 2005 die Lage in Darfur dem Gerichtshof überwiesen28. Der Ankläger hat am 6. Juni 2005 förmliche Ermittlungen betreffend Darfur eingeleitet29 und im Juni und Dezember 2005 dem Sicherheitsrat seine ersten beiden Berichte erstattet. Der letzte Bericht an den Sicherheitsrat wurde am 7. Juni 2007 vorgelegt30. Die Präsidentschaft hat alle vier Situationen den Kammern I, II und III der von mir geleiteten Vorverfahrensabteilung zugewiesen. Die für den Kongo und Darfur zuständige Vorverfahrenskammer I und für Uganda zuständige Vorverfahrenskammer II haben zahlreiche Anhörungen durchgeführt. Beide 24 ICC Press Release, President of Uganda refers situation concerning the Lord’s Resistance Army (LRA) to the ICC, 29. Januar 2004. 25 ICC Press Release, Prosecutor receives referral of the situation in the Democratic Republic of Congo, 19. April 2004. 26 ICC Press Release, Prosecutor receives referral concerning Central African Republic, 7. Januar 2005. 27 ICC Press Release, Registrar Confirms that the Republic of Côte d’Ivoire Has Accepted the Jurisdiction of the Court, 15. Februar 2005. 28 UNSC Res. 1593. 29 ICC Press Release, The Prosecutor of the ICC opens investigation in Darfur, 6. Juni 2005. 30 Fifth Report of the Prosecutor of the International Criminal Court to the UN Security Council pursuant to UNSCR 1593 (2005), siehe http:// www.icc-cpi.int/library/organs/otp/OTP_Report-UNSC5-Darfur_English. pdf.
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Kammern haben verschiedene Entscheidungen getroffen und dabei auch mehrere Haftbefehle erlassen. Die Entscheidungen können auf der Webseite des IStGH nachgelesen werden31. Die Haftbefehle betreffen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, massenhafte Tötung, Vergewaltigung, sexuelle Versklavung sowie Zwangsrekrutierung von Kindersoldaten. Vorausgesetzt, die Staaten unterstützen uns wirklich bei Festnahme und Überstellung nach Den Haag, so werden weitere Strafverfahren in Den Haag noch dieses Jahr beginnen. Die Anklagebehörde hat bereits zahlreiche Untersuchungsmissionen unternommen, etwa 70 nach Uganda, 80 in den Kongo, und in Bezug auf Darfur 70 Missionen in 17 Staaten und 5 Missionen in den Sudan. Hinzugetreten sind zuletzt eine wachsende Zahl von Untersuchungsmissionen in die Zentralafrikanische Republik. Anklagebehörde und Kanzlei haben darüber hinaus seit Jahresbeginn einen Aktionsplan und Konzept für sogenannte Feldbüros (field offices) entwickelt, von denen aus Ermittlungen, opferbezogene Tätigkeiten und Informationsarbeit über die Tätigkeit des Strafgerichtshofs in den betroffenen Staaten realisiert werden. Das Feldbüro in Kampala ist seit längerem voll operativ, das Feldbüro in Kinshasa seit einigen Monaten ebenfalls, also können auch die Untersuchungsteams zunehmend besser arbeiten. Weil die Arbeit unserer jungen Ermittler und Ermittlerinnen – Durchschnittsalter 30 – 35 Jahre – so absolut entscheidend ist, ist es auch notwendig, auf die großen Schwierigkeiten hinzuweisen, unter denen die Arbeit etwa in Uganda und im Kongo geleistet werden muss. Immer wieder gibt es Zwischenfälle, plötzlich wird gekämpft und geschossen. Die Sicherheitslage ist immer wieder prekär. Dazu hat mir ein ermittelnder Staatsanwalt berichtet, dass es schon gewöhnungsbedürftig sei, wenn aussagebereite Zeugen und Opfer bewaffnet erschienen. Unsere Gerichtshofsärztin hat bereits festgestellt, dass viele der hochmotivierten jungen Leute nach 31
http: //www.icc-cpi.int/cases.html.
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zwei bis drei Wochen Einsatz nahezu erschöpft, oder auch – trotz aller Impfungen und Schutzmaßnahmen – mit Malaria oder einer anderen Krankheit zurückkehrten; sie müssten sich dann erst wieder regenerieren. Über diese Probleme und Sorgen, aber auch über unsere anderen vielfältigen Aufgaben und Aktivitäten hat mein kanadischer Richterkollege und Präsident des Strafgerichtshofs Philipp Kirsch am 8. November 2005 in New York der Generalversammlung der Vereinten Nationen einen Rechenschaftsbericht gegeben32. Vielleicht ist erwähnenswert, dass die US-Regierung damals den Auftritt unseres Präsidenten in der General Assembly, die gewöhnlich den Außenministern oder Regierungschefs vorbehalten ist, verbieten wollte; sie konnte sich aber nicht gegen die große Mehrheit der UN-Mitgliedstaaten durchsetzen.
III. Grenzen und Ausblick Der Strafgerichtshof ist insgesamt ein neuartiger Versuch, in dem anscheinend ewigen, immer wieder von Rückschlägen gekennzeichneten Kampf zwischen brutaler Macht einerseits, dem Recht andererseits die universelle Geltung der Menschenrechte zu stärken. Es gilt dabei die erfahrungsgemäß am stärksten Gefährdeten zu schützen – vor allem Frauen und Kinder, die Zivilbevölkerung. Zugleich gilt es, die Grenzen und Beschränkungen unseres jungen Gerichts klar zu sehen. Diese Grenzen beruhen teilweise auf dem Gründungsvertrag, sind also insofern politisch gewollt; teilweise hängen sie mit den Realitäten dieser Welt oder faktischen Schwierigkeiten zusammen. Lassen Sie mich die wichtigsten Beschränkungen nochmals hervorheben: 32 Address to the United Nations General Assembly, New York, 8. November 2005. In der Zwischenzeit liegt auch der Bericht des Präsidenten des IStGH an die 61. Generalversammlung (2006) vor: Address to the United Nations General Assembly, 9. Oktober 2006.
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Eine erste Grenze ist die beschränkte Reichweite des Jurisdiktions- und Zulässigkeitsregimes des Strafgerichtshofs. Es handelt sich dabei um eine Kombination von Jurisdiktion, beruhend auf dem Territorialitätsprinzip und dem aktiven Personalitätsprinzip gem. Art. 12 mit einem Zulässigkeitsregime komplementärer, ergänzender Gerichtsbarkeit gem. Art. 1733. Eine zweite, faktische Grenze ist die präzedenzlose, ja ungeheure Schwierigkeit, dass das Gericht notwendig komplexe Ermittlungen in fernen, schwer zugänglichen, oft unsicheren Regionen durchführen muss, um die notwendigen Beweismittel zu sichern. Eine dritte Grenze ist die bereits erläuterte strukturelle Schwäche des in Kap. 9 des Römischen Statuts angelegten Regimes strafrechtlicher Zusammenarbeit34. Dieses Regime macht den Gerichtshof völlig von wirksamer strafrechtlicher Zusammenarbeit durch die Vertragsstaaten abhängig, dies besonders in der absolut entscheidenden Frage tatsächlich erfolgender Festnahmen und Überstellungen nach Den Haag. Eine vierte, wiederum faktische Grenze ist eine erkennbar system-immanente Schwerfälligkeit internationaler Strafgerichte. Diese Schwerfälligkeit beruht auf vielen Ursachen, etwa der Komplexität der Strafverfahren, der Tatsache, dass der Ankläger richtigerweise auf die Führungstäter, die Täter mit der größten Verantwortung abzielen muss, die jedoch meist fast unbegrenzte Machtmittel und Möglichkeiten haben, ihre Verantwortung zu verschleiern. Dazu beruht diese Schwerfälligkeit weiter auf fehlender Tatortnähe, einem sehr hohen logistischen Aufwand, sehr vielen Beteiligten, Sprachund Übersetzungsproblemen und natürlich auch Obstruktion und Verschleppung, wie sie etwa in dem Miloševic´-Verfahren vor dem Jugoslawien-Tribunal regelmäßig zu beobachten waren. 33 34
Kaul / Kress (Fn. 12), S. 152 ff. Kaul (Fn. 7), S. 247.
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Eine fünfte, mit den Realitäten dieser Welt zusammenhängende Grenze ist die weiterhin begrenzte Bereitschaft der Vertragsstaaten, das Gericht angemessen zu finanzieren. Bei den Haushalten internationaler Organisationen, einschließlich unseres Gerichts, wird nach meiner Erfahrung meist ein besonders strenger Maßstab angelegt. Wenn aber z. B. kein Geld da ist, um Zahl und Personalstärke unserer Untersuchungsteams zu erhöhen, verringert dies zwangsläufig unsere Möglichkeiten und Effektivität. Natürlich gibt es weitere Grenzen, etwas die aktive Ablehnungshaltung der derzeitigen US-Regierung, damit zusammenhängend weiter eine ungenügende Zahl von Vertragsstaaten oder auch die Langsamkeit, mit der Vertragsstaaten auf das für uns so zentrale System bester Praktiken effektiver strafrechtlicher Zusammenarbeit eingehen. Das sind Grenzen, ja Handicaps, die gerade einem Richter des Gerichtshofs schmerzlich bewusst sind. Auf der anderen Seite wäre es verfehlt, den enormen Fortschritt und das Potenzial für mehr internationale Gerechtigkeit zu übersehen, die mit der Errichtung des Gerichtshofs verbunden sind. Es ist wichtig, sich ins Bewusstsein zu rufen: Im Gegensatz etwa zu den ad-hoc-Strafgerichtshöfen für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda, im Gegensatz auch zu dem internationalen Sondergericht für Sierra Leone ist das Mandat des Internationalen Strafgerichtshofs grundsätzlich universell, umfassend und auf Dauer angelegt. Es beruht – und das ist entscheidend – auf dem allgemeinen Rechtsgrundsatz „Gleiches Recht für alle, Gleichheit vor dem Recht“35.
IV. Schluss Generell und ganz nüchtern: Die Errichtung des Strafgerichtshofs ist Teil einer größeren Bewegung in Richtung 35 Siehe dazu M. Cherif Bassiouni, The Universal Model: The International Criminal Court, in: ders. (Hrsg.), Post-Conflict Justice, 2002, S. 819 ff.
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Wiederbelebung und Weiterentwicklung der internationalen Strafgerichtsbarkeit. Sie ist erstens einersteits konkreter Ausdruck der Entschlossenheit der internationalen Gemeinschaft, dem deprimierenden Phänomen der Straflosigkeit schwerster Verbrechen künftig wirksamer zu begegnen. Zweitens – und das ist ebenfalls entscheidend – werden die Staaten an ihre Verpflichtung erinnert, diese Verbrechen in ihrem eigenen Land wirksam zu verfolgen. Der Strafgerichtshof ist drittens, und nicht zuletzt, der Versuch, ein Forum und eine „Klagemauer“ für die Opfer und Unterdrückten dieser Erde zu bieten. Der Strafgerichtshof ist insgesamt die bisher weitreichendste Institution internationaler Strafgerichtsbarkeit. Lassen Sie mich aber auch eine Mahnung bekräftigen, die ich schon oft vorgetragen habe und die mir sehr am Herzen liegt: Man muss weiterhin sehr nüchtern und realistisch hinsichtlich der Rolle des Strafgerichtshofs bleiben. In besonderem Maße sollten wir überzogene Erwartungen vermeiden. Im Verhältnis zu den Problemen und gewaltsamen Krisen dieser Welt wird der Gerichtshof immer klein und schwach sein, eher ein Symbol. Schon aus Kosten- und Kapazitätsgründen wird das Gericht immer nur einige wenige, exemplarische Strafverfahren durchführen können. Es ist auch noch etwas Geduld notwendig. Man sollte bedenken, dass die Realisierung der Strafgerichtshof-Idee von Gustave Moynier aus dem Jahre 1872 über 130 Jahre gebraucht hat, dass in den Vereinten Nationen darüber jahrzehntelang beraten wurde. Und wie fordernd und schwierig ist die Konsolidierung dieses präzedenzlosen Gerichts! Die Schlussfolgerung ist klar: Bedeutung und Erfolg des Strafgerichtshofs dürfen nicht mit der oft nur kurzen Aufmerksamkeitsspanne, mit der oft nur kurzen Geduldsspanne unserer Zeit gemessen werden. Seit dem internationalen Militärgerichtshof von Nürnberg hat die internationale Gemeinschaft mehr als ein halbes Jahrhundert benötigt, um einen ständigen internationalen Strafgerichtshof zu gründen. Es ist richtig: Es gibt noch viele Hindernisse, die einer erfolgreichen Arbeit des internationalen Strafgerichtshofs im Wege stehen. Nochmals: Der Gerichtshof
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kann nur so stark sein, wie ihn eine wirksame Zusammenarbeit durch möglichst viele Vertragsstaaten macht. Wenn jedoch diese Unterstützung geleistet wird, dauerhaft und verlässlich, dann wird der Strafgerichtshof zunehmend beweisen können, dass seine Verfahren und Urteile sichtbare Standards setzen und zu mehr internationaler Gerechtigkeit beitragen.
Höchste Gerichte an ihren Grenzen – Bemerkungen aus der Perspektive des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften* Von Vassilios Skouris Wenn man bedenkt, dass der europäische Binnenmarkt ganz ausdrücklich als „Raum ohne Binnengrenzen“ charakterisiert wird und wenn man sich zudem daran erinnert, dass der Binnenmarkt ein zentrales Element der Europäischen Union ist, dann liegt es nicht ohne weiteres nahe, aus der Perspektive des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) über das Thema „Höchste Gerichte an ihren Grenzen“ nachzudenken. Denn es geht bei dem großen Projekt der europäischen Integration zuallererst um das Öffnen von Grenzen zwischen den vormals abgeschotteten Märkten der Mitgliedstaaten, es geht um das Beseitigen von Hindernissen für den freien Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital. Doch hat andererseits der Ausgang der Referenden über den Europäischen Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden im Frühjahr 2005 die Grenzen der europäischen Idee schmerzhaft aufgezeigt. „Grenzen“ sind somit von großer Aktualität und politischer Brisanz – gleichwohl sollte, und zwar gerade auch wegen dieses Umstandes, am Ende dieses Beitrages darauf eingegangen werden, warum die Grenzen der Gerichtsbarkeit des EuGH zugleich auch als Chancen be* Vortrag am 13. Juni 2005 im Rahmen der Vorlesungsreihe „Höchste Gerichte an ihren Grenzen“ an der Bucerius Law School / Hamburg. Für die Veröffentlichung wurde der Text, unter weitgehender Beibehaltung des Vortragsstils, aktualisiert und um Fußnoten ergänzt (bis Juli 2006).
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griffen werden können, um auf diese Weise der Rede von den Grenzen eine positivere Wendung zu geben. Die nachfolgenden Ausführungen sind um drei Themenkreise herum gruppiert, die das Thema der Grenzen aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Es geht erstens um verfahrensspezifische Aspekte, und zwar im Bereich des Vorabentscheidungsverfahrens, das für die Rechtsprechungstätigkeit des EuGH seit jeher von besonderer Bedeutung ist. Von Interesse sind zweitens einige gerichtsorganisatorische Aspekte, die zum einen die Arbeitsweise des EuGH selbst und zum anderen das Verhältnis der Gemeinschaftsgerichte untereinander betreffen, d. h. die Zuordnung von EuGH, Gericht erster Instanz (EuG) und – nunmehr – gerichtlichen Kammern in Form des Gerichts für den öffentlichen Dienst (EuGöD). Drittens schließlich sollen anhand der Zuständigkeit der Gemeinschaftsgerichte für den Grundrechtsschutz in der Europäischen Union kompetenzrechtliche Aspekte angesprochen werden.
I. Verfahrensspezifische Grenzen im Bereich des Vorabentscheidungsverfahrens Das Vorabentscheidungsverfahren ist seit Jahrzehnten die für den EuGH wichtigste Verfahrensart. Es stellt die „eigentliche Grundlage für das Funktionieren des Binnenmarktes“ dar1. An der raschen und effektiven Behandlung der Vorabentscheidungsersuchen besteht ein großes Interesse gerade auch im Hinblick auf das doppelte Ziel, das mit dem Vorabentscheidungsverfahren verfolgt wird, d. h. zum einen Individualrechtsschutz und zum anderen die einheitliche Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in allen Mitgliedstaaten.
1 EuGH, Bericht über bestimmte Aspekte der Anwendung des Vertrages über die Europäische Union, Luxemburg, Mai 1995.
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1. Bedeutung, Zahl und Dauer der Vorabentscheidungsersuchen Die ganz überwiegende Zahl der Leitentscheidungen des EuGH ist im Vorabentscheidungsverfahren ergangen. Um nur einige wenige Beispiele zu nennen: Costa / E.N.E.L.2 und Van Gend & Loos3 für die Grundprinzipien des Vorrangs und der unmittelbaren Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts, Stauder4 für die Geltung der Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft, Gebhard5 für die Dogmatik der Grundfreiheiten, Francovich6 und Köbler7 für die Staatshaftung, Grzelczyk8 für die Unionsbürgerschaft. Zahlenmäßig gesehen sind etwas weniger als die Hälfte aller Verfahren Vorabentscheidungsersuchen, d. h. im Jahre 2004 gingen 250 Vorabentscheidungsersuchen ein, im folgenden Jahr 220. Zum Vergleich: In den 1960er Jahren waren es um die zehn solcher Verfahren im Jahr9. Die Anzahl der Vorabentscheidungsersuchen deutet allerdings auch darauf hin, dass dieses Verfahren an seine Grenzen stoßen kann. Und zwar, und das mag erstaunen, nicht weil es so viele sind, sondern weil es so wenige sind. Denn es erscheint durchaus zweifelhaft, dass es im Jahre 2004 in Finnland nur insgesamt vier Gerichtsverfahren gab, in denen sich europarechtliche Fragen stellten, die ein Vorabentscheidungsersuchen nahe legten. Oder im Jahre 2005 nur zehn in SpaEuGH, 6 / 64, Slg. 1964, 1141 – Costa / E.N.E.L. EuGH, 26 / 62, Slg. 1963, 3 – Van Gend en Loos. 4 EuGH, 29 / 69, Slg. 1969, 419 – Stauder. 5 EuGH, C-55 / 94, Slg. 1995, I-4165 – Gebhard. 6 EuGH, C-6 / 90 und C-9 / 90, Slg. 1991, I-5357 – Francovich und Bonifaci. 7 EuGH, C-224 / 01, Slg. 2003, I-10239 – Köbler. 8 EuGH, C-184 / 99, Slg. 2001, I-6193 – Grzelczyk. 9 Diese und die anderen nachfolgenden statistischen Angaben sind den Jahresberichten des EuGH entnommen, auf die für weitere Einzelheiten verwiesen wird. Die Jahresberichte sind auf den Internetseiten des EuGH verfügbar (www.curia.europa.eu). 2 3
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nien und nur zwei in Portugal10. Angesichts der großen Zahl von Maßnahmen des Gemeinschaftsgesetzgebers zur Vollendung des Binnenmarktes und der beträchtlichen Durchdringung weiter Bereiche des nationalen Rechts durch das Gemeinschaftsrecht gäbe es hier sicherlich ein enormes „Potenzial“. Aus der Sicht des EuGH stellt sich diese Situation indes als nicht unproblematisch dar, da eine signifikant höhere Neigung der nationalen Gerichte, in Fällen mit Europabezug vorzulegen, die Kapazitäten des EuGH rasch überfordern könnte. Aber auch ungeachtet einer regional mitunter unterschiedlichen „Vorlagefreudigkeit“ ist die Zahl der Vorabentscheidungsersuchen in den letzten Jahren und Jahrzehnten stetig angestiegen. Diesem Anstieg versucht der EuGH jedoch nicht durch Abgabe derartiger Verfahren an das EuG zu begegnen. Zwar sieht der Vertrag von Nizza eine begrenzte Zuständigkeit des EuG für Vorabentscheidungsersuchen vor, doch müssen die betreffenden Rechtsgebiete erst in der Satzung des EuGH festgelegt werden11. Eine solche Festlegung ist noch nicht erfolgt und wird in nächster Zeit wohl auch nicht erfolgen. Das hängt u. a. damit zusammen, dass der Rat der Europäischen Union bei der jüngsten, d. h. 2004 vorgenommenen Übertragung von Zuständigkeiten auf das EuG keine Entscheidung hierzu getroffen hat und eine neuerliche Übertragung derzeit nicht auf der Tagesordnung steht12. Im Übrigen könnten nach den vertraglichen Vorgaben dem EuG allenfalls von ihrer Bedeutung bzw. von ihrer Zahl her begrenzte Kategorien von Rechtssachen übertragen werden, so dass der Entlastungseffekt beschränkt bliebe13. 10 Zum Vergleich die Zahlen für Deutschland: 50 Vorlagen im Jahre 2004, 51 Vorlagen im Jahre 2005. 11 Art. 225 Abs. 3 EG. 12 Mit Beschluss vom 26. 04. 2004 wurden dem Gericht erster Instanz bestimmte Direktklagen zusätzlich übertragen (vgl. näher Beschluss 2004 / 407 / EG, Euratom des Rates vom 26. 04. 2004 zur Änderung der Artikel 51 und 54 des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofs, ABl. EU 2004 L 132 S. 5).
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Des Weiteren strebt der EuGH nicht an, die Zahl der Vorabentscheidungsersuchen dadurch zu verringern, dass die Vorlageberechtigung auf letztinstanzlich entscheidende Gerichte beschränkt wird14. Denn zum einen hat es sich für die Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts als sehr nützlich erwiesen, dass Fälle zum EuGH gelangen können, ohne dass der gesamte nationale Instanzenzug durchlaufen werden muss. Das ergibt sich schon daraus, dass sämtliche der vorhin erwähnten Leitentscheidungen des EuGH15 – also Costa / E.N.E.L., Van Gend & Loos, Stauder, Gebhard, Francovich, Köbler und Grzelczyk – Vorlagen von erstinstanzlich entscheidenden Gerichten waren. Die Rechtsordnung der Europäischen Union wäre ohne diese Urteile wesentlich ärmer, und die Integration hätte nicht den Stand erreicht, an dem sie sich heute befindet. Welches sind nun die Instrumente, mit deren Hilfe der EuGH die stetig ansteigende Zahl von Vorabentscheidungsersuchen zu bewältigen gedenkt und mit denen er zu verhindern sucht, dass es zu einer inakzeptablen Verlängerung der Verfahrensdauer sowie zu einer Verringerung der Effektivität dieser Verfahrensart für die Entwicklung des Gemeinschaftsrechts kommt? Zu diesen Instrumenten gehört zunächst die Einführung eines effektiveren case managements, d. h. einer besseren internen Mitverfolgung der verschiedenen Verfahrensetappen, um die Einhaltung der dazugehörigen internen Fristen besser zu gewährleisten. Ein im Jahre 2004 eigens zu diesem Zweck ent13 Aus der neueren Literatur zu diesem Thema: I. Pernice / J. Kokott / C. Saunders (Hrsg.), The Future of the European Judicial System in a Comparative Perspective. 6th International ECLN-Colloquium / IACL Round Table Berlin, 2 – 4 November 2005, 2006; F.G. Jacobs, Further reform of the preliminary ruling procedure – towards a „green light“ system?, in: FS Zuleeg, Baden-Baden 2005, S. 204 ff. 14 EuGH, Die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Union. Reflexionspapier, Luxemburg 1999, S. 26, 27 (verfügbar auf den Internetseiten des EuGH). 15 Siehe oben I.1.
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wickeltes Computerprogramm erlaubt es, den Verfahrensablauf genau zu beobachten und gegebenenfalls zu optimieren. Dieses System analysiert sämtliche Verfahrensschritte in der Kanzlei, den verschiedenen Dienststellen, darunter insbesondere dem Übersetzungsdienst, sowie den Kabinetten der Richter und Generalanwälte. Sodann wurde beschlossen, die Sitzungsberichte der Berichterstatter in kürzerer Form abzufassen, dabei insbesondere die Darstellung des Sachverhalts und der Argumente der Parteien auf die wesentlichen Elemente zu beschränken und auf Details zu verzichten. Wenn keine mündliche Verhandlung stattfindet, wird kein Sitzungsbericht mehr erstellt. Diese Neuerungen kommen insbesondere dem Übersetzungsdienst zugute, dessen Arbeitslast damit verringert wird und der auf diese Weise insgesamt zügiger arbeiten kann. Bekanntlich fallen Übersetzungsarbeiten an zahlreichen Stellen im Verfahrensablauf an: Das beginnt mit der Übersetzung des Vorabentscheidungsersuchens, setzt sich fort mit der Übersetzung der gegebenenfalls eingehenden Stellungnahmen der Parteien, Regierungen, Gemeinschaftsinstitutionen sowie der anderen anhörungsberechtigten Einrichtungen, sodann mit der Übersetzung der Schlussanträge und schließlich des Urteils. Übersetzt wird in die Arbeits- und die Verfahrenssprache (so insbesondere die Verfahrensdokumente) oder in alle bzw. die meisten anderen Amtssprachen (so vor allem die Urteile und Schlussanträge). Ferner entscheidet der EuGH nun vermehrt ohne Schlussanträge der Generalanwälte. Der Verzicht auf Schlussanträge in Fällen, die „keine neuen Rechtsfragen“ aufwerfen, erlaubt es den Generalanwälten, sich auf die für die Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts bedeutsamen Rechtssachen zu konzentrieren16. Von den ihm zur Verfügung stehenden Möglich16 Siehe Art. 20 Abs. 5 der Satzung des EuGH. Im Jahre 2004 ergingen ca. 30 % aller Urteile ohne Schlussanträge, im Jahre 2005 waren es ca. 35 %. Bei Urteilen im Vorabentscheidungsverfahren ist der Prozentsatz jedoch geringer.
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keiten der Beschleunigung bestimmter Verfahren macht der EuGH mit Bedacht Gebrauch. Während Anträge auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens häufig abgelehnt werden müssen, weil die in der Verfahrensordnung aufgestellten besonderen Dringlichkeitsvoraussetzungen nicht vorliegen17, kommt das vereinfachte Verfahren, das für die Behandlung von Vorabentscheidungsfragen vorgesehen ist, deren Antwort ohne größere Schwierigkeiten aus der bisherigen Rechtsprechung abgeleitet werden kann, nicht selten zur Anwendung18. Diese und andere Maßnahmen haben bereits im Jahre 2004 zu einer Verringerung der Dauer von Vorabentscheidungsverfahren von 25,5 auf 23,5 Monate und damit zu einer Trendumkehr geführt19. Im Jahre 2005 konnte die durchschnittliche Dauer von Vorabentscheidungsverfahren noch einmal deutlich auf 20,4 Monate gesenkt werden. Des Weiteren ist geplant, die internen Datenbanken soweit als möglich für externe Benutzer zu öffnen, insbesondere um Gerichten und Behörden in den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, rasch in Erfahrung zu bringen, ob eine bestimmte Rechtsfrage bereits vorgelegt wurde oder ob eine solche Frage gerade anhängig ist. Diesbezügliche Informationen können den nationalen Gerichten helfen, überflüssige Vorlagen zu vermeiden bzw. die vorgelegten Fragen auf solche Elemente zu konzentrieren und zu beschränken, die neu sind und damit einer Beantwortung durch den EuGH bedürfen. 17 Dazu E. Barbier de La Serre, Accelerated and expedited procedures before the EC courts: A review of the practice, CML Rev. 43 (2006), S. 783 ff. (785 f.). 18 Siehe Art. 104 Abs. 3 der Verfahrensordnung des EuGH. Im Jahre 2005 ergingen 12 Beschlüsse, mit denen insgesamt 29 Rechtssachen abgeschlossen wurden, nach diesem Verfahren. 19 Vorabentscheidungsersuchen dauerten 1975 durchschnittlich 6 Monate, 1983 12,6 Monate, 1990 17,4 Monate und 2003 25,5 Monate. Die Vergleichbarkeit der älteren Zahlen mit heutigen Verhältnissen ist indes dadurch eingeschränkt, dass der EuGH früher in sehr viel weniger Sprachen arbeitete und mittlerweile allein die verschiedenen Übersetzungsperioden im Vorabentscheidungsverfahren aus strukturellen Gründen 6 Monate erfordern.
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2. Gegenstand der Vorabentscheidungsersuchen Die dem EuGH vorgelegten Fragen sind in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht nur zahlreicher, sondern auch von ihrem Gegenstand her komplexer geworden. Diese Komplexität zeigt sich etwa dort, wo die vom EuGH erbetene Auslegung des Gemeinschaftsrechts nicht ohne Betrachtung und ggf. Einbeziehung nationalen Rechts geschehen kann, wie es insbesondere bei gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften, die Generalklauseln oder unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten, häufig zu beobachten ist. Mangels Zuständigkeit für die Auslegung nationalen Rechts im Vorabentscheidungsverfahren vermag der EuGH im Rahmen derartiger Vorlagefragen lediglich allgemeine Kriterien zur Normauslegung und -anwendung zu entwickeln, ohne jedoch den Inhalt dieser Vorschriften im Einzelnen festlegen zu können. Hier muss die endgültige Bestimmung des Normgehalts im Rahmen des jeweiligen nationalen Rechtssystems durch die nationalen Gerichte erfolgen. Nur in gewissen, nicht einfach zu benennenden Fallgestaltungen kann der EuGH die Anforderungen, welche die gemeinschaftsrechtliche Generalklausel an den konkreten Sachverhalt stellt, selbst bestimmen20. Die präzise, den Zielen des Vorabentscheidungsverfahrens entsprechende und ggf. rechtsgebietsspezifische Besonderheiten berücksichtigende Abgrenzung der jeweiligen Zuständigkeiten ist ein wichtiger Aspekt des Kooperationsverhältnisses zwischen den mitgliedstaatlichen Gerichten und dem EuGH. Unterstrichen wird die Bedeutung dieser gerichtlichen Zu20 Siehe einerseits EuGH, C-240 / 98 bis C-244 / 98, Slg. 2000, I-4941 – Océano Grupo Editorial und Salvat Editores (eine Gerichtsstandsklausel, die vom gewählten Vertragstyp unabhängig war, wurde für missbräuchlich erklärt), andererseits EuGH, C-237 / 02, Slg. 2004, I-3403 – Freiburger Kommunalbauten (betr. eine Klausel, die den Verbraucher verpflichtet, den vollen Preis zu zahlen, bevor der Gewerbetreibende seine Verpflichtungen erfüllt hat, sofern dieser Sicherheit leistet; hier sah sich der EuGH außerstande, über die Missbräuchlichkeit der Klausel zu entscheiden, da er dafür die Folgen würdigen müsste, welche die Klausel im Rahmen des auf den Vertrag anwendbaren Rechts haben kann).
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sammenarbeit im Vorabentscheidungsverfahren ferner dadurch, dass der EuGH kein Supreme Court im Sinne eines letztinstanzlich entscheidenden obersten Gerichts ist, sondern die Beantwortung der vorgelegten Fragen ein Zwischenverfahren bildet, mit dem den mitgliedstaatlichen Gerichten im Rahmen des weiterhin bei ihnen anhängigen nationalen Verfahrens bei der richtigen Anwendung des Gemeinschaftsrechts geholfen werden soll.
II. Gerichtsorganisatorische Grenzen, insbesondere seit der EU-Erweiterung des Jahres 2004 Ein Gericht wie der EuGH, das aus Richtern aus allen Mitgliedstaaten besteht und das Rechtsfragen bearbeitet, die sich bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den mittlerweile zahlreichen Institutionen und Einrichtungen der Europäischen Union sowie in den einzelnen Mitgliedstaaten ergeben, und das dabei die jeweiligen Rechtskulturen in seine Rechtsprechungsarbeit einbeziehen möchte, sieht sich spezifischen Schwierigkeiten gegenüber, die zudem mit jeder Erweiterung der Europäischen Union um neue Mitgliedstaaten noch anwachsen. In gerichtsorganisatorischer Perspektive betrifft das insbesondere die Art und Weise der Wahrnehmung der Rechtsprechungsaufgabe sowie die Aufteilung dieser Aufgabe zwischen den Gemeinschaftsgerichten.
1. Die Funktionsweise des EuGH seit der EU-Erweiterung des Jahres 2004 Die Erweiterung der Europäischen Union um zehn neue Mitgliedstaaten am 1. Mai 2004 bedeutete für den EuGH eine große Herausforderung, nicht zuletzt auch in administrativer Hinsicht. Es waren zehn neue Richter aufzunehmen (ebenso am EuG) und Maßnahmen zu treffen, um die Unterbringung und Ausstattung der neuen Kabinette zu gewährleisten21. Mit
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Blick auf das Sprachenregime bedeutete die EU-Erweiterung des Jahres 2004 die Einführung von neun neuen Amtssprachen, so dass die Gemeinschaftsgerichte in der Lage sein müssen, in potenziell 20 Verfahrenssprachen zu arbeiten, aus denen sich 380 mögliche Sprachkombinationen bilden lassen. Erfreulicherweise ging die administrative Durchführung der Erweiterung dank der großen Anstrengungen aller Beteiligten rasch und relativ reibungslos vonstatten. Von Vorteil erwies sich, dass schon im Jahre 2002 mit den Vorbereitungen begonnen worden war, insbesondere im Hinblick auf das Ziel, bereits ab dem Zeitpunkt des Beitritts am 1. Mai 2004 oder jedenfalls bald danach in allen 20 Sprachen arbeiten zu können. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass Ende 2004 bereits etwa 83 % der für die neuen Sprachabteilungen vorgesehenen Dienstposten besetzt waren und dass für die im Dezember 2004 verkündeten Urteile etwa 85 % der Übersetzungen in die neuen Sprachen bereits am Tag der Verkündung vorlagen. Gleichwohl stellt sich die Frage, und zwar auch mit Blick auf künftige Erweiterungen, ob dieses System früher oder später an seine Grenzen stößt und neu überdacht werden muss. Die Vorteile der Anerkennung aller offiziellen Sprachen als Amtssprachen liegen gewiss auf der Hand: Die Rechtsuchenden haben einen leichteren Zugang zu ihrem Verfahren und die Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte steht den nationalen Gerichten in der jeweils eigenen Sprache zur Verfügung. Jede zusätzliche Amts- und Verfahrenssprache führt allerdings zu einer überproportionalen Zunahme der möglichen Sprachkombinationen, deren Gesamtzahl sich ab einem bestimmten Punkt nicht mehr sinnvoll handhaben lässt. Dort, wo die direkte Übersetzung von der Ursprungs- in die Zielsprache mangels qualifizierten Personals nicht möglich ist, muss schon heute über eine Relaissprache übersetzt werden. Die Verwendung einer Relaissprache bedeutet beispielsweise, 21 Ein Kabinett besteht in der Regel aus drei Referenten und drei Sekretariatskräften.
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dass die Übersetzung vom Lettischen in das Griechische nicht direkt erfolgt, sondern vom Lettischen erst in eine Relaissprache übersetzt wird, aus der dann die Übersetzung ins Griechische geschieht. Diese Vorgehensweise entschärft zwar das Problem, erfordert aber zugleich, dass statt einem nun zwei Übersetzungsvorgänge erforderlich sind, mit allen sich daraus ergebenden Fehlerquellen und Kostenfolgen. Eine weitere wichtige Frage ist, ob an der Praxis, dass eine Sprache alleinige Arbeitssprache für die interne Abfassung und richterliche Beratung der Urteile ist, auf Dauer festgehalten werden kann. Im Ansatz ist es sicher zu begrüßen, dass es eine einzige Beratungssprache gibt und dieses Prinzip sollte nicht ohne Not aufgegeben werden. Zudem lehrt die Erfahrung, dass die Verwendung des Französischen als alleiniger Beratungssprache am EuGH gut funktioniert hat und auch nach der Erweiterung des Jahres 2004 gut funktioniert. Man sollte auch bedenken, dass es in Luxemburg die Richter sind, die den Text der Urteile entwerfen und beraten, und zwar gegebenenfalls Satz für Satz und manchmal Wort für Wort. Beratungen in mehr als einer Sprache können nicht gleich ergiebig sein, wenn und weil der zu beratende Text eben nur in einer Sprache abgefasst ist. Allerdings muss man auch sehen, dass sich gegenüber der Anfangszeit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mit sechs Mitgliedstaaten in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg einerseits und der heutigen Europäischen Union mit 25 Mitgliedstaaten und umfassender globaler Vernetzung andererseits die Sprachgewichte erheblich verschoben haben. Die Verbreitung des Französischen in der Berufsgruppe der das Gemeinschaftsrecht praktizierenden Juristen ist seither gesunken, und dieser Anteil sinkt mit jeder Erweiterung. Gleichwohl sollte das aktuelle System solange wie nur möglich aufrechterhalten werden, weil eine Änderung der Arbeitssprache – die nicht allein auf die Richter und ihre Mitarbeiter, sondern auf die größte Zahl der inzwischen 1800 Mitarbeiter des EuGH unmittelbare Auswirkungen haben würde – nur sehr langfristig erfolgen kann.
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Was die Zusammensetzung des EuGH betrifft, so war das Grundprinzip von Anfang an, dass die Gesamtzahl der Richter derjenigen der Mitgliedstaaten entspricht22. Die Praxis, dass es ein Richter pro Mitgliedstaat sein sollte, wurde jedoch erst durch den Vertrag von Nizza (2001) im Vertragstext festgeschrieben. Auf dieser Praxis beruht im Übrigen auch die klassische Konzeption des EuGH als grundsätzlich in Plenarbesetzung arbeitendes, umfassend zuständiges Gemeinschaftsgericht mit Richtern aus allen Mitgliedstaaten, das bei jeder Entscheidung auch die nationalen Rechtsordnungen angemessen berücksichtigen kann23. Indes entscheidet der EuGH heute, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in Kammerbesetzung, sei es als Große Kammer mit 13 Richtern, sei es als Kammer mit fünf oder nur mit drei Richtern24. Für die Große Kammer, vor die die Grundsatzfragen aufwerfenden Fälle gebracht werden, bedeutet dies, dass jeder Richter nur an etwa einem Drittel dieser Verfahren beteiligt ist, sofern er nicht als Präsident einer Fünferkammer in allen Verfahren der Großen Kammer mitwirkt. Das heißt zugleich, dass der Gedanke der Einbringung der nationalen Rechtsordnungen bzw. der in der Europäischen Union vertretenen Rechtskreise in allen wichtigen Verfahren vor dem EuGH nicht länger gewährleistet ist. Ferner hat diese Situation zur Konsequenz, dass Fälle, die einen bestimmten Mitgliedstaat besonders betreffen oder von 22 Eine Ausnahme wurde in Zeiten mit gerader Zahl von Mitgliedstaaten gemacht. 23 Art. 221 Abs. 1 EG (vor Nizza): „Der Gerichtshof besteht aus fünfzehn Richtern.“ – Art. 221 Abs. 1 EG (seit Nizza): „Der Gerichtshof besteht aus einem Richter je Mitgliedstaat.“ 24 Im ersten Halbjahr 2006 wurden zwei Plenarverfahren (Verfahren, an denen grundsätzlich alle 25 Richter mitwirken) abgeschlossen: EuGH, Gutachten 1 / 03, 07. 02. 2006 – Zuständigkeit der Gemeinschaft für den Abschluss des neuen Übereinkommens von Lugano über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen; EuGH, C-432 / 04, 11. 07. 2006 – Kommission / Cresson (Verletzung der sich aus dem Amt als Kommissionsmitglied ergebenden Pflichten). – Derzeit sind keine Verfahren vor dem Plenum anhängig.
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einem Gericht dieses Landes im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens eingereicht werden, häufiger als früher entschieden werden, ohne dass der Richter, der aus dem betreffenden Mitgliedstaat stammt, an der Entscheidungsfindung beteiligt ist. Der Ausweg, ihn in einem solchen Fall zum Berichterstatter zu bestellen, scheidet aus, weil grundsätzlich niemand eine Rechtssache als Berichterstatter erhält, die aus seinem Land kommt oder sich auf sein Land bezieht. Vor diesem Hintergrund ließe sich auch überlegen, ob nicht die schematische Vertretung der Mitgliedstaaten durch je einen Richter überdacht werden sollte. Ein Anfang wurde insoweit bei der vor kurzem erfolgten Schaffung des Beamtengerichts der Europäischen Union gemacht, das aus sieben Richtern besteht, die nicht von bestimmten Mitgliedstaaten vorgeschlagen, sondern durch den Rat der Europäischen Union bestimmt wurden25. Der Ernennung der Mitglieder des EuGöD ging eine europaweite öffentliche Ausschreibung der zu besetzenden Stellen voraus. Alsdann erstellte ein eigens zu diesem Zwecke einberufenes Komitee aus hochrangigen Juristen im Sommer 2005 eine Liste mit den 14 Bewerbern, die ihm am besten geeignet erschienen. Der Rat ernannte daraufhin die ersten sieben Personen dieser Liste26. 2. Das Verhältnis der Gemeinschaftsgerichte untereinander Ein weiterer Aspekt der Organisation der europäischen Gerichtsbarkeit betrifft das Verhältnis der Gemeinschaftsgerichte 25 Zum Verfahren siehe den Beschluss 2005 / 49 / EG, Euratom des Rates vom 18. 01. 2005 zur Arbeitsweise des in Art. 3 Abs. 3 des Anhangs I des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofes vorgesehenen Ausschusses (ABl. EU L 21, S. 13). 26 Vgl. W. Hakenberg, Das Gericht für den öffentlichen Dienst der EU – Eine neue Ära in der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit, EuZW 2006, S. 391 ff. (391). Die sieben Richter des EuGöD kommen aus dem Vereinigten Königreich (Präsident) sowie aus Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland und Polen.
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untereinander. Bis vor kurzem bestand die europäische Gerichtsbarkeit aus dem EuGH und dem (1989 geschaffenen) EuG. Der Vertrag von Nizza fügte eine weitere gerichtliche Ebene hinzu und sieht vor, dass dem Gericht erster Instanz sogenannte „gerichtliche Kammern“ – oder in der Sprache des Verfassungsvertrages: „Fachgerichte“ – für bestimmte besondere Bereiche beigeordnet werden können27. Der Beschluss über die Errichtung einer ersten solchen gerichtlichen Kammer wurde im November 2004 gefasst28, die Konstituierung des „Gerichts für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union“ konnte im Dezember 2005 abgeschlossen werden29. Inzwischen hat das EuGöD seine Arbeit aufgenommen und am 26. April 2006 sein erstes Urteil verkündet30. Seine Zuständigkeit umfasst die Behandlung der Beamtenklagen der Europäischen Union in erster Instanz; das jetzige Gericht erster Instanz fungiert insoweit als Rechtsmittelinstanz und in Ausnahmefällen ist eine weitere Überprüfung durch den EuGH möglich31. Erwogen wird ferner, ähnliche gerichtliche Kammern bzw. Fachgerichte für das Gemeinschaftspatent sowie für Markensachen zu errichten32. Eine erhebliche Vergrößerung der Zahl der Gemeinschaftsgerichte wirft indes die Frage auf, wie die notwendige KohäArt. 220 Abs. 2 EG, Art. III-359 Verfassungsvertrag. Beschluss 2004 / 752 / EG, Euratom des Rates vom 02. 11. 2004 zur Errichtung des Gerichts für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union (ABl. EU 2004 L 333, S. 7). 29 Vgl. die im Amtsblatt der EU veröffentlichte Feststellung des Präsidenten des EuGH vom 12. 12. 2005, derzufolge das Beamtengericht der Europäischen Union ordnungsgemäß konstituiert ist (ABl. EU 2005 L 325, S. 1). 30 EuGöD, F-16 / 05, 26. 04. 2006 – Falcione / Kommission. Bis Ende Juni 2006 wurden insgesamt sechs Urteile verkündet. 31 Vgl. Art. 225 Abs. 2 EG. 32 Vgl. dazu die Vorschläge der Kommission vom 23. 12. 2003 für einen Beschluss des Rates zur Übertragung der Zuständigkeit in Gemeinschaftspatentsachen auf den Gerichtshof, KOM(2003) 827 endg., und für einen weiteren Beschluss des Rates zur Errichtung des Gemeinschaftspatentgerichts und betreffend das Rechtsmittel vor dem Gericht erster Instanz, KOM(2003) 828 endg. 27 28
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renz der Rechtsprechung gewährleistet werden kann. Das gilt auch angesichts der Tatsache, dass sich die Schaffung des EuG als sehr positiv erwiesen hat, was sich etwa daran ablesen lässt, dass von den Entscheidungen des EuG weniger als ein Viertel vor dem EuGH angefochten wird und von diesen Rechtsmitteln lediglich ein geringer Teil erfolgreich ist. Gleichwohl müssen Überlegungen über eine eventuelle neuerliche Vergrößerung der Zahl der Gemeinschaftsgerichte mit Umsicht und ohne Übereilung vorgenommen werden. Denn der Entlastungseffekt durch zusätzliche gerichtliche Instanzen in der Europäischen Union darf nicht durch einen Verlust an Kohärenz erkauft werden. Dies gilt insbesondere deshalb, weil die Rechtsmittelinstanz für die gerichtlichen Kammern unterhalb des EuGH angesiedelt ist und sich der EuGH damit noch weiter von den Materien entfernt, die in den gerichtlichen Kammern behandelt werden. Für das Vorabentscheidungsverfahren sei noch darauf hingewiesen, dass der Vertrag von Nizza eine eventuelle Übertragung bestimmter Vorabentscheidungsersuchen an das EuG mit der Möglichkeit für den EuGH verbindet, in Ausnahmefällen die diesbezüglichen Urteile des EuG zu überprüfen33. Freilich muss sehr genau erwogen werden, welche Auswirkungen auf die Gesamtverfahrensdauer vor nationalen und gemeinschaftlichen Gerichten eine solche doppelte Befassung haben könnte34.
33 Vgl. Art. 225 Abs. 3 EGV i.V.m. Art. 62 – 62b der Satzung des EuGH. 34 Zur Anwendung von Art. 6 EMRK auf die durch ein Vorabentscheidungsersuchen bedingte Verlängerung der Verfahrensdauer siehe EGMR, No. 20323 / 92, Reports 1998-I, § 95 – Pafitis e.a. v. Griechenland; No. 40892 / 98, ECHR 2003-X, § 61 – Koua Poirrez v. Frankreich.
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III. Kompetenzrechtliche Grenzen am Beispiel des Grundrechtsschutzes auf der Ebene der Europäischen Union Auf dem Gebiet des Grundrechtsschutzes hat der EuGH beginnend mit dem schon erwähnten Urteil Stauder35 eine Grundrechtsjudikatur entwickelt, die in mittlerweile langjähriger Praxis einen hohen Schutzstandard auf der Ebene der Europäischen Union gewährleistet. Kernpunkte dieser Rechtsprechung sind, dass die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, deren Wahrung der EuGH zu sichern hat und dass sich der EuGH dabei von den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten sowie von völkerrechtlichen Instrumenten zum Schutz der Menschenrechte, insbesondere der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) leiten lässt. In der Europäischen Gemeinschaft werden daher, wie es in einer klassischen Formulierung heißt, „keine Maßnahmen als rechtens anerkannt, die mit der Beachtung der so anerkannten und gewährleisteten Menschenrechte unvereinbar sind“36. Damit gewährleistet der EuGH in der Sache für den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts einen umfassenden Grundrechtsschutz, dem nur noch das formale Gerüst und die verbindliche Struktur eines geschriebenen Grundrechtskataloges fehlen37. Die in der Rechtsprechung herausgearbeiteten Grundsätze wurden durch den Vertrag von Maastricht in das Primärrecht aufgenommen und haben auch in den EU-Verfassungsvertrag Eingang gefunden38. EuGH, 29 / 69, Slg. 1969, 419 – Stauder. EuGH, C-260 / 89, Slg. 1991, I-2925, Rz. 41 – ERT. Vgl. auch die instruktive Zusammenfassung in EuGH, C-112 / 00, Slg. 2003, I-5659, Rz. 71 – 74 – Schmidberger. 37 Vgl. V. Skouris, Gedanken zum Projekt einer Verfassung für die Europäische Union, in: Verhandlungen des Fünfundsechzigsten Deutschen Juristentages, Bd. II / 1 (2004), 2005, L 19. 38 Zunächst Art. F Abs. 2 EUV 1992, jetzt Art. 6 Abs. 2 EU 1999. In der EU-Verf Art. I-9 Abs. 3. 35 36
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Angesichts der unsicheren Zukunft des EU-Verfassungsvertrages ist auch das Inkrafttreten der Charta der Grundrechte der Europäischen Union schwieriger geworden. Die Grundrechtecharta kann daher nach wie vor von den Gemeinschaftsgerichten nicht als verbindliches Rechtsinstrument angesehen werden. Gleichwohl ist sie auch in ihrem derzeitigen Status für die Rechtsprechung von Belang. So hat der EuGH jüngst die Bedeutung hervorgehoben, die der Gemeinschaftsgesetzgeber der Charta beimisst, wenn dieser in den Begründungserwägungen zum sekundären Gemeinschaftsrecht von der Übereinstimmung des betreffenden Gesetzgebungsaktes mit den Grundrechten der EMRK und der Charta spricht. Ferner hat er daran erinnert, dass die Grundrechtecharta die Rechte bekräftigt, die sich bereits aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen und den gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten ergeben39. Zusammen mit dem Grundrechtsschutz auf der Ebene der Mitgliedstaaten durch die nationalen Verfassungs- bzw. Höchstgerichte und auf der Ebene des Europarates durch den EGMR ergibt sich ein mehrstufiger Grundrechtsschutz. Diese Mehrstufigkeit steigert die Anforderungen an die Kohärenz des Grundrechtsschutzes auf den verschiedenen (verfassungs)rechtlichen Ebenen in Europa und verlangt von allen Beteiligten, ihre jeweiligen Rollen zu respektieren, um das gemeinsame Ziel eines effektiven Grundrechtsschutzes in Europa zu erreichen40. Was den EuGH in dieser Hinsicht angeht, so spricht nichts dafür, dass er die Grenzen seiner Zuständigkeiten überwinden und seine Funktion sowie Bestimmung grundlegend verändern und sich zum spezifischen Grundrechtsgericht in der Europäischen Union entwickeln 39 EuGH, C-540 / 03, 27. 06. 2006, Rz. 38 – Parlament / Rat (Familienzusammenführung). 40 Dazu näher V. Skouris, Koordination des Grundrechtsschutzes in Europa – die Perspektive des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, ZSR 124 (2005) II, S. 31 ff.; S. Douglas-Scott, A tale of two courts: Luxembourg, Strasbourg and the growing European human rights acquis, CML Rev. 43 (2006), S. 629 ff.
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wird. Die Hauptaufgabe des EuGH ist und bleibt die Wahrung der Rechtseinheit bei der Auslegung und Anwendung des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts. In diesem Rahmen gewährleistet er einen Grundrechtsschutz, dessen Standard sich an demjenigen der EMRK orientiert und nicht hinter ihm zurückbleibt. Dabei ist er bestrebt, allfällige Widersprüche durch die Rezeption der Rechtsprechung des EGMR aufzulösen bzw. schon im Ansatz zu verhindern41. Die neueste Rechtsprechung des EGMR bestätigt den Erfolg dieses Ansatzes42. Selbst wenn die nicht ganz entfernte Aussicht besteht, dass die Grundrechtecharta eine gewisse Leitbildfunktion für den Grundrechtsschutz in der Europäischen Union übernehmen wird, so muss sich eine solche Funktion ihrer Grenzen bewusst sein. Denn die Entscheidung von Grundrechtsfällen erfordert häufig die Berücksichtigung nationaler oder regionaler Besonderheiten, sofern man nicht eine bis ins Detail einheitliche Grundrechtshandhabung in der gesamten Europäischen Union möchte. Auch das Vorhandensein eines grundrechtlichen Vollstandards wie der Charta bedeutet nicht notwendigerweise, dass dieser Standard nicht unter Berücksichtigung nationaler und regionaler Besonderheiten zur Anwendung gelangen könnte. Für die Grundfreiheiten des EG-Vertrages ist dies gängige Praxis des EuGH und auch für die Grundrechte gibt es dazu Ansätze, wie das Urteil Omega aus dem Jahre 2004 zeigt43. In diesem Vorabentscheidungsverfahren ging es um eine Untersagungsverfügung der Stadt Bonn, die der Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs GmbH verbot, in dem von ihr betriebenen „Laserdrome“ ein Spiel zu ermöglichen oder zuzulassen, bei dem Tötungshandlungen si41 Vgl. bspw. EuGH, C-94 / 00, Slg. 2002, I-9011, Rz. 29 – Roquette Frères; EuGH, C-238 / 99 P, C-244 / 99 P, C-245 / 99 P, C-247 / 99 P, C-250 / 99 P bis C-252 / 99 P und C-254 / 99 P, Slg. 2002, I-8375, Rz. 274 – Limburgse Vinyl Maatschappij e.a. / Kommission. 42 EGMR, No. 45036 / 98, ECHR 2005-VI – Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi (Bosphorus Airways) v. Irland [GC]. 43 EuGH, C-36 / 02, Slg. 2004, I-9609, Rz. 37, 38 – Omega.
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muliert werden. Die Zulassung solcher Spiele, so die städtische Ordnungsbehörde, verstoße gegen grundlegende Wertvorstellungen, nämlich gegen die im deutschen Grundgesetz verankerte Menschenwürde. Der EuGH anerkannte, dass sich auch die Grundfreiheiten des EG-Vertrages, hier die Dienstleistungsfreiheit, durch die Berufung auf Grundrechte einschränken lassen. Bereits zuvor, insbesondere im Urteil Schmidberger, das die Blockade der Brennerautobahn zu Demonstrationszwecken betraf, hatte der EuGH eine Abwägung zwischen den gemeinschaftsrechtlich geschützten Interessen der Warenverkehrsfreiheit einerseits und der Meinungs- sowie Versammlungsfreiheit andererseits angestellt44. Das Urteil Omega ist besonders interessant im Hinblick darauf, dass es nicht verlangt, dass die auf ein Grundrecht gestützte Einschränkung einer Grundfreiheit einer allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Auffassung darüber entspricht, wie das betreffende Grundrecht am besten zu schützen ist. Vielmehr seien im nationalen Recht vorgesehene Einschränkungen nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil andere Mitgliedstaaten andere Schutzstandards vorsehen würden45. Im Ergebnis hielt der EuGH das Verbot für verhältnismäßig und die Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit durch die Menschenwürde für gerechtfertigt.
IV. Grenzen als Chance Im Rahmen der Ausführungen zum Vorabentscheidungsverfahren sind die Schwierigkeiten zur Sprache gekommen, die sich aus der Zahl der Verfahren und aus der Art der auszulegenden Vorschriften für den EuGH ergeben können. Deutlich wurde, dass Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts oftmals komplexe Abwägungen erfordern, die ggfs. auch das anwendbare nationale Recht sowie weitere 44 45
EuGH, C-112 / 00, Slg. 2003, I-5659 – Schmidberger. EuGH, C-36 / 02, Slg. 2004, I-9609, Rz. 37, 38 – Omega.
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Umstände des Falles einbeziehen müssen. Diese Aufgabe können der EuGH und die mitgliedstaatlichen Gerichte nur zusammen in effektiver Weise lösen. Es ist daher kein Spiel mit Worten, wenn der EuGH wiederholt zum Ausdruck gebracht hat, dass er sich nicht als allein für die Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts zuständig ansieht, sondern diese Aufgabe – fast möchte man sagen: zuallererst – den mitgliedstaatlichen Gerichten zukommt. Daraus erklärt sich auch die Rede von dem nationalen Richter als dem „juge communautaire de droit commun“ – eine Bezeichnung, die betont, dass die nationalen Richter Gemeinschaftsrichter sind, und zwar mit einer generellen bzw. umfassenden Zuständigkeit. Ohne eine aktive und sich ihrer Verantwortung bewusste Mitwirkung der mitgliedstaatlichen Gerichte kann das Gemeinschaftsrecht nicht voll zur Entfaltung kommen. Der EuGH versteht seine Rolle auch nicht in der Weise, dass er den mitgliedstaatlichen Gerichten gleichsam als Aufpasser gegenübertritt. Gewiss gilt das zur Staatshaftung für judikatives Unrecht ergangene und bereits erwähnte Urteil Köbler als eine der Leitentscheidungen der EuGH-Rechtsprechung. Das heißt jedoch nicht, dass der EuGH den obersten bzw. letztinstanzlich entscheidenden nationalen Gerichten mit dem Instrument der Staatshaftung für judikatives Unrecht drohen und sie auf diese Weise zur Beachtung des Gemeinschaftsrechts anhalten will. Worum es geht, ist eine fruchtbare Zusammenarbeit und das gemeinsame Streben danach, dem europäischen Recht Geltung in der Lebenswirklichkeit der Unionsbürgerinnen und -bürger zu verschaffen. Das trifft auch auf den Grundrechtsschutz zu, den der EuGH ebenfalls nicht allein gewährleisten kann und will. Auch hier sind die Grenzen der Luxemburger Gerichtsbarkeit zugleich eine Chance, diese Rechtsprechungsaufgabe als eine gemeinsame Aufgabe zu begreifen und so den Grundrechtsschutz in der Europäischen Union auf jeder Stufe des europäischen Mehrebenensystems adäquat wahrzunehmen.
Supreme Courts at their limits: the European Court of Justice, as seen from the viewpoint of an Advocate General By Francis Jacobs*
I. Introduction I am delighted to be able to take part in this course of lectures on an intriguing and vital theme: Supreme Courts at their limits. I am pleased also that I have been specifically asked to address the subject from the viewpoint of an Advocate General. You have already had a contribution from the President of my Court, Mr Skouris, and I have had the advantage of reading his admirable lecture. But, as I think he would agree, it is useful to recognise the special position of the Advocate General in the European Court of Justice (ECJ), who is at the same time a member of the Court yet has his (or her) own voice. As you know, in all cases before the ECJ raising a significant point of law, the Opinion of the Advocate General to whom the case is assigned (there are currently eight Advocates General and 25 Judges on the Court) is an integral part of the procedure, and the Opinion is published in full in the Court Reports together with the Judgment. There are many reasons for the special place accorded to the Advocate General in the EC judiciary. The most powerful reason, in my view, is that important questions of EC law are ex* Notes of a lecture given in the Faculty of Law, Bucerius Law School, Hamburg on 5 October 2005.
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amined in a single instance by the ECJ, with no appellate instance available. Yet the ruling, which must normally be followed by all courts in the European Union and applied by all administrations faced with the same question, may have a profound impact. Only in a limited class of cases is there a twotier system, Court of First Instance and ECJ. All references from national courts are still, for example, handled in a single instance by the ECJ. The dual treatment of these important questions, first by the Advocate General and then by the Court or Chamber in a collective judgment, is an important safeguard and should greatly increase the prospect of the Court reaching the right answer. But the institution of Advocate General is also directly relevant to my subject in several ways. First, one of the interesting questions concerning the Court is precisely the different perceptions of the role of the Advocate General in different countries. In some countries – e.g. in England and the Netherlands – the opinion of the Advocate General is often discussed in the lecture room, debated in the national court, and examined in the law review in (at least) as much depth as the judgment of the Court. In other systems, the opinion is noticed much less. It is not because they do not have any similar creature in their own legal system: the same is true in England, where there is also nothing like an Advocate General. It is perhaps because the legal circles in some countries are less aware, less open to the special features of other legal systems. And it is this openness to other systems which is, in my view, one of the key issues in our subject, Supreme Courts at their limits. I will come back to this point. Secondly, the Advocate General’s position perhaps makes it easier for the Community legal system to be open to other systems. The judgment of the ECJ is invariably a single collective judgment of the Court or Chamber, in the predominant Continental European mode, with no separate concurring or dissenting opinions. It is tightly drafted, proceeding in a (hopefully) logical sequence from first premises to ultimate ruling. It tends to the didactic, and does not generally
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admit of doubt. The Opinion of the Advocate General, in contrast, can range more widely. It can discuss the different possible solutions, and weigh the arguments more explicitly. Moreover – without, it is hoped, being too indulgent (or too long) – the Opinion can bring in ideas, arguments and materials from other legal systems. It can refer more freely to the national law of the Member States, and occasionally also to legal systems outside the EU; it can refer to the European Convention on Human Rights (ECHR) and the EU Charter of Fundamental Rights; and to general international law. The ECJ, in contrast, although it now frequently cites the ECHR (a special case, as we shall see) does not regularly cite other sources. But they are present in the Opinion of the Advocate General, which is the starting-point for the Court’s deliberations, and can therefore be presumed to have an impact on its decisions. My topic is concerned with the relationship between the European Court of Justice and other supreme courts. The topic can be seen as part of a more general phenomenon. On the one hand there is a proliferation of international and transnational courts; on the other hand there is an increasing interpenetration of different legal orders. Indeed this series of lectures looks at the wider scene. But there are special problems within the European Union legal structure: European Union law (including EC law) and the national legal orders of the Member States are separate legal orders, yet the effects of EU law within the Member States must in principle be determined by EU law. What are the „limits“, then, in this context, for the ECJ? And what are the limits for national supreme courts? Moreover there are also special problems for the relationship between EU law and international law. The legal orders of the Member States vary greatly in their approach to, and reception of, international law. At the most basic level, some national legal orders are „monist“, others „dualist“ in their treatment of international law. Again, EU law must have a sin-
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gle approach. Here too the ECJ has had to work out solutions. How then to define the relationship between EU law and international law, and where are the limits in the relationship between the ECJ and international and transnational courts? I deal first with national law, then with international law.
II. ECJ and national law The essential questions here concern the relationship between EC law and national law, as seen by the ECJ on the one hand and by national supreme courts on the other. The ECJ long ago laid down the principle of the primacy of EC law. This was not expressly provided for by the Treaty, but can rightly be considered inherent in the very nature of the EU. Similarly the ECJ held that the provisions of the EC Treaty were capable of having direct effect within the national legal orders And it was for the ECJ to say when a provision had such effect. Some national systems find this more difficult to accept than others. In order to discuss the reactions of the national courts, it is necessary to outline the constitutional background. The original Member States – the founders of the EC – had not faced the problem, because at the time of signature of the Treaty the principles of the direct effect and primacy of the Treaty had not been enunciated. That perhaps had the consequences that the constitutional foundations of membership were not securely in place, and the resulting difficulties had to be handled by the national courts, including (where they existed) constitutional courts or their analogues. (In fact, of the founding members, only Germany and Italy had fully developed constitutional courts at that time.) It is perhaps significant that the main concerns in the early years arose in the Constitutional Courts of Germany and Italy, and related to possible difficulties (potential rather than actual) over the protection of fundamental rights, where Com-
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munity law might conflict with the fundamental rights protected under the German Basic Law or the Italian Constitution. Although I cannot here discuss these judicial concerns directly, I shall return to the general issue later. The situation was different by the time of the first enlargement in 1973, when Denmark, Ireland and the UK joined the Community. In the United Kingdom, the problems were seen from the outset, but the difficulty was to find a solution. The question was how to reconcile the primacy of EC law with the traditional doctrine – which might almost be described as the Grundnorm of the United Kingdom Constitution, if there had been one – of the sovereignty of Parliament. The absence of a written constitution meant that provision for membership of the EC could not be made by constitutional amendment, as was done in the other Member States which acceded to the Community at that time, namely Denmark and Ireland. In the UK it could be achieved only by an Act of Parliament; and this was the European Communities Act 1972. The problem for those drafting the Act was that any inconsistent Act of Parliament passed subsequently would, by virtue of the doctrine of Parliamentary sovereignty, prevail over the Act. How then was the primacy of EC law to be attained? There was no difficulty with the issue of direct effect: The European Communities Act provided in substance, by Section 2(1), that all provisions of the Treaties, and of EC legislation, which according to EC law „are without further enactment to be given legal effect or used in the United Kingdom“ should be directly enforceable. Less obviously, the Act seeks to deal with the primacy of EC law by providing, in Section 2(4), that „any enactment passed or to be passed . . . shall be construed and have effect subject to the foregoing provisions of this section . . .“. In other words, even future Acts of Parliament must be construed subject to Community law. But since Parliament cannot bind its successors, can this provision be effective against a future inconsistent Act of Parliament? The most that
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can be said, as was explained long ago by Trevor Hartley1, is that the Act lays down a very strong presumption that Parliament does not intend any future statute to override Community law. Therefore, Community law will always prevail unless Parliament clearly and expressly states in a future Act that it is to override Community law. But any such statement would of course constitute a repudiation of the Treaty, and is therefore highly unlikely. Subject to that reservation, the difficulties appear to have been overcome. And in practice, despite occasional dicta expressing doubts, the courts in the UK have generally had little difficulty in accepting the full implications of the primacy and direct effect of EC law. The defining moment, at least to date, was the Factortame litigation. You are probably familiar with the saga of the Spanish fishing boats who wanted to fish off the UK fishing quota. I still consider that the ECJ’s ruling that they were entitled to do so is highly questionable, but that is not the issue for discussion now. What is significant is the acceptance of that ruling by the highest court in the UK (still known as the House of Lords), under the guidance of Nigel Bridge (Lord Bridge of Harwich). His judgment is impeccable as an instance of giving EC law primacy over an Act of Parliament, and explaining that primacy in constitutional terms. The courts in some other Member States have had greater difficulty in accommodating – at least in theory – the primacy of EC law. It is interesting to compare the situation where there is a written constitution – and especially where there is, as in Germany, a special constitutional court standing guard over the constitution – and a country like the United Kingdom which has no written constitution but, at least hitherto, a fundamental and apparently absolute constitutional norm of Parliamentary sovereignty. Moreover, it is clear that the legal forms in part reflect the constitutional and political history of the nation. The story is a fascinating one, but far too large a 1 T.C. Hartley, The Foundations of European Community Law (1981), p. 244.
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subject to be covered in this lecture: perhaps some further lectures could be arranged? My thesis in this lecture is a more general one. It may even seem rather heretical, but an advocate general may be allowed an occasional heresy, which would be forbidden for a judge. I want to suggest that there is no formal solution to the problem of the relationship between EC law and national law. The solution has to be found elsewhere. It is only one aspect – but an extreme example – of the general problem of the relationship between coordinate and independent legal orders. Let me explain. Even if we assume that both the legislature and the courts have done the utmost to accommodate the requirements of European law, there is no ultimate answer to a potential conflict. This can be illustrated both by the German model and by the UK model, which are in some respects at opposite extremes. While I certainly cannot claim any expertise in the German model, I suppose that the Federal Constitutional Court would always take the view that ultimately it was that Court’s responsibility to resolve a conflict between EC law and the Basic Law. Indeed the hypothetical conflict could not be averted even by the amendment of the Basic Law, since at least on some hypotheses the Court might hold the amendment in question to be unlawful. In the very different constitutional constellation in the UK, whatever provisions are contained in the European Communities Act or in any amending legislation, it will ultimately fall to the courts to construe the legislation and to decide any conflict, in effect, one way or the other. In both systems, therefore, the final decision rests with the courts. Confronted with this situation, the courts will certainly be in an uncomfortable position if they find a clear conflict between national and Community law. A first element is that not all constitutional provisions are of equal weight. Some are more fundamental than others. The less fundamental ones can be read more narrowly, less expansively than the truly fundamental ones. A good illustration of
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the difference is provided by the provision, not infrequently found in national constitutions, to the effect that employment in the public service (or in some parts of it) are reserved to nationals of the State concerned. Indeed this principle is reflected in Article 39 of the EC Treaty, which provides for the free movement of workers and prohibits discrimination on grounds of nationality between workers of Member States, but which makes an exception, under Article 39 (4), for employment in the public service. That exception appears to reflect the national „constitutional“ principle which reserved employment in the public service to the State’s nationals. The difficulty is that the exception under Article 39 (4) has been restrictively construed by the European Court of Justice. And no doubt rightly, given the fundamental character of the prohibition of discrimination and the importance of the principle of equal treatment. The exception should apply only where it is truly justified, and not merely where it is the legacy of an outmoded nationalism. So, the exception applies only, according to that case-law, to posts which „presume on the part of those occupying them the existence of a special relationship of allegiance to the State and reciprocity of rights and duties which form the foundation of the bond of nationality“2. There may therefore appear to be a conflict between the Treaty and national constitutions. But an alternative approach is possible: in view of the subject-matter of the provisions and the need for an evolutionary interpretation of national constitutions, it may be possible for the constitution to be interpreted consistently with the ECJ case-law. A similar approach could be adopted by the national courts to the interpretation of the national constitution: the reservation of posts in the public service to a State’s nationals should apply only where such a reservation is properly justified by the aim of that provision. In any event, national courts seem to have had relatively little difficulty in accommodating the new situation on this issue. 2
Case 149 / 79 Commission v. Belgium [1980] ECR 3881, para. 10.
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But what of more weighty, and more intractable, constitutional principles or provisions which might clash with EC law? The position may be different where the constitutional principle is truly fundamental, which explains why the difficulties which have hitherto arisen, if largely only hypothetically, concern the protection of fundamental rights. Here however there are signs of the converse solution emerging. The ECJ has developed its own case-law in this area, to the extent that conflicts are even more hypothetical, and actual conflicts correspondingly even less likely. We will return to this topic when we look at the relationship between EC law and International Law, and in particular at the relationship between EC law and the ECHR. I should like however to take the matter a little further. Can we make any general suggestions as to how courts should proceed so as to avoid, or at least reduce, the risk of a clash between national constitutions, or national law, and EC law? I would like to suggest that national courts are under some form of obligation – let us leave aside for the moment the question of precisely what form – to interpret their own law in such a way as to avoid a conflict with EC law. We have to accept as a starting-point that, as things stand at present, the national legal orders and the EC legal order are separate, although interlocking, legal orders. There is no over-arching rule to resolve conflicts between them. The ECJ has rightly, from the viewpoint of EC law, proclaimed the primacy of EC law; the whole system of EC law, from that viewpoint, could hardly function without it. At the same time, the national constitutions have not, for the most part, been amended, or amended adequately, to accommodate the primacy of EC law. The position might have been different if the European Constitutional Treaty had entered into force, containing as it does an express provision for the primacy of EC law, and if – an even less likely hypothesis – the constitutions of the Member States had been fully amended accordingly so as to give effect to that primacy for all purposes.
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In the absence of such developments, there is an inescapable need – and perhaps an increasing need, as the reach of EC law extends – to recognise the duty to avoid conflicts for which the law affords no solution. There is some evidence of the existence of this duty. It is to be found in the practice of courts – what might even be called, in the context of International law, State practice. The practice consists in the decisions of those courts – especially supreme courts and constitutional courts, but also courts at other levels – which have accepted, even if without formal legal reasoning, the need to interpret their law consistently with EC law. They may have done so mainly on pragmatic grounds – and these are not the most unworthy reasons. They may have been able to rely on principles contained in their own legal order: for example, the widely acknowledged principle that legislation should be construed where possible so as to be consistent with the State’s treaty obligations. The national courts could also rely on the Member States’ duty of cooperation, a fundamental obligation now set out in Article 10 of the Treaty. That obligation will not of course assist where there is an unavoidable conflict between EC law and national law. But it may be helpful to invoke it in order to reach an interpretation of national law which avoids a conflict, where that is possible. The national courts might also rely on a notion of comity, familiar from International law. In each case, the duty to avoid conflict with EC law seems particularly strong, given the special character of the EU and the integral relationship between EC and national law. But apart from the formal sources, there is a need for both the ECJ and the national courts to be sensitive to each other’s concerns, and to be open and receptive to each other’s constitutional concerns. There is a well-known example of this approach on the part of the ECJ. This is the use which it has made of „general principles of law“: it has taken over from national law – often, as it happens, from German law – principles which become part of the infrastructure of EC law. Perhaps the best-known examples are the principle
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of proportionality and the principle of respect for fundamental rights. These are so important that after their adoption by the ECJ they were given formal recognition by being incorporated into the Treaties. For our purposes, they have been especially important because they have made it possible in large measure to avoid conflicts between EC law and the constitutional orders of the Member States.
III. EC law and international law Let me now turn to the relationship between EC law and international law. It was at one time widely accepted that EC law was somewhat negative in its attitude to international law. This may have been partly true, and partly based on misunderstanding. It could be explained in part by the need, which the ECJ visibly felt, to distance EC law from traditional international law, as it did in the van Gend en Loos case in 19633. EC law was described by the ECJ as „a new legal order“, even if it was still, at the time, a new legal order of international law; its effects within the Member States were, according to the Court’s case-law, very different from those of other treaties; later, the EC Treaty was, according to the Court, the basic Constitutional instrument of the EC. Similarly, in an early period, the ECJ was regarded as being somewhat negative towards guarantees of human rights based on national law or on the ECHR, apparently concerned that that might threaten the primacy of EC law. If there was, at one time, some substance in these views of the ECJ, the position is radically different today. Let me take three examples. 1. United Nations law I mention as a first example United Nations law: in recent years, the ECJ has had to consider in various situations the 3
Case 26 / 62 van Gend en Loos [1963] ECR 1.
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meaning and effect of UN Security Council resolutions. This occurred first in relation to sanctions following the war in the former Yugoslavia. One instance was the Bosphorus Airways case4, which I will discuss shortly, but there were several other cases, the moist recent still pending before the Court. The cases show the ECJ concerned to secure the effective implementation of the Security Council resolutions. Another recent group of cases – some before the Court of First Instance – have been concerned with measures against terrorism, again implementing UN Security Council resolutions. In the Yusuf and Kadi cases the CFI has accepted the priority of United Nations law; indeed its judgment contains some striking pronouncements to this effect. I will not comment further, as the cases are being appealed to the ECJ, but the record certainly demonstrates the openness of the European Courts to UN law and general international law.
2. Treaties concluded by the Community I take as my second example the approach of the European Court of Justice to treaties concluded by the EC itself. As is well known, the Court has taken a broad view of the Community’s treaty-making power; and if one takes a broad view of what counts as a treaty, the Community has concluded a large number of treaties – reckoned at more than a thousand. The Court has taken a broad view, also, of its jurisdiction to interpret treaties: thus it has held that treaties – even „mixed“ agreements, i.e. those concluded jointly by the Community and its Member States – constitute „acts of the institutions of the Community“ within the meaning of Article 177, later 234 of the Treaty, and therefore fall within its jurisdiction under that article to give preliminary rulings on their interpretation. The Court’s case-law on the interpretation of those treaties is now substantial, and is very positive in terms of interna4
Case C-84 / 95 Bosphorus Airways [1996] ECR-3953.
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tional law. The Court has proved ready, in contrast to some of the national legal orders in Europe, to recognise the provisions of such treaties as having direct effect wherever their provisions so admit. The result is that the provisions are directly enforceable in the national courts at the instance of individuals seeking to enforce the treaty obligations. In deciding whether there is direct effect, the Court rightly looks both at the nature of the treaty and at the character of the provision in question. Remarkably however it is only in one instance that the Court has held that the treaty by its very nature precludes direct effect: that is in the case of the GATT and its successor the WTO Agreement. The Court does not impose, as a condition of direct effect, the requirements often imposed by other legal orders such as reciprocity. Increasingly also, it seems, the Court is going beyond its earlier case-law, where it seemed to stress, when according direct effect to a treaty, a special relationship between the Community and the treaty partner. In recent cases, for example, it has accorded direct effect both to association agreements with European countries and to a treaty embodying a less close relationship, the Partnership and Cooperation Agreement with Russia5. Similarly the language of the treaty presents less of an obstacle to direct effect than might be supposed. In one case in which I was Advocate General I found the issue of direct effect a difficult one, although I reached an affirmative conclusion. The Court however seemed from its affirmative judgment relatively untroubled by the issue. The Court’s policy of openness to treaties of this kind and its very positive treatment of them is apparent also from its approach to their interpretation. It is axiomatic that treaties must be interpreted in the light of their aims and purposes, and in the context in which they operate. It follows that agree5 Case C-265 / 03 Simutenkov, judgment of 12 April 2005. ECR I-2005, 2579.
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ments with third States cannot necessarily be given the same interpretation as the Community treaties. The Court has therefore sometimes been led to interpret, for example, a free trade agreement with a third State differently from the EC Treaty, even though the wording of the provision in question is identical or very similar. The EC Treaty can be given a „Community“ interpretation which goes further than an „ordinary“ treaty. All this is entirely consistent with the classic principles of treaty law and treaty interpretation, as set out in the Vienna Convention on the Law of Treaties. In recent years, however, the Court has tended to extend the „Community“ interpretation, reached in a purely internal Community context, to treaties concluded by the Community with third States. This has been true in particular of provisions prohibiting discrimination on grounds of nationality. Such provisions have been interpreted rather extensively, as exemplified by the well-known Bosman ruling, perhaps – in some circles – the most often cited of all the Court’s judgments. Essentially, the Court held that sporting associations could not exclude nationals of other Member States. But that case-law has now been extended to non-EU nationals, first under Association Agreements with third States, and now even under a Partnership and Cooperation Agreement, in the instant case with Russia6. These cases then provide a good illustration of the openness of the ECJ to treaties concluded by the Community.
3. The European Convention on Human Rights My third and final illustration of the theme of openness to other legal systems is the evolving approach of the Court to a system of law based on a treaty to which the Community is not a party: the European Convention on Human Rights. As is well known, the Court in recent years has adopted a very 6
Case C-265 / 03 Simutenkov, loc.cit.
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positive approach to the Convention. Over the past ten years, in particular, it has regularly cited, and has sought to follow, the case-law of the Strasbourg Court. That is particularly striking when it is remembered that the ECJ does not generally cite the case-law of any other court. Exceptionally, there are occasional references to, for example, a decision of the International Court of Justice; but these are exceptions which seem to serve only to „prove the rule“. For practical purposes, it can even be suggested (as I mentioned in my Opinion in the Bosphorus Airways case in 1996) that the position is as if the Community were a party to the Convention, and that the Convention can be regarded as part of Community law and can be relied on as such both in the ECJ and in the national courts where Community law is in issue. The Strasbourg Court in effect accepted this when it came in turn to decide the Bosphorus case a few months ago7. Here the issue was whether the seizure of a Serbian aircraft by the Irish authorities, under UN sanctions against the former Yugoslavia, violated the property rights of an apparently innocent third party, the Turkish company which had chartered the plane. As the sanctions were implemented in the EU by an EC regulation, the Irish Supreme Court had referred the case to the ECJ, which had found that the Irish authorities had acted lawfully. But the Irish decision could still be, and was, challenged in Strasbourg. There the European Court of Human Rights reached what may be seen as a remarkable decision of a general character. Having examined the case-law of the ECJ, and having set out in detail the judgment of the Court (and the Opinion of the Advocate General) in the Luxembourg proceedings in the Bosphorus case, it held in effect that, in the light of the scrutiny by the ECJ of Community measures for compliance with human rights, where such scrutiny had taken place it was, and would remain, unnecessary for the Strasbourg Court to conduct its own review. There 7
European Court of Human Rights, judgment of 30 June 2005.
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are, of course, important qualifications in the Strasbourg judgment. Nevertheless, it provides extraordinary testimony on two points: first, the care which the ECJ has taken to accommodate human rights concerns; secondly, the willingness of the Strasbourg Court, for its part, to recognise the special features of the EU legal order. There could be few better illustrations of my theme in this lecture.
IV. Conclusion My conclusion is a simple one. What is needed, as much as formal legal solutions, is openness and understanding on the part of Supreme Courts, to provide the necessary harmony between independent legal orders.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und die Grenzen seiner Judikatur Von Georg Ress*
I. Die obligatorische Gerichtsbarkeit Das Thema, das mir gestellt ist, heißt „Höchste Gerichte an ihren Grenzen“. Die Grenzen ergeben sich aus der enormen Belastung des Gerichtshofs durch die ständig wachsende Zahl von Beschwerden, durch die z. T. schleppende Vollstreckung der Urteile, durch ein nur mit Überzeugungsmacht ausgestattetes Ministerkomitee, durch die Blockierung von Reformbemühungen durch Vertragsstaaten – insbesondere durch Russland – und durch Distanz nationaler Höchstgerichte, die erwarten, dass ihre Rechtsprechung nicht nur beachtet, sondern auch übernommen wird1. Es geht um die Frage, welche Rolle der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in dem Vieleck zwischen nationalen Gerichten und internationalen Gerichten spielt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist durch das 11. Zusatzprotokoll 1998 grundlegend reformiert worden und ist mit einer obligatorischen Gerichtsbarkeit ausgestattet worden (compulsory jurisdiction). Eine solche obligatorische Gerichtsbarkeit hat es für einen völkerrechtlichen Gerichtshof vorher überhaupt nicht gegeben. Die Beziehungen zwischen den Staaten – soweit es um völkerrechtliche Fragen ging – waren früher i.d.R. nicht justiziabel. * Der Vortragsstil wurde im Wesentlichen beibehalten und der Text in den Fußnoten um Nachweise aus später erschienenen Quellen ergänzt. 1 Siehe dazu Ress, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, seine Reform und die Rolle der nationalen Gerichte, in: W. Karl (Hrsg.), Internationale Gerichtshöfe und nationale Rechtsordnung, 2005, S. 40 ff.
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Das gilt heute noch weitgehend für Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates2. Und wenn sie zum IGH kommen sollten, dann mussten die Staaten sich entweder ad hoc oder im Rahmen der Fakultativklausel für bestimmte Streitigkeiten unterworfen haben. Dass Staaten (und sogar Individuen) sich an einen Gerichtshof wenden können wie an das „Amtsgericht“ und dieses Gericht ohne besondere Unterwerfung zuständig und verpflichtet ist, sich mit dieser Streitsache zu befassen, ist etwas völlig Neues in den internationalen Beziehungen. Große Entwürfe von Völkerrechtsdenkern des 18. und 19. Jahrhunderts haben sich immer wieder mit der Frage befasst, ob es nicht sinnvoll sei, eine weltumspannende obligatorische Gerichtsbarkeit einzurichten. Die Staaten haben diesem kühnen Gedanken nie entsprochen. Sie haben immer dem Grundsatz gehuldigt „La justice c’est moi!“ – danach prüft und entscheidet der Staat über die Frage völkerrechtlicher Verletzungen und die Berechtigung von Retorsionen oder Repressalien als Antwort auf diese Verletzungen allein. Man hat deshalb auch in der Literatur – denken Sie etwa an Hans Kelsen und andere – den Rechtscharakter des Völkerrechts überhaupt bestritten, weil ihm derartige rechtliche Sanktionen – also die gerichtliche Durchsetzbarkeit – fehlten. Das ist eine immer noch sehr populäre Anschauung, die nur darauf beruht, dass den meisten das wirkliche Aufeinanderangewiesensein von Aktion und Gegenaktion (measures and countermeasures) im Völkerrecht nicht geläufig ist. Insofern ist das, was sich 1998 mit der Einführung der obligatorischen Gerichtsbarkeit für den Straßburger Gerichtshof ereignet hat, etwas Sensationelles. Man kann die Rechtslage auch nicht mit dem EuGH in Luxemburg vergleichen, denn der EuGH ist der Gerichtshof einer besonderen Staatengemeinschaft, das „Verfassungsgericht“ einer Integrationsorganisation, und nicht der Ge2 Vgl. dazu Tomuschat, Die Europäische Union und ihre völkerrechtliche Bindung, EuGRZ 2007, 1 ff., 6 ff.; kritischer zu dieser Zurückhaltung Ress, Konkordanz in der Interpretation von Kompetenzbegriffen durch EuGH und EGMR, in: Festschrift für Günter Hirsch, 2007 (im Erscheinen).
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richtshof eines Teils der Staatenwelt, die sich zur Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention verpflichtet hat. Der Straßburger Gerichtshof hat versucht, ein ähnliches Modell wie der EuGH über die Besonderheiten der Menschenrechtskonvention zu entwickeln: Sie habe einen ordre public européen etabliert, und ihre Verpflichtungen seien nicht bilateral, sondern objektiv3. Für sie gelte der Grundsatz „The convention has to be interpreted on present day conditions“, also ohne Rückgriff auf den ursprünglichen Parteiwillen. Die Vorbehalte, die die Staaten bei der Ratifikation eingelegt haben, werden auf ihre Vereinbarkeit mit der Konvention überprüft, und es stellt sich überhaupt nicht die Frage, ob dieser Staat, wenn der Vorbehalt nicht mit der Konvention vereinbar ist, überhaupt Vertragspartei geworden ist. Auch hier tritt also der Parteiwille völlig zurück hinter eine rein objektive Betrachtung dieser European Public Order. Gleichwohl ist aufgrund dieser Ansätze das Konventionssystem nicht strukturell mit dem Integrationssystem der EG bzw. EU vergleichbar4.
II. Ausgelagertes Staatsrecht Dieser Gerichtshof, dem heute 46 Staaten angehören, dessen Jurisdiktion sich von Reykjavík bis nach Wladiwostok erstreckt, anrufbar für 800 Millionen potenzieller Beschwerdeführer, entfaltet seine Jurisdiktion auf dem speziellen Gebiet der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Anders als beim Internationalen Gerichtshof im Haag wird nicht das gesamte Völkerrecht in den Blick genommen, sondern nur der Bereich, der in der Menschenrechtskonvention umrissen ist. Dieser Bereich ist, wenn man das weniger präzise sagt, so etwas wie 3 Näher dazu Ress, Supranationaler Menschenrechtsschutz und der Wandel der Staatlichkeit, ZaöRV 64 (2004), 225 ff. 4 Ansätze dazu bei Langenfeld, Die Stellung der EMRK im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Bröhmer (Hrsg.), Der Grundrechtsschutz in Europa, 2002, S. 95 ff.; vgl. auch Ress, Verfassungsrechtliche Auswirkungen der Fortentwicklung völkerrechtlicher Verträge, in: Festschrift für Wolfgang Zeidler, 1987, Bd. 1, S. 1775 ff., 1792.
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„ausgelagertes Staatsrecht“. Es sind die Beziehungen des Einzelnen zu seinem Aufenthaltsstaat, die hier einer internationalen Jurisdiktionsgewalt unterstellt werden. Das sind nicht Beziehungen zwischen den Staaten, wie sie im koordinierten Völkerrecht vorherrschen, sondern eher die vertikalen Beziehungen zwischen dem Einzelnen und dem Staat, über die es hier zu judizieren gilt. Insofern ist der Gerichtshof wiederum dem EuGH ähnlich, der auch über „ausgelagerte Materien“ judiziert und der auch als eine Art Verfassungsgericht der Europäischen Gemeinschaft gelten kann, weil er nämlich die Rechtmäßigkeit des Handelns der europäischen Organe und bis zu einem gewissen Grad auch der Mitgliedstaaten kontrolliert. Auch der Straßburger Gerichtshof ist vielfach als eine Art europäisches Verfassungsgericht bezeichnet worden. Er unterscheidet sich von der Verfassungsgerichtsbarkeit schon allein dadurch, dass ihm jede Eingriffs- und Durchgriffsbefugnis in die Vertragsstaaten fehlt5. Seine Urteile sind reine Feststellungsurteile darüber, ob die Konvention verletzt worden ist; er kann keine Akte der Staaten aufheben und auch nur sehr begrenzt Anweisungen erteilen. Das ändert sich durch die jüngere Rechtsprechung6 etwas, aber diese liegt noch auf der Linie der bisherigen Judikatur.
III. Das Vollstreckungsproblem Die Urteile sind über das Ministerkomitee vollstreckbar. Jeder Staat ist nach Art. 46 der Konvention verpflichtet, das 5 Gleichwohl gibt es vielfältige „Einwirkungen der Entscheidungen internationaler Menschenrechtsinstitutionen auf das nationale Recht“, s. Bernhardt, in: Festschrift für Karl Doehring, Staat und Völkerrechtsordnung, 1989, S. 23 ff. 6 Vgl. z. B. EGMR, Urteil vom 08. 04. 2004 – Nr. 71503 / 01, Assanidzé / Georgia, NJW 2005, 2207. Eine Anweisung, z. B. zur Freilassung eines Inhaftierten, kommt nur in Frage, sofern dem Staat selbst kein Ausführungsermessen mehr bleibt.
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Urteil, das gegen ihn ergangen ist und das ihn bindet, umzusetzen. „The states have to abide to the judgments“, und das Ministerkomitee „supervises the execution“ – überwacht also die Vollstreckung. Im Ministerkomitee sitzen die Botschafter (Ständigen Vertreter) aller Staaten. Jeder Staat hat in den Sitzungen des Ministerkomitees über den Vollzug der gegen ihn ergangenen Urteile zu berichten. Im Anschluss an diesen Bericht wird eine Resolution des Ministerkomitees gefasst, was dazu führen kann, dass die Sache vertagt wird, weil der Vollzug für unzureichend angesehen wird. Allerdings wird jedes Mal der Druck auf den Staat größer, er bekommt jedes Mal, wenn das Urteil noch nicht vollstreckt worden ist, deutlichere Worte zu hören und Auflagen von anderen Staaten. Das ist ein Vorgang, den ein Staat à la longue nicht durchstehen kann. Es kommt der Punkt, wo ein Bericht vom Ministerkomitee an den Generalsekretär und an die Parlamentarische Versammlung ergeht, was letztlich zum Ausschluss des Staates aus dem Europarat bzw. zur Suspendierung seiner Mitgliedsrechte führen kann. Es ist bisher noch nicht zu einem solchen Verfahren wegen der Nichtvollstreckung eines Urteils gekommen, aber die Türkei war im Fall Loizidou7 nahe daran. Loizidou betraf eine Frau aus Südzypern, die Zugang zu ihren Ländereien in Nordzypern haben wollte, welche ihr nach der türkischen Besetzung von Nordzypern nicht mehr zugänglich waren. Sie führte wegen Verletzung ihres Eigentums zu Recht vor dem Gerichtshof Beschwerde und gewann noch vor dem alten Gerichtshof im Jahr 1996 ihr Verfahren, weil dieser feststellte, für die Situation in Nordzypern sei völkerrechtlich die Türkei verantwortlich.
7 EGMR, Urteil vom 23. 03. 1995 (preliminary objections), und 18. 12. 1996 (Hauptsache) – Nr. 15318 / 89, Loizidou / Türkei, EuGRZ 1997, 555. Alle im Vortrag genannten Entscheidungen des EGMR finden sich unter http: //cmiskp.echr.coe.int/tkp197/default.htm.
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IV. Der Jurisdiktionsbereich Wenn ein Staat ein Territorium wie Nordzypern besetzt hält und dort effektive Kontrolle ausübt, dann ist dieser Staat auch für die Situation und Verhältnisse auf diesem Territorium verantwortlich. Eine zentrale völkerrechtliche Frage lautet: Wie weit reicht der in Art. 1 der Konvention angesprochene Jurisdiktionsbereich der Staaten? Im Fall Loizidou hat der Gerichtshof die Verantwortlichkeit der Türkei aufgrund der effective territorial control bejaht. Diese territorial control sah der Gerichtshof im Bankovic´-Fall8 später als nicht gegeben. Die Bombenabwürfe der NATO auf die Fernseh- und Rundfunkstation in Belgrad – und die Beschwerde richtete sich gegen alle NATO-Staaten, die gleichzeitig Konventionsstaaten waren – begründete nicht über das Element der effective territorial control die Verantwortlichkeit der NATO-Staaten, weil bei einer reinen Luftherrschaft oder einem reinen Überfliegen noch keine solche vorliege. Einige Jahre später stellte sich im Fall Ilasçu9 gegen Russland und Moldawien die gleiche Frage: Wie weit erstreckt sich die Jurisdiktion in Transnistrien? In Moldawien gibt es einen abgetrennten Teil, der von einer anderen Regierung beherrscht wird. Auf der einen Seite steht die Regierung von Moldawien, das nach wie vor insgesamt als souveräner Staat angesehen wird, aber in Transnistrien herrscht Präsident Smirnow mit dem Wohlwollen der russischen Regierung. Die russische Regierung hat dort noch immer die 13. Russische Armee stationiert, oder zumindest Teile davon. Wir haben selbst Beweis vor Ort erhoben über die 8 EGMR, Urteil vom 12. 12. 2001 – Nr. 52207 / 99, Bankovic´ u. a. / Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Island, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Polen, Portugal, Spanien, Tschechische Republik, Türkei, Ungarn und das Vereinigte Königreich, NJW 2003, 413. S. dazu Ress, Problems of Extraterritorial Human Rights Violations – The Jurisdiction of the ECHR, The Bankovic´ case, Italian Yearbook of International Law, 2003, S. 51 ff. 9 EGMR, Urteil vom 23. 03. 1995 (preliminary objections) und Urteil vom 08. 07. 2004 – Nr. 48787 / 99, Ilasçu u. a. / Moldawien und Russland, NJW 2005, 1849.
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Frage der Jurisdiktionsgewalt. Dabei ergab sich, dass diese Armee in Transnistrien auch für „Recht und Ordnung“ zu sorgen habe. Da die Jurisdiktion von der effective territorial control abhängt, kann dies dazu führen, dass ein Staat – wie hier Russland – für Situationen verantwortlich gehalten wird, die über den eigenen territorialen Herrschaftsbereich hinausgehen. Der Grundsatz lautet: Die Jurisdiktion erstreckt sich nur auf das eigene Territorium, ausnahmsweise aber auch auf ein Territorium, auf dem effektive Kontrolle ausgeübt wird. Dieser Grundsatz bedeutet, dass die Vertragsstaaten nicht für jeden ihnen zurechenbaren, im Ausland gesetzten Akt unter der Konvention verantwortlich sind. Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit sind nicht deckungsgleich – ein oft kritisiertes Ergebnis. Es hat aber auch zur Folge, dass der ohnedies überlastete Gerichtshof nicht mit Beweiserhebungen in Nichtvertragsstaaten belastet wird, wenn ein Vertragsstaat dort gehandelt hat. Das Urteil im Fall Ilasçu ist von Russland bis heute nicht vollständig vollstreckt worden10. Die Vollstreckung der Urteile ist eigentlich derjenigen verfassungsgerichtlicher Entscheidungen ähnlich. Die Urteile werden in dem Ministerkomitee durch ein Verfahren, in dem keiner der Staaten letztlich sein Gesicht völlig verlieren will, im Allgemeinen ordentlich vollstreckt. Es werden selbst Urteile vollstreckt, die den Staaten überhaupt nicht gefallen; Loizidou11 zum Beispiel hat der Türkei überhaupt nicht gefallen, oder Stran Greek Refineries12 – ein Fall, der eine erhebliche Investition von 80 Millionen Dollar in Griechenland unter der Militärregierung betraf, eine Investition, die von der dann demokratisch gewählten PASOK-Regierung sofort für illegal erklärt wurde. Daraufhin kam es zu einem Schiedsspruch, der den Investoren einen Anspruch auf 10 Vgl. meine Bemerkungen in der Festschrift für Roland Bieber, 2007 (im Erscheinen). 11 EGMR, Urteil vom 18. 12. 1996 (Hauptsache) – Nr. 40 / 1993 / 435 / 514, Loizidou / Türkei, EuGRZ 1997, 555. 12 EGMR, Urteil vom 09. 12. 1994 – Nr. 13427 / 87, Stran Greek Refineries u. Stratis Andreadis / Griechenland, ÖJZ 1995, 432 .
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Ersatz ihrer Aufwendungen und sonstigen Investitionen zusprach. Dieser Schiedsspruch wurde von der Regierung dann auch für illegal erklärt und kassiert. Der Straßburger Gerichtshof hat im Urteil Stran Greek Refineries den Titel des Klägers bestätigt (Eigentumsanspruch nach Art. 1 Abs. 1 des 1. Zusatzprotokolls) und festgestellt, dass dieser Anspruch von der griechischen Regierung zu erfüllen sei. Der Gerichtshof hat den Beschwerdeführern antragsgemäß 30 Millionen Dollar und weitere Beträge in Drachmen zugestanden. Selbst Urteile also, die der Regierung gegen den Strich gehen und für deren Vollstreckung sie etwa einen Nachtragshaushalt einbringen muss, müssen vollstreckt werden. Ein anderer berühmter griechischer Fall betraf „The Former King of Greece“13. Die königliche Familie wollte beschlagnahmte Grundstücke herausverlangen, während die griechische Regierung sagte: „The King can have no property“ – d. h. alles, was die königliche Familie besitzt, ist Staatseigentum. Ich habe das immer als eine Art King-Midas-Theorie bezeichnet, nach der alles, was die königliche Familie berührte, Staatseigentum wurde, selbst wenn es aus der eigenen Schatulle kam. Der Gerichtshof hat sehr genau unterschieden zwischen dem, was aus der eigenen Schatulle kam, und dem, was staatlicher Herkunft war und dem früheren König einen entsprechenden Ersatzanspruch zugestanden. Der Gerichtshof gewährt nicht die restitutio in integrum, d. h. den Restitutionsanspruch, sondern eine just satisfaction nach Art. 41 der Konvention. Es hat immer wieder Versuche gegeben zu argumentieren, eigentlich müsse doch das, was weggenommen worden sei, zurückgegeben werden. Das entspricht aber nicht der Auslegung von Art. 41, der von just satisfaction spricht, obwohl juristisch gesehen dem Art. 41 ein entsprechender völkerrechtlicher Restitutionsanspruch zugrunde liegt14. Wenn 13 EGMR, Urteil vom 23. 11. 2000 – Nr. 25701 / 94, Former King of Greece and others / Greece, NJW 2000, 45; zur Entschädigung: EGMR, Urteil vom 28. 11. 2002 – Nr. 25701 / 94, Former King of Greece and others / Greece, NJW 2003, 1721.
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ein Urteil ergangen ist, sind die Staaten verpflichtet, die Verletzung einzustellen, zweitens individuelle Wiedergutmachung zu leisten und drittens generelle Maßnahmen zu ergreifen, damit sich in Zukunft keine weiteren Verletzungen ereignen. Der Jurisdiktionsbereich wird in besonderer Weise auch durch die aus den Menschenrechtsgarantien abgeleiteten positiven Verpflichtungen bestimmt. Sie sind die „objektive“ Seite jedes der einzelnen Menschenrechte und Grundfreiheiten, und diese anerkannten Beispiele sind insbesondere der Lebensschutz15, der Schutz des Privatlebens16, der Schutz der Meinungs- und Pressefreiheit17 und der Schutz der Religionsfreiheit. Solche positiven Verpflichtungen bestehen nur, wenn ein unmittelbarer Kausalzusammenhang zwischen dem eingetretenen negativen Ergebnis und dem staatlichen Unterlassen besteht, wie der Gerichtshof in den Fällen eines Schutzes vor kriminellen Handlungen18 und des Schutzes von Behinderten19 betont hat. Der Jurisdiktionsbereich erstreckt sich nicht nur auf die Beziehungen des Einzelnen zum Staat, sondern auch auf die horizontalen Beziehungen Einzelner zueinander unter dem Aspekt, ob der Staat seiner Verpflichtung nachgekommen ist, diese Beziehungen gemäß den Pflichten aus der Konvention auszugestalten. Das führt u. a. zur Präzisierung staatlicher 14 S. dazu Ress, Aspekte der Entfaltung des Europäischen Menschenrechtsschutzes, in: Jahrbuch der Juristischen Gesellschaft Bremen 2003, S. 17 ff., 20. 15 EGMR, Urteil vom 08. 07. 2004 – Nr. 53924 / 00, Vo / France, NJW 2005, 727. 16 EGMR, Urteil vom 13. 02. 2003 – Nr. 42326 / 98, Odièvre / France, NJW 2003, 2145; siehe auch EGMR, Urteil vom 24. 06. 2004 – Nr. 59320 / 00 (sect. 3), von Hannover / Germany, NJW 2004, 2647. 17 EGMR, Urteil vom 02. 05. 2000 – Nr. 26132 / 95 (sect. 3), Bergens Tidende and others / Norway, ÖJZ 2001, 110. 18 EGMR, Urteil vom 28. 10. 1998 – Nr. 23452 / 94, Osman / UK, ECHR 1998-VIII; EGMR, Urteil vom 24. 10. 2002 – Nr. 37703 / 97, Mastromatteo / Italy, NJW 2003, 3259. 19 EGMR, Urteil vom 24. 02. 1989 – Nr. 21439 / 93, Botta / Italy, ÖJZ 1999, 76.
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Aufsichtspflichten (zum Beispiel gegenüber Schulen20 oder gegenüber privaten psychiatrischen Kliniken21) und hat Anlass gegeben, über Grenzen der staatlichen Verpflichtung im Umweltschutz (Hatton. / .UK)22 zu urteilen sowie über die Frage, wie weit das in Frankreich geregelte Recht auf anonyme Geburt23 mit dem Anspruch, seine eigene Herkunft zu erfahren, vereinbar ist. In einem gegen Malta gerichteten Urteil24 hat der Gerichtshof ausgesprochen, dass Vätern, die die Ehelichkeit ihres Kindes bezweifeln, ein Verfahren zur Verfügung stehen muss, um diese Frage zu überprüfen. Auch die Beziehung zwischen (angeblichem) Vater, Mutter und Kind ist vom Gerichtshof unter dem Gesichtspunkts des Respekts vor dem Privatleben (Art. 8 Abs. 1) geprüft und Konflikte sind zugunsten des Anspruchs auf Aufklärung der Abstammung und zu Lasten der Familienstabilität gelöst worden, eine Lösung, der sich auch das Bundesverfassungsgericht angeschlossen hat. Mit dem Jurisdiktionsbereich ist eng auch die Frage nach der Reichweite der margin of appreciation verbunden. Mit diesem vom Gerichthof entwickelten Kunstbegriff wird die Abgrenzung des Jurisdiktionsbereichs des Gerichtshofes von dem nach wie vor den Staaten obliegenden Entscheidungsbereich vorgenommen – ähnlich wie die Abgrenzung, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung zum Bereich des Gesetzgebers vornehmen muss. Die margin of appreciation hängt von der Natur des Rechts, seiner Gewichtigkeit und der Praxis in den Vertragsstaaten ab. Ist die Praxis in den Vertragsstaaten bei der Auslegung eines bestimmten Grund20 EGMR, Urteil vom 25. 03. 1993 – Nr. 13134 / 87, Costello-Roberts / UK, ÖJZ 1993, 707. 21 EGMR, Urteil vom 16. 06. 2005 – Nr. 61603 / 00 (sect. 3), Storck / Germany, NJW-RR 2006, 308. 22 EGMR, Urteil vom 08. 07. 2003 – Nr. 36022 / 97, Hatton and others / UK, NVwZ 2004, 1465. 23 EGMR, Urteil vom 13. 02. 2003 – Nr. 42326 / 98, Odièvre / France, NJW 2003, 2145. 24 EGMR, Urteil vom 12. 01. 2006 – Nr. 26111 / 02, Mizzi / Malta, EuGRZ 2006, 129.
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rechts noch diffus und uneinheitlich – wie dies etwa im Bereich der Folgen aus einer Geschlechtsumwandlung (Transsexualität) war –, so wird sich der Gerichtshof zurückhalten, wie er dies in der Vergangenheit in den Transsexuellenfällen getan hat. Hier zeigt sich die Bedeutung der Rechtsvergleichung für die Rechtsprechung des Gerichtshofes. Lässt sich aber nachweisen, dass sich die Praxis der Vertragsstaaten geändert hat und auf eine einheitliche Linie einzuschwenken beginnt, so wird auch der Gerichtshof seine Rechtsprechung diesem Trend anpassen, was zur Folge hat, dass sich die margin of appreciation entsprechend verringert. Man sollte annehmen, dass bei einem so überragenden menschenrechtlichen Schutzgut wie dem menschlichen Leben die margin of appreciation besonders gering ist. Dies ist aber nur im Hinblick auf den eindeutigen Kernbereich bei „geborenem“ Leben der Fall. Hier hat der Gerichtshof bei nicht aufgeklärten Tötungen auch die prozessuale Seite der Garantie, nämlich die Pflicht zu einer effektiven Ermittlung und Aufklärung deutlich entwickelt. Andererseits ist in den Vertragsstaaten der Schutz des ungeborenen Lebens höchst unterschiedlich geregelt. Auch ist der Schutz dieses „Bereichs“ geringer, ja nach der neueren Rechtsprechung eigentlich den Vertragsstaaten völlig überlassen, so dass sich die „Offenheit“ der Antwort auf die Frage nach dem Schutz des ungeborenen Lebens in der Praxis – zu meinem eigenen Bedauern – nahezu verliert.
V. Die Wiedergutmachung Mit der Zahlung der vom Gerichtshof festgesetzten Entschädigung tun sich die Staaten relativ leicht. Auch noch mit der individuellen Wiedergutmachung tun sie sich nicht ganz so schwer, es sei denn, es handelt sich um Urteile nationaler Gerichte, die für konventionswidrig erachtet wurden. Ist der Staat dann verpflichtet – eine bislang nahezu ungelöste Frage –, ein Wiederaufnahmeverfahren durchzuführen im Sinne einer aus Art. 41 der Konvention folgenden Verpflichtung? Ich habe immer die Meinung vertreten, dass Staaten dann, wenn tat-
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sächlich ein Urteil auf einem konventionswidrigen Verfahren beruht und sich damit ein Kausalnexus ergibt, dazu verpflichtet sind, das Verfahren noch einmal aufzurollen25. Der Gerichtshof hat sich im Fall Öcalan26 – die Türkei ist hier verurteilt worden, weil Öcalan kein rechtzeitiger Zugang zu seinen Anwälten gewährt worden war, und aus anderen formalen Gründen – zurückhaltend ausgedrückt zu der Frage, ob das Verfahren in der Türkei noch einmal aufgerollt werden müsse. Konventionswidrige gesetzliche Regelungen müssen an sich aufgehoben werden. Ein berühmtes Beispiel ist eine belgische gesetzliche Erbregelung im Fall Marckx27, nach der nichteheliche Kinder kein Erbrecht nach der Familie der Mutter hatten. Nach dem Tod der Großmutter erbten in diesem Fall alle außer dem nichtehelichen Kind ihrer Tochter. Diese Regelung verstieß zwar nicht gegen die Eigentumsgarantie, aber gegen den Respekt der Familie nach Art. 8 der Konvention. Der belgische Staat war aufgrund des Urteils verpflichtet, den Code civil entsprechend zu ändern. Solche Pflichten können bis zur Änderung der Verfassung gehen, wie sie auch in Deutschland diskutiert worden ist28: Wenn man aus dem Caroline-Urteil29 25 Ress, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Vertragsstaaten. Die Wirkungen der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im innerstaatlichen Recht und vor innerstaatlichen Gerichten, in: I. Maier (Hrsg.), Europäischer Menschenrechtsschutz (1982), S. 227 ff.; Bernhardt (supra Fn. 5). 26 EGMR [G.C.], Urteil vom 12. 05. 2005 – Nr. 46221 / 99, Öcalan / Türkei, NVwZ 2006, 1267. 27 EGMR, Urteil vom 13. 06. 1979, Marckx / Belgien, NJW 1979, 2449. 28 Im Anschluss an das Urteil Vogt / Germany vom 26. 09. 1995 – Nr. 17851 / 91, NJW 1996, 375: Suspendierung einer Lehrerin wegen der Kandidatur für die Deutsche Kommunistische Partei: Verstoß gegen die politische Meinungsfreiheit nach Art. 10 EMRK. Da diese Praxis der Suspendierungen aufgrund der „Extremistenerlasse“ der deutschen Bundesländer verfassungsrechtlich zulässig, aber im Einzelfall nicht geboten war, war eine Änderung des GG nicht angezeigt, sondern nur eine Anpassung der Praxis. Vgl. dazu Bernhardt, EuGRZ 1996, 335 und Ress (supra Fn. 14). 29 EGMR, Urteil vom 24. 6. 2004 – Nr. 59320 / 00, Caroline von Hannover / Deutschland, NJW 2004, 2647.
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durch Anpassung der Rechtsprechung nicht herauskommt, muss man erwägen, unter Umständen das Kunsturhebergesetz oder gar die Verfassung zu ändern30. Im Fall Inçal31 hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Tatsache, dass Militärrichter in Verfahren über Staatssicherheitsdelikte mitwirken, gegen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter nach Art. 6 der Konvention verstößt, weil der Angeklagte den Eindruck haben könne und vielleicht auch haben müsse, dass er nicht von Richtern, sondern vom Militär beurteilt werde. In diesem Sinne habe ich damals als Vertreter der Kommission plädiert, während auf der türkischen Seite der oberste Militärrichter darlegte, in der Türkei sei das Militär Garant der Sicherheit des Staates. Deswegen müsse das Militär in allen Institutionen des Staates vertreten sein, sowohl im Parlament als auch in der Justiz und der Verwaltung, und deswegen müsse es bei Staatssicherheitsdelikten auch im Gericht sitzen. Da nach der Konvention der Einzelne einen Anspruch auf einen wirklich unabhängigen und unparteilichen Richter hat, wobei es entscheidend auf den objektiven Anschein ankommt, ist der Gerichtshof dieser Auffassung der Türkei nicht gefolgt und hat diese Regelung in der Türkei für konventionswidrig erklärt. Die Türkei hat daraufhin – das ist schon einige Jahre her – die Verfassung geändert32. Sie hat diese Art von Militärgerichtsbarkeit – also Beteiligung von Militärs an der normalen Zivil- und Strafgerichtsbarkeit, nicht dagegen die normale Militärgerichtsbarkeit gegen Angehörige des Militärs – aus der Verfassung gestrichen. 30 Das Urteil im Caroline-Fall betrifft einen Einzelfall, dessen Entscheidungslinie mittlerweile vom Kammergericht und Bundesgerichtshof übernommen wurde. Gleichwohl könnte diese Entscheidungslinie bei einer Folgeentscheidung vom EGMR auch korrigiert werden. Vgl. dazu Ress, Horizontale Grundrechtskollisionen. Zur Bedeutung von Artikel 53 der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Gedächtnisschrift für Albert Bleckmann, 2007, S. 313 ff., 322 ff. 31 EGMR, Urteil vom 09. 06. 1998 – Nr. 41 / 1997 / 825 / 1031, Inçal / Türkei, ECHR 1998-IV. 32 S. die Nachweise zur Verfassungsänderung vom 18. 06. 1999 (neuer Artikel 143) in dem Urteil der 1. Kammer vom 12. 03. 2003 – Nr. 46221 / 99, Öcalan / Turkey.
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Daraus wird ersichtlich, wie weit die Folgeverpflichtung aus den Urteilen des Straßburger Gerichtshofs gehen kann und dass sich das Ministerkomitee intensiv bemühen muss, den Vollzug dieser Urteile zu überwachen. Im Fall Caroline33 ist hier nichts weiter zu überwachen; der Fall ist abgeschlossen. Die Prinzessin von Hannover hat 10.000 DM Schmerzensgeld bekommen und ihre Prozesskosten. Der Fall Görgülü34 ist dagegen noch nicht erledigt. In diesem Fall ist gegen die Bundesrepublik ein Urteil ergangen, in dem festgestellt wurde, dass Herr Görgülü nach Art. 8 der Konvention einen Anspruch auf Zugang zu seinem Kind, das er mit einer Deutschen gezeugt hatte, hat. Die Grundaussage der konstanten Judikatur des EGMR lautet, dass sich aus dem Begriff der Familie in Art. 8 nicht ergibt, dass etwa der Beschwerdeführer unbedingt das Sorgerecht haben müsse, aber in der Regel muss er sein Kind in regelmäßigen Abständen sehen dürfen. Er muss es besuchen dürfen. In diesem Fall hatte Herr Görgülü sein Kind nie gesehen, da es gleich nach der Geburt auf Anordnung des Jugendamtes in eine Pflegefamilie gegeben wurde. Das Jugendamt wehrte sich mit allen Mitteln dagegen – unterstützt durch das OLG Naumburg35 –, dass der leibliche Vater einen Zugang zu seinem Kind erhält. Das Bundesverfassungsgericht36 hat aus der Verfassung hergeleitet, dass die innerstaatlichen Gerichte diese Urteile lediglich „beachten“ müssten, aber nicht strikt daran gebunden seien, da die EMRK im deutschen Recht nur den Rang eines einfachen Gesetzes habe. Das ist eine rein verfassungsrechtliche Interpretation, über die noch zu sprechen ist. Es gestand anschließend aber zu, dass das OLG Naumburg dieser Beach33 EGMR, Urteil vom 24. 06. 2004 – Nr. 59320 / 00, Caroline von Hannover / Deutschland, NJW 2004, 2647. 34 EGMR, Urteil vom 26. 02. 2004 – Nr. 74969 / 01, Görgülü / Deutschland, NJW 2004, 3397. 35 OLG Naumburg, Beschluss vom 30. 06. 2004 – 14 WF 64 / 04, EuGRZ 2004, 749. 36 BVerfG, Beschluss vom 14. 10. 2004 – 2 BvR 1481 / 04, NJW 2004, 3407.
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tungspflicht nicht genügt habe. Es habe die Gründe des Straßburger Urteils nicht ausreichend berücksichtigt. Welche Gründe beim OLG Naumburg letztlich ausschlaggebend waren, weiß man nicht. Jedenfalls hat im Ergebnis die Bundesrepublik ihrer Verpflichtung zur Umsetzung des Urteils Görgülü bisher nicht völlig genügt. Die Sache hängt immer noch beim Ministerkomitee, und dies schon über mehrere Jahre. Der deutsche Botschafter in Straßburg muss jedes Mal vortragen, was die deutschen Gerichte, das Justizministerium und das Bundesverfassungsgericht getan haben, um diesem Zugangsanspruch zu genügen. Das ist für Deutschland keine angenehme Position, und die anderen Staaten fragen sich, wieso es denn in Deutschland so schwierig und kompliziert ist, einem Vater einmal zu erlauben, einen Blick auf sein eigenes Kind zu werfen. Was steht dem entgegen? Dagegen wurde eingewandt, das Kind solle abgeschottet werden vor einer völlig anderen Entwicklung. Eine solche Haltung ist letztlich in einem Kreis von 46 Staaten nicht vermittelbar. Man kann nun froh sein, dass nicht der EGMR mit weiteren Durchsetzungsquerelen befasst ist, sondern dass es sich dabei um die Frage handelt, wie sich das Bundesverfassungsgericht gegenüber den eigenen Fachgerichten durchsetzt. Das Bundesverfassungsgericht hat in verschiedenen Wendungen seiner Beschlüsse Dienstaufsichtsverfahren gegen die Beteiligten angeregt. Es ist schon relativ weitgehend, wenn das Bundesverfassungsgericht sich zu solchen Schritten durchringt. Daran zeigt sich, dass hier die Rechtshierarchie nicht mehr klaglos funktioniert.
VI. Die Belastung des Gerichtshofs Das Thema heißt: „Höchste Gerichte an ihren Grenzen“. Zu den funktionalen Grenzen sei hier ein kurzes Wort gesagt. Der „neue“ Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist im Jahr 1998 entstanden als permanenter Gerichtshof, also mit hauptamtlich tätigen Richtern, die in einem demokratischen Verfahren von der Parlamentarischen Versammlung gewählt werden, nachdem sie vorher von einem Ausschuss des Par-
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laments befragt worden sind. Dieses Verfahren ist ähnlich wie beim amerikanischen Senat ausgebildet37. Jede Regierung schlägt drei Namen vor, wobei eine equivalence of gender zu beachten ist. Die Liste von Malta wurde kürzlich zurückgegeben mit der Bemerkung, hier seien nur drei männliche Kandidaten enthalten und keine Frau. Malta hat erwidert, dass die einzige Frau, die dafür in Frage käme, gerade zum EuGH nach Luxemburg geschickt worden sei. Das Potenzial ist also in einzelnen Staaten etwas dünn, das ist zu beachten. Jeder Staat hat einen Richter; ich war also der nationale deutsche Richter und zwingend an allen Verfahren gegen Deutschland beteiligt, was ein Kennzeichen der internationalen Gerichtsbarkeit ist. Was macht der Beschwerdeführer bzw. der arme Kläger, der einen einfachen Schadensersatzprozess wegen eines Unfalls verfolgen will? Da ist es wichtig, dass der nationale Richter im Gerichtshof auch die richtigen Fragen an die deutsche Regierung stellt, die an dem Verfahren beteiligt ist. Wie das deutsche Recht beschaffen ist, wissen natürlich beispielsweise der moldawische oder ukrainische Richter im Regelfall nicht. Der „nationale Richter“ ist also eine ganz sinnvolle Einrichtung. Und als deutscher Richter möchte ich natürlich in gleicher Weise über das ukrainische und das moldawische Recht informiert werden, wenn es darauf ankommt. Es geht darum, dass jemand am Verfahren beteiligt ist, der die nationale Rechtsordnung relativ gut kennt. Das erweist sich auch bei ungewohnten Verfahren – wie dem Protest-Verfahren – in den Staaten des ehemaligen Ostblocks als notwendig. Nach diesem Verfahren konnte die Prokuratura jedes rechtskräftige Urteil zu jeder Zeit vor dem Obersten Gerichtshof auf seine „Gesetzmäßigkeit“ überprüfen lassen, was bedeutete, dass es im gesamten Ostblock Rechtssicherheit nicht gab. Der Straßburger Gerichtshof hat derartige Regelungen in den Prozessordnungen als Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 37 Ress, Wahl der Richter des Europäischen Gerichthofs für Menschenrechte und die Befugnis zur Rechtsfortbildung, in: Liber Amicorum P.D. Dagtoglou 2002, S. 292 ff.
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EMRK (Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip) qualifiziert38. Diese Staaten hätten vielleicht ohne weitreichende Änderungen ihrer Rechtsordnungen gar nicht unter der Konvention in den Europarat aufgenommen werden dürfen. In der politischen Debatte der Parlamentarischen Versammlung herrschte jedoch die Meinung vor, u. a. vertreten von Bundeskanzler Kohl, es sei besser, diese Staaten, darunter Russland, aufzunehmen, als sie draußen zu lassen, denn nur so könne der Europarat Einfluss auf die inneren Verhältnisse ausüben. Die jetzt kommenden Folgeschwierigkeiten hat vor allem der Gerichtshof zu bewältigen. Der EGMR hat versucht, seine Rechtsprechung nicht zu verwässern39. Die Staaten haben auch nicht offen vorgeschlagen, die Anforderungen in der Rechtsprechung zu senken, um die Probleme zu bewältigen, wie sie vor allem durch strukturelle Probleme in einzelnen Vertragsstaaten aufgetreten sind (z. B. das russische Gefängnissystem)40. Der Gerichtshof hat die Lage in russischen Gefängnissen als erniedrigend und unmenschlich i.S.v. Art. 3 EMRK qualifiziert, obwohl Russland sich darauf berufen hatte, dass die Lage in den russischen Gefängnissen generell nicht besser sei als im konkreten Fall. Der Gerichtshof hat auch die Eingriffe des früheren ukrainischen Präsidenten in laufende Gerichtsverfahren deutlich als flagrante Missachtung der Unabhängigkeit der Justiz nach Art. 6 EMRK bezeichnet41. Die Lösung der übermäßigen Belastung sollte vielmehr in einer Flexibilität liegen, die dem Gerichtshof eingeräumt wird, um mehr Fälle von Anfang an als unzulässig abzuweisen oder 38 EGMR [GC], Urteil vom 28. 10. 1999 – Nr. 28342 / 95, Bruma˘rescu / Romania, ECHR 1999-VII; EGMR, Urteil vom 25. 07. 2002 – Nr. 48553 / 99, Sovtransavto Holding / Ukraine, ECHR 2002-VII. 39 Anzeichen dazu hat man in den Urteilen vom 20. 05. 1999 – Nr. 25390 / 94, Rekvényi / Hungary [GC], NVwZ 2000, 421 und vom 21. 01. 1999 – Nr. 25716 / 9, Janowski / Poland [GC], NJW 1999, 1318 sehen wollen; das ist jedoch nicht zutreffend. 40 EGMR, Urteil vom 15. 07. 2002 – Nr. 47095 / 99, Kalashnikov / Russland, NVwZ 2005, 303. 41 EGMR, Urteil vom 25. 07. 2002 – Nr. 48553 / 99, Sovtransavto Holding / Ukraine, ECHR 2002-VII.
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nicht anzunehmen, weil sonst die Lage auf Dauer nicht mehr beherrschbar wird42. Nach dem vorgeschlagenen 14. Protokoll nimmt der Gerichtshof überhaupt nur Beschwerden an, wenn dem Beschwerdeführer ein wesentlicher Nachteil entstanden ist. Die Beschwerde kann also im Prinzip begründet sein, aber es ist stets zugleich ein wesentlicher Nachteil nachzuweisen. Erst dann ist die Beschwerde zulässig. Dies ist also ein weiteres Zulässigkeitskriterium bzw. besser: ein Annahmekriterium, welches durch das 14. Zusatzprotokoll eingeführt würde. Im Ergebnis reicht das aber alles nicht aus. Die Staaten müssten den Gerichtshof mit mehr Personal und einem zusätzlichen Gebäude ausstatten. Wenn dies aber nicht möglich erscheint, müssen die Staaten sich entschließen, eine radikalere Lösung zu wählen und das subjektive Beschwerderecht so weit einzuschränken, dass dem Gerichtshof ein gewisses Ermessen darüber gegeben wird, ob er einen Fall annehmen will oder nicht. Dieses sollte nicht ganz so krass ausfallen wie im amerikanischen certiorari-Verfahren, aber ähnlich ausgestaltet sein. Für einen Ausbau des Gerichtshofs würde eine Aufstockung des Haushalts von annähernd 100 Millionen Euro erforderlich sein. Zur notwendigen Ausstattung kämen noch der technische Dienst, Computerservice, Übersetzungsdienst, ein wissenschaftlicher Dienst und einiges mehr dazu. Mit der Einstellung nur von Juristen ist es nicht getan. Der EGMR hat zur Zeit fast mehr russische Juristen als solche aus anderen Staaten, weil wir so eine enorme Zahl von Beschwerden gegen Russland anhängig haben, wegen der Situation in Tschetschenien und anderer Vorfälle in Russland. Wegen der erheblichen Auswirkungen darf ich nochmals auf den Fall Kalashnikov43 zurückkommen. Er betraf die Zustände in russischen Gefängnissen. 24 Insassen, die auf 18 Quadratmetern einsaßen, übers. dazu Ress (supra Fn. 1), S. 54 ff. EGMR, Urteil vom 15. 07. 2002 – Nr. 47095 / 99, Kalashnikov / Russland, NVwZ 2005, 303. 42 43
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all Kakerlaken, die Hälfte der Insassen hatte offene Tuberkulose, sie schliefen auf nur 18 Betten umschichtig, um überhaupt schlafen zu können. Das sind Untersuchungshäftlinge! Wer wie der Beschwerdeführer, ein Bankdirektor, zwei Jahre in einem solchen Gefängnis in Untersuchungshaft war, ist durch einen Teil der Hölle gegangen. Russland hat erklärt, alle russischen Gefängnisse seien in solchem Zustand! Nach Ansicht des Gerichtshofs war das jedenfalls keine Einlassung, die eine Verletzung der Konvention ausschließt. Nur stellen sich jetzt, nachdem Russland verurteilt worden ist, viel größere Schwierigkeiten, denn können die Staaten, wenn der Gerichthof einmal entschieden hat, der Aufenthalt in russischen Gefängnis sei inhuman and degrading (Art. 3), dann noch nach Russland ausweisen oder dorthin ausliefern? Nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR dürfen in einem Drittstaat keine Bedingungen bestehen, die degrading oder inhuman sind. Daher verursachen derzeit alle diese Auslieferungs- oder Ausweisungsersuchen gegen Russland im Einzelfall noch mehr Schwierigkeiten als vorher schon. Das ist ein echtes strukturelles Problem. In einem Verfahren gegen Deutschland stellte sich die Frage, ob in einem überlangen Verfahren das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit zur Anordnung von Sanktionen und Wiedergutmachung hat44. Der Gerichtshof hatte vorher im Fall Kudła45 und in anderen Fällen gesagt, dass, wenn die Dauer des Verfahrens in einem Staat überlang gewesen sei, ein Gericht dieses Staates in der Lage sein müsse, Schmerzensgeld (Ersatz für immateriellen Schaden) für die überlange Verfahrensdauer zuzusprechen und eine Sanktion zur Akzeleration zu verhängen. In Deutschland gibt es beides nicht: Es gibt weder Schmerzensgeld für solche Fälle noch weitere Sanktionsmöglichkeiten. Das Bundesverfassungsgericht kann nur 44 EGMR, Urteil vom 08. 06. 2006 – Nr. 75529 / 01, Sürmeli / Deutschland, NJW 2006, 2389. 45 EGMR, Urteil vom 26. 10. 2000 – Nr. 30210 / 96, Kud|la / Polen, NJW 2001, 2694.
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feststellen, dass das Verfahren bisher verfassungswidrig war. Diese Rechtslage genügt der Konvention nicht46. Der „neue“ Gerichtshof ist entstanden aus einer Verbindung der alten Menschenrechtskonvention und des früheren Gerichtshofs zu einem permanenten Gerichtshof47. Den großen Rückstand, der damals bestand, hat man nicht beseitigen können, weil die Staaten den neuen Gerichtshof – das muss man deutlich sagen – nicht in die Lage versetzt haben, den Rückstand zügig aufzuarbeiten. Der Gerichtshof hat zunächst kein zusätzliches Personal bekommen. Die Grundregel sollte lauten, dass der Gerichtshof in der Lage sein muss, die eingehenden Fälle zeitlich adäquat zu erledigen. Der Eingang beim Gerichtshof liegt derzeit monatlich ungefähr zwischen 4000 und 5000 Beschwerden, von denen er 1000 nicht erledigen kann. Und meistens kann er Beschwerden nicht erledigen, die wirklich erhebliche rechtliche Probleme aufwerfen. Es häufen sich also monatlich zu dem Rückstand von 70.000 bis 80.000 Fällen, den wir sowieso schon haben, noch einmal pro Monat 1000 Beschwerden, was pro Jahr 12.000 Fälle ergibt, die unerledigt bleiben. Nach Auffassung der Staaten kommt eine wesentliche Erhöhung des Budgets des Europarates oder des Gerichtshofs nicht in Frage. Es gilt das Prinzip des zero growth, des Nullwachstums. Folglich müssen andere Mittel gewählt werden. Die Staaten haben ein 14. Zusatzprotokoll beschlossen. Im 14. Zusatzprotokoll gibt es als Ausweg den Einzelrichter, der über offensichtlich unbegründete und sonst unzulässige Beschwerden entscheiden kann, wenn dieser Fall sich im Rahmen der etablierten Rechtsprechung bewegt. Das bringt nichts entscheidend Neues, denn das hat bisher auch schon das Dreierkomitee des Gerichtshofs so entscheiden können. Die zweite 46 Vgl. zum Sachverhalt EGMR, Urteil vom 08. 06. 2006 – Nr. 75529 / 01, Sürmeli / Deutschland, NJW 2006, 2389. 47 Zu den dadurch entstandenen Zuordnungsproblemen s. Ress, Die Organisationsstrukturen internationaler Gerichte, insbesondere des neuen Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in: Liber Amicorum für Ignaz Seidl-Hohenveldern, 1998, S. 541 ff.
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Möglichkeit ist die, dass der Dreierausschuss – the committee of three judges – nunmehr auch über wohlbegründete Beschwerden entscheiden kann, wenn eine Beschwerde auf eine etablierte Judikatur zurückgeht, unter Zugrundelegung dieser Judikatur wohl begründet ist und der nationale Richter zustimmt. Das kann eine gewisse Beschleunigung bringen, aber keinen ganz großen Effekt haben. Da Russland als einziger der Vertragsstaaten die Ratifikation des 14. Zusatzprotokolls bisher abgelehnt hat, ist selbst dieser Reformschritt gefährdet. Eine Abhilfe ist derzeit nicht in Sicht.
VII. Das Verhältnis zu anderen internationalen Gerichten Im Bereich des Verhältnisses zu anderen internationalen Gerichten und zum EuGH hat der EGMR eine Reihe von Urteilen zu völkerrechtlichen Fragen erlassen, wobei die völkerrechtlichen Fragen oft nur Vorfragen betrafen, die aber zugleich unausweichlich sind. Im Fall Al-Adsani48 gegen Großbritannien klagte der Beschwerdeführer – ein Brite, aber zugleich Kuwaiti – gegen Kuwait vor englischen Gerichten auf Schadensersatz mit der Behauptung, er sei in Kuwait von Soldaten und Polizisten schwer gefoltert worden und fast zu Tode gekommen, weil er – was natürlich leichtfertig und unziemlich war – ein Video über das Liebesleben des Bruders des Sultans in Umlauf gebracht hatte. Er war nach fürchterlichen Quälereien, Verbrennungen und sonstigen Folterungen nach Großbritannien entkommen und hat Kuwait auf Schadensersatz verklagt. Kuwait berief sich vor dem House of Lords und den Vorinstanzen auf Staatenimmunität, da die Quälereien alle von kuwaitischen Polizisten und Militärs ausgeführt worden seien, die also staatlich gehandelt hätten. Für staatliches Tun sei aber Staatenimmunität zu gewähren. Kann man aber einem Staat bei Verstoß gegen die Antifolterkonven48 EGMR, Urteil vom 21. 11. 2001 – Nr. 35763 / 97, Al-Adsani / Vereinigtes Königreich, EuGRZ 2002, 403.
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tion noch Immunität einräumen49? Das ist die nicht ganz einfache Frage. Der Gerichtshof war 9:8 gespalten, und die Mehrheit kam zu dem Schluss, dass man nach dem Stand der gegenwärtigen Entwicklung des Völkerrechts nicht sagen könne, dass sich das Völkerrecht schon so verändert habe, dass Immunität dem „Folterstaat“ in Schadensersatzprozessen nicht mehr gewährt werden dürfe. Zwar sei das Folterverbot eine Regel des ius cogens geworden, aber die daraus zu ziehenden Konsequenzen müsse man genau untersuchen. Denn diese Konsequenz bedeut nicht, dass in zivilprozessualen Schadensersatzansprüchen nun eine Berufung auf die Immunität ausgeschlossen sei50. Die Staaten seien aus dem ius cogens-Charakter des Folterverbots verpflichtet, den Folterer wie den Feind des Menschengeschlechts zu bestrafen, – und das ist eine erga omnes-Verpflichtung –, aber diese Verpflichtung wirkt sich (noch) nicht auf den Zivilprozess aus. Die deutsche Regierung hat dieses Mehrheitsurteil begrüßt, denn zur gleichen Zeit war in Griechenland ein Prozess wegen des Massakers der SS in einem griechischen Ort anhängig, und die Betroffenen bzw. ihre Nachkommen klagten vor dem Areopag51 auf Schadensersatz. In einem wenig überzeugenden Urteil entschied der Areopag (wie auch schon manche amerikanische Untergerichte vorher im Fall Princz52), dass ein Staat, der diese atrocities, diese Fürchterlichkeiten, begangen hat – oder its successor, wie sie sich ausdrückten, dafür hafte, denn Deutschland sei stets Deutschland geblieben: Ein Staat 49 Bei der Antwort ist zu bedenken, dass Kuwait an die EMRK nicht gebunden war. Die Antwort wäre möglicherweise anders ausgefallen, wenn die Vorfälle sich in einem Vertragsstaat abgespielt hätten. Vgl. Caflisch, Immunité des Etats et droits de l’Homme: Evolution récente, in: Festschrift für Georg Ress, 2005, S. 935 ff. 50 Zustimmend Klein, Menschenrechte und Ius cogens, in: Festschrift für Georg Ress, 2005, S. 151 ff. 51 Der Areopag ist das Oberste Gericht der Ordentlichen Gerichtsbarkeit in Griechenland. 52 Vgl. US Court of Appeals for the District of Columbia Circuit, 26 F.3d 1166, Princz / Federal Republic of Germany, International Legal Materials 33 (1994), 1483.
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bleibe immer der gleiche, was immer die Regierungen tun – und könne sich daher nicht auf Immunität berufen53. Deutschland sei verantwortlich für diese Verbrechen und müsse dafür einstehen. In allen anderen Prozessen in den USA und anderen Staaten – und es gab eine ganze Reihe solcher Prozesse – hat sich Deutschland immer mit Erfolg auf Staatenimmunität berufen. Nur in Griechenland hat der Areopag mit der Entwicklung der Menschenrechte argumentiert und gesagt, wir lebten in einer anderen Welt und jetzt könne dieser Grundsatz nicht mehr anerkannt werden Diese Argumentation verkennt, dass es sich um kriegsrechtlich zu beurteilende Vorfälle handelte und dass temporal gesehen zur Zeit der Vorfälle der Menschenrechtsschutz sich sicher noch nicht, wenn überhaupt, zu Lasten der Staatenimmunität in dieser Weise entwickelt hatte. Dann kam es zur Vollstreckung. Die Vollstreckung wurde betrieben in das Grundstück des Goethe-Instituts in Athen als staatliches deutsches Eigentum, es bedurfte aber zur Vollstreckung einer Vollstreckungsgenehmigung durch den griechischen Justizminister. Deutschland hatte Griechenland eine erhebliche Verschlechterung der bilateralen Beziehungen angekündigt, wenn es zur Vollstreckung kommen sollte. Daraufhin ließ der griechische Justizminister den Antrag auf Vollstreckung unbeantwortet, was als Versagung galt. Gegen diese Versagung haben die Beschwerdeführer wiederum Klage bis zum Areopag erhoben, doch diesmal hat der Areopag entschieden, die Verweigerung der Vollstreckung sei rechtmäßig, da der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Rechtsprechung dargelegt habe, dass die Immunität bei zivilrechtlichen Schadenersatzansprüchen noch nicht zurücktritt54. 53 Urteil des Areopag vom 04. 05. 2000, Auszüge in deutscher Sprache in KJ 32 (2000), 472 (474 f.); vgl. auch Anm. Dolzer, NJW 2001, 3525; sowie Maierhöfer, in: Menzel / Pierlings / Hoffmann (Hrsg.), Völkerrechtsprechung, 1. Aufl. 2005, S. 800 ff. 54 Urteil des Areopag vom 28. 06. 2002, vgl. hierzu den Sachverhalt in EGMR, Urteil vom 12. 12. 2002 – Nr. 59021 / 00, Kalogeropoulou u. a. /
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Sie sehen an diesem Szenario, welche schwierigen völkerrechtlichen Fragen der EGMR inzidenter zu entscheiden hat. Viele dieser völkerrechtlichen Fragen kommen als Vorfragen auf, wie z. B. im erwähnten Fall Bankovic´55 die Frage der Rechtmäßigkeit der Bombardierung der Fernseh- und Rundfunkstation in Belgrad oder kürzlich die Frage der Zulässigkeit der gerichtlichen Kontrolle von Sicherheitsratsbeschlüssen im Fall Behrani / France and Sacramati / France, Germany and Norway56. Im Fall Bankovic´ ging es den Beschwerdeführern natürlich um Ersatz für ihre erlittenen körperlichen Einbußen, aber auf dem Wege dahin hätte der Gerichtshof, hätte er seine Jurisdiktion bejaht, auch die Rechtmäßigkeit des Einsatzes der NATO in Jugoslawien prüfen müssen. Auch dieses Szenario zeigt Ihnen, dass Fragen berührt werden, die parallel z. B. beim IGH anhängig waren. Die Anhängigkeit vor dem IGH würde im Prinzip nicht eine Jurisdiktion zur Prüfung einer Vorfrage bei unserem Gerichtshof ausschließen.
VIII. EGMR und EuGH Zum Schluss ein Wort zum Verhältnis zum EuGH: Das letzte Wort zu diesem Verhältnis ist das Urteil im Fall Bosphorus57. Er betrifft die Umsetzung von UN-Sanktionen (und Griechenland und Deutschland, erhältlich unter http: //hudoc.echr.coe.int („enforcement proceedings“); dt. unter http: //www.coe.int/t/d/menschenrechtsgerichtshof/dokumente_auf_deutsch/volltext/entscheidungen. 55 EGMR, Urteil vom 12. 12. 2001 – Nr. 52207 / 99, Bankovic´ u. a. / Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Island, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Polen, Portugal, Spanien, Tschechische Republik, Türkei, Ungarn und das Vereinigte Königreich, NJW 2003, 413. 56 EGMR [GC], Urteil vom 21. 05. 2007 – Nr. 71412 / 01 und Nr. 78166 / 01, worin der Gerichtshof feststellt, dass die Kontrolle durch den EGMR die Hauptfunktion des Sicherheitsrats beeinträchtigen und Bedingungen für das Handeln unter Kapitel VII der UN-Charta aufstellen würde, die nicht im Text der Resolution enthalten sind. S. dazu Ress (supra Fn. 2). 57 EGMR, Urteil vom 30. 06. 2005 – Nr. 45036 / 98, Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi / Irland, NJW 2006, 197; vgl. hierzu Bröhmer, EuZW 2006, 71.
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EG-Sanktionen) gegen Jugoslawien. Eine kleine türkische Firma, die ein jugoslawisches Flugzeug geleast hatte, brachte dieses Flugzeug zur Reparatur nach Irland. Dort wurde das Flugzeug beschlagnahmt, weil diese Reparatur die Embargobestimmungen verletzt hatte. Die Beschwerdeführer klagten gegen Irland auf Entschädigung aus Verletzung des Eigentums nach Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls. In diesem Verfahren war zu überprüfen, ob die Sanktionsbestimmungen korrekt angewendet worden waren. Über diese Frage hatte schon vorher der EuGH58 judiziert. Es ging also mittelbar auch um die Frage, ob der EGMR zu einem anderen Ergebnis kommen könnte als der EuGH. Anknüpfungspunkt für die Jurisdiktion des Gerichtshofes sind immer Akte der Staaten, niemals Akte der EG, denn die EG ist nicht selbst Mitglied des Europarats und nicht Vertragspartei der EMRK. Der Gerichtshof kann also Akte der EG nicht überprüfen59. Er hätte vielleicht, wenn er die Rechtsprechung des EuGH zur Funktionsnachfolge wie beim GATT übernommen hätte60, aus einer solchen Konstruktion eine Bindung herleiten können. Aber der Gerichtshof ist diesen Weg nie gegangen, sondern hat immer klar festgestellt, Akte der EG seien direkt nicht überprüfbar. Dabei hat er aber hinzugefügt, die EG-Mitgliedstaaten, die alle der Konvention unterworfen sind, könnten sich ihrer Verpflichtungen aus der Konvention nicht dadurch entziehen, dass sie HoheitsbefugEuGH, Rs. C-84 / 95, Bosphorus, Slg. 1996, I-3953. s. dazu auch EGMR, Urteil vom 18. 02. 1999 – Nr. 26083 / 94, Waite & Kennedy / Germany [GC], NJW 1999, 1173 sowie EGMR, Urteil vom 18. 02. 1999 – Nr. 24833 / 94, Matthews / United Kingdom [GC], EuZW 1999, 308. Zur Frage eines eventuellen Beitritts der EG (EU) zur EMRK und zum Europarat s. Ress, The legal relationship between the European Court of Human Rights and the Court of the European Communities according to the European Convention of Human Rights, in: Blanke / Mangiameli (Hrsg.), Governing Europe under a Constitution, 2006, S. 279 ff., 289 ff. 60 EuGH, Urteil vom 12. 12. 1972, verb. Rs. 21 – 24 / 72, International Fruit Company NV u. a., Slg. 1972, 1219. s. dazu E. Klein, in: Gedächtnisschrift für Albert Bleckmann, 2007, S. 257 (263 f.). 58 59
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nisse auf Internationale Organisationen übertragen. Es wäre vielleicht eine verführerische Idee, wenn etwa Russland, Ukraine, Moldawien u. a. eine Internationale Organisation gründeten und an diese möglichst viele Kompetenzen übertragen würden, um damit aus ihren Verpflichtungen aus der EMRK entbunden zu werden. Dem hat der Gerichtshof einen Riegel vorgeschoben; sie bleiben weiterhin verantwortlich. Das ist rechtlich eine schwierige Konstruktion. Die ersten Entscheidungen zu diesem Fragenkreis waren Entscheidungen der Kommission. Im Fall Melchers & Co61 war der Vollzug einer EG-Sanktion zu überprüfen, nämlich eines Bußgeldes in Deutschland. In diesem Fall hat die Menschenrechtskommission nach eingehender Prüfung die Rechtsmäßigkeit des Handelns der EG, insbesondere des EuGH, festgestellt und schließlich die Beschwerde ratione materiae als unzulässig abgewiesen. Diese Unzulässigkeitsentscheidung hat den Eindruck erweckt, als ob das EG-Recht ratione materiae aus dem Prüfungsbereich der Konventionsorgane herausfällt. Im Fall Bosphorus62 hat der Gerichtshof diese Auffassung der früheren Menschenrechtskommission korrigiert und eine grundlegende Korrektur eines ursprünglich verfehlten Ausgangspunktes vorgenommen. Der Gerichtshof hat sich für zuständig erklärt, auch das Verhalten der Staaten am Maßstab der EMRK zu kontrollieren, wenn es sich um Akte handelt, bei dem (auch) EG-Recht zur Anwendung oder zur Durchsetzung kommt. Das bedeutet letztlich eine mittelbare Kontrolle auch von EG-Akten. In dem schon oben erwähnten Bosphorus-Fall ging es um den Vollzug von Sanktionsbeschlüssen der EG (die auf Beschlüssen des UN-Sicherheitsrats beruhten) und eine Entscheidung des EuGH. Der Gerichtshof ist ohne wirklich intensive Prüfung zu dem Ergebnis gekommen, es liege keine 61 EKMR, Entscheidung vom 09. 02. 1990 – Nr. 13258 / 87; Melchers & Co / Deutschland, DR 1964, 138. 62 EGMR, Urteil vom 30. 06. 2005 – Nr. 45036 / 98, Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi / Irland, NJW 2006, 197.
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Verletzung der Konvention vor, aber er hat eine mögliche Verletzung immerhin geprüft. Er hat hinzugefügt, es gebe eine Vermutung dafür, dass das Handeln der EG bzw. des EuGH rechtmäßig sei. Nur im Fall einer manifest deficiency lässt sich diese Vermutung widerlegen. Bei einer solchen Konstellation hat der EGMR die Befugnis, am Maßstab der Konvention eine solche Entscheidung des Staates (Vollzug eines EG-Sanktionsbeschlusses) als konventionswidrig festzustellen. Dieses Urteil darf nicht dahin missverstanden werden, dass der innerstaatliche Vollzug sekundären Gemeinschaftsrechts kaum jemals Probleme am Maßstab der EMRK aufwerfen könnte. Der EuGH wird rechtswidriges EG-Handeln in aller Regel beheben, zumal er auch eine mittelbare Prüfung am Maßstab der EMRK (als allgemeine Rechtsgrundsätze) durchführt63 Dadurch unterscheidet sich die Prüfungsbefugnis des EuGH von jener innerstaatlicher Verfassungsgerichte, wie des Bundesverfassungsgerichts, die die EMRK nur bei materieller Konkordanz mit Verfassungsbestimmungen als Prüfungsmaßstab berücksichtigen. Probleme kann z. B. der sehr begrenzte Zugang von Individuen zum EuGH nach Art. 240 Abs. 4 EGV im Lichte von Art. 6 Abs. 1 EMRK oder die willkürliche Verweigerung der Vorlage einer EG-Rechtsfrage an den EuGH (Verweigerung des gesetzlichen Richters, Problem nach Art. 6 Abs. 1 EMRK) aufwerfen64. Es gibt noch andere Konstellationen, die noch Schwierigkeiten machen, etwa die Frage, ob den Verfahrensbeteiligten gegen die Schlussanträge des Generalanwalts beim EuGH ein 63 Näher dazu Ress, Die europäische Grundrechtskonzeption. Brauchen wir eine verbindliche Europäische Grundrechtscharta?, in: Herzog / Hobe (Hrsg.), Die Europäische Union auf dem Weg zum verfassten Staatenverbund: Perspektiven der europäischen Verfassungsordnung, 2004, S. 83 (86 ff.); ders., Die Europäische Grundrechtscharta und das Verhältnis zwischen EGMR, EuGH und den nationalen Verfassungsgerichten, in: Duschanek / Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa. Die Europäische Union nach Nizza, 2002, 184 ff., 196 ff. 64 S. dazu meine concurring opinion zum Urteil im Fall Bosphorus.
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Erwiderungsrecht zustehen muss. Im Fall Kress65 hat der EGMR entschieden, dass in Frankreich ein Kläger vor dem Conseil d’Etat auf die Äußerungen des Commissaire du Gouvernement noch antworten können muss. Denn Art. 6 der Konvention mit dem Begriff des fairen Verfahrens setzt voraus, dass ein Kläger auf alle Äußerungen der anderen Parteien, vor allem der staatlichen Partei, noch einmal erwidern kann. Nun ist der Commissaire du Gouvernement in Frankreich eine fest etablierte Institution des Verwaltungsprozesses. Sie ist von Napoleon eingeführt worden. Trotzdem kam der Gerichtshof zum Ergebnis, dass diese Einrichtung mit der Konvention so nicht vereinbar sei. Dabei ging es nicht nur um das Erwiderungsrecht, sondern auch um die Tatsache, dass der Commissaire du Gouvernement anschließend an den Beratungen des Conseil d’Etat, wenngleich ohne Stimmrecht, teilnimmt. Dieser unabhängige Commissaire ist aber kein Richter, so dass der EGMR schon aus diesem Grunde die Unabhängigkeit bzw. Unparteilichkeit der Richter des Conseil d’Etat nicht mehr als gegeben ansah. Daraufhin hat ein französischer Professor die Frage aufgeworfen: „Faut-il supprimer la Cour Européene des Droits de l’homme?“, um deutlich zu machen, dass diese Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 EMRK, insbesondere auch das Urteil Pellegrin / France66, in wirklich „heilige“ Bereiche des französischen Rechts durch Feststellung der Konventionswidrigkeit „eingreift“. In der Praxis hat sich das Problem dadurch gelöst, dass die französischen Gerichte eine sog. note au délibéré, d. h. eine Stellungnahme für die anschließende Beratung der Richter, zugelassen haben. Die Anwälte, die den Commissaire du Gouvernement hören, schreiben dann innerhalb einer Stunde eine Erwiderung dazu und geben diese als Antwort den Richtern für Beratung zur 65 EGMR, Urteil vom 07. 06. 2001 – Nr. 39594 / 98, Kress / Frankreich, ECHR 2001-VI. 66 EGMR, Urteil vom 08. 12. 99 – Nr. 28541 / 95, Pellegrin / France [GC], ECHR 1999-VIII, zum Begriff der „civil rights“ bzw. öffentlichen Gewalt. S. die Diskussion über die spätere Aufweichung dieser Linie bei Ress (supra Fn. 2).
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Kenntnis. Mündlich können sie sich nicht äußern, aber es gibt eben eine kleine schriftliche Äußerung. Der Gerichtshof hat entschieden, dass damit dem kontradiktorischen Prinzip Genüge getan sei. Aber bei den Schlussanträgen des Generalanwalts beim EuGH gibt es eine solche „note au délibéré“ bisher nicht. Die Frage ist also noch offen67. Der Fall Emesa Sugar68, bei dem diese Frage streitig und anhängig war, ist vom Gerichtshof aus anderen Gründen als unzulässig abgewiesen worden. Es kann also immer noch die eine oder andere Überraschung geben. Im Fall Waite and Kennedy69 – das ist ein Parallelfall, der zur Rechtsprechung Bosphorus70 geführt hat – ging es um die Situation zweier Amerikaner, die bei einer irischen Firma beschäftigt waren. Sie waren Computerspezialisten und wurden an die ESA (European Space Agency) in Darmstadt ausgeliehen. Das ist eine Praxis, die sich bereits über Jahrzehnte hinzieht. Nun wurde die irische Firma zahlungsunfähig. Die beiden Beschwerdeführer haben deutlich gemacht, dass sie bei der ESA weiterarbeiten wollten, aber sie konnten nicht auf Dauer angestellte staff members bei der ESA werden. Sie klagten vor deutschen Arbeitsgerichten nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz auf Feststellung, dass sie in einem fingierten Arbeitsverhältnis zur ESA standen. Die ESA hat sich vor den deutschen Arbeitsgerichten darauf berufen, dass sie Immunität nach dem Sitzstaatabkommen genieße. Es ist normal, dass in solchen Sitzstaatsabkommen für die Organisation Immunität für Klagen vor staatlichen Gerichten vereinbart wird. 67 s. dazu Kokott, Die Institution des Generalanwalts im Wandel – Auswirkungen der Rechtsprechung des EGMR zu ähnlichen Organen der Rechtspflege in den Mitgliedstaaten, in: Festschrift für Georg Ress, 2005, S. 577. 68 EGMR, Urteil vom 13. 01. 2005 – Nr. 62023 / 00, Emesa Sugar N.V. / Niederlande, EuGRZ 2005, 234. 69 EGMR, Urteil vom 18. 02. 1999 – Nr. 26083 / 94, Waite and Kennedy / Germany, NJW 1999, 1173. 70 EGMR, Urteil vom 30. 06. 2005 – Nr. 45036 / 98, Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi / Irland), NJW 2006, 197.
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Dabei ging es wieder um die gleiche Frage – Zugang zum Gericht nach Art. 6 der Konvention. Seit dem Fall Golder71 ist etabliert, dass dieses Recht nur aus gewissen extremen Gründen eingeschränkt werden darf. Der Gerichtshof hat nun festgestellt, einer dieser Gründe sei die Funktionsfähigkeit Internationaler Organisationen. Das ist natürlich ein sehr weiter Begriff und ein sehr vager Maßstab. Die Funktionsfähigkeit Internationaler Organisationen kann also dazu führen, dass die Immunität auch gegenüber Klagen gegen solche Organisationen durchschlägt. Letztlich ist die Funktionsfähigkeit Internationaler Organisationen auch der Topos gewesen, der im Fall Bosphorus72 dazu geführt hat, die Funktionsfähigkeit der EG mit ihrem eigenen Gerichtssystem und ihrer eigenen Rechtskontrolle zu honorieren, obwohl der Gerichtshof sehr deutlich gewisse Mängel oder Einschränkungen dieser Gerichtskontrolle festgestellt hat. Es gibt kaum eine bessere Einführung in das Rechtsschutzsystem der EG, als sie im Fall Bosphorus73 beschrieben ist. Auch die Probleme der Einschränkung des private standing werden dort ausgebreitet.
IX. Schlussbemerkung Letztlich sind die noch offenen Probleme der Abgrenzung zur EG zwar nicht gelöst, aber es zeichnet sich ab, dass man sie vielleicht mit einem Beitritt der EG zur EMRK lösen könnte. Dafür gibt es ausreichende Vorbereitungen, was die Änderung der Konvention angeht. In der bisher nicht angenommenen Verfassung ist auch eine entsprechende Kompetenzklausel zum Beitritt enthalten, die sich sicher bei künftigen Änderungen der Europäischen Verträge wiederfinden 71 EGMR, Urteil vom 21. 02. 1975 – Nr. 4451 / 70, Golder / Vereinigtes Königreich, EuGRZ 1975, 91. 72 EGMR, Urteil vom 30. 06. 2005 – Nr. 45036 / 98, Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi / Irland, NJW 2006, 197. 73 Ich verweise insofern nochmals auf meine concurring opinion zu diesem Urteil.
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wird. Aber was wäre die Konsequenz? Oder formulieren wir es anders: Würde die Bosphorus-Rechtsprechung mit ihrer Einschränkung der Prüfungsbefugnis sich auch bei einem Beitritt durchsetzen? Ich habe die Vermutung, dass dies wohl der Fall sein könnte. Denn der Topos „Funktionsfähigkeit der Internationalen Organisationen“ ist anerkannt worden im Rahmen einer Rechtsprechung wie Waite and Kennedy74 und einer Reihe anderer Urteile, die mit der Frage der EG erstens gar nichts zu tun hatten und die zweitens unberührt sind von einem eventuellen Beitritt. Selbst wenn die EG also wie jeder Staat in ihrem Verhalten der Prüfungsbefugnis des Gerichtshofs unterliegen würde, so würden die Besonderheiten einer Internationalen Organisation wahrscheinlich gleichwohl durchschlagen. Vielleicht würde das eine oder andere sich ändern – ich habe mich in einer concurring opinion im Fall Bosphorus75 dafür ausgesprochen, hier nicht zu weit zu gehen, denn es muss eine substanzielle Prüfung der Frage, ob wirklich die Grundrechte eingehalten worden sind, übrig bleiben. Im Ergebnis wird es nicht ganz das Gleiche sein, wie wenn man das Verhalten eines Vertragsstaates auf die Konventionsgemäßheit überprüft. Sie finden in dieser concurring opinion auch kritische Bemerkungen zu der Frage, ob dadurch nicht ein double standard, ein doppelter Standard, geschaffen wird. Russland und andere osteuropäische Staaten können darüber nicht glücklich sein, wenn sich im Ergebnis dabei für die Westeuropäer ein doppelter, d. h. besserer Standard ergibt. Das wird man abwarten müssen.
74 EGMR, Urteil vom 18. 02. 1999 – Nr. 26083 / 94, Waite and Kennedy / Germany, NJW 1999, 1173. 75 Vgl. EGMR, Urteil vom 30. 06. 2005 – Nr. 45036 / 98, Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi / Irland (concurring opinion of Judge Ress), unter http: //hudoc.echr.coe.int.
Der EFTA-Gerichtshof und sein Verhältnis zu den Gemeinschaftsgerichten* Von Carl Baudenbacher
I. Der EWR und der EFTA-Gerichtshof 1. Das EWRA als Abkommen zur Ausdehnung des EG-Binnenmarktes auf die EFTA-Staaten Ziel des EWR-Abkommens (EWRA), das am 2. Mai 1992 unterzeichnet wurde und am 1. Januar 1994 in Kraft trat, ist die größtmögliche Ausdehnung des EG-Binnenmarktes auf die EFTA Staaten. Bei Inkrafttreten des Abkommens waren die Finnland, Island, Norwegen, Österreich und Schweden Abkommensparteien, heute sind Norwegen, Island und Liechtenstein EWR-Staaten. Die Schweiz hatte das EWRA mitverhandelt und unterzeichnet. Nach einem negativen Referendum musste sie aber auf die Ratifikation verzichten. Liechtenstein trat dem EWRA am 1. Mai 1995 bei. Das EWRA fusst auf einem Zwei Pfeiler-Modell mit einem EG-Pfeiler und einem EFTA-Pfeiler. Die Überwachung der EFTA-Staaten und des Wettbewerbs im EFTA-Pfeiler obliegt der EFTA-Überwachungsbehörde, die insofern als ein Pendant zur Kommission agiert, und dem EFTA-Gerichtshof, der dem EuGH nachgebildet ist. Zu Beginn hatte der EFTA-Gerichtshof seinen Sitz in der alten EFTA-Hauptstadt Genf. Am 1. September 1996 wurde der Sitz nach Luxemburg verlegt.
* Der Vortragsstil ist beibehalten.
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2. Konstellationen der Rechtsanwendung Es gibt drei Konstellationen der Rechtsanwendung im EWR. Die erste besteht darin, dass die Gemeinschaftsgerichte EG-Recht anwenden. Auch das ist eine Konstellation von EWR-Relevanz, und auch hier sind Einflüsse des EWRRechts feststellbar. Die zweite Konstellation ist die, dass der EFTA-Gerichtshof EWR-Recht anwendet. In der dritten Konstellation wenden die Gemeinschaftsgerichte EWR-Recht an, das nach Art. 300 Abs. 7 EG Teil des Gemeinschaftsrechts ist. Dabei sind es natürlich nicht nur der Gerichtshof und das Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften, welche EWR-Recht anwenden, sondern auch die nationalen Gerichte von EG-Staaten. Eine wichtige Entscheidung hat der deutsche Bundesgerichtshof im Herbst 2005 erlassen, als er, ohne beim EuGH vorzulegen, aber unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EFTA-Gerichtshofs, die ÜberseeringPraxis des EuGH auf das EWR-Recht übertragen und entschieden hat, dass es nicht mehr angängig ist, unter Berufung auf die deutschrechtliche Sitztheorie einer liechtensteinischen Aktiengesellschaft die Parteifähigkeit vor einem deutschen Gericht abzusprechen1.
3. Homogenität der Fallrechtsentwicklung: Ziel und Mittel Da das EWR-Recht i.W. durch die Übernahme von Gemeinschaftsrecht aus dem EG-Pfeiler in den EFTA-Pfeiler entsteht, ist es in diesen beiden an sich zu trennenden Rechtsordnungen inhaltsgleich. Damit muss sichergestellt werden, dass sich das Fallrecht in EG und EFTA homogen weiterentwickelt. Es gibt keine strukturellen Verbindungen zwischen 1 BGH vom 19. September 2005, II. ZR 372 / 03 mit Verweis auf EFTA-Gerichtshof Rs. E-2 / 01 Dr. Franz-Martin Pucher, 2002 EFTA Court Report, 4, und Rs. E-8 / 04 EFTA-Überwachungsbehörde / Fürstentum Liechtenstein, 2005 EFTA Court Report, 46.
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EuGH und EFTA-Gerichtshof, welche diese Homogenität garantieren könnten. Das EWR-Recht enthält lediglich verhaltensbezogene Regeln. Art. 6 EWRA und Art. 3 II des Abkommens der EFTA-Staaten zur Schaffung einer Überwachungsbehörde und eines Gerichtshofs (ÜGA) besagen, dass der EFTA-Gerichtshof der relevanten Rechtsprechung des EuGH folgen bzw. sie berücksichtigen soll. Mit Bezug auf die Altrechtsprechung des EuGH, die bis zum Tag der Unterzeichnung (2. Mai 1992) ergangen ist, besteht ein Befolgungsgebot, mit Bezug auf die Neurechtsprechung eine bloße Berücksichtigungsobliegenheit. Die souveränitätspolitisch wichtige Differenzierung spielt in der Praxis eine untergeordnete Rolle. Der EFTA-Gerichtshof hat sodann bei erster Gelegenheit festgestellt, dass der Begriff Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in Art. 6 EWRA und in den Art. 3 I und II ÜGA auch das Gericht erster Instanz umfasst2. Als ultima ratio sieht das EWR-Abkommen in Art. 105, 111 EWRA für den Fall eines judiziellen Konflikts die Möglichkeit der Eröffnung eines Streitbeilegungsverfahrens vor.
4. Fallbelastung des EFTA-Gerichtshofs Die Fallbelastung des EFTA-Gerichtshofs ist beschränkt. Dafür gibt es im Wesentlichen drei Gründe: (1) Die EWR / EFTA-Staaten sind kleine Staaten. (2) Die nationalen Gerichte in den EFTA-Staaten legen kaum Fragen vor, zu denen es klare Rechtsprechung des EuGH gibt. Überdies besteht keine Vorlagepflicht für Höchstgerichte, und insbesondere nordische Richter haben ein ausgeprägtes Souveränitätsbewusstsein. Letzteres ist in den nordischen Staaten, die der EU angehören, nicht anders. (3) Die EFTA-Überwachungsbehörde war bis vor kurzem mit Klagen gegen EFTA-Staaten relativ zurückhaltend, ist aber in neuester Zeit aktiver geworden. Es kann 2 Rs. E-2 / 94 Scottish Salmon Growers, 1994 – 1995 EFTA Court Report, 59, Rn. 13; vgl. auch Rs. E-2 / 02 Bellona, 2003 EFTA Court Report, 52, Rn. 40.
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daher nicht erstaunen, dass die Fälle, mit denen sich der EFTA-Gerichtshof zu befassen hat, meistens neue Rechtsfragen enthalten3.
II. Der judizielle Dialog mit den Gemeinschaftsgerichten 1. Allgemeines Aufgrund der genannten Homogenitätsregeln fußt die Rechtsprechung des EFTA-Gerichtshofs klar auf derjenigen der Gemeinschaftsgerichte. Das gilt insbesondere für die Dogmatik der Grundfreiheiten, die Grundbegriffe des Wettbewerbs- und Beihilferechts und wichtige Konzepte des harmonisierten Rechts. Den geschriebenen Homogenitätsvorschriften liegt die unausgesprochene Annahme zugrunde, dass neue Rechtsfragen zuerst von den Gemeinschaftsgerichten entschieden werden. Das ist, wie man im Grunde genommen immer gewusst hat, in der Realität nicht der Fall. Der EFTAGerichtshof ist vielmehr in der Mehrzahl seiner Fälle mit neuen Rechtsfragen konfrontiert4. Insoweit ist daran zu erinnern, dass der EuGH nach der ersten Version des EWR-Abkommens seinerseits die Spuchpraxis des damals geplanten EWR-Gerichtshofs hätte berücksichtigen sollen, doch lehnte der EuGH eine solche Obliegenheit im Gutachten 1 / 91 ab5. Tatsächlich nehmen die Gemeinschaftsgerichte aber unter gewissen Voraussetzungen auf die Rechtsprechung des EFTAGerichtshofs Bezug, und zwar sowohl bei der Auslegung von Gemeinschaftsrecht als auch bei der von EWR-Recht. 3 Eine Gesamtschau der Rechtsprechung des EFTA-Gerichtshofs enthält die Broschüre von Carl Baudenbacher, EFTA Court – Legal framework and case law, 2. Aufl., Luxemburg, Oktober 2006, die von der Website des EFTA-Gerichtshofs heruntergeladen werden kann; www.eftacourt.lu. 4 Zu den Gründen oben, A IV. 5 Slg. 1991, I-6079.
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2. EuGH und EuG a) Bezugnahme auf Rechtsprechung des EFTA-Gerichtshofs als tragendes Argument Als eigentliche Inspirationsquelle hat die Rechtsprechung des EFTA-Gerichtshofs dem EuGH in folgenden Bereichen gedient: Fernsehen ohne Grenzen, Begriff des Betriebsübergangs, Definition und Anwendung des Vorsorgeprinzips im Zusammenhang mit der Vermarktung fortifizierter Lebensund Tierfuttermittel, Definition und Anwendung des Vorsorgeprinzips im Zusammenhang mit der Freisetzung gentechnisch manipulierter Organismen und mit dem Kampf gegen BSE, Beurteilung von Regionalbeihilfen, Abgrenzung von Kapitalverkehrsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit sowie bei der Wahrung der Homogenität bei der Auslegung des EWRA insbesondere im Steuerrecht. Im Einzelnen: In seinem Urteil vom 9. Juli 1997 in den verbundenen Rechtssachen C-34 / 95, C-35 / 95 und C-36 / 95 De Agostini / TV-Shop i Sverige AB hatte der EuGH die Fragen zu beantworten, ob das Gemeinschaftsrecht einen Mitgliedstaat daran hindert, gegen eine Fernsehwerbung vorzugehen, die ein Werbetreibender von einem anderen Mitgliedstaat aus ausstrahlen lässt, und ob es der Anwendung eines nationalen Verbotes von Werbung, die an Kinder gerichtet ist, entgegensteht. Der EFTA-Gerichtshof hatte am 16. Juni 1995 in den verbundenen Rechtssachen E-8 / 94 und E-9 / 94 Mattel Scandinavia / Lego Norge6entschieden, nach dem der Fernsehrichtlinie 89 / 552 / EWG7 zugrundeliegenden Sendestaatsprinzip liege die Hauptverantwortlichkeit für die Regulierung der Aktivitäten von Fernsehveranstaltern beim Sendestaat. Ein Vorgehen des Emp6
Verb. Rs. E-9 / 94 Mattel Scandinavia / Lego Norge, a. a. O., Rn. 26 ff.,
49. 7 ABl. 1989 L 298 / 23, inzwischen geändert durch Richtlinie 97 / 36 / EG, ABl. 1997 Nr. L 202, 60. Die Richtlinie ist gemäß Art. 36 Abs. 2 EWRA i.V.m. Anhang X Punkt 1 in das EWR-Abkommen integriert worden.
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fangsstaates gegen eine Werbung, welche den Vorschriften des Sendestaates und denen der Richtlinie entspricht, widerspreche der Richtlinie8. Allerdings wolle die Richtlinie einen Mitgliedstaat nicht daran hindern, Maßnahmen nach der Richtlinie 84 / 450 / EWG vom 10. September 1984 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über irreführende Werbung9 zu ergreifen mit Bezug auf eine Werbung, die nach der zuletzt genannten Richtlinie als irreführend anzusehen ist. Der EuGH folgte dem Urteil des EFTA-Gerichtshofs10. Im Fall C-13 / 95 Süzen entschied der EuGH unter Bezugnahme auf das Urteil des EFTA-Gerichtshofs in der Rechtssache E-2 / 96 Ulstein11, dass die Auftragsnachfolge, d. h. die Ersetzung eines unabhängigen Dienstleistungserbringers durch einen anderen, grundsätzlich keinen Betriebsübergang im Sinne der Betriebsübergangsrichtlinie darstellt12. In Ulstein war ein Unternehmen, das in der Vergangenheit aufgrund eines Vertrages mit einem Spital Ambulanzfahrten durchgeführt hatte, durch ein zweites Unternehmen ersetzt worden. In Süzen ging es um die Neuvergabe eines Reinigungsauftrags für eine Schule. Der EuGH bezeichnete die Richtlinie als nicht anwendbar auf einen Vorgang, der „weder mit einem Übergang materieller oder immaterieller Betriebsmittel von dem einen auf den anderen Unternehmer noch mit der Übernahme eines nach Zahl und Sachkunde wesentlichen Teils des von dem einen Unternehmer zur Durchführung des Vertrages eingesetzten Personals durch den anderen Unternehmer verbunden ist“13. In seiner Entscheidung im Fall C-172 / 99 Oy Liikenne Ab vom 25. Januar 200114 schloss sich der EuGH der Urteilsserie 8
Verb. Rs. E-9 / 94 Mattel Scandinavia / Lego Norge, a. a. O., Rn. 26 ff.,
49. ABl. 1984 L 250, 17. Slg. 1997, I-3843. 11 Rs. E-2 / 96 Ulstein, EFTA Court Report 1995 / 96, 65, Rn. 27. 12 Rs. C-13 / 95 Süzen, Slg. 1997, I-1250, Rn. 10. 13 A. a. O., im Tenor. 9
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des EFTA-Gerichtshofs in den Rechtssachen E-2 / 95 Eidesund, E-2 / 96 Ulstein und E-3 / 96 Ask aus den Jahren 1995 – 199715 zur Frage an, ob eine öffentliche Ausschreibung bei Auftragsnachfolge etwas an der Anwendbarkeit der Betriebsübergangsrichtlinie ändere16. Wie der EFTA-Gerichtshof verneinte der EuGH die Frage. In einer Serie von Urteilen aus den Jahren 2003 / 2004 haben sich EuGH und EuG hinsichtlich der Definition und der Anwendung des Vorsorgeprinzips im Zusammenhang mit der Vermarktung fortifizierter Lebens- und Tierfuttermittel auf das Grundsatzurteil des EFTA-Gerichtshofs in der Rechtssache E-3 / 00 EFTA-Überwachungsbehörde / Norwegen (sog. „Kellogg’s“-Fall17) berufen. Der EFTA-Gerichtshof hatte in Kellogg’s entschieden, ein Staat dürfe sich zur Begründung eines Vertriebsverbots von mit Vitaminen und Eisen fortifizierten Lebensmitteln auf das Vorsorgeprinzip berufen, wenn er bestimmte Voraussetzungen beachte. Der EuGH schloss sich dem in den Rechtssachen C-192 / 01 Kommission / Dänemark18 und C-41 / 02 Kommission / Niederlande19 auf der ganzen Linie an. Das EuG bezog sich auf die Kellogg’s Entscheidung des EFTAGerichtshofs in seinen Urteilen in den Rechtssachen T-13 / 99 Pfizer Animal Health und T-70 / 99 Alpharma, in denen es das Vorsorgeprinzip im Zusammenhang mit der Anreicherung von Tierfuttermittel mit Antibiotika anwandte20. In seinem Urteil vom 9. September 2003 im Vorabentscheidungsverfahren C-236 / 01 Monsanto, in dem es um die FreiC-172 / 99 Oy Liikenne, Slg. 2001, I-745. Rs. E-2 / 95 Eidesund, 1995 / 1996 EFTA Court Report, 1, Rn. 47 ff. und Antwort 3; Rs. E-2 / 96 Ulstein, 1995 – 1996 EFTA Court Report, 65, Rn. 39 ff. und Tenor zu 4; Rs. E-3 / 96 Ask, 1997 EFTA Court Report, 1, Rn. 31 ff. und Tenor zu 2. 16 Rs. C-172 / 99, Slg. 2001, I- I-745. 17 2000 – 2001 EFTA Court Report, 73. 18 Slg. 2003, I-9693. 19 Slg. 2004, I-11375. 20 EuG Slg. 2002, II-3305 Pfizer Animal Health, und Slg. 2002, II-3495 Alpharma. 14 15
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setzung von genmodifiziertem Mais ging, bezog sich der EuGH auf das Kellogg’s-Urteil bei der Feststellung, dass Schutzmaßnahmen, die aufgrund des Vorsorgeprinzips getroffen werden, „nicht mit einer rein hypothetischen Betrachtung des Risikos begründet werden (können), die auf bloße, wissenschaftlich noch nicht verifizierte Vermutungen gestützt wird“21. Das Kellogg’s-Urteil des EFTA-Gerichtshofs bildete des Weiteren die Grundlage für die Entscheidung des EuGH vom 1. April 2004 in der Rechtssache C-286 / 02 Bellio22. Dabei ging es um die Auslegung der Warenfreiverkehrsbestimmungen des EWR-Abkommens. Bellio hatte eine Partie Fischmehl aus Norwegen nach Italien eingeführt, die zur Produktion von Futtermitteln für andere Tiere als Wiederkäuer bestimmt war. Nachdem Proben eine Kreuzkontamination mit Tierknochenmaterial ungeklärter Herkunft zutage gefördert hatten, beschlagnahmte die zuständige Polizeibehörde das Fischmehl gestützt auf Entscheidungen des Rates und der Kommission betreffend Schutzmassnahmen in Bezug auf BSE, die vom Gemeinsamen EWR-Ausschuss in das EWR-Recht übernommen worden waren. Der EuGH entschied, dass die Beschlagnahmung durch den Schutz der Gesundheit von Menschen und Tieren im Sinne von Art. 13 EWRA in Verbindung mit dem Vorsorgeprinzip gerechtfertigt werden könne, machte aber gleichzeitig unter Bezugnahme auf das Kellogg’s-Urteil des EFTA-Gerichtshofs die Grenzen dieses Grundsatzes deutlich23. In seinem Urteil in der Rechtssache T-308 / 00 Salzgitter24 schloss das EuG aus der Tatsache, dass die Inanspruchnahme einer steuerlichen Privilegierung davon abhängt, dass eine Investition in einem geografisch begrenzten Gebiet eines Mitgliedstaates getätigt wird, dass die fragliche Maßnahme eine 21 22 23 24
Rs. C-236 / 01, Slg. 2003, I-8105, Rn. 106. 2004 Slg., I-3465. Rs. C-286 / 02 Bellio, Slg. 2994, I-3465, Rn. 57 – 60. Rs. T-308 / 00 Salzgitter, Slg. 2004, II-1933.
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genau bestimmte Gruppe von Unternehmen trifft. Damit sei die Selektivität der Maßnahme gegeben. Insoweit berief sich das EuG auf das Urteil des EFTA-Gerichtshofs vom 20. Mai 1999 in der Rechtssache E-6 / 98 Norwegen / EFTA-Überwachungsbehörde25. In diesem Fall hatte der EFTA-Gerichtshof das norwegische Sozialversicherungssystem, welches das Land in fünf Zonen mit gestaffelten Sozialversicherungsbeiträgen einteilte, als regional abgestufte Maßnahme qualifiziert, welche das Kriterium der Selektivität erfülle26. Schließlich hat sich der EuGH im Urteil C-452 / 04 Fidium Finanz vom 3. Oktober 2006 bei der Feststellung, eine innerstaatliche Maßnahme, die sowohl den freien Dienstleistungsverkehr als auch den freien Kapitalverkehr betrifft, sei darauf zu prüfen, inwieweit sie die Ausübung dieser Grundfreiheiten berühe und ob unter den konkreten Umständen die eine stärker betroffen sei als die andere, auf das Urteil des EFTAGerichtshofs vom 14. Juli 2000 in der Rechtssache E-1 / 00 State Management Debt Agency / Islandsbanki-FBA27 berufen. Dort hatte der EFTA-Gerichtshof festgestellt, falls beide Grundfreiheiten berührt seien, müsse aufgrund eines Schwerpunkttests festgestellt werden, welche von beiden Anwendung finde. In der Rechtssache C-471 / 04 Keller Holding, die auf eine Vorlage des Bundesfinanzhofs zurückging, war über die steuerliche Nichtabzugsfähigkeit von Finanzierungsaufwendungen zu befinden, die in wirtschaftlichem Zusammenhang mit Dividenden von einer in Österreich ansässigen mittelbaren Tochtergesellschaft stehen. Für die Zeit vor 1995 war auch die Niederlassungsfreiheit des EWRA auszulegen. Unter Bezugnahme auf sein eigenes Urteil Bellio und das Urteil des EFTAGerichtshofs in der Rs. E-1 / 03 ESA v Iceland28 betonte der Rs. E-6 / 98 EFTA Court Report 1999, 74, Rn. 37. Rs. E-6 / 98 ESA v. Norway, EFTA Court Report 1999, 74. 27 EFTA Court Report 2000 – 2001, 8, Rn. 32. 28 Rs. E-1 / 03 EFTA Surveillance Authority v Iceland, 2003 EFTA Court Report, 143, Rn. 27. 25 26
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EuGH, dass beide Gerichtshöfe die „Notwendigkeit anerkannt [haben], darüber zu wachen, dass die Vorschriften des EWR-Abkommens, die im Wesentlichen mit denen des Vertrages identisch sind, einheitlich ausgelegt werden“29. Die gegenständliche deutsche Regelung verstieß im Ergebnis gegen den EG-Vertrag und das EWR-Abkommen. In der Rs. C-345 / 05 Kommission / Portugal wiederholte der EuGH seine Feststellung, wonach sowohl er selbst als auch der EFTAGerichtshof die Notwendigkeit der homogenen Auslegung betonen, verwies aber nur noch auf Keller Holding und nicht mehr auf Fallrecht des EFTA-Gerichtshofs30. b) Bezugnahme auf Rechtsprechung des EFTA-Gerichtshofs als weiterführender Hinweis Mitunter finden sich in der Rechtsprechung des EuGH auch Hinweise auf Fallrecht des EFTA-Gerichtshofs, die weniger den Charakter tragender Argumente haben, sondern eher als weiterführende Information einzustufen sind. Dass solche Zitate aber sehr wichtig sein können, zeigen die Fälle C-140 / 97 Rechberger und C-321 / 71 Andersson31, deren Fakten sich im Jahre 1994 – während der EWR / EFTA-Mitgliedschaft Österreichs und Schwedens – ereigneten. Der EuGH verneinte in seinem Rechberger-Urteil vom 15. Juli 1999 seine Zuständigkeit zur Entscheidung darüber, ob das Prinzip der Staatshaftung wegen Verstoßes gegen eine Richtlinie auch in EWR / EFTA-Staaten gelte. Er wies aber gleichzeitig auf die Sveinbjörnsdóttir-Rechtsprechung des EFTA-Gerichtshofs hin32. Auch in seinem Andersson-Urteil vom gleichen Tag stellte der EuGH fest, er sei nicht zur Entscheidung der Frage zuständig, ob das Prinzip der Staatshaftung auch in EWR / Rs. C-471 / 04 Keller Holding, Slg. 2006, I-2107, Rn. 48. Rs. C-345 / 05 Kommission / Portugal, Urteil vom 26. Oktober 2006, Rn. 40. 31 Slg. 1999, I-3499 und 1999, I-3551. 32 Unten, C II 2. 29 30
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EFTA-Staaten gelte. Er verzichtete aber auf einen weiterführenden Hinweis auf die in den EFTA-Staaten durch das Sveinbjörnsdóttir-Urteil des EFTA-Gerichtshofs geschaffene Rechtslage. Der Fall Rechberger wurde dem Vernehmen nach vor dem Landesgericht Linz dadurch erledigt, dass Schadenersatz im Rahmen eines Vergleichs bezahlt wurde. Im Fall Andersson erkannte das vorlegende Stockholms tingsraett auf Staatshaftung33. Das Appellationsgericht hob die Entscheidung auf, aber der Oberste Gerichtshof entschied am 26. November 2004, dass die Staatshaftung ein Teil des EWR-Rechts sei und sprach den Klägerinnen Schadenersatz zu34. Die Klägerinnen wären möglicherweise viel früher zu ihrem Recht gekommen, wenn der EuGH, wie in Rechberger, einen Hinweis auf die Staatshaftungsrechtsprechung des EFTA-Gerichtshofs gegeben hätte35. Ein weiteres Beispiel eines weiterführenden Hinweises findet sich im Urteil in der Rechtssache C-434 / 04 Jan-Erik Anders Ahokainen und Mati Leppik vom 28. September 2006. Zur Untermauerung seiner Feststellung, dass Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates, nach denen unvergällter Äthylalkohol über 80 Vol.-% nur eingeführt werden darf, wenn hierfür eine Erlaubnis erteilt worden ist, grundsätzlich gegen Artikel 28 EG verstoßen, berief sich der EuGH außer auf seine eigene ständige Rechtsprechung auf das Urteil des EFTA-Gerichtshofes in der Rechtssache E-1 / 94 Restamark36.
Urteil Nr. T 6 – 17 – 97. Urteil T-2595 / 01; dazu Martin Johansson, State liability within the EEA from a Swedish perspective – Sveinbjörnsdóttir confirmed, ELR 30 (2005), 50 ff. 35 Die Gründe für diese Unterlassung sind unbekannt. Man wird aber nicht übersehen, dass die Zusammensetzung des EuGH in beiden Fällen unterschiedlich war. Der schwedische Richter Hans Ragnemalm saß in der Rechtssache Andersson, nicht aber in der Rechtssache Rechberger. Der Italiener Federico Mancini saß in der Rechtssache Rechberger, nicht aber in der Rechtssache Andersson. 36 1994 – 1995 EFTA Court Report, 15, Rn. 49 und 50: vgl. Rn. 20 des Urteils des EuGH. 33 34
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c) Überdenken der Rechtsprechung des EuGH im Lichte der Rechtsprechung des EFTA-Gerichtshofs Darauf, dass sich der EuGH in der Rechtssache C-13 / 95 Süzen dem Urteil des EFTA-Gerichtshofs in der Rechtssache E-2 / 96 Ulstein und Røisen angeschlossen hat, wonach die Auftragsnachfolge, d. h. die Ersetzung eines unabhängigen Dienstleistungserbringers durch einen anderen, grundsätzlich keinen Betriebsübergang im Sinne der Betriebsübergangsrichtlinie darstellt, wurde bereits hingewiesen37. Der EuGH hatte zuvor den Begriff des Betriebsübergangs extensiv ausgelegt. Höhepunkt dieser Entwicklung war das Urteil in der Rechtssache C-392 / 92 Christel Schmidt, in dem der EuGH die sog. Funktionsnachfolge, d. h. das Outsourcen einer Tätigkeit ohne Übertragung von Vermögensgegenständen (in casu: Reinigung einer Sparkasse), als Betriebsübergang qualifiziert hatte38. In der Literatur ist das Süzen-Urteil des EuGH treffend als stiller Abschied von Christel Schmidt bezeichnet worden39. Man darf daher feststellen, dass der EuGH seine Rechtsprechung im Lichte der Praxis des EFTA-Gerichtshofs neu formuliert hat. In der bereits genannten Rechtssache C-192 / 01 Kommission / Dänemark stellte sich die dänische Regierung unter Berufung auf das Urteil des EuGH in der Rechtssache 174 / 82 Sandoz von 1983 auf den Standpunkt, sie brauche bloß nachzuweisen, dass die Fortifizierung von Lebensmitteln keinem echten Bedürfnis entspricht, um sich auf Art. 30 EG berufen zu können. In Sandoz hatte der EuGH entschieden, ein nationales Verbot des Vertriebs von Lebensmitteln, denen Vitamine zugesetzt worden waren, sei nur gerechtfertigt, sofern die Genehmigung erteilt werde, wenn sich dies mit den Erfordernissen des Gesundheitsschutzes vereinbaren lasse. Unter VerhältOben, B II 1. Rs. 392 / 92, Slg. 1994, I-1311. 39 Vgl. Franz Marhold, Der leise Abschied von Christel Schmidt, St. Galler Europarechtsbriefe EU B 1997, 162 ff. 37 38
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nismäßigkeitsgesichtspunkten müssten die Mitgliedstaaten das Inverkehrbringen gestatten, „wenn der Zusatz von Vitaminen einem echten Bedürfnis, insbesondere im Hinblick auf Technologie oder Ernährung, entspricht“40. Eine Regelung, nach der die Genehmigung des Inverkehrbringens vom Nachweis der Unschädlichkeit des Erzeugnisses für die Gesundheit durch den Importeur abhängt, sei mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar. Im Verfahren gegen Dänemark teilte der EuGH die Auffassung der Kommission, die unter Bezugnahme auf EFTA-Gerichtshof Kellogg’s vorgetragen hatte, die bloße Feststellung, dass kein Ernährungsbedürfnis vorliege, genüge nicht, um ein allgemeines Verbot des Inverkehrbringens fortifizierter Lebensmittel zu begründen41. Im Jahr 1999 hatte der EFTA-Gerichtshof in der Rechtssache E-1 / 99 Finanger über folgenden Fall zu befinden: Die Norwegerin Veronika Finanger war als Beifahrerin eines alkoholisieren Autofahrers bei einem Unfall schwer verletzt worden und ist deswegen schwer behindert. Die Versicherung des Fahrers lehnte eine Zahlung unter Berufung auf Art. 7, Abs. 3 lit. b des norwegischen Automobilhaftpflichtgesetzes ab. Die Vorschrift bestimmte, dass ein Beifahrer, der freiwillig in dem vom betrunkenen Fahrer geführten Fahrzeug mitfuhr und den Zustand des Fahrers kannte oder hätte kennen müssen, außer bei Vorliegen besonderer Gründe, keinen Anspruch auf Schadenersatz hatte42. Die Versicherungsgesellschaft argumentierte, unterstützt von den Regierungen Islands und Norwegens, man müsse zwischen den Voraussetzungen der Haftung und der Versicherungsdeckung unterscheiden. Die Richtlinien beträfen nur Situationen, in denen der Anspruch auf Schadenersatz nach nationalem Recht bereits besteht. Der EFTA-Gerichtshof räumte ein, dass dieses Argument scheinbar durch die Namen der Richtlinien und den Text ihrer Vorschriften unterstützt werde. Eine genauere Analyse führe aber zum 40 41 42
Rs. C-174 / 82, Slg. 1983, 2445, Rn. 19, a.E. A.a.o., Rn. 54 und 25. Rs. E-1 / 99 Finanger, 1999 EFTA Court Report, 119.
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Schluss, dass die Richtlinien den zwingenden Grundsatz verwirklicht hätten, dass eine Dritt-Versicherung im gesamten EWR gegen Bezahlung einer einzigen Prämie bestehen müsse. Die Unterscheidung zwischen Bestimmungen betreffend die persönliche Haftung und die Deckung dieser Haftung durch Versicherung könne nicht entscheidend sein. Im Blick auf das Ziel der Richtlinien, Opfern von Verkehrsunfällen eine vergleichbare Behandlung zu garantieren, unabhängig davon, wo im EWR sich der Unfall ereignet, führte der EFTA-Gerichtshof aus, dass Insassen in den meisten EWR-Abkommensparteien volle Versicherungsdeckung genießen, auch wenn der Fahrer betrunken war. In diesen Staaten kämen Insassen in den Genuss einer signifikant besseren Behandlung als in Norwegen. Diese Diskrepanz sei geeignet, das Erreichen des Ziels der Richtlinien zu gefährden und zu einer Verzerrung des Wettbewerbs zwischen den Versicherern in verschiedenen Abkommensstaaten zu führen, die mit dem Ziel der Verwirklichung eines homogenen Europäischen Wirtschaftsraums unvereinbar sei. Nachdem der EFTA-Gerichtshof seine Vorabentscheidung in der Rechtssache Finanger verkündet hatte, aber vor der mündlichen Verhandlung vor dem norwegischen Obersten Gerichtshof, erließ der EuGH am 14. September 2000 sein Urteil im Fall C-348 / 98 Ferreira43. Er führte aus, die Motorfahrzeugversicherungsrichtlinien wollten nicht das Haftpflichtrecht der Mitgliedstaaten harmonisieren, sie enthielten keine Bestimmungen zur Art der zivilrechtlichen Haftung (Gefährdungs- oder Verschuldenshaftung). Vielmehr seien die Mitgliedstaaten grundsätzlich bei der Regelung der Haftpflicht bei Verkehrsunfällen mit Kraftfahrzeugen frei. Die beklagte Versicherungsgesellschaft argumentierte, Ferreira stehe im Widerspruch zum Finanger-Urteil des EFTA-Gerichtshofs, und forderte den Obersten Gerichtshof auf, sich an Ferreira zu orientieren. Der Oberste Gerichtshof unterschied die beiden Fälle und folgte Finanger44. Trotzdem hielt sich (nicht nur) in 43
Slg. 2000, I-6711.
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norwegischen Juristenkreisen der Eindruck, dass der EuGH in Ferreira einen anderen Ansatz vertreten hatte als der EFTA-Gerichtshof in Finanger45. In seinem Urteil vom 30. Juni 2005 in der Rechtssache C-537 / 03 Candolin46 hat der EuGH nun alle Unklarheiten beseitigt, indem er sich auf den gleichen Standpunkt stellte wie der EFTA-Gerichtshof in Finanger. Die Fakten und die finnische Rechtslage glichen weitestgehend denen von EFTA-Gerichtshof Finanger. Der EuGH stellte fest, dass den Geschädigten unabhängig davon, an welchem Ort in der Gemeinschaft sich der Unfall ereignet, eine vergleichbare Behandlung garantiert werden soll47. Dass Unfallopfer in Anbetracht der von ihnen geschaffenen Situation vom Versicherer nicht entschädigt zu werden brauchten, müsse die Ausnahme sein. Jede andere Auslegung würde es den Mitgliedstaaten gestatten, die Entschädigung von Dritten, die Opfer eines Verkehrsunfalls sind, auf bestimmte Umstände zu beschränken. Das wollten die Richtlinien gerade verhindern. Der EuGH kam deshalb zum Schluss, dass der Schadenersatz seinem Umfang nach nur unter aussergewöhnlichen Umständen aufgrund einer Einzelfallbeurteilung begrenzt werden dürfe. Eine Regelung wie die in Frage stehenden sei deshalb mit den Richtlinien nicht vereinbar. Unter Gesichtspunkten des judiziellen Dialogs ist auf Zweierlei hinzuweisen: (1) Generalanwalt Geelhoed berief sich in seinen Schlussanträgen mehrfach auf das Finanger-Urteil des EFTA-Gerichtshofs48. Der EuGH bezog sich auf den Generalanwalt, der zu Recht ausgeführt habe, es dürfe den Mitgliedstaaten nicht gestattet werden, die Entschädigung von Dritten, die Opfer eines Verkehrsunfalls geworden sind, auf 44 Vgl. Henrik Bull, European Law and Norwegian Courts, in: MüllerGraff / Selvig (Hrsg.), The Approach to European Law in Germany and Norway, Berlin 2004, 95 ff. 45 Vgl. dazu auch Martin Johansson, „Finanger-follow up“ of the EFTA Court, ELR 26 (2001), 399 ff. 46 Rs. C-537 / 03 Candolin u. a., Slg. 2005, I-5745. 47 A. a. O., Rn. 17. 48 Vgl. Fußnoten 14, 15, 17.
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bestimmte Umstände zu beschränken49. Auf einen Hinweis auf das Finanger-Urteil des EFTA-Gerichtshofs verzichtete er. Der Generalanwalt hatte aber in den fraglichen Erörterungen seinerseits auf entsprechende Ausführungen des EFTA-Gerichtshofs hingewiesen50. (2) Generalanwalt Geelhoed betonte zwar, dass das Besteigen eines Fahrzeugs im Wissen, dass während der Fahrt die Grenzen des üblichen Schadensrisikos erheblich überschritten werden, als Form des Mitverschuldens zu betrachten sei, was zu einer Beschränkung des Schadenersatzes führen könne51. Er äußerte sich aber nicht zur Frage, welcher Maßstab bei dieser Herabsetzung anzulegen ist. Der EFTA-Gerichtshof hatte in seinem Finanger-Urteil festgestellt, eine Herabsetzung wegen Mitverschuldens müsse innerhalb der Schranken, welche aus den in den Richtlinien niedergelegten Prinzipien folgen, möglich sein. Dabei sei der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Der EuGH tat es ihm in Candolin gleich. Angesichts dieser Umstände wäre eine Bezugnahme auf das Finanger-Urteil des EFTA-Gerichtshofs denkbar gewesen. d) Fazit Die vorstehenden Ausführungen zeigen, dass der EuGH die Rechtsprechung des EFTA-Gerichtshofs dann als Inspirationsquelle heranzieht, wenn dieser eine Rechtsfrage als erster EWR-Gerichtshof entschieden hat und wenn er mit dem Urteil des EFTA-Gerichtshofs in Resultat und Begründung übereinstimmt. In solchen Fällen ist der EuGH sogar bereit, seine bisherige Rechtsprechung im Lichte der Spruchpraxis des EFTA-Gerichtshofs zu überdenken und zu ändern. Eine Bezugnahme auf den EFTA-Gerichtshof scheint hingegen zu unterbleiben, wenn der EuGH mit der Rechtsprechung des Letzteren in Resultat und / oder der Begründung nicht einver49 50 51
Rn. 22. Fußnoten 14 und 15. Pkte. 50 – 52.
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standen ist52. Das heißt, dass der EuGH eine dialektische Auseinandersetzung mit der Auffassung des EFTA-Gerichtshofs vermeidet. Ein zweites Merkmal ist charakteristisch für den judiziellen Dialog EuGH – EFTA-Gerichtshof: Der EuGH bezieht sich dort, wo ein tragendes Argument in Frage steht, grundsätzlich im ersten Fall auf den EFTA-Gerichtshof. In späteren Fällen beschränkt er sich auf die Wiedergabe seiner eigenen Rechtsprechung (die in der Sache ebenfalls auf der des EFTA-Gerichtshofs fußt). Das hat sich etwa in den Folgefällen zu Süzen oder zu Kommission / Dänemark gezeigt53. Der „Anspruch“ des EFTA-Gerichtshof, zitiert zu werden, ist also gewissermaßen mit dem ersten Zitat erschöpft. Gleiches gilt offenbar für die Betonung der Notwendigkeit homogener Auslegung in Kooperation mit dem EFTA-Gerichtshof in Fällen, in denen sowohl der EG-Vertrag wie das EWR-Abkommen Anwendung finden. Wie bereits gesagt, zitiert der EuGH in der Rs. 345 / 05 Kommission / Portugal nur noch sein eigenes Urteil in Keller Holding (das seinerseits auf ein Urteil des EFTA-Gerichtshofs verweist)54. In der neuesten Rechtsprechung wird auf einen Hinweis auf die Wichtigkeit der Homogenität ganz verzichtet55. Was den Dialog mit dem EuG an52 Parallelfälle, in denen der EuGH eine andere Argumentationslinie als der EFTA-Gerichtshof gewählt und auf eine entsprechende Auseinandersetzung verzichtet sind: Rs. C-189 / 95 Franzén, Slg. 1997, I-5909, und E-6 / 96 Wilhelmsen, 1997 EFTA Court Report, 53; Rs. C-348 / 98 Ferreira, Slg. 2000, I-6711, und E-1 / 99 Finanger, 1999 EFTA Court Report, 119; in der Tendenz wohl auch Rs. C-374 / 04 Test Claimants, Urteil vom 12. Dezember 2006, noch nicht in amtl. Slg., und C-170 / 05 Denkavit, Urteil vom 14. Dezember 2006, noch nicht in amtl. Slg., auf der einen und E-1 / 04 Fokus Bank, 2004 EFTA Court Report, 11, auf der anderen Seite. 53 Vgl. z. B. Rs. C-340 / 01 Abler u. a., Slg. 2003, I-14023; verb. Rs. C-232 / 04 und C-233 / 04 Güney-Görres, Slg. 2005, I-11237, zum Begriff des Betriebsübergangs; Rs. C-24 / 00 Kommission / Frankreich, Slg. 2004, I-1277, und Rs. C-95 / 01 Greenham und Abel, Slg. 2004, I-1333, zur Anwendung des Vorsorgeprinzips beim Vertrieb fortifizierter Lebensmittel. 54 Oben, B II 1. 55 Rs. 104 / 06 Kommission / Schweden, Urteil vom 18. Januar 2007, noch nicht in amtl. Slg.
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langt, so gibt es bisher zu wenig einschlägige Fälle, als dass eine „policy“ erkennbar wäre. Immerhin darf zweierlei nicht übersehen werden: Es war das EuG, das den judiziellen Dialog mit dem EFTA-Gerichtshof im Fall T-115 / 94 Opel Austria56 eröffnete57, und das EuG hat damit dem EFTA-Gerichtshof in der Auseinandersetzung über die Frage, ob die sog. Verfassungsprinzipien des Gemeinschaftsrechts Teil des EWR-Rechts sind, den Rücken gestärkt58.
3. Das Verhältnis des EFTA-Gerichtshofs zu den Generalanwälten am EuGH a) Bezugnahme von Generalanwälten auf Rechtsprechung des EFTA-Gerichtshofs Auch bestimmte Generalanwälte am EuGH beteiligen sich am judiziellen Dialog mit dem EFTA-Gerichtshof. Als tragendes Argument wurde die Rechtsprechung des Letzteren herangezogen von Generalanwalt Jacobs bei der Feststellung des Anwendungsbereichs des Sendestaatsprinzips nach der Fernsehrichtlinie59, von GA Elmer bei der Beurteilung der Vereinbarkeit der schwedischen Gesetzgebung betreffend den Einzelhandelsverkauf von Alkohol mit den Warenfreiverkehrsvorschriften60, von GA Mischo und GA Poiares Maduro bei der Umschreibung der Anwendungsvoraussetzungen des VorRs. T-115 / 94 Opel Austria, Slg. 1997, II-39. So zu Recht EuG-Präsident Bo Vesterdorf, EFTA Court 10th Anniversary, in: Baudenbacher / Tresselt / Örlygsson (Hrsg.), The EFTA Court Ten Years On, Oxford and Portland Oregon 2005, 187 ff., 188. 58 Vgl. dazu unten, C III. 59 Schlussanträge von GA Jacobs in verb. Rs. C-34 / 95 und C-36 / 95 De Agostini / TV-Shop i Sverige, Slg. 1997, I-3843, Pkt. 21, 46, 63: Hinweise auf verb. Rs. E-8 / 94 und E-9 / 94 Mattel Scandinavia / Lego Norge, 1994 – 1995 EFTA Court Report, 113. 60 Schlussanträge von GA Elmer in Rs. C-189 / 95 Franzén, Slg. 1997, I-05909, Pkt. 3: Hinweis auf Rs. E-1 / 94 Restamark, 1994 – 1995 EFTA Court Report, 15. 56 57
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sorgeprinzips bei der Vermarktung fortifizierter Lebensmittel61, von GA Alber bei der Umschreibung der Anwendungsvoraussetzungen des Vorsorgeprinzips bei der Freisetzung von GMO62, von GA Geelhoed bei der Feststellung, dass die Vorschriften betreffend die Kapitalverkehrsfreiheit im EWRAbkommen Direktwirkung entfalten63, von GA Poiares Maduro bei der Beurteilung der Übertragung des Eigentums an Vermögensgegenständen nach der Betriebsübergangsrichtlinie64, von GA Geelhoed bei der Auslegung der Motorfahrzeugversicherungsrichtlinien65, von GA Sharpston bei der markenrechtlichen Beurteilung bestimmter Modalitäten des Umpackens von Pharmazeutika66 und von GA Mengozzi bei der Frage, ob bestimmte Modalitäten des schwedischen Monopols für den Einzelhandelsverkauf von Alkohol unter Art. 28 oder unter Art. 31 EG fallen67. Eher im Sinne eines 61 Schlussanträge von GA Mischo in Rs. C-95 / 01 Greenham und Abel, Slg. 2004, I-1333, Pkte. 44, 53 / 55, und in Rs. C-192 / 01 Kommission / Dänemark, Slg. 2003, I-9693, Pkte. 81, 85, 87, 100, 125 – 128: Hinweise auf Rs. E-3 / 00 Kellogg’s, 2000 – 2001 EFTA Court Report, 73; Schlussanträge von GA Poiares Maduro in Rs. 41 / 02 Kommission / Niederlande, Slg. 2004, I-11375, Pkt. 28; Hinweis auf Rs. E-3 / 00 Kellogg’s, 2000 – 2001 EFTA Court Report, 73. 62 Schlussanträge von GA Alber in Rs. C-236 / 01 Monsanto, Slg. 2003, I-8105, Pkte. 137 und 138: Hinweise auf Rs. E-3 / 00 Kellogg’s, 2000 – 2001 EFTA Court Report, 73. 63 Schlussanträge von GA Geelhoed in Rs. C-452 / 01 Ospelt, Slg. 2003, I-9743, Pkt. 73: Hinweis auf Rs. E-1 / 00 Íslandsbanki, 2000 – 2001 EFTA Court Report, 8. 64 Schlussanträge von GA Poiares Maduro, Verb. Rs. C-232 / 04 und C-233 / 04 Güney-Görres, Slg. 2005, I-11237, Pkt. 15: Hinweis auf Rs. E-2 / 04 Rasmussen, 2004 EFTA Court Report, 57. 65 Schlussanträge von GA Geelhoed in Rs. C-537 / 03 Candolin, Slg. 2005, I-5745, Pkte. 42 und 51: Hinweise auf Rs. E-1 / 99 Finanger, 1999 EFTA Court Report, 119. 66 Schlussanträge von GA Sharpston in Rs. C-348 / 04 Boehringer Ingelheim II vom 6. April 2006, noch nicht in amtl. Slg., Pkte. 49 – 55: Hinweise auf Rs. E-3 / 02 Merck v Paranova, 2003 EFTA Court Report, 101. 67 Schlussanträge von GA Mengozzi in Rs. C-170 / 04 Rosengren vom 30. November 2006, noch nicht in amtl. Slg., 42, 52 – 56.
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weiterführenden Hinweises wurde die Rechtsprechung des EFTA-Gerichtshofs zitiert von GA Lenz in einem Fall betreffend die Auslegung der Fernsehrichtlinie68, von GA Poiares Maduro in einem Fall betreffend die Vereinbarkeit eines staatlichen Alkoholmonopols mit der Warenverkehrsfreiheit69, von GA Jacobs bei der Feststellung, dass eine Staatsgarantie für öffentliche Unternehmen als Beihilfe zu qualifizieren ist70, von GA Poiares Maduro bei der Beurteilung positiver Diskriminierung nach der Gleichbehandlungsrichtlinie71. Immerhin ist darauf hinzuweisen, dass nicht alle Generalanwälte am Dialog mit dem EFTA-Gerichtshof teilnehmen72. Im Gegensatz zum EuGH setzen sich gewisse Generalanwälte mit der Rechtsprechung des EFTA-Gerichtshofs inhaltlich auseinander. In seinen Schlussanträgen in den verbundenen Rechtssachen C-34 / 95, C-35 / 95 und C-36 / 95 De Agostini / TV-Shop i Sverige AB vom 17. September 1996 stimmte Generalanwalt Jacobs dem Urteil des EFTA-Gerichtshofs in den verbundenen Rechtssachen E-8 / 94 und E-9 / 94 Mattel Scandinavia / Lego Norge73 mit Bezug auf die Feststellung zu, dass das der Fernsehrichtlinie 89 / 552 / EWG74 zugrunde liegende Sendestaatsprinzip die Hauptver68 Schlussanträge von GA Lenz in Rs. C-222 / 94 Kommission / Vereinigtes Königreich, Slg. 1996, I-4025, Pkt. 3 Fn. 4: Hinweis auf Verb. Rs. E-8 / 94 und E-9 / 94 Mattel Scandinavia / Lego Norge, 1994 / 1995 EFTA Court Report, 113, Rn. 22. 69 Schlussanträge von GA Poiares Maduro in Rs. C-434 / 04, Ahokainen und Leppik vom 13. Juli 2006, noch nicht in amtl. Slg.: Hinweise auf Rs. E-1 / 94 Restamark, 1994 – 1995 EFTA Court Report, 15. 70 Rs. C-126 / 01 GEMO, 2003 ECR, I-13769, in Fn. 64, 77: Hinweise auf Rs. E-4 / 97 Husbanken II, EFTA Court Report 1999, 1. 71 Schlussanträge von GA Poiares Maduro in Rs. C-319 / 03 Briheche, Slg. 2004, I-8807, Pkte. 34, 36 und 40: Hinweise auf Rs. E-1 / 02 EFTA University of Oslo, 2003 EFTA Court Report, 1. 72 Vgl. z. B. die Schlussanträge von GA Cosmas in Rs. C-321 / 71 Andersson, Slg. 1999. I-3551 und von GA Léger in Rs. C-172 / 99 Oy Liikenne, Slg. 2001 ECR, I-745. 73 Verb. Rs. E-9 / 94, Mattel Scandinavial / Lego Norge, a. a. O., Rn. 26 ff., 49.
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antwortlichkeit für die Regulierung der Aktivitäten von Fernsehveranstaltern dem Sendestaat übertragen habe75. Hingegen lehnte er die vom EFTA-Gerichtshof vertetene Auffassung ab, dass die TV-Richtlinie ggf. Maßnahmen des Empfangsstaates gestützt auf die Richtlinie über irreführende Werbung nicht ausschließe76. Wie bereits ausgeführt, folgte der EuGH dem EFTA-Gerichtshof auf der ganzen Linie77. In der Rechtssache C-355 / 95 Silhouette, in der es um die Frage ging, ob die Mitgliedstaaten nach dem Erlass der Ersten Markenrechtsrichtlinie das Recht haben, die internationale Erschöpfung des Markenrechts vorzusehen, setzte sich GA Jacobs mit dem Urteil des EFTA-Gerichtshofs vom 3. Dezember 1997 im Fall E-2 / 97 Maglite auseinander. Der EFTA-Gerichtshof hatte die Frage für die EWR / EFTA-Staaten positiv beantwortet und dabei auf die positiven Auswirkungen der internationalen Erschöpfung auf den Freihandel und den Wettbewerb und damit auch für die Konsumenten verwiesen78. GA Jacobs bezeichnete die Auffassung, die internationale Erschöpfung habe positive Wirkungen auf den Freihandel, den Wettbewerb und für die Konsumenten, als „extremely attractive“, empfahl dem EuGH aber, im Blick auf das gute Funktionieren des Binnenmarktes zu urteilen, dass den EG-Mitgliedstaaten das Praktizieren der internationalen Erschöpfung untersagt sei. Der EuGH entschied, die Richtlinie belasse den Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit, im innerstaatlichen Recht die internationale Erschöpfung vorzusehen. Diese Auslegung lasse als einzige „die Verwirklichung des Zweckes der Richtlinie, das 74 ABl. 1989 L 298 / 23, inzwischen geändert durch Richtlinie 97 / 36 / EG, ABl. 1997 Nr. L 202, 60. Die Richtlinie ist gemäß Art. 36 Abs. 2 EWRA i.V.m. Anhang X Punkt 1 in das EWR-Abkommen integriert worden. 75 Slg. 1997, I-3843, Pkt. 21, 46, 63. 76 Slg. 1997, I-3843, Pkt. 85 f. 77 Slg. 1997, I-3843, Rn. 37. 78 Rs. E-2 / 97 Maglite, EFTA Court Report 1997, 127. – Die Richtlinie ist gemäß Art. 65 Abs. 2 und Anhang XVII Punkt 4.c. Teil des EWRRechts.
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Funktionieren des Binnenmarktes zu schützen, in vollem Umfang“ zu. Denn wenn einige Mitgliedstaaten die internationale, andere lediglich die regionale Erschöpfung vorsehen würden, ergäben sich „unvermeidlich Behinderungen des freien Waren- und Dienstleistungsverkehrs“79. Ein Rechtsprechungskonflikt war gleichwohl nicht gegeben, da, wie GA Jacobs zutreffend bemerkte, Maglite und Silhouette sowohl von den Tatsachen her als auch mit Bezug auf die Rechtslage zu unterscheiden waren80. In der Rechtssache C-192 / 01 Kommission / Dänemark suchte Generalanwalt Mischo in seinen Schlussanträgen vom 12. Dezember 2002 eine Art Mittelweg zwischen EuGH Sandoz und EFTA-Gerichtshof Kellogg’s und schlug gestützt darauf die Abweisung der Klage der Kommission vor81. Die dänische Regierung stehe auf dem Standpunkt des Sandoz- Urteils des EuGH, während die Kommission sich auf das Kellogg’s-Urteil des EFTA-Gerichtshofs berufe. Mischo selbst vertrat die Meinung, das SandozUrteil des EuGH sei als früher Anwendungsfall des Vorsorgeprinzips anzusehen. Die Kellogg’s-Entscheidung des EFTAGerichtshofs erkläre sich zum einen aus dem Umstand, dass sich Norwegen inkonsequent verhalten habe, was für Dänemark nicht zutreffe. Zum anderen habe Norwegen in der Verwaltungsphase keine umfassende Risikobewertung vorgenommen. Im vorliegenden Fall sei aber davon auszugehen, dass das Ernährungsbedürfnis entweder als Kriterium für das Risikomanagement oder zumindest als „berücksichtigungswerter Faktor“ angesehen werden könne82. Der EuGH folgte seinem Generalanwalt bekanntlich nicht. Die vorläufig letzten BeiSlg. 1998, I-4799, Rn. 27. Slg. 1998 I-4799, Pkt. 43; vgl. auch John Forman, The EFTA Court Five Years On: Dynamic Homogeneity in Practice and its Implementation by the Two EEA Courts, CMLR 1999, 751 f., 774. 81 Schlussanträge von GA Mischo in Rs. C-192 / 01 Kommission / Dänemark, Slg. 2003, I-9693, Pkte. 26, 79 ff., 125 ff.; im gleichen Sinn die Schlussanträge von GA Mischo in Rs C-95 / 01 Greenham und Abel, Slg. 2002, I-1333, Pkte. 44, 53 ff. 82 Pkte. 108 ff. 79 80
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spiele dialektischer Auseinandersetzung eines Generalanwalts mit Rechtsprechung des EFTA-Gerichtshofs sind die Schlussanträge in den Rechtssachen C-374 / 04 Test Claimants und C-170 / 05 Denkavit. GA Geelhoed empfahl dem EuGH, dem Urteil des EFTA-Gerichtshofs in der Rechtssache E-1 / 04 Fokus Bank83 nicht zu folgen. Es ging im Wesentlichen um die Frage, ob eine in einem Mitgliedstaat geltende Steuerregelung, welche sich auf die grenzüberschreitende Tätigkeit von Unternehmen beschränkend auswirkt, durch die Gewährung steuerlicher Vorteile in einem zweiten Mitgliedstaat aufgrund eines Doppelbesteuerungsabkommens kompensiert werden könne84. Der Generalanwalt schlug vor, dass die Wirkungen von Doppelbesteuerungsabkommen bei dieser Beurteilung aus zwei Gründen berücksichtigt werden sollten. Erstens seien die Mitgliedstaaten frei, nicht nur die Besteuerungskompetenz, sondern auch den Vorrang bei der Besteuerung unter sich aufzuteilen. Und zweitens würde die Nichtberücksichtigung der Wirkungen von Doppelbesteuerungsabkommen die wirtschaftliche Realität der Tätigkeit des Steuersubjekts und seine Anreize in einem grenzüberschreitenden Zusammenhang ignorieren, was die wahren Auswirkungen der Kombination der Verpflichtungen im Wohnsitzstaat und im Quellenstaat des Steuerpflichtigen verzerren würde. Der EFTA-Gerichtshof hatte in der Rechtssache E-1 / 04 Fokus Bank die norwegische Regelung, die Aktionären mit Wohnsitz in Norwegen eine Steuergutschrift mit der Wirkung gewährte, dass die Dividenden nur bei der Gesellschaft besteuert wurde, während Aktionären ohne Wohnsitz in Norwegen diese Steuergutschrift nicht zuteil wurde, als mit der Kapitalverkehrsfreiheit unvereinbar erklärt. Er war der Auffassung, dass Aktionäre mit und ohne Wohnsitz in Norwegen in einer objektiv vergleichbaren Lage waren und bezog sich insoweit auf das Urteil des EuGH in der Rechtssache C-319 / 02 Manninen85. Eine Rs. E-1 / 04 Fokus Bank, 2004 EFTA Court Report, 11. Schlussanträge von GA Geelhoed in Rs. C-374 / 04 Test Claimants, vom 23. Februar 2006, noch nicht amtl. in Slg., Pkt. 71, und in Rs. C-170 / 05 Denkavit, vom 27. April 2006, noch nicht in Slg., Pkt. 39. 83 84
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Rechtfertigung aus Gründen der Gewährleistung der Kohärenz des internationalen Steuersystems lehnte der EFTA-Gerichtshof mit der Begründung ab, das liefe darauf hinaus, dass bilaterale Steuerabkommen Vorrang vor dem EWR-Recht hätten. Der EFTA-Gerichtshof ließ auch keine Rechtfertigung der als Diskriminierung zu wertenden norwegischen Gesetzgebung durch einen allfälligen, auf Doppelbesteuerungsabkommen basierenden Ausgleich im Wohnsitzstaat des Aktionärs zu. Der EuGH entschied wohl in der Tendenz entsprechend den Schlussanträgen86. b) Bezugnahme des EFTA-Gerichtshofs auf Schlussanträge von Generalanwälten Umgekehrt hat sich der EFTA-Gerichtshof, der ohne eigenen Generalanwalt auskommen muss, in bestimmten Fällen auf Schlussanträge von Generalanwälten am EuGH bezogen. Eine erste Fallgruppe ist dadurch charakterisiert, dass es keine klare Rechtsprechung des EuGH gibt, auf die sich der EFTAGerichtshof stützen könnte. Anwendungsfälle sind die Bezugnahmen auf die Schlussanträge von GA Jacobs in Rs. C-99 / 98 Österreich / Kommission in den verbundenen Rechtssachen E-5 / 04, E-6 / 04 und E-7 / 04 Fesil and Finnfjord and Others / EFTA Surveillance Authority87 hinsichtlich der Anwendung der Verordnung des Rates Nr. 659 / 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 93 des EG-Vertrags (BeihilfeverfahrensVO)88 und auf die Schlussanträge von Generalanwalt Alber in Rs. C-35 / 97 Kommission / Frankreich in Rs. C-319 / 02 Manninen, Slg. 2004, I-7477, Rn. 35 – 37. Rs. C-374 / 04 Test Claimants, Urteil vom 12. Dezember 2006, noch nicht amtl. in Slg., und C-170 / 05 Denkavit, Urteil vom 14. Dezember 2006, noch nicht in amtl. Slg., 87 2005 EFTA Court Report, 117, Rn. 123. 88 Bezugnahme auf die Schlussanträge von GA Jacobs in der Rs. C-99 / 98 Österreich / Kommission, Slg. 2001, I-1101, in verb. Rs. E-5 / 04, E-6 / 04 and E-7 / 04 Fesil und Finnfjord, 2005 EFTA Court Report, 117, Rn. 123. 85 86
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der Rechtssache E-3 / 05 EFTA Surveillance Authority / Norwegen betreffend das Verhältnis der Verordnung des Rates Nr. 1408 / 71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, zur VO des Rates Nr. 1612 / 68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft89. In einer zweiten Konstellation erfolgt der Hinweis auf Schlussanträge als zusätzliches Argument. In der Rechtssache E-1 / 04 Fokus Bank hat der EFTA-Gerichtshof die Grundsatzfrage, ob die Bestimmungen des EWR-Abkommens zum freien Kapitalverkehr nach der Änderung der Parallelvorschriften im EG-Vertrag durch den Vertrag von Maastricht mit den letzteren inhaltlich identisch sind, im Grundsatz positiv beantwortet. Er bezog sich dabei nicht nur auf das Urteil des EuGH in der Rechtssache C-452 / 02 Ospelt, sondern auch auf die Schlussanträge von Generalanwalt Geelhoed in diesem Fall90. In der Rechtssache E-1 / 02 University of Oslo entschied der EFTA-Gerichtshof, dass positive Diskriminierung durch das Reservieren einer bestimmten Anzahl akademischer Positionen für Frauen gegen den in der Gleichbehandlungsrichtlinie niedergelegten Grundsatz der Gleichbehandlung verstößt. In seinem Urteil vom 24. Januar 2003 zeichnete er zunächst die Entwicklung der Rechtsprechung des EuGH nach und zitierte mit den Schlussanträgen der Generalanwälte Tesauro in der Rechtssache C-450 / 93 Kalanke und Saggio in der Rechtssache C-158 / 97 Badeck91 zwei Eckpunkte dieser Entwicklung92. 89 Bezugnahme auf die Schlussanträge von GA Alber in der Rs. C-35 / 97 Kommission / Frankreich, Slg. 1998, I-5325, in Rs. E-3 / 05 EFTA Surveillance Authority v Norway, 2006 EFTA Court Report, 101 Rn. 63. 90 Bezugnahme auf die Schlussanträge von GA Geelhoed in der Rs. C-452 / 01 Ospelt, Slg. 2003, I-9743, in Rs. E-1 / 04 Fokus Bank, 2004 EFTA Court Report, 11, Rn. 23. 91 Bezugnahme auf die Schlussanträge von GA Tesauro in der Rs. C-450 / 93 Kalanke, Slg. 1996, I-3051, und von GA Saggio in der Rs. C-158 / 97 Badeck, Slg. 2000, I-1875, in Rs. E-1 / 02 University of Oslo, 2003 EFTA Court Report, 1, Rn. 37 und 40.
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Zu einer dritten Fallreihe gehören zwei Grundsatzurteile, in denen der EFTA-Gerichtshof auf Schlussanträge von Generalanwalt Jacobs Bezug genommen hat, welche auf einer anderen Linie liegen als die entsprechenden Entscheidungen des EuGH. Im ersten Fall, der Rechtssache E-8 / 00 Landsorganisasjonen v Kommunenes Sentralforbund (LO)93, ging es um die Frage, wie weit die Immunität von Tarifverträgen vor dem europäischen Kartellrecht reicht. Aufgrund eines Tarifvertrags hatten alle norwegischen Gemeinden ihre Pensionsversicherungen bei ein und derselben Versicherungsgesellschaft, der Kommunal Landspensjonskasse (KLP), abgeschlossen. KLP war eine private Versicherungsgesellschaft, die dem Verband der lokalen und regionalen Behörden gehörte. Der Tarifvertrag bestimmte, dass ein Wechsel der Pensionsversicherung im Wesentlichen der Zustimmung der Tarifvertragsparteien, der Versicherungsaufsicht und des staatlichen Pensionsfonds für den öffentlichen Dienst bedurfte. Die Gewerkschaften machten geltend, die beklagten Gemeinden hätten bestimmte Vorschriften des Tarifvertrages dadurch verletzt, dass sie ihre Angestelltenpensionsverträge vom bisherigen Vertragspartner, der Kommunal Landspensjonskasse, auf andere Versicherer übertrugen, obwohl die Voraussetzungen des Tarifvertrages nicht erfüllt waren. Die beklagten Gemeinden argumentierten u. a., dass mehrere Bestimmungen des Tarifvertrages wegen Verstoßes gegen die Art. 53 und 54 EWRA, die Parallelvorschriften zu den Art. 81 und 82 EG, unverbindlich seien. In seinem Urteil vom 22. März 2002 entschied der EFTA-Gerichtshof, dass Bestimmungen in Tarifverträgen, welche die Verbesserung von Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen zum Ziel haben, nicht unter die Wettbewerbsregeln des EWRA fallen. Das bedeute aber nicht, dass Tarifvertragsvorschriften automatisch immun seien. Vorschriften, die in Tat und Wahrheit andere als die in Frage stehenden sozialpolitischen Ziele verfolgten, seien vom Zugriff der Wettbewerbs92 93
Oben, B III 1. Rs. E-8 / 00 LO, 2002 EFTA Court Report, 114.
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regeln nicht ausgenommen. Der EuGH seinerseits hatte in einer Serie von Urteilen wenige Jahre zuvor festgestellt, dass die im Rahmen von Tarifverhandlungen zwischen den Sozialpartnern im Hinblick auf sozialpolitische Ziele geschlossenen Verträge aufgrund ihrer Art und ihres Gegenstands nicht unter das Kartellverbot des Art. 85 Abs. 1 EGV (heute: Art. 81 Abs. 1 EG) fallen94. Er hatte dabei jedoch, im Gegensatz zu Generalanwalt Jacobs, die Grenzen solcher Immunität nicht erörtert. Jacobs hatte u. a. eine rechtsvergleichende Untersuchung angestellt, welche die Rechtslage in den USA einschloss, und war zum Ergebnis gelangt, dass Tarifverträge in allen Rechtsordnungen bis zu einem gewissen Grad vom Kartellverbot ausgenommen sind, dass diese Immunität aber nicht unbegrenzt ist95. Der EFTA-Gerichtshof gab diese conclusio beinahe wörtlich wieder und zitierte die entsprechende Stelle96. Der zweite Fall ist das bereits angesprochene Urteil in der Rechtssache E-2 / 03 Bellona97. Dabei ging es allerdings um eine prozessuale Vorschrift, deren Auslegung den Homogenitätsregeln der Art. 6 EWRA und 3 II ÜGA nicht unterliegt. Trotzdem hat der EFTA-Gerichtshof seit jeher anerkannt, dass die Rechtsprechung des EuGH insoweit „relevant“ ist98. In Bellona wies der EFTA-Gerichtshof die Klage einer Umweltstiftung und einer privaten Beratungsfirma auf Nichtigerklärung einer Entscheidung, mit welcher die EFTAÜberwachungsbehörde eine Beihilfe der norwegischen Regierung genehmigt hatte, wegen fehlender Klagebefugnis nach Art. 36 Abs. 2 ÜGA, der Parallelnorm zu Art. 230 Abs. 4 EG, 94 Rs. C-67 / 96, Slg. 1999, I-5751, Rn. 59 – 61 Albany; verb. Rs. C-115 / 97, C-116 / 97 und C-117 / 97 Brentjens’, Slg. 1999, I-6025; Rs. C-219 / 97, Drijvende Bokken, Slg. 1999 I-6121; Rs. C-222 / 98 van der Woude Slg. 2000, I-7111; verb. Rs. C-180 / 98 to C-184 / 98 Pavlov, Slg. 2000, I-645. 95 A. a. O., Pkt. 109. 96 Rs. E-8 / 00 LO, 2002 EFTA Court Report, 114, Rn. 35. 97 Rs. E-2 / 02 Bellona, EFTA Court Report 2003, 52. 98 Rs. E-1 / 94 Restamark, 1994 – 1995 EFTA Court Report, 15 Rn. 24; Rs. E-2 / 94 Scottish Salmon Growers, 1994 – 1995 EFTA Court Report, 59, Rn. 11.
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ab. Er betonte aber, dass der Zugang zur Justiz ein wesentliches Element des EWR-Rechts sei, und stellte fest, er sei sich der aktuellen Debatte zur Frage der Klagebefugnis natürlicher und juristischer Personen im Gemeinschaftsrecht bewusst. Dabei bezog sich der EFTA-Gerichtshof auch auf die Schlussanträge von GA Jacobs in Rs. C-50 / 00 Pequeños Agricultores99. Darin hatte Jacobs dem EuGH vorgeschlagen, den Begriff der individuellen Betroffenheit dahin auszulegen, dass ein Einzelner von einer Gemeinschaftshandlung dann als individuell betroffen anzusehen ist, wenn die Handlung aufgrund seiner besonderen persönlichen Umstände erhebliche nachteilige Auswirkungen auf seine Interessen hat oder haben kann100. Der EuGH verweigerte seinem Generalanwalt in seinem Urteil in Rs. C-50 / 00 Pequeños Agricultores bekanntlich die Gefolgschaft. Es ist klar, dass die Bezugnahme auf Schlussanträge von Generalanwälten in der dritten Fallkonstellation im Lichte des Homogenitätsgebots heikel ist, da sie eine Kritik an der Rechtsprechung des EuGH impliziert. Trotzdem ist auch diese Form des judiziellen Dialogs sinnvoll und zulässig, denn auch sie stellt einen Beitrag zur homogenen Fortbildung des Rechts im europäischen Wirtschaftsraum dar.
III. EWR-Relevanz der sog. Verfassungsprinzipien des Gemeinschaftsrechts 1. Ausgangslage im Jahre 1992 Wenn im Folgenden von den Verfassungsprinzipien des Gemeinschaftsrechts die Rede ist, so sind Direktwirkung, Vorrang und Staatshaftung gemeint. Bei Abschluss des EWR-Abkommens hatte der EuGH diese Grundsätze anerkannt; es handelt sich um Altrechtsprechung im Sinne der oben genann99 Rs. C-50 / 00 Pequeños Agricultores, Slg. 2002, I-6677; vgl. Rs. E-2 / 02 Bellona, 2003 EFTA Court Report, 52, Rn. 37. 100 Rs. C-50 / 00 Pequeños Agricultores, Slg. 2002, I-6677, Pkt. 103; vgl. auch Rs. T-177 / 01 Jégo-Quéré, Slg. 2002, II-2365.
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ten Zweiteilung. Das EWR-Abkommen enthält dazu Widersprüchliches. Wenn man die Homogenitätsregeln und die starke Betonung des Individualrechtschutzes in der Präambel zum EWR-Abkommen isoliert betrachten würde, so müsste man zum Schluss kommen, dass diese Prinzipien Teil des EWR-Rechts sind. Der frühere Generalanwalt Walter van Gerven hat denn auch im Jahre 1993 festgestellt: „Stripping Community law of its general principles amounts to taking its heart. An EEA legal system that would not encompass such general principles would therefore be a legal system that is not at all homogeneous with Community law.“101 Es gibt aber Elemente, die in eine andere Richtung weisen. Artikel 7 EWRA spricht davon, dass auch Verordnungen unter Umständen in nationales Recht überführt werden müssen. Überdies schreibt Protokoll 35 zum EWRA vor, dass die EFTAStaaten für den Fall, dass das jeweilige innerstaatliche Recht es erforderlich macht, eine Bestimmung vorsehen, wonach umgesetztes EWR-Recht Vorrang vor dem nationalen Recht hat. Die Regierungen der nordischen EFTA-Staaten sahen in diesen beiden Elementen den Beweis dafür, dass das EWR-Abkommen ihre Vorstellungen von Dualismus unangetastet gelassen hat102. Der EuGH hat in seinem Gutachten 1 / 91 vom 14. Dezember 1991 festgestellt, Vorrang und Direktwirkung seien im EWR-Recht nicht vorhanden103. Allerdings ist dieses Gutachten vor dem Hintergrund seiner Zielsetzung zu sehen. Das Ziel des EuGH war ganz offensichtlich, den damals vorgesehenen EWR-Gerichtshof zu kippen. Der EWR-Gerichtshof wäre ein Hybride gewesen, er hätte aus EuGH-Richtern und aus Richtern aus den EFTA-Staaten bestanden, wobei die EuGH-Richter eine permanente Mehrheit gehabt hätten. Das 101 Walter van Gerven, The Genesis of EEA Law and the Principles of Primacy and Direct Effect, 16 Fordham Int’l L.J. 955, 972 f. (1993). 102 Vgl. die entsprechenden Stellungnahmen in E-1 / 94 Restamark, EFTA Court Report 1994 – 1995, S. 15, und E-1 / 01 Einarsson, EFTA Court Report 2002, 1. 103 Slg. 1991, I-6079, Rn. 28.
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wollte der EuGH aus verschiedenen Gründen verhindern. Und deswegen ist hier wohl über das Ziel hinausgeschossen worden.
2. Rechtsprechung des EFTA-Gerichtshofs a) Innerstaatliche Wirkung und Vorrang In der Frage der innerstaatlichen Wirkung und des Vorrangs des EWR-Rechts hat der EFTA-Gerichtshof eine Rechtsprechung entwickelt, die in der Literatur als „Quasi-Direktwirkung“ und „Quasi-Vorrang“ apostrophiert worden ist104. Nach dieser Praxis können sich Private und Unternehmen vor nationalen Gerichten auf Vorschriften des EWR-Rechts berufen, welche in die nationalen Rechte implementiert worden sind, wenn sie unbedingt und hinreichend genau sind. Solche Vorschriften haben Vorrang vor widersprechenden Bestimmungen des nationalen Rechts. In der Rechtssache E-1 / 94 Restamark hat der EFTA-Gerichtshof im Jahre 1994 auf die Frage des nationalen Gerichts, ob Art. 16 EWRA, die Parallelvorschrift zu Art. 31 EG Direktwirkung hat, entschieden, dass sich ein Marktteilnehmer auf diese Vorschrift berufen konnte. Das finnische Alkohol-Import-Monopol wurde als Verstoß gegen diese Vorschrift qualifiziert105. In der Rechtssache E-1 / 01 Einarsson aus dem Jahr 2002 wurde das in Art. 14 EWRA niedergelegte Verbot der diskriminierenden Besteuerung als unbedingt und hinreichend genau und demzufolge als vorrangig vor konfligierendem nationalem Recht erachtet. Nach isländischem Recht unterlagen Bücher in isländischer Sprache einem deutlich höheren Mehrwertsteuersatz als Bü104 Hans Petter Graver, Supranationality and National Legal Autonomy in the EEA-Agreement, ARENA Working Papers 00 / 23, S. 6. 105 Rs. E-1 / 94 Restamark, EFTA Court Report 1994 – 1995, 15, E.-Gr. 32 ff., 44 ff., 75 ff.; vgl. dazu Vincent Kronenberger, Does the EFTA Court Interpret the EEA Agreement as if It were the EC Treaty? Some Questions Raised by the Restamark Judgment, 45 ICLQ 198, 207.
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cher in anderen Sprachen106. Direktwirkung und Vorrang hängen damit von der Umsetzung des EWR-Rechts in die Rechtsordnungen der dualistischen Staaten ab. Indes sind die EFTAStaaten zur Umsetzung verpflichtet, und es sind nicht die nationalen Rechtsordnungen der EFTA-Staaten, welche darüber entscheiden, dass die Vorschriften ggf. Vorrang haben, sondern dieses folgt aus der EWR-Rechtsordnung. In der Rechtssache E-4 / 01 Karlsson hat der EFTA-Gerichtshof schließlich in einem obiter dictum festgestellt, das EWR-Recht verlange nicht, dass Einzelne und Marktteilnehmer sich auf nicht implementierte Vorschriften des EWR-Rechts berufen könnten, doch habe das nationale Gericht jedes relevante Element des EWRRechts zu berücksichtigen107. Diese Pflicht folge nicht nur aus dem allgemeinen Völkerrecht, sondern wiederum aus dem EWR-Recht selbst108. Diese Rechtsprechung läuft im Wesentlichen auf das hinaus, was der Europäische Gerichtshof im Gemeinschaftsrecht in der Rechtssache C-106 / 89 Marleasing entschieden hat109. b) Staatshaftung Von kaum zu überschätzender Bedeutung ist das Urteil des EFTA-Gerichtshofs im Fall E-9 / 97 Sveinbjörnsdóttir110. Island hatte die Zahlungsunfähigkeitsrichtlinie, nach der die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, für den Fall der Zahlungsunfähigkeit eines Unternehmens Garantieeinrichtungen zu schaffen, aus denen die letzten Löhne der Arbeitnehmer / in106
Rs. E-1 / 01 Einarsson, EFTA Court Report 2002, 1, E.-Gr. 47 ff.,
49. Rs. E-4 / 01 Karlsson, 2002 EFTA Court Report, 240. Rs. E-4 / 01 Karlsson, 2002 EFTA Court Report, 240. 109 Rs. C-106 / 89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135; vgl. auch den Bericht des damaligen Präsidenten der EFTA-Überwachungsbehörde Knut Almestad, The duties of co-operation of national authorities and the Community institutions under Article 10 (ex Article 5) of the Treaty of Rome: the EEA variant, F.I.D.E. XIX Congress, Vol. I, 2000, 427 ff. 110 Rs. E-9 / 97 Sveinbjörnsdóttir, EFTA Court Report 1998, 95, 113. 107 108
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nen bezahlt werden können, falsch umgesetzt. Der EFTA-Gerichtshof stellte fest, dass die Staatshaftung Teil des EWRRechts sei und dass die Zahlungspflicht im konkreten Fall, wie im Gemeinschaftsrecht, von drei Voraussetzungen abhänge: Die verletzte Norm bezweckt den Schutz der Einzelnen; die Verletzung ist hinreichend qualifiziert; zwischen Verletzung und Schaden besteht ein Kausalzusammenhang. Die Beurteilung des Vorliegens dieser Voraussetzungen überließ der EFTA-Gerichtshof dem nationalen Gericht. Der EFTAGerichtshof bekräftigte seine Staatshaftungsrechtsprechung trotz heftiger Kritik der norwegischen Regierung im Fall E-4 / 01 Karlsson111. Island hatte in Verletzung von Art. 16 EWRA sein Alkoholimportmonopol nicht am 1. Januar 1994, dem Tag des Inkrafttretens des EWR-Abkommens, abgeschafft, sondern erst am 1. Dezember 1995. Die Importeursfirma Karlsson war dadurch zu Schaden gekommen. Was die Voraussetzungen der Staatshaftung anlangt, so beurteilte der EFTA-Gerichtshof die beiden ersten Fragen selbst und bejahte sie. Die Staatshaftung ist wahrscheinlich das griffigste der drei in Frage stehenden Prinzipien. Professor George A. Bermann von der Columbia University hat sie als „the surest legally enforceable mechanism for promoting Member State compliance“ bezeichnet112. Das ist im bereits genannten FinangerFall deutlich geworden. Wie bereits gesagt, urteilte der EFTAGerichtshof, dass eine Vorschrift wie Art. 7, Abs. 3 lit. b des norwegischen Automobilhaftpflichtgesetzes, nach der ein Beifahrer, der freiwillig in dem vom betrunkenen Fahrer geführten Fahrzeug mitfuhr und den Zustand des Fahrers kannte oder hätte kennen müssen, grundsätzlich keinen Anspruch auf Schadenersatz hatte, mit den EWR-Motorfahrzeughaftpflichtrichtlinien nicht vereinbar sei113. Der Oberste Gerichtshof 111 Rs. E-4 / 01 Karlsson, EFTA Court Report 2002, 248 – 250, E.-Gr. 24 – 34; zur norwegischen Kritik auch unten, E II. 112 George A. Bermann, Member State Liability in the Member State’s Own Court: An American Law Comparison, Festschrift für Gil Carlos Rodríguez Iglesias, 2003, 305.
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entschied daraufhin einstimmig, dass Norwegen das EWRRecht verletzt habe. Mit 10 gegen 5 Stimmen urteilte er aber, er sei nicht in der Lage, eine klare Regelung des norwegischen Rechts unangewendet zu lassen114. Die fraglichen Richtlinien betreffen das Horizontalverhältnis zwischen Versicherer und Opfer, einen Umstand, den der Oberste Gerichtshof in seinem Urteil einlässlich diskutierte. In der Literatur wurde die Auffassung vertreten, in einem Fall des Vertikalverhältnisses würde der Oberste Gerichtshof dem Richtlinienrecht zum Durchbruch verhelfen115. Veronika Finanger, die damit leer ausging, erhob anschließend gestützt auf die Sveinbjörnsdóttir-Rechtsprechung des EFTA-Gerichtshofs eine Staatshaftungsklage gegen die norwegische Regierung und obsiegte damit in letzter Instanz vor dem Obersten Gerichtshof116.
3. Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte Auch die Gemeinschaftsgerichte haben in den in Rede stehenden Problembereichen wichtige Beiträge geleistet. Das Gericht erster Instanz hat im Jahre 1997 in der Rechtssache T-115 / 94 Opel Austria festgestellt, das EWRA bewirke einen hohen Integrationsgrad und verfolge Ziele, die über die eines bloßen Freihandelsabkommens hinausgehen. Das EuG hat auf dieser Basis entschieden, dass Vorschriften des EWR-Rechts 113 Rs. E-1 / 99 Storebrand Skadeforsikring AS v Veronika Finanger, EFTA Court Report 1999, 119; vgl. oben, B II 3. 114 Norwegisches Oberster Gerichtshof (Høyesterett), Storebrand Skadeforsikring AS v Veronika Finanger, 16. 11. 2000, Sivilsak Nr. 55 / 1999, Inr. 49B / 2000, 1811. 115 Vgl. Hans Petter Graver, Die Ausdehnung des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf Nichtmitglieder der Union – das Beispiel Norwegens, ARENA Working Papers WP 01 / 21, http: //www.arena.uio.no/ wp01_21.htm, 16; auch Peter Dyrberg, Horizontal Direct Effect v Duty of Construction in the EEA? The Norwegian View, ELR 26 (2001), 198. 116 Høyesterett, Veronika Finanger v The State, 28. 10. 2005, Sak nr. 2005 / 412.
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in der Gemeinschaft der Direktwirkung fähig seien117. Es wurde die Auffassung vertreten, diese Rechtsprechung sei für die Beantwortung der Frage der innerstaatlichen Wirkung im EFTA-Pfeiler irrelevant118. Nach der hier vertretenen Auffassung ist sie sehr wohl relevant, weil das EWR-Abkommen auf Gegenseitigkeitserwartungen fußt119. Der EFTA-Gerichtshof hat sich in der Rechtssache E-2 / 03 Ásgeirsson auf das Opel Austria-Urteil des EuG bezogen120. Was die Rechtsprechung des EuGH anlangt, so ist das bereits genannte Rechberger-Urteil vom 15. Juni 1999 wichtig. Das Landesgericht Linz hatte dem EuGH am 26. März 1997 die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob das Prinzip der Staatshaftung auch in EWR / EFTA-Staaten gelte121. Österreichische Reisende waren wegen Nicht- bzw. Falschumsetzung der Pauschalreiserichtlinie im Jahre 1994 zu Schaden gekommen. Der EuGH verneinte seine Zuständigkeit mit der Begründung, er sei zur Auslegung des EWR-Abkommens nur für die Gemeinschaft, nicht aber im Hinblick auf die EFTAStaaten befugt. Er wies aber „unter Berücksichtigung des dem EWR-Abkommen zugrunde liegenden Zieles einer einheitlichen Auslegung und Anwendung“ darauf hin, „dass die für die Haftung eines EFTA-Staates wegen Verstoßes gegen eine Richtlinie, auf die im EWR-Abkommen Bezug genommen wird, geltenden Grundsätze Gegenstand des Urteils des EFTA-Gerichtshofes vom 10. Dezember 1998 in der Rechtssache E-9 / 97 (Sveinbjörnsdóttir. . . )“ sind122.
Rs. T-115 / 94 Opel Austria, Slg. 1997, II-39. Vgl. Per Christiansen, The EFTA Court, ELR 22 (1997), 539 ff. 119 Vgl. dazu insbesondere Sevón / Johansson, The Protection of the Rights of Individuals under the EEA Agreement, ELR 24 (1999), 373, 385. 120 Rs. E-2 / 03 Ásgeirsson, 2003 EFTA Court Report, 185. 121 Rs. C-140 / 97, Slg. 1999, I-3499. 122 Rn. 39. 117 118
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4. Fazit Insgesamt hat der EFTA-Gerichtshof mit den genannten Urteilen im Zusammenspiel mit dem EuG und dem EuGH nicht nur dafür gesorgt, dass Einzelne und Wirtschaftsakteure im EFTA-Pfeiler des EWR im Wesentlichen die gleichen Rechte genießen wie im EG-Pfeiler. Er hat auch Impulse zur Fortentwicklung der Theorie des internationalen Rechts gegeben123. Im Fall Sveinbjörnsdóttir hat der EFTA-Gerichtshof nämlich festgestellt, dass das EWR-Abkommen ein internationaler Vertrag sui generis sei, der eine von den nationalen Rechtsordnungen zu unterscheidende eigene Rechtsordnung geschaffen habe. Das EWR-Abkommen begründe keine Zollunion, wohl aber eine gehobene Freihandelszone. Die Integration gehe weniger weit als nach dem EG-Vertrag. Tragweite und Zielsetzung des EWR-Abkommens gingen jedoch über das hinaus, was bei einem völkerrechtlichen Abkommen üblich sei124.
IV. Grundrechte im Besonderen 1. Grundrechtsschwäche des EWRA? Der EuGH hat seit langer Zeit die Bestimmungen der EMRK und die Urteile des EGMR bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts herangezogen. In der Zwischenzeit sind die Grundrechte auch im geschriebenen Gemeinschaftsrecht fest verankert125. Das EWR-Abkommen enthält in der Ersten Begründungserwägung der Präambel den Hinweis, dass die 123 Vgl. dazu Ole Spiermann, The Other Side of the Story: An Unpopular Essay on the Making of the European Community Legal Order, European Journal of International Law 10 (1999), 763 – 789. 124 Rs. E-9 / 97 Sveinbjörnsdóttir, EFTA Court Report 1998, 95, Rn. 59. 125 Vgl. die Wiedergabe der aktuellen Rechtslage in EGMR Grosse Kammer Bosphorus Hava Yollar