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German Pages 304 Year 2008
HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON JOACHIM HEINZLE UND KLAUS-DETLEF MLLER
BAND 118
MARION HILLER
›Harmonisch entgegengesetzt‹ Zur Darstellung und Darstellbarkeit in Hçlderlins Poetik um 1800
n MAX NIEMEYER VERLAG T*BINGEN 2008
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung f0r Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet 0ber http://www.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-484-15118-5
ISSN 0440-7164
; Max Niemeyer Verlag, T0bingen 2008 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich gesch0tzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulGssig und strafbar. Das gilt insbesondere f0r VervielfGltigungen, *bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbestGndigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Gesamtherstellung: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
Vorwort
Die vorliegende Arbeit entstand zwischen 2002 und 2005 und wurde von der Neuphilologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung wurde sie überarbeitet und an die neue Rechtschreibung angepasst. Besonderer Dank gilt meinem langjährigen Lehrer Prof. Dr. Dr. h. c. HansGeorg Kemper, der durch die Förderung an seinem Lehrstuhl, während des Studiums als Wissenschaftliche Hilfskraft, dann als Wissenschaftliche Mitarbeiterin, diese Arbeit ermöglicht hat. Ihm danke ich insbesondere auch für seine vorbildlichen Führungsqualitäten und seine Toleranz verschiedenen Ansätzen gegenüber. Ihm sowie den weiteren Betreuern und Gutachtern, Prof. Dr. Klaus-Detlef Müller, Prof. Dr. Bernhard Greiner und Prof. Dr. Georg Braungart, bin ich überdies zu Dank für die genaue und intensive Lektüre der Arbeit, die ausführlichen, eindringlichen und würdigenden Gutachten, die Anregungen und die Unterstützung während der Entstehungsphase sowie für die weitergehende Förderung verpflichtet. Dem Zweitbetreuer, Prof. Dr. Klaus-Detlef Müller, sowie Prof. Dr. Joachim Heinzle danke ich auch für die Aufnahme in die Reihe. Sebástian Ochoa bin ich zu Dank für seine Hilfe bei der Einrichtung des Manuskripts verpflichtet, Prof. Dr. Wilfried Kürschner für Hinweise bezüglich der neuen Rechtschreibung, der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und ihrem Wissenschaftlichen Beirat, insbesondere der Vorsitzenden Dr. Ute Oelmann, für den Druckkostenzuschuss und Frau Birgitta Zeller-Ebert sowie Margarete Trinks vom Max Niemeyer Verlag für die umsichtige und kooperative Betreuung bei der Drucklegung. Eine wissenschaftliche Arbeit entsteht nicht in Isolation, und so danke ich darüber hinaus für Vorträge, Gespräche, Workshops, Seminare … so unterschiedlichen ›Wissenschaftlern‹ wie Prof. Dr. Lawrence Ryan (Amherst/Tübingen), PD Dr. Violetta Waibel (Wien), PD Dr. Manfred Koch (Gießen/Tübingen), Prof. Dr. Günter Figal (Freiburg/Br.), Prof. Dr. Rainer Nägele (New Haven), Prof. Dr. Johann Kreuzer (Oldenburg), Prof. Dr. Gerhard Kurz (Gießen), Prof. Dr. Ulrich Gaier (Konstanz), PD Dr. Annette Hornbacher (München) sowie Valérie Lawitschka (Tübingen) für alle Bemühungen. Privat danke ich meiner Familie und meinen Freunden, insbesondere Veronika Wasner, Katrin Volle, Adreana DiAdriano mit Sohn und – zuerst und zuletzt – Dietmar Koch. Tübingen und Vechta, im April 2008 V
Einig zu seyn, ist göttlich und gut; woher ist die Sucht denn Unter den Menschen, daß nur Einer und Eines nur sei? Friedrich Hölderlin: ›Wurzel alles Übels.‹
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung und methodische Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 A. Annäherung an die Grundstruktur der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . 15 I.
Herausarbeitung der Grundstruktur an ›Hyperion oder der Eremit in Griechenland‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1. 2. 2.1 2.2 2.3 3. 3.1 3.2 3.3 4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8 4.9
5. 5.1
Zu ›Hyperion‹ im Kontext der neueren Narratologie (Genette) . . 17 Exzentrizität des Zentralen: Zur Verortung der ›Athenerrede‹ . . . . 22 Die Orte der ›Athenerrede‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Die ›Athenerrede‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Zusammenführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Weiterentwicklung nach der ›Athenerrede‹. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Der ›Athenerbrief‹ nach der ›Athenerrede‹: Diotimas Korrekturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Der letzte Brief im Vergleich zum ›Athenerbrief‹ . . . . . . . . . . . . . . 37 Der Kontext des Monologs im letzten Brief . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Zusammenführung: Gesamtroman. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Die Reflexionsstruktur des Selbstbewusstseins in Seyn, Urtheil, Modalität und Hölderlins Fichte-Kritik . . . . . . . . 45 Zeitstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Einholungsstrukturen und die ›Mitten‹ als Übergänge . . . . . . . . . 50 Die ›Mitten‹ als Zäsuren und ihre Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . 53 Implikationen des Schlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Paratextuelles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Zur Ineinanderstaffelung der Einholungsstruktur und zur Bedeutung der ›Athenerrede‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Vergleich der endgültigen Fassung mit den Vorreden zu früheren Fassungen des ›Hyperion‹: Fazit zur ›Teleologie‹ des Romans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Intertextuelle Bezüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Die Einholungsstruktur als Erotisches: ›Hyperions‹ Verweise auf Platons ›Symposion‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
VII
5.2 Das Verhältnis von Wissen und Nicht-Wissen als Triebfeder des Tragischen: Zum Verhältnis ›Hyperions‹ zu Sophokles’ ›König Ödipus‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 II. Bogen und Leier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 1. 1.1
1.2 1.3 1.4 1.5 2. 2.1 2.2 2.3
Bezüge des ›Hyperion‹ und der ›Diotima‹-Gedichte auf Heraklitische Topoi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Heraklit-Bezüge in der ›Athenerrede‹ mit einem Exkurs zu ›Geschichte der schönen Künste unter den Griechen. Biß zu Ende des Perikleischen Zeitalters‹ . . . . . . . . . . ›Saitenspiel‹ im ›Hyperion‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ›Harmonie‹ im ›Hyperion‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ›Diotima‹-Gedichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ›An Diotima‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ›Bogen‹ und ›Leier‹ in ihren strukturellen Verhältnissen . . . . . . . Bogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu einer anderen Betrachtung von ›Kreis‹, ›Schönheit‹ und ›Harmonie‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
72
72 78 81 82 87 90 90 94 97
III. Tragische Schönheit? Verweise auf das Tragische . . . . . . . . . . . . . . . . 100 1. 2.
Hölderlins ›Sophokles-Anmerkungen‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Das untergehende Vaterland …« und »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. »Die Bedeutung der Tragödien …« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. »Die tragische Ode …«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 ›Allgemeiner Grund‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 ›Grund zum Empedokles‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
100 104 108 110 110 112
B. Theoretische Durchführung der Grundstruktur der Darstellung . . . . 121 IV. ›Harmonisch entgegengesetzt‹: Zu den Einholungsstrukturen des poetischen Geistes in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 1.
Zum Aufbau des Entwurfs »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die zweite Phase des poetischen Prozesses und der Übergang in die dritte Phase: Selbsteinholung des poetischen Geistes. . . . . 2.1 Der erste Schritt in der zweiten Phase: die ›subjektive Begründung des Gedichts‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Vorausgreifender Exkurs: die ›subjektive Begründung‹ ›angewandt‹ verstanden: zu ›Wirkungskreis‹ und ›Element‹ . . . . . . VIII
125 127 127 129
2.3 Die poetische Verfahrungsweise als ›metaphorisch‹ und ›hyperbolisch‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Der zweite Schritt in der zweiten Phase: Die ›objektive Begründung‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Der dritte Schritt in der zweiten Phase: Übergang zur dritten Phase als Selbstauffassung der poetischen Individualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Nachtrag und Rekapitulation anhand der allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes und genauere Bestimmung der dritten Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Nachtrag zur ersten Phase und Rekapitulation der zweiten . . . . . . 3.2 Der Übergang zur dritten Phase und nähere Bestimmung dieser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der letzte Abschnitt des Entwurfs: ›Wink für die Darstellung und Sprache‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Die dritte Phase und das Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Die Aporie des ›göttlichen Moments‹ und das Gedicht zwischen Auto- und Heteroreferentialiät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 ›Rezeption‹, ›Zeichen‹, ›Sprache‹ und ›Leben‹ . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Exkurs zum Fragment philosophischer Briefe . . . . . . . . . . . . . 4.5 Der ›göttliche Moment‹ anders gefasst: Das Ende des Entwurfs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Durchführung der Grundstruktur hinsichtlich der Theorie der Töne sowie konkreter Dichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 V. Die Darstellungsstruktur hinsichtlich der ›Töne‹ in der ›Verfahrungsweise‹ und weiteren poetologischen Entwürfen . . . . . . . . 171 1.
Zum Status und zum Verhältnis der poetologischen Entwürfe untereinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rekapitulation der für den Tönewechsel relevanten Ausführungen in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« in Verbindung mit »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. »Die Empfindung spricht …«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das ›tragische Gedicht‹ in »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Bezug zu den Erörterungen im Kontext des ›Empedokles‹Dramas sowie Übergang zu »Löst sich nicht …« . . . . . . . . . . . . .
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IX
7. Poetologische Tafeln und ihr Bezug zu den Erörterungen im Umkreis des ›Empedokles‹-Dramas. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. ›Poetische Darstellung‹ und ›Stoff‹ ausgehend von Hölderlins Rezension zu Siegfried Schmids ›Heroine‹. . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Ansatz zur Herausarbeitung des Töneschemas an dem lyrischen Entwurf »Wie wenn am Feiertage …«. . . . . . . . . . . . . . 10. Zum Status der poetologischen Reflexionen in Bezug auf konkrete Dichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Methodologische Vorüberlegungen zur Betrachtung der Dichtungen und zum Verhältnis von diskursivem und poetischem Sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI. Exemplarische lyrische Dichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 1. »Wie wenn am Feiertage …« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 2. ›Hälfte des Lebens‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 VII. Ausblick und Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Siglen und Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284
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Einleitung und methodische Grundlegung
Die Hölderlinforschung ist von Dichotomien geprägt. Bereits die Einteilung der Schriften Hölderlins in bestimmte Phasen und deren inhaltliche Begründung führt in das Zentrum der unterschiedlichsten Sichtweisen auf Hölderlin. Wurde immer wieder Hölderlins Revision seiner poetologischen Position um 1799 in den späteren Schriften, sei es in den Oden1 und ›Gesängen‹ oder hinsichtlich der Tragödienkonzeption in den ›Anmerkungen zur Antigonä‹ und zum ›Oedipus‹,2 konstatiert, so kristallisieren sich an diesen Einteilungen grundsätzlich verschiedene Hölderlin-Bilder, die beispielsweise auf Entgegensetzungen von Romantik und Klassik, Klassizismus und ›vaterländischer Wende‹,
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Vgl. beispielsweise Jochen Schmidt: Hölderlins später Widerruf in den Oden »Chiron«, »Blödigkeit« und »Ganymed«. Tübingen 1978, und Wolfgang Lange: »Das Wahnsinns-Projekt oder was es mit einer ›antiempedokleischen Wendung‹ im Spätwerk Hölderlins auf sich hat«. In: DVjs 63 (1989), S. 645–678, sowie Jochen Schmidt: »Stellungnahme«. In: DVjs 63 (1989), S. 679–711, und Wolfgang Lange: »Replik«. In: DVjs 63 (1989), S. 712–714. Anders als Schmidt auch Wolfgang Binder: »Hölderlins Dichtung Homburg 1799«. In: Friedrich Hölderlin. Studien von Wolfgang Binder. Hrsg. v. Elisabeth Binder u. a. Frankfurt/Main 1987, S. 157–177, vgl. v. a. S. 163f. und 176. Im Sinne eines späten ›Antiklassizismus‹ vgl. ebenso die wirkungsmächtigen Aufsätze von Theodor W. Adorno: »Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins«. In: Über Hölderlin. Aufsätze von Theodor W. Adorno u. a. Hrsg. v. Jochen Schmidt. Frankfurt/ Main 1970, S. 339–378, sowie Peter Szondi: »Überwindung des Klassizismus. Hölderlins Brief an Böhlendorff vom 4. Dezember 1801«. In: Über Hölderlin. Aufsätze von Theodor W. Adorno u. a. Hrsg. v. Jochen Schmidt. Frankfurt/Main 1970, S. 320–338. Nach 2005 erschienene Literatur konnte nicht mehr eingearbeitet werden. Diese Schriften wurden in Frankreich hinsichtlich der ›Zäsur‹ ›anti-idealistisch‹ intensiv rezipiert, vgl. etwa Philippe Lacoue-Labarthe: »Die Zäsur des Spekulativen«. In: HJb 22 (1980/81), S. 203–231; Françoise Dastur: Hölderlin – le retournement natal. Tragédie et modernité & Nature et poésie. LaVersanne 1997, sowie Jean-Luc Nancy: »The Calculation of the Poet«. In: The solid letter. Readings of Friedrich Hölderlin. Ed. by Aris Fioretos. Stanford/California 1999, S. 44–73 (»poetics, that is to say, the thought of poetry or, more precisely, the thought of poetic thought, is understood here as the other of thought, as non-Idealism itself. Poetry, or the un-doing of Idealism«, S. 52). Auch Karlheinz Stierle (»Sprache und die Identität des Gedichts. Das Beispiel Hölderlins«. In: Friedrich Hölderlin. Neue Wege der Forschung. Hrsg. v. Thomas Roberg. Darmstadt 2003, S. 19–34) sieht in dem Übergang von »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« zu den ›Sophokles-Anmerkungen‹ eine Überführung der »substantialistische[n] Poetik des Geistes in eine Poetik der psychischen Vermögen« (S. 25). Eine ertragreiche Zusammenfassung und Diskussion findet sich in Rodolphe Gasché: »Der unterbrechende Augenblick: Hölderlin über Zäsur, Zeit und Gefühl«. In: »Es bleibet aber eine Spur / Doch eines Wortes«. Zur späten Hymnik und Tragödientheorie Hölderlins. Hrsg. v. Christoph Jamme u. a. München 2004, S. 419–445. Vgl. auch Patrick Primavesi: »Das Reißen der Zeit. Rhythmus und Zäsur in Hölderlins ›Anmerkungen‹«. In: Geteilte Zeit. Zur Kritik des Rhythmus in den Künsten. Hrsg. v. Patrick Primavesi u. a. Schliegen 2005, S. 205–220.
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Idealismus und Mythologie, Idealismus und Moderne, Dichtung und Philosophie etc. beruhen. Verbunden mit der Problematik der Einteilung der Schriften sind die vielfältigen Möglichkeiten ihrer Kontextualisierung. Neben diskursanalytischen und historischen Verortungen bietet Hölderlins biographisch offensichtliche, intensive Auseinandersetzung sowohl mit zeitgenössischen als auch mit antiken philosophischen, poetologischen, poetischen und theologischen Quellen3 vielfältige Perspektiven, die in der Forschung die unterschiedlichsten Schwerpunktbildungen hervorgebracht haben. Zahlreiche Versuche, Hölderlins Schriften in dem philosophischen Kontext seiner Zeit zu verorten,4 ihren Bezug zur Antike herauszustellen5 oder sie hinsichtlich der theologischen Diskurse6 zu lesen, stehen neben Schwerpunktbildungen im politischen7 oder biographischen Bereich (beispielsweise hinsichtlich Hölderlins ›Wahnsinn‹8). Zudem konnte immer wieder eine Konzentration auf entweder die theoretischen Schriften – und diese dann oftmals, nicht ausschließlich, auf idealistischem Hintergrund gelesen – oder aber auf die Dichtungen festgestellt werden, wobei sich in beiden Extremen wie auch in den Vermischungen die unterschiedlichsten Ansätze und Schwerpunktbildungen finden. Von philosophischer Seite wären (zum Teil durchaus unter Einbezug der Dichtungen) eine stärker idealistisch-transzendentalphilosophisch ausgerichtete Lesart, eine dekonstruktivistische sowie eine phänomenologisch-hermeneutisch orientierte
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Diese Auseinandersetzung ist auch im lebensweltlichen Kontext durch die Forschung bestens belegt, vgl. die ›Texturen‹-Bände (Hölderlin Texturen. Hrsg. von der Hölderlin-Gesellschaft Tübingen in Zusammenarbeit mit der Deutschen Schillergesellschaft Marbach. Ulrich Gaier u. a. Bd. 1.1: »Alle meine Hoffnungen«. Lauffen, Nürtingen, Denkendorf, Maulbronn 1770–1788. Tübingen 2003; Bd. 2: Das »Jenaische Project«. Das Wintersemester 1794/95 mit Vorbereitung und Nachlese. Tübingen 1995; Bd. 3: »Gestalten der Welt«. Frankfurt 1796–1798. Tübingen 1996; Bd. 4: »Wo sind jezt Dichter?«. Homburg, Stuttgart 1798–1800. Tübingen 2002) sowie Hölderlin und der Deutsche Idealismus. Dokumente und Kommentare zu Hölderlins philosophischer Entwicklung und den philosophisch-kulturellen Kontexten seiner Zeit. Dargestellt und hrsg. v. Christoph Jamme u. a. 4 Bände. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003. Zentral dafür Dieter Henrich mit zahlreichen Monographien und Aufsätzen, aber auch Michael Franz, Violetta Waibel, Wolfgang Janke, Christoph Jamme, Peter Reisinger und Margarethe Wegenast, um hier nur einige zu nennen. Hinzu kommen historisch breit angelegte Arbeiten wie beispielsweise die von Gerhard Kurz und Ulrich Gaier. Zum Verhältnis von Hölderlin und Rousseau vgl. v. a. Jürgen Links Schriften. Vgl. beispielsweise die Arbeiten von Uvo Hölscher, Wolfgang Schadewaldt, Bernhard Böschenstein oder Jochen Schmidt. Vgl. hier v. a. Arbeiten zum Pietismus. V. a. in Bezug auf die Französische Revolution bzw. – teilweise davon ausgehend – hinsichtlich ›Utopie‹ und ›Revolution‹. Vgl. Pierre Bertaux: Friedrich Hölderlin. Frankfurt/Main 1978. Gerade nicht unter biographischem Aspekt, sondern unter Einbezug der traditionellen Topik des ›Dichterwahnsinns‹ sowie der ›Diätetik‹ betrachtet Christian Oestersandfort (Immanente Poetik und poetische Diätetik in Hölderlins Turmdichtung. Tübingen 2006) Hölderlins späteste Gedichte.
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Herangehensweise herauszustellen, wobei letztere nicht mit Heideggers Lesart gleichgesetzt werden muss. In der Literaturwissenschaft haben sich im 20. Jahrhundert die unterschiedlichsten Ansätze an Hölderlins Schriften in so auffälliger und oft auch verkrampfter Weise manifestiert, dass die Aufarbeitung der Forschungsliteratur einem Überblick über die (auch, aber nicht nur historisch) verschiedenen Ansätze gleichkommt. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich der Streit um Hölderlin angesichts der größtenteils bloß handschriftlichen Überlieferung seiner Schriften ab den 1970er-Jahren in einer Auseinandersetzung um die angemessene Edition der Texte niedergeschlagen hat. Für beide Historisch-kritische Ausgaben, die Stuttgarter wie die Frankfurter, lässt sich jedoch festhalten, dass sie für die Editionsphilologie jeweils weitreichende Innovationen darstellten.9 Aus der Disparatheit der Forschungsansätze und ihrer Ergebnisse lässt sich jedoch ein Zentrum des Streits ersehen, so meine erste These, die Frage nach der Bewertung des Verhältnisses von Einheit und Differenz. Diese Problematik durchzieht nicht nur die unterschiedlichen theoretischen Ansätze als solche und ihre Auseinandersetzung miteinander, sondern sie kristallisiert sich gerade deshalb eminent in der Hölderlinforschung, weil dieses Verhältnis die Hölderlin’schen Schriften zentral, wenn auch oftmals unausdrücklich, bestimmt. Die Disparatheit der Forschung kann somit unter anderem auch als Reflex auf die Verfasstheit der Hölderlin’schen Schriften, sowohl hinsichtlich ihrer Thematik als auch ihres Vollzugs,10 betrachtet werden.11 Denn neben ihrem oftmals unausdrücklichen Bestimmtsein von der Einheits- und Differenzproblematik erscheinen die handschriftlichen Notizen Hölderlins in den meisten Fällen als Selbstvergewisserungen im Schreiben innerhalb eines Prozesses thematischer
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Die Problematik der Historisch-kritischen Ausgaben wird in dem noch nicht erschienenen Aufsatz der Verfasserin am Beispiel von »Wie wenn am Feiertage …« behandelt (»Historischkritische Hölderlinausgaben. Ein Problemaufriß am Beispiel von ›Wie wenn am Feiertage …‹«. Erscheint in: Beihefte zu Editio) und soll hier nicht wiederholt werden. In der vorliegenden Arbeit werden Hölderlins Texte sowohl nach den beiden Historischkritischen Editionen als auch nach der ›Münchner Ausgabe‹ zitiert. Diese enthält im Gegensatz zu anderen Lese- und Studienausgaben, die sich zumeist sehr weitgehend an einer der Historisch-kritischen Editionen orientieren, teilweise abweichende Lesarten. Weichen die konstituierten Texte der Ausgaben voneinander ab, so wird die Abweichung in Klammern hinzugefügt und hinsichtlich einer eventuellen Sinnänderung diskutiert. ›Vollzug‹ wird in der gesamten Arbeit einerseits als ein Akt in zeitlicher Erstreckung, als Leseakt bzw. Akt des ›Textes‹ resp. ›Diskurses‹ verwendet, wobei ein (performatives) Geschehensmoment impliziert ist. Dieses wird in der Arbeit eigens expliziert, so dass die Termini ›Diskurs‹ und ›Performanz‹ in ihrer spezifischen Bedeutung in Bezug auf Hölderlins Texte deutlich werden. Andererseits bildet ›Vollzug‹ einen Gegen- und Bezugsbegriff zu ›Darstellung‹ in dem Sinne, wie im narratologischen Kontext mit Todorov ›discours‹ im Verhältnis zur ›histoire‹ (vgl. Tzvetan Todorov: »Les catégories du récit littéraire«. In: Communications 8 [1966], S. 125–151) bestimmt werden könnte. Letzteres bezieht sich vor allem auf die Unabgeschlossenheit des überwiegenden Teils der handschriftlichen Notizen Hölderlins.
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Durcharbeitung und sind somit in sich und untereinander oftmals zu keiner Homogenität zu bringen. Ziel der vorliegenden Abhandlung ist es, die teilweise immanenten Konzeptionen der Einheits- und Differenzthematik als Zentrum der poetologischen Reflexionen Hölderlins um 1800 in ihren Übereinstimmungen und Brüchen aufzuzeigen und im Zusammenhang der poetischen Darstellungsproblematik12 zu explizieren. Wird das Verhältnis von Einheit und Differenz am Beginn der abendländischen Philosophie zum ersten Mal bei Heraklit und Parmenides thematisch und zeichnen sich bereits in diesen unterschiedlichen Konzeptionen zwei grundsätzliche Stränge ab, nach denen das Verhältnis gefasst werden kann – tendentiell eine stärkere Betonung der Einheit bei Parmenides, eine paradoxe Fassung bei Heraklit –, so durchzieht die Problematik des Verhältnisses von Einheit und Differenz, mit aller Vorsicht gesprochen, die ›abendländische‹13 Kultur. Dabei steht dieses Verhältnis nicht lediglich im Zentrum zahlreicher philosophischer und poetologischer Abhandlungen, sondern bestimmt in seiner jeweiligen Ausprägung unausdrücklich auch das Denken, Handeln und Fühlen des Einzelnen. Die Vorherrschaft des Einheitsdenkens hat im Kontext einer ›metaphysisch‹ genannten Denkungsart, die verdichtet als ›neuplatonisch-aristotelisch-scholastisch‹ apostrophiert werden könnte, Auswirkungen bis in das heutige technischfunktionale Perfektibilitätsdenken hinein, in dem ›Negativität‹ in der Regel als zu überwindender Mangel aufgefasst wird. Die Weise, wie das Verhältnis von Einheit und Differenz in seiner abstrakten Ausprägung bestimmt wird, entscheidet somit nicht zuletzt auch über eine lebenspraktische Haltung gegenüber Negativitätsphänomenen wie ›Entzug‹, ›Krankheit‹, ›Scheitern‹, ›Tod‹ etc. und im sozialen und ethischen Kontext über eine Bestimmung von ›angemessen‹ oder ›unangemessen‹ bzw. ›richtig‹ oder ›falsch‹. Das philosophisch oftmals sehr
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›Darstellung‹ wird einerseits in dem umfassenden Sinne gebraucht, wie der Ausdruck im Laufe des 18. Jahrhunderts poetologische Relevanz gewinnt (vgl. beispielsweise Klopstocks Verwendungsweise in »Von der Darstellung«. In: Friedrich Gottlieb Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften. Hrsg. v. Winfried Menninghaus. Frankfurt/Main 1989, S. 166–173), andererseits als relativer Gegenbegriff zu ›Verweis‹. ›Darstellung‹ zeichnet sich im Gegensatz zum Verweis dadurch aus, dass das ›Dargestellte‹ in seiner ›Darstellung‹ tatsächlich auch ›da‹ ist, während der ›Verweis‹ von sich weg auf ein ›wirklich‹ anderes ›verweist‹. Diese Formulierung ist nicht ausgrenzend gemeint, sondern soll in ihrer relativen Unbestimmtheit gerade die Grenze des ›Abendländischen‹ offen halten. Von einer ›anthropologischen Konstante‹ wird hier bewusst nicht gesprochen. Stellt die Arbeit vorwiegend den Bezug der Hölderlin’schen Schriften zur antiken Dichtung und Philosophie sowie zum zeitgenössischen Kontext heraus, so wurde neuerdings auch das Verhältnis Hölderlins zum jüdischen Denken beleuchtet, vgl. Robert Charlier: Heros und Messias. Hölderlins messianische Mythogenese und das jüdische Denken. Würzburg 1999.
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abstrakt-strukturell gefasste Verhältnis von Einheit und Differenz wirkt somit eminent im konkreten Lebensvollzug des Einzelnen als auch in einer politischen, sozialen und kulturellen Gemeinschaft nach. Ist die Einheits- und Differenzproblematik von Anfang an mit der Problematik der Darstellung verbunden (vgl. das Verhältnis von ›Sein‹ und ›logos‹ bei Parmenides und Heraklit sowie das Verhältnis von Idee und Erscheinung, somit die ›mimesis‹-Problematik bei Platon), so wird dieser Komplex in Hölderlins poetologischen Reflexionen bestimmend, die sich konzentriert um 1800 finden. Doch bereits vorher sind Hölderlins Notizen, Schriften und Dichtungen – entsprechend seinem Bildungskontext – von dieser Thematik mehr oder weniger ausdrücklich geprägt.14 Die poetologischen Entwürfe um 1800 nun verfolgen – so die weitergehende These – das Ziel, den Anspruch des poetischen Sprechens gegenüber einem philosophischen nicht bloß zu rechtfertigen, sondern ihn grundlegend zu erfragen und zu begründen. Das Zentrum der Erörterungen Hölderlins ist somit die Frage, ob, inwiefern und aufgrund welcher Voraussetzungen das poetische Sprechen in der Lage ist, ›das Höchste‹ angemessener darzustellen bzw. angemessener auf es zu verweisen – und darin ›Darstellung‹ zugleich zu
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So ist die dichotomische Anlage der frühen ›Tübinger Hymnen‹ ein fast unbestrittener Topos der Forschung, und auch die nicht-poetischen Entwürfe sind von dem Verhältnis von Einheit und Differenz geprägt. So findet sich im offiziellen theologischen Kontext, in der »vermutlich ersten religiösen Ansprache Hölderlins« (MA, Bd. 3, S. 370), ›Prooemium habendum …‹, sogar bereits die für Hölderlin eminente sprachliche Bildung des Oxymoron »Gottmensch« (MA, Bd. 2, S. 10; FHA, Bd. 17, S. 39; StA, Bd. 4,1, S. 172). Des Weiteren sind die zentralen Themen Hölderlins, in denen er sich von einem orthodoxchristlichen Kontext löst, in der christlich-theologischen Problematik strukturell vorbereitet (vgl. das zentrale Verhältnis von Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit und die verschiedenen Modi der Präsenz des Göttlichen, die noch in ›Brod und Wein‹, ›Friedensfeier‹, ›Der Einzige‹ und vor allem ›Patmos‹, jeweils in den verschiedenen Fassungen, Thema sind). Aus diesem Grund erscheint es auch nicht abwegig, Bezüge zur mittelalterlichen Theologie und Philosophie herzustellen (vgl. Johann Kreuzer: »Philosophische Hintergründe der Christus-Hymne ›Der Einzige‹«. In: HJb 32 [2000/01], S. 69–104), abgesehen davon, dass die Nennung des »Afrikaners« in dem Schluss der zweiten Fassung von ›Der Einzige‹ (vgl. MA, Bd. 1, S. 459; FHA, Bd. 8, S. 787; StA, Bd. 2,1, S. 159) auf Augustinus bezogen werden kann. In ›Prooemium habendum …‹ finden sich die Abstufungen und Modi der göttlichen Präsenz als »unmittelbare Offenbahrung und Erscheinungen« (MA, Bd. 2, S. 9; FHA, Bd. 17, S. 37; StA, Bd. 4,1, S. 171; vgl. dazu auch den 具Predigtentwurf典, MA, Bd. 2, S. 43–45; FHA, Bd. 17, S. 125f.; StA, Bd. 4,1, S. 173–175), als die Lehre »durch Propheten« (ebd.) sowie als das Entsenden des Sohnes als »Gottmensch« (MA, Bd. 2, S. 10; FHA, Bd. 17, S. 39; StA, Bd. 4,1, S. 172) und als »zweyte Person der heiligen Dreyeinigkeit« (MA, Bd. 2, S. 9; FHA, Bd. 17, S. 38; StA ebd.). Die Bezüge der Tübinger Magisterarbeit ›Geschichte der schönen Künste …‹ zu der Einheits- und Differenzthematik werden in Kapitel II.1.1 erörtert. In dem ›Versuch einer Parallele zwischen Salomons Spruchbüchern und Hesiods Werken und Tagen‹ findet sich das Verhältnis von ›Stoff‹ und ›Form‹ (vgl. MA, Bd. 2, S. 30; FHA, Bd. 17, S. 73; StA, Bd. 4,1, S. 179), und die Auseinandersetzung ›Zu Jakobis Briefe über die Lehre des Spinoza‹ bezieht sich zwangsläufig auf das Verhältnis von Einheit und Vielfalt, indem Hölderlin den ›Spinozismus‹ Lessings als ›Hen kai pan‹ fasst (vgl. MA, Bd. 2, S. 39; FHA, Bd. 17, S. 108; StA, Bd. 4,1, S. 207).
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überschreiten – als ein ›diskursives‹15 und speziell ›philosophisches‹ Sprechen. In eins damit steht zur Debatte, was überhaupt ein ›Höchstes‹ oder ›das Höchste‹ sein könnte, ebenso ›Darstellung‹ und ›Verweis‹. In Hölderlins Schriften zeichnet sich in dieser Hinsicht eine bedeutende Wende zwischen den Vorfassungen des ›Hyperion‹ und der endgültigen Version ab, in der die ›Ideale‹, die in den Vorreden der früheren Fassungen noch eine zentrale Stellung einnehmen, dispensiert werden und einer spezifischen Auffassung von Negativität als Zentrum und Ursprung weichen (vgl. Kapitel I.4.9). Diese veränderte Konzeption kommt in dem zentralen poetologischen Fragment »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« explizit zum Ausdruck und hält sich in der grundlegenden Stoßrichtung bis in die ›SophoklesAnmerkungen‹ hinein durch. Doch zeichnet sich bereits in den Frühschriften die Tendenz zu einer zentralen Rolle der Differenz bzw. Negativität ab. So deutet die Weise, in der Hölderlin die Fichte’sche Konzeption des Selbstbewusstseins in 具Seyn, Urtheil, Modalität典 sowie in dem sachlichen Umfeld kritisiert, auf eine grundsätzliche Aufwertung der Differenz hin. Bleibt die Reflexionsstruktur zwar grundsätzlich dieselbe (vgl. Kapitel I.4.2), so bildet die Auffassung Hölderlins, nach der Selbstbewusstsein nur vermittels eines grundsätzlich anderen als ›Objekt‹ bzw. ›Nicht-Ich‹ (und nicht vermittels einer bloßen Abspaltung des ›Nicht-Ich‹ vom absoluten Ich) zu begründen ist, den Beginn einer radikaleren Fassung der Rolle der Differenz. Diese tritt jedoch erst in der Endfassung des ›Hyperion‹ sowie den späteren poetologischen Entwürfen in ihrer ganzen Tragweite hervor. Gerade in den Letzteren manifestieren sich die Umwertungen besonders deutlich. Denn fasst Hölderlin in 具Seyn, Urtheil, Modalität典 die ›intellectuale Anschauung‹ noch als Organ zur Erfassung einer Einheit des ›Seyns schlechthin‹, so erscheint sie (und mit ihr die zu erfassende Einheit) in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« sowie in den Entwürfen zu den Tönen in deutlicher Relativierung ihres Anspruchs lediglich als eine von drei möglichen Begründungen bzw. Grundtönen des Gedichts (vgl. Kapitel V).16 15
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›Diskursiv‹ bzw. ›philosophisch‹ wird hier als relativer – und nur in diesem Bezug ist die Konstatierung möglich – Gegensatz zum ›poetischen‹ Sprechen verwendet. Die Sprachverwendung orientiert sich somit an dem behandelten Thema ›harmonischer Entgegensetzung‹ und Darstellung. Lawrence Ryan (Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne. Stuttgart 1960) sieht diese grundsätzliche Umwertung nicht und betrachtet die Konzeption des ›göttlichen Moments‹ ›transzendentaler Empfindung‹ sowie das in dem ›Wechsel der Töne‹ Darzustellende durchgängig und zum Teil unausdrücklich von 具Seyn, Urtheil, Modalität典 her. Eine damit einhergehende Überbewertung der ›intellectualen Anschauung‹ in Bezug auf die späteren poetologischen Entwürfe findet sich auch bei Jochen Schmidt (»Hölderlin: Die idealistische Sublimation des naturhaften Genies zum poetisch-philosophischen Geist«. In: Friedrich Hölderlin. Neue Wege der Forschung. Hrsg. v. Thomas Roberg. Darmstadt 2003, S. 115–139; in Bezug auf »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« vgl. S. 125f., auf ›Hyperion‹ S. 127f., auf ›Über den Unterschied der Dichtarten‹ S. 128).
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Ebenso nimmt das ›Höchste‹ und ›Darzustellende‹ – und darin besteht das Hauptanliegen der folgenden Ausführungen – einen veränderten Charakter an, der mit der grundsätzlichen Aufwertung der Negativität bzw. Differenz einhergeht. Denn wird dieses ›Höchste‹ in den früheren Konzeptionen, in 具Seyn, Urtheil, Modalität典 sowie in den Vorreden zu den Vorfassungen von ›Hyperion‹, noch als absolute Einheit des ›Seyns schlechthin‹ bzw. als ›Ideal‹ bestimmt, so scheint zwar die Stoßrichtung von »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« einerseits – ganz idealistisch – auf die unendliche Durchdringung von Ich und ›Welt‹ bzw. (poetischem) ›Geist‹ und ›Göttlichem‹ zu gehen, andererseits zeigt sich in der Weise der Konzeption des Einheitsmomentes, des ›göttlichen Moments‹ ›transzendentaler Empfindung‹, jedoch ein Geschehen an, das in Hölderlins Schriften zwar nicht explizit so benannt wird, das jedoch als der Moment des Umschlags von Identität in Differenz und von Differenz in Identität gefasst werden muss. Dieses augenblickliche Geschehen kann als transzendentales nicht mehr in den Kategorien des Übergangs beschrieben werden, wie das noch für den Entwurf »Das untergehende Vaterland …« möglich ist (wobei auch da ein Moment des bloßen Umschlags bzw. der Anfänglichkeit angenommen werden muss), sondern dieser Augenblick des Umschlags verhält sich zur Darstellung, die stets in zeitlicher Erstreckung erfolgt, radikal diskontinuierlich. Zugleich ›begründet‹ und ›ermöglicht‹ dieser Umschlag von Identität und Differenz ineinander Diese Übertragung hat insbesondere Auswirkungen auf das Verständnis der Hölderlin’schen Tragödienkonzeption, wie sie sich beispielsweise bei Jürgen Söring (Die Dialektik der Rechtfertigung. Überlegungen zu Hölderlins Empedokles-Projekt. Frankfurt/Main 1973, vgl. z. B. S. 61) und Helmut Bachmaier (»Theoretische Aporie und tragische Negativität. Zur Genesis der tragischen Reflexion bei Hölderlin«. In: Helmut Bachmaier, Thomas Horst, Peter Reisinger: Hölderlin. Transzendentale Reflexion der Poesie. Stuttgart 1979, S. 83–145, vgl. v. a. S. 133 und 136) findet. Auf die Differenz zwischen den Konzeptionen der intellektuellen Anschauung geht Thomas Horst (»Wechsel und Sein. Die Ambivalenz des Absoluten in Hölderlins Poetik«. In: Helmut Bachmaier, Thomas Horst, Peter Reisinger: Hölderlin. Transzendentale Reflexion der Poesie. Stuttgart 1979, S. 146–187) ein, jedoch lediglich, um sie als ›ambivalente‹ zu begreifen (vgl. S. 178f.). Als »schließlich suspendiert« (S. 233) betrachtet Xavier Tilliette (»Hölderlin und die intellektuale Anschauung«. In: Philosophie und Poesie. Otto Pöggeler zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Annemarie Gethmann-Siefert. Stuttgart-Bad Cannstatt. Bd. 1 1988, S. 215–234, vgl. v. a. S. 229 und 231) die ›intellectuale Anschauung‹. In dieselbe Richtung weist Winfried Menninghaus (»Geist, Sein, Reflexion und Leben: Hölderlins Darstellungstheorie«. In: Friedrich Hölderlin. Neue Wege der Forschung. Hrsg. v. Thomas Roberg. Darmstadt 2003, S. 49–66). Patrizia Hucke (»›Seyn schlechthin‹ und ἕν διαϕέϱον ἑαυτῷ. Zur Beziehung von Einheit und Differenz in Jenaer Texten Friedrich Hölderlins«. In: Erfahrungen der Negativität. Festschrift für Michael Theunissen zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Markus Hattstein u. a. Hildesheim u. a. 1992, S. 95–114) geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn sie die Struktur des ›Einen in sich selber unterschiednen‹ auf die Problematik von ›Urteil und Sein‹ rückbezieht (vgl. S. 102). Vgl. dazu auch Félix Duque: »›Es ereignet sich aber / Das Wahre‹. De la vérité transcendentale à la vérité poétique chez Hölderlin«. In: La vérité. Antiquité – Modernité. Publ. par JeanFrançois Aenishanslin. Lausanne 2004, S. 221–245.
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jedoch die Darstellung als die Wechselwirkung von Einheit und Differenz in der Zeit, wobei dieses Verhältnis der ›Begründung‹ und ›Ermöglichung‹ selbst als diskontinuierliches und somit nicht im Sinne einer kausalen oder finalen Ableitung, sondern als in sich paradoxes und ›sprunghaftes‹, gefasst werden muss. So ist es jener Moment, der einerseits die Sprachfindung des Gedichts begründet und auf den andererseits nicht als ›absolute Identität‹, sondern vielmehr als der besagte ›Umschlag‹, somit als die ›absolute Identität‹ und die ›absolute Differenz‹ von Identität und Differenz verwiesen werden muss.17 Die eben erfolgte, diskursive Rede über den ›göttlichen Moment‹ ›transzendentaler Empfindung‹ ist nur in diesen Aporien als Verweis möglich, denn das Sagen des Augenblicks des Umschlags sagt ihn als Rede in zeitlicher Erstreckung und in der Differenz von Einheit und Differenz immer auch schon nicht. Noch deutlicher ist diese Unmöglichkeit in dem zweiten hier angebrachten Verweis, denn weder kann die absolute Einheit noch die absolute Differenz gesagt werden, und am wenigsten als Zusammengehendes, als zugleich ›absolute‹ Einheit und ›absolute‹ Differenz von Identität und Differenz.18 Die Grenzen diskursiven Sprechens zeigen sich hier deutlich an. Zugleich ist die Darstellung dieses Augenblicks die Aufgabe des poetischen Sprechens nach Hölderlin. Diese gegenüber einer absoluten Einheit veränderte Auffassung des ›göttlichen Moments‹ ›transzendentaler Empfindung‹, bei dem ›das Göttliche‹ (entsprechend der Fichte-Kritik) zwar als grundsätzlich Differentes zum Menschen gefasst wird, jedoch nicht in dem Sinne eines Absoluten zum Relativen, sondern als in konstitutivem Wechselverhältnis sich befindend, entspricht der gesamten Darstellungsproblematik und dem Verhältnis von Identität und Differenz in den zentralen poetologischen Schriften. In den auch immer wieder gebrochenen Verhältnissen ist im Ganzen die konstitutive Rolle der Negativität im Sinne einer Wechselwirkung des ›einen‹ und des ›anderen‹ als auch vor allem die Unaufhebbarkeit der Differenz bzw. Negativität in der Einheit zu verzeichnen. Dabei ist in den Konzeptionen der Darstellungsstruktur, die mit Recht als ›Identität (1) der Identität (2) und der Differenz‹ angezeigt werden können,19 17
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Inwiefern diese paradoxe Formulierung lediglich ›Verweis‹ sein kann und inwiefern ›absolut‹ hier zugleich gerade ›nicht absolut‹ bedeuten muss, wird im Verlauf der Abhandlung deutlich. ›Einheit‹ und ›Identität‹ werden hier synonym verwendet. Diese ›Darstellungsweise‹ geht einerseits auf zeitgenössische Verwendungen zurück (vgl. der Sache nach bei Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe, § 15 und 16 und Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre [1794], § 3 und als Bestimmung des Absoluten in eben dieser Ausdrucksweise in Bezug auf Fichte bei Hegel: »Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie«. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke 2: Jenaer Schriften [1801–1807]. Frankfurt 1970, S. 96), andererseits ist es die Darstellungs- bzw. Verweisform, die das dynamische Verhältnis (als Oxymoron) gerade als in sich paradox gekehrte Bewegung der In- und Exklusion auf zwei Ebenen und damit dessen Selbstreflexivität und -perpetuation am deutlichsten anzeigt. Dieses ›Verhält-
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die erste Identität nicht als das alles begründende und ermöglichende ›eine‹ konzipiert, das die Differenz sowie das Wechselverhältnis von Identität (2) und Differenz immer schon umfassen und aufheben würde. Vielmehr erscheint dieses ›eine‹ als Reflex des Wechselverhältnisses der Entgegengesetzten oder aber als identisch mit diesem und ist somit lediglich im strukturellen, nicht aber im qualitativ bestimmten Sinne als Einheit zu fassen. Gegenüber einer – grob gesprochen – ›vereinigungsphilosophischen‹ Perspektive sind die Begründungsverhältnisse somit vertauscht. Anstatt des ›einen‹ als dem Begründenden und Umfassenden erscheint hier das Gegensatzverhältnis selbst als das strukturell ›eine‹, das nicht anders denn als die Dynamik wechselseitiger Konstitution zu denken ist.20 Bildet das strukturelle ›Zusammen‹ der Entgegengesetzten jedoch das ›Zugrundeliegende‹, so ist damit der Möglichkeit der Deduktion aus einem Prinzip eine Absage erteilt. Entsprechend operiert die ›Verfahrungsweise‹ zwar mit transzendentalem Anspruch, wird diesem im Kantischen Sinne jedoch nicht gerecht. An die Stelle transzendentaler Deduktion muss – in Korrespondenz zum ›göttlichen Moment‹ – der augenblickliche ›Ursprung‹ als das plötzliche Zugleichsein und das gegenseitige Sich-Setzen des ›einen‹ und des ›anderen‹ treten, das als Geschehen kausallogisch nicht ableitbar ist. Dieses Verhältnis wird in den poetologischen Schriften als ›Entspringen‹, als ›Geburt‹ und in den Dichtungen auch als ›Zeugen‹ bezeichnet.21 Geschieht in dem ›göttlichen Moment‹ ›transzendentaler Empfindung‹ der Ursprung der Dichtung und vollzieht und stellt die Dichtung diesen Moment
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nis‹ steigert sich als poetische Darstellung eigens, und aus diesem Grund wird die ›Struktur‹ an einigen Stellen der Arbeit als Zusammenhang mehrerer solcher Verhältnisse ›ausgeschrieben‹ (vgl. beispielsweise Kapitel V.11). Erscheint diese ›Darstellungsweise‹ einerseits ungelenk und formalistisch, so ist sie doch andererseits die Weise, die – gerade aufgrund ihres extremen Gegensatzes zu dem, worauf sie verweisen soll, nämlich auf die inkommensurable und nicht darstellbare Gesamtdynamik wechselseitiger Verhältnisse – am genauesten und treffendsten auf dieses Nicht-Darstellbare als das extrem andere verweist. Gerade darin folgt diese Verweisart selbst der Dynamik der Einheit der Einheit und der Differenz. Eine andere Auffassung von ›Einheit‹ zieht einen höheren Stellenwert der ›intellectualen Anschauung‹ nach sich, vgl. die Angaben oben. Eine Abgrenzung zu Hegel hinsichtlich der Negativitätsthematik zieht Dieter Henrich (Hegel im Kontext. Frankfurt/Main 1971), nach dem Hölderlin in der Homburger Zeit »die Entfaltung der Gegensätze über die Idee der Wiederholung der Einheit des Ursprungs gestellt« (S. 31) habe. Ob der Bezug auf Einheit jedoch in diesem Sinne ›gründenden‹ Charakter hat, bleibt fraglich: »Auch im steten Bezug des Wechsels kann Hölderlin also die gründende Einheit nicht entbehren, wenn er auch den Weg in die Trennung als endgültig und die innige Ursprungseinheit als verloren, und zwar glücklich verloren anerkennt« (S. 33). In einer jüngeren Publikation (»Hölderlins Philosophische Grundlehre. In der Begründung, in der Forschung, im Gedicht«. In: Anatomie der Subjektivität. Bewußtsein, Selbstbewußtsein und Selbstgefühl. Hrsg. v. Thomas Grundmann u. a. Frankfurt/Main 2005, S. 300–324) fasst er dieses Grundverhältnis ausdrücklich in Bezug auf Erinnerung (vgl. v. a. S. 311f.). Vgl. beispielsweise »Wie wenn am Feiertage …«, St. 6, V. 5 (MA, Bd. 1, S. 263; FHA, Bd. 8, S. 558; StA, Bd. 2,1, S. 119).
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so dar, dass er in dieser, als anderer, ›erneut‹ zu ›seinem‹ Geschehen drängt, so zeigen sich die ästhetisch relevanten Konzeptionen von ›Schönheit‹, ›Harmonie‹, ›Einheit‹, ›Ruhe‹, ›Gleichgewicht‹, ›Maß‹, ›Telos‹, ›Zu-sich-Kommen‹, ›Selbst‹ etc. als jeweils relative und radikal geschichtliche, die nur von dem Streit der Gegensätze her gedacht werden können und die in eins damit gängige neuzeitlichen Dichotomien, beispielsweise von ›Schönem‹ und ›Erhabenem‹ oder die Gegensatzkonstruktion von ›Klassik‹ und ›Romantik‹,22 unterlaufen. Der Ansatz der Arbeit versteht sich als phänomenologisch, wobei damit gerade kein ›methodisches‹ Bekenntnis, sondern der Versuch, sich in die Voraussetzungen der ›Sache‹ zu stellen gemeint ist. Damit befindet sich der Ansatz jedoch in einer Aporie, die bereits in Platons Dialog ›Menon‹ als bohrende Frage formuliert ist, wie nach etwas gefragt werden könne, was gerade nicht bekannt sei. Kommt eine jede Auslegung über das konstitutive Wechselverhältnis der eigenen Voraussetzungen mit der ›Sache‹ nicht hinaus – und ist damit genau die in sich widerstrebige23 Struktur angesprochen, um die die Arbeit kreist – so folgt daraus, dass der Auslegende in erster Linie darauf verwiesen sein muss, sein Vorgehen auf übergeordneter Ebene zu reflektieren, um so vermittels der Wechselwirkungen seine eigenen Voraussetzungen von denen der ›Sache‹ relativ abheben und so das eine wie das andere – relativ – ›fassen‹ zu können. Aus diesem Grund teilt sich die Arbeit in drei große Teile und deshalb ist in jedem Abschnitt ein Neuansatz und eine Durcharbeitung der Darstellungsstruktur aus veränderter Perspektive intendiert. Dabei stellt sich die Auslegung einerseits in die Voraussetzungen der Texte, um diese andererseits von innen
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Vgl. dazu auch unter kulturhistorischer Perspektive Alexander Honold: Hölderlins Kalender. Astronomie und Revolution um 1800. Berlin 2005, v. a. S. 169 und 294, und Stefan Metzger: Die Konjektur des Organismus. Wahrscheinlichkeitsdenken und Performanz im späten 18. Jahrhundert. München 2002, v. a. S. 348. Die neologistisch anmutende Ausdrucksweise leitet sich von Übersetzungen von ›palintropos‹ bzw. ›palintonos harmonia‹ (Transkriptionen aus dem Griechischen erscheinen ohne Akzente) in Heraklits Fragment B 51 ab, das die Fügung des Bogens und der Leier (vgl. auch Kapitel II) beschreibt. So übersetzt Bruno Snell: »Sie verstehen nicht, wie das Unstimmige mit sich übereinstimmt: des Wider-Spännstigen Fügung wie bei Bogen und Leier« (Heraklit: Fragmente. Griechisch und Deutsch. Hrsg. v. Bruno Snell. Lizenzausgabe. Darmstadt 1995, S. 19). Hermann Diels übersetzt ›palintropos harmonia‹ mit »gegenstrebige Vereinigung« (Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch von Hermann Diels. Hrsg. v. Walther Kranz. 12., unveränderter Nachdruck der 6. verbesserten Auflage. Zürich u. a., Bd. 1 1985, S. 162), Uvo Hölscher mit »gegengespannte Fügung« (Anfängliches Fragen. Studien zur frühen griechischen Philosophie. Göttingen 1968, S. 144) und Thomas Buchheim mit »gegenwendige Fügung« (Die Vorsokratiker. Ein philosophisches Porträt. München 1994, S. 80). Die Textvariante ›palintonos‹ statt ›palintropos‹ übersetzt Buchheim mit ›rückgespannt‹ (vgl. ebd., S. 82) und fasst das Verhältnis umschreibend auch als »auseinanderstrebende[s] Zusammenstehen[…]« (ebd.), als »Gegenstrebigkeit« (ebd., S. 81) sowie »Gegenwirksamkeit« (ebd.). Die Gegensätze in dieser Fügung bezeichnet er als »kehrseitig Gegenwirksames« (S. 99). Im Zusammenhang eines anderen Fragmentes geht Buchheim auf dieselbe Struktur ein, indem er sie als das »gegenstrebige[…] Verhältnis[…]« (ebd.), »den zusammenhaltenden Streit der Kehrseitigen« und »das Zusammenhaltende der aneinander sich Kehrenden« (ebd.) bezeichnet.
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her zu überschreiten. Diese ›Überschreitung‹ ist jedoch nicht im Sinne einer Transzendierung oder eines ›angemesseneren‹ Verständnisses des Autors aufzufassen, vielmehr wird sie Teil des Wechselgeschehens von Einheit und Differenz im Lesen des Textes bleiben müssen. Denn nur dieses Geschehen kann sich in sich selbst auf verschiedenen Ebenen reproduzieren und sich somit einholen, das heißt, die zunächst unentfaltete Wechselwirkung von Einheit und Differenz ›des Lesens‹ und ›des Textes‹ – relativ und unabschließbar – auseinanderlegen und so ›das eigene Lesen‹ und ›das Geschriebene‹ voneinander differenzieren. In eins damit wird es – gewissermaßen als ›Negativ‹ zu dem beschriebenen Geschehen – allererst möglich, das Augenmerk auf die Differenzen innerhalb der Texte zu legen. Nur in diesem Wechselprozess von Einheit und Differenz, so können die Überlegungen zusammengefasst werden, ist es möglich, die Grenzen des ›eigenen Lesens‹ und die des ›Gelesenen‹ relativ zu unterscheiden, und nur so kann mit dem Text gegen ihn über ihn hinaus und zu ihm zurück gegangen werden, was genau der Struktur der Darstellung24 entspricht, um die die Arbeit kreist und worin sich ihre ›methodische‹ Forderung einlöst. Entsprechend diesem Ansatz nähert sich die Arbeit in dem ersten Teil A der Grundstruktur der Darstellung an, indem sie von einer strukturellen Analyse25 des 30. und des 60. Briefes (d. h. des letzten Briefes des ersten Bandes und des letzten Briefes des Romans) sowie des Gesamtromans ›Hyperion oder der Eremit in Griechenland‹ in der endgültigen Fassung ausgeht. Darauf folgt die Herausarbeitung intertextueller Bezüge auf Platon und Sophokles, in der eine nicht-traditionelle Lesart Platons26 impliziert ist. Diese Perspektive wird im folgenden Kapitel in Bezug auf Heraklit fortgesetzt, jedoch ohne einen ›historischen‹ Einfluss nachweisen zu wollen. Vielmehr werden Strukturanalogien aufgezeigt und die Veränderung der Negativitätskonzeption anhand der verschiedenen Fassungen der ›Diotima‹-Gedichte aufgewiesen. Der zweite Teil des Kapitels arbeitet die strukturellen Verhältnisse von ›Darstellung‹ an den zentralen Phänomenen des Bogens und der Leier heraus. Der erste Hauptteil A schließt mit Analogien zwischen ›Hyperion‹ und poetologischen Schriften Hölderlins ab, wobei vor allem die aufgewiesenen Bezüge zu den ›Sophokles-Anmerkungen‹ einen programmatischen Status einnehmen insofern, als sie diese späteren Schriften mit ›Hyperion‹ in Verbindung brin24
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›Darstellung‹ wird in der Arbeit entsprechend der Strukturverhältnisse bei Hölderlin auch als ›Einholung‹, ›Reflexion‹ und ›Erinnerung‹ gefasst. Sämtliche in der Arbeit verwendeten Bezeichnungen sind Darstellungsverhältnisse in dem Sinne der herauszuarbeitenden Relation von Einheit/Identität und Differenz/Negativität. Die jeweiligen Abweichungen von der Forschung werden in den Kapiteln diskutiert und können hier nicht im Einzelnen genannt werden. Auch die in der Arbeit immer wieder angegebenen Parallelen zu Platons Konzeptionen orientieren sich an einer nicht-traditionellen Lesart Platons. Die Verweise dienen in erster Linie dazu, Hölderlins Ausführungen in der Auslegung historisch zu beziehen und somit nicht als bloß singuläre oder ›moderne‹ erscheinen zu lassen.
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gen – ein Bezug, der in der Forschung aufgrund einer starken Unterscheidung zwischen einem ›früheren‹ und ›mittleren‹ ›idealistischen‹ und einem ›späteren‹ ›anti-idealistischen‹ Hölderlin oftmals geleugnet wird.27 Im Ganzen dient dieser Teil bereits der Anzeige der ausgezeichneten Bedeutung der Darstellungsstruktur für das Tragische. Nach diesem annähernden Durchgang folgt der zweite, zentrale Teil der Arbeit mit einer ausführlichen Analyse des poetologischen Entwurfs »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«, der in der Hölderlin’schen Konzeption poetischer Darstellung eine Scharnierstellung einnimmt. In diesem Teil wird die Grundthese der Arbeit herausgearbeitet und ›begründet‹. Eröffnen sich in diesem Mittelteil aus dem genauen Nachvollzug des Textes heraus die größeren philosophisch-poetologischen Züge, so wendet sich der dritte Teil C dem ›Kleingedruckten‹ der Hölderlin’schen Poetologie zu, den speziellen Erörterungen zu den ›Tönen‹. Dazu nimmt die Arbeit eine veränderte und zunächst nochmals basale Perspektive auf »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« ein und begründet die ›Töne‹-Theorie aus diesem Entwurf heraus. Die weiteren Ausführungen beziehen sich auf kürzere poetologische Skizzen und Fragmente zu den ›Tönen‹, die Durcharbeitungen möglicher poetischer Darstellungsweisen des ›göttlichen Moments‹ im Kontext der Einheitsund Differenzproblematik sind und somit für die Hölderlin’sche Poetologie wie für den Zusammenhang und die Differenzierung der Gattungen einen zentralen Status beanspruchen.28 Diese Ausführungen sind mit grundsätzlichen Folgerungen, vor allem in Kapitel V.5 und V.6 durchsetzt. Der Abschnitt V.11 schließlich bezieht die Dynamik von Einheit und Differenz auf das Verhältnis von ›Darstellung‹ und ›Vollzug‹ im Gedicht und arbeitet daran Wegmarken für eine grundsätzliche Betrachtung der Differenz von diskursivem, speziell philosophischem, und poetischem Sprechen heraus. Diese finden ihre Fortsetzung und Einlösung in den abschließenden Analysen der exemplarischen Gedichte »Wie wenn am Feiertage …« und ›Hälfte des Lebens‹, so dass der Zielpunkt der Hölderlin’schen Durcharbeitungen durch die poetische Darstellungsthematik an den Gedichten selbst eingeholt wird. Bewusst beginnt und endet die Arbeit mit der Analyse von Dichtungen. Die Auswahl der abschließenden Gedichte begründet sich mit deren konstitutiver 27
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Selbst Ausrichtungen, die den zentralen Status der ›Sophokles‹-Anmerkungen hervorheben (vgl. die oben skizzierte ›französische‹ Rezeption) scheuen sich mitunter, diese Bezüge herzustellen. Rainer Nägele sieht demgegenüber einen durchgängigen Kantbezug sowohl in den poetischen wie den poetologischen und philosophischen Schriften Hölderlins (vgl. Hölderlins Kritik der poetischen Vernunft. Basel u. a. 2005, z. B. S. 6). Trotzdem werden sie in der Forschung oft nur rudimentär oder oberflächlich behandelt. Eine Ausnahme bildet die grundlegende Arbeit von Lawrence Ryan (Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne. Stuttgart 1960), mit der sich die entsprechenden Kapitel (vgl. Kapitel V) auch zentral auseinandersetzen und eine teilweise abweichende Deutung formulieren.
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Zwischenstellung, indem sie einerseits in den zeitlich-sachlichen Rahmen der zentralen poetologischen Erörterungen gehören, andererseits jedoch in spezifischer Weise über diesen hinausweisen. Das ist bei »Wie wenn am Feiertage …« – auch als Fragment – als erster Ansatz der ›Gesänge‹, bei ›Hälfte des Lebens‹ aufgrund der späteren Entstehung im handschriftlichen Kontext des Abbruchs der ›Feiertagshymne‹ der Fall. Eine Analyse des Verhältnisses von ›griechischer‹ und ›hesperischer‹ Dichtung sowie eine eingehendere Untersuchung der ›Sophokles-Anmerkungen‹ kann und soll hier nicht geleistet werden.29 In dem Kapitel »Ausblick und Schluss« finden sich jedoch Hinweise zu einer Fortführung der Darstellungsstruktur in der späteren Dichtung. Die Arbeit verfährt entsprechend ihrem phänomenologischen Ansatz weitgehend immanent,30 doch zeigt sich die Hölderlin’sche Poetik darin zugleich als Konzeption, die in Beziehung zu wesentlichen Problemstellungen jüngerer Theorien, und zwar sowohl in poetologischer als auch kulturwissenschaftlicher Perspektive, steht. Die offensichtlichsten Bezüge stellen hierbei der dynamische Text- und Sprachbegriff, das Verhältnis von Auto- und Heteroreferentialität sowie das Konzept von Selbstreflexivität dar. Doch impliziert die genaue Fassung der Struktur und Dynamik von ›Darstellung‹ – gerade auch in Hinsicht auf deren Grenzen sowie die relative Differenz von ›diskursivem‹ und ›poetischem‹ Sprechen – auch Positionen in Bezug auf ›Pragmatisierung‹, ›Performanz‹, ›Wirklichkeit‹, ›Konstruktion‹, ›Repräsentation‹, ›Alterität‹, ›Zeichen‹ und ›Medialität‹. Diese Bezüge werden in der Arbeit zwar nicht eigens expliziert, doch kann Hölderlins Poetik gerade auch für diese Problemstellungen nicht nur aufschlussreich sein, sondern auch produktiv gemacht werden. Eine eingehende historische und kulturgeschichtliche Verortung der Hölderlin’schen ›Position‹ ist nicht intendiert, wenngleich im Verlauf der Arbeit immer wieder Bezüge und Konstellationen aufgezeigt werden.
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Zur Verbindung beider vgl. etwa Anke Bennholdt-Thomsen: »›Wir müssen die Mythe … beweisbarer darstellen‹. Hölderlins moderne Rezeption der Antigone«. In: Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption. Hrsg. v. Martin Vöhler u. a. Berlin u. a. 2005, S. 181–199. Zum weiteren Kontext der Thematik vgl. auch den Band Darstellbarkeit. Zu einem ästhetischphilosophischen Problem um 1800. Hrsg. v. Claudia Albes u. a. Frey. Würzburg 2003.
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A. Annäherung an die Grundstruktur der Darstellung
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I.
Herausarbeitung der Grundstruktur an ›Hyperion oder der Eremit in Griechenland‹
1.
Zu ›Hyperion‹ im Kontext der neueren Narratologie (Genette)
Genettes Theorie der Erzählung1 gilt heute immer noch – und nicht bloß wegen der verspäteten deutschen Übersetzung – als »theoretisch anspruchvollste, ausgewogenste und kohärenteste, zugleich aber auch […] hochgradig ›praktikable‹ Theorie der literarischen Erzählung«.2 Der letzte Punkt hat nicht zuletzt darin seine Ursache, dass die allgemein narratologischen Beobachtungen in ›Diskurs der Erzählung‹ ihren Ausgangs- und Endpunkt in der Analyse von Prousts ›A la recherche du temps perdu‹ haben, somit am Text gewonnen werden und zu ihm zurückführen sollen. Diese äußerst überzeugende Herangehensweise, die »nicht vom Allgemeinen zum Besonderen schreiten [soll], sondern gerade vom Besonderen zum Allgemeinen«,3 bleibt somit im besten Sinne in dem »Paradox« »jede[r] Poetik, ja überhaupt jede[r] Erkenntnistätigkeit«4 befangen, »wonach es Gegenstände nur als singuläre gibt, Wissenschaft aber nur vom Allgemeinen«.5 ›Poetischer‹, jedoch zugleich genauer ausgedrückt, bedeutet dies, dass »das Allgemeine im Herzen des Singulären wohnt und folglich – entgegen dem üblichen Vorurteil – das Erkennbare im Herzen des Mysteriums«.6 Genette ist sich somit darüber bewusst, dass die von ihm vorgeschlagenen ›Kategorien‹ heuristisch sind und sich an dem jeweiligen Text ›bewahrheiten‹ bzw. an diesem ›abgewandelt‹ werden müssen. Zugleich können derartige Einteilungen gerade in den (statischen) Grenzziehungen, die sie bedeuten, über sich hinaus auf anderes verweisen, das dann als das Jeweilige, d. h. lediglich im Ausgang von diesen ›Kategorien‹ beschrieben werden muss. Sowohl dieser Ansatzpunkt einer Relativierung in Bezug auf einen Text als auch die Wahl der ›Recherche‹ als Genettes Leittext machen – in allen Übereinstimmungen und Differenzen – den Ansatz für ›Hyperion‹ ›geeignet‹. Ein weiteres positives Argument für den Bezug dieser Theorie auf den ›Hyperion‹ besteht in Genettes triadischer Unterteilung nicht nur in ›Erzäh1 2 3 4 5 6
Zum Verständnis von ›Theorie‹ vgl. Genettes Vorwort in ›Diskurs der Erzählung‹ (Gérard Genette: Die Erzählung. 2. Auflage München 1998, S. 11–13). Jochen Vogt in seinem Nachwort von 1994 (vgl. ebd., S. 300). Gérard Genette: Die Erzählung. 2. Auflage München 1998, S. 12. Ebd. Ebd. Ebd.
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lung als Diskurs‹ und ›Erzählung als Geschichte‹,7 sondern in ›Erzählung‹ (›récit‹), ›Geschichte‹ (›histoire‹) und ›Narration‹ (›narration‹),8 und zwar unter Betonung der wechselseitigen Konstitution,9 die unausdrücklich an einem Pierceschen triadischen Zeichenmodell orientiert zu sein scheint. Dabei wird unter ›Erzählung‹/›récit‹ der ›Signifikant‹, die ›Aussage‹ (›énoncé‹), der ›narrative Text‹ oder ›Diskurs‹,10 somit der Erzähltext als solcher, aufgefasst, unter ›Geschichte‹/›histoire‹ die ›erzählte Geschichte‹, das ›Signifikat‹, der ›narrative Inhalt‹11 und unter ›Narration‹/›narration‹ der ›produzierende narrative Akt‹ bzw. die ›reale oder fiktive Situation, in der er erfolgt‹.12 Diese Unterscheidung ist insofern wichtig, als mit der Narration die ›Stimme‹ mit einbezogen wird und die jeweilige Erzählinstanz nicht bloß auf der Ebene des ›discours‹ angesiedelt sein kann, sondern gerade – wie bei ›Hyperion‹ der Fall – als ›Teil‹ des Diskurses sich mit diesem in konstitutiver Wechselwirkung befindet. ›Hyperion‹ realisiert die paradox in sich verschränkte, dynamische Wechselund Konstitutionsstruktur von Verschiedenen, die in dem ›Einen in sich selber unterschiednen‹ als auch in dem Motto des Romans, »Non coerceri maximo, contineri minimo, divinum est«,13 angegeben ist, auf allen Ebenen und in allen Hinsichten der Erzählung. Diese Dynamik ist eine, die sich in sich immer schon überschreitet, aber darin zugleich in sich bleibt. Genau dies ist v. a. in Bezug auf – mit Genette – die ›Stimme‹ bzw. die ›Ebenen der Erzählung‹ sowie hinsichtlich der Zeitstruktur gegeben. Inwiefern darin auch eine Überschreitung der Grenzen von ›Erzählung‹, ›Geschichte‹ und ›Narration‹ stattfindet, wird sich ausgehend von dem Versuch der Anwendung der einzelnen ›Kategorien‹ in Bezug auf ›Stimme‹ und ›Zeit‹ zeigen. Auffälligerweise lassen sich sämtliche Probleme dynamisch-paradoxer Wechselwirkungen auf die Zeitstruktur des Romans zurückführen. Denn diese teilt sich nicht nur in ›erzählte Zeit‹ und ›Erzählzeit‹, sondern die ›erzählte Zeit‹ ist in sich nochmals differenziert und in der Erzählung ›gedoppelt‹: in die Zeit, die Hyperion vor dem Briefeschreiben ›durchlebt‹ (die ›intradiegetische‹, ›erzählte‹ Zeit) und die Zeit, in der die Erzählerfigur Hyperion nicht bloß die Briefe schreibt, sondern in der er als Eremit lebt. ›Erzählt‹ ›der Roman‹ zwar hauptsächlich von den Erlebnissen Hyperions in dem erstgenannten Zeitraum, so befasst er sich explizit jedoch auch mit den (v. a. inneren) Geschehnissen zur Zeit des Eremitenlebens. In dieser Hinsicht wäre das Verhältnis zwischen
7 8 9 10 11 12 13
Vgl. ›discours‹ und ›histoire‹ bei Tzvetan Todorov: »Les catégories du récit littéraire«. In: Communications 8 (1966), S. 125–151. Vgl. Gérard Genette: Die Erzählung. 2. Aufl. München 1998, S. 16. Vgl. ebd., S. 17. Vgl. ebd., S. 16. Vgl. ebd. Vgl. ebd. MA, Bd. 1, S. 610; FHA, Bd. 11, S. 578; StA, Bd. 3, S. 4.
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Erzähltem und Erzählen ein ›eingeschobenes‹, während die Schilderung der Ereignisse vor dem Beginn des Schreibens der Briefe durchgehend als ›späteres Erzählen‹ zu bezeichnen wäre. Die beiden Ebenen erzählter Zeit sind textweltlich chronologisch miteinander verbunden und bilden entsprechend der inversiven Erzählstruktur14 in der Erzählung stets zwei Ebenen erzählter Zeit. Wie Lawrence Ryan jedoch gezeigt hat15 – und dafür spricht auch der Untertitel des Romans – stehen insgesamt nicht die vergangenen oder die zu dem Schreiben der Briefe fast gleichzeitigen ›Erlebnisse‹ im Mittelpunkt des Romans, sondern vielmehr der Akt des Erzählens selbst sowie dessen Effekt auf den Erzählenden, d. h. auf Hyperion, der als ›Eremit in Griechenland‹ die Briefe an Bellarmin schreibt. Die Unterteilung in ein ›erzählendes und erzähltes Ich‹16 sowie in ›Geschichte‹ und ›Narration‹ ist somit nur bedingt möglich und im Falle des ›Hyperion‹ noch problematischer als bei sonstigen autodiegetischen Erzählungen in dissonanter Form. Denn mit der Überschreitung und dem Unterlaufen der Differenzierung in ›Geschichte‹ und ›Narration‹ geht auch die Unmöglichkeit einer – immer statischen – Zuordnung zu den Ebenen der ›Stimme‹ einher. So kann der erzählende, die Briefe schreibende Hyperion nicht als ›extradiegetisch‹ bezeichnet werden, gerade weil seine Veränderung im Erzählen/Schreiben in Wechselwirkung mit dem ›Erzählten‹ das eigentliche ›Zentrum‹ der Erzählung bildet. Ist die »narrative Instanz einer ersten Erzählung« nach Genette »per definitionem extradiegetisch«17 und ist die ›Diegese‹ »nicht die Geschichte, sondern das Universum, in dem sie spielt«18 und somit der ›extradiegetische Erzähler‹ ein Narrator, der »als Erzähler! – nie in einer Diegese auftritt, sondern, mag er auch fiktiv sein, unmittelbar dem (realen) extradiegetischen Publikum gleichgestellt ist«,19 so kann der ›Erzähler‹ Hyperion nicht als solcher bezeichnet werden, denn er ist gerade als Erzähler Hauptgegenstand der Diegese, obwohl er die ›narrative Instanz einer ersten Erzählung‹ bildet. Zudem ist bei einer solchen Konstellation nicht deutlich, ob die Reflexionen des erzählenden Hyperion auf die Effekte seines Schreibens auf ihn selbst auch als ›Geschichte‹ bzw. als Erzählung von Ereignissen gelten sollen oder nicht. Im Sinne der Genett’schen ›Minimalerzählung‹ könnte das der Fall sein, denn demnach liegt, »sobald es auch nur eine einzige Handlung oder ein einziges Ereignis gibt, eine Geschichte vor, denn damit gibt es bereits eine Veränderung,
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Vgl. Michael Knaupp: Friedrich Hölderlin: Hyperion. Stuttgart 1997, S. 76. Vgl. Hölderlins »Hyperion«. Exzentrische Bahn und Dichterberuf. Stuttgart 1965, sowie »Hölderlins ›Hyperion‹: Ein ›romantischer‹ Roman?«. In: Über Hölderlin. Frankfurt/Main 1970, S. 175–212. Zur Ich-Struktur und zur Konstitution des Selbstbewusstseins vgl. auch Kapitel I.4.2. Gérard Genette: Die Erzählung. 2. Aufl. München 1998, S. 163. ›Neuer Diskurs der Erzählung‹, ebd., S. 201. Ebd., S. 249.
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einen Übergang vom Vorher zum Nachher«.20 Würden Genettes Kategorien dahingehend spezifiziert, dass die ›Geschichte‹ gleichbedeutend mit dem explizit ›Erzählten‹ wäre und die ›Diegese‹ auch das implizite Geschehen umfassen würde, so wären beide in sich mehrfach unterteilt, und vor allem könnte in den Briefen, die mit Ausnahme der Paratexte den ›Roman‹ bilden, kein narrativer Standpunkt jenseits der Diegese ausgemacht werden. Vielmehr wäre der Erzählakt als solcher, die Narration, deren ›Hauptgegenstand‹. Die weitere Möglichkeit, einen Erzähler ›erster Ordnung‹ als extradiegetischen auszumachen, besteht in dem Einbezug der Paratexte (und nicht umsonst beschäftigt sich Genette mit diesen eigens), so dass das ›Ich‹ der Vorrede mit dem ›extradiegetischen‹ Erzähler, das explizit genannte ›Publikum‹ mit dem extradiegetischen Adressaten und der erzählende, schreibende Hyperion mit dem intradiegetischen Erzähler zu identifizieren wäre. Bezieht sich die Vorrede aber auf reale Geschehnisse, v. a. auf den realen zeitlichen Abstand des Erscheinens der beiden Bände des ›Hyperion‹ (»Ich bedaure, daß für jetzt die Beurteilung des Plans noch nicht jedem möglich ist. Aber der zweite Band soll so schnell, wie möglich, folgen«, reale Erscheinungsdaten: 1. Band: 1797, 2. Band: 1799), so wird die Grenze zwischen realem Autor und fiktivem Erzähler eingerissen. Zudem können diesem ›extradiegetischen Erzähler‹ zunächst nur sämtliche ›Paratexte‹ zugeschrieben werden, zugleich gibt er sich in der ›Vorrede‹ jedoch als Autor des Briefromans zu erkennen: Der Schauplaz, wo sich das Folgende zutrug, ist nicht neu, und ich gestehe, daß ich einmal kindisch genug war, in dieser Rüksicht eine Veränderung mit dem Buche zu versuchen, aber ich überzeugte mich, daß er der einzig Angemessene für Hyperions elegischen Charakter wäre, und schämte mich, daß mich das wahrscheinliche Urtheil des Publikums so übertrieben geschmeidig gemacht.21
Darin werden die darauf folgenden Briefe als ›fiktiv‹ gekennzeichnet, zugleich findet sich in der Weise der Ineinanderstaffelung und Verbindung der Erzählund Zeitebenen jedoch der Hinweis darauf, dass die Figur Hyperion nicht bloß zugleich der die Briefe schreibende, erzählende Hyperion ist, sondern zum Autor des gesamten Briefromans wird. In dieser Konstellation überkreuzen sich somit sowohl intra- und extradiegetisches Erzählen als auch ›Fiktives‹ und ›Reales‹, so dass auch die Paratexte nicht als ›rein‹ ›extradiegetisch‹ gelten können. Es ›gibt‹, so die strukturellen Implikationen der Erzählung, keine Instanz jenseits der ›erzählten Welt‹, der ›Diegese‹ und bloß den relativen, ›harmonischen‹ Gegensatz zwischen ›Poetisch-Fiktivem‹ und ›Realem‹. Dem entspricht genau die Stoßrichtung der Hölderlin’schen Poetik mit ihrer Spannung des ›Poetischen‹ zwischen Auto- und Heteroreferentialität (vgl. Kapitel IV.4.2). 20 21
Ebd., S. 202. MA, Bd. 1, S. 611; FHA, Bd. 11, S. 579; StA, Bd. 3, S. 5.
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In Bezug auf das Ineinander der verschiedenen Ebenen in ›Hyperion‹ kann mit Genette jedoch nur unter Einschränkung von einer ›Metalepse‹ gesprochen werden, da die Grenze zwischen den Erzählebenen an keiner Stelle eigens überschritten wird. Denn lässt sich der erzählende, die Briefe schreibende Hyperion nicht als ›extradiegetisch‹ bezeichnen, so kann auch das »Eindringen des extradiegetischen Erzählers […] ins diegetische Universum«,22 so die leitende Bestimmung der Metalepse, nicht stattfinden, da diese Trennungen im ›Hyperion‹ immer auch schon aufgehoben sind. Will man den Ausdruck dennoch zur Anwendung bringen, so müsste man von einer grundsätzlich metaleptischen Anlage des Romans sprechen insofern, als dessen narrative Struktur von Grund auf die Verschränkungen der Ebenen realisiere. So wird das dynamische und in sich differenzierte Ineinander auch ausschließlich in dem Durchdringen und Fortdenken der in dem Roman inhärenten Reflexions- und Darstellungsstruktur durch den Leser deutlich. Angemessener für ›Hyperion‹ wäre Genettes lediglich hypothetisch formulierte Folgerung, wonach das Verwirrendste an der Metalepse […] sicherlich in dieser […] Hypothese [liegt], wonach das Extradiegetische vielleicht immer schon diegetisch ist und der Erzähler und seine narrativen Adressaten, d. h. Sie und ich, vielleicht auch noch zu irgendeiner Erzählung gehören.23
Dadurch werden jedoch die von Genette zuvor eingeführten Kategorien der ›Narrativen Ebenen‹ kaum mehr anwendbar. Ähnliches gilt für die Erörterung des ›eingeschobenen Erzählens‹, bei dem ein ähnlicher Effekt auszumachen ist, den Genette aber ebenfalls nicht konsequent ausarbeitet. Überall, wo es somit – nach Genettes eigenen Angaben – zu einem ›Reibungseffekt‹ zwischen ›Erzählen‹ und ›Erzähltem‹ kommt,24 und das ist der eigentliche Gegenstand, die ›Aussage‹ (›énoncé‹), des ›Hyperion‹, greifen die entworfenen und auch von Genette als heuristisch apostrophierten ›Erzählkategorien‹ nur als zugleich ›überwundene‹ und ›unterlaufene‹. Gerade die Unmöglichkeit eindeutiger Zuordnungen, deren permanente ›Überschreitung‹ sowie das dynamisch-paradox verschlungene Ineinander der Ebenen verweisen auf die Verfasstheit des Romans gemäß des ›Einen in sich selber unterschiednen‹ im Sinne des »Non coerceri maximo, contineri minimo, divinum est«.25 Im Folgenden soll dieser paradoxen, in sich gekehrten und dynamischen Struktur des ›Einen in sich selber unterschiedenen‹, der ›harmonischen Entgegensetzung‹, der ›widerstrebigen‹ Fügung, die in sich immer zugleich ein ›SichÜberschreiten‹ und gerade darin ein ›In-sich-Bleiben‹ und ›Zu-sich-Kommen‹ 22 23 24 25
›Diskurs der Erzählung‹, S. 168. Ebd., S. 169. Vgl. ebd., S. 155. MA, Bd. 1, S. 610; FHA, Bd. 11, S. 578; StA, Bd. 3, S. 4.
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bedeutet, an dem Roman ›Hyperion‹ nachgegangen werden. Diese Dynamik zeigt sich in Hölderlins Roman jedoch nicht nur als Verfasstheit von Erzähltexten, sondern als Grundstruktur jeden Sprechens, und gesteigert – und in diesem deshalb eigens hervortretend – des poetischen Sprechens. Diese paradoxdynamische ›Struktur‹ ist die Dynamik von Sprechen und von ›Darstellung‹ im umfassenden sowie das Verhältnis von Darstellung und Vollzug im engeren Sinne. Sie ist – wie die ›Verfasstheit‹ von ›poetischen‹ bzw. narrativen Texten, gerade auch hinsichtlich der neueren Narratologie – nichts als das Verhältnis der ›Identität der Identität und der Differenz‹.
2.
Exzentrizität des Zentralen: Zur Verortung der ›Athenerrede‹
2.1
Die Orte der ›Athenerrede‹
Die einzige Stelle in Hölderlins Texten, an der explizit auf Heraklits ›hen diapheron heauto‹26 Bezug genommen wird, ist die ›Athenerrede‹ Hyperions.27 Dieser kommt sowohl hinsichtlich der Entwicklung der Figur Hyperion28 als auch in Bezug auf ihre strukturelle Stellung im Roman eine zentrale Bedeutung zu. Beruft Diotima bei dem darauf folgenden Besuch in Athen Hyperion zum »Erzieher unsers Volks«29 und bestimmt diese Berufung Hyperions weiteren Weg maßgeblich, so bildet die ›Athenerrede‹ im 30. von insgesamt 60 Briefen strukturell-arithmetisch jedoch nicht die Mitte30 des Romans, sondern lediglich das Ende des ersten Bandes, somit der ersten Hälfte. Eine analoge Stellung nimmt die ›Athenerrede‹ innerhalb des 30. Briefes als letzter Teil seiner ersten Hälfte ein. In beiden Zusammenhängen bildet das ›zentral‹ Scheinende nicht die Mitte, sondern grenzt lediglich an sie an. Die ›Zentralität‹ stellt sich somit jeweils als exzentrische dar.31
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31
Transkriptionen aus dem Griechischen erscheinen ohne Akzente. Im 30. Brief des Gesamtromans bzw. im letzten Brief des ersten Bandes des Romans. ›Figur‹ ist hier angesichts der Überschreitung der ›Erzählebenen‹ (vgl. voriges Kapitel) nicht im Sinne einer bloß intradiegetischen Instanz, sondern vielmehr als ›Person‹ aufgefasst, die zum ›Erzähler‹ und letztlich zum ›Autor‹ wird. MA, Bd. 1, S. 693; FHA, Bd. 11, S. 691; StA, Bd. 3, S. 89. Dies ist auch noch bei dem erzählenden Hyperion der Fall, und zwar als unmittelbare Hinleitung zur ›Athenerrede‹: »Schon lange war unter Diotimas Einfluß mehr Gleichgewicht in meine Seele gekommen; heute fühlt’ ich es dreifach rein, und die zerstreuten schwärmenden Kräfte waren all’ in Eine goldne Mitte versammelt« (MA, Bd. 1, S. 681; FHA, Bd. 11, S. 675 »[…] Diotima’s […]«; StA, Bd. 3, S. 77 »[…] Diotima’s […]«). Auf den Begriff der »exzentrische[n] Bahn«, der sich sowohl in der Vorrede zum ›Fragment von Hyperion‹ (vgl. MA, Bd. 1, S. 489; FHA, Bd. 10, S. 47; StA, Bd. 3, S. 163) als auch in der Einleitung zur vorletzten Fassung (vgl. MA, Bd. 1, S. 557–559, hier S. 558; FHA, Bd. 10, S. 276f., hier S. 276; StA, Bd. 3, S. 235–237, hier S. 236), jedoch nicht in der Vorrede zur endgültigen Fassung findet, geht das Kapitel I.4.9 ein. Als ausführlichere Erörterungen, auch unter Einbezug kosmologisch-astronomischer Implikationen vgl. Alexander Honold: »Krumme Linie,
22
Dieser strukturellen Stellung der ›Athenerrede‹ innerhalb des ›Athenerbriefs‹ sowie dieses Briefs im Gesamtzusammenhang des Romans entsprechen auf der Ebene der Textwelt die raum-zeitlichen Verortungen, in denen Hyperion seinen Monolog über die antiken Athener spricht.32 So findet die ›Athenerrede‹ nicht unter dem Eindruck des zeitgenössischen Athen statt, sondern während der Überfahrt von Kalaurea nach Athen. In beiden Hinsichten, zeitlich wie räumlich, befindet sich die ›Athenerrede‹ somit in einem ›Zwischen‹, und sie konstituiert sich lediglich in diesem, denn mit der Ankunft endet auch die Rede: »So weit war ich, als wir landeten an der Küste von Attika. Das alte Athen lag jezt zu sehr uns im Sinne, als daß wir hätten viel in der Ordnung sprechen mögen«.33 Findet der Monolog räumlich zwischen Kalaurea und Attika statt, so differenziert sich dieses ›Zwischen‹ darüber hinaus in den Gegensatz von Land und Meer, und dieser ist in dem Ausgangs- und Zielpunkt in sich nochmals differenziert,34 denn sowohl die Insel Kalaurea als auch die Halbinsel Attika
32
33 34
exzentrische Bahn: Hölderlin und die Astronomie«. In: Erschriebene Natur: Internationale Perspektiven auf Texte des 18. Jahrhunderts. Hrsg. v. Michael Scheffel. Bern u. a. 2001, S. 309–333; Justus Fetscher: »Korrespondenzen der Sonne. Kosmologische Strukturen in Hölderlins Hyperion«. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 10 (2000), S. 77–107; Alexander Honold: »Hyperions Raum. Zur Topographie des Exzentrischen«. In: »Hyperion« – terra incognita. Expeditionen in Hölderlins Roman. Hrsg. v. Hansjörg Bay. Opladen 1998, S. 39–65, v. a. S. 45–52; unter Einbezug Rousseaus vgl. Jürgen Link: »Spiralen der inventiven ›Rückkehr zur Natur‹. Über den Anteil Rousseaus an der Tiefenstruktur des ›Hyperion‹«. In: »Hyperion« – terra incognita. Expeditionen in Hölderlins Roman. Hrsg. v. Hansjörg Bay. Opladen 1998, S. 94–115, v. a. S. 112–114; Michael Franz: »Hölderlins Platonismus. Das Weltbild der ›exzentrischen Bahn‹ in den ›Hyperion‹-Vorreden«. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 22/2 (1997), S. 167–187; Margarethe Wegenast: Hölderlins Spinoza-Rezeption und ihre Bedeutung für die Konzeption des »Hyperion«. Tübingen 1990, S. 96–106; Jürgen Link: »Asymmetrie und Exzentrizität bei Hölderlin«. In: kultuRRevolution 6 (1984), S. 56–58; Michael Franz: Das System und seine Entropie. ›Welt‹ als philosophisches und theologisches Problem in den Schriften Friedrich Hölderlins. Diss. Saarbrücken 1982, S. 143–151; Ulrich Gaier: »Hölderlins ›Hyperion‹: Compendium, Roman, Rede«. In: HJb 21 (1978/79), S. 88–143, v. a. S. 109f.; Friedrich Strack: Ästhetik und Freiheit. Hölderlins Idee von Schönheit, Sittlichkeit und Geschichte in der Frühzeit. Tübingen 1976, S. 188f.; Wolfgang Schadewaldt: »Das Bild der exzentrischen Bahn bei Hölderlin«. In: HJb 5 (1952), S. 1–16. Hyperions Monolog wird als Sprechen dargestellt, das weniger in dem ›Subjekt‹ Hyperion als vielmehr in der Situation des Übersetzens nach Athen gründet. So schließt Hyperions Rede mit der Beobachtung der Unverfügtheit der eigenen Rede: »[…] ich wunderte mich jezt selber über die Art meiner Äußerungen. Wie bin ich doch, rief ich, auf die troknen Berggipfel gerathen, worauf ihr mich saht?« (MA, Bd. 1, S. 687; FHA, Bd. 11, S. 683f.; StA, Bd. 3, S. 83f.). MA, ebd.; FHA, Bd. 11, S. 683; StA, Bd. 3, S. 83. Diese wechselseitige kontrastive Bezogenheit von Land und Meer wird in dem späteren ›Gesang‹ ›Der Archipelagus‹ hinsichtlich eines möglichen Versinkens einer Insel eigens dargestellt: »Alle leben sie noch, die Heroënmütter, die Inseln, / Blühend von Jahr zu Jahr und wenn zu Zeiten, vom Abgrund / Losgelassen, die Flamme der Nacht, das untre Gewitter / Eine der holden ergriff und die Sterbende dir [dem Archipelagus, M. H.] in den Schoos sank, / Göttlicher! Du, du dauertest aus, denn über den dunklen Tiefen ist manches schon dir auf und untergegangen« (MA, Bd. 1, S. 296; FHA, Bd. 3, S. 232; StA, Bd. 2,1, S. 103).
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realisieren sich als solche jeweils lediglich in diesem Gegensatz. Das Übersetzen von Kalaurea nach Attika ist somit keine Bewegung in dem ›reinen‹ Gegensatz zwischen Land und Meer, sondern in der Spannung verschiedener Relationen dieses Gegensatzes. Doch sind auch diese nicht ausgeglichen. Denn stellt der Ausgangspunkt, die Insel Kalaurea, ein Übergewicht des Meeres gegenüber dem Land dar und bildet sie somit das eine Extrem des Gegensatzverhältnisses, so bildet das Ziel der Bewegung, die Halbinsel Attika, nicht das andere Extrem dieses Verhältnisses, das Festland, sondern vielmehr ein Mittleres, eine Halbinsel. Auch die Gegensätzlichkeit der Proportionen zwischen Meer und Land befindet sich zwischen dem Ausgangs- und dem Zielpunkt der Bewegung nicht im Gleichgewicht. Ein analoges Verhältnis zeigt sich in Bezug auf die Zeit. Ist die ›Athenerrede‹ von dem bevorstehenden Besuch des zeitgenössischen Athen motiviert, beruht sie somit auf einer zeitlichen Vorwegnahme, so behandelt sie thematisch ausschließlich die Verhältnisse des antiken Athen. Die Rede begründet sich als präsentische durch die zeitliche Vorwegnahme, die die Rückwendung in das (idealisierte) vergangene Athen bewirkt. Dieser inneren Gegenstrebigkeit entsprechen die beiden Konstituenten der Rede. Darin, dass sie überhaupt stattfindet, in ihrer Tatsächlichkeit, geht die Rede auf die Vorwegnahme zurück, in dem, was sie sagt, jedoch auf das vergangene Athen.35 Die Ambivalenz dieser Zeitverhältnisse sowie deren Wahrnehmung (›im Sinne‹) wird auch in der Beschreibung des Endens der Rede bei der Ankunft deutlich: »So weit war ich, als wir landeten an der Küste von Attika. Das alte Athen lag jezt zu sehr uns im Sinne, als daß wir hätten viel in der Ordnung sprechen mögen«.36 Denn kann sich ›im Sinne‹ tatsächlich auf die (geistige) Vergegenwärtigung des alten Athen beziehen, so legt die Ankunft auf Attika ebenso die spannungsvolle Erwartung der bevorstehenden sinnlichen Wahrnehmung der Überreste des vergangenen im zeitgenössischen Athen nahe. Auch in Bezug auf die zeitlichen Spannungsverhältnisse lässt sich– entsprechend der quantitativen Exzentrizität der Rede innerhalb des dreißigsten Briefs sowie des ›Athenerbriefs‹ innerhalb des Gesamtromans – ein Ungleichgewicht in den Relationen feststellen. Umfasst die Rückwendung die Zeit bis zur Antike, so erstreckt sich die Vorwegnahme über nur wenige Stunden. Kann hier ein Gleichgewicht festgestellt werden, so lediglich ein qualitativ-proportionales, kein quantitativ-arithmetisches,37 und zwar in dem Sinne, dass die historische Größe Athens zu ihrem zeitlichen Abstand von über 2000 Jahren zum erzählten 35
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Vgl. dieselbe Struktur in dem Schluss der dritten Strophe der Elegie ›Brod und Wein. An Heinze.‹ 具Erste Fassung典: »Dort ins Land des Olymps […] Dorther kommt und zurük deutet der kommende Gott« (V. 16 und 18, MA, Bd. 1, S. 374; FHA, Bd. 6, S. 249; StA, Bd. 2,1, S. 91). MA, Bd. 1, S. 687; FHA, Bd. 11, S. 683; StA, Bd. 3, S. 83, H. v. m. Vgl. die im griechischen Denken nicht ungewöhnliche Unterscheidung zum Beispiel bei Aristoteles: Nikomachische Ethik, 5. Buch, Kapitel 6 und 7 (1131a bis 1132b).
24
Hyperion38 in demselben Verhältnis steht wie die Bedeutung des zeitgenössischen Athens zu seinem zeitlichen Abstand von wenigen Stunden. In zeitlicher wie räumlicher Hinsicht konstituiert sich die ›Athenerrede‹ somit in dem Spannungsfeld zweier Relationen, die ihre Gegensätzlichkeit zu unterschiedlichen Graden ausprägen. Diese Verhältnisse bilden – entsprechend der verschobenen Mitte der ›Athenerrede‹ und des ›Athenerbriefs‹ – kein quantitatives Gleichgewicht von Zweien, sondern allenfalls ein qualitativ-proportionales Gleichgewicht zweier (Gegensatz-)Relationen und somit von vier Teilen in einem Spannungsverhältnis.39 2.2
Die ›Athenerrede‹
Dieser Kontext der ›Athenerrede‹ steht in spezifischem Spannungsverhältnis zu dem, was der erzählte Hyperion in seinem Monolog über die antiken Athener expliziert. Doch zeigen sich nicht nur in dieser Hinsicht Verwerfungen, sondern auch innerhalb der Rede selbst, zwischen ihrem Verfahren und dem in ihr Verhandelten. Die antiken Athener werden in Hyperions Rede als ideal gezeichnet, wobei dieses Ideal gleich zu Beginn von Hyperions Ausführungen mit der Freiheit von Negativität gleichgesetzt wird: Ungestörter in jedem Betracht, von gewaltsamem Einfluß freier, als irgend ein Volk der Erde, erwuchs das Volk der Athener. Kein Eroberer schwächt sie, kein Kriegsglük berauscht sie, kein fremder Götterdienst betäubt sie, keine eilfertige Weisheit treibt sie zu unzeitiger Reife. Sich selber überlassen, wie der werdende Diamant, ist ihre Kindheit.40
Diese Freiheit von Negativität in dem Sinne eines Mangels oder einer Negativerfahrung wird hier erweitert hin zu einer Freiheit von der Konfrontation mit Fremdem. Das ›Werden zu sich‹, das den Athenern gelingt, erscheint möglich aufgrund des völligen Bleibens in sich ohne Relation zu einem anderen. Was die Athener wurden und waren, wird dem entsprechend absolut gesetzt: »vollendete Natur«, »vollkommenes Kind«,41 »seine [des Atheners] göttliche Natur«.42
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Der Ausdruck ›erzählter Hyperion‹ wird hier zur Vereinfachung des Sprachgebrauchs auf den zeitlichen Abschnitt bezogen, in dem Hyperion noch nicht als Eremit lebt und die Briefe an Bellarmin schreibt. Das ist trotz der Vereinfachung insofern legitim, als sich der Großteil der ›Narration‹ auf diese zeitliche Ebene als ›Geschichte‹ bezieht. Die Bezeichnung entspricht somit dem, was Ryan unschärfer als ›erlebender Hyperion‹ bezeichnet (vgl. Lawrence Ryan: Hölderlins »Hyperion«. Exzentrische Bahn und Dichterberuf. Stuttgart 1965, sowie »Hölderlins ›Hyperion‹: Ein ›romantischer‹ Roman?«. In: Über Hölderlin. Frankfurt/Main 1970, S. 175–212). Vgl. auch den ersten Satz des theoretischen Entwurfs »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«, in dem ständig der Ausgleich zweier Proportionen behandelt wird (vgl. MA, Bd. 2, S. 78f.; FHA, Bd. 14, S. 303ff.; StA, Bd. 4,1, 241f.). MA, Bd. 1, S. 681f.; FHA, Bd. 11, S. 676; StA, Bd. 3, S. 77f. MA, Bd. 1, S. 682; FHA, Bd. 11, S. 677; StA, Bd. 3, S. 78. MA, Bd. 1, S. 684; FHA, Bd. 11, S. 680; StA, Bd. 3, S. 80.
25
Des Weiteren gestaltet sich die Abwesenheit von Negativität als die Abwesenheit von Extremen: Freilich hat auch Himmel und Erde für die Athener, wie für alle Griechen, das ihre gethan, hat ihnen nicht Armuth und nicht Überfluß gereicht. Die Stralen des Himmels sind nicht, wie ein Feuerreegen, auf sie gefallen. Die Erde verzärtelte, berauschte sie nicht mit Liebkosungen und übergütigen Gaben, wie sonst wohl hie und da die thörige Mutter thut. […] Also noch einmal! daß die Athener so frei von gewaltsamem Einfluß aller Art, so recht bei mittelmäßiger Kost aufwuchsen, das hat sie so vortreflich gemacht, und diß nur konnt’ es!43
Die Mitte, die hier konzipiert wird, ist spannungslos, sie bedarf des anderen, der Extreme, nicht, sondern stellt sich als absolut von ihnen geschieden dar.44 Entsprechend betrachtet Hyperion auch die kulturellen Leistungen der Athener und stellt fest, »daß ihre Kunst und ihre Religion die ächten Kinder ewiger Schönheit – vollendeter Menschennatur – sind, und nur hervorgehn konnten aus vollendeter Menschennatur«.45 Hyperions Ausführungen finden ihren Höhepunkt in der »Harmonie der mangellosen Schönheit«,46 deren ›Wesen‹ er mit Heraklits ›Einem in sich selber unterschiednen‹ gleichsetzt: Das große Wort, das εν διαϕεϱον εαυτῳ (das Eine in sich selber unterschiedne) des Heraklit, das konnte nur ein Grieche finden, denn es ist das Wesen der Schönheit, und ehe das gefunden war, gabs keine Philosophie. Nun konnte man bestimmen, das ganze war da. Die Blume war gereift; man konnte nun zergliedern. Der Moment der Schönheit war nun kund geworden unter den Menschen, war da im Leben und Geiste, das Unendlicheinige war.47
Das ›Eine in sich selber unterschiedne‹ des Heraklit, das Wesen der Schönheit, wird von dem erzählten Hyperion entsprechend seiner Auffassung der antiken Athener als Absolutes, Reines, Mittiges, Negativitätsfreies und in sich Spannungsloses betrachtet.48 Diese Konzeption entspricht jedoch weder der 43 44
45 46 47 48
MA, Bd. 1, S. 682f.; FHA, Bd. 11, S. 677; StA, Bd. 3, S. 78f. Dieses Antikenbild entspricht – in vorweggenommenem Reflex – der Befindlichkeit des erzählten Hyperion bei der Ausfahrt nach Athen: »Schon lange war unter Diotimas Einfluß mehr Gleichgewicht in meine Seele gekommen; heute fühlt’ ich es dreifach rein, und die zerstreuten schwärmenden Kräfte waren all’ in Eine goldne Mitte versammelt« (MA, Bd. 1, S. 681; FHA, Bd. 11, S. 675 [»[…] Diotima’s […]«]; StA, Bd. 3, S. 77). MA, Bd. 1, S. 684; FHA, Bd. 11, S. 679; StA, Bd. 3, S. 80. MA, Bd. 1, S. 685; FHA, Bd. 11, S. 680f.; StA, Bd. 3, S. 81. MA, ebd.; FHA, Bd. 11, S. 681; StA, Bd. 3, S. 81f. Gideon Stiening (Epistolare Subjektivität. Das Erzählsystem in Friedrich Hölderlins Briefroman ›Hyperion oder der Eremit in Griechenland‹. Tübingen 2005) sieht das ›hen diapheron heauto‹ bereits in der ›Athenerrede‹ als Konzeption, die – im Gegensatz zu dem »›Ein und Alles‹ der ersten Briefe«, in dem sich noch eine »ununterschiedene Gleichheit« realisiere – nun »[n]icht mehr alle Einzelheit von sich aus[schließt]« (S. 445). Dies wird nach Stiening auch im Erzählvorgang deutlich: »Die Erinnerung an die Reise nach Athen konstituiert somit ein Verhältnis von ›Subjekt‹ und ›Objekt‹, das als Identität eine Differenz nicht mehr ausschließen muß. Die Präsentationsform der Erlebnisse in einer gelungenen, weil kaum unterbrochenen
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strukturellen Stellung der Rede im Gesamtzusammenhang des Romans noch der Verfasstheit der Rede selbst. Intern wird das in der ›Athenerrede‹ propagierte Ideal ständig von deren Vollzug unterlaufen.49 Die ›Athenerrede‹ ist somit ein in sich Spannungsvolles in der Gegenstrebigkeit der ihr konstitutiv zugehörigen Aspekte.50 Werden die antiken Athener in Hyperions Monolog als absolut in sich dargestellt, so verfährt die Rede dem entgegengesetzt, nämlich relational, in der Struktur von Einheit und Differenz.51 Bereits der Ausdruck in der ›Athenerrede‹, der Hyperions eigene, positive Sicht auf die Athener einleitet, »[u]ngestörter«, ist ein Komparativ, der die Athener mit anderen Völkern in Bezug setzt und sie zugleich von diesen abgrenzt: »Ungestörter in jedem Betracht, von gewaltsamem Einfluß freier, als irgend ein Volk der Erde, erwuchs das Volk der Athener«.52 Die folgenden Sätze machen lediglich negative Aussagen: »Kein Eroberer schwächt sie, kein Kriegsglük berauscht sie, kein fremder Götterdienst betäubt sie, keine eilfertige Weisheit treibt sie zu unzeitiger Reife«.53 Erst durch diese Negation, d. h. aber die Differenz zu anderen Völkern, scheint eine positive Bestimmung der Athener möglich: »Sich selber überlassen, wie der werdende Diamant, ist ihre Kindheit«.54 Doch auch diese ›Bestimmung‹ stellt die Vortrefflichkeit der Athener nicht ›an sich‹ dar, sondern sagt sie in der Metapher der ›Kindheit‹ und im Vergleich mit dem ›werdenden Diamanten‹, somit in konstitutivem Bezug auf ›anderes‹.55
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epischen Darstellung macht diese Struktur einsichtig« (S. 456). In beiden Fällen wird der Differenz jedoch keine konstitutive Rolle zugeschrieben (vgl. auch S. 457 und 484f.), was auch der Charakterisierung der Hölderlin’schen Position als »dynamisierte[…]« und »dennoch monistische Ontologie« (S. 469) entspricht. Rüdiger Görner (Grenzen, Schwellen, Übergänge: Zur Poetik des Transitorischen. Göttingen 2001) fasst die Schönheitskonzeption im ›Hyperion‹ stärker in Hegel’scher Manier auf, wenn er das »Schöne in der Kunst« als »Vor-Schein« der »Ureinheit« (S. 88) sieht. Doris Feil (Stufen der Seele. Erkenntnistheoretische Darstellung in Goethes »Werther« und Hölderlins »Hyperion«. Oberhausen 2005) sieht keine Relativierung der ›Athenerrede‹ durch deren Kontext und Diskurs, sondern liest den Monolog als quasi diskursiv-philosophischen Text (vgl. S. 192–204). Lawrence Ryan (Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne. Stuttgart 1960) bringt diese Schönheitskonzeption sowie das Verhältnis von Dichtung und Philosophie mit seiner Auffassung der poetischen Verfahrungsweise als zwei nebeneinander liegende Kreise, die sich in einem Punkt berühren, in Verbindung (vgl. S. 96). Diese Konzeption wird in Kapitel IV.4.2 in einer Anmerkung genauer diskutiert. Mit Bezug auf Platon könnte man dieses Verfahren auch als dialektisches bzw. dihairetisches bezeichnen. MA, Bd. 1, S. 681; FHA, Bd. 11, S. 676; StA, Bd. 3, S. 77. MA, Bd. 1, S. 681f.; FHA, ebd.; StA, Bd. 3, S. 77f. MA, Bd. 1, S. 682; FHA, ebd.; StA, Bd. 3, S. 78. Das hier zur Metapher Dargelegte bezieht sich im Kontext der Selbstdarstellung des Poetischen nach Hölderlin lediglich auf nicht habituelle und nicht verblasste Metaphern, die sich eigens als solche darstellen. Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel VII, die auch den Bezug zu historischen und zeitgenössischen Metapherntheorien herstellen.
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Dasselbe gilt für Hyperions vorausgehende Metapher, die negativ auf die Aussagen der Begleiter repliziert: Wir sprachen unter einander von der Treflichkeit des alten Athenervolks, woher sie komme, worinn sie bestehe. Einer sagte, das Klima hat es gemacht; der andere: die Kunst und Philosophie, der dritte: Religion und Staatsform. Athenische Kunst und Religion, und Philosophie und Staatsform, sagt’ ich, sind Blüthen und Früchte des Baums, nicht Boden und Wurzel. Ihr nehmt die Wirkungen für die Ursache.56
In dem Vollzug dieser organologischen Metapher wird – noch verstärkt durch die Differenz zu der darauf folgenden diskursiven Aussage (›Ihr nehmt die Wirkungen für die Ursache‹) – zudem der höhere Grad an Differenziertheit des metaphorischen gegenüber einem diskursiv aussagenden Sprechen deutlich. Denn werden in letzterem Kunst, Religion, Philosophie und Staatsform lediglich als ›Wirkungen‹ bestimmt, so nimmt die metaphorische Ausdrucksweise »Athenische Kunst und Religion, und Philosophie und Staatsform […] sind Blüthen und Früchte des Baums, nicht Boden und Wurzel«57 interne Differenzierungen vor, indem »Athenische Kunst und Religion« (»Blüthen«) als die »Philosophie und Staatsform« (»Früchte«) bedingend gedeutet werden. Auffälligerweise nimmt die organologische Metaphorik somit gerade in der Hinsicht von Ursache und Wirkung Differenzierungen vor, somit einerseits in einem Bereich, der als eminenter Ort diskursiver Rede gilt, und andererseits mahnt der diskursive Abschluss zwar die Notwendigkeit von Differenzierungen in dieser Hinsicht explizit an, vollzieht sie jedoch nicht in demselben Grad wie die metaphorische Rede. Diese zeigt sich sowohl in ihrem Vollzug als auch in ihrer Ausdeutung konstitutiv auf Differenzierung und somit Pluralität und Alterität bezogen. Metaphorische und vergleichende Rede findet sich in annähernd allen Charakterisierungen der ›Idealität‹ der Athener. Diese wird somit ständig positiv behauptet und zugleich durch das gegensätzliche Vorgehen der Rede unterlaufen. Doch zeigt sich dieses Spannungsverhältnis nicht nur auf diesen grundlegenden Ebenen sprachlicher Darstellung, sondern auch zwischen dem Explizierten und dem davon Implizierten. So finden die Ausführungen über das Frühstadium athenischer Kultur als gänzliches ›In-sich-Sein‹ ihren Höhe- und Endpunkt in der Bestimmung des Menschen als Gott: »[L]aßt den Menschen spät erst wissen, daß es Menschen, daß es irgend etwas außer ihm giebt, denn nur so wird er Mensch. Der Mensch ist aber ein Gott, so bald er Mensch ist. Und ist er ein Gott, so ist er schön«.58 Dabei führt nicht nur die Prädikation des Gottes durch die Schönheit, deren Wesen zu einem späteren Zeitpunkt
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MA, Bd. 1, S. 681; FHA, Bd. 11, S. 676; StA, Bd. 3, S. 77. Ebd. MA, Bd. 1, S. 683; FHA, Bd. 11, S. 678; StA, Bd. 3, S. 79.
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mit dem ›Einen in sich selber unterschiednen des Heraklit‹, also einer Teilung in sich, gleichgesetzt wird, zu einem Widerspruch, sondern bereits die Bestimmung des Menschen als Gott selbst. Denn demgemäß führt ja der Umstand, dass die Athener gänzlich ›in sich‹ bleiben und dadurch ›sie selbst‹ werden, gerade in dem Erreichen dieses Ziels zu einer ›Verwandlung‹ des Menschen in ein anderes, den ›Gott‹. Der Mensch ist demnach paradoxerweise nur dann ganz er selbst, wenn er ein Gott ist.59 In diesem Zusammenhang überdeterminiert erscheint die Tatsache, dass die Rede mit der Ankunft an der Küste von Attika endet. Der erzählende Hyperion60 erklärt rückblickend: »Das alte Athen lag jezt zu sehr uns im Sinne, als daß wir hätten viel in der Ordnung sprechen mögen«.61 Auch in dieser Erklärung liegt eine eigentümliche Alinearität vor. Denn es wäre zu erwarten, dass der unmittelbare sinnliche Eindruck Athens die abstrakte Erörterung zum Stillstand bringen würde, wofür auch die folgende Frage Hyperions spricht: »Wie bin ich doch, rief ich, auf die troknen Berggipfel gerathen, worauf ihr mich saht?«62 Stattdessen wird als Grund für das Verstummen angegeben, dass das alte Athen »zu sehr […] uns im Sinne« lag, so dass die Rede selbst dieses Übermaß herbeiführt und somit in ihren eigenen Gegensatz, das Schweigen, umschlägt.63 Die Rede muss somit performativ von der ›Schönheit‹ des antiken Athen in einer Weise sprechen, dass ihre Wirkung genau dem gleichkommt, wie die Begegnung mit der Schönheit in der Antike beschrieben wurde, als überwältigend und im Übermaß potentiell zerstörerisch.64 Gerade der Umschlag der
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Es wäre auch möglich zu argumentieren, dass alles, was sich in seinem ›Bestzustand‹ befindet, ›göttlich‹ sei. Dann wäre jedoch jegliche Differenz zwischen ›arethe‹ und Göttlichem aufgehoben. Auch besteht ein spezifischer Unterschied darin, ob gesagt wird, der Mensch sei in seinem Bestzustand ›göttlich‹ oder ›ein Gott‹. Würde er als ›göttlich‹ bezeichnet, wäre es möglich, die Paradoxie über die Gleichsetzung von ›arethe‹ und Göttlichem aufzulösen. Das Göttliche wäre dann eine – wenn auch wesentliche – Eigenschaft, die dem Menschen in seinem Bestzustand zukommen würde. Ist aber gesagt, der Mensch sei in seiner ›arethe‹ ein Gott, so ist durch die substantivische Formulierung angezeigt, dass es sich hier nicht um eine bloße Eigenschaft handelt, die einem Wesen anhaftet (Ad-jektiv), sondern dass es hier um eine substantielle Veränderung, eine Verwandlung, geht (Substan-tiv). Als ›erzählender Hyperion‹ wird der als Eremit lebende Verfasser der Briefe bezeichnet. Auf die Differenzierung in einen ›erlebenden‹ bzw. erzählten und einen erzählenden Hyperion hat Lawrence Ryan (Hölderlins »Hyperion«. Exzentrische Bahn und Dichterberuf. Stuttgart 1965) schon früh hingewiesen. Vgl. auch Friedbert Aspetsberger (»Ende und Anfang von Hölderlins Roman ›Hyperion‹«. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 72 [1968], S. 20–36, sowie ders.: Welteinheit und epische Gestaltung. Studien zur Ichform von Hölderlins Roman ›Hyperion‹. München 1971). Diese Unterscheidung muss jedoch weiter differenziert werden, was in den Kapiteln I.4.1–I.4.4 geschieht. MA, Bd. 1, S. 687; FHA, Bd. 11, S. 683; StA, Bd. 3, S. 83. MA, ebd.; FHA, Bd. 11, S. 684; StA, Bd. 3, S. 84. Vgl. auch die Erörterungen zu dieser Struktur in den theoretischen Abhandlungen zum ›Empedokles‹-Drama. Vgl. dazu auch Hölderlins Adaption des Semele-Mythos in »Wie wenn am Feiertage …«.
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Rede auf ihrem Höhepunkt und im Überschreiten ihres Maßes (»zu sehr«) in ihr Gegenteil, das Schweigen, führt die Spannung zwischen dem Vollzug der Rede, ihren Wirkungen und dem in ihr Explizierten vor und markiert das idealisierende Schönheitsverständnis Hyperions implizit als unangemessen. Bezieht sich »Das alte Athen lag jezt zu sehr uns im Sinne, als daß wir hätten viel in der Ordnung sprechen mögen«65 somit einerseits auf Hyperions Ausführungen über die Athener, so lässt sich in diesem Kontext (»So weit war ich, als wir landeten an der Küste von Attika«66) die andere mögliche Bedeutung, dass es der unmittelbare sinnliche Eindruck Athens ist, der das Sprechen »in der Ordnung« verhindert, nicht abweisen. Gerade die Ambivalenz des Wortes »Sinn« verweist auf die neuzeitliche Grunddualität von Sinnlichkeit und Verstand als die – bei Kant – »zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis«,67 die hier als gegensätzliche in eins zusammengehen. Diese ambivalente Bewegung der Wortbedeutung findet in der Beschreibung der Ankunft auf Attika statt. Ist die griechische Antike nach Schiller von der Einheit von Sinnlichkeit und Vernunft geprägt und wird die Moderne aufgrund der Trennung demgegenüber als defizitär gekennzeichnet,68 so wird in dieser Beschreibung genau die Einheit in der Zweiheit vorgeführt, die der griechischen Antike und ihrem Schönheitsbegriff zukommt. Das darauf Folgende, bezogen auf die Jetztzeit der Moderne, »und ich wunderte mich jetzt selber über die Art meiner Äußerungen. Wie bin ich doch, rief ich, auf die troknen Berggipfel gerathen, worauf ihr mich saht?«,69 spricht aus dem Gegensatz von unmittelbarem sinnlichen Eindruck und Rede heraus und findet diesen Einheitspunkt in der Unterschiedenheit nicht mehr. 2.3
Zusammenführung
Hyperions Verständnis des ›Einen in sich selber unterschiednen‹ in der Antike widerspricht der Realisation der Struktur auf der diskursiven Ebene des Textes selbst. Ist Hyperions Monolog in verschiedener Hinsicht ›in sich selbst unterschieden‹, in das Dargestellte und die Darstellung, in das explizit Gesagte und das von ihm Implizierte, so ist die Weise dieser Unterschiedenheit in sich widersprüchlich und spannungsreich. Daran wird deutlich, dass sich die ›Schönheit‹, das ›Kunstwerk‹, das die Briefe Hyperions an Bellarmin letztlich darstellen sollen, von der Konzeption von Schönheit absetzt, wie der erzählte Hyperion sie für die Antike annimmt. Geht die Darstellung der ›Athenerrede‹ sowie deren Einbettung in den Kontext auf den erzählenden Hyperion, das 65 66 67 68 69
MA, Bd. 1, S. 687; FHA, Bd. 11, S. 683; StA, Bd. 3, S. 83. Ebd. Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B29/A15. Ganz deutlich in dem Gedicht ›Die Götter Griechenlandes‹ (Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 1. 8., durchgesehene Auflage. München 1987, S. 163–173). MA, Bd. 1, S. 687; FHA, Bd. 11, S. 683f.; StA, Bd. 3, S. 83f.
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Explizierte jedoch auf seine Erinnerung an einen früheren Bewusstseinszustand zurück, so verweist das herausgearbeitete Spannungsverhältnis auf die Differenz zwischen dem erzählenden und dem erzählten Hyperion,70 und zwar selbst dann, wenn der erzählende Hyperion dieses Bewusstsein zu diesem Zeitpunkt selbst nicht hat. Denn expliziert der erzählende Hyperion diese Spannungen zwar nicht, so muss die Weise der Strukturierung der Rede diesem doch direkt zugeordnet werden. Zugleich zeigt sich in diesen Verhältnissen, dass der Vollzug und das Ausdrücklichwerden, d. h. dessen Darstellung, nur in zeitlichem Wechsel möglich sind und sich die Darstellung konstitutiv auf den vorausgehenden Vollzug bezieht. So kann der erzählende Hyperion nur in der Unterbrechung der Narration erster Stufe (im engeren Sinne der Darstellung vergangener Erlebnisse) auf diese reflektieren. Um die herausgearbeiteten Verwerfungen seines Erzählens darstellen zu können, müsste er seine eigenen Briefe als Texte lesen, somit eine Metaebene einnehmen. Zum Zeitpunkt der Narration kann – so die strukturelle Suggestion – der erzählende Hyperion auf diese insgesamt noch nicht reflektieren und diese somit nicht zur Darstellung bringen. Was der erzählende Hyperion in seinen Briefen jedoch überwiegend darstellt – und dies entspricht dem bisher Ausgeführten – sind seine zeitlich zurückliegenden ›Erlebnisse‹ vor Beginn des Schreibens. Diese werden in dem erinnernden Schreiben als solche ausdrücklich. Insgesamt vollziehen und stellen die Briefe Hyperions an Bellarmin den Prozess einer ›Einholung‹, einer Darstellung von etwas als etwas in dem erinnernd-erzählenden Rückblick, dar. Erinnerung ist hier Darstellung, ist der Versuch, etwas als etwas aufzufassen. Das Verhältnis, dass etwas erst in der Darstellung eigens zum Vorschein kommt, beschreibt der erzählte Hyperion bereits nach der ›Athenerrede‹: »Aber ich muß noch ausgehn, zu lernen. Ich bin ein Künstler, aber ich bin nicht geschikt. Ich bilde im Geiste, aber ich weiß die Hand nicht zu führen –«.71 Hyperion muss sich somit – in seinen ›Werken‹ – als Künstler darstellen, um Künstler zu werden, um somit das zu werden, was er schon ist.72 Die Briefe, die Hyperion an Bellarmin schreibt, sind der Versuch, in der erinnernden Darstellung genau das zu vollziehen. Ist dieser Versuch ›gelungen‹, so müssen Hyperions Briefe als eine Vorstufe eines künstlerischen Werkes gelten. Als Ganzes stellen die Briefe eben diesen Prozess dar.
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Diese Differenz betont vor allem in Hinsicht auf die ›Athenerrede‹ auch Emery E. George (»›[…], das konnte nur ein Grieche finden, […].‹ Wer spricht in der Athenerrede?«. In: HJb 32 [2002–03], S. 169–192, beispielsweise S. 174). Vgl. auch Lawrence Ryan (Hölderlins »Hyperion«. Exzentrische Bahn und Dichterberuf. Stuttgart 1965, sowie »Hölderlins ›Hyperion‹: Ein ›romantischer‹ Roman?«. In: Über Hölderlin. Frankfurt/Main 1970, S. 175–212). MA, Bd. 1, S. 693; FHA, Bd. 11, S. 690; StA, Bd. 3, S. 89. Auf den Umstand, dass diese in sich widerstrebige Struktur nicht unbedingt eine teleologische Entwicklung implizieren muss, wird an späterer Stelle eingegangen.
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Was Hyperion in der ›Athenerrede‹ erörtert, ist somit nur von eingeschränkter Bedeutung für den Roman. In ihr wird nicht die ›Quintessenz‹ des Romans diskursiv-philosophisch offengelegt,73 vielmehr ist sie in ihren Bezügen und Zusammenhängen in sich und mit ihrem Kontext als originär poetisches Sprechen von Bedeutung. Dabei hat die strukturelle Verfasstheit der Rede nicht in erster Linie eine affirmative Funktion, sondern etabliert vielmehr ein Spannungsverhältnis zu dem Explizierten. Die Rede als ganze erscheint so als ein ›Eines in sich selber unterschiednes‹ in der Gegenstrebigkeit ihrer konstitutiven Teile und keinesfalls als in sich spannungsloses Ideal.74 Ausgehend von diesen Verhältnissen lässt sich der narrative Prozess hinsichtlich der ›Darstellung‹ genauer beschreiben. Werden auch dem erzählenden Hyperion die Verwerfungen zwischen seiner Darstellungsweise und dem Dargestellten sowie zwischen dem explizit und implizit Gesagten nicht deutlich, so wäre genau die ›Einholung‹, die Metareflexion in dem ›Wiederlesen‹ der Briefe, notwendig, genauso, wie das ›Wiedererinnern‹ der früheren Erlebnisse durch Hyperion in dem Schreib- bzw. Erzählakt als notwendig erscheint. Beide – mit »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« gesprochen – ›idealischen‹ Bewegungen markieren eine Dynamik von Darstellung, die durch die Negativität angestoßen wird, ohne diese jedoch aufzuheben. Im Falle des erzählten Hyperion hält sich die Negativität im lebensweltlichen Bereich, in seinen konkreten ›Erlebnissen‹ des Scheiterns und des Verlustes, im Falle des erzählenden Hyperion in der Diskrepanz zwischen seiner Darstellung und dem Dargestellten. Gerade der Umstand, dass Hyperion als Briefeschreiber nicht zugleich eine Metaebene einnehmen und somit die internen Verwerfungen seiner Darstellung erkennen kann, verweist auf die Unabschließbarkeit des Reflexions- und Darstellungsprozesses sowie die Unaufhebbarkeit interner Spannungen und Differenzen, die diesen Prozess als lebendigen ständig aufs Neue anstoßen und generieren. ›Stellen‹ die Briefe Hyperions an Bellarmin jedoch nichts anderes ›dar‹ – und zwar in dem doppelten Sinne von ›Darstellung‹ als ›Sein‹/›Vollziehen‹ und eigens ›Aufzeigen‹ – als das erinnernde ›Einholen‹, ›Verarbeiten‹, ›Erzählen‹, ›Darstellen‹ des ›Erlebten‹ und werden die ›Negativerlebnisse‹ erst dadurch zu ›Erfahrungen‹, so markiert auch die Unterteilung der Briefe in zwei Bände einen wichtigen Übergang, an dessen Schwelle der ›Athenerbrief‹ steht. Werden in dem ersten Band in dem späteren Erzählen noch vorwiegend ›positive‹ Geschehnisse (vor allem die Begegnung mit Adamas, Alabanda und Diotima) geschildert und 73
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Diese Betrachtungsweise ist immer noch verbreitet, vgl. beispielsweise Doris Feil: Stufen der Seele. Erkenntnistheoretische Darstellung in Goethes »Werther« und Hölderlins »Hyperion«. Oberhausen 2005, S. 192–204. Das stellt auch Edgar Pankow heraus (Brieflichkeit. Revolutionen eines Sprachbildes. JacquesLouis David, Friedrich Hölderlin, Jean Paul, Edgar Allan Poe. München 2002, S. 96), ohne in seinem Kontext der konkreten Ausformung der Struktur genauer nachgehen zu können.
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somit auch die Handlung des Romans aufgebaut, so steht der zweite Band in dieser Hinsicht gänzlich im Zeichen der Negation: das Scheitern im Befreiungskampf, Alabandas Suizid und Diotimas Tod. Aufschlussreich ist gerade bei der Betrachtung des Verhältnisses von erzählendem und erzähltem Hyperion (und das heißt zugleich bei dem Augenmerk auf den Text als ›Eines in sich selber unterschiednes‹), dass dem erzählenden Hyperion gerade aufgrund der erinnernden Darstellung dieser ›Negativerlebnisse‹ die ›heilsame‹, d. h. aber die eine Weiterentwicklung indizierende Differenz zu seinem früheren Zustand bewusst wird. Erst in dem zweiten Band des Romans, gerade aufgrund der Erinnerung und der Darstellung extremer Negativität, wird diese insofern ›verarbeitet‹, als Hyperion einen Unterschied zwischen sich und seinem früheren Zustand aufgrund des Erzählens feststellt und sich somit ein ›erschriebener‹ Freiraum des gegenwärtigen Hyperion zeigt, der Zukunft erst ermöglicht: So [vom Tod Diotimas, M. H.] schrieb Notara; und du fragst, mein Bellarmin! wie jezt mir ist, indem ich diß erzähle? Bester! Ich bin ruhig, denn ich will nichts besser haben, als die Götter. Muß nicht alles leiden? Und je treflicher es ist, je tiefer! Leidet nicht die heilige Natur? O meine Gottheit! daß du trauern könntest, wie du seelig bist, das konnt’ ich lange nicht fassen. Aber die Wonne, die nicht leidet, ist Schlaf, und ohne Tod ist kein Leben. Solltest du ewig seyn, wie ein Kind und schlummern, dem Nichts gleich?75
Dass ›Verarbeitung‹ – und im Obigen wurden die Berührungspunkte mit grundlegenden Konzepten von Psychoanalyse deutlich – hier jedoch keine Aufhebung von Negativität, sondern vielmehr ›Darstellung‹ bedeutet, zeigt sich auch in den fortlaufenden und in dem Erzählen nicht ausdrücklich werdenden Verwerfungen auf textueller Ebene. ›Verarbeitung‹, ›Darstellung‹, auch ›Erfahrung‹ im Unterschied zum ›Erlebnis‹, bedeutet keine Aufhebung der Negativität, weder in Bezug auf die Vergangenheit noch die Gegenwart oder Zukunft, sondern vielmehr die Erarbeitung, die Verwandlung der Negativität in die Differenz der Darstellung. Diese stellt in sich gerade – auch – die Differenz zwischen der Gegenwart und dem Erinnerten dar und schafft somit einen Freiraum der Gegenwart, aus dem sich – in den veränderten Spannungsverhältnissen – eine zukünftige Lebendigkeit, und nichts anderes ist diese Dynamik, entwickeln kann. Im Folgenden werden die hier verdichtet dargestellten Verhältnisse sukzessive am Text nachvollzogen und ausdifferenziert.
75
MA, Bd. 1, S. 751; FHA, Bd. 11, S. 770; StA, Bd. 3, S. 150f.
33
3.
Weiterentwicklung nach der ›Athenerrede‹
3.1
Der ›Athenerbrief‹ nach der ›Athenerrede‹: Diotimas Korrekturen
Die Idealität der antiken Athener, auf die der erzählte Hyperion in seiner Rede verweist, wird bei dem Besuch des zeitgenössischen Athen sowie in dem Gespräch zwischen Hyperion und Diotima in den Gärten bei Athen (»Wir giengen hinaus in die nahegelegenen Gärten«76) zunächst nicht negiert. Hyperion wünscht sich eine Rückkehr in den von ihm als ideal apostrophierten – in individualgeschichtlicher Metaphorik gesprochen – ›Kindheitszustand‹ im Medium Diotimas77 und des Vergessens: Ich [Hyperion] weiß, der Himmel ist ausgestorben, entvölkert, und die Erde, die einst überfloß von schönem, menschlichen Leben, ist fast, wie ein Ameisenhaufe, geworden. Aber noch giebt es eine Stelle, wo der alte Himmel und die alte Erde mir lacht. Denn alle Götter des Himmels und alle göttlichen Menschen der Erde vergeß’ ich in dir [Diotima]. Was kümmert mich der Schiff bruch der Welt, ich weiß von nichts, als meiner seeligen Insel.78
Diotima selbst korrigiert diesen Wunsch,79 indem sie die Negativität als konstitutiv zur Lebendigkeit gehörig erklärt, »Es giebt eine Zeit der Liebe, sagte 76 77
78 79
MA, Bd. 1, S. 690; FHA, Bd. 11, S. 687; StA, Bd. 3, S. 86. Edgar Pankow (»Epistolary Writing, Fate, Language: Hölderlin’s ›Hyperion‹«. In: The solid letter. Readings of Friedrich Hölderlin. Ed. by Aris Fioretos. Stanford/California 1999, S. 142–172) verweist auf die Parallele zwischen der ersten, doppelten Erwähnung von Diotimas Namen und Hyperions »phantasm of reduplication that had magnetized him with a certain image of Greek antiquity« (S. 168). Zur Diotima/Melite-Figur als Muse, auch im Kontext des Narzissmus, vgl. Renate Böschenstein-Schäfer: »Die Stimme der Muse in Hölderlins Gedichten«. In: HJb 24 (1984/85), S. 87–112, v. a. S. 96–100. MA, Bd. 1, S. 691; FHA, Bd. 11, S. 688; StA, Bd. 3, S. 87. Die Diotima-Figur lässt somit im Gesamtzusammenhang des Romans – auch wenn das gerade nicht in der Perspektive des erzählten und zum größten Teil auch des erzählenden Hyperion liegt – durchaus und in entscheidender Weise emanzipatorische Grenzziehungen zu Hyperion erkennen. Harald Weilnböck geht dieser Problematik unter beziehungsanalytischer Perspektive nach, schwächt die Abgrenzungen Diotimas jedoch ab und versucht lediglich, »auf die Textpassagen zu achten, die ein punktuelles Zögern und damit ein eigenes Figurenprofil Diotimas […] anzudeuten scheinen« (»›wie an den Füßen ein Kind, ergriffen und an den Felsen geschleudert‹. Die Gewaltthematik in Hölderlins ›Hyperion‹ in beziehungsanalytischer Perspektive«. In: ›Hyperion‹ – terra incognita. Expeditionen in Hölderlins Roman. Hrsg. v. Hansjörg Bay. Opladen u. a. 1998, S. 135–160, hier S. 144). Katharina Jeorgakopulos (Die Aufgabe der Poesie. Präsenz der Stimme in Hölderlins Figur der Diotima. Würzburg 2003) sieht Diotima lediglich als »einen Hall- oder Hohlraum, der seine [Hyperions] Sprache durchläuft und durchflutet« (S. 23). Wolfgang Binder (»Hölderlins Dichtung im Zeitalter des Idealismus«. In: HJb 14 [1965/66], S. 57–72) beachtet die Relativierungen, die die Verabsolutierung Diotimas durch Hyperion romanintern erfährt nicht, wenn er – sogar noch in Engführung mit Hölderlins Biographie – konstatiert: »Diotima also und in ihr: Gegenwart der Vollendung. Ihr Wesen war in Hölderlins Dichtung vorausentworfen und konnte die wirkliche Diotima ohne Zwang in sich aufnehmen. Aber die Existenz eines solchen Wesens ist das Faktum, an dem Hölderlin gewahr wird, daß das Absolute ist« (S. 60). Zur Konzeption der Diotima-Figur allgemein vgl. Ulrich Gaier: »Diotima, eine synkreti-
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Diotima mit freundlichem Ernste, wie es eine Zeit giebt, in der glüklichen Wiege zu leben. Aber das Leben selber treibt uns heraus«80 und überträgt dies auf Hyperions individuelle Entwicklung: Wäre dein Gemüth und deine Thätigkeit so frühe reif geworden, so wäre dein Geist nicht, was er ist; du wärst der denkende Mensch nicht, wärst du nicht der leidende, der gährende Mensch gewesen. Glaube mir, du hättest nie das Gleichgewicht der schönen Menschheit so rein erkannt, hättest du es nicht so sehr verloren gehabt. Dein Herz hat endlich Frieden gefunden. Ich will es glauben. Ich versteh es. Aber denkst du wirklich, daß du nun am Ende seist?81
Erschien die Negativität in Diotimas vorigen Äußerungen als das notwendige andere zu dem Ideal, so stellt sie schließlich deren Notwendigkeit für das Ideal selbst heraus, das damit zugleich seinen Status einbüßt: Willst du dich verschließen in den Himmel deiner Liebe, und die Welt, die deiner bedürfte, verdorren und erkalten lassen unter dir? Du mußt, wie der Lichtstral, herab, wie der allerfrischende Reegen, mußt du nieder in’s Land der Sterblichkeit, du must erleuchten, wie Apoll, erschüttern, beleben, wie Jupiter, sonst bist du deines Himmels nicht werth.82
Dies missdeutet Hyperion im Sinne eines triadisch-eschatologischen Geschichtsmodells, in dem auf das vergangene Ideal und die notwendige Negativität deren Aufhebung in ein weiteres Ideal folgt: Du frägst nach Menschen, Natur? Du klagst, wie ein Saitenspiel, worauf des Zufalls Bruder, der Wind, nur spielt, weil der Künstler, der es ordnete, gestorben ist? Sie werden kommen, deine Menschen, Natur! Ein verjüngtes Volk wird dich auch wieder verjüngen, und du wirst werden, wie seine Braut und der alte Bund der Geister wird sich erneuen mit dir.83
Diesen Idealzustand bestimmt der erzählte Hyperion entsprechend seiner Auffassung des antiken Athen wiederum als absoluten: »Es wird nur Eine Schönheit seyn; und Menschheit und Natur wird sich vereinen in Eine allumfassende Gottheit«.84
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stische Gestalt«. In: Turm-Vorträge 1989/90/91. Hölderlin: Christentum und Antike. Tübingen 1991, S. 141–172. MA, Bd. 1, S. 691; FHA, Bd. 11, S. 688; StA, Bd. 3, S. 87. MA, ebd.; FHA, Bd. 11, S. 689; StA, Bd. 3, S. 88 (»[…] seyst«). MA, Bd. 1, S. 691f.; FHA, ebd.; StA, ebd., H. v. m. MA, Bd. 1, S. 693; FHA, Bd. 11, S. 691f.; StA, Bd. 3, S. 90. MA, ebd.; FHA, Bd. 11, S. 692; StA, ebd. Diese Äußerung fasst somit im Horizont des Gesamtromans gerade nicht »den Endpunkt dieses Entwicklungsprozesses im Sinne des Gedankens des ›Einen in sich selber unterschiednen‹ zusammen« (Gunter Martens: »›Das Eine in sich selber unterschiedne‹. Das ›Wesen der Schönheit‹ als Strukturgesetz in Hölderlins ›Hyperion‹«. In: Neue Wege zu Hölderlin. Hrsg. v. Uwe Beyer. Würzburg 1994, S. 185–198, S. 195).
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Betont Diotima die Notwendigkeit und den Sinn der Negativität für Hyperions ›Ideal‹ und spricht sie selbst weder von einem vergangenen noch einem zukünftigen ›Idealzustand‹, so bewirken ihre korrigierenden Einwürfe bei Hyperion keine grundsätzliche Revision seiner Vorstellungen, sondern lediglich eine Verschiebung seiner Sehnsucht von einem vergangenen auf ein zukünftiges Ideal. Auch das Streben nach diesem unterscheidet sich jedoch nicht grundlegend von einem regressiven Streben. Die Phase der Negativität zwischen den beiden Idealzuständen erscheint Hyperion lediglich als notwendiges Zwischenstadium, das vollständig in dem neuen Ideal aufgehoben und überwunden werden soll. Es ist Diotima, die Hyperion immer wieder auf die konstitutive Bedeutung der Negativität verweist. Diotimas Reden stehen somit in eklatantem Widerspruch zu dem Bild, das sich Hyperion von ihr als lebendige Erscheinung, als Inkorporation des Ideals, als stille, spannungslos in sich ruhende Einfalt vor dem Eintreten der Negativität, macht.85 Dabei hat gerade sie die Negativität in allen wesentlichen Bereichen integriert: mit »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« gesprochen, zum einen ›idealisch‹, als Konzept, das sie gegenüber Hyperion artikuliert, und zum anderen im konkreten Lebensvollzug, indem sie – und das ist die extremste Weise, Negativität in der Liebe zu leben – an Hyperions Fehlentscheidung, in den Befreiungskrieg gegen die Türken zu ziehen sowie an seiner Abwesenheit tatsächlich ›tragisch‹ zugrunde geht. Hyperions verfehltes und lebensfeindliches Streben nach ›Idealzuständen‹ unter Ausschluss der Negativität führt – entsprechend der Behandlung von Extremen in Hölderlins poetologischen Schriften zum Tragischen – zu einem Umschlag in das andere Extrem, in die ›absolute‹ Negativität, das ›Nichts‹: »Ich habe nichts, wovon ich sagen möchte, es sei mein eigen. Fern und todt sind meine Geliebten, und ich vernehme durch keine Stimme von ihnen nichts mehr.«86
85
86
Claudia Albert (Tönende Bilderschrift. ›Musik‹ in der deutschen und französischen Erzählprosa des 18. und 19. Jahrhunderts. Heidelberg 2002) verbleibt in den Stilisierungen Diotimas durch die Romanfigur Hyperion und erkennt sie gerade im Kontext der Musikalität nicht in ihrer Stellung innerhalb des Gesamtromans, vgl. beispielsweise: »Dem ›single-bind‹ Hyperions, der ›einzig dem verbunden [bleibt], was ist‹, steht als Medium universaler Verständigung die Lichtgestalt Diotimas gegenüber. Doch wäre es unangemessen zu sagen, sie käme genauso umfassend zu Wort: Ihre Domänen sind Allharmonie und Schweigen« (S. 68, vgl. auch »Allharmonie und Schweigen – musikalische Motive in Hölderlins Hyperion«. In: ›Hyperion‹ – terra incognita. Expeditionen in Hölderlins Roman. Hrsg. v. Hansjörg Bay. Opladen u. a. 1998, S. 161–175, hier S. 168). Der erzählende Hyperion zu Beginn des zweiten Briefes, MA, Bd. 1, S. 614; FHA, Bd. 11, S. 584; StA, Bd. 3, S. 8.
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3.2
Der letzte Brief im Vergleich zum ›Athenerbrief‹
Das Erleben extremer Negativität führt bei dem erzählten Hyperion und entsprechend bei dem erzählenden Hyperion zu Beginn der Briefe zu keiner Korrektur seiner Auffassung,87 sondern vielmehr zu einem Rückfall in regressive Wünsche, die als solche Ausdruck einer Nicht-Anerkennung der Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart sind. Hierbei wird das Ideal ›Diotima‹ bzw. das ›alte Athen‹ durch ›Natur‹ und wiederum, ausdrücklich regressiv, durch ›Kindheit‹ ersetzt, worin sich deren beliebige Austauschbarkeit und somit wiederum die Nicht-Anerkennung konstitutiver Differenzen zeigt. Gerade deren Austauschbarkeit markiert die Ideale als Projektionen, die sich erst in der erinnernden Darstellung, die selbst konstitutiv auf Differenz beruht, auflösen, indem sich Hyperion im Schreiben die Negativität als Unaufhebbares und originär ›Lebendiges‹ ›erarbeitet‹. Dies zeigt sich in den, sich im Laufe des Erzählens herausbildenden Unterschieden zwischen dem erzählenden und dem erzählten Hyperion. Reagiert der Letzte auf Erfahrungen von Negativität fast durchgängig mit Regression, so zeigt sich wiederum in der Erzählweise, vor allem in der Verwendung des Konjunktivs und in dem expliziten Kommentar »und fast zu endlos«, die relative Distanz zwischen dem früherem und dem erzählenden Hyperion: So gab ich mehr und mehr der seeligen Natur mich hin und fast zu endlos. Wär’ ich so gerne doch zum Kinde geworden, um ihr näher zu seyn, hätt’ ich so gern doch weniger gewußt und wäre geworden, wie der reine Lichtstral, um ihr näher zu seyn! o einen Augenblik in ihrem Frieden, ihrer Schöne mich zu fühlen, wie viel mehr galt es vor mir, als Jahre voll Gedanken, als alle Versuche der allesversuchenden Menschen! Wie Eis, zuschmolz, was ich gelernt, was ich gethan im Leben, und alle Entwürfe der Jugend verhallten in mir; und o ihr Lieben, die ihr ferne seid, ihr Todten und ihr Lebenden, wie innig Eines waren wir!88
In der lediglich relativen Wertung des ›fast zu endlos‹ sowie in dem – auch – präsentischen Beklagen des Verlustes der Einheit mit den ›Lieben‹ zeigt sich das teilweise Verbleiben des erzählenden Hyperion in dieser Haltung. Dies bestätigt
87
88
Thomas Klinkert nimmt eine völlig angemessene Deutung der Negativität im Kontext von Hyperions Liebesideal vor, wenn er konstatiert: »Die Liebe im emphatischen Sinne als ›Medium der Totalinklusion‹ ist somit […] zum Scheitern verurteilt. […] Die Liebe scheitert nicht an veränderbaren Umständen oder an individueller menschlicher Unzulänglichkeit, sondern sie kann den an sie gestellten Anspruch, Ersatz für die verlorene Einheit zu sein, prinzipiell nicht erfüllen« (Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe. Untersuchungen zur Liebessemantik bei Rousseau und in der europäischen Romantik [Hölderlin, Foscolo, Madame de Staël und Leopardi]. Freiburg 2002, S. 149). Zum Krieg im Verhältnis zum ›Briefroman‹ – auch in historischen Verortungen – vgl. Heiko Christians: »Kriegsbilder. Hölderlins ›Hyperion‹ und das Gattungssystem um 1800«. In: Kontingenz und Steuerung. Literatur als Gesellschaftsexperiment 1750–1830. Hrsg. v. Thorsten Hahn u. a. Würzburg 2004, S. 167–175. MA, Bd. 1, S. 759; FHA, Bd. 11, S. 780; StA, Bd. 3, S. 158.
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die Unabschließbarkeit des Prozesses und die grundsätzliche Unaufhebbarkeit der Negativität: auch die Einholung kann, wie die Differenz zwischen zwei zeitlich unterschiedenen Zuständen des Ich, nicht absolut sein, sondern wird stets auf das Verhältnis von Einheit und Differenz bezogen bleiben und somit eine relative darstellen. Parallel zum Aufbau des 30. Briefes folgt auch an dieser Stelle, im 60. und letzten Brief des Romans, die Korrektur durch (die mittlerweile verstorbene) Diotima, und zwar vermittels einer akustischen Vision. Diese Intervention durch Diotimas Stimme führt zu einer Verbindung der regressiven Tendenz mit dem Vorwärtsstreben: Und Einmal sah’ ich noch in die kalte Nacht der Menschen zurük und schauert’ und weinte vor Freuden, daß ich so seelig war und Worte sprach ich, wie mir dünkt, aber sie waren, wie des Feuers Rauschen, wenn es auffliegt und die Asche hinter sich läßt – […].89
Hyperions darauffolgender Monolog gehorcht demselben Muster. Bleibt er zunächst einer Rückwendung zur Natur verhaftet (»O du, so dacht’ ich, mit deinen Göttern, Natur! ich hab’ ihn ausgeträumt, von Menschendingen den Traum und sage, nur du lebst, und was die Friedenslosen erzwungen, erdacht, es schmilzt, wie Perlen von Wachs, hinweg von deinen Flammen«90), so wird diese anschließend – unter Einbezug der Negativität und in der Metaphorik des Naturlaufs – in ein zyklisches Geschichtsmodell aufgehoben: Es fallen die Menschen, wie faule Früchte von dir, o laß sie untergehn, so kehren sie zu deiner Wurzel wieder, und ich, o Baum des Lebens, daß ich wieder grüne mit dir und deine Gipfel umathme mit all deinen knospenden Zweigen! friedlich und innig, denn alle wuchsen wir aus dem goldnen Saamkorn herauf!91
Deutet sich darin einerseits eine Abkehr von der triadisch-eschatologischen Geschichtsauffassung in dem 30. Brief an, so wird andererseits jedoch auch dieses zyklische Konzept nicht in seiner Einheits- und Differenzstruktur belassen, sondern auf die Einheit von Mensch und Natur unter Abschwächung der Differenz (›gleichen uns nicht ängstig von außen‹, ›innigst im Innersten gleichen wir uns‹) und der Negativität (›was ist denn der Tod und alles Wehe der Menschen?‹, ›Geschiehet doch alles aus Lust, und endet doch alles mit Frieden‹) hin überschritten: Ihr Quellen der Erd’! ihr Blumen! und ihr Wälder und ihr Adler und du brüderliches Licht! wie alt und neu ist unsere Liebe! – Frei sind wir, gleichen uns nicht ängstig von außen; wie sollte nicht wechseln die Weise des Lebens? wir lieben den Aether doch all’ und innigst im Innersten gleichen wir uns. 89 90 91
MA, Bd. 1, S. 759f.; FHA, Bd. 11, S. 781; StA, Bd. 3, S. 159. MA, Bd. 1, S. 760; FHA, ebd.; StA, ebd. (»[…] ich hab ihn […]«). Ebd.
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Auch wir, auch wir sind nicht geschieden, Diotima! und die Th ränen um dich verstehen es nicht. Lebendige Töne sind wir, stimmen zusammen in deinem Wohllaut, Natur! wer reißt den? Wer mag die Liebenden scheiden? – O Seele! Seele! Schönheit der Welt! du unzerstörbare! du entzükende! mit deiner ewigen Jugend! du bist; was ist denn der Tod und alles Wehe der Menschen? – Ach! viel der leeren Worte haben die Wunderlichen gemacht. Geschiehet doch alles aus Lust, und endet doch alles mit Frieden.92
Auch die in sich zyklisch aufgefasste Natur erscheint in der Abstraktion als allumfassend. Wandel, Negativität und die Differenz zwischen Mensch und Natur werden lediglich als sekundäre Erscheinungen einer zugrunde liegenden, idealen Einheit gedeutet, in der sie letztendlich aufgehoben sind. Dieses Verhältnis wird in den abschließenden, sentenzartigen Äußerungen des erzählten Hyperion nochmals besonders deutlich: »Wie der Zwist der Liebenden, sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder. Es scheiden und kehren im Herzen die Adern und einiges, ewiges, glühendes Leben ist Alles«.93 Wird das statische Ideal hier zwar durch eine dynamische Auffassung ersetzt, so bleibt doch die Einheit das ›Erste‹ und ›Letzte‹: ›einiges, ewiges, glühendes Leben ist Alles‹.94 Wird semantisch insgesamt die allumfassende Einheit betont, so zeigt sich in der strukturellen Verfasstheit dieser beiden letzten Sentenzen des erzählten Hyperion wiederum ein anderes Bild: Zum einen beruhen beide, als vergleichendes und metaphorisches Sprechen, konstitutiv auf einem ›anderen‹, zum anderen zeichnen sie sich durch ihre jeweilige Zweigliedrigkeit, verbunden durch ›und‹ aus: »Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder. Es scheiden und kehren im Herzen die Adern und einiges, ewiges, glühendes Leben ist Alles« (H. v. m.). Dabei sind die beiden Teile der jeweiligen Sentenz chiastisch aufeinander bezogen. Denn steht in dem ersten Teil der ersten Sentenz (›Versöhnung ist mitten im Streit‹) die ›Versöhnung‹, somit die Einheit, in der Subjektstellung und folgt darauf der ›Streit‹, somit die Differenz, so verhält es sich in dem zweiten Teil der ersten Sentenz (›alles Getrennte findet sich wieder‹) direkt entgegengesetzt. Dasselbe gilt für die beiden Teile der zweiten Sentenz, wobei die Reihenfolge der Gegensätze gegenüber der ersten Sentenz vertauscht ist. Auf die anfängliche Betonung der Trennung (›Es scheiden und kehren‹) folgt hier 92 93 94
MA, ebd.; FHA, Bd. 11, S. 781f.; StA, ebd. MA, ebd.; FHA, Bd. 11, S. 782; StA, Bd. 3, S. 160. Diese Schlussvision kann somit nicht wie von Gunter Martens (»›Das Eine in sich selber unterschiedne‹. Das ›Wesen der Schönheit‹ als Strukturgesetz in Hölderlins ›Hyperion‹«. In: Neue Wege zu Hölderlin. Hrsg. v. Uwe Beyer. Würzburg 1994, S. 185–198, hier S. 196 und 198) als die eigentliche Realisation des ›Einen in sich selber unterschiednen‹ und auch nicht als »gesättigt mit Heraklit« (Uvo Hölscher: »Hölderlins Umgang mit den Griechen«. In: Jenseits des Idealismus. Hölderlins letzte Homburger Jahre [1804–1806]. Hrsg. v. Christoph Jamme u. a. Bonn 1988, S. 319–337, hier S. 330) betrachtet werden.
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der Einheitspunkt (›im Herzen die Adern‹) in dem ersten Teil, während in dem zweiten Teil die Einheit (›einiges, ewiges, glühendes Leben‹) der Pluralität bzw. Differenz, jedoch unter dem Primat der Einheit (›Alles‹), vorausgeht. Die chiastische Struktur der beiden Teile der jeweiligen Sentenz wird somit von einem wiederum chiastischen Verhältnis der beiden Sentenzen untereinander umfasst.95 Die Überkreuzungen hinsichtlich Einheit und Differenz bei paralleler Syntax wird in sich potenziert, Einheit und Differenz erscheinen wechselseitig aufeinander bezogen, während die Sentenzen semantisch auf die Aufhebung der Differenz in einer allumfassenden Einheit (›und einiges, ewiges, glühendes Leben ist Alles‹) zielen. Gerade dieser relative Gegensatz von Semantik und Vollzug markiert wiederum die immanente Korrektur der explizit konstatierten Einheit. Eine ebenfalls chiastische Verschränkung lässt sich hinsichtlich der Monologe Hyperions im 30. und 60. Brief feststellen. Thematisieren beide eine unterschiedliche Auffassung des ›Einen in sich selber unterschiednen‹, so läuft deren jeweilige kulturell-historische Verortung dem Ort ihrer Artikulation zuwider. Denn korreliert die Konzeption, die Hyperion in der Nähe Athens entwirft, strukturell mit einer christlichen Eschatologie, so nähert sich das Verständnis, das er in Deutschland äußert, einer neuplatonischen Konzeption des ›Einen in sich selber unterschiednen‹ unter dem Primat der Einheit an. Somit geht die räumliche Nähe zu Athen mit einer inhaltlichen Differenz zur spätantikneuplatonischen Auffassung einher, während die äußere Distanz einer inneren Nähe entspricht, so dass sich ein raum-zeitlicher Chiasmus zeigt. 3.3
Der Kontext des Monologs im letzten Brief
Diese Implikationen holt der erzählte Hyperion genausowenig ein wie den Kontext, den Ursprung und die strukturelle Verfasstheit seiner eigenen Rede. Entsprechend den Verhältnissen, die Hyperions Monolog bei Athen zu Ende des 30. Briefes begleiten, ist es auch hier, zu Ende der erzählten Zeit im engeren Sinne, im 60. Brief, Diotima, die nach Hyperions Regression eine Korrektur in Bezug auf die Negativität einbringt. Das geschieht in diesem Fall nicht explizit, jedoch in der Weise von Diotimas Anwesenheit. Ist Diotima zu Ende des ersten Bandes noch lebendig anwesend, so ist sie hier als Tote in einer akustischen Vision präsent: »Diotima, rief ich, wo bist du, o wo bist du? Und mir war, als hört’ ich Diotimas Stimme, die Stimme, die mich einst erheitert’ in den 95
Der Ausgleich des Widerstreits von Zweien in einer Vierheit findet sich auch in dem Eingangssatz des Entwurfs »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« (vgl. MA, Bd. 2, S. 77ff.; FHA, Bd. 14, S. 303ff.; StA, Bd. 4,1, 241ff.). Dabei wird der Gegensatz zwischen geistigem Gehalt und geistiger Form in der Vierheit der Verhältnisse von Gleichheit des geistigen Gehaltes, Wechsel der geistigen Form, Wechsel des sinnlichen Gehalts und Gleichheit der sinnlichen Form aufgelöst.
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Tagen der Freude – Bei den Meinen, rief sie, bin ich, bei den Deinen, die der irre Menschengeist miskennt!«96 Diotimas Präsenz ist untrennbar mit ihrem Tod, ihrer physischen Absenz verbunden. Sie ist als Tote sinnlich-akustisch anwesend. Das Spannungsverhältnis von An- und Abwesenheit ist auf diese Weise in ein Extrem gesteigert, denn der einzige Sinnesbereich, für den ein toter Körper nicht anwesend ist, stellt das Gehör dar, und gerade für diesen erscheint die tote Diotima. Gehen die Tode Diotimas und Alabandas der jetzigen Situation voraus, so zeigt sich nun das konstitutive Ineinander des ›Positiven‹ und seiner Negation. Diotima ist anwesend als Abwesende. Weder der erzählte noch der erzählende Hyperion erfasst dieses Verhältnis jedoch als solches. Dasselbe ist bei einer weiteren Erscheinung von Negativität der Fall, die jedoch gerade als Voraussetzung für die Möglichkeit einer Einholung, einer Darstellung, gelten kann. Die Anwesenheit der abwesenden Diotima führt nämlich nicht unmittelbar zu Hyperions Monolog, wie das noch zu Ende des ersten Bandes der Fall war, sondern es findet hier zunächst eine Unterbrechung, eine Negation der Kontinuität, statt. Denn Diotimas stimmliche Präsenz führt zur geistigen Abwesenheit Hyperions: »Ein sanfter Schreken ergriff mich und mein Denken entschlummerte in mir«.97 Nach dem Erwachen stellt sich die Aufgabe, das Geschehene einzuholen, ›zu fassen‹: »O liebes Wort aus heilgem Munde, rief ich, da ich wieder erwacht war, liebes Räthsel, faß ich dich?«98 Gerade die Unterbrechung, die Negation von Kontinuität, birgt die Möglichkeit der Mittelbarkeit, des Abstandes zum Geschehen und somit die Möglichkeit des darstellenden Einholens. Gewissermaßen findet sich in der erstaunten Frage (›liebes Räthsel, faß ich dich?‹) auch der Anfang der Möglichkeit (nicht der Notwendigkeit des Gelingens) des Begreifens, doch geht Hyperion dieser nicht eigens nach und erkennt die Negativität somit nicht in ihrer Bedeutung. Erst nach dieser Zäsur erfolgt Hyperions Monolog, der metaphorisch und vergleichend als Transzendierungsakt99 mit Anklängen an den Phoenix-Mythos dargestellt wird: Und Einmal sah’ ich noch in die kalte Nacht der Menschen zurük und schauert’ und weinte vor Freuden, daß ich so seelig war und Worte sprach ich, wie mir
96 97 98 99
MA, Bd. 1, S. 759; FHA, Bd. 11, S. 780; StA, Bd. 3, S. 158. MA, ebd.; FHA, Bd. 11, S. 781; StA, Bd. 3, S. 159. Ebd. Dieses Überschreiten, das hiermit angezeigt ist, findet seine Erfüllung in der erinnernden Einholung der Erlebnisse durch den schreibenden Hyperion. In gewissem Sinne ist hier in der angedeuteten Transzendierungsbewegung auch ein Ansatz für Hyperions Erfüllung seiner ›Bestimmung‹, und das heißt – im mythischen Sinne – seines Namens angedeutet: ›Hyperion‹ wurde schon in der Antike – etymologisch nicht ganz richtig – als ›der oben Gehende‹ gedeutet (vgl. Knaupp, Michael: Friedrich Hölderlin: Hyperion. Stuttgart 1997, S. 6).
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dünkt, aber sie waren, wie des Feuers Rauschen, wenn es auffliegt und die Asche hinter sich läßt – […].100
Das konstitutive Ineinander von Gegensätzen zeigt sich darin auf verschiedenen Ebenen, wird aber nicht thematisch. Zum einen stellt die vergleichende Sprechweise (›wie des Feuers Rauschen‹) eine eminente Konstellation von Übereinstimmung und Differenz, und zwar als gleichberechtigte Konstituenten in der Zweiheit der Comparata dar, zum anderen wird die Transzendierungsbewegung als untrennbar mit der (metaphorisch ausgedrückten) Rückwendungsbewegung verbunden dargestellt: »Und Einmal sah’ ich noch in die kalte Nacht der Menschen zurük […] und Worte sprach ich, wie mir dünkt, aber sie waren, wie des Feuers Rauschen, wenn es auffliegt und die Asche hinter sich läßt –«. Diese Konstellationen sind gerade dann von herausgehobener Bedeutung, wenn das Ineinander der Entgegengesetzten noch unter dem Primat des Transzendierens im Sinne einer Überwindung der Negativität (»Und Einmal sah’ ich noch in die kalte Nacht der Menschen zurük«) erscheint und somit einen immanenten Gegensatz darstellt.
4.
Zusammenführung: Gesamtroman
Die Konzeptionen des ›Einen in sich selber unterschiednen‹, die sich explizit in den Monologen des erzählten Hyperion zu Ende des 30. und des 60. Briefes finden, werden durch die Sprechweise jeweils unterlaufen und korrigiert. Denn insgesamt stellt sich das Verhältnis von Einheit und Differenz als Untrennbares und in sich Dynamisches dar, in dem die Differenz bzw. Negativität eine konstitutive Stellung einnimmt und nicht in der Einheit aufgehoben wird.101 Das in den Reden des Hyperion Gesagte sowie das, was dieses unterläuft, die Weise ihrer Darstellung, ihr Kontext und ihre strukturelle Stellung, lässt sich differenzieren in die erinnerten Bewusstseinsgehalte des erzählten Hyperion einerseits und des erzählenden andererseits. Zwar müssen sämtliche sprachliche Äußerungen der Briefe dem erzählenden Hyperion zugeordnet werden – eine Ausnahme bilden lediglich die Briefe zwischen ihm und Diotima, die der erzählende Hyperion nochmals abschreibt – doch versucht dieser, den Bewusstseinsstand des erzählten Hyperion möglichst unmittelbar102 wiederzugeben. ›Gelingt‹ diese Schilderung – und es gibt keine Möglichkeit, dies zu überprüfen –, so 100 101
102
MA, Bd. 1, S. 759f.; FHA, Bd. 11, S. 781; StA, Bd. 3, S. 159. Gabriele von Bassermann-Jordan (»Schönes Leben! Du lebst, wie die zarten Blüthen im Winter …«. Die Figur der Diotima in Hölderlins Lyrik und im »Hyperion«-Projekt: Theorie und dichterische Praxis. Würzburg 2004) arbeitet das Verhältnis von Einheit und Differenz nicht wirklich heraus, wenn sie Einheit und Differenz zum einen als bloße Gegensätze betrachtet, zum anderen stets die Einheit betont. Das ist insofern möglich und naheliegend, als der erzählende Hyperion die Differenz zwi-
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muss das Gesagte dem Bewusstseinszustand des erzählten Hyperion, die Darstellung, der Kontext sowie die strukturelle Stellung jedoch dem erzählenden Hyperion zugeordnet werden. Nicht nur gliedern sich die Briefe also in Passagen, die sich auf den Bewusstseinsstand des erzählten Hyperion beziehen einerseits und auktorial kommentierende Äußerungen des erzählenden Hyperion andererseits, sondern auch die Abschnitte, die das Bewusstsein des früheren Hyperion ›wiedergeben‹, differenzieren sich in das semantisch Dargestellte, das relativ dem erzählten Hyperion zugeordnet werden muss, und in die Weise der Darstellung, die dem erzählenden Hyperion zuzuschreiben ist. Die Darstellung ist mit den genannten Ausnahmen durchgängig Medium des erzählenden Hyperion. Das Augenmerk sollte folglich nicht in erster Linie auf die semantische Differenz der Äußerungen des erzählenden Hyperion zu seiner Wiedergabe des Bewusstseinsstands des erzählten Hyperion gelegt werden, sondern vor allem auf das Verhältnis von Dargestelltem und Darstellung, oder genauer, von ›Was‹ und ›Wie‹ der Darstellung. Denn darin tritt die Bezogenheit und die Differenz von erzähltem und erzählendem Hyperion sowie die Darstellungsstruktur selbst als spezifisches Ineinander von Gesagtem und der Weise des Sagens, von Einheit und Differenz, die der Roman ist und die er darstellt, am deutlichsten hervor. Sprache, Darstellung, zeigt sich somit eigens als ›Eines in sich selber unterschiedenes‹, das die Differenz in sich nicht aufhebt, sondern gerade herausstellt und dieses ›eine‹, das es ist, nur in dieser und durch diese Unterschiedenheit sein kann und sich zugleich als solches aufzeigt. Dem entspricht die Struktur der Erinnerung. 4.1
Erinnerung
Mit Ausnahme der auktorialen Äußerungen des erzählenden Hyperion und der Berichte über seinen gegenwärtigen Zustand stellen die Briefe Hyperions an Bellarmin nichts als Erinnerung dar.103 Daran kann deutlich werden, dass ›Erinnerung‹ keine Rekapitulation eines ›äußerlich‹ in Raum und Zeit Geschehenen in einem ›Innenraum‹ des ›Geistes‹ oder des Vorstellungsvermögens ist, sondern dass der Prozess des Erinnerns ein Geschehen in der Gegenwart darstellt, das eigentlichen Erfahrungscharakter hat.104 Bleiben die Geschehnisse, die dem
103
104
schen ihm und dem erzählten oftmals gerade nicht aufrechterhalten kann und somit in ein fast unmittelbares Wiedererleben des Vergangenen verfällt. Selbst die Briefe zwischen Diotima und Hyperion, die der erzählende Hyperion lediglich abschreibt (Briefe 8 bis 22 im 2. Band) und an Bellarmin schickt, können als Erinnerung betrachtet werden, indem Hyperion – parallel zu der Einholungsstruktur der Erinnerung – in ihnen sich selbst ›liest‹, auch wenn dieses Lesen nicht eigens zur Darstellung kommt. Darin ist die Opposition von Handeln und Rückzug in das erinnernde Schreiben aufgehoben. Handeln und Erinnerung bleiben zwar als Differente voneinander abhebbar, gehören jedoch in ihrer Differenz konstitutiv in den einen Zusammenhang der Erfahrung. Die »Erinnerung« als
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erzählten Hyperion widerfahren, uneingeholte Erlebnisse, so wandeln sich diese in der darstellenden Erinnerung zu Erfahrungen, in denen die vergangenen Geschehnisse als das, was sie sind, eingeholt und dargestellt werden.105 Nicht umsonst wurde in der Forschung immer wieder darauf hingewiesen, dass der eigentliche Reifungsprozess Hyperions im erinnernden, vermittelnden Erzählen und nicht im unmittelbaren ›Erleben‹ stattfindet. Der Prozess, den die Briefe darstellen, ist nicht anderes als der Erinnerungsprozess selbst.106 ›Erinnerung‹ zeigt sich dabei als in sich paradox verfasst. Sie ist ein Geschehen in der Gegenwart, zugleich ist sie ›Erinnerung‹ jedoch nur in dem konstitutiven Bezug auf ein anderes, die Vergangenheit. Das Erinnerte ist somit zugleich Vergangenes und Gegenwärtiges, es muss einerseits ›identisch‹ mit dem Vergangenen sein, einen unaufhebbaren Bezug zu diesem haben, zugleich ist das Erinnerte andererseits jedoch ausschließlich in der Gegenwart, somit in Differenz zur Vergangenheit. Erinnertes ›ist‹ nur in dieser konstitutiven Spannung seiner Identität mit dem Vergangenen und seiner gleichzeitigen Differenz zu diesem, es ist als ›eines‹ nichts anderes als die Spannung dieser Gegensätze. Zugleich ist das Erinnerte nur in der Gegenwart des Erinnerns, so dass es sich als das Gegenwärtige des Gegenwärtigen und des Vergangenen zeigt.107 Diese Verhältnisse bilden die ›Struktur‹ des Romans, wobei er diese zugleich vollzieht, sich als diese und in diesen darstellt und sie explizit als das ›Wesen der Schönheit‹ thematisiert. Dem entspricht das Geschehen des ›Einholens‹,
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»schöpferische Konfrontation, eine Art Nekyia« (S. 117) betont auch Rainer Nägele (Literatur und Utopie. Versuche zu Hölderlin. Heidelberg 1978), allerdings unter Bezug auf das ›Seyn schlechthin‹ in 具Seyn, Urtheil, Modalität典 (vgl. S. 117). Dass dieses ›Erkennen von etwas‹ als das, ›was etwas ist‹, immer ein relatives und revidierbares, somit niemals ein absolutes, endgültiges und abgesichertes ist, dürfte klar sein. Die Unterscheidung von ›Gelingen‹ und ›Nicht-Gelingen‹ ist hier eine radikal relative und geschichtliche, die nicht abschließend festgestellt werden kann. Diese innere Strukturiertheit des Erzählens bezieht Jürgen Wertheimer in seinem Deutungsansatz zu wenig ein, wenn er die Sprachlichkeit vorwiegend hinsichtlich der ›Geschichte‹ untersucht und so zu dem für den Gesamtroman nicht ganz angemessenen Ergebnis kommt, dass der »Traum von polyphoner Stimmführung, in der sich die Stimmen zu einem Ganzen ineinanderfügen, […] in seiner inneren Brüchigkeit als Konstrukt offenbart und allenfalls als sentimentale Erinnerung gleichsam noch einmal anzitiert« wird (»Sprachzeichen : Zeichensprache. Hyperions Weg ins dialogische Abseits«. In: Hölderlin und die Moderne. Eine Bestandsaufnahme. Hrsg. v. Gerhard Kurz u. a. Tübingen 1995, S. 213–223, hier S. 223). Diese grundsätzliche Struktur der Erinnerung, die sich mit der Schönheit als ›Eines in sich selber unterschiednes‹ und in allen wesentlichen Hinsichten mit der Romanstruktur deckt, expliziert Manfred Weinberg nicht (»›Nächstens mehr.‹ Erinnerung und Gedächtnis in Hölderlins ›Hyperion‹«. In: Erinnern und Vergessen in der europäischen Romantik. Hrsg. v. Günter Oesterle. Würzburg 2001, S. 97–116), obwohl er die Erinnerung in das Zentrum seiner Erörterung stellt und sowohl auf die ihr inhärente Distanzierungsbewegung (vgl. S. 103) als auch auf die unabschließbare Dynamik des Dichtertums (vgl. S. 114) verweist. Helmut Hühn (Mnemosyne. Zeit und Erinnerung in Hölderlins Denken. Stuttgart u. a. 1997) geht verstärkt auf den Lebensvollzug der Figur Hyperion ein und betrachtet so die Erinnerung hauptsächlich als »Trauerarbeit des Protagonisten« (S. 54). So stößt er jedoch nicht in die grundsätzlichen ästhetischen Dimensionen der Erinnerungsstruktur vor.
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der Darstellung von etwas als etwas, das ›Eine in sich selber unterschiedne‹ als in sich paradox gekehrte Dynamik wechselseitiger Konstitution der Gegensätze und – in diesem Sinne – die Einheit der Einheit und der Differenz.108 4.2
Die Reflexionsstruktur des Selbstbewusstseins in 具Seyn, Urtheil, Modalität典 und Hölderlins Fichte-Kritik
In dem Entwurf 具Seyn, Urtheil, Modalität典 erscheint eine reflexive Grundstruktur in Bezug auf das Selbstbewusstsein, die strukturell dem ›Einen in sich selber unterschiednen‹ entspricht. In Absetzung von Fichte109 konstatiert Hölderlin schon in diesem frühen Entwurf Selbstbewusstsein nur in dieser Struktur als möglich. Es gründet in einem ›kontradiktorischen Akt‹, in dem sich das Ich sich selbst entgegensetzt und sich darin zugleich als Einheit hält: 108
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Gunter Martens (»›Das Eine in sich selber unterschiedne‹. Das ›Wesen der Schönheit‹ als Strukturgesetz in Hölderlins ›Hyperion‹«. In: Neue Wege zu Hölderlin. Hrsg. v. Uwe Beyer. Würzburg 1994, S. 185–198) betont die Unaufhebbarkeit der Negativität in der Einheit (vgl. beispielsweise S. 190) und bringt gegenüber anderen Darstellungen wichtige Differenzierungen ein, arbeitet jedoch die Struktur als ganze, vor allem in Bezug auf die von ihm erwähnte Rolle des »unteilbare[n] Ganzen« nicht in letzter Konsequenz heraus (vgl. »Das εν διαϕεϱον εαυτω wird begriffen […] als ein Zugleich von Widersprüchen, als eine Identität von Nichtidentischem im Rahmen eines unteilbarem [sic!] Ganzen«, S. 190). Anke Bennholdt-Thomsen (»Dissonanzen in der späten Naturauffassung Hölderlins«. In: HJb 30 [1996/97], S. 15–41) sieht ›Hyperion‹ noch stärker im Lichte der Vereinigungsphilosophie (vgl. beispielsweise S. 23 und 40). Diese Konstellationen haben Dieter Henrich (»Hölderlin über Urteil und Sein. Eine Studie zur Entstehungsgeschichte des Idealismus«. In: HJb 14 [1965/66], S. 73–96; »Hegel und Hölderlin«. In: ders.: Hegel im Kontext. Frankfurt/Main 1967, S. 9–41; »Über Hölderlins philosophische Anfänge«. In: HJb 24 [1984/85], S. 1–28; Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken [1794–1795]. Stuttgart 1992), und Violetta Waibel (Hölderlin und Fichte. 1794–1800. Paderborn u. a. 2000; »Wechselbestimmung. Zum Verhältnis von Hölderlin, Schiller und Fichte in Jena«. In: Fichte-Studien 12 [1997], S. 43–69) eingehend untersucht. Vgl. auch Panayotis Kondylis: Die Entstehung der Dialektik. Eine Analyse der geistigen Entwicklung von Hölderlin, Schelling und Hegel bis 1802. Stuttgart 1979, sowie Manfred Frank: »Fragmente einer Geschichte der Selbstbewußtseins-Theorie von Kant bis Sartre«. In: SelbstbewußtseinsTheorien von Fichte bis Sartre. Hrsg. v. Manfred Frank. Frankfurt/Main 1991, S. 413–599 und Friedrich Voßkühler (Kunst als Mythos der Moderne. Kulturphilosophische Vorlesungen zur Ästhetik von Kant, Schiller und Hegel über Schopenhauer, Wagner, Nietzsche und Marx bis zu Cassirer, Gramsci, Benjamin, Adorno und Cacciari. Mit Werkinterpretationsentwürfen zur bildenden Kunst, Musik und Literatur. Würzburg 2004). Eine sehr gute Aufarbeitung der Forschung sowie eine alternative Sicht auf das Fragment bietet Patrizia Hucke (»›Seyn schlechthin‹ und ἕν διαϕέϱον ἑαυτῷ. Zur Beziehung von Einheit und Differenz in Jenaer Texten Friedrich Hölderlins«. In: Erfahrungen der Negativität. Festschrift für Michael Theunissen zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Markus Hattstein u. a. Hildesheim u. a. 1992, S. 95–114). Vgl. auch Michael Franz: »Hölderlins Logik. Zum Grundriß von 具Seyn Urtheil Möglichkeit典«. In: HJb 25 (1986/87), S. 93–125. Zur Konzeption des ›Hyperion‹ in Hinsicht auf Spinoza vgl. Margarethe Wegenast: Hölderlins Spinoza-Rezeption und ihre Bedeutung für die Konzeption des »Hyperion«. Tübingen 1990 sowie zur Spinoza-Rezeption allgemein: »Zu Hölderlins Spinoza-Lektüre und Kritik der Subjektphilosophie«. In: Spinoza im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts. Zur Erinnerung an Hans-Christian Lucas. Hrsg. v. Eva Schürmann u. a. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, S. 459–475.
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»Wie ist aber Selbstbewußtseyn möglich? Dadurch daß ich mich mir selbst entgegenseze, mich von mir selbst trenne, aber ungeachtet dieser Trennung mich im entgegengesezten als dasselbe erkenne«.110 Die Ich-Identität besteht somit in den konstitutiven Gegensätzen des Ich und des Nicht-Ich. Entsprechend der Selbsterkenntnis des Ich in diesen Gegensätzen muss, der Struktur inhärent, eine weitere Reflexionsebene angenommen werden, die als immanente jedoch die Wechselkonstitution der Gegensätze ist und sie darstellt. Die Struktur des Selbstbewusstseins muss demnach beschrieben werden als Ich (1) des Ich (2) und des Nicht-Ich oder, allgemeiner, als Identität (1) der Identität (2) und der Nicht-Identität. Ist dieses Nicht-Ich in der ›praktischen Urteilung‹ ein wirklich anderes zu dem Ich, so bildet es in der ›theoretischen‹ jedoch einen bloßen Reflex des Subjekts, ein von diesem Gesetztes und somit stets in diesem Verbleibendes. Jenseits dieser Struktur ist nach Hölderlin – in Absetzung von Fichtes Theorie der Tathandlung des absoluten Ich – kein Selbstbewusstsein möglich. Denn dieses setzt eine Reflexionsstruktur voraus, die konstitutiv auf Differenz beruht. Ist das Ich absolut und soll es dennoch seiner selbst bewusst sein, so muss eine dem Ich immanente Spaltung in ein Nicht-Ich und ein Ich sowie ein in sich kontradiktorischer Akt der Selbsterkenntnis des Ich als Ich und Nicht-Ich angenommen werden. Setzt sich das Ich jedoch sich selbst als NichtIch entgegen, so kann dieses Ich nicht absolut sein, »die Identität [ist] keine Vereinigung des Objects und Subjects, die schlechthin stattfände, also ist die Identität nicht = dem absoluten Seyn«.111 Absolutheit und Reflexion, somit Selbstbewusstsein, schließen sich als zwei nicht miteinander zu vermittelnde Pole gegenseitig aus. Wird das Ich absolut gedacht, so hat es kein Bewusstsein und ist demnach nichts: […] ein Bewußtsein ohne Object ist aber nicht denkbar, und wenn ich selbst dieses Object bin, so bin ich als solches notwendig beschränkt […], also nicht absolut; also ist in dem absoluten Ich kein Bewußtsein denkbar, als absolutes Ich hab ich kein Bewußtsein, und insofern ich kein Bewußtsein habe, insofern bin ich (für mich) nichts, also das absolute Ich ist (für mich) Nichts.112
Absolutheit und Nichts fallen hier – und das ist die äußerste, aporetische, Zuspitzung des Gegensatzes – in ›eins‹ zusammen. Das endliche Ich (1) ist und konstituiert sich nur dadurch, dass es sich von sich selbst abspaltet, eine 110 111 112
MA, Bd. 2, S. 49; FHA, Bd. 17, S. 156; StA, Bd. 4,1, S. 217, H. v. m. MA, Bd. 2, S. 50; FHA, ebd.; StA, ebd. Hölderlins Brief an Hegel vom 26. Januar 1795, MA, Bd. 2, S. 569; FHA, Bd. 19, S. 212; StA, Bd. 6,1, S. 153. Vgl. auch den Brief an den Bruder vom 13. April 1795, MA, Bd. 2, S. 578f.; FHA, Bd. 19, S. 218; StA, Bd. 6,1, S. 162. Nach Manfred Frank (»Hölderlin über den Mythos«. In: Friedrich Hölderlin. Neue Wege der Forschung. Hrsg. v. Thomas Roberg. Darmstadt 2003, S. 140–171) ist diese Position »mit einem Idealismus der Bewußtseinsimmanenz nicht mehr versöhnbar« (S. 154).
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»Ur=Theilung«113 in sich einbringt. Erst die Differenz von Ich (2) und Nicht-Ich konstituiert die Einheit des Ich, Ich (1), überhaupt: »[…] das Ich ist nur durch diese Trennung des Ichs vom Ich möglich«.114 Diese Auffassung der strengen Mittelbarkeit allen Bewusstseins hält sich durch alle Veränderungen in Hölderlins Ansichten durch und findet auch noch in Hölderlins ›Pindarfragmenten‹, v. a. in seinen Anmerkungen zu ›Das Höchste‹, seinen Niederschlag.115 Subjektivitätsphilosophisch wird das Selbstbewusstsein, das sich in dem Urteil ›Ich bin Ich‹ ausdrückt, als Grund der Möglichkeit von Subjekt und Objekt sowie – folglich – von Urteilen angesehen. Das Urteil ›Ich bin Ich‹ ist die »Ur=Theilung« als »ursprüngliche Trennung des in der intellectualen Anschauung innigst vereinigten Objects und Subjects«.116 Doch ist sowohl das Urteil (als ein in Subjekt und Prädikat bzw. Objekt geteiltes eines) als auch das Ich selbst in seiner Teilung ein Ganzes, so sind beide dieses ›eine‹ konstitutiv nur als das ›eine‹ (1) des ›einen‹ (2) und des ›anderen‹. 4.3
Zeitstruktur
Die Darstellungsstruktur der Erinnerung bildet zugleich die Zeitstruktur des Romans. Entsprechend der in sich paradox gekehrten Verfasstheit der Erinnerung als Gegenwart der Gegenwart und der Vergangenheit ist der Monolog des erzählten Hyperion zu Ende des 60. Briefes in der Gegenwart des erzählenden Hyperion gesprochen. Der Monolog ist – zugespitzt formuliert – die Rede des erzählenden Hyperion in dessen Gegenwart, und zugleich wird dieser als das Sprechen eines anderen dargestellt, nämlich als das des erzählten Hyperion in der Vergangenheit. Die Rede markiert sich somit gegenüber dem gegenwärtigen Sprechen als different, und doch ist sie zugleich nichts anderes als dieses. Wie bereits angedeutet, erstreckt sich das explizit Erzählte in den Zeitraum hinein, in dem Hyperion als Eremit lebt und die Briefe an Bellarmin schreibt. Bezieht sich der Großteil des Erzählten zwar auf den Zeitraum vor Hyperions Rückzug als Eremit, so berichtet der erzählende Hyperion jedoch ebenfalls von seinem gegenwärtigen Leben und reflektiert auf seinen Erzählakt und dessen Effekt auf ihn selbst, so dass ständige Wechsel zwischen späterem, eingeschobenem und gleichzeitigem Erzählen stattfinden. Zudem werden die Auswirkun113 114 115
116
MA, Bd. 2, S. 50; FHA, Bd. 17, S. 156; StA, Bd. 4,1, S. 216. MA, Bd. 2, S. 49; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 217. »Das Unmittelbare, streng genommen, ist für die Sterblichen unmöglich, wie für die Unsterblichen […]. Der Mensch, als Erkennendes, muß auch [wie der Gott] verschiedene Welten unterscheiden, weil Erkentniß nur durch Entgegensezung möglich ist. Deswegen ist das Unmittelbare, streng genommen, für die Sterblichen unmöglich, wie für die Unsterblichen. Die strenge Mittelbarkeit ist aber das Gesez«, MA, Bd. 2, S. 381; FHA, Bd. 15, S. 355; StA, Bd. 5, S. 285. Vgl. dazu auch Thomas Schestag: »The Highest«. In: The solid letter. Readings of Friedrich Hölderlin. Ed. by Aris Fioretos. Stanford/California 1999, S. 375–411. MA, Bd. 2, S. 50; FHA, Bd. 17, S. 156; StA, Bd. 4,1, S. 216.
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gen des Erzählens auf den Erzähler zum Teil implizit deutlich, so dass sich die Diegese letztlich auch auf den Erzähl- bzw. Schreibakt der Briefe selbst bezieht. Die explizit und implizit erzählte Zeit ist aus der Perspektive der Erzählzeit somit in sich gedoppelt:117 in die erzählte Zeit vor dem Beginn des Schreibens der Briefe und in die erzählte Zeit zwischen und in den Schreibakten. Gerade in letzter Hinsicht verschmilzt die erzählte Zeit mit der Erzählzeit. Die in dem Erzählakt in sich gestaffelten Ebenen erzählter Zeit hängen jedoch chronologisch zusammen. Die Erzählzeit,118 die der Zeit der Narration durch Hyperion entspricht, ist somit Teil der erzählten Zeit, in welcher Hyperion als Eremit lebt. In der Narration existiert jedoch eine weitere Ebene erzählter Zeit, nämlich die Zeitspanne, bevor sich Hyperion als Eremit zurückzieht. Die Erzählzeit umfasst somit stets zwei Ebenen erzählter Zeit, und zugleich ist die Erzählzeit als die Zeit der Narration jedoch Teil der erzählten Zeit, in welcher Hyperion als Eremit lebt. Diese Zeitverhältnisse realisieren, wie die Ebenen der Diegese, eine interne und in sich gekehrte Differenzierung und Spaltung eines ›einen‹ in sich, und zwar unter paradoxer Verschränkung der Konstitutions- und Inklusionsverhältnisse der Teile. Dem entspricht genau die Struktur des ›Einen in sich selber unterschiednen‹, wie sie unter Einbezug der Darstellungsebene des Romans herausgearbeitet wurde und sich in dem Motto »Non coerceri maximo, contineri minimo, divinum est«,119 ›Nicht eingeschränkt werden vom Größten, umschlossen werden vom Kleinsten, ist göttlich‹, niederschlägt. Bezogen auf die Figur Hyperion in ihrer ständigen Dopplung bedeuten diese in sich inversiven Zeitverhältnisse, dass der erzählende Hyperion zu Beginn der Erzählzeit, d. h. des Romans, älter ist als der erzählte Hyperion am Ende der Erzählzeit. Der jüngste Hyperion findet sich in der ersten Bezugnahme des erzählenden Hyperion auf den erzählten Hyperion im dritten Brief,120 der älteste am Ende der Erzählzeit als erzählender Hyperion. Der erzählende Hyperion, der die Briefe beginnt, ist in dieser Hinsicht somit ›mittleren‹ Alters. Dasselbe gilt für den erzählten Hyperion am Ende der Briefe, der als wenig jünger erscheint als der erzählende Hyperion an deren Beginn. Die inversive Verschiebung der Zeitverhältnisse manifestiert sich in Bezug auf das Alter Hyperions somit in den Konstellationen, dass der erzählte Hyperion am Anfang der Erzählzeit der
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Eine gute graphische Darstellung der »inversive[n] Erzählstruktur« findet sich in dem Kommentar zum ›Hyperion‹ von Michael Knaupp (Friedrich Hölderlin: Hyperion. Stuttgart 1997, S. 77). Mit Ausnahme der abgeschriebenen Briefe zwischen dem erzählten Hyperion und Diotima. MA, Bd. 1, S. 610; FHA, Bd. 11, S. 578; StA, Bd. 3, S. 4. Der erste konkrete Bezug auf seine Kindheit findet sich im dritten Brief: »Wie es mich umhertrieb an den Bergen und am Meerufer! […]« (MA, Bd. 1, S. 617; FHA, Bd. 11, S. 588; StA, Bd. 3, S. 11).
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jüngste, der erzählende mittleren Alters ist, am Ende jedoch der erzählte Hyperion mittleren Alters und der erzählende der älteste des Romans ist. Innerhalb der erzählten Zeit stellt der Monolog am Ende der Briefe den Abschluss der bloßen ›Erlebnisse‹ des Hyperion dar. Die textweltlich nächste Äußerung Hyperions ist der Beginn des ersten Briefes als erzählender Hyperion. Der letzte Monolog des erzählten Hyperion steht somit unmittelbar vor dem Übergang vom bloßen Erleben zum Erzählen in den Briefen. Dieser Übergang stellt gewissermaßen den ›Anfang des Anfangs‹ der Briefe dar, denn erst aufgrund dieses ›Wechsels‹ vom ›Erleben‹ zum Erzählen entstehen die Briefe überhaupt. In diesem liegt der Ursprung der Briefe und somit – folgt man den Implikationen des Romans – auch dessen Ursprung. Dieser Übergang, der textweltlich impliziert ist, bedeutet auf der Ebene der Erzählung, des Diskurses, die ›Rückkehr‹ vom relativen Ende des Romans, dem letzten Monolog des erzählten Hyperion, zu seinem Beginn, den ersten Äußerungen des erzählenden Hyperion. Diese ›Rückkehr‹ findet jedoch auf verschiedenen Ebenen statt, sie vollzieht sich als Übergang von dem erzählten Hyperion am relativen Schluss zu dem erzählenden Hyperion am Beginn, sie ist somit keine Rückkehr in das Identische, sondern in der Differenz. Auf der Ebene des Diskurses als narrativem Text stellt sie sich jedoch als identische, ›wirkliche‹, Rückkehr vom Ende in den Anfang dar. Durch den Verweis darauf, dass diese Widersprüchlichkeit zwischen zwei Ebenen besteht, wird die Spannung jedoch keineswegs aufgelöst, denn die Ebenen konstituieren sich, wie ihre inhärente Spannung, gegenseitig. Die ›Rückkehr‹ vom relativen Ende121 zum Anfang der Briefe ergibt sich dadurch, dass die textweltliche Chronologie von dem erzählten Hyperion am Ende der Erzählzeit, und das heißt des Romans, zu dem erzählenden Hyperion zu Beginn der Briefe verläuft. Dies ist jedoch nur deshalb der Fall, weil die erzählte Zeit gegenüber der Erzählzeit inversiv in sich gekehrt ist und die Erzählzeit somit zwei Ebenen erzählter Zeit umfasst und zugleich Teil der erzählten Zeit ist. Durch die Ineinanderstaffelung der Zeitebenen, wie sie der Erinnerung zukommt, ist die textweltliche Chronologie gegenüber der Romanchronologie verschoben – entsprechend der in sich paradox gekehrten Struktur der Reflexion, der Darstellung, des ›Einen in sich selber unterschiednen‹. In dieser inneren Widerstrebigkeit, die der Übergang vom relativen Ende zum Beginn der Briefe darstellt, muss sich textweltlich der ›Ursprung‹ der Briefe ereignen. Dieser Übergang ist das in sich paradoxe Verhältnis, das der erzählte Hyperion in der ›Athenerrede‹ als ›Eines in sich selber unterschiednes‹ zwar nennt, das er aber weder als erzählter noch als erzählender einholt. Die Bedeutung der ›Athenerrede‹ und des ›Einen in sich selber unterschiednen‹ erschließt sich in ihrer ganzen Tragweite lediglich in der Gesamtlektüre der 121
Mit Ausnahme des ›So dacht’ ich. Nächstens mehr‹.
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Briefe bzw. des Romans. Der erzählende Hyperion müsste somit entsprechend der Implikationen der Einholungs- und Darstellungsstruktur des Romans zum lesenden Hyperion, zum Rezipienten seiner eigenen Briefe werden. 4.4
Einholungsstrukturen und die ›Mitten‹ als Übergänge
Auf den Gesamtroman bezogen, wiederholt sich diese Struktur auf verschiedenen, ineinandergestaffelten Ebenen, wobei jede höhere Ebene ein ›Einholen‹122 des Geschehens auf der untergeordneten Ebene bedeutet. Die in der textweltlichen Chronologie früheste und somit unterste Ebene der Ineinanderstaffelungen besteht in dem erzählten ›Erleben‹ Hyperions vor dessen Rückzug als Eremit. Dieses erscheint durch die Bandaufteilung des Romans zweigeteilt, wobei die Schilderung der ›Erlebnisse‹ und Gespräche bei Athen den Abschluss des ersten Bandes bilden. Diese sind gegenüber der Mitte des Romans verschoben. Die eigentliche Mitte bildet der Übergang vom ersten zum zweiten Band, die Lücke zwischen den Bänden. Darin geschieht jedoch der entscheidende Wechsel von der Schilderung des ›passiven‹ ›Erlebens‹ des erzählten Hyperion im ersten Band zur Erzählung seines aktiven Handelns im Freiheitskampf im zweiten. Die gesamten erzählten ›Erlebnisse‹ Hyperions vor seinem Rückzug als Eremit sind zwar von dem vergangenen Bewusstsein des erzählten Hyperion geprägt, bzw. der erzählende Hyperion gibt dieses in der Erinnerung mutmaßlich ›authentisch‹ wieder, allerdings wird der erzählte Hyperion derart dargestellt, dass er seine ›Erlebnisse‹ als solche und in dem, was sie jeweilig sind und bedeuten, nicht einholt. Das geschieht erst auf der übergeordneten Ebene, dem Schreiben der Briefe an Bellarmin, das in der impliziten Chronologie auf das ›Erleben‹ Hyperions folgt. Der Übergang vom ›Erleben‹ zum Erzählen findet in der ›Mitte‹ statt, die zwischen dem relativen Ende des Romans (dem letzten Monolog des erzählten Hyperion) und dem Beginn des Romans (den Schilderungen des erzählenden Hyperion) liegt. Die exzentrische Mitte dieser ›erzählten‹ Zeit, die der eigentlichen Mitte vorausgeht, bildet der Zeitpunkt des letzten Monologs des erzählten Hyperion. Im Hinblick auf die Erzählzeit des Romans bildet diese exzentrische Mitte jedoch sein relatives Ende.123 Im Schreiben der Briefe, im erinnernden Erzählen des Erlebten, holt Hyperion seine Erlebnisse ein. Der erzählende Hyperion ist sich zwar zunächst darüber bewusst, dass er erinnert (»Ich [Hyperion] danke dir [Bellarmin], daß
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›Einholen‹ wiederum in dem oben angemerkten, relativen Sinn aufgefasst. Von »Selbstergreifung« des »schreibende[n] Hyperion« »durch Erinnerung« (Ulrich Gaier: Hölderlin. Eine Einführung. Tübingen u. a. 1993, S. 203) zu sprechen, lässt den unaufhebbar dynamischen und konstitutiv die Negativität umfassenden, und somit prekären Charakter der Erinnerungsarbeit zu sehr in den Hintergrund treten. Ausschließlich der letzten Äußerung des erzählenden Hyperion »So dacht’ ich. Nächstens mehr«, MA, Bd. 1, S. 760; FHA, Bd. 11, S. 782; StA, Bd. 3, S. 160.
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du mich bittest, dir von mir zu erzählen, daß du die vorigen Zeiten mir in’s Gedächtniß bringst«124), gleitet jedoch von der Erinnerung immer wieder in die Regression ab,125 indem er die für die Erinnerung konstitutive Differenz von Gegenwart und Vergangenheit nicht aufrechterhält: Das trieb mich auch nach Griechenland zurük, daß ich den Spielen meiner Jugend näher leben wollte. Wie der Arbeiter in den erquikenden Schlaf, sinkt oft mein angefochtenes Wesen in die Arme der unschuldigen Vergangenheit. […] Da ich noch ein stilles Kind war und von dem allem, was uns umgiebt, nichts wußte, war ich da nicht mehr, als jezt, nach all den Mühen des Herzens und all dem Sinnen und Ringen?126
Die späteste Äußerung des erzählenden Hyperion, »So dacht’ ich. Nächstens mehr«,127 die zugleich den Abschluss des Romans bildet, sagt die Erinnerung zwar nochmals in ihrer Faktizität, allerdings, indem sie die Differenz von Vergangenem und Gegenwärtigem voraussetzt. Die Aussage ›So dacht’ ich‹ impliziert eine Differenz von Vergangenem und Gegenwärtigem als ihre eigene Voraussetzung. Von dieser Differenz ausgehend, die die Dimension der Zeitlichkeit überhaupt eröffnet, erfolgt in der letzten Äußerung des erzählenden Hyperion, ›Nächstens mehr‹, der Bezug auf die noch ausstehende Zeitdimension, die Zukunft. Der Verweis auf die Differenz von Vergangenem und Gegenwärtigem führt somit zum Hervortreten der weiteren Zeitdimension, der Zukunft. Diese ist aufgrund der Erfahrung der Distanz von Vergangenem und Gegenwärtigem, die in der Erinnerung geschieht, als offene gesagt, und zwar in zweifacher Hinsicht. Zum einen bleibt die zeitliche Dauer bis ›Nächstens‹ unbestimmt. Das einzige, was konstatiert wird, ist die Zukunft in ihrer Unabweisbarkeit. Zum anderen wird dasjenige, was in der Zukunft stattfinden soll, das Zukünftige, qualitativ nicht bestimmt. Aufgrund des vorausgehenden Bezuges auf die Erinnerung (›So dacht’ ich‹) scheint lediglich eine Fortführung des schreibenden Erinnerns impliziert. Denn ›mehr‹ bedeutet in diesem Kontext keinen zwangsläufig qualitativen Aufstieg, sondern stellt die Offenheit hinsichtlich der Qualität und deren Prekarität eigens heraus. Nur eines scheint sicher, nämlich, dass es zum Erinnern, zum Versuch der Darstellung kommen wird. Hyperions letzte Äußerung und zugleich das Ende des Romans impliziert somit
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MA, Bd. 1, S. 616; FHA, Bd. 11, S. 586; StA, Bd. 3, S. 10. Gideon Stiening (Epistolare Subjektivität. Das Erzählsystem in Friedrich Hölderlins Briefroman ›Hyperion oder der Eremit in Griechenland‹. Tübingen 2005) sieht das Problem anders, wenn er beschreibt, dass die »Erkenntnis der unaufhebbaren Differenz zwischen dem Erzählten und der Situation des Erzählens« »den Erzählfluß« (S. 451), insbesondere bis zum 29. Brief, immer wieder gefährde. Als ›unaufhebbar different‹ werden somit die stark veränderten Zustände und (Lebens-)Umstände des erzählten und des erzählenden Hyperion bezeichnet. Es wäre hier also das Bewusstsein des Verlustes, welches das Schreiben ins Stocken geraten lässt. MA, Bd. 1, S. 616; FHA, Bd. 11, S. 586f.; StA, Bd. 3, S. 10. MA, Bd. 1, S. 760; FHA, Bd. 11, S. 782; StA, Bd. 3, S. 160.
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einerseits eine radikale Geschichtlichkeit jenseits qualitativer Teleologie, und sie sagt darin andererseits den menschlichen Versuch, zu erinnern und darzustellen, als das einzig verlässlich zu Konstatierende. Der Prozess der Erinnerung und der Darstellung erscheint als Konstantes, seine jeweilige Ausprägung jedoch als unaufhebbar offen und zugleich von der qualitativ unbestimmten Konstanz des Prozesses umfasst. In dieser spätesten Äußerung Hyperions, die sich in ihrem ersten Teil auf die Vergangenheit (›So dacht’ ich‹), in ihrem zweiten auf die Zukunft (›Nächstens mehr‹) bezieht, findet sich kein expliziter Bezug auf die Gegenwart. Sie wird jedoch dadurch, dass auf die beiden anderen Zeitdimensionen Bezug genommen wird, als dasjenige deutlich, worin sich das Sprechen vollzieht. Erst über das andere ihrer selbst, über die Vergangenheit und die Zukunft, kann Gegenwart thematisch werden und in der Differenz ihrer Präsenz zu den anderen beiden Dimensionen als das hervortreten, worin sich das Sprechen vollzieht. Damit kann die Gegenwart jedoch auch als der Vollzug dieses Sprechens selbst thematisch werden. Präsenz und Vollzug, Unmittelbarkeit, zeigen sich hier als in sich unausdrücklich. Sie werden erst merklich über die Negation ihrer selbst. Dieses Hervortreten geschieht in der letzten Äußerung des erzählenden Hyperion und stellt sich zugleich als dieses dar. In dem letzten Satz vollzieht und zeigt sich die Darstellungsstruktur in nuce. Hierin ist zugleich impliziert, dass das Erinnern und Darstellen, auch wenn es als ›Einholen‹ gefasst wird, keinem teleologischen Muster im Sinne eines Aufstiegs und der Freiheit von Täuschung gehorcht. Vielmehr bleibt in der Einholungsstruktur die Negativität konstitutiv und stets als nicht eindeutig abgrenzbar erhalten.128 ›Einholung‹ und ›Darstellung‹ impliziert somit nicht ihr Glücken – das wäre selbst immer nur relativ bestimmbar –, sondern das ständige Ineinanderspiel von Verschiedenem, in dem das ›Positive‹ vom ›Negativen‹ oder das ›Wahre‹ vom ›Falschen‹ niemals definitiv abgrenzbar und als solches bestimmbar ist, sondern sich in ständiger Bewegung befindet, die die Wechselkonstitution der Gegensätze selbst ist und darstellt. Zu dieser gehört konstitutiv auch die ›Bewegung‹ des eigenen Aussetzens.129 So sind sowohl die letzte Äußerung des
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Auch Ute Guzzoni betont die Differenzen ›Hyperions‹ zur Hegel’schen Dialektik (»›Ich liebe diß Griechenland überall. Es trägt die Farbe meines Herzens‹. Einige Bemerkungen zu Himmel und Natur im ›Hyperion‹«. In: ›Hyperion‹ – terra incognita. Expeditionen in Hölderlins Roman. Hrsg. v. Hansjörg Bay. Opladen u. a. 1998, S. 116–134, vgl. v. a. S. 129f.). Axel Gellhaus (Enthusiasmos und Kalkül. Reflexionen über den Ursprung der Dichtung. München 1995) versteht die ›dialektische Aufhebung‹ des »sentimentalischen Dilemmas« (S. 271) Hyperions als ›Fühlbarwerden‹ und nicht als Negation (vgl. ebd.). Auf das schwer entwirrbare Ineinander von subjektivitätsphilosophischem Ansatz und dessen Überschreitung einerseits und damit einhergehend von teleologisch erscheinenden Elementen und der grundsätzlichen geschichtlichen Offenheit andererseits verweist auch Rainer Nägele (»Andenken an ›Hyperion‹«. In: ›Hyperion‹ – terra incognita. Expeditionen in Hölderlins Roman. Hrsg. v. Hansjörg Bay. Opladen u. a. 1998, S. 17–38, v. a. S. 19).
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erzählenden Hyperion als auch der unmittelbar vorangehende Monolog seitens des erzählten Hyperion in konstitutiver Weise auf Zäsuren bezogen. 4.5
Die ›Mitten‹ als Zäsuren und ihre Darstellung
Der Monolog wird – wie oben bereits angedeutet – einerseits als in seinem Ursprung auf die stimmliche Präsenz der toten Diotima bezogen wiedergegeben, andererseits geht er nicht unmittelbar aus dieser hervor. Vielmehr ist diese Unmittelbarkeit unterbrochen durch eine geistige Abwesenheit Hyperions, auf welche die Frage nach der Fassbarkeit, der Einholbarkeit der stimmlichen Erscheinung Diotimas folgt: »mir war, als hört’ ich Diotimas Stimme […] Ein sanfter Schreken ergriff mich und mein Denken entschlummerte in mir. O liebes Wort aus heilgem Munde, rief ich, da ich wieder erwacht war, liebes Räthsel, faß ich dich?«130 Die Zäsur, die hier zwischen das Hören und das eigene Sprechen eingefügt ist, wirft erst die Frage nach der ›Fassbarkeit‹ auf. Diese Thematisierung ermöglicht die Darstellung, denn erst aus dieser Frage heraus ergibt sich Hyperions Monolog als Ausdruck dessen, was sich durch Diotimas Präsenz gezeigt hat. Das Darstellen dieses Ereignisses durch den erzählenden Hyperion führt zu dessen letzter Äußerung, die eine zweifache Zäsur anzeigt. Die eine ›besteht‹ in dem Fehlen des expliziten Bezugs auf die Gegenwart. Dadurch wird diese aber als unexplizierte Mitte zwischen Vergangenheit und Zukunft deutlich und somit zugleich als dasjenige, worin sich der letzte Satz vollzieht und worin die Gegenwart zugleich auch nicht Zäsur ist. Die Darstellung dieses Aussetzens erweist sich somit als in sich widerstrebig verfasst. Doch findet sich zusätzlich ein Verweis auf eine Zäsur im Gegensatz zu ihrer Darstellung als Negativum in dem Ausdruck ›Nächstens‹. Positiv sagt dieses das Wiedereinsetzen des Schreibens nach einer Zäsur. Negativ sagt es sein Aussetzen während des unbestimmten Zeitraums der Zäsur zwischen dem gegenwärtigen Schreiben und seinem Neubeginn. Während dieses ›Nicht‹ des Schreibens muss sich der ›Ursprung‹ einer erneuten Darstellung ereignen. Stellt der Schlusssatz des Romans die Zäsur der Gegenwart in sich widerstrebig als seine Mitte dar, so verweist er zugleich auf eine bevorstehende Zäsur, die zwischen dem gegenwärtigen Schreiben und dem ›Nächstens‹ liegen soll, zu dem das Schreiben fortgesetzt wird. Dieses Aussetzen wäre die eigentliche Mitte, aus der das fortgeführte Darstellen entspringt, während die dargestellte Zäsur der Gegenwart in dem letzten Satz die exzentrische Mitte bildet, die auf diese eigentliche, aber unbestimmbare Mitte verweist. Auf diese wird entsprechend ihrer Unbestimmbarkeit vermittels einer doppelten Abwesenheit und Offenheit verwiesen. Zum einen ist der Bezug auf die Zukunft, ›Nächstens‹, 130
MA, Bd. 1, S. 759; FHA, Bd. 11, S. 780f.; StA, Bd. 3, S. 158f.
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in seiner Qualität völlig unbestimmt, als einzig Bestimmtes erscheint das Faktum der Fortsetzung. Zum anderen ist die Mitte, der Ursprung des weiteren Schreibens, nicht der unbestimmte Zeitpunkt ›Nächstens‹ selbst, sondern – in somit doppelter Offenheit – ein Zeitpunkt zwischen dem Jetzt des Sprechens und dem ›Nächstens‹. An dem relativen Ende des Romans finden sich somit auf beiden Ebenen, der Geschichte im engeren Sinne und der Narration, jeweils zwei Verweise auf Zäsuren als jeweilige ›Mitten‹, aus denen ein anderes entspringt. Auf der Ebene des erzählten Hyperion besteht die Zäsur in der Unterbrechung von Hyperions Bewusstsein, die auf die stimmliche Präsenz Diotimas folgt. Auf der Ebene des erzählenden Hyperion besteht die Zäsur in der fehlenden Nennung der Gegenwart in dem letzten Satz, wodurch die Paradoxie dieser Abwesenheit und ihres gleichzeitigen Vollzugs hervortritt. Auf die eigentliche Mitte und Zäsur, aus der das weitere Schreiben entspringen soll, ist in doppelter Mittelbarkeit und Unbestimmtheit in ›Nächstens‹ verweisen. Auf den beiden Ebenen des erzählten und des erzählenden Hyperion wird somit einerseits parallel verfahren, doch zeigt sich im Vergleich, dass auf der Ebene der Narration die Zäsur sowie deren Darstellung und der Verweis auf sie stärker hervortritt, was dem Verhältnis von Geschichte und Narration in ›Hyperion‹ insgesamt entspricht. Die eigentliche Mitte und Zäsur sowie das Entspringen eines anderen aus einer paradoxen Struktur findet sich jedoch letztlich auf der Ebene der Erzählung selbst. Denn geschieht nach dem Ende der Geschichte des erzählten Hyperion implizit dessen Übergang von dem bloßen ›Erleben‹ zu dem ›Erzählen‹, d. h. aber von der ›Geschichte‹ zur ›Narration‹, die wiederum selbst Teil der Diegese ist, so vollzieht sich dieser Übergang in Bezug auf die Erzählung – paradoxerweise – zwischen deren relativem Ende und ihrem Anfang. In dieser Zäsur muss – so die Implikation des Romans – der Ursprung der Narration und letztlich der Erzählung selbst geschehen. Das paradoxe Ineinander der Konstitutions- wie der Inklusionsverhältnisse wird hier, in dem implizierten Ursprung der Erzählung selbst, in extremster Ausprägung deutlich. Auf ›Ursprung‹ wird insgesamt nur vermittels der Zäsur und der paradoxen Implikationen ihrer Ränder in deren Zusammenhang verwiesen. ›Ursprung‹ zeigt sich als das Undarstellbare, und nur diese Konstellationen können auf das augenblickliche Entspringen, auf das Nicht-Darstellbare ›in‹ der Zäsur, verweisen, indem sie in sich die Dimension des Undarstell- und Unbestimmbaren eröffnen und dieses als Sich-Entziehendes augenblicklich hervortreten lassen. 4.6
Implikationen des Schlusses
Bleibt in der Schlusssentenz, ›Nächstens mehr‹, die Zukunft in ihrer konkreten Ausgestaltung zwar offen, so doch nicht die Fortsetzung des Versuches zu erinnern und darzustellen. Diese muss derselben Struktur folgen wie die Erinnerung 54
in den Briefen. Gemäß dieser Einholungsstruktur müsste nun – nach der Darstellung des Erlebten im Vollzug des Erinnerns – das Einholen des Erinnerns als Erinnern, des Erzählens als Erzählen, folgen. Das ist aber dasjenige, was der Leser vollzieht. Um somit sein eigenes Erinnern als Erinnern aufzufassen, müsste Hyperion selbst zum Leser seiner Briefe werden. In diesem Lesen läge die Möglichkeit, Erinnerung als Erinnerung, Erzählen als Erzählen, Darstellen als Darstellen ›einzuholen‹. Die konkrete Verwirklichung dieser Möglichkeit, somit auch das Gelingen der Darstellung, ist durch den letzten Satz der Briefe als offen gekennzeichnet und steht somit auch in der Möglichkeit des Scheiterns. ›Gelänge‹ der Versuch, so würde Hyperion durch das Lesen seines eigenen autobiographischen Erzählens das Erzählen als Erzählen auffassen. Er würde dadurch vom ›fiktiv‹ ›autobiographischen‹ Briefeschreiber zum Autor des Briefromans und müsste somit – entsprechend den Implikationen der Struktur – die paratextuellen Ergänzungen zu den Briefen hinzufügen, welche die Differenz zwischen den Briefen und dem Briefroman anzeigen. Darin läge der Übergang zum Dichtertum, das Diotima Hyperion prophezeit sowie die Überschreitung der ›Grenze‹ zwischen ›literarisch Fiktivem‹ und ›historisch Realem‹, zwischen der erzählenden und erzählten Figur Hyperion und dem Autor Hölderlin. 4.7
Paratextuelles
In der ›Verwirklichung‹ dieser Ebenen muss der Briefroman ›Hyperion‹ somit das Dichten selbst darstellen und in dem Leser diesen Prozess des Einholens des Dichtens zugleich vollziehen als auch darstellen. So kommt es zu einer Engführung von textexternem und textinternem Bereich, die auch die Vorrede impliziert. Denn in deren Sinn soll der Leser ›dichtend‹, in der Vereinigung von Gegensätzen,131 lesen und somit selbst ›dichten‹, indem er ein in seinen Gegensätzen ›harmonisch‹132 vereinter Mensch wird.133 Aus diesem Grund wird der Gesamtroman in der Vorrede auch besonders ›den Deutschen‹ anbefohlen, 131
132 133
Jedoch ohne deren Aufhebung, denn die ›Einheit‹, der Zusammenhang, der Gegensätze besteht zunächst in der Differenz. Zu diesem Verständnis der Dichtung als – in diesem Sinne – Einheit des Widersprüchlichen vgl. in der ›Athenerrede‹: »Die Dichtung, sagt’ ich, meiner Sache gewiß, ist der Anfang und das Ende dieser Wissenschaft [der Philosophie]. Wie Minerva aus Jupiters Haupt, entspringt sie aus der Dichtung eines unendlichen göttlichen Seyns. Und so läuft am End’ auch wieder in ihr das Unvereinbare in der geheimnißvollen Quelle der Dichtung zusammen« (MA, Bd. 1, S. 685; FHA, Bd. 11, S. 680; StA, Bd. 3, S. 81). Auf deren Gültigkeit für den Gesamtroman wird in dem folgenden Kapitel 4.8 eingegangen. ›Harmonie‹ meint dabei keine Aufhebung der Spannung, sondern gerade dieses ›Zusammen‹ der Unterschiedenen in der Unaufhebbarkeit ihrer Differenz, vgl. dazu auch Kapitel II.2.2. Vgl. dazu auch Hölderlins Abgrenzung der Dichtung gegenüber der Philosophie vermittels der Vielheit menschlicher Vermögen, welche die Dichtung im Gegensatz zur Philosophie anspricht in den ›Anmerkungen zur Antigonä‹ (MA, Bd. 2, S. 369; FHA, Bd. 16, S. 411; StA, Bd. 5, S. 265). Vgl. dazu auch Kapitel III.1.
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die – unter Einbezug der ›Athenerrede‹ – in direktem Gegensatz zu den antiken Athenern geschildert werden: […] ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesezte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstükelt untereinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt?134
Diese ›Vereinigung‹ zum Menschen wird in der Vorrede als »Liebe«135 bezeichnet, die auch disparate Weisen des Lesens im Sinne eines ›prodesse et delectare‹ umfassen soll: Ich verspräche gerne diesem Buche die Liebe der Deutschen. Aber ich fürchte, die einen werden es lesen, wie ein Compendium, und um das fabula docet sich zu sehr bekümmern, indeß die andern gar zu leicht es nehmen, und beede Teile verstehen es nicht. Wer blos an meiner Pflanze riecht, der kennt sie nicht, und wer sie pflükt, blos, um daran zu lernen, kennt sie auch nicht. Die Auflösung der Dissonanzen in einem gewissen Charakter ist weder für das bloße Nachdenken, noch für die leere Lust.136
›Auflösung der Dissonanzen‹ meint hier jedoch keine Verschmelzung in ein in sich undifferenziertes Ganzes, sondern vielmehr das Hindrängen disharmonischer Tonverhältnisse zu einem ›harmonischen‹ Verhältnis in der Konsonanz. ›Harmonisch‹ ist ein solches Verhältnis jedoch nur in der konstitutiven Spannung der einzelnen Töne zueinander. Es kann somit bei einer ›Äuflösung‹ von ›Dissonanzen‹ nicht darum gehen, die Spannungsverhältnisse zwischen verschiedenen Tönen aufzuheben, sondern vielmehr darum, sie in ein als konsonant empfundenes Verhältnis zu bringen. Dieses beruht jedoch konstitutiv nicht nur auf der Verschiedenheit der Töne, sondern auf deren Spannung untereinander und somit in sich auf einer Dissonanz.137
134 135 136 137
MA, Bd. 1, S. 754f.; FHA, Bd. 11, S. 774; StA, Bd. 3, S. 153. MA, Bd. 1, S. 611; FHA, Bd. 11, S. 579; StA, Bd. 3, S. 5. Vgl. dazu auch das Kapitel I.5.1. Ebd. Elena Polledri klärt dieses konstitutive Ineinander von Konsonanz und Dissonanz nicht hinreichend, wenn sie zunächst formuliert: »In der Entwicklung der Figuren im Roman spielt die Dissonanz eine immer wichtigere Rolle« und dann fortfährt: »ohne die anfängliche Dissonanz ist die am Ende erreichte Harmonie undenkbar. Die Entwicklung der Figuren bestätigt die Worte des versöhnten Hyperion am Ende des Romans: ›Werth ist der Schmerz […] Denn er nur führt von einer Wonne zur anderen‹« (»… immer bestehet ein Maas«. Der Begriff des Maßes in Hölderlins Werk. Würzburg 2002, S. 119). Wolfgang Braungart (»Hyperions Melancholie«. In: Hölderlin: Christentum und Antike. Hrsg. v. Valérie Lawitschka [Turmvorträge 1989/90/91]. Tübingen 1991, S. 111–140) sieht die ›Auflösung der Dissonanzen‹ aufgrund der Persönlichkeitsstruktur Hyperions als unwahrscheinlich an (»Die Frage ist damit auch, ob der narzißtische Charakter Hyperions nicht zu sehr fixiert wird, so daß sich die ›Dissonanzen‹ gar nicht mehr auflösen können«, S. 123).
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Die ›Auflösung der Dissonanzen‹ bezieht sich dabei auf »Hyperions elegischen Charakter«,138 für den der Schauplatz Griechenland angemessen sei.139 Der Begriff des ›Elegischen‹ legt den Bezug zu Schillers Konzeption in ›Über naive und sentimentalische Dichtung‹ nahe. Die eine ›Klasse‹ der elegischen ›Gattung‹ entspricht dabei der Problematik, in der sich die Figur Hyperion vor allem als erzählter, und teilweise auch noch als erzählender, befindet: »die Natur und das Ideal [ist] ein Gegenstand der Trauer, wenn jene als verloren, dieses als unerreicht dargestellt wird«, wobei »die Trauer nur aus einer durch das Ideal erweckten Begeisterung fließen«140 darf. Damit korreliert einerseits Hyperions gesamte Problematik als erzählte Figur, andererseits ist diese Grundstruktur des Elegischen auch dasjenige, was in den Vorreden zu früheren Fassungen zur Sprache kommt. Hyperion verharrt als schreibender Eremit jedoch nicht in dieser Gestimmtheit, sondern bringt sie zur Darstellung und holt sie ein. Somit wird weniger die Aufhebung der Spannung von Natur und Ideal, als vielmehr die Veränderung dieser Spannung durch ihre Darstellung im ›Werk‹, das diese Struktur realisiert, maßgeblich. Die ›Auflösung der Dissonanzen‹ besteht somit nicht in dem Übergang in ein spannungsloses Ideal ununterschiedener Einheit, sondern vielmehr darin, dass sich die Dissonanzen in der einholenden Darstellung dadurch ›auflösen‹, dass die widerstrebigen Kräfte in ein Verhältnis gelangen, in dem sie sich als in sich spannungsvolle ›harmonische‹ Fügung, als ein ›Eines in sich selber unterschiedenes‹, halten können.141 Der göttliche Zustand ist – in Zuspitzung der menschlichen Grundverfasstheit und nicht als absolut Entgegengesetztes – in dem Motto des Gesamtromans als paradox in sich gekehrt gesagt: »Non coerceri maximo, contineri minimo, divinum est.«142 Diese um das ›tamen‹ (›contineri tamen a minimo‹) verkürzte Sequenz aus der Grabinschrift143 des Ignatius von Loyola verweist zugleich auf die Problematik der Darstellung des Göttlichen, 138 139 140 141
142 143
MA, Bd. 1, S. 611; FHA, Bd. 11, S. 579; StA, Bd. 3, S. 5. Vgl. ebd. Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. 9., durchgesehene Auflage, Bd. 5. München 1993, S. 728. Theresia Birkenhauer (»Hyperion auf dem Ätna – ›[…] oder wie du es sonst noch heißen magst‹. Modalitäten indirekten Sprechens«. In: ›Hyperion‹ – terra incognita. Expeditionen in Hölderlins Roman. Hrsg. v. Hansjörg Bay. Opladen u. a. 1998, S. 190–209) hat mit ihrer Deutung der ›Auflösung der Dissonanzen‹ Recht, wenn sie beschreibt: »in diesem diskontinuierlichen, in vielfachen Gegensätzen alternierenden Prozeß, zeigen und manifestieren sich die ›Dissonanzen‹ dieses ›Charakter[s]‹. Ihre ›Auflösung‹ – das ist ihre Darstellung« (S. 207). MA, Bd. 1, S. 610; FHA, Bd. 11, S. 578; StA, Bd. 3, S. 4. Wolfram Groddeck (»›Hörst Du? Hörst Du? Diotima’s Grab!‹ Zur Aporie der Schriftlichkeit in den ›Hyperion‹-Briefen«. In: ›Hyperion‹ – terra incognita. Expeditionen in Hölderlins Roman. Hrsg. v. Hansjörg Bay. Opladen u. a. 1998, S. 176–189) geht der Frage nach, »was es bedeutet, daß es eine ›Grabinschrift‹ ist, die als Motto über dem Text steht« (S. 177). Dadurch wird auch das Verhältnis von identischer sprachlicher Erscheinung des Textes als Schrift und der immanenten Dynamik von Sprache und Geschehen berührt, die genau der aporetischen Darstellungsstruktur folgt, die als Identität der Identität und der Differenz angegeben werden kann und somit auch dem ›Was‹ des Mottos entspricht.
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die allein als paradoxe bzw. als Verweis auf das Göttliche in der Paradoxie möglich ist. Das Motto zum zweiten Band besteht in den Versen 1224 bis 1227 aus Sophokles’ ›Ödipus auf Kolonos‹: »μη ϕυναι, τον απαντα νιϰᾳ λογον· το δ’ επει ϕανֽη βηναι ϰειθεν, οθεν πεϱ ηϰει, πολυ δευτεϱον ωϛ ταχιστα«, »Nicht geboren zu sein übertrifft alles; wenn aber schon erschienen, schnellstens dorthin zu gehen, woher einer auch immer gekommen sein mag, ist das zweitbeste«144 bzw. »Ungeboren zu sein, ist von allen der höchste Gedanke; einmal erschienen, schnellstens dorthin zurückzukehren, woher einer kam, der nächstbeste.«145 Die Struktur der Rückkehr, unter die der zweite Band dadurch gestellt ist, wurde bereits als in sich verschobene herausgearbeitet. Sie wird durch die explizite Nennung des Sophokles zudem intertextuell mit der Tragödie in Verbindung gebracht. Die Parallelen ›Hyperions‹ zum Tragischen sind weitreichend, und auch die Darstellungsstruktur selbst kann in ihrer Paradoxie als tragische begriffen werden (vgl. Kapitel III).146 4.8
Zur Ineinanderstaffelung der Einholungsstruktur und zur Bedeutung der ›Athenerrede‹
Das ist insofern der Fall, als die ineinandergestaffelte Einholungsstruktur impliziert, dass das Eingeholte einerseits identisch ist mit dem, was es vor der Einholung war, es andererseits in dieser Anverwandlung jedoch ein anderes wird.147 Das ›Eingeholte‹ muss somit in Identität und in Differenz mit dem ›Uneingeholten‹ betrachtet werden, doch muss, damit überhaupt von einem ›Eingeholten‹ gesprochen werden kann, ein Identitätsmoment angenommen werden. Insgesamt kann diese Einholungs- und Darstellungsstruktur somit als Verhältnis der ›Identität der Identität und der Differenz‹, jedoch unter Unaufhebbarkeit der Differenz, beschrieben werden. In diesem ›Verhältnis‹, dass alles, um ›es selbst‹ zu werden, immer schon ein ›anderes‹ zu sich werden muss, besteht die in sich paradox gekehrte Bewegung des Darstellens, die sowohl in Hyperions Name als der ›Über … hinaus‹Gehende bzw. ›der oben Gehende‹148 als auch in der Anspielung auf den
144 145 146 147
148
Knaupp, Michael: Friedrich Hölderlin: Hyperion. Stuttgart 1997, S. 52. MA, Bd. 1, S. 696; FHA, Bd. 11, S. 694; StA, Bd. 3, S. 92. Friedrich Strack: »›Freie Wahl‹ oder ›Willkür des Zevs‹. Hölderlins Weg vom Schönen zum Tragischen«. In: HJb 19/20 (1975–77), S. 212–243 sieht diesen Zusammenhang nicht. Diese ›Beobachtung‹ ist methodisch jedoch nur im vermittelten Rückschluss von der Darstellung auf den vermeintlichen Zustand des Eingeholten vor dem Einholungsakt möglich, und zwar dadurch, dass die Differenz zwischen den subjektiven Akten des Vollzugs des Einzuholenden und dessen Darstellung festgestellt wird. Von dieser Differenz der subjektiven Akte kann dann auf die hypothetische Verfasstheit des Vollzogenen bzw. des Dargestellten ›geschlossen‹ werden. Vgl. Michael Knaupp: Friedrich Hölderlin: Hyperion. Stuttgart 1997, S. 6. In der weiteren
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Phoenix-Mythos zu Ende des Romans gesagt ist: ein Zurücklassen, ein Überschreiten seiner selbst, um zu sich zu kommen bzw. – umgekehrt – ein Werden zu sich selbst im Zurücklassen, im Überschreiten seiner selbst. Diese Struktur ist der Gesamtroman auf allen und zwischen allen Ebenen, was bedeutet, dass die jeweils ›unteren‹ gegenüber den übergeordneten ihre romaninterne Gültigkeit sowohl bewahren als auch verlieren. Bezogen auf einzelne Stellen bedeutet diese Struktur eine starke Varianz der Bedeutungen relativ zur Ebene, so wie beispielsweise Hyperions ›Athenerrede‹ auf dem Niveau des Erzählten eine andere Bedeutung annimmt als im Gesamtzusammenhang des Romans. Erst aus diesem heraus wird deutlich, dass die ›Athenerrede‹ zwar das Ganze dessen sagt, was der Roman vollzieht – jedoch in markanter Differenz zu der Bedeutung, die sie isoliert auf der Ebene des erzählten Hyperion annimmt. Der Gesamtroman holt – analog zu der Figur Hyperion – seine Teile in ständiger Rückwendungsbewegung ein, wird dadurch ein anderer und kommt darin ›zu sich selbst‹.149 Das, was er ›dann‹ ist, erscheint – im erinnernden Rückblick des Lesers – allerdings wiederum als das, was er immer schon war. Der Roman als Ganzer stellt somit im Grunde nichts anderes dar als das, was in seiner ersten verschobenen Mitte auf der untersten Ebene, in der ›Athenerrede‹ des erzählten Hyperion, gesagt wird – jedoch aus der Perspektive des Gesamtromans betrachtet. Dasselbe gilt für die anderen Teile und ›Mitten‹ des Romans, beispielsweise für den Monolog des erzählten Hyperion am Ende des letzten Briefes. Wird dieser von der Struktur des Gesamtromans her betrachtet, so erscheint auch in diesem Monolog das ›Eine in sich selber unterschiedne‹ bereits als in sich konstitutiv widerstrebiges Ganzes, als das Paradox der Identität der Identität und der Differenz. Das, was der Leser des Gesamtromans von diesem selbst her als dessen Ursprung feststellen kann, ist, was der erzählte Hyperion in der ›Athenerrede‹ zum Ausdruck bringt: Das erste Kind der menschlichen, der göttlichen Schönheit ist die Kunst. In ihr verjüngt und wiederholt der göttliche Mensch sich selbst. Er will sich selber fühlen, darum stellt er seine Schönheit gegenüber sich. So gab der Mensch sich seine
149
Bedeutung des Namens im Sinne eines ›Hyper-Ion‹ in Bezug auf den Platonischen Dialog ›Ion‹ kann auch eine Korrektur gegenüber dem dort geschilderten, übermäßigen dichterischen Enthusiasmus gesehen werden. Damit ist jedoch nicht die »Annäherung[…] an ein unerreichtes Ideal des vollkommenen Werkes« (Wolf Kittler: »Ödipus oder Ajax. Hyperions Weg von Korinth nach Salamis«. In: ›Hyperion‹ – terra incognita. Expeditionen in Hölderlins Roman. Hrsg. v. Hansjörg Bay. Opladen u. a. 1998, S. 210–234, hier S. 218) gemeint, wie sie auch Wolf Kittler in Hinsicht auf die verschiedenen Fassungen des Romans dementiert, sondern vielmehr das ›ergon‹ (vgl. S. 231), als das sich das Werk vollzieht.
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Götter. Denn im Anfang war der Mensch und seine Götter Eins, da, sich selber unbekannt, die ewige Schönheit war – Ich spreche Mysterien, aber sie sind.150
Aus der paradoxen Einheit von Göttlichem und Menschlichem entspringt die Kunst, die die Selbsterkenntnis, das ›Einholen‹ des eigenen – paradoxen – ›Selbst‹, zum Ziel hat. Dabei hebt sich die ursprüngliche Einheit einerseits auf, denn sie stellt sich sich selbst entgegen. Andererseits kann sich die Einheit sich selbst nur gegenüberstellen, indem sie als strukturelles Moment in der Differenz gewahrt bleibt. In dem Akt der Selbstreproduktion wird sich die ursprüngliche Einheit ihrer eigenen Verfasstheit als solcher in der und als die Differenz bewusst, indem sie Einheit der Einheit und der Differenz wird und sich als solche erkennt.151 Die Bestimmung des Wesens der Schönheit, die Hyperion mit Bezug auf Heraklit vornimmt, stellt die Erkenntnis dieses Aktes der Kunst selbst dar und ist somit (auch) nicht mehr im engeren Sinne Kunst, sondern die Erkenntnis ihres Wesens, somit der Ursprung der Philosophie: Das große Wort, das εν διαϕεϱον εαυτῳ (das Eine in sich selber unterschiedne) des Heraklit, das konnte nur ein Grieche finden, denn es ist das Wesen der Schönheit, und ehe es gefunden war, gabs keine Philosophie. Nun konnte man bestimmen, das ganze war da. Die Blume war gereift; man konnte nun zergliedern. Der Moment der Schönheit war nun kund geworden unter den Menschen, war da im Leben und Geiste, das Unendlicheinige war.152
Die Selbsterkenntnis des Aktes der Kunst ist ein Ausdrücklichmachen der ursprünglichen Einheit als einer in sich paradoxen. Der künstlerische Akt besteht darin, dass sich die ursprüngliche Einheit sich selbst gegenüberstellt, d. h. aber, dass diese sich von sich selbst abspaltet und sich zugleich in dieser Scheidung strukturell als Einheit begreift. Das Auffassen dieses Aktes bedeutet, die Einheit in der Differenz und die Differenz in der Einheit zu begreifen, und das heißt, dieses Geschehen selbst als ›Einheit‹ und somit als Einheit der Einheit und der Differenz zu betrachten, womit das ›Wesen der Schönheit‹ als in sich paradoxes angezeigt ist.153 150
151 152 153
MA, Bd. 1, S. 683; FHA, Bd. 11, S. 678.; StA, Bd. 3, S. 79, H. v. m. Jochen Hörisch (»Die ›poetische Logik‹ des ›Hyperion‹ – Hölderlins Versuch einer Umschreibung der Regeln des Diskurses«. In: Friedrich Hölderlin. Neue Wege der Forschung. Hrsg. v. Thomas Roberg. Darmstadt 2003, S. 205–226) deutet die Stelle dahingehend, dass Schönheit »nicht etwa Einheit her(aus)[stellt]«, sondern sie »umgekehrt Einheitlichkeit« »disseminiert«. »Aus dem Wunsch des ›göttlichen Menschen‹, sich selbst zu wiederholen und sich durch diese spaltende Wiederholung zu fühlen, entspringt die Schönheit, die insofern mit Subjektivität gleich-ursprünglich ist« (S. 220). Vgl. hierzu auch Kapitel I.4.2. MA, Bd. 1, S. 685; FHA, Bd. 11, S. 681; StA, Bd. 3, S. 81f. Es ist fraglich, ob aufgrund dieser, ontologische und erkenntnistheoretische Hinsichten vermengenden Konzeption der Schönheit Rückschlüsse auf den konkreten geschichtlichen Verlauf möglich sind, wie sie sich bei Rüdiger Görner (»›… im Liede wehet ihr Geist‹. Zu Hölderlins
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Diese Selbsterkenntnis des Aktes der Kunst als ein Ausdrücklichmachen der ursprünglichen, in sich paradoxen, Einheit bildet den Anfang der Philosophie. Diese endet jedoch wiederum in der Dichtung als Einheit des Widersprüchlichen:154 Die Dichtung, sagt’ ich, meiner Sache gewiß, ist der Anfang und das Ende dieser Wissenschaft [der Philosophie]. Wie Minerva aus Jupiters Haupt, entspringt sie aus der Dichtung eines unendlichen göttlichen Seyns. Und so läuft am End’ auch wieder in ihr das Unvereinbare in der geheimnißvollen Quelle der Dichtung zusammen.155
154
155
poetischer Identität«. In: Friedrich Hölderlin. Neue Wege der Forschung. Hrsg. v. Thomas Roberg. Darmstadt 2003, S. 89–112, vgl. hier S. 101) finden. Lawrence Ryan (Hölderlins »Hyperion«. Exzentrische Bahn und Dichterberuf. Stuttgart 1965) verweist zwar auf die Grundstruktur (»die Zugehörigkeit von Einigkeit und Widerstreit, von Identität und Wechsel«, S. 230, sowie auf »[d]ie Notwendigkeit eines solchen Wechselverhältnisses des Ganzen und der Teile«, S. 231), arbeitet sie jedoch nicht genauer aus und nimmt die Negativität wieder zu stark zurück, wenn er konstatiert: »Eine solche Tendenz – als Ausrichtung auf die in der Trennung, im Schmerz nicht etwa negierte, sondern vielmehr sich bezeugende Ganzheit des Ganzen« (S. 231). Auch in seinem Aufsatz »Hölderlins ›Hyperion‹: Ein ›romantischer‹ Roman?«. In: Über Hölderlin. Frankfurt/Main 1970, S. 175–212 sieht Ryan – trotz aller Betonung der ›unendlichen Annäherung‹ – in der »Zuwendung zum ›Dichterberuf‹« den »vorläufigen Abschluß« der »ständigen Wechselwirkung« (S. 202) von »Erzählen und Geschehen« (S. 201). Diese Rolle der Einheit findet sich in Ryans späteren Bearbeitungen durch die Betonung der Offenheit tendentiell abgeschwächt (vgl. »Hyperion oder der Eremit in Griechenland«. In: Hölderlin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. v. Johann Kreuzer. Stuttgart u. a. 2002, S. 176–197, vgl. v. a. S. 195 und »›So kam ich unter die Deutschen.‹ Hyperions Weg in die Heimat«. In: HJb 31 [1998–99], S. 99–122, vgl. v. a. S. 120), die Struktur wird jedoch in ihrer Radikalität auch dort nicht genau ausgearbeitet. Eine nicht gänzlich ausdifferenzierte und die Wechselkonstitution der Gegensätze vernachlässigende Interpretation von ›Harmonie‹ und ›Schönheit‹ (vgl. auch Kapitel II.2.2) findet sich bei Gabriele von Bassermann-Jordan (»Schönes Leben! Du lebst, wie die zarten Blüthen im Winter …«. Die Figur der Diotima in Hölderlins Lyrik und im »Hyperion«-Projekt: Theorie und dichterische Praxis. Würzburg 2004), wenn sie feststellt: »Das ›Eine in sich selber unterschiedne‹ meint eine Einigkeit des Gegensätzlichen, wobei die Gegensätze nicht etwa voneinander getrennt bleiben und nur in glücklichen Ausnahmefällen harmonisch zusammenklingen, sondern wechselseitig aneinander Anteil haben« (S. 148). Hansjörg Bay (›Ohne Rückkehr‹. Utopische Intention und poetischer Prozeß in Hölderlins ›Hyperion‹. München 2003) betont die Möglichkeit der »Integration von Dissonanzmomenten« (S. 388), somit von Negativität, ausgehend von der »Einführung von Wandel und Vergänglichkeit in das Konzept der nach wie vor als ›göttlich‹ gedachten Natur« (ebd.). Thomas Klinkert (Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe. Untersuchungen zur Liebessemantik bei Rousseau und in der europäischen Romantik [Hölderlin, Foscolo, Madame de Staël und Leopardi]. Freiburg 2002) hat somit Recht, wenn er zusammenfasst: »Dieser Text thematisiert, indem er über Liebe und ihr Scheitern spricht, seine eigenen aporetischen Grundlagen« (S. 151). Jedoch besteht die Aporie nicht in der Spannung des »Anspruch[s], die Zerrissenheit der Gegenwart durch ästhetische Erfahrung zu heilen, bei gleichzeitiger Einsicht in die Unerfüllbarkeit dieses Anspruchs« (S. 151), sondern vielmehr – in diesem Kontext gesprochen – in der möglichen Heilsamkeit der nüchternen Einsicht in die konstitutive Rolle unaufhebbarer Negativität. MA, Bd. 1, S. 685; FHA, Bd. 11, S. 680; StA, Bd. 3, S. 81.
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›Dichtung‹ und ›Philosophie‹, ›poetisches‹ und ›diskursives‹ Sprechen, zeigen sich darin selbst als ›Eines in sich selber unterschiednes‹, als in Einheit und Differenz in der ›Einheit‹ wechselseitiger Konstitution aufeinander bezogen. 4.9
Vergleich der endgültigen Fassung mit den Vorreden zu früheren Fassungen des ›Hyperion‹: Fazit zur ›Teleologie‹ des Romans156
Es ist deutlich, dass die Dynamik der Darstellung nicht als ›Ideal‹ im Sinne der Vorrede zum ›Fragment von Hyperion‹157 gedeutet werden kann. Diese Differenz wird auch in dem theoretischen Fragment »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« expliziert: Die […] lezte[…] und dritte[…] Vollendung, [ist] […] nicht blos ursprüngliche Einfalt, des Herzens und Lebens, wo sich der Mensch unbefangen als in einer beschränkten Unendlichkeit fühlt, auch nicht blos errungene Einfalt des Geistes, wo eben jene Empfindung zur reinen formalen Stimmung geläutert, die ganze Unendlichkeit des Lebens aufnimmt, (und Ideal ist) sondern [sie ist] die aus dem unendlichen Leben wiederbelebter Geist, nicht Glük, nicht Ideal, sondern gelungenes Werk, und Schöpfung […], und [sie kann] nur in der Äußerung gefunden werden und außerhalb der Äußerung nur in dem aus ihrer bestimmten ursprünglichen Empfindung hervorgegangenen Ideale gehoff t werden […].158
156
157 158
Die Frage nach der Teleologie des Romans ist immer noch zentrales Thema der Forschung zum ›Hyperion‹. Das ist nicht zuletzt deshalb der Fall, weil der Roman lange Zeit auf dem Hintergrund des Bildungsromans betrachtet wurde (vgl. dazu beispielsweise Gerhart Mayer: »Hölderlins ›Hyperion‹ – ein frühromantischer Bildungsroman«. In: HJb 19/20 [1975–77], S. 244–257, sowie Dennis F. Mahoney: »Hölderlins ›Hyperion‹ und der Bildungsroman: zur Umbildung eines Begriffs«. In: Verlorene Klassik? Ein Symposion. Tübingen 1986, S. 224–236). Angemessener Manfred Engel (Der Roman der Goethezeit. Bd. 1, Anfänge in Klassik und Frühromantik: Transzendentale Geschichten. Stuttgart u. a. 1993, vgl. z. B. S. 328). Auch ohne dass dieser Bezug ausdrücklich gemacht würde, finden sich vielerlei teleologische Lesarten, vgl. Lawrence Ryan: Hölderlins »Hyperion«. Exzentrische Bahn und Dichterberuf. Stuttgart 1965, sowie ders.: »Hölderlins ›Hyperion‹: Ein ›romantischer‹ Roman?«. In: Über Hölderlin. Frankfurt/Main 1970, S. 175–212; Gerhard Kurz: »Friedrich Hölderlins Roman ›Hyperion‹ oder ›Der Eremit in Griechenland‹«. In: Bad Homburger Hölderlin-Vorträge 1986/87, S. 26–35; ders.: Mittelbarkeit und Vereinigung. Zum Verhältnis von Poesie, Reflexion und Revolution bei Hölderlin. Stuttgart 1975, v. a. S. 160 und 163; Ulrich Gaier: »Hölderlins ›Hyperion‹: Compendium, Roman, Rede«. In: HJb 21 (1978/79), S. 88–143; ders.: Hölderlin. Eine Einführung. Tübingen u. a. 1993. Dagegen versucht Hansjörg Bay (vgl. »Vorwort«. In: ›Hyperion‹ – terra incognita. Expeditionen in Hölderlins Roman. Hrsg. v. Hansjörg Bay. Opladen u. a. 1998, S. 9–15, z. B. S. 10, sowie ders.: ›Ohne Rückkehr‹. Utopische Intention und poetischer Prozeß in Hölderlins ›Hyperion‹. München 2003) zu opponieren, stellt jedoch fest, dass sich »in Hyperions Schreibprozeß durch alle Abbrüche, Schwankungen und Widersprüche hindurch eine stringente gedankliche Entwicklung ab[zeichnet]« (S. 394). Vgl. MA, Bd. 1, S. 489; FHA, Bd. 10, S. 47; StA, Bd. 3, S. 163. MA, Bd. 2, S. 97; FHA, Bd. 14, S. 320; StA Bd. 4,1, S. 262 (»[…] eben jene Empfindung, zur reinen formalen […] aufnimmt [und Ideal ist], sondern […]«). Sperrungen im Text erscheinen in Kursivschrift.
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Somit folgt die ›Verfahrungsweise‹ einerseits der Grundstruktur des Idealischen, die sich in Hölderlins theoretischen Schriften fast durchgängig findet und die auch die beiden Vorreden zu früheren Fassungen des Romans prägt: Eine ursprüngliche Einheit im Gefühl oder der Empfindung, die noch nicht idealisch, vom Geist, eingeholt ist, muss sich entsprechend der Struktur des Geistes in einen Wechsel von Einheiten und Differenzen auflösen und zusammensetzen, um so zu einer ›höheren‹, da eingeholten und in sich zugleich stärker verbundenen und differenzierten Einheit im Geist zu gelangen. Andererseits übersteigen die ›Verfahrungsweise‹ und die endgültige Fassung des Romans jedoch diesen Ansatz, indem sie das ›Werk‹, die Darstellung, über das Ideal stellen. Die Konzeption der Ideale, wie sie sich in den Vorreden zu den früheren Fassungen des ›Hyperion‹ findet, wird in dem Entwurf »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« eigens negiert, und auch die endgültige Fassung des ›Hyperion‹ entspricht sowohl in der Vorrede (›Auflösung der Dissonanzen‹) als auch in seiner Gesamtkonzeption nicht mehr diesem Ansatz. Die grundsätzliche idealische Bewegung als Ineinander und Wechsel von Einheit und Differenz wird jedoch auch in den späteren Konzeptionen aufrechterhalten. Aus diesem Grund werden die Vorreden zu den früheren Fassungen im Folgenden dargestellt. In der Vorrede zum ›Fragment von Hyperion‹159 teilt sich das menschliche »Daseyn[…]« in »zwei Ideale«, die durch eine »exzentrische Bahn« verbunden sind. Besteht das erste Ideal in dem »Zustand der höchsten Einfalt, wo unsre Bedürfnisse mit sich selbst, und mit unsern Kräften, und mit allem, womit wir in Verbindung stehen, durch die bloße Organisation der Natur, ohne unser Zuthun, gegenseitig zusammenstimmen«,160 so entspricht diesem in der Vorrede zur 具Vorletzten Fassung典161 das Stadium der Kindheit. Dieses Ideal wird auch als die »seelige Einigkeit, das Seyn, im einzigen Sinne des Wortes«, als »friedliches Eν ϰαι Παν der Welt«162 bezeichnet. Auf diesen Zustand folgt die »exzentrische Bahn«,163 die in der Vorrede zur 具Vorletzten Fassung典 als »ewige[r] Widerstreit zwischen unserem Selbst und der Welt« spezifiziert wird und in dem ›Fragment‹ als Streben nach dem Zustand erscheint, der durch die »Sentenz in der Grabinschrift des Loyola: non coerceri maximo, contineri tamen a minimo«164 gekennzeichnet ist. Dieses Streben, der 159 160
161 162 163 164
MA, Bd. 1, S. 489; FHA, Bd. 10, S. 47; StA, Bd. 3, S. 163. Ebd. Hans-Georg Pott (»Natur als Ideal. Anmerkungen zu einem Zitat aus dem ›Hyperion‹«. In: HJb 22 [1980/81], S. 143–157) sieht dieses Ideal auch noch in der endgültigen Fassung aufrechterhalten und bringt es mit ›Schönheit‹ in Verbindung: »bei Hölderlin bleibt Natur als ein Ideal immer nur als Schönheit erfahrbar und deutbar« (S. 150). MA, Bd. 1, S. 557–559; FHA, Bd. 10, S. 276–277; StA, Bd. 3, S. 235–237. MA, Bd. 1, S. 558; FHA, Bd. 10, S. 277; StA, Bd. 3, S. 236. Vorrede zur 具Vorletzten Fassung典, MA, ebd.; FHA, Bd. 10, S. 276; StA, ebd. und ›Fragment von Hyperion‹, MA, Bd. 1, S. 489; FHA, Bd. 10, S. 47; StA, Bd. 3, S. 163. Ebd. Der Unterschied zu dem Motto der endgültigen Fassung besteht lediglich darin, dass dort
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»Mensch möchte gerne in allem und über allem seyn«,165 wird als ambivalent dargestellt: […] die Sentenz in der Grabinschrift des Loyola: non coerceri maximo, contineri tamen a minimo kann eben so die alles begehrende, alles unterjochende gefährliche Seite des Menschen, als den höchsten und schönsten ihm erreichbaren Zustand bezeichnen. In welchem Sinne sie für jeden gelten soll, muß sein freier Wille entscheiden.166
Gemäß der Vorrede zur 具Vorletzten Fassung典 geschieht die Annäherung an das Ideal lediglich in unendlicher Annäherung: Jenen ewigen Widerstreit zwischen unserem Selbst und der Welt zu endigen, den Frieden alles Friedens, der höher ist, denn alle Vernunft, den wiederzubringen, uns mit der Natur zu vereinigen zu Einem unendlichen Ganzen, das ist das Ziel all’ unseres Strebens, wir mögen uns darüber verstehen oder nicht. Aber weder unser Wissen noch unser Handeln gelangt in irgend einer Periode des Daseyns dahin, wo aller Widerstreit aufhört, wo Alles Eins ist; die bestimmte Linie vereiniget sich mit der unbestimmten nur in unendlicher Annäherung.167
In der Vorrede zum ›Fragment‹ erscheint dieses (unerreichbare) Ziel als zweites Ideal »unseres Daseyns«, als […] Zustand der höchsten Bildung, wo dasselbe [wie in dem Zustand der höchsten Einfalt] statt finden würde bei unendlich vervielfältigten und verstärkten Bedürfnissen und Kräften, durch die Organisation, die wir uns selbst zu geben im Stande sind.168
Hyperion selbst befindet sich in der endgültigen Fassung des Romans als erzählter und erzählender in diesem ›allgemein menschlichen Zustand‹ der ›exzentrischen Bahn‹.169 In Bezug auf die endgültige Fassung ist dieser mit der Selbsteinholung gleichzusetzen, die sich in dem Roman in seiner aus dem Zentrum verrückten, ineinandergestaffelten Struktur von Identisch-Differentem manifestiert. Doch stellt sich das ›Streben‹ des Menschen in der publizierten Fassung – aus der Gesamtperspektive des Romans – weder als Streben nach einem unerreichbaren, und in diesem Sinne ›jenseitigen‹, Ideal dar, noch ist das ›Ziel‹ der Einholung vorgängig qualitativ bestimmt.170
165 166 167 168
169 170
das »tamen« fehlt und das »divinum est« angehängt ist (vgl. MA, Bd. 1, S. 610; FHA, Bd. 11, S. 578; StA, Bd. 3, S. 4). Vorrede zum ›Fragment‹, MA, Bd. 1, S. 489; FHA, Bd. 10, S. 47; StA, Bd. 3, S. 163. Ebd. MA, Bd. 1, S. 558; FHA, Bd. 10, S. 277; StA, Bd. 3, S. 236. MA, Bd. 1, S. 489; FHA, Bd. 10, S. 47; StA, Bd. 3, S. 163 (»[…] würde bey unendlich […]«). Auch hier werden die Ideale nur partiell verwirklicht (»mehr oder weniger reine […] Einfalt«, »mehr oder weniger vollendete[…] Bildung«, ebd). Vgl. die Vorrede zur 具Vorletzten Fassung典, MA, Bd. 1, S. 558; FHA, Bd. 10, S. 276; StA, Bd. 3, S. 236. Es ist somit in Bezug auf die Endfassung des Romans fraglich, ob dieser »ein Text [ist], der
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Das ›Streben‹ des Menschen in der ihm eigenen ›Einholung‹ bedeutet stattdessen eine Rückwendung in der Erinnerung, in der jedoch die Differenz zu dem ›Erinnerten‹ und der ›Vergangenheit‹ gerade nicht – regressiv – aufgehoben wird, sondern als solche beibehalten und dargestellt wird. Allein aufgrund und in dieser Differenz kann überhaupt Gegenwart, Vollzug und Zukunft hervortreten und ›werden‹. Das Eingehen und Fortschreiten in die Zukunft – dass somit überhaupt im vollen Sinne ›Zukunft‹ sein kann – beruht auf der Rückwendung in die Vergangenheit im gegenwärtigen Vollzug. Dadurch ›werden‹ zugleich ›Vergangenheit‹ und ›Gegenwart‹, letztere jedoch lediglich als nichtdarstellbar vollzogene. Erscheint Hyperions Entwicklung, gerade unter Einbezug der Negativität und somit auch aller Umwege, Brüche und Irritationen, in dem Roman in letzter Instanz stringent, so ist das aufgrund des erinnernden Darstellens der Fall, das die Briefe vollziehen. Denn erst im Nachhinein – und für den Leser auf der noch übergeordneten Ebene des Gesamtromans, zu der er sich erst durcharbeiten muss – werden von Hyperion Bezüge und Verknüpfungen hergestellt, die in dem Vollzug der Erlebnisse selbst nicht möglich sind. Die Erinnerung ›erfindet‹ – entsprechend der Grundstruktur in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« – hier die Vergangenheit als stringent, in der Terminologie der ›Verfahrungsweise‹ als ›übereinstimmend‹, jedoch ohne jemals zu einem Abschluss in einer ›völligen Stimmigkeit‹ zu gelangen und ohne dass diese ›Erfindung‹ freie und arbiträre Setzung wäre. Was in dem Roman somit ›teleologisch‹ erscheint, ist das ›Produkt‹ und der Vollzug der Erinnerung, die in genau der in sich widerstrebigen Struktur, die sie ist, die Vergangenheit als ›stimmig‹ – und das heißt jedoch zugleich nicht arbiträr und frei setzend, aber doch – ›erfindet‹.171 In der konkreten Erinnerung – und nur darin ist Vergangenheit – muss die vergangene Entwicklung jeweils teleologisch in dem Sinne erscheinen, dass gerade dieser eine und kein anderer Weg erinnert wird und dieser zu nichts anderem geführt hat als zu dem, als was der Erinnernde sich, gerade auch auf-
171
selbst noch vom Verlangen nach Einheit und Vollkommenheit vorangetrieben wird, der diesem Verlangen mit aller Entschiedenheit folgt und in dem gerade deshalb auch die innere Problematik dieses Verlangens in den Blick zu rücken beginnt« (Hansjörg Bay: ›Ohne Rückkehr‹. Utopische Intention und poetischer Prozeß in Hölderlins ›Hyperion‹. München 2003, S. 404), oder ob dieser nicht als Ganzes bereits die veränderte Auffassung von Negativität und somit auch von Einheit realisiert, und vielmehr die Vorfassungen diesen Durcharbeitungsprozess darstellen, was auch an deren Vorreden deutlich gemacht werden kann (vgl. Kapitel I.4.9). Vgl. auch den zentralen Gedanken in »Das untergehende Vaterland …«: Nur in der Erinnerung erscheint die Auflösung als notwendig, als ein »Weg, der zurükgelegt werden mußte« (MA, Bd. 2, S. 73; FHA, Bd. 14, S. 175; StA, Bd. 4,1, S. 283). So ist die Auflösung in der Erinnerung, die Hölderlin »idealische Auflösung« (MA, Bd. 2, S. 74; FHA, ebd.; StA, ebd.) nennt, »furchtlos«, denn »Anfangs- und Endpunkt ist schon gesezt, gefunden, gesichert, deswegen ist diese Auflösung auch sicherer, unaufhaltsamer, kühner« (MA, ebd.; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 283f.).
65
grund der Erinnerung, wahrnimmt. ›Ziel‹ bzw. ›Zustand‹ des Erinnernden in der Gegenwart ist somit nicht von dem Prozess der Erinnerung unabhängig, sondern die Selbstwahrnehmung des Erinnernden konstituiert sich in ihrer Tatsächlichkeit und in ihrem Gehalt allererst in der Wechselwirkung und -bestimmung mit dem Prozess der Erinnerung und dem darin Erinnerten. ›Zu-sichselbst-Kommen‹ in der Erinnerung meint somit keinen Prozess der Angleichung an ein jenseits des eigenen Lebens und der Erinnerung situierten und insofern absoluten Maßstab eines Ideals, sondern den unaufhebbaren Wechselprozess von ›Werden‹/›Sein‹ und ›Erinnerung‹. Insofern kann auch die Frage nach einem Gelingen oder Scheitern nicht mit Gründen gestellt werden, denn es ist nichts ›außerhalb‹ dieser Wechselwirkung, in der die eigene Entwicklung wird und die – auch in allen Brüchen – nicht anders als teleologisch erscheinen kann. Diese Wechselwirkung von ›Werden‹/›Sein‹ und Erinnerung impliziert somit, dass sich sowohl die Erinnerung (in ihrer zweifachen Bedeutung als das Erinnerte und das Erinnern selbst) als auch die Selbstwahrnehmung des Erinnernden, somit auch das ›telos‹, worauf die Vergangenheit zulaufen soll, ständig verändert. Die ›Teleologie‹, um die es hier geht, ist somit eine, die sowohl in ihrem ›Weg‹ als auch ihrem ›Ziel‹ ständig eine andere wird und in deren Kontext es somit keine abschließend feststellbare Wahrheit oder Unwahrheit der Erinnerung gibt. Diese kann lediglich in dem Prozess intern als relative augenblicklich ›festgestellt‹ werden. Der Wechselprozess der Erinnerung kann als solcher, wie der der Reflexion, nicht auf ein anderes, Festes oder außerhalb von ihm Liegendes überschritten werden, sondern er kann sich selbst lediglich in dem weiteren Vollzug derselben Struktur thematisch werden, indem die Erinnerung selbst erinnert wird: ›So dacht ich‹. Dieses Geschehen der Erinnerung und der Darstellung führt der Roman an seiner Erzählerfigur Hyperion vor, denn der äußere Anschein und sein anfängliches Bewusstsein des völligen Scheiterns wandelt sich in dem Vollzug der Erinnerung in den Anfang des Dichtens, das nun nicht mehr als anzustrebendes Ideal oder als Mittel zur Herstellung eines solchen gilt, sondern als erinnerndes Schreiben vollzogen wird. Gerade in diesem Vollzug ›erfüllt‹ sich Hyperions ›Bestimmung‹, jedoch in radikal anderem Sinne als von ihm selbst intendiert. Kann er somit in dem erinnernden Schreiben von einem Ideal (sei es die Kindheit, das antike Griechenland oder ein zukünftiger ›Freistaat‹) als abstraktem und absolut aufgefassten äußeren Maßstab ablassen, so kann ›Zukunft‹ auch nicht mehr als der Versuch einer teleologischen Annäherung an ein an sich – und insofern absolut – bestimmtes Ideal betrachtet werden, sondern konsequent als Zukunft, und das heißt als qualitativ Offenes be- und in der erinnernden Darstellung er-schrieben werden: »So dacht’ ich. Nächstens mehr.« Kommt der Reflexions- und Erinnerungsprozess als solcher niemals über sich hinaus, so stellt sich die Frage nach der Möglichkeit eines zu dem unend66
lichen Prozess diskontinuierlichen, augenblickshaften Herausspringens aus diesem. Diese Möglichkeit ist in 具Seyn, Urtheil, Modalität典 als ›intellectuale Anschauung‹ bezeichnet und entspricht dem Streben nach All-Einheit, nach einer unendlichen Durchdringung von Subjekt und Objekt, wie sie auch in den früheren Fassungen des ›Hyperion‹ formuliert wird. Scheint diese Möglichkeit zunächst in dem Entwurf »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« dem ›göttlichen Moment‹ ›transzendentaler Empfindung‹ zu entsprechen, so zeigt sich bei genauer Untersuchung dieses ›Moments‹ jedoch, dass er sowohl in der ›Verfahrungsweise‹ als auch in der Thematik des ›Wechsel der Töne‹ nicht den Status der ›intellektualen Anschauung‹ als ›Vernehmen‹ der All-Einheit in Aufhebung der Reflexion einnimmt, sondern vielmehr als Extrem der paradoxen Darstellungsstruktur gefasst ist, d. h. sich zu dieser – entsprechend der Aporie, die er ist – sowohl kontinuierlich als auch diskontinuierlich verhält.
5.
Intertextuelle Bezüge
5.1
Die Einholungsstruktur als Erotisches: ›Hyperions‹ Verweise auf Platons ›Symposion‹
Diotimas Stellung als prophetische Seherin und Priesterin der Schönheit innerhalb des Romans ist deutlich. Unterstützt wird dieser Umstand durch den intertextuellen Bezug auf Platons ›Symposion‹, in dem Sokrates als seinen Beitrag zu den Lobreden auf Eros explizit nichts anderes wiedergibt, als was er von Diotima, »einer Mantineerin«172 – gewissermaßen als seiner Lehrerin – über den Eros erfahren hat. Dabei folgt sowohl der Gehalt seiner Rede als auch ihr Vollzug dem Vorbild des Gesprächs mit Diotima. Sokrates macht das explizit: Es dünkt mich also am leichtesten, es so durchzunehmen, wie damals die Fremde [Diotima] mich ausfragend es durchging. Denn ungefähr dergleichen hatte auch ich zu ihr gesagt, wie Agathon jetzt zu mir […]. Sie aber widerlegte mich mit denselben Reden, womit ich jetzt diesen […].173
Sokrates geht tatsächlich noch einen Schritt weiter, indem er den Dialog in direkter Rede wiedergibt und zudem mehrfach explizit auf die Dialogsituation
172
173
Platon: Symposion. In: Platon: Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch. Sonderausgabe. Hrsg. v. Gunther Eigler. Übersetzung von Friedrich Schleiermacher. Bd. 3: Phaidon, Das Gastmahl, Kratylos. Darmstadt 1990, 201 d. Es ist ungeklärt, inwiefern die Kunst der Weissagung, die Mantik, etymologisch mit der Stadt Mantinea zusammenhängt. Doch ist der lautliche Anklang deutlich, zumal Diotima wahrscheinlich eine von Platon erfundene Figur ist (vgl. ebd., S. 311) und die sachlichen Verweise durch lautliche Verwandtschaft bei Platon eine wichtige Rolle spielen, vgl. den Dialog ›Kratylos‹. Platon: Symposion, 201 d/e.
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als solche verweist (»Da sprach ich […]. Und sie: […]«174 etc.). Sokrates’ Rede im ›Symposion‹ ist somit einerseits seine Rede, aber das andererseits nur als erinnernde Vergegenwärtigung der Rede einer anderen. In Sokrates’ ›Diotima-Rede‹ zeigt sich somit eine Struktur der Vermittlung und inneren Zweiteilung, die für ›Hyperion‹ auf verschiedenen Ebenen herausgearbeitet wurde. Diese entspricht der Verfasstheit der ›anamnesis‹, wie sie sich in Platons ›Phaidros‹ und ›Phaidon‹ darstellt und von der her das Verhältnis von Idee und Erscheinung als eine in sich unterschiedene Einheit wechselseitiger Konstitution, als Einheit der Einheit und der Differenz, bestimmt werden kann.175 Dieses Verhältnis bildet bei Platon die grundlegende Struktur der ›mimesis‹, der auch Sprache und Wissen folgen.176 174 175
176
Ebd., 201e. Vgl. dazu auch Marion Hiller: »Methexis, Anamnesis, Psyche. Auslegung eines Verhältnisses in Platons ›Phaidon‹«. In: Denkwege 2 (2001), S. 61–76. Uvo Hölscher (»Hölderlins Umgang mit den Griechen«. In: Jenseits des Idealismus. Hrsg. v. Christoph Jamme u. a. Bonn 1988, S. 319–337) sieht Platon bei Hölderlin von der »vorsokratische[n] Kosmologie« »schrittweise verdrängt« und erkennt in ›Hyperion‹ eine »Denkweise […], mit der wir uns tief in den Spuren Heraklits finden« (S. 328), führt den Gedanken jedoch strukturell nicht genauer aus. Vgl. Marion Hiller: Das »zwitterhafte« Wesen des Wortes. Eine Interpretation von Platons Dialog »Kratylos«. Tübingen 2001. Die Struktur der Erinnerung als ›Eines in sich selber unterschiednes‹ kommt auch im ›Symposion‹ selbst in Bezug auf die Erinnerung einer Erkenntnis zur Sprache: »was man Nachsinnen heißt, geht auf eine ausgegangene [d. i. vergangene, M. H.] Erkenntnis. Nachsinnen aber bildet statt der abgegangenen eine Erinnerung ein und erhält so die Erkenntnis, daß sie scheint, dieselbe zu sein« (208 a, H. v. m.). Entstehen und Vergehen wird in diesem Kontext als relationaler Gegensatz beschrieben. Auf den Bezug zwischen der Bestimmung der Schönheit im ›Hyperion‹ und dem »erotisch-reflexionsphilosophische[n] Prinzip« in Platons ›Symposion‹ als die »Identität des Identischen und Nichtidentischen« weist auch Gerhard Kurz (Mittelbarkeit und Vereinigung. Zum Verhältnis von Poesie, Reflexion und Revolution bei Hölderlin. Stuttgart 1975, hier S. 43) im Kontext seiner historisch angelegten Studie hin. Die Bedeutung Platons, v. a. des ›Symposion‹, für Hölderlin stellt Gerhard Kurz auch weiterhin heraus in: »Die Schönheit, der Geist und der alte stumme Fels. Überlegungen zu einer Passage von Hölderlins Roman ›Hyperion‹«. In: Resonanzen. Festschrift für Hans Joachim Kreutzer zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Sabine Doering u. a. Würzburg 2000, S. 211–227, hier S. 222). Zu dem Versuch Hölderlins, Platons ›Symposion‹ mit der Philosophie Fichtes zu vereinbaren und gleichzeitig Platons ›Phaidros‹ und Schillers Ästhetik aufzunehmen sowie zu den daraus resultierenden Spannungen innerhalb Hölderlins Liebesbegriffs vgl. Friedrich Strack: Ästhetik und Freiheit. Hölderlins Idee von Schönheit, Sittlichkeit und Geschichte in der Frühzeit. Tübingen 1976. Zur Diskussion um Hölderlins Platonismus vgl. auch Klaus Düsing: »Ästhetischer Platonismus bei Hölderlin und Hegel«. In: Homburg vor der Höhe in der deutschen Geistesgeschichte. Hrsg. v. Christoph Jamme u. a. Stuttgart 1981, S. 101–117 und – auch im Hinblick auf den späteren Status der ›intellektualen Anschauung‹ – Johann Kreuzer: »Hölderlins Kritik der intellektuellen Anschauung. Überlegungen zu einem platonischen Motiv«. In: Platonismus im Idealismus. Die platonische Tradition in der klassischen deutschen Philosophie. Hrsg. v. Burkhard Mojsisch u. a. München u. a. 2003, S. 119–137. Hölderlins Platonrezeption unter dem Primat des Mythos vermittelt durch Hölderlins Lehrer Carl Philipp Conz und die Griechenland-Beschreibung von Abbé Barthélemy nimmt Stephan Lampenscherf auf in: »›Heiliger Plato, vergieb …‹. Hölderlins ›Hyperion‹ oder Die neue Platonische Mythologie«. In: HJb 28 (1992/93), S. 128–151, v. a. S. 129–131. Kann man Platon als »die siegreiche Durchsetzung der Philosophie gegen die Dichtung« lesen, so weist Franziska Binder (Kluft und Zwiesprache. Ein literaturwissenschaftlicher Versuch zu Hölderlins »Hyperion«. Stuttgart
68
Die Zweiteilung des ›Wissens‹ in ein ›eigentliches‹, eingeholtes, und ein ›uneigentliches‹ steht zu Beginn sowohl von Sokrates’ wie von Diotimas Ausführungen über den Eros. Gerade für Eros, der nach dem Wissen, dem Schönen und dem Guten strebt, wird das Verhältnis relativer, ›harmonischer‹ Entgegensetzung in sich beansprucht. Denn ausgehend davon, dass Eros nicht selbst gut und schön sei, stellt sich heraus, dass er deswegen nicht schlecht und hässlich sein müsse, sondern sich in einem Zustand zwischen den Extremen befinde. Dies gilt auch für das Verhältnis von Wissen und Nicht-Wissen (»Weisheit« und »Torheit«177). Die ›orthe doxa‹,178 die richtige Meinung, steht zwischen beiden, indem sie einerseits zwar ›richtig‹ ist, somit eine Art ›Wissen‹ darstellt, andererseits jedoch in dem Grund ihrer Richtigkeit nicht eingeholt ist, somit kein ›eigentliches‹ Wissen bildet. Eros verkörpert ein ›Zwischen‹ in verschiedener Hinsicht, er steht zwischen dem Schönen und dem Hässlichen, begehrt gerade deshalb das Schöne179 und ist der Begleiter und Diener der Aphrodite,180 der Göttin der Schönheit. Außerdem nimmt er eine mittlere Position zwischen Weisheit und Unverstand181 ein und wird gerade darum mit der Dichtung in Verbindung gebracht.182 Zudem repräsentiert er als ›daimon‹ ein ›Mittleres‹ von Sterblichen und Unsterblichen183 und spielt zwischen diesen eine konstitutive Mittlerrolle, »die Ergänzung, daß nun das Ganze in sich selbst verbunden ist«.184 In diesen Bereich des Dämonischen gehört somit auch »alle Weissagung und die Kunst der Priester in Bezug auf Opfer und Weihungen und Besprechungen und allerlei Wahrsagung und Bezauberung«.185 Diotima selbst erscheint im ›Symposion‹ als seherische Priesterin des Eros.186
177 178 179 180 181 182 183 184 185 186
1994, S. 33) zutreffend darauf hin, dass Hyperion »Platon anders, sozusagen rückwärts« »liest«, indem ihm Platon »als Zeugnis für die ursprüngliche Herkunft der Philosophie aus der Dichtung« gilt (ebd.). Oft werden stärker neuplatonische Einflüsse auf Hölderlin geltend gemacht, die jedoch mit einer Abschwächung der Bedeutung der Einheit bei Hölderlin in den Hintergrund treten und einer nicht-traditionellen Lesart Platons weichen. 202 a. Vgl. ebd. Vgl. 203 c. Vgl. ebd. Vgl. 203 e. Vgl. 209 a. Vgl. 202 d. Ebd. 202 e/203 a. Vgl. 209 e.
69
5.2
Das Verhältnis von Wissen und Nicht-Wissen als Triebfeder des Tragischen: Zum Verhältnis ›Hyperions‹ zu Sophokles’ ›König Ödipus‹
Der Struktur der Zweiteilung des Wissens in ein ›gewusstes‹, eingeholtes und ein uneingeholtes, scheinhaftes ›Wissen‹ entspricht der Auffassung von Orakelsprüchen in antiken Tragödien, wie in Sophokles’ ›König Ödipus‹. Dieses Drama soll hier unabhängig von Hölderlins eigenen ›Anmerkungen zum Oedipus‹ gedeutet werden. ›Kennt‹ Ödipus durch den Orakelspruch sein Schicksal, seinen Vater zu töten und seine Mutter zu heiraten und handelt er gemäß dieses ›Wissens‹, indem er sein vermeintliches Elternhaus, den korinthischen Königshof verlässt, so ist dieses ›Wissen‹ um das eigene Schicksal, das wahr ist, zugleich ein eklatantes Nicht-Wissen, indem Ödipus es inadäquat deutet und nur so deuten kann. Erst aus dieser Spannung von Wahrheit und Unwahrheit, in der sich der tragische Held durch seine Kenntnis des Orakels befindet, entsteht die tragische Dynamik, erst durch sein Verstehen und sein gleichzeitiges Missverstehen erfüllt sich der Orakelspruch und wird in vollem Sinne ›wahr‹. Das Ineinander von Wissen und Nicht-Wissen vor der Anagnorisis ist ein Wissen, in dem die ›Wahrheit‹ (das Orakel) und die Deutung der ›Wirklichkeit‹ in keinen angemessenen Bezug gebracht werden, sondern gegeneinander ›verschoben‹ erscheinen. Die ›Wahrheit‹ ist zwar einerseits ›bekannt‹, kann aufgrund der Verschiebung jedoch andererseits nicht in der Deutung der ›Wirklichkeit‹ aufgehen. Wirklich begriffen werden kann das Orakel in seiner eigentlichen Wahrheit erst darin, dass es sich in der ›Wirklichkeit‹ ›erfüllt‹, und das heißt nach und aufgrund der Peripetie in der tragischen Katastrophe. Die ›unwahre Wahrheit‹, die der Orakelspruch vorher darstellt – und die der ›orthe doxa‹ in Platons Dialogen entspricht – kann erst im Durchgang durch die Katastrophe zur ›wahren‹, und das heißt zur ›erfüllten‹ und in sich eingeholten Wahrheit werden. Die beiden Ebenen, in deren Zusammenfallen etwas ›zu sich selbst‹ kommt, wie von Hölderlin in dem ›Grund zum Empedokles‹ ausgeführt, ›vereinigen‹ sich erst nach der Peripetie, die die tragische Katastrophe darstellt. Dieser Stellung der Orakelsprüche in ›König Ödipus‹ entsprechen die Prophezeiungen, die Diotima gegenüber Hyperion in dem ›Athenerbrief‹ äußert. Oben wurde herausgearbeitet, inwiefern Hyperion Diotimas Korrekturen zugleich versteht und missversteht. Auch seine Berufung zum »Erzieher unsers Volks«,187 welcher der »Künstler«188 ist, legt Hyperion unangemessen aus, indem er in den Befreiungskrieg gegen die Türken zieht. Gerade diese Fehlinterpretation des ›Orakels‹, das durch Diotima an ihn ergeht, führt zu der tragischen Katastrophe, in der sowohl Diotima als auch Alabanda umkommen.
187 188
MA, Bd. 1, S. 693; FHA, Bd. 11, S. 691; StA, Bd. 3, S. 89. MA, ebd.; FHA, Bd. 11, S. 690; StA, ebd.
70
Beide Figuren sowie deren Tod sind für die Erfüllung von Hyperions Berufung zum Künstler jedoch konstitutiv. Denn die Freunde verkörpern jeweils relativ die verschiedenen Vermögen des Menschen, die in ihrer Einheit und ihrem Wechsel, so die ›Vision‹ Hyperions, die ›Vollkommenheit‹ hätten darstellen und die Keimzelle einer ›neuen Welt‹ bilden können. Diese dynamische Einheit des Wechsels darf sich – entsprechend Hyperions ›Schicksal‹, Künstler zu werden – jedoch nicht lebensweltlich in den Charakteren von Menschen (Diotima als relativ, nicht absolut, ›naiv‹ mit ihrem ›Grund‹ im ›Gefühl‹; Alabanda als relativ ›heroisch‹ mit seinem ›Grund‹ in ›großen Bestrebungen‹; Hyperion als relativ ›idealisch‹ mit seinem Grund in der ›intellektualen Anschauung‹189) erfüllen, sondern die ›Charaktere‹ bzw. deren ›Grundstimmungen‹ müssen – entsprechend der ›Empfindung‹ im idealischen Prozess (vgl. »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«) – ›untergehen‹, um in dem ›Geist‹ und der Erinnerung zu den ›Tönen‹ ›geläutert‹ zu werden und so zu dem dichterischen Werk zu führen.190 Genau die Ahnung des ›Tönewechsels‹ bestimmt – auch hier verständig und unverständig zugleich – die Vision und letzte Äußerung des erzählten Hyperion vor seinem Rückzug als Eremit und somit unmittelbar vor Beginn des Schreibens: »Auch wir, auch wir sind nicht geschieden, Diotima! und die Thränen um dich verstehen es nicht. Lebendige Töne sind wir, stimmen zusammen in deinem Wohllaut, Natur!«191 Erst aufgrund der Katastrophe und im erinnernden Einholen der ›Wahrheit‹ des ›Orakels‹, die zugleich dessen Erfüllung ist (das Briefeschreiben bildet den Beginn des Dichtertums, zu dem Diotima Hyperion beruft), wird dessen Wahrheit zu einer in dreifachem Sinne wirklichen Wahrheit, zu einer eingeholten, ›wahren Wahrheit‹, zu einer Wahrheit, die Wirklichkeit wird, indem sie sich in dem Briefeschreiben Hyperions erfüllt und zu einer Wahrheit, die ›wirkt‹, indem sie den Beginn des Dichtertums markiert.192 In diesem wird Hyperion – bzw. in der implizierten Engführung von textinternem und -externem Bereich der Roman als Ganzer sowie der Autor Hyperion/Hölderlin – zum ›Erzieher des Volks‹ der Griechen bzw. der Deutschen (vgl. die ›Vorrede‹ zur endgültigen Fassung). 189
190
191 192
Zu diesen Verhältnissen vgl. »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …«. Die Zuordnung der Figuren zu den Tönen erfolgt hier nicht in Übereinstimmung mit sämtlichen, von Hölderlin dargestellten Implikationen des Wechsels der Töne. Dennoch sind die drei Hauptfiguren des Romans als Repräsentanten verschiedener Vermögen des Menschen sowie deren poetische Übersetzung in die ›Töne‹ deutlich. Zur rhythmischen Gestaltung des Romans und deren historischen Verortung vgl. Thomas Pittrof: »Poetische Strukturen in Hölderlins ›Hyperion‹«. In: »… auf klassischem Boden begeistert«. Antike-Rezeptionen in der deutschen Literatur. Hrsg. v. Olaf Hildebrand u. a. Freiburg 2004, S. 247–263, bes. S. 250–253. MA, Bd. 1, S. 760; FHA, Bd. 11, S. 781f.; StA, Bd. 3, S. 159 (»[…] geschieden, Diotima und […]«). Der Struktur der ›wahren Wahrheit‹ entspricht eine Differenzierung in Platons ›Sophistes‹, die das Verhältnis von Seiendem und Wahrem, Nicht-Seiendem und Unwahrem behandelt (vgl. Platon: Sophistes, 239 c–241b, v. a. 240 aff.).
71
II. Bogen und Leier
1.
Bezüge des ›Hyperion‹ und der ›Diotima‹-Gedichte auf Heraklitische Topoi1
1.1
Die Heraklit-Bezüge in der ›Athenerrede‹ mit einem Exkurs zu ›Geschichte der schönen Künste unter den Griechen. Biß zu Ende des Perikleischen Zeitalters‹
Hyperions Ausführungen über die Athener, ihr Verhältnis zur Natur, aus dem sich ihr Bezug zur Schönheit und daraus ihre spezifische Kultur ergibt, bezieht sich – aus der Perspektive des Gesamtromans betrachtet, vgl. Kapitel I.4 – zentral auf vorsokratische Erscheinungen von Philosophie. Nicht nur stellt die Bestimmung des Wesens der Schönheit als »εν διαϕεϱον εαυτῳ (das Eine in sich selber unterschiedne) des Heraklit«2 diesen Bezug explizit her, sondern er ist auch implizit ständig wirksam. Als Vergleichspunkt zu Hyperions Referenz auf Heraklit lässt sich sowohl das Fragment B 51 (»Sie verstehen nicht, wie das Unstimmige mit sich übereinstimmt: des Wider-Spännstigen Fügung [harmonia] wie Bogen und Leier«3) als auch eine Stelle aus Platons ›Symposion‹ angeben, in der Eryximachos Heraklit folgendermaßen deutet: »Er [Heraklit] sagt nämlich, daß das Eins [sic!], in sich
1
2 3
Die Bezüge des ›Hyperion‹ auf Heraklit wurden bereits vielfach bearbeitet. Jedoch betonen diese überwiegend die die Gegensätze umfassende Einheit (vgl. beispielsweise Gisela Wagner: Hölderlin und die Vorsokratiker. Unveränderter Nachdruck der Auflage von 1937. Bamberg 1983, v. a. S. 43; Peter Reisinger: »Hölderlin zwischen Fichte und Spinoza. Der Weg zu Hegel«. In: Poetische Autonomie? Zur Wechselwirkung von Dichtung und Philosophie in der Epoche Goethes und Hölderlins. Hrsg. v. Helmut Bachmaier u. a. Stuttgart 1987, S. 15–69, v. a. S. 43; Dieter Bremer: »›Versöhnung ist mitten im Streit‹. Hölderlins Entdeckung Heraklits«. In: HJb 30 [1996/97], S. 173–199, v. a. S. 178). Walburga Lösch (Der werdende Gott. Mythopoetische Theogonien in der romantischen Mythologie. Frankfurt/Main u. a. 1996) konstatiert trotz der Heraklit-Bezüge einen »eschatologisch-teleologischen Hintergrund« (S. 121). Am angemessensten gestalten sich die Ausführungen Arne Melbergs (»Turns and Echoes. Two examples of Hölderlin’s poetics«. In: The solid letter. Readings of Friedrich Hölderlin. Ed. by Aris Fioretos. Stanford/California 1999, S. 340–355): »Heraclitus’ argument aims at harmonious balance while insisting on harmony as something determined by tension and difference« (S. 341), führt das in seinem Kontext jedoch nicht weiter aus. MA, Bd. 1, S. 685; FHA, Bd. 11, S. 681; StA, Bd. 3, S. 81. Heraklit: Fragmente. Griechisch und Deutsch. Hrsg. v. Bruno Snell. Lizenzausgabe. Darmstadt 1995, S. 19.
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entzweit, sich mit sich einige wie die Stimmung [harmonia] einer Lyra oder eines Bogens«.4 Der Bezug auf Heraklit geschieht in der ›Athenerrede‹ ohne die ausdrückliche Nennung des Bogens und der Leier, was dem Bewusstsein Hyperions zu diesem Zeitpunkt entspricht. Denn wird an deren Fügung die konstitutive Rolle der Negativität und der Spannung in dem ›einen‹ des Bogens bzw. der Leier deutlich, so entspricht dieses Verständnis gerade nicht Hyperions Auffassung des ›Einen in sich selber unterschiednen‹ in der ›Athenerrede‹. Die ›eigentliche‹ Verfasstheit des ›Wesens der Schönheit‹ wird Hyperion erst später und in vollem Sinne nur dem Leser in der Gesamtheit des Romans deutlich. Der explizite Bezug auf Heraklit erfolgt im Kontext des Verhältnisses von Dichtung und Philosophie: Die Dichtung, sagt’ ich, meiner Sache gewiß, ist der Anfang und das Ende dieser Wissenschaft [der Philosophie]. Wie Minerva aus Jupiters Haupt, entspringt sie aus der Dichtung eines unendlichen göttlichen Seyns. Und so läuft am End’ auch wieder in ihr das Unvereinbare in der geheimnißvollen Quelle der Dichtung zusammen.5
Das Sprechen Hyperions vollzieht sich hier, in verschobener Entsprechung zu dem jeweils Explizierten, auf gegensätzliche Weisen. Gestaltet sich der erste Satz als diskursiv-philosophisches Urteil (›A ist B‹), so ist der zweite durch den Vergleich mit dem Geburtsmythos der Athene und der dritte von der QuellMetapher geprägt. In jeder der Sprechweisen ist das Verhältnis von Einheit und Differenz auf jeweils verschiedene Art konstitutiv. In besonderer Weise korreliert der Vergleich jedoch mit dem Geburtsmythos der Athene nach Hesiods ›Theogonie‹6 und mit dem in der Sequenz insgesamt Gesagten, gilt doch die ›Theogonie‹ als poetisches Werk, das die griechische Religion dadurch begründet, dass sie die mannigfaltigen Ausprägungen des Mythos in sich zu einer Bestimmtheit und Verbindlichkeit bringt und in der Antike somit religionsbegründend fungiert.7 Entsprechend der Einheits- und Differenzthematik erscheint das Wort ›Dichtung‹ in dem zweiten Teil des Vergleichs (›Dichtung eines unendlichen göttlichen Seyns‹) in der auffälligen Ambivalenz des subjektiven und objektiven Genitivs. In subjektiver Bedeutung impliziert dieser ein Entlassen der Dichtung
4
5 6 7
Platon: Symposion. In: Platon: Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch. Sonderausgabe. Hrsg. v. Gunther Eigler. Übersetzung von Friedrich Schleiermacher. Bd. 3: Phaidon, Das Gastmahl, Kratylos. Darmstadt 1990, 187a. MA, Bd. 1, S. 685; FHA, Bd. 11, S. 680; StA, Bd. 3, S. 81. Vgl. Hesiod: Theogonie, V. 924 (Griechisch/Deutsch. Übers. und hrsg. v. Otto Schönberger. Stuttgart 1999, S. 71). Vgl. etwa Herodot: Historien 2,53 (Deutsche Gesamtausgabe. Übers. v. A. Horneffer, neu hrsg. und erl. v. H. W. Haussig, mit einer Einleitung von W. F. Otto. 3. Auflage. Stuttgart 1963, S. 124).
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aus dem ›Seyn‹ als dessen Tätigkeit selbst, wobei auch in diesem Entlassen noch ein Teilhabeverhältnis der Dichtung an dem ›Seyn‹ konstatiert werden kann. Bereits innerhalb der subjektiven Bedeutung des Genitivs zeichnet sich somit die Struktur eines in sich gegliederten Verhältnisses von Einheit und Differenz ab. In der objektiven Bedeutung der Sentenz tritt die Differenz von Dichtung und ›Seyn‹ in den Vordergrund, und zwar in dem Sinne, dass das ›Seyn‹ als Objekt der Dichtung fungiert. Das Verhältnis ist somit das einer ursprünglichen Differenz, welches sich in der Realisation der Dichtung, die das ›Seyn‹ zum ›Gegenstand‹ hat, zu einem Verhältnis der Einheit in der Differenz wandelt. Beide Ausdeutungen des Genitivs führen jeweils zu einer Struktur von Einheit und Differenz, wobei sich die beiden Ausprägungen zueinander komplementär verhalten. Zugleich gehören sie jedoch in der einen Formulierung der ›Dichtung eines unendlichen göttlichen Seyns‹ zusammen. Im Ganzen der Formulierung manifestiert sich somit ein in sich gestaffeltes Verhältnis von Einheit und Differenz, in dem die eine sprachlich materielle Erscheinung in sich in die komplementären Möglichkeiten des Verhältnisses zerfällt – und nicht zerfällt. Die Einheits- und Differenzstruktur lässt sich in dem dargelegten Sinne somit als Einheit (= die Sentenz selbst) der ›Einheit und der Differenz‹ (= die beiden Ausdeutungen des Genitivs) unter dem Primat der Einheit (= die erste Bedeutung der Sentenz) und der ›Einheit und der Differenz‹ unter dem Primat der Differenz (= die zweite Bedeutung der Sentenz) beschreiben. Wird die Struktur auf die primären Bestimmungen (Einheit bzw. Differenz als Primat) verkürzt, so ergibt sich die Struktur der Einheit (1 = Sentenz als ganze) der Einheit (2 = Primat der Einheit in der Deutung des Genitivs als subjektivem) und der Differenz (= Primat der Differenz in der Deutung des Genitivs als objektivem), wobei in der oben ausgeführten Ineinanderstaffelung deutlich wird, dass es sich um eine in sich unendliche Dynamik der Gegensätze handelt. In diesem ›Verhältnis‹ stehen hier ›Dichtung‹ und ›Seyn‹ zueinander. Gerade die Zweideutigkeit des Genitivs als subjektiver und objektiver lässt die Frage nach der eindeutigen Identifikation des Subjekts als dem Begründenden und des Objekts als dem Begründeten unentscheidbar offen. Darin deutet sich bereits die unaufhebbar wechselseitige Konstitutionsdynamik der IdentischDifferenten an, die auf kein ›Prinzip‹, kein ›Erstes‹, als allein Begründendes und ›Zugrundeliegendes‹ zurückgeführt werden kann. In Bezug auf die Philosophie erscheint die Dichtung als das Umfassende und Einigende, jedoch nicht in der Aufhebung der Differenz, sondern gerade in dieser: »Und so läuft am End’ auch wieder in ihr [der Dichtung eines unendlichen göttlichen Seyns] das Unvereinbare in der geheimnißvollen Quelle der Dichtung zusammen«.8 Dies erscheint deshalb möglich, weil die Dichtung jenes oben herausgestellte, in sich widerstrebige Verhältnis zum ›Seyn‹ aufweist bzw. 8
MA, Bd. 1, S. 685; FHA, Bd. 11, S. 680; StA, Bd. 3, S. 81, H. v. m.
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dieses Verhältnis – im doppelten Sinne des Wortes – ›darstellt‹. Diese innere Zweiteilung der Dichtung manifestiert sich auch in der eigentümlich zweifachen Verwendung von ›Dichtung‹ in dem Satz: »Und so läuft am End’ auch wieder in ihr [der Dichtung eines unendlichen göttlichen Seyns] das Unvereinbare in der geheimnißvollen Quelle der Dichtung zusammen«.9 Die Reaktion Diotimas bringt das Verhältnis, um das es hier geht, auf den Punkt: »Das ist ein paradoxer Mensch, rief Diotima, jedoch ich ahn’ ihn.«10 Auch weitere Passagen der ›Athenerrede‹, die sich auf die Kunst, Religion und Philosophie in ihren Ursprüngen beziehen, werden textimmanent als Redeweise gekennzeichnet, die sich in einem ›Zwischen‹ dieser drei befindet, was – wie das paradoxe Sprechen – der Rede eines Orakels nahekommt. So schließt Hyperion selbst seine Ausführungen über den Ursprung der Kunst mit den Worten ab: »Ich spreche Mysterien, aber sie sind«.11 Gerade dieses ›Zwischen‹ von Dichtung, Religion und Philosophie, das die Orakelrede auszeichnet, wird auch für Heraklit in Anspruch genommen. Es ist in Hyperions Formulierung nicht deutlich, ob dieser noch der Dichtung oder bereits der Philosophie12 zugeordnet wird: »Das große Wort, das εν διαϕεϱον εαυτῳ (das Eine in sich selber unterschiedne) des Heraklit, das konnte nur ein Grieche finden, denn es ist das Wesen der Schönheit, und ehe das gefunden war, gabs keine Philosophie.«13 Zudem war Heraklit Priester im Artemistempel von Ephesos, steht somit zwischen Dichtung, Religion und Philosophie und war bereits zu seiner Zeit als ›der Dunkle‹ aufgrund seiner rätselhaften Paradoxien bekannt.14 Der ›Athenerbrief‹ ist durchgängig von diesen Motiven durchzogen. Die antike Kultur erscheint – gerade im Gegensatz zu dem kulturellen und politischen Zustand Deutschlands zur erzählten Zeit des Romans zwischen 1768 und 177215 – von Differenzen verknüpfenden, diese jedoch nicht aufheben9 10 11 12
13 14 15
Ebd., H. v. m. Ebd. MA, Bd. 1, S. 683; FHA, Bd. 11, S. 678; StA, Bd. 3, S. 79. Edgar Pankow (Brieflichkeit. Revolutionen eines Sprachbildes. Jacques-Louis David, Friedrich Hölderlin, Jean Paul, Edgar Allan Poe. München 2002) deutet die Stelle einleuchtend auch als Darstellung der Wortgebundenheit der Philosophie (»Die Wortfindung des Wesens der Schönheit gilt als gleichursprünglich mit der Erfindung der Philosophie«, S. 96f.) und stellt deren »Partialcharakter« (S. 97) heraus, wobei offen bleibt, ob dieser romanintern bereits bei Heraklit angesetzt wird, oder ob dieser als der Anfang der Philosophie nicht noch das spezifische ›Zwischen‹ repräsentiert, das der Dichtung eigen ist. MA, Bd. 1, S. 685; FHA, Bd. 11, S. 681; StA, Bd. 3, S. 81, H. v. m. Vgl. dazu auch Jochen Schmidts Kommentar in: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Drei Bände. Hrsg. v. Jochen Schmidt. Band 1. Frankfurt/Main 1992, S. 502. Zur Datierung vgl. Michael Knaupp: Friedrich Hölderlin: Hyperion. Stuttgart 1997, S. 6. Zu dem – romanintern – zeitgenössischen Zustand Deutschlands, welcher der Kultur des antiken Griechenland diametral entgegengesetzt ist vgl. auch Hyperions ›Scheltrede‹ an die Deutschen im vorletzten Brief des Romans sowie den expliziten Bezug der Vorrede auf die Deutschen (vgl. Kapitel I.4.7).
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den Ganzheiten und Wechselwirkungen geprägt. Dieses Grundmerkmal antiker Kultur ist in unterschiedlichen Hinsichten in Hölderlins früher Tübinger Magisterarbeit ›Geschichte der schönen Künste unter den Griechen. Biß zu Ende des Perikleischen Zeitalters‹16 ausgearbeitet. Diese Schrift wird einerseits zu Recht als Abhandlung eingeordnet, in der sich Hölderlins »Denken noch wenig eigenständig«17 zeigt, doch andererseits expliziert sie eine Auffassung antiker Kultur und einen Status der Kunst, die für Hölderlins eigene poetischpoetologische Arbeiten maßgeblich werden.18 In dieser Arbeit stellt Hölderlin – entsprechend der Figur Hyperion in der ›Athenerrede‹ – die konstitutive Bedeutung der Kunst für die Gesamtkultur der Zeit sowie speziell die religionsbegründende Kraft der Dichtung heraus: Der Grieche dichtete seinen Göttern körperliche Schönheit an, weil sie einer seiner nationellen Vorzüge war […]. So wurden seine Heroën Göttersöhne; und so entstanden die Mythen. Diese wurden bald von den Dichtern bearbeitet: ihre Gesänge waren die einzigen Quellen der Religion und Urgeschichte, und wurden daher, neben andern Ursachen, auch deßwegen mit unbegränzter Achtung verehrt.19
Das Ansehen der Dichter und ihre Eingebundenheit in die Gesamtkultur der Antike auch für den modernen Dichter zu erreichen und ihm so »eine bürgerliche Existenz zu sichern«,20 geht als Wunsch und Motivation noch in Hölderlins Herausarbeitung einer ›mechane‹ der Dichtung in den Vorspann seiner ›Anmerkungen zum Oedipus‹21 ein. Mit dieser Einheit der Kultur in ihrer Unterschiedenheit, den Wechselwirkungen von Kunst, Politik und Religion – auch unter Einbezug der ›natürlichen‹ Gegebenheiten, wie dem Klima22 –, die in der ›Athenerrede‹ in ihren Grundzügen fast identisch wiederholt wird, geht auch die Wirkungsmacht im Sinne eines Sprachhandlungscharakters der Dichtung zusammen: »Die Griechen vergötterten ihren Orpheus wie ihren Herkules. Sie mahlten die gewaltigen Würkungen seiner Leier aus, wie die Thaten ihrer Heroën«.23
16 17 18
19 20 21 22 23
MA, Bd. 2, S. 11–27; FHA, Bd. 17, S. 45–66; StA, Bd. 4,1, S. 189–206. Johann Kreuzer: »Einleitung«. In: Johann Christian Friedrich Hölderlin: Theoretische Schriften. Mit einer Einleitung hrsg. v. Johann Kreuzer. Hamburg 1998, S. XII. Damit ist jedoch nicht behauptet, dass die Differenz zwischen antiker und ›hesperischer‹ Dichtung, an der später gearbeitet wird (vgl. die ›Sophokles-Anmerkungen‹ sowie die Briefe an Böhlendorff) aufgehoben wäre. Vgl. dazu beispielsweise Peter Szondi: »Überwindung des Klassizismus. Der Brief an Böhlendorff vom 4. Dezember 1801«. In: Über Hölderlin. Aufsätze von Theodor W. Adorno u. a. Hrsg. v. Jochen Schmidt. Frankfurt/Main 1970, S. 320–338, sowie Beda Allemann: »Hölderlin zwischen Antike und Moderne«. In: HJb 24 (1984/85), S. 29–62. MA, Bd. 2, S. 12; FHA, Bd. 17, S. 46f.; StA, Bd. 4,1, S. 190, H. v. m. MA, Bd. 2, S. 309; FHA, Bd. 16, S. 249; StA, Bd. 5, S. 195. Ebd. Vgl. MA, Bd. 2, S. 19; FHA, Bd. 17, S. 55; StA, Bd. 4,1, S. 197. MA, Bd. 2, S. 12; FHA, Bd. 17, S. 47; StA, Bd. 4,1, S. 190, H. v. m.
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Entsprechend kommt es auch zur Vereinigung der verschiedenen ineinanderwirkenden kulturellen Bereiche als solcher in ein und derselben Person, was einen direkten Gegensatz dazu darstellt, wie Hyperion die Deutschen beschreibt: »Orpheus war auch, wie Ossian, Barde und Held. Er nahm an den Abentheuern seiner Zeitgenossen, Jasons, Castors und Pollux, Peleus und Herkules selbst Theil: so besang er den Argonantenzug«.24 Orpheus’ Nähe zur Hyperion-Figur zeigt sich zudem darin, dass Orpheus’ Hymnen noch als Wirkung des orientalischen Sonnendienstes dargestellt werden25 und Hyperion im griechischen Mythos als der titanische Vater des Sonnengottes Helios gilt, der schon in Homers ›Ilias‹26 mit diesem gleichgesetzt wird. Heraklit repräsentiert – wie erwähnt – die Einheit bzw. das ›Zwischen‹ der verschiedenen kulturellen Bereiche der Religion, der Dichtung und der Philosophie. Dieses Verhältnis spiegelt sich auch in der Entsprechung der Attribute, des Bogens und der Leier, wieder, die sowohl der Artemis, in deren Tempel Heraklit Priester war, als auch dem Dichtergott Apoll zugehören. Hölderlins Abhandlung ›Geschichte der schönen Künste unter den Griechen. Biß zu Ende des Perikleischen Zeitalters‹27 evoziert ihrerseits im Kontext der Dichtung ständig deren Ursprung im Gesang zur Lyra,28 und auch die späteren ›Diotima‹-Gedichte sowie der ›Hyperion‹ sind strukturell von der Bogenformation und explizit von dem »Saitenspiel«29 bzw. der »Leier«30 geprägt. Die Fügung des Bogens und der Leier wird sowohl in Platons ›Symposion‹31 als auch in dem Heraklit-Fragment B 51 als ›harmonia‹ bezeichnet, und dieser Ausdruck findet sich in genau dieser Bedeutung auch im ›Hyperion‹.32 Dasselbe gilt für
24 25 26 27 28
29
30 31 32
Ebd. (StA »[…] Herkules, selbst Theil […]«). Vgl. ebd. Vgl. den 19. Gesang, Vers 398. Vgl. MA, Bd. 2, S. 11–27; FHA, Bd. 17, S. 45–66; StA, Bd. 4,1, S. 189–206. Vgl. beispielsweise »Gesänge« und »Leier« in Bezug auf Orpheus: MA, Bd. 2, S. 12; FHA, Bd. 17, S. 46f.; StA, Bd. 4,1, S. 190; »Gesänge« in Bezug auf Homer: MA, Bd. 2, S. 13; FHA, Bd. 17, S. 48; StA, Bd. 4,1, S. 191; »Gesänge« in Bezug auf Hesiod: MA, Bd. 2, S. 14; FHA, Bd. 17, S. 49; StA, Bd. 4,1, S. 193; »sang seine Gesänge zur Leier, erfand die Dithyramben und begleitete sie mit Rundtänzen« in Bezug auf Arion von Methymna: MA, Bd. 2, S. 16; FHA, Bd. 17, S. 52; StA, Bd. 4,1, S. 194; »Leier« und »Gesänge« in Bezug auf Terpander: Ebd.; »Gesang« in Bezug auf Sappho: MA, Bd. 2, S. 18; FHA, Bd. 17, S. 54; StA, Bd. 4,1, S. 196. ›An Diotima‹, V. 7, MA, Bd. 1, S. 183; FHA, Bd. 3, S. 115; StA, Bd. 1,1, S. 210; ›Diotima‹ 具Ältere Fassung典, MA, Bd. 1, S. 163; FHA, Bd. 2, S. 286; StA, Bd. 1,1, S. 213; ›Hyperion‹, MA, Bd. 1, S. 647; FHA, Bd. 11, S. 628; StA, Bd. 3, S. 43; ›Hyperion‹, MA, Bd. 1, S. 652; FHA, Bd. 11, S. 637; StA, Bd. 3, S. 47; ›Hyperion‹, MA, Bd. 1, S. 656; FHA, Bd. 11, S. 643; StA, Bd. 3, S. 52; ›Hyperion‹, MA, Bd. 1, S. 690; FHA, Bd. 11, S. 687; StA, Bd. 3, S. 86. ›An Diotima‹, V. 3, MA, Bd. 1, S. 183; FHA, Bd. 3, S. 115; StA, Bd. 1,1, S. 210. Vgl. 187 a, 6. Vgl. MA, Bd. 1, S. 635, S. 668 sowie S. 685; FHA, Bd. 11, S. 611, S. 658 sowie S. 680; StA, Bd. 3, S. 30, S. 63 sowie S. 81.
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die eng damit in Zusammenhang stehenden ›Akkorde‹, die in den ›Diotima‹Gedichten angesprochen sind.33 Ziel der folgenden Abschnitte ist es nicht, die ›Einflüsse‹ Heraklits auf Hölderlin historisch nachzuweisen, sondern vielmehr an den Texten Analogien in der Auffassung des ›Einen in sich selber unterschiednen‹ nicht nur in der Struktur, sondern bis in der Ausdrucksweise hinein aufzuweisen. Dies geschieht in Bezug auf ›Hyperion‹ hinsichtlich des ›Saitenspiels‹ und der ›Harmonie‹. Die zeitgleich entstandenen ›Diotima‹-Gedichte und deren Entwicklung in den verschiedenen Fassungen weisen dieselbe Terminologie auf und werden in einen größeren Kontext Heraklitischer Fragmente gestellt. Dabei wird sich die Bogenformation als eine mögliche Phänomenalisierung der Einheits- und Differenzstruktur zeigen, die vor allem für die Lyrik bedeutsam ist (vgl. Kapitel VI). Aus diesem Grund schließt das Kapitel mit der Betrachtung dieser Erscheinungen ab. 1.2
›Saitenspiel‹ im ›Hyperion‹
›Saitenspiel‹ erscheint in dem Roman ›Hyperion‹ auf verschiedenen Erzählebenen und in unterschiedlichen Kontexten,34 jedoch stets in dem Zusammenhang
33
34
Vgl. ›Diotima‹ 具Ältere Fassung典, MA, Bd. 1, S. 162; FHA, Bd. 2, S. 285; StA, Bd. 1,1, S. 212; ›Diotima‹ 具Mittlere Fassung典, MA, Bd. 1, S. 173; FHA, Bd. 2, S. 290; StA, Bd. 1,1, S. 216; ›Diotima‹ 具Jüngere Fassung典, MA, Bd. 1, S. 223; FHA, Bd. 2, S. 296; StA, Bd. 1,1, S. 220; ›Hyperion‹, MA, Bd. 1, S. 724; FHA, Bd. 11, S. 732; StA, Bd. 3, S. 121. Zur ›Harmonie‹ in dem hier dargelegten Sinne vgl. auch Alexander Honold: Hölderlins Kalender. Astronomie und Revolution um 1800. Berlin 2005, v. a. S. 169 und 294. Die etymologische Ableitung der ›Lyrik‹ von der ›Lyra‹ sowie die historische Entwicklung des Gedichts aus dem Gesang zur Leier waren Hölderlin bekannt (vgl. die Magisterarbeit ›Geschichte der schönen Künste unter den Griechen. Biß zum Ende des Perikleischen Zeitalters‹, MA, Bd. 2, S. 11–27; FHA, Bd. 17, S. 45–66; StA, Bd. 4,1, S. 189–206, vor allem die Erwähnung der ›Leier‹, vgl. MA, Bd. 2, S. 16f.; FHA, Bd. 17, S. 52f.; StA, Bd. 4,1, S. 194f., sowie die Bezeichnung der antiken Dichtung fast durchgängig als ›Gesänge‹, vgl. MA, Bd. 2, S. 12–27; FHA, Bd. 17, S. 46–55; StA, Bd. 4,1, S. 190–197). Die sprachliche Nähe des Romans zur Lyrik wurde schon von Hölderlins Studienfreund Conz konstatiert und zuletzt von Thomas Pittrof ausgearbeitet (»Poetische Strukturen in Hölderlins ›Hyperion‹«. In: »… auf klassischem Boden begeistert«. Antike-Rezeption in der deutschen Literatur. Hrsg v. Olaf Hildebrand u. a. Freiburg 2004, S. 247–263, v. a. S. 249–253, 257 und 259–263). Hans Joachim Kreutzer sieht das Wort ›Saitenspiel‹ sogar als einen der »beiden wichtigsten Ausdrücke Hölderlins für seine Dichtung schlechthin«, der später von der anderen Bezeichnung ›Gesang‹ abgelöst wird (vgl. »Tönende Ordnung der Welt. Über die Musik in Hölderlins Lyrik«. In: Hölderlin und die Moderne. Eine Bestandsaufnahme. Hrsg. v. Gerhard Kurz u. a. Tübingen 1995, S. 240–279, hier S. 258). Gerade um die Differenz von Sprache und Musik und ihre widerstrebig-spannungsvolle Einheit im lyrischen ›Gesang‹ geht es Hölderlin. Auf die unauflösliche Differenz von Sprache und Musik weist auch Claudia Albert hin (»Allharmonie und Schweigen – musikalische Motive in Hölderlins Hyperion«. In: ›Hyperion‹ – terra incognita. Expeditionen in Hölderlins Roman. Hrsg. v. Hansjörg Bay. Opladen u. a. 1998, S. 161–175, v. a. S. 165).
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von Negativität. Der erste Nachweis findet sich in dem 10. Brief im ersten Buch des ersten Bandes: O es war ein himmlisch Ahnen, womit ich jezt den kommenden Frühling wieder begrüßte! Wie fernher in schweigender Luft, wenn alles schläft, das Saitenspiel der Geliebten, so umtönten seine leisen Melodien mir die Brust, wie von Elysium herüber, vernahm ich seine Zukunft, wenn die todten Zweige sich regten und ein lindes Wehen meine Wange berührte.35
Bezogen auf den erzählten Hyperion, ist der Kontext, in dem das ›Saitenspiel‹ erscheint, von Zweiheiten sowie Zwischen- und Spannungszuständen geprägt. Das Saitenspiel ist im Vergleich der »Geliebten« als Attribut beigegeben, somit untrennbar mit der Liebe verbunden, und der Frühling kündigt sich in der Gegenwart an, kommt jedoch erst in der Zukunft voll zum Vorschein: »Wie […] in schweigender Luft […], so umtönten seine [des Frühlings] Melodien mir die Brust«.36 Zudem wird der Verweis auf den kommenden Frühling metaphorisch (›umtönten seine Melodien mir die Brust‹) und vermittels des Vergleichs (›Wie … so‹) mit einem Oxymoron (›in schweigender Luft‹) ausgedrückt und die Übertragung, die Bewegung, von einem Ort zu einem anderen betont: »fernher«, »herüber«.37 ›Saitenspiel‹ erscheint hier durchgängig in einem Kontext der ›Gegenstrebigkeit‹. Einen Gegensatz unter Beibehaltung der grundlegenden Strukturen bildet die zweite Erwähnung des ›Saitenspiels‹ in dem Roman. Die Bewegung, die nun in Bezug auf den erzählenden Hyperion angedeutet wird, stellt keine horizontale Bewegung von einem Ort zu einem anderen dar, sondern eine vertikale, ein »Steigen und Sinken«, und zwar nicht mehr in Bezug auf den Frühling und die Zukunft, sondern auf die Vergangenheit in metaphorischer Verbindung mit dem Meer: Oder schau’ ich auf ’s Meer hinaus und überdenke mein Leben, sein Steigen und Sinken, seine Seeligkeit und seine Trauer und meine Vergangenheit lautet mir oft, wie ein Saitenspiel, wo der Meister alle Töne durchläuft, und Streit und Einklang mit verborgener Ordnung untereinanderwirft.38
Auch hier erscheint das ›Saitenspiel‹ im Vergleich und wird in seiner Struktur eigens expliziert: »Streit und Einklang […] untereinander«. Der Modus der Verborgenheit, der in der ›verborgenen Ordnung‹ angesprochen ist, nimmt bereits bei Heraklit eine zentrale Rolle ein: »Sie sind wie taub: hören, aber verstehen nicht. Der Spruch bezeugt’s ihnen: Anwesende sind abwesend«.39
35 36 37 38 39
MA, Bd. 1, S. 647; FHA, Bd. 11, S. 628; StA, Bd. 3, S. 43. Ebd. Ebd. MA, Bd. 1, S. 652; FHA, Bd. 11, S. 637; StA, Bd. 3, S. 47. Heraklit: Fragment B 34. In: Heraklit: Fragmente. Griechisch und Deutsch. Hrsg. v. Bruno Snell. Lizenzausgabe Darmstadt 1995, S. 15.
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Die Gewissheit der ›Ordnung‹, auch und gerade aufgrund und in der Negativität, zeigt sich in der folgenden Bezugnahme auf das ›Saitenspiel‹ durch den erzählenden Hyperion, wobei dies bedeutsamerweise in dem auf der Erinnerung beruhenden Vergleich seines früheren mit seinem jetzigen Zustand geschieht (zur Struktur der Erinnerung vgl. Kapitel I.4.1). Dabei stellt der erzählende Hyperion die Negativität als konstitutiv zu dem Ganzen gehörig heraus: »Ist der Mensch nicht veraltert, verwelkt, ist er nicht, wie ein abgefallen Blatt, das seinen Stamm nicht wieder findet und nun umhergescheucht wird von den Winden, bis es der Sand begräbt?«40 Diese rhetorischen Fragen werden nicht dementiert, und es folgt: »Und dennoch kehrt sein Frühling wieder!«41 Die Gewissheit wird mehrfach betont und konstitutiv auf den Vergleich mit seinem vergangenen Zustand und seinen Entwicklungen zurückgeführt: Weint nicht, wenn das Treflichste verblüht! Bald wird es sich verjüngen! Trauert nicht, wenn eures Herzens Melodie verstummt! bald findet eine Hand sich wieder, es zu stimmen! Wie war denn ich? war ich nicht ein zerrissen Saitenspiel? Ein wenig tönt’ ich noch, aber es waren Todestöne. Ich hatte mir ein düster Schwanenlied gesungen! Einen Sterbekranz hätt’ ich gern mir gewunden, aber ich hatte nur Winterblumen. Und wo war sie denn nun, die Todtenstille, die Nacht und Öde meines Lebens? die ganze dürftige Sterblichkeit?42
Die Negativität des erzählten Hyperion erscheint somit eingebettet in ›positive‹ Erfahrungen, die in ihrer eigentlichen Wirksamkeit und Wirklichkeit aus der Erinnerung selbst entstehen, in der die Negativität gerade nicht aufgehoben wird.43 Das Verbindende des ›Saitenspiels‹ in dem konstitutiven Einbezug der Negativität findet sich auch in der Haltung Diotimas gegenüber den sinnlichen Überresten des alten Athen: […] sie [Diotima] hatte einen herrlichen Kampf bestanden mit dem heiligen Chaos von Athen. Wie das Saitenspiel der himmlischen Muse über den uneinigen Elementen, herrschten Diotimas stille Gedanken über den Trümmern. Wie der Mond aus zartem Gewölke, hob sich ihr Geist aus schönem Leiden empor; das himmlische Mädchen stand in seiner Wehmuth da, wie die Blume, die in der Nacht am lieblichsten duftet.44
40 41 42 43
44
MA, Bd. 1, S. 656; FHA, Bd. 11, S. 642; StA, Bd. 3, S. 51. MA, ebd.; FHA, Bd. 11, S. 643; StA, ebd. MA, ebd.; FHA, ebd.; StA, Bd. 3, S. 51f. Auch die folgenden Ausführungen des erzählenden Hyperion nehmen in dem »Feuer« (MA, Bd. 1, S. 656; FHA, Bd. 11, S. 643; StA, Bd. 3, S. 52) und dem »Kampf[…]« (MA, Bd. 1, S. 657; FHA, ebd.; StA, ebd.) zentrale Heraklit’sche Topoi auf, vgl. die Fragmente B 53, B 80 und B 84a in Bezug auf den ›polemos‹, den ›Streit‹ bzw. ›Krieg‹, die Fragmente B 30, B 64a, B 65, B 66 und B 90 in Bezug auf das ›Feuer‹. MA, Bd. 1, S. 690; FHA, Bd. 11, S. 687 (»[…] Diotima’s […]«); StA, Bd. 3, S. 86.
80
Auch hier erscheint das ›Saitenspiel‹ im Vergleich, ebenso wie in der zentralen Stelle, in der Hyperion Diotimas Berufung zum »Erzieher unsers Volks«45 annimmt. Hat Diotima Hyperions potentielles Wirken als dichterisches bestimmt, indem sie es mit Apollon und Zeus in Verbindung bringt46 (»du must erleuchten, wie Apoll, erschüttern, beleben, wie Jupiter«47), so äußert sich Hyperion gegenüber der Natur: »Du frägst nach Menschen, Natur? Du klagst, wie ein Saitenspiel, worauf des Zufalles Bruder, der Wind, nur spielt, weil der Künstler, der es ordnete, gestorben ist?«48 Sämtliche Bezüge auf das ›Saitenspiel‹ finden sich in dem ersten Band des Romans, jedoch auf verschiedenen Ebenen. So können die Äußerungen, die die konstitutive Stellung der Negativität in dem Saitenspiel explizit betonen, ausnahmslos dem erzählenden Hyperion49 zugeordnet werden. Der erzählte Hyperion holt die Implikationen zwar noch nicht ein, doch ist der Kontext des ›Saitenspiels‹ auch auf dieser Ebene durchgängig von der Negativität geprägt. 1.3
›Harmonie‹ im ›Hyperion‹
Dasselbe gilt für die ›harmonia‹, die sowohl in Platons ›Symposion‹50 als auch in dem Heraklit-Fragment B 51 mit der Fügung des Bogens und der Leier gleichgesetzt und in Heraklits Fragment B 8 näher bestimmt wird: »Das Widereinanderstehende zusammenstimmend und aus dem Unstimmigen die schönste Harmonie [kallisten harmonien].«51 Der Ausdruck findet sich in ›Hyperion‹ an drei gewichtigen Stellen,52 wobei auch hier wiederum deutlich wird, dass der erzählte Hyperion die ›Harmonie‹ wie auch die ›Schönheit‹ als Abwesenheit von Negativität missdeutet: »der Zweifler findet darum nur in allem, was gedacht wird, Widerspruch und Mangel, weil er die Harmonie der mangellosen Schönheit kennt, die nie gedacht wird«.53 Für den erzählenden Hyperion verbindet sich die ›Harmonie‹ jedoch mit den »große[n] Töne[n] […] in der Symphonie des Weltlaufs«,54 was wiederum eine Entsprechung in Heraklits Fragment B 10 findet: »Zusammenstimmungen sind Ganzes und Nichtganzes, Einträchtig-Zwieträchtiges [sympherome45 46 47 48 49 50 51 52 53 54
MA, Bd. 1, S. 693; FHA, Bd. 11, S. 691; StA, Bd. 3, S. 89. Apolls Bezug zum Dichterischen ist klar, Zeus kommt in Hölderlins Ode ›Natur und Kunst oder Saturn und Jupiter‹ als Gott des Dichtens im Kontext der ›Gesetze‹ zum Vorschein. MA, Bd. 1, S. 692; FHA, Bd. 11, S. 689; StA, Bd. 3, S. 88. MA, Bd. 1, S. 693; FHA, Bd. 11, S. 691f.; StA, Bd. 3, S. 90. Vgl. MA, Bd. 1, S. 652 und 656; FHA, Bd. 11, S. 637 und 643; StA, Bd. 3, S. 47 und 52. Vgl. 187 a, 6. Vgl. Heraklit: Fragmente. Griechisch und Deutsch. Hrsg. v. Bruno Snell. Lizenzausgabe Darmstadt 1995, S. 9. Vgl. MA, Bd. 1, S. 635, S. 668 sowie S. 685; FHA, Bd. 11, S. 611, S. 658 sowie S. 680; StA, Bd. 3, S. 30, S. 63 sowie S. 81. MA, Bd. 1, S. 685; FHA, Bd. 11, S. 680f.; StA, Bd. 3, S. 81. MA, Bd. 1, S. 667; FHA, Bd. 11, S. 658; StA, Bd. 3, S. 63.
81
non diapheromenon], Einstimmend-Mißstimmendes, und aus Allem Eins und aus Einem Alles.«55 Auf die damit eng zusammenhängenden ›Akkorde‹ wird ebenfalls sowohl in den Diotima-Gedichten als auch im ›Hyperion‹ Bezug genommen.56 1.4
Die ›Diotima‹-Gedichte
In derselben Weise wie der ›Hyperion‹-Roman nehmen die ›Diotima‹-Gedichte, die zeitlich mit der Entstehung des ersten Bandes der endgültigen Fassung Romans zusammenfallen,57 sowohl sachlich als auch sprachlich Heraklitische Topoi auf.58 Dabei findet sich eine Entwicklung in den unterschiedlichen Fassungen, die parallel zu Verschiebungen in der Konzeption des Romans ›Hyperion‹ und zu der Entwicklung der Figur Hyperion in der endgültigen Fassung des Romans verläuft. Erscheinen alle drei Fassungen in ihrer poetischen Darstellung konventionell liedhaft (vierhebig-trochäische Verse verbinden sich im Kreuzreim zu einer Strophe), so sind die älteste und die mittlere Fassung mit jeweils acht Versen pro Strophe identisch gebaut, während sich in der jüngeren Fassung pro Strophe zwölf Verse finden. In dem Übergang von der älteren zur mittleren Fassung verändert sich jedoch die Stellung der Negativität. Die ersten drei Strophen der älteren Fassung unterscheiden sich von den Eingangsstrophen der mittleren lediglich dadurch, dass die zweite Strophe der älteren Fassung nicht in die neuere Fassung übernommen wird. Thematisiert die in beiden Fassungen identische erste Strophe eine Wendung von der Negativität zum ›Leben‹ (»Lange todt und tiefverschlossen«, St. 1, V. 1, »Neu von Lebenskraft geschwellt; / O! ich kehre noch in’s Leben«59), so stellt die zweite Strophe der älteren Fassung diese Wendung als Aufhebung der Negativität dar: 55 56
57
58
59
Vgl. Heraklit: Fragmente. Griechisch und Deutsch. Hrsg. v. Bruno Snell. Lizenzausgabe Darmstadt 1995, S. 9. Vgl. ›Diotima‹ 具Ältere Fassung典, MA, Bd. 1, S. 162; FHA, Bd. 2, S. 285; StA, Bd. 1,1, S. 212; ›Diotima‹ 具Mittlere Fassung典, MA, Bd. 1, S. 173; FHA, Bd. 2, S. 290; StA, Bd. 1,1, S. 216; ›Diotima‹ 具Jüngere Fassung典, MA, Bd. 1, S. 223; FHA, Bd. 2, S. 296; StA, Bd. 1,1, S. 220; ›Hyperion‹, MA, Bd. 1, S. 724; FHA, Bd. 11, S. 732; StA, Bd. 3, S. 121. Die ersten beiden Fassungen des Gedichts ›Diotima‹ sind vermutlich Anfang 1796 in Frankfurt entstanden (vgl. MA, Bd. 3, S. 84), die letzte wohl zu Beginn des Jahres 1797 (vgl. MA, Bd. 3, S. 90), der erste Band des ›Hyperion‹ wurde vermutlich Anfang 1797 an Cotta geschickt (vgl. MA, Bd. 3, S. 318). Dies ist vor allem bei den liedhaften Fassungen explizit der Fall, so dass hier auf die Oden ›Diotima‹ nicht eingegangen wird. Gabriele von Bassermann-Jordan (»Schönes Leben! Du lebst, wie die zarten Blüthen im Winter …«. Die Figur der Diotima in Hölderlins Lyrik und im »Hyperion«-Projekt: Theorie und dichterische Praxis. Würzburg 2004) deutet die ›Schönheit‹ (Diotimas), wie schon das ›Eine in sich selber unterschiedne‹ im ›Hyperion‹-Roman, unter relativer Vernachlässigung der konstitutiven Rolle der Negativität in der Schönheit selbst (vgl. v. a. S. 159–161). St. 1, V. 4f., MA, Bd. 1, S. 161; FHA, Bd. 2, S. 285; StA, Bd. 1,1, S. 212.
82
Die ihr meine Klage kanntet, Die ihr liebezürnend oft Meines Sinnes Fehle nanntet Und geduldet und gehoft, Eure Noth ist aus, ihr Lieben! Und das Dornenbett ist leer, Und ihr kennt den immertrüben Kranken Weinenden nicht mehr.60
Die Negativität erscheint überwunden, indem sie selbst negiert wird (die »Noth ist aus«, das »Dornenbett ist leer«, H. v. m.), und der Geheilte erscheint so nicht bloß verändert, sondern verwandelt: »ihr kennt den immertrüben / Kranken Weinenden nicht mehr«, H. v. m.). Diese Aufhebung der Negativität durch deren bloße Negation findet sich in der mittleren Fassung durch die Streichung der zweiten Strophe nicht mehr. An ihre Stelle tritt die ursprünglich dritte Strophe, die schon in ihrem Eingangsvers eine veränderte Stellung der Negativität ankündigt, indem sie nicht mehr bloß zwei gegensätzliche Zustände vergleicht (die Negativität früher, ihr Gegenteil jetzt), sondern die beiden Zustände in der Einheit ihrer Entwicklung sieht, was sich auch in dem Perfekt-Tempus niederschlägt: »Wie so anders ist’s geworden!«61 Die Negativität wird hier nicht mehr bloß selbst verneint und somit aufgehoben, sondern in den neuen Glückszustand integriert: »Alles was ich haßt und mied / Stimmt in freundlichen Akkorden / Nun in meines Lebens Lied«.62 Diese konstitutive Integration der Negativität wird in musikalischen Metaphern ausgedrückt (›Lied‹, ›Akkorde‹). Wovor bloß ›geflohen‹ wurde (›was ich haßt und mied‹), wird nun nicht mehr negiert, sondern als Negativität festgehalten und in den Zusammenhang mit anderem integriert, so dass insgesamt ›freundliche Akkorde‹ entstehen und die Negativität des ›Lebens Lied‹ konstitutiv mitbestimmt. ›Zerreißt‹ der ›schöne Friede‹ wie »ein Saitenspiel«,63 so ist die Integration von »Haß und Liebe« in das ›eine‹ des schönen Friedens, welcher der Struktur des ›Saitenspiels‹ folgt, durch den ›guten Geist‹ nicht mehr möglich: Ach und da mein schöner Friede Wie ein Saitenspiel, zerriß, Da von Haß und Liebe müde
60 61
62
63
MA, Bd. 1, S. 162; FHA, ebd.; StA, ebd., H. v. m. 具Ältere Fassung典, St. 3, V. 1, MA, Bd. 1, S. 162; FHA, Bd. 2, S. 285; StA, Bd. 1,1, S. 212; 具Mittlere Fassung典, St. 2, V. 1, MA, Bd. 1, S. 173; FHA, Bd. 2, S. 290 (»[…] ists […]«); StA, Bd. 1,1, S. 216. 具Ältere Fassung典, St. 3, V. 2–4, MA, Bd. 1, S. 162; FHA, Bd. 2, S. 285; StA, Bd. 1,1, S. 212; 具Mittlere Fassung典, St. 2, V. 2–4, MA, Bd. 1, S. 173; FHA, Bd. 2, S. 290 (»[…] haßt’ […]«); StA, Bd. 1,1, S. 216. 具Ältere Fassung典, St. 6, V. 1 und 2.
83
Mich mein guter Geist verließ […].64
Dieser Abschnitt des ›zerrissnen Saitenspiels‹ wird nicht in die mittlere Fassung übernommen. In dieser Fassung erscheint Diotima als Ideal, das jede Negativität stets schon unberührt überstiegen hat: Wie die Seeligen dort oben, Wo hinauf die Freude flieht, Wo, des Daseyns überhoben, Wandellose Schöne blüht, Wie melodisch bei des alten Chaos Zwist Urania, Steht sie, göttlich rein erhalten, Im Ruin der Zeiten da.65
Sowohl die Auffassung Diotimas als auch die des ›Ideals‹ und des Göttlichen verändert sich jedoch in der letzten Fassung des Gedichts. Diotima wird nun nicht mehr als Ideal gestaltet, sondern hat als »Götterbotin«66 und »Götterbilde«67 vielmehr eine vermittelnde Position zwischen Menschen und Göttern inne. Eine Vermittlung zeigt sich auch bei dem Verhältnis des Gottes (»dein Vater und der meine«68) zu der Erde bzw. dem Meer sowie zwischen den Verortungen ›oben‹ und ›unten‹. Erscheinen die Bereiche in der mittleren Fassung als getrennte, so sind sie auch jetzt unterschieden, jedoch in ihrer Differenz in einen Bezug gebracht. So befindet sich der ›Vater‹ zwar immer noch »in heitrer Majestät«69 »in lichter Höhe«,70 jedoch geht er und bewegt sich »[ü]ber seinem Eichenhaine«,71 wobei die Eichbäume in dem gleichnamigen Gedicht72 als ausgezeichnete Mittler zwischen Himmel und Erde fungieren. Der Himmel erscheint hier zudem gegenüber der Erde nicht mehr als Transzendentes und bloß durch ein Drittes mit der Erde verbunden, sondern der Himmel ist selbst ein »Bogen«,73 auf dem der Abstieg zur Erde möglich ist. Diesen Abstieg vollzieht der Vater, indem er noch tiefer, nämlich in die »kühle Tiefe«74 des Meeres schaut. Diese Tiefe ist nicht nur blau, sondern sie »blaut«,75
64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75
Ebd., V. 1–4. 具Mittlere Fassung典, St. 8, MA, Bd. 1, S. 174; FHA, Bd. 2, S. 291; StA, Bd. 1,1, S. 218, H. v. m. 具Jüngere Fassung典, St. 4, V. 10, MA, Bd. 1, S. 224; FHA, Bd. 2, S. 297; StA, Bd. 1,1, S. 221. Ebd., St. 5, V. 3. Ebd., St. 7, V. 1. Ebd., V. 2. Ebd., V. 4. Ebd., V. 3. Erschienen 1797 im zwölften Band der ›Horen‹. 具Jüngere Fassung典, St. 7, V. 7. Ebd., V. 6. Ebd.
84
sie ist nicht nur adjektivisch durch ein anderes bestimmt, sondern ›das Blauen‹ erscheint als ihre eigene Tätigkeit. Zugleich stellt sich das Blau des Meeres als Spiegelung und Entsprechung der Bläue des Himmels und andersherum dar. Es ist bei dieser Spiegelung nicht zu entscheiden, auf welcher Seite ›Bild‹ und ›Urbild‹ anzusetzen sind, vielmehr erscheint das Reflexionsverhältnis als ein sich wechselseitig konstituierendes. Läge es traditionell und im Kontext eines Denkens des Ideals nahe, das Irdische als von dem Himmlischen Abgeleitetes zu betrachten, so wird dieses Verhältnis hier nicht in sein bloßes Gegenteil verkehrt, sondern in eine Wechselkonstitution beider überstiegen. Erscheint der Himmel zunächst mit dem Vater verbunden, so ist in dem ›Blauen‹ des Meeres dieses ebenfalls als Subjekt impliziert. Der Ort dieses ›Blauens‹ der ›kühlen Tiefe‹ wird als die »Meereswogen«76 angegeben, wobei insbesondere der Wechsel von Wellental und Wellenberg sowie deren wechselseitiges Konstitutionsverhältnis bedeutend erscheinen. Zudem beruht das Spiegelungsverhältnis der Bläue des Himmels und des Meeres ursprünglich auf dem ›Blauen‹ der ›Tiefe‹ in den ›Meereswogen‹, so dass sich wiederum eine Verschränkung zweier Konstitutionsverhältnisse ergibt. Die syntaktische Struktur der Strophe bildet zudem einen in sich gedoppelten Vergleich (»Wie«,77 »So«78), der die Strophe in drei Teile teilt. Diese sind intern nochmals dadurch strukturiert, dass die ersten beiden Abschnitte, die auf das ›Wie‹ folgen, parallel gesetzt werden und ihren Abschluss jeweils in dem dritten Teil finden. Dieser umgreift die ersten beiden Abschnitte von deren Ende her. Der Vergleich folgt strukturell einerseits seiner Ausrichtung auf die Einlösung in dem ›So‹ hin, zum anderen stellt er in sich ein Spiegelungsverhältnis dar, in dem sich die Teile des Vergleichs wechselseitig bestimmen (vgl. auch Kapitel VI.1). Der Vergleich entspricht somit strukturell dem Verhältnis zwischen der Bläue des Himmels und der des Meeres als wechselseitiger Konstitution der Differenten, die als solche zugleich als ›eines‹ bezeichnet werden müssen. Die beiden ersten, von ›wie‹ eingeleiteten Vergleichsteile drängen auf den dritten Abschnitt der Strophe hin, der von ›So‹ eingeleitet wird. Haben diese beiden Teile jedoch den Gott (»dein Vater und der meine«79) zum Subjekt, so ist es dieser, der sich in dem Vergleich auf das Subjekt des letzten Teils, das Ich des Gedichts, überträgt. Im Vergleich ›strebt‹ der Gott – in Umkehrung der traditionell verstandenen Richtung des Strebens von unten nach oben – von dem Himmel zur Erde, wie auch die Struktur des Vergleichs den Gott auf das
76 77 78 79
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
V. 5. V. 1 und V. 5. V. 9. V. 1.
85
Ich des Gedichts überträgt. Dieses ist auch schon in seinem Ausgangspunkt analog zu dem Gott gesetzt. Es befindet sich nicht auf der Erde, sondern in »Götterhöhen«80 und ›strebt‹ – wie der Gott – von oben nach unten. Der Gott und das Ich erscheinen hier als in eine Einheit in der Differenz zusammengenommen. Die unterschiedenen Teile dieser Einheit kommen als solche besonders dadurch zum Vorschein, dass sie in paralleler syntaktischer Fügung jeweils unmittelbar auf die Vergleichspartikel (›Wie‹ und ›So‹) folgen. Mit dieser doppelten Bewegung von oben nach unten ist jedoch keine Abwertung des Himmels verbunden. Dieser ist für das ›Streben‹ zur Erde und für das Leben dort konstitutiv und wird seinerseits in das Irdische integriert: So will ich aus Götterhöhen, Neu geweiht in schön’rem Glük, Froh zu singen und zu sehen, Nun zu Sterblichen zurük.81
Erst in dem wechselnden (›aus Götterhöhen zurük‹) und sich wiederholenden (›neu geweiht‹) Durchlaufen des Himmels und der Erde kommt der Mensch in diesem Zusammenhang zu seiner Erfüllung, nämlich »Froh zu singen und zu sehen«.82 Das ›Sehen‹ – gerade der tiefsten Tiefe des Meeres – scheint in demselben Kreislauf auch die Bestimmung des Gottes zu sein.83 Entscheidend bei der Bewegung des Gottes wie des Ich erscheint somit das wiederholte Durchlaufen von Himmel und Erde, wobei hier in Bezug auf den Menschen gegenüber der Tradition Ausgangs- und Zielpunkt zunächst vertauscht werden. Doch kommt es auch hier zu keiner Einseitigkeit, sondern zu der konstitutiven Durchdringung des einen durch das andere aufgrund der Wechselbewegung zwischen beiden. Finden sich somit stets diese wechselseitigen Konstitutionsbewegungen, so ist in Bezug auf den Menschen auch dessen Ausgangspunkt als in sich widerstrebig dargestellt. Er ist einerseits als ›Götterhöhen‹ gesagt, andererseits jedoch im Kontext des Zurückstrebens zu den Sterblichen, so dass das Gedicht mit dem Wort ›zurück‹ schließt. Der Ursprung bzw. 80 81 82 83
Ebd., V. 9. Ebd., V. 9–12; FHA (»[…] schönem […]«). Ebd., V. 11. Zum Verhältnis von Himmel, Erde und Meer vgl. den Schlussmythos in Platons ›Phaidon‹ (v. a. 108 e–110 b sowie 111 a–b in: Platon: Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch. Hrsg. v. Gunther Eigler. Bd. 3. Darmstadt 1990). Zum schauenden Durchlaufen des Ganzen seitens der Götter wie der Menschen vgl. den Zentralmythos des ›Phaidros‹ (246a–249b). Hölderlins 具Fragment philosophischer Briefe典, das er in einem Brief an Neuffer als »einen Aufsaz über die ästhetischen Ideen« (Hölderlins Brief an Neuffer vom 10. Oktober 1794, MA, Bd. 2, S. 550; StA, Bd. 6,1, S. 135) bezeichnet, stellt zugleich eine Art Kommentar zu Platons ›Phaidros‹ dar. Zur Rückkehr zu den Sterblichen im Kontext des Sehens vgl. auch Platons Höhlengleichnis in der ›Politeia‹ (514a–517a) sowie Hölderlins Thematisierung des Verhältnisses des ›Denkens des Tiefsten‹ und der ›Liebe zum Lebendigsten‹ in Bezug auf zwei Protagonisten des Platonischen ›Symposion‹ in der Ode ›Sokrates und Alcibiades‹.
86
Ausgangspunkt der Wechselbewegungen erscheint somit in sich widerstrebig, wobei die Bewegung, die in den ›Rahmenteilen‹ beschrieben wird, ihren Ausgangspunkt vom Himmel nimmt. Auch in diesem übergeordneten Verhältnis findet sich somit dieselbe ›Struktur‹, was zu einer internen Ineinanderstaffelung über mehrere Ebenen hinweg führt. 1.5
›An Diotima‹
Das Fragment ›An Diotima‹, das vermutlich Anfang 1797 entstanden ist,84 führt Heraklitische Topoi vor allem in den ersten fünf Distichen85 zusammen. An ihnen sind sowohl strukturell als auch semantisch Verhältnisse auszumachen, die für die spätere Lyrik (vgl. Kapitel VI) bestimmend werden: Komm und siehe die Freude um uns; in kühlenden Lüften Fliegen die Zweige des Hains, Wie die Loken im Tanz’: und wie auf tönender Leier Ein erfreulicher Geist Spielt mit Reegen und Sonnenschein auf der Erde der Himmel Wie in liebendem Streit Über dem Saitenspiel’ ein tausendfältig Gewimmel Flüchtiger Töne sich regt, Wandelt Schatten und Licht in süßmelodischem Wechsel Über die Berge dahin.86
Auch hier findet sich die Verbindung des Himmels und der Erde in der Differenz, und zwar durch zwei ›Dritte‹, den Sonnenschein und den Regen, die in sich wiederum demselben Verhältnis gehorchen, indem sie sich erst in dem Spannungsverhältnis von Himmel und Erde konstituieren. Denn weder Regen noch Sonnenschein sind (sie selbst), wenn sie in einem der Entgegengesetzten, dem Himmel oder der Erde verbleiben. Erst in der Bewegung zwischen diesen sind und werden sie Regen oder Sonnenschein. Zugleich sind sich die beiden in diesem Sinne ›Verbindenden‹ entgegengesetzt, in elementarer Betrachtung als ›Feuer‹ und ›Wasser‹ sowie in Bezug auf die Witterung. Was hier somit als Verbindendes gesagt ist, stellt ein dynamisches, in sich wechselndes Ineinander von Gegensätzen dar. Diese dynamische ›Einheit‹ von Differenten, sich somit voneinander Abhebenden, lässt sich als ›Spiel‹ bezeichnen. Die Verbindung von Himmel und
84 85
86
Vgl. MA, Bd. 3, S. 96; nach FHA im April oder Mai 1797, vgl. Bd. 3, S. 107; StA, Bd. 1,2, S. 525. Genauer im ›archilochischen‹ Versmaß (Hexameter und halber Pentameter), das Hölderlin nur in diesem Gedicht verwendet (vgl. MA, Bd. 3, S. 96; FHA, Bd. 3, S. 107; StA, Bd. 1,2, S. 525) und das somit von dem ›elegischen Distichon‹ (daktylischer Hexameter und Pentameter) lediglich dadurch abweicht, dass es den zweiten Vers halbiert. MA, Bd. 1, S. 183; FHA, Bd. 3, S. 115 (»[…] im Tanz’; und […]«); StA, Bd. 1,1, S. 210.
87
Erde (der Himmel ›spielt‹ auf der Erde), die eine Einheit in der Differenz darstellt, besteht somit selbst in einem in sich bewegten ›Spiel‹ von Gegensätzen, so dass auch das Verhältnis des Himmels zur Erde als Spielverhältnis erscheint und sich hier wiederum eine in sich gestaffelte Struktur gegenstrebiger Verhältnisse findet. Dieses Verhältnis des Spiels des Himmels mit der Erde wird explizit mit dem ›Spiel‹ ›eines erfreulichen Geistes‹ auf ›tönender Leier‹ verglichen. Der sprachliche Vergleich bildet dabei strukturell eben jenes Verhältnis in sich gegenstrebiger Einheit, das hier thematisch wird (vgl. auch Kapitel VI.1).87 Zugleich ist der erste Satz des Gedichts in insgesamt drei Vergleiche unterteilt. Erstreckt sich der erste bis in die Mitte des dritten Verses (bis zu ›Wie die Loken im Tanz’‹), so bildet der zweite Vergleich die andere Hälfte der ersten fünf Verse (bis ›auf der Erde der Himmel‹). Doch sind die beiden Vergleiche nicht unzusammenhängend aneinandergereiht, vielmehr werden sie durch den Doppelpunkt in eine Beziehung gesetzt, so dass sie als zwei differente und sich wechselseitig entsprechende Teile eines Zusammenhangs erscheinen. Das ist deshalb der Fall, weil in der Regel der auf den Doppelpunkt folgende Teil den vorhergehenden näher bestimmt, so dass sich die beiden Teile zwar semantisch auf dasselbe beziehen, dies jedoch auf unterschiedliche Weise tun, der vorgängige Teil in der Regel ankündigend-allgemein, der nachfolgende einlösend-spezifizierend. In dieser Bezogenheit in Übereinstimmung und Differenz bestimmen sich die Teile wechselseitig. Die beiden Vergleiche in den ersten fünf Versen des Gedichts befinden sich somit selbst wiederum in einem Vergleichsverhältnis. Die zweite Hälfte des ersten Satzes wird von dem dritten Vergleich gebildet (›Wie in liebendem Streit‹), so dass dieser denselben Umfang hat wie die ersten beiden Vergleiche zusammen. Auffällig bei dieser syntaktischen Struktur ist, dass die Grenzen der Vergleiche dem Aufbau der Verse als Distichen direkt entgegenlaufen, was die Spannung zwischen Syntax und Vers in größtmöglicher Weise steigert. Endet der erste Vergleich in der Mitte des ersten Verses des zweiten Distichons und setzt der zweite Vergleich dort an, so erstreckt sich dieser von der Mitte des ersten Verses des zweiten Distichons bis zum Ende des ersten Verses des dritten Distichons, während die zweite Hälfte des gesamten Satzes zu Beginn des zweiten Verses des dritten Distichons einsetzt.
87
Das Bestehen der Einheit in dem wechselseitigen Konstitutionsverhältnis von Gegensätzlichem selbst, dem das gesamte Fragment folgt, sieht Gabriele Bassermann-Jordan (»Schönes Leben! Du lebst, wie die zarten Blüthen im Winter …«. Die Figur der Diotima in Hölderlins Lyrik und im »Hyperion«-Projekt: Theorie und dichterische Praxis. Würzburg 2004) auch hier nicht. Vielmehr vermittelt ihr zufolge der Vergleich »wie auf tönender Leier« (V. 3) – ohne den Begriff zu klären – »den Eindruck von Ganzheit« (S. 187). Dem entsprechend fasst sie das Gedicht zusammen: »Kein weiteres Diotima-Gedicht spricht mehr von ungetrübter Freude« (S. 189).
88
In dem Übergang von dem zweiten in den dritten Vergleich (Übergang von Vers 5 in 6: »Spielt mit Reegen und Sonnenschein auf der Erde der Himmel / Wie in liebendem Streit«), der genau die Mitte des ersten Satzes bildet, bleibt beim Lesen des Gedichts in seiner Chronologie offen, ob Vers 6 (›Wie in liebendem Streit‹) einen neuen Vergleich eröffnet, oder ob er sich auf den vorhergehenden Vergleich ergänzend rückbezieht. Beides scheint hier der Fall zu sein. In der Chronologie des Lesens muss der Vers zunächst als nähere Bestimmung des ›Spiels‹ des Himmels auf der Erde gedeutet werden, was semantisch widerstandslos möglich ist: Das Spiel des Himmels mit den Gegensätzen des Regens und des Himmels und die dadurch entstehende Verbindung des Himmels mit der Erde ist nichts anderes als das Oxymoron »in liebendem Streit«.88 Dieses bildet einen Heraklitischen Topos par excellence: Der Krieg, der ›polemos‹, ist das in der Vereinigung liebend Hervorbringende, er »führt zusammen, und Recht ist Streit, und alles Leben entsteht durch Streit und Notwendigkeit«,89 der »Krieg ist aller Dinge Vater«.90 Der Vers ›Wie in liebendem Streit‹, der die zweite Hälfte des ersten Satzes einleitet, sagt somit semantisch die Einheit der Gegensätze, und er stellt diese zugleich strukturell innerhalb des syntaktischen Gesamtgefüges dar: er bildet eine Ergänzung zu dem ihm vorausgehenden Vergleich, und er eröffnet zugleich den dritten, den Satz abschließenden Vergleich. Mit diesem Vers, in seiner zwiegestaltigen Zwischenstellung, vollzieht sich in dem Verlauf des Gedichts ein Umschlag von der Ergänzung des zweiten Vergleichs zur Eröffnung des dritten. Er bildet somit den Punkt, an dem die beiden Teile, die er verbindet und zu denen er in jeweils anderer Funktion gehört, ineinander umschlagen. Er ist und vollzieht in sich diesen Umschlag der differenten Teile des ›einen‹ ineinander und bildet strukturell – im Bild des Bogens gesprochen – den Wendepunkt zwischen seinen gegenstrebig gefügten Armen (zur Fügung des Bogens vgl. Kapitel II.2.1 und zu der strukturellen Stellung des Verses das analoge Verhältnis in ›Hälfte des Lebens‹, Kapitel VI.2). Das Verhältnis gegenstrebiger Einheit, das hier vorliegt, ist somit von einem Umschlag geprägt, den der (in sich widerstrebig zu denkende) Einheitspunkt der differenten Teile in sich vollzieht und ist. Der Vers ist einerseits mit sich selbst identisch, andererseits ist diese Identität das Umschlagen von einer seiner Bedeutungen in die andere. Dieses Phänomen kommt bei Heraklit in dem Fragment B 88 zum Ausdruck: »Ein und dasselbe ist Lebendiges und Todes [sic!] und Wachendes und Schlafendes und Junges und Altes; denn dies schlägt um und ist jenes, und jenes wiederum schlägt um und ist dies.« Dieser Wechsel von Differentem in einem, den der Eingangssatz des dritten Vergleichs
88 89 90
V. 6, MA, Bd. 1, S. 183; FHA, Bd. 3, S. 115; StA, Bd. 1,1, S. 210. B 80. B 53.
89
vollzieht, ist zudem in dem dritten Vergleich des ersten Satzes expliziert, der in gedrängter Form bereits herausgearbeitete Heraklitische Strukturen zum Ausdruck bringt: Wie in liebendem Streit Über dem Saitenspiel’ ein tausendfältig Gewimmel Flüchtiger Töne sich regt, Wandelt Schatten und Licht in süßmelodischem Wechsel Über die Berge dahin.91
2.
›Bogen‹ und ›Leier‹ in ihren strukturellen Verhältnissen
Wurden in dem vorigen Kapitel Parallelen zwischen der Konzeption des ›Einen in sich selber unterschiednen‹, wie es bei Hölderlin erscheint, zu Heraklitischen Fragmenten gezogen, so soll nun die Struktur des Bogens und der Leier an deren Erscheinungen herausgearbeitet werden. In diesen zeigt sich die umfassende strukturelle Dynamik des ›Einen in sich selber unterschiednen‹, die in ausgearbeiteter Form erst in den zentralen poetologischen Schriften zum Ausdruck kommt. Aufgrund ihrer auch strukturellen Umsetzung in den Gedichten (vgl. Kapitel VI) und als Phänomen, das in der paradoxen Fügung tatsächlich besteht, sollen die Erscheinungen des Bogens und der Leier im Folgenden deskriptiv dargestellt werden. Die Entsprechungen zu den poetologischen Schriften werden in den folgenden Kapiteln deutlich. Bogen und Leier zeichnen sich in ihrer Fügung dadurch aus, dass sie ein ›eines‹ nur als zwei Teile sind, die aufgrund der Weise ihrer Anordnung als Entgegengesetzte ›auseinanderstreben‹. Nur in dieser und als diese Fügung sind Bogen und Leier ›eines‹. Sie beruhen konstitutiv auf ihrer inhärenten Gegenstrebigkeit, denn nur aufgrund dieser sind sie in der Lage, Spannung aufzunehmen, zu halten und diese entweder als Vibration der Saiten oder als Bewegung des Pfeils umzusetzen. 2.1
Bogen
Die Bogensehne verbindet die beiden Arme des Bogens an deren äußersten Polen und bringt dadurch, dass sie diese einander annähert, die Spannung hervor, die im nicht gespannten Bogen potentiell liegt. Der eigentliche Bogen entsteht somit erst durch die Verbindung der äußersten Pole der gegenstrebigen Teile durch die Sehne. Dabei ist der Bogen in sich symmetrisch, wobei die Mitte der auseinanderstrebenden Teile den Wende- oder Umschlagspunkt bildet. Durch diesen Wendepunkt hindurch verläuft orthogonal zu der gegen91
MA, Bd. 1, S. 183; FHA, Bd. 3, S. 115; StA, Bd. 1,1, S. 210.
90
strebigen Fügung bzw. zur Sehne des Bogens die Achse, an der sich die gegenstrebigen Arme des Bogens ineinander spiegeln. Der Bogen bildet in seiner Gegenstrebigkeit eine geometrische Spiegel- bzw. Umschlagsfigur. Diese Symmetrie gilt für alle Zustände des Bogens, bei dem aber grundsätzlich drei zu unterscheiden sind. Erstens die gegenstrebige Fügung der beiden Arme des Bogens ohne Sehne, die lediglich eine mögliche Spannung durch die gegenstrebige Gefügtheit der beiden Arme besitzt. Zweitens der Bogen, in dem die beiden Pole der gegenstrebigen Arme durch die Sehne in eine Spannung und Gegenspannung versetzt sind. Und drittens der Bogen als gespannter, von dem der Pfeil abgeschossen wird. Die Gespanntheit des Bogens in dessen zweitem Zustand lässt sich nur vermittelt darüber erschließen, dass die Sehne in dem Bogen angebracht wird. Dafür ist Kraft erforderlich, da die Pole, somit die Extreme der latenten Spannung im Bogen, einander angenähert werden müssen. Diese Annäherung erfordert gerade deshalb Kraft, weil die Fügung der Arme – in Snells Übersetzung des Heraklitischen Fragments B 5192 – ›widerspännstig‹ ist, und allein aufgrund dieser inhärenten Gegenstrebigkeit ist der Bogen überhaupt in der Lage, als solcher zu fungieren. Scheint der Bogen in dem zweiten Zustand somit unbewegt und spannungslos in sich zu ruhen, so wird seine eigentliche Verfasstheit nur vermittelt über den Kraftaufwand beim Anbringen der Sehne erschließbar. In dieser Vermittlung zeigt er sich als in sich gespannte Fügung von Kraft und Gegenkraft in deren Gleichgewicht. Die in sich ›ruhende‹ Fügung des Bogens ist somit dynamisch, denn sie muss als die Bewegung des ständigen Ausgleichs von Kraft und Gegenkraft gedacht werden. Der Bogen als diese spannungsreiche Fügung ist nur ›vorstellbar‹ als in jedem Augenblick stattfindender Ausgleich einander entgegengesetzter Kräfte als Bewegungen in sich. Was somit als völlige Ruhe und ruhende Gefügtheit in sich erscheint, ist das höchst dynamische und in jedem Moment sich ereignende Geschehen des Widerstreits und Ausgleichs einander entgegengesetzter Kräfte. Das ruhende ›eine‹ des Bogens ist somit nichts als die ständige Dynamik entgegengesetzter Kräfte in dieser Fügung. Der Widerstreit und der Ausgleich der Kräfte untereinander sind somit das, woher der Bogen allererst möglich wird, und sie sind zugleich dasjenige, worin der Bogen selbst besteht. Ist der Bogen jedoch konstitutiv dieser Ausgleich, so ist er von sich selbst und von seinem Ermöglichungsgrund her in der ständigen Gefahr der Auflösung. Das Auseinanderstreben der Teile, worin der Bogen konstitutiv besteht, ist somit nichts anderes, als das Streben nach Auflösung seiner selbst, das jedoch in eins und zugleich damit das Zu- und Ineinanderstreben der Teile und somit das Streben nach Einigung in dem Sinne des ›einen‹ des Bogens sein muss. 92
Vgl. Heraklit: Fragmente. Griechisch und Deutsch. Hrsg. v. Bruno Snell. Lizenzausgabe. Darmstadt 1995.
91
Die Fügung des Bogens ist in sich paradox und stellt diese Paradoxie dar. Sie ist das Aus- und Ineinanderstreben seiner Teile, somit zugleich das Streben nach Auflösung und Einigung, und dieses ist darüber hinaus dasjenige, worin der Bogen besteht und was ihn überhaupt ermöglicht. Das ›eine‹ des Bogens ist das Auseinanderstreben seiner Teile, die Ruhe des Bogens ist Bewegtheit in sich. Die Bewegung im Bogen ist Auflösung und Einigung zugleich und ›in eins‹, wodurch und worin sie erst sie selbst ist und wird. Sie ist, in Replik auf das Gedicht ›An Diotima‹, ›liebender Streit‹. So zeigt sich die Verfasstheit des Bogens – abstrakt gesprochen und in dem ausgeführten Sinne – als Einheit der Einheit und der Differenz. Diese Verfasstheit ist, wie oben erwähnt, an ihr selbst nicht erkennbar, sondern nur vermittelt über Vorgänge, in denen der Bogen andere Zustände als diesen Grundzustand des Ausgleichs annimmt. Einer dieser Vorgänge stellt das Einfügen der Sehne in den Bogen dar, der andere das Abschießen des Pfeils. Gerade in dem letztgenannten Vorgang, in dem der eigentliche Zweck des Bogens besteht, wird deutlich, dass der in dem Gleichgewicht mit der Sehne ruhende Bogen sich in seiner eigentlichen Verfasstheit nur zeigen kann vermittelt über einen exzentrischen Zustand seiner selbst, in dem sein internes Gleichgewicht zeitweise aufgehoben wird. Dies geschieht dadurch, dass der Bogenschütze im Spannen des Bogens die beiden Pole der gegenstrebigen Fügung, die äußersten Enden der Arme, einander annähert, wodurch der Bogen aus seiner ursprünglichen Gestalt gebracht wird und in jedem Moment des Spannens in ein neues Gleichgewicht mit der – der Spannung des Bogens entgegengesetzten – Kraft des Bogenschützen gelangt. Bogenschütze und Bogen verhalten sich nun in der Weise zueinander, wie sich die Teile des Bogens untereinander verhalten haben, ohne dass sich in der neuen Fügung jedoch die Widerstrebigkeit des Bogens in sich aufheben würde. Vielmehr ist wiederum sie es, die das neue und umfassendere Gleichgewicht von Bogen und Bogenschützen allererst ermöglicht, so dass hier die Ineinanderstaffelung der Strukturen in sich deutlich wird. In dem Kraftaufwand, der für das Spannen des Bogens erforderlich ist, kann sich dem Schützen mittelbar die in sich widerstrebige, spannungsvolldynamische Fügung des ruhenden Bogens erschließen. Für den Außenstehenden ist dies vermittels der Bewegung des abgeschossenen Pfeils möglich. In beiden Fällen kann das Gleichgewicht in der Widerstrebigkeit, das der Bogen für sich ist, nur vermittels seiner Störung durch die Erweiterung der Fügung in der Integration eines anderen, des Bogenschützen, merklich werden. Nur vermittels dieses ›exzentrischen‹ Zustandes in der zeitweiligen Aufhebung des ursprünglichen Gleichgewichts in sich durch die Integration eines anderen kann der Bogen als Bogen fungieren. Dies zeigt unter anderem wiederum an, dass dieser in sich potentiell immer auch die Auflösung seines eigenen Gleichgewichts ist. Der Bogen bedarf dieser 92
Aufhebung seines ›An-und-für-sich-Seins‹, seines Gleichgewichts der in sich geschlossenen Fügung durch ein anderes, um er selbst sein und werden zu können, d. h. um als Bogen zu fungieren und sich in der Vermittlung zugleich in seiner Grundverfasstheit darzustellen. ›Selbst-Sein‹ bzw. ›-Werden‹ und SichDarstellen fällt in der Vermittlung in eins zusammen. Der Akt der (geistigen93) Vermittlung vollzieht sich dabei in einer der Fügung des Bogens analogen Struktur, und zwar in dem Zusammendenken der verschiedenen Zustände des Bogens in einen Zusammenhang, jedoch unter konstitutivem Bezug auf die Differenz der unterschiedlichen Zustände innerhalb der Zeit. Diese Vermittlungsstruktur zeigt sich als analog zu der Struktur des Erinnerns sowie der Darstellung überhaupt. Die Aufhebung der ursprünglichen Einheit des Bogens in eine umfassendere Einheit mit dem Bogenschützen hinein, worüber sich die Grundfügung des Bogens erschließen lässt, beruht jedoch selbst wiederum auf einem Gleichgewicht der Kräfte, somit auf dem Maß von Kraft und Gegenkraft, das sich in jedem Augenblick des Spannens des Bogens neu konstituiert. Der Gleichgewichtspunkt ist dabei sowohl ein jeweiliger als auch ein bestimmter, der einer unendlichen Vielzahl möglicher Weisen des Ungleichgewichts entgegensteht, so dass sich hier wiederum die Prekarität der Fügung in sich als auch die Schwierigkeit, das Maß zu treffen,94 zeigt. Die Aufhebung des Gleichgewichts, worüber sich mittelbar der ursprüngliche Ausgleich im Bogen zeigen kann, ist somit keine beliebige, sondern entsprechend dem Gleichgewichtspunkt, der genau einer – wenn auch ein jeweiliger und singulärer – ist, ebenfalls genau eine. Dieses ›neue‹ Gleichgewicht bestimmt sich somit einerseits aus dem umfassenderen Zusammenhang mit dem Bogenschützen heraus, andererseits ist es jedoch ein sich jeweilig und singulär bestimmendes. Das Spannen des Bogens ist dem entsprechend einerseits nur zu denken als der gegenseitige Ausgleich von Kraft und Gegenkraft in jedem Augenblick, andererseits lässt sich der Vorgang als Bewegung nur dadurch auffassen, dass in jedem Moment, in dem es zu diesem Ausgleich kommt, zugleich ein Ungleichgewicht zu Gunsten der Kraft des Bogenschützens angenommen wird. Der Vorgang des Spannens beruht somit konstitutiv auf dem in jedem Augenblick jeweilig sich bildenden Gleichgewicht der Kräfte als auch – in eins damit – auf dem ständigen Ungleichgewicht zugunsten der Kraft des Bogenschützens. 93 94
In Ableitung von dem ›Idealischen‹ bei Hölderlin (vgl. »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«). Vgl. auch Hölderlin: ›Der Einzige‹ in der ersten Fassung: »Nie treff ich, wie ich wünsche, / Das Maas. Ein Gott weiß aber / Wenn kommet, was ich wünsche das Beste« (St. 8, V. 8–10, MA, Bd. 1, S. 389f.; FHA, Bd. 8, S. 651; StA, Bd. 2,1, S. 155) sowie den Schluss einer zweiten Fassung: »Fein sehen die Menschen, daß sie / Nicht gehn den Weg des Todes und hüten das Maas, daß einer / Etwas für sich ist, den Augenblik / Das Geschik der großen Zeit auch / Ihr Feuer fürchtend, treffen sie […]« (St. 1, V. 2–6, MA, Bd. 1, S. 458; FHA, Bd. 8, S. 786; StA, St. 5, V. 2–6, Bd. 2,1, S. 155).
93
Der neue Ausgleich, den der Bogen und der Schütze in dem scheinbar unbewegten Moment des Zielens bilden, wird im gelungenen Fall dadurch aufgelöst, dass die Hand des Bogenschützens die gespannte Sehne und den Pfeil loslässt. Die sich entladende Spannung wird zum einen Teil von dem Pfeil als Bewegung aufgenommen, zum anderen Teil von dem Bogenschützen und dem Bogen als dessen Rückstoß. Das Loslassen der Sehne und des Pfeils bedeutet wiederum eine Aufhebung des ›neuen‹ Gleichgewichts, und vermittelt über dessen Folgen lassen sich wiederum Rückschlüsse auf die Verfasstheit des vorausgehenden Zustandes ziehen, der unmittelbar als in sich ruhendes ›eines‹ erscheint, sich vermittelterweise jedoch als konstitutiv auf dem ständigen Ausgleich auseinanderstrebender Kräfte beruhend erweist und sich somit als in sich gegenstrebig gegliedertes, dynamisch-spannungsvolles Ganzes darstellt. 2.2
Zu einer anderen Betrachtung von ›Kreis‹, ›Schönheit‹ und ›Harmonie‹
Ausgehend von dieser Bogenformation lassen sich für das griechische wie für Hölderlins Schönheitsverständnis bedeutende Rückschlüsse ziehen. Wird die Spannung im Bogen nämlich erhöht, so geschieht dies durch die Annäherung der beiden Pole der Entgegensetzung, d. h. der beiden äußersten Enden der Arme des Bogens. Werden diese – in Übertragung des mathematischen Phänomens – einander ›unendlich angenähert‹, so kommt die Bogenformation einem Kreis nahe. Dieser wird jedoch in der unendlich-kontinuierlichen Annäherung95 der Enden des Bogens niemals realisiert, sondern ist nur vermittels einer diskontinuierlichen Bewegung, eines ›Sprungs‹ möglich, in dem die beiden äußersten Pole der widerstrebigen Fügung in eins zusammenfallen, somit ihre Unterschiedenheit aufgehoben wird. Ein in sich differenzierteres, jedoch auf diese Bildlichkeit übertragbares Verhältnis der Gegensätze im Extrem findet sich in dem Abschnitt ›Grund zum Empedokles‹ im Kontext der theoretischen Erörterungen zu den Entwürfen des ›Empedokles‹-Dramas. In dem Extrem der Gegensätze scheint in diesem Kontext »die höchste Versöhnung wirklich«,96 indem der eine Pol des Gegensatzes den jeweils anderen in sich und aus sich selbst hervortreibt. Dieser Umschlag des 95
96
Die Differentialfunktion bezieht sich in der Mathematik auch auf das Verhältnis von Gerade und Hyperbel und auf die Wendepunkte von Funktionen. Diese Wendepunkte sind nur in unendlicher Annäherung, in der Differentialfunktion zu bestimmen. Hölderlin und die Frühromantiker gebrauchen nicht ohne Grund Metaphern aus der Mathematik, um poetologischphilosophische Phänomene zu artikulieren. Auch sind Mathematik und Philosophie in der griechischen Antike stärker verbunden, als das heute der Fall ist (vgl. die Vorsokratiker, v. a. Pythagoras, aber auch noch Platon und Aristoteles, dazu beispielsweise Oskar Becker: Das mathematische Denken in der Antike. 2., durchgesehene Auflage mit einem Nachtrag von G. Patzig. Göttingen 1966). MA, Bd. 1, S. 869; FHA, Bd. 13, S. 871; StA, Bd. 4,1, S. 154.
94
Extrems in den Anfang des Entgegengesetzten hinein wird als diskontinuierlich, als ›entsprungen‹ bezeichnet (vgl. entsprechend den dort relevanten Gegensätzen des ›Organischen‹ und ›Aorgischen‹ die »aorgischentsprungene Individualität« bzw. die »organischentsprungene Allgemeinheit«97). Diese Versöhnung ist jedoch nur scheinbar, da sie »ein Erzeugniß des höchsten Streites«98 darstellt. Übertragen auf die Verhältnisse der Phänomenalität des Bogens bedeutet dies, dass das Entspringen des anderen, des Kreises, aus dem Extrem des Bogens deren Differenz nicht grundsätzlich aufhebt, sondern der Kreis nur scheinbar als in sich spannungslos-versöhnter erscheint, in Wirklichkeit jedoch als Realisation des höchsten Widerstreits gedacht werden muss.99 Der Kreis zeigt sich somit – in Parallelität zur Erscheinungsweise des Bogens – unmittelbar lediglich scheinhaft als in sich ruhendes ›eines‹, in Bezug auf seinen weiteren Zusammenhang, als aus dem Extrem des Bogens entsprungener, jedoch als die Verwirklichung der Verfasstheit des Bogens in ihrem Extrem. Dabei verhält sich dieses Extrem von dem Bogen her betrachtet jedoch nicht kontinuierlich zu diesem, sondern der Zusammenhang des Bogens mit dem Kreis ›besteht‹ in einem ›Sprung‹, ist somit diskontinuierlich. Zugleich – und darin zeigt sich der Sprung als paradox verfasst – bedeutet er jedoch das Zusammenfallen zweier Punkte, der äußersten Pole der Arme des Bogens, in eins. Aus dieser Perspektive steigert sich die widerstrebige Verfasstheit des Bogens in eine Umschlagsbewegung, denn in dem Kreis muss die Spannung gerade darin als extrem angesehen werden, dass die Pole des Gegensatzes in eins zusammenfallen und sich als Pole somit aufheben. Das Extrem des Gegensatzes bedeutet somit sein Nicht-Bestehen. Zugleich zeigt sich der Kreis hierin als in sich Geteiltes, jedoch nicht nur – wie das bei der Grundfügung des Bogens der Fall ist – in die Zweiheit der Arme, sondern in die unendliche Vielzahl der Punkte, die ihn auch mathematisch ausmachen.100 Die Auflösung, die den Bogen in der Einheit und der Differenz mit der Einigung konstitutiv ausmacht, ist in dem Kreis – wie die Einigung auch – in ihr Extrem gesteigert und zugleich fallen beide in eins zusammen. Der Kreis muss als Formation somit 97 98 99
100
Ebd. Ebd. Die Kreissymbolik greift Hansjörg Bay gemäß der traditionellen Sichtweise auf (»Wenn es eine geometrische Figur gibt, die einzustehen scheint für die Idee eines Absoluten, dann ist es diejenige des Kreises« (»De revolutionibus. Bahnen und Bahnungen im Werk Hölderlins«. In: MLN 117/3 [2002], S. 599–633, hier S. 599), ohne sie in Verbindung mit dem Bogen zu sehen, was Bays Stoßrichtung jedoch entsprechen würde (vgl. v. a. S. 628–631). Ist der Punkt in der Mathematik – metaphorisch gesprochen – die unendlich kleine Einheit, die keine räumliche Ausdehnung hat, so ist er somit kein ›etwas‹ in einem Raum, sondern vielmehr Zeichen für die Möglichkeit von Räumlichkeit schlechthin. Spekulativ lässt sich mit dieser unendlichen Unterteilung des Kreises und dem Punkt als Zeichen für Räumlichkeit unter Umständen Hölderlins Bemerkung im Kontext der ›Anmerkungen zum Oedipus‹ in Verbindung bringen, wonach in »der äußersten Gränze des Leidens […] nichts mehr [bestehet], als die Bedingungen der Zeit oder des Raums« (MA, Bd. 2, S. 316; FHA, Bd. 16, S. 258; StA, Bd 5, S. 202).
95
nicht bloß als absolut ›eines‹ gelten, sondern – als Identisches – zugleich als ›absolut‹, unendlich Geteiltes. Die Kreisformation erscheint in diesem Kontext in jeder Hinsicht als das Extrem der Verfasstheit des Bogens und zugleich sind sie lediglich über die Diskontinuität des Sprunges ›vermittelt‹. Stellt der Kreis ein traditionelles Schönheitssymbol dar und wird dieses neuzeitlich aus dem Gegensatz zum Erhabenen in der Regel mit Glätte und Statik in Verbindung gebracht und in der Folge als ›Harmloses‹, ›Gezähmtes‹ betrachtet, so erweist sich dieses sowie das gesamte damit verbundene Assoziationsfeld der Ganzheit, Einheit, Harmonie, Vollkommenheit etc. aus dieser Perspektive als das Gegenteil, jedoch nicht in seiner bloßen ›Reinform‹, sondern als in sich – wie oben ausgeführt – Differenziertes von Einheit und Differenz. Schönheit und Harmonie repräsentieren im antik-griechischen Kontext wie bei Hölderlin gerade nicht das Unwiderständige und Gefällige, sie sind vielmehr das in sich in höchster Weise Gespannte und in sich Widerstrebende. Mythologisch erscheint die Harmonia als die Tochter der Aphrodite, der Göttin der Liebe101 sowie des Ares, des Kriegsgottes.102 Harmonie und Schönheit sind in der Begegnung mit dem Menschen dementsprechend das höchst Beglückende als auch das im höchsten Sinne Gefährliche.103 In beiden Fällen stellen sie das Einigend-Auflösende dar. So bedeutet der höchste Glückszustand in der Ekstase die Aufhebung der Einheit mit sich selbst in eine umfassendere Einheit mit dem Schönen hinein. Dieses Außer-sich-Sein kann in der höchsten Ausprägung der Ekstasis auch den Tod bedeuten. Bei jeder Begegnung mit dem Schönen ist dieses der Möglichkeit nach auch das Todbringende. Das in eine höhere Einheit Auflösende wird dann zum Auslöschenden, der Tod die Erscheinung der letzten und radikalsten Form der Ekstasis, der Auflösung der Einheit des Ich mit sich selbst.
101 102
103
Vgl. Artikel »Aphrodite«. In: Lexikon der Alten Welt. Unveränderter Nachdruck der einbändigen Originalausgabe von 1965. Zürich u. a. 1990, Bd. 1, Sp. 202. Vgl. Hesiod: Theogonie. Griechisch/Deutsch. Übers. und hrsg. v. Otto Schönberger. Stuttgart 1999, V. 933–37. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch Hölderlins Bemerkungen zur Auflösung einer (vaterländischen) Welt und deren Neuordnung (vgl. »Das untergehende Vaterland …«, MA, Bd. 2, S. 72–77; FHA, Bd. 14, S. 174–178; StA, Bd 4,1, S. 282–287 sowie den Schluss der ›Anmerkungen zum Oedipus‹, MA, Bd. 2, S. 316; FHA, Bd. 16, S. 258; StA, Bd. 5, S. 202 und der ›Anmerkungen zur Antigona‹, MA, Bd. 2, S. 374f.; FHA, Bd. 16, S. 418ff.; StA, Bd. 5, S. 270f.), die mit dem Krieg auch in dem weiteren Sinn des griechischen ›polemos‹ in Verbindung gebracht werden können. Vgl. Heraklit: Fragment B 51: »Sie verstehen nicht, wie das Unstimmige mit sich übereinstimmt: des Wider-Spännstigen Fügung [harmonia] wie bei Bogen und Leier« in Verbindung mit Fragment B 48: »Nun ist der Bogen [biós] dem Namen nach Leben [bíos], in der Tat aber Tod« (Heraklit: Fragmente. Griechisch und Deutsch. Hrsg. v. Bruno Snell. Darmstadt 1995, S. 19) und den von Hölderlin in »Wie wenn am Feiertage …« aufgenommenen Semele-Mythos, vgl. Pindar, 2. Olympische Ode, V. 27 (Siegeslieder. Griechisch – Deutsch. Hrsg., übers. und mit einer Einführung versehen von Dieter Bremer. München 1992).
96
Hier zeigt sich auch eine Parallele zwischen dem Schönen und dem Göttlichen im Blitz. Schönheit kann wie das Göttliche im antik-griechischen Kontext – und das nimmt Hölderlin auch in dieser Weise auf – hereinbrechen wie ein Blitz, der erleuchtet, der den unmittelbar Getroffenen jedoch zugleich zu Asche verbrennen lässt.104 2.3
Leier
Im Falle der Leier werden die gegenstrebigen Teile durch ein drittes, festes Stück zusammengehalten, das die beiden Enden der gegenstrebigen Teile verbindet, und zwar an einem Punkt, an dem die Spannung zwischen den beiden Teilen am größten ist. An diesem Steg werden die Saiten annähernd parallel zu den gegenstrebigen Armen der Lyra befestigt. Zwar wäre eine Lyra auch ohne Steg denkbar, doch war diese Form in der Antike nicht üblich, was praktische Gründe gehabt haben dürfte insofern, als die Saiten dann die gesamte Spannung in sich aufnehmen müssten und sie dadurch selbst an Spannung verlieren würden. Dies hätte aber eine Störung des gewünschten Gleichgewichts und somit eine Verstimmtheit der Lyra zur Folge, was der Prekarität des Gleichgewichts in dem Bogen entspricht, die oben herausgearbeitet wurde. Auch die Fügung der Lyra in sich, deren Benutzung sowie die Darstellung ihrer Fügung entspricht den in Bezug auf den Bogen herausgearbeiteten Verhältnissen. Eine Saite ist – ob mit oder ohne Steg – umso gebräuchlicher, je stärker sie in der Lage ist, zu schwingen, d. h. Spannung in sich aufzunehmen und auszutragen und sie somit als Ton zur Erscheinung zu bringen. Das ist jedoch nur dadurch möglich, dass die Lyra in ihrem Gefüge selbst mitschwingt, was wiederum dadurch ermöglicht wird, dass die Lyra in sich gegenstrebig gefügt ist. Das Tönen der Lyra ist nichts anderes als die Erscheinung der Spannungen innerhalb der gegenstrebigen Fügungen der Lyra in sich und der Saite. Die Spannungen und gegenstrebigen Kräfte bilden innerhalb der Lyra ein Gleichgewicht und zeigen sich deshalb nicht unmittelbar. Dennoch ist die Leier nur in diesem Gleichgewicht widerstreitender Kräfte. Ihre Verfasstheit wird lediglich deutlich, wenn auf ihr gespielt wird, und zwar indem eine Saite aus ihrer Grundposition heraus verzogen wird, sich somit die Spannung innerhalb der Gesamtfügung erhöht und die Lyra aus ihrem ursprünglichen Gleichge104
Vgl. den Semele-Mythos und Hölderlins Verarbeitung in dem Hymnen-Fragment »Wie wenn am Feiertage …«. Die todbringende Haltung Semeles im Streben nach dem Sehen des Gottes besteht darin, dass sie ihn in einer dem Menschen unmäßigen, ihn übersteigenden Weise, nämlich »sichtbar […] zu sehen begehrte« (St. 6, V. 6f., MA, Bd. 1, S. 263; FHA, Bd. 8, S. 558; StA, Bd. 2,1, S. 119). Diese zu starke – und in der Dopplung ›sichtbar zu sehen‹ angezeigte – unmittelbare Präsenz des Göttlichen, die hier als optische gesagt ist, führt in dem Übermaß des Feuers für den Menschen zu dessen Verbrennung. Das Wort ›begehrte‹ bzw. ›Begehren‹ ist zudem die gängige deutsche Übersetzung der Lateinischen ›Cupido‹, diese die Übersetzung des griechischen ›Eros‹.
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wicht heraus in ein umfassenderes mit dem Spielenden gebracht wird. Die Saite kann dabei nur deshalb schwingen, weil die Grundfügung der Leier in ihrer Gegenstrebigkeit in der Lage ist, der Krafteinwirkung des Spielers eine ihr entsprechende Kraft entgegenzusetzen. Wird diese Überspannung gelöst, indem die Saite losgelassen wird, so schwingen die gegenstrebigen Arme der Lyra und die Saite jeweils um ihren ursprünglichen Gleichgewichtspunkt und tragen somit die erhöhte Spannung in sich als Ton aus. Damit die Leier als solche fungieren und ihre Grundfügung als Gleichgewicht entgegengesetzter Kräfte erkennbar werden kann, muss dieses Gleichgewicht, entsprechend den Verhältnissen des Bogens, gestört werden, indem die Saite und mit ihr die Fügung der Leier aus ihrer ursprünglichen Mitte heraus verzogen werden. Auch geschieht die Darstellung somit nur mittelbar, indem die verschiedenen zeitlichen Zustände über die Erinnerung in einen Zusammenhang, in eins, gedacht und darin zugleich als differente festgehalten werden. Dass die Darstellung der Leier zur Darstellung wird, beruht somit auf einem geistigen Akt, der in seiner Struktur genau der Struktur der Leier entspricht: dem Zusammendenken des Differenten und dem gleichzeitigen Festhalten der Differenz, dem Einigen und Trennen in einem. Eine gestimmte Lyra zeichnet sich dadurch aus, dass die Grade der Spannung der einzelnen Saiten untereinander in einem bestimmten Verhältnis stehen. Eine isolierte Saite kann nicht gestimmt sein, ›Gestimmtheit‹ bezieht sich immer auf ein Verhältnis verschiedener Teile zueinander. Die Gestimmtheit eines Instruments leitet sich somit nicht in erster Linie von einem von außen gesetzten, absoluten Maß ab, sondern vielmehr von dem Verhältnis der einzelnen Töne untereinander. Auch das Hinzukommen weiterer Instrumente bricht mit dieser Struktur nicht. Es hat vielmehr eine Erweiterung der Grundverhältnisse zur Folge. So ist es durchaus möglich, Instrumente höher oder tiefer zu stimmen als es einem als verbindlich gesetzten Maß entspricht, ohne dass die Instrumente in sich und untereinander dadurch an Gestimmtheit verlieren würden. ›Gestimmtheit‹ besteht somit in einem ›harmonischen‹ Verhältnis der Töne zueinander. Aufgrund dieser Verhältnisse der Spannungen innerhalb der Leier ist das Instrument in der Lage, ›Harmonien‹ zu erzeugen. Das, was musikalisch jedoch unter ›Harmonie‹ verstanden wird, ist historisch und kulturell höchst wandelbar. Allen Harmonieauffassungen gemeinsam scheint jedoch der Umstand, dass ›Harmonie‹ in sich konstitutiv auch ›Disharmonie‹ umfassen muss. Beide sind somit keine absoluten und geschiedenen Begriffe oder Verhältnisse, vielmehr ist der Eindruck von Harmonie innerhalb einer bestimmten Konzeption immer nur aufgrund und durch die Brechung der Harmonien zu erreichen. Faktisch würde es ›disharmonisch‹ wirken, wenn Musik einem Konzept ›reiner‹ Harmonie entsprechen wollte. Harmonie ist nicht ›rein sie selbst‹, sondern sie ist Harmonie nur dadurch und darin, dass 98
sie konstitutiv auch ihre eigene Disharmonie ist, das heißt sie ist, entsprechend der Fügung der Leier, Harmonie der Harmonie und der Disharmonie. Die Leier ist somit in ihren verschiedenen Hinsichten und Bezügen jeweils von diesen in sich widerstrebigen Verhältnissen geprägt. Besteht sie selbst in dieser Fügung, so untersteht sowohl das von ihr Hervorgebrachte sowie die Möglichkeit dieses Hervorbringens als auch die Möglichkeit, sich in ihrer Verfasstheit darzustellen, dieser Struktur. Die verschiedenen Bezüge befinden sich somit untereinander wiederum genau in diesem Verhältnis, das sie selbst sind, so dass sie in sich gekehrt erscheinen und sich die Struktur als ›selbstreflexiv‹ erweist.
99
III. Tragische Schönheit?1 Verweise auf das Tragische
1.
Hölderlins ›Sophokles-Anmerkungen‹
Stellt die Verfasstheit des Bogens und der Leier die Grundstruktur des Romans ›Hyperion‹ dar und finden sich in diesem zahlreiche Verweise auf das Tragische, so zeigt sich bereits hier eine enge Verbindung der Struktur zum Tragischen an. Bereits das Motto des zweiten Bandes verweist als Zitat aus Sophokles’ ›Ödipus auf Kolonos‹ (»μη ϕυναι, τον απαντα νιϰᾳ λογον· το δ’ επει ϕανֽη βηναι ϰειθεν, οθεν πεϱ ηϰει, πολυ δευτεϱον ωϛ ταχιστα«,2 »Nicht geboren zu sein übertrifft alles, wenn aber schon erschienen, schnellstens dorthin zu gehen, woher einer auch immer gekommen sein mag, ist das zweitbeste«3) auf die Tragödie, wobei der Gedanke der Rückkehr, der hier angesprochen ist, sich bei Hölderlin als verschobene Rückkehr, als Rückkehr in der Differenz gestaltet. Dieser Weise der ›Rückkehr‹ gehorcht auch die Struktur der Erinnerung, die einerseits eine Rückwendung zur Vergangenheit darstellt – das Erinnerte ist nur dann Erinnertes, wenn es das Vergangene ›ist‹ – andererseits aber konstitutiv auf der Differenz zur Vergangenheit beruht. Erinnerung ist eine ›Rückkehr‹ in der Differenz, somit zugleich auch deren Negation und insofern eine ›tragische‹. Diese Verfasstheit der Erinnerung entspricht der Darstellungsstruktur des Romans und der Figur der Schönheit, dem ›Einen in sich selber unterschiednen‹. »Die Auflösung der Dissonanzen in einem gewissen Charakter«,4 die als Handlung des Romans in der Vorrede angegeben wird, widerspricht dem nicht, denn es ist gerade die Harmonie,5 also das, woraufhin sich die Dissonanzen auflösen, das dieser in sich widerstrebigen Struktur folgt (vgl. hierzu auch das Kapitel II) und strukturell der Schönheit entspricht. Der Exzentrizität des Zentralen und der Mitte, wie sie in verschiedenen Hinsichten herausgearbeitet wurde, findet ihre strukturelle Entsprechung in dem Grundgedanken der ›Anmerkungen zum Oedipus‹ und zur ›Antigonä‹.6
1 2 3 4 5 6
Vgl. Hölderlins Brief an Schiller in der ersten Septemberhälfte 1799, MA, Bd. 2, S. 819; FHA, Bd. 19, S. 417; StA, Bd. 6,1, S. 364. MA, Bd. 1, S. 696; FHA, Bd. 11, S. 694; StA, Bd. 3, S. 92. MA, Bd. 3, S. 322. MA, Bd. 1, S. 611; FHA, Bd. 11, S. 579; StA, Bd. 3, S. 5. Dieser ›Harmonie‹-Begriff wurde in Kapitel II.2.2 herausgearbeitet und entspricht nicht der gängigen Verwendung des Wortes. Auf die Affinität der ›Sophokles-Anmerkungen‹ zu ›Hyperion‹ weist in anderer Hinsicht auch
100
Darin finden sich außerdem wichtige Hinweise zu der Differenz der Darstellung in Dichtung und Philosophie. Die Philosophie behandelt »nur ein Vermögen der Seele«, »so daß die Darstellung dieses Einen Vermögens ein Ganzes macht, und das blose Zusammenhängen der Glieder dieses Einen Vermögens Logik genannt wird«.7 Die Philosophie wie ihre Darstellung ist somit von einer Homogenität des Ganzen geprägt insofern, als alle Teile einer philosophischen Abhandlung Erscheinungen und Darstellungen eines einzigen Vermögens des Menschen sind. Im Gegensatz dazu […] behandelt die Poësie die verschiedenen Vermögen des Menschen, so daß die Darstellung dieser verschiedenen Vermögen ein Ganzes macht, und das Zusammenhängen der selbstständigeren Theile der verschiedenen Vermögen der Rhythmus, im höhern Sinne, oder das kalkulable Gesez genannt werden kann.8
Ist Dichtung mit den verschiedenen Vermögen des Menschen verbunden, so wird sie in der Darstellung, die sie ist, in sich, in ihrem ›Kunstcharakter‹,9 disparater erscheinen. Die ›Ganzheit‹ und ›Einheit‹ der Dichtung ist somit stets die Verbindung von unaufhebbar Differentem, Auseinanderstrebendem, die ›Teile‹ sind ›selbständiger‹. Die Dichtung muss diese verschiedenen Vermögen im Wechsel durchgehen und darin ihren Zusammenhang dar- und herstellen. Dieser ›Wechsel‹ von Verschiedenem, von »Vorstellung, Empfindung und Räsonnement«,10 kann auch als ›Rhythmus‹ bezeichnet werden.11 In dieser rhythmischen Aufeinanderfolge der Vorstellungen stellt sich nach Hölderlin der »Transport«12 dar. Dieser ›Transport‹ – Griechisch ›Metapher‹ – ist mit dem theoretischen Entwurf »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« die Selbstreproduktion, die Selbstdarstellung des poetischen Geistes in der Dichtung. Der ›Grund‹ eines Gedichts ist dasjenige, wovon das Gedicht
7 8
9 10 11
12
Wolf Kittler hin (»Ödipus oder Ajax. Hyperions Weg von Korinth nach Salamis«. In: ›Hyperion‹ – terra incognita. Expeditionen in Hölderlins Roman. Hrsg. v. Hansjörg Bay. Opladen u. a. 1998, S. 210–234, hier S. 231). MA, Bd. 2, S. 369; FHA, Bd. 16, S. 411; StA, Bd. 5, S. 265; Sperrungen im Text erscheinen in Kursivschrift. Ebd. Zum ›Rhythmus‹ vgl. auch Christopher Fynsk: »Vom Rhythmus erfaßt«. In: Rhythmus. Spuren eines Wechselspiels in Künsten und Wissenschaften. Hrsg. v. Barbara Naumann. Würzburg 2005, S. 109–121. Vgl. Kapitel V. MA, Bd. 2, S. 310; FHA, Bd. 16, S. 250 (»Vorstellung und Empfindung und Räsonnement«); StA, Bd. 5, S. 196 (»Vorstellung und Empfindung und Räsonnement«). Peter Fenves (»Measure for Measure. Hölderlin and the place of philosophy«. In: The solid letter. Readings of Friedrich Hölderlin. Ed. by Aris Fioretos. Stanford/California 1999, S. 25–43) legt die gegenseitige Bezogenheit von Vorstellung und klanglicher Erscheinung der Sprache zugrunde, wenn er »the metric of a poem« (S. 32) als vom Rhythmus (nach Hölderlin der Vorstellungen) konstituiert sieht. MA, Bd. 2, S. 310; FHA, Bd. 16, S. 250; StA, Bd. 5, S. 196.
101
eine Metapher ist insofern, als dieser sich in dem Wechsel der Vorstellungen in dem Kunstwerk darstellt. Das ›Gesetz‹, nach dem dieser Wechsel, das heißt aber die Darstellung, geschieht, soll nach Hölderlins Forderung ›kalkulabel‹ sein. Der »gesezliche[…] Kalkul« ist neben »sonstiger Verfahrungsart« gemäß der ›Anmerkungen zum Oedipus‹ dasjenige, »wodurch das Schöne hervorgebracht wird«.13 Im Tragischen ist dieses Gesetz »mehr Gleichgewicht, als reine Aufeinanderfolge«.14 Ist »der tragische Transport«,15 die eigentliche Darstellung, der Übergang von dem ›Geist‹ in das ›Zeichen‹ (vgl. »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«) »eigentlich leer, und der ungebundenste«,16 so hat dies einen »reißenden Wechsel der Vorstellungen«17 auf seinem Höhepunkt, »seinem Summum«,18 zur Folge. Um den Zusammenhang der verschiedenen Vorstellungen im Wechsel dennoch zu bewahren, muss das Gleichgewicht, das der gesetzliche Kalkül im Tragischen ist, hergestellt werden durch eine »gegenrhythmische Unterbrechung«.19 Durch diese gegenläufige Zäsur wird der ›reißende Wechsel‹, die extreme Form von Bewegung, aufgehalten, so dass statt der Bewegung, dem »Wechsel der Vorstellungen« nun »die Vorstellung selber erscheint«.20 Erst durch diese Zäsur entsteht das Gleichgewicht in dem Wechsel. Es ergibt sich eine Zweiteilung des Rhythmus, in den Teil vor der ›gegenrhythmischen Unterbrechung‹ und in den Teil danach. Die beiden sind in ihrem Rhythmus verschieden, denn der Wechsel der Vorstellungen im Tragischen ist nicht ausgeglichen und gleichmäßig, da der tragische ›Transport‹ »eigentlich leer, und der ungebundenste«21 ist und somit ein ›Summum‹ des Wechsels der Vorstellungen zu verzeichnen ist. Ist der Rhythmus der Vorstellungen im Tragischen jedoch nicht ausgeglichen, so muss das Gleichgewicht durch eine Zäsur, eine gegenrhythmische Unterbrechung, hergestellt werden, und zwar dadurch, dass sie – je nachdem, wo sich das ›Summum‹ der Bewegung befindet – gegenüber dem Mittelpunkt verschoben ist.
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21
MA, Bd. 2, S. 309; FHA, Bd. 16, S. 249; StA, Bd. 5, S. 195. MA, Bd. 2, S. 310; FHA, Bd. 16, S. 250; StA, Bd. 5, S. 196. Ebd. Ebd. Dies hängt mit dem Wesen der Auflösung zusammen, die für das Tragische konstitutiv ist und als ›reales Nichts‹ erscheint. Darauf kommt die Behandlung des Fragments »Das untergehende Vaterland …« (vgl. Kapitel III.2) zurück. MA, Bd. 2, S. 310; FHA, Bd. 16, S. 250; StA, Bd. 5, S. 196. Ebd. Ebd. Ebd. Auf die Bedeutung der Zäsur kann in diesem Kontext nicht genauer eingegangen werden, vgl. aber als Zusammenfassung und Weiterführung der Diskussion Rodolphe Gasché: »Der unterbrechende Augenblick: Hölderlin über Zäsur, Zeit und Gefühl«. In: »Es bleibet aber eine Spur / Doch eines Wortes«. Zur späten Hymnik und Tragödientheorie Hölderlins. Hrsg. v. Christoph Jamme u. a. München 2004, S. 419–445. MA, Bd. 2, S. 310; FHA, Bd. 16, S. 250; StA, Bd. 5, S. 196.
102
Ist der Rhythmus in einem Teil schneller, so erscheint dieser Teil gewichtiger und hat eine größere Ausdehnung.22 Um den Ausgleich zwischen den Teilen herzustellen, muss die Zäsur auf der Seite des schwächer erscheinenden Teils liegen, und das Gleichgewicht, das in dieser Zäsur hergestellt wird, muss sich somit von der stärkeren zur schwächeren Seite hin neigen. Erst durch die Zäsur und die Richtung, in die sich das Gleichgewicht in dieser neigt, wird der Ausgleich der Gesamtfügung, des gesamten Wechsels in seinem Zusammenhang, der das tragische Kunstwerk ist, hergestellt. Die Zäsur, die qualitative ›Mitte‹, die quantitativ gegenüber der Mitte verschoben, somit ›exzentrisch‹ ist, kann dieses qualitative Zentrum nur sein, indem sich das Gleichgewicht in ihr auf eine Seite neigt. Der Ausgleich, der in dem tragischen Wechsel also gefunden wird, ist auf zweierlei Weise aus der Mitte verschoben, zum einen durch die Position der Zäsur, zum anderen dadurch, dass sich das ›Gleichgewicht‹ ›neigen‹ muss (vgl. auch die skizzenhaften Veranschaulichungen, die sich im Text finden23). Das Gleichgewicht im Tragischen besteht somit darin, dass zwei Weisen des Ungleichgewichts so gegeneinander gefügt sind, dass sie sich gegenseitig zum Ausgleich bringen. Genau diese Verhältnisse liegen in dem Roman ›Hyperion‹ auf verschiedenen Ebenen vor. Die Grundstruktur der tragischen Darstellung wird als Widerstreit von Gegensätzen beschrieben,24 die sich zwar ausgleichen und so eine Ganzheit bilden, doch besteht diese zugleich in nichts anderem als in dem Widerstreit von Kraft und Gegenkraft. Kann hier somit von ›Aufhebung‹ gesprochen werden, so doch nur in dem Sinne eines Gleichgewichts entgegengesetzter Kräfte und ›Bewegungen‹, in dem die Gegensätzlichkeit als solche jedoch nicht aufgehoben wird, denn in dieser Gegensätzlichkeit allein besteht die ›Einheit‹, die ›Struktur‹ der Darstellung. In der antiken Tragödie manifestiert sich dieses Verhältnis in dem »immer widerstreitende[n] Dialog« und dem »Chor als Gegensaz gegen diesen. […] Alles ist Rede gegen Rede, die sich gegenseitig aufhebt«.25
22 23 24
25
Vgl. MA, ebd.; FHA, Bd. 16, S. 250f.; StA, ebd. MA, Bd. 2, S. 369f.; FHA, Bd. 16, S. 411; StA, Bd. 5, S. 265. Auf diese »strikte Polarisierung« auch in der Personenkonstellation weist Bernhard Böschenstein hin (»›du scheinst ein rotes Wort zu färben?‹ Hölderlin als Übersetzer des Sophokles. Ein Berliner Vortrag«. In: »… auf klassischem Boden begeistert«. Antike-Rezeption in der deutschen Literatur. Festschrift für Jochen Schmidt zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Olaf Hildebrand u. a. Freiburg 2004, S. 265–281, hier S. 271). Vgl. auch ders.: »Gott und Mensch in den Chorliedern der Hölderlinschen ›Antigone‹. Eine Skizze«. In: Jenseits des Idealismus. Hrsg. v. Christoph Jamme u. a. Bonn 1988, S. 123–136; Klaus Düsing: »Die Theorie der Tragödie bei Hölderlin und Hegel«. In: Jenseits des Idealismus. Hrsg. v. Christoph Jamme u. a. Bonn 1988, S. 55–82; Gerhard Kurz: »Poetische Logik. Zu Hölderlins ›Anmerkungen‹ zu ›Ödipus‹ und ›Antigone‹«. In: Jenseits des Idealismus. Hrsg. v. Christoph Jamme u. a. Bonn 1988, S. 83–101, sowie Lawrence Ryan: »Hölderlins Antigone: ›wie es vom griechischen zum hesperischen gehet‹«. In: Jenseits des Idealismus. Hrsg. v. Christoph Jamme u. a. Bonn 1988, S. 103–121. MA, Bd. 2, S. 315; FHA, Bd. 16, S. 257; StA, Bd. 5, S. 201.
103
Dies ist deshalb der Fall, weil das Tragische eigentlich in der »gränzenlos[en]« Vereinigung des Gottes mit dem Menschen besteht und sich diese Vereinigung nur dadurch darstellen, ›begreifen‹26 lässt, dass »das gränzenlose Eineswerden durch gränzenloses Scheiden sich reinigt«.27 Diese Darstellung kann insofern als ›tragisch‹ begriffen werden, weil sich diese Vereinigung nur in ihrem Gegensatz, somit niemals ›rein‹ ›als sie selbst‹, darstellen kann. Zudem erscheint die grenzenlose Vereinigung auch deshalb tragisch, weil in dieser der Gott als Tod erscheint, d. h. den Menschen sich selbst entreißt.28 Dabei weicht die moderne, ›vaterländische‹ Darstellung des Tragischen von der antiken ab, jedoch lediglich in der Erscheinung des Todes, nicht in dessen Anwesenheit selbst.29 Die Struktur der Darstellung als Gegensätzlichkeit, die das Kunstwerk ist, manifestiert sich in dem Phänomen des Bogens und entspricht dem Verhältnis, das an ›Hyperion‹ als das ›Eine in sich selber unterschiedne‹ herausgearbeitet wurde.
2.
»Das untergehende Vaterland …« und »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …«
Insgesamt nimmt die tragische Dichtungsart bei Hölderlin eine Vorrangstellung ein.30 Auch das Aufsatzfragment »Das untergehende Vaterland …« behandelt die Auffassung eines tragischen Geschehens, die Auflösung der ›vaterländischen‹ Welt, durch den Dichter.31 Dabei geht es nicht im engeren Sinne um die konkrete dichterische Darstellung dieses Geschehnisses, als vielmehr um die
26 27 28 29
30
31
Vgl. ebd. Ebd. Vgl. MA, Bd. 2, S. 310f.; FHA, Bd. 16, S. 251; StA, Bd. 5, S. 197. Vgl. MA, Bd. 2, S. 373ff.; FHA, Bd. 16, S. 417ff.; StA, Bd. 5, S. 269ff. Auch Lawrence Ryan bemerkt: »[D]as erkennende Ergreifen der hesperischen Darstellungsformen und die Einsicht in die Verschiedenheit des Griechischen und des Hesperischen gehen bei Hölderlin miteinander überein, ja sie sind eigentlich komplementäre Aspekte eines einzigen dialektischen Gedankenkomplexes, über den er sich wohl kurz nach der Jahrhundertwende grundsätzlich klar wurde« (Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne. Stuttgart 1960, S. 345). Vgl. dazu und zum Charakter der Übersetzungen auch Aris Fioretos: »Color Read«. In: The solid letter. Readings of Friedrich Hölderlin. Ed. by Aris Fioretos. Stanford/California 1999, S. 268–287, sowie Wolfgang Binder: »Hölderlin und Sophokles«. In: Friedrich Hölderlin. Studien von Wolfgang Binder. Hrsg. v. Elisabeth Binder u. a. Frankfurt/Main 1987, S. 178–200, besonders S. 185, und ders.: Hölderlin und Sophokles. Eine Vorlesung gehalten im Sommersemester 1984 an der Universität Zürich. Hrsg. v. Uvo Hölscher. Tübingen. Turmvorträge 1992. Vgl. dazu auch Hölderlins Brief an Schiller in der ersten Septemberhälfte 1799: »Ich glaubte jenen Ton, den ich mir vorzüglich zu eigen zu machen wünschte, am vollständigsten und natürlichsten in der tragischen Form exequiren zu können, und habe mich an ein Trauerspiel, den Tod des Empedokles, gewagt«. So erkenne Hölderlin die »tragische Schönheit etwas gründlicher« (MA, Bd. 2, S. 819; FHA, Bd. 19, S. 417; StA, Bd. 6,1, S. 364). Vgl. auch Kapitel III.4. Vgl. auch den expliziten Bezug auf das Tragische in der Bemerkung »das durchaus originelle jeder ächttragischen Sprache, das immerwährendschöpfrische« (MA, Bd. 2, S. 73; FHA, Bd. 14, S. 174; StA, Bd. 4,1, S. 283).
104
›Übersetzung‹ des realen Geschehens der Auflösung in ein Idealisches in der Erinnerung. In dem hier behandelten Kontext ist dieser Vorgang jedoch deshalb interessant, weil es sich bei der Auflösung der ›vaterländischen Welt‹ um ein Darstellungsverhältnis handelt, das dem der Sprache analog ist: […] die Welt aller Welten, das Alles in Allen, welches immer ist und aus dessen Seyn alles angesehen werden muß, stellt sich nur in aller Zeit – oder im Untergange oder im Moment, oder genetischer im werden des Moments und Anfang von Zeit und Welt dar, und dieser Untergang und Anfang ist wie die Sprache, Ausdruk Zeichen Darstellung eines lebendigen aber besondern Ganzen, welches eben wieder in seinen Wirkungen dazu wird […].32
Ist dieses ›Sein‹ nicht als solches zu begreifen und stellt es sich nur »im Untergange oder im Moment, oder genetischer im werden des Moments und Anfang von Zeit und Welt dar«, so kann der Übergang, der in dem Untergang einer vaterländischen Welt und in dem zugleich erfolgenden Entstehen einer neuen Welt besteht, zum Zeichen für dieses Sein werden. Die Auflösung an sich, also ohne Bezug auf sein konstitutiv in die Wechselwirkung gehöriges anderes, die Entstehung, »scheint« dabei »ein bestehendes wirkliches, reales Nichts«33 zu sein. Sie kann in dem, was sie ist, als Auflösung, nur von dem anderen ihrer selbst, dem mit ihr verbundenen Entstehen begriffen werden: »das Begreiffen, Beleben, nicht des unbegreifbar, unseelig gewordenen, sondern des unbegreifbaren, des Unseeligen der Auflösung, und des Streites des Todes selbst, durch das Harmonische, Begreifliche Lebendige«.34
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34
MA, Bd. 2, S. 72; FHA, ebd. (»die Welt aller Welten, welche immer ist und seyn muß, deren Seyn als das Alles in Allen angesehen werden muß, stellt sich nur in aller Zeit […]«). Die Abweichung in der FHA ist zwar in Bezug auf das Verhältnis von ›Welt‹, ›Alles‹ und ›Seyn‹ sinnverändernd, jedoch nicht in Hinsicht auf die Darstellungsproblematik und die Parallelität zur Sprache; StA, Bd. 4,1, S. 282. Johann Kreuzer (Erinnerung. Zum Zusammenhang von Hölderlins theoretischen Fragmenten »Das untergehende Vaterland …« und »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«. Königstein/Ts. 1985) betont den geschichtlichen und a-teleologischen Charakter dieses ›Seins‹, indem er es mit seiner geschichtlichen Darstellung engführt: »Wie sich die ›Welt aller Welten‹ in geschichtlichem Übergang darstellt, ist ihre Wirklichkeit und ihr geschichtliches ›Sein‹« (S. 47). Auch Christophe Fricker (»Laub – Erinnerung – Geduld. Geschichtliches Denken bei George und Hölderlin«. In: Castrum Peregrini 266/267 [54. Jahrgang 2005], S. 97–106) fasst den »Seinsbegriff« als »prozeßhaft« (S. 103). MA, Bd. 2, S. 73; FHA, Bd. 14, S. 175 (»ein Bestehendes […], reales Nichts«); StA, Bd. 4,1, S. 283 (»ein Bestehendes selber wirklicher scheint und reales«). Die Abweichung der Lesetexte in Bezug auf das ›Nichts‹ spiegelt eine editorische Grunddifferenz zwischen FHA und StA wider, tangiert in dem gegebenen Kontext die Erörterungen jedoch nicht wesentlich. Dasselbe gilt für den Komparativ »wirklicher«. MA, Bd. 2, S. 73; FHA, Bd. 14, S. 174f. (»das Begreiffen, Beleben nicht des unbegreifbar, […]«); StA, Bd. 4,1, S. 283.
105
In diesem Übergang von den ›alten‹ zu den ›neuen‹ Verhältnissen schlägt der jeweilige Modus um. Ist die ›alte Welt‹ zunächst wirklich und die ›neue‹ möglich, so verkehrt sich dieses Verhältnis im Übergang: Das neue Leben ist jezt wirklich, das sich auflösen sollte, und aufgelöst hat, möglich, ideal [da in der Erinnerung, M. H.] alt, die Auflösung [in der Erinnerung, M. H.] nothwendig und trägt ihren eigentümlichen Karakter zwischen Seyn und Nichtseyn. Im Zustande zwischen Seyn und Nichtseyn wird aber überall das Mögliche real, und das wirkliche ideal, und diß ist in der freien Kunstnachahmung ein furchtbarer aber göttlicher Traum.35
Die Auflösung kann sich als das, was sie ist, nur darstellen in der und durch die Erinnerung, denn nur in dieser zeigt sie sich als »reproductive[r] Act […] wodurch das Leben alle seine Puncte durchläuft, und um die ganze Summe zu gewinnen, auf keinem verweilt, auf jedem sich auflöst, um in dem nächsten sich herzustellen«.36 Nur in der Erinnerung, die in dem neuen Leben stattfindet, erscheint die Auflösung als notwendig, als ein »Weg, der zurückgelegt werden mußte«.37 So ist die Auflösung in der Erinnerung, die Hölderlin »idealische Auflösung«38 nennt, »furchtlos«, denn »Anfangs- und Endpunkt ist schon gesezt, gefunden, gesichert, deswegen ist diese Auflösung auch sicherer, unaufhaltsamer, kühner«39 und – wie oben schon gezeigt – »sie [die Erinnerung, M. H.] stellt sie [die Auflösung, M. H.] hiemit, als das was sie eigentlich ist, als reproductiven Act, dar […]«.40 Nur aufgrund verschiedener Prozesse des Erinnerns geht »der eigentlich neue Zustand der nächste Schritt, der dem Vergangenen folgen soll hervor«.41 Erinnerung gehört somit konstitutiv zu dem Prozess des Hervorgehens insofern, als erst aufgrund und in der Erinnerung die Neuentstehung einsetzt. Sie zeigt sich hier als produktiver Akt, jedoch nicht in dem Sinne einer freien Setzung, sondern im Zusammenhang und Wechselspiel mit dem Erinnerten als der realen Auflösung. Die folgenden Ausführungen über die Differenz von wirklicher und idealischer Auflösung42 dienen dazu, diese Produktivität der idealischen Erinnerung, und das heißt, das Neuentstehen aus der Auflösung in einem geistigen Akt zu verdeutlichen. Der Kernpunkt der Darlegungen zur Differenz von wirklicher und idealischer Auflösung besteht darin, dass in der letzten
35 36 37 38 39 40 41 42
MA, ebd.; FHA, Bd. 14, S. 175; StA, ebd. (»[…] aufgelöst hat, möglich [ideal alt], […]«). MA, Bd. 2, S. 74; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 284. MA, Bd. 2, S. 73; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 283. MA, Bd. 2, S. 74; FHA, ebd.; StA, ebd. MA, ebd.; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 283f. MA, ebd.; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 284. Ebd. MA, Bd. 2, S. 74–76; FHA, Bd. 14, S. 175–177; StA, Bd. 4,1, S. 283–286.
106
[…] die Auflösung des Idealindividuellen nicht als Schwächung und Tod, sondern auf [sic!] Aufleben als Wachstum, die Auflösung des Unendlichneuen nicht als vernichtende Gewalt, sondern als Liebe und beedes zusammen als ein (transcendentaler) schöpferischer Act erscheint, dessen Wesen es ist, idealindividuelles und realunendliches zu vereinen […].43
Das »Product« dieses transzendentalen schöpferischen Aktes ist […] das mit idealindividuellem vereinigte realunendliche […], wo dann das Unendlichreale die Gestalt des individuellidealen, und dieses das Leben des Unendlichrealen annimmt, und beede sich in einem mythischen Zustande vereinigen, wo mit dem Gegensaze des Unendlichrealen und endlichidealen, auch der Übergang aufhört […].44
Dieser Zustand ist nicht tragisch, sondern vielmehr die beiden Zustände, mit denen er nicht verwechselt werden soll. Als ›tragisch‹ wird ein Zustand bestimmt, in dem die Teile »harmonisch entgegengesezt Eines«45 sind, und zwar bezogen auf »Geist und Zeichen«, die sich während des Übergangs in diesem Verhältnis befinden, d. h. »wie beseelte Organe mit organischer Seele, harmonisch entgegengesezt Eines«46 sind. Dieser als tragisch aufgefassten Relation entspricht die in sich kehrige Struktur, die das Motto des ›Hyperion‹ – »Non coerceri maximo, contineri minimo, divinum est«47 – darstellt und die dem ›Einen in sich selber unterschiednen‹ entspricht.48 So erscheint ›Hyperion‹ als ›tragisches Gedicht‹, dessen Grund gemäß dem Fragment »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« »Eine intellectuale Anschauung« sein muss, »welche keine andere seyn kann, als jene Einigkeit mit allem, was lebt«.49 ›Das Gedicht‹ stellt sich somit als die Metapher dieser intellektualen Anschauung dar. Es ist seinem Grundton, d. h. aber seiner Bedeutung nach (vgl. dazu auch Kapitel IV) idealisch, denn die intellektuale Anschauung als »jene Einigkeit mit allem was lebt«50 kann »zwar von dem beschränkteren Gemüthe nicht gefühlt, […] in seinen höchsten Bestrebungen nur geahndet, aber vom Geiste erkannt werden«.51 Seinem »äußeren
43 44 45 46 47 48
49 50 51
MA, Bd. 2, S. 76; FHA, Bd. 14, S. 177 (»[…] sondern als Aufleben […]«); StA, Bd. 4,1, S. 286. Ebd. Ebd. Ebd. MA, Bd. 1, S. 610; FHA, Bd. 11, S. 578; StA, Bd. 3, S. 4. Mischa von Perger (»›Tragische Vereinigung‹. Zu Hölderlins geschichtsphilosophischem Entwurf ›Das untergehende Vaterland […]‹«. In: Pensées de l’»Un« dans l’histoire de la philosophie. Études en hommage au professeur Werner Beierwaltes. Éd. par Jean-Marc Narbonne u. a. Paris 2004, S. 403–442) sieht das ›tragische Verhältnis‹ gerade auch darin, dass »die Vereinigung gegen die genaue Gegenstrebigkeit der Momente erzielt werden muß« (S. 419). MA, Bd. 2, S. 104; FHA, Bd. 14, S. 370; StA, Bd. 4,1, S. 267. Ebd. MA, ebd.; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 268.
107
Scheine«52 nach ist es ›heroisch‹. Die Grundstimmung, der Grundton, des tragischen Gedichts ist somit idealisch, seine Darstellung, sein ›Kunstcharakter‹, sein metaphorischer Ton jedoch heroisch.
3.
»Die Bedeutung der Tragödien …«
Die Bedeutung eines Gedichts liegt nach dem Aufsatz »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« »[z]wischen dem Ausdruke (der Darstellung) und der freien idealischen Behandlung«, sie ist das »geistigsinnliche, das formalmaterielle, des Gedichts« und »zeichnet sich aus dadurch, daß sie sich selber überall entgegengesezt ist«.53 Diese Bedeutung ist bei Tragödien nach der kurzen Abhandlung »Die Bedeutung der Tragödien …« »am leichtesten aus dem Paradoxon zu begreifen«.54 Das »Ursprüngliche«, von dem hier die Rede ist, wird auch als »der verborgene Grund jeder Natur«55 bezeichnet. ›Natur‹ scheint in diesem Kontext in Wechselwirkung auf den ›Geist‹ des Dichters bezogen. Beide, ›Natur‹ und der Dichter, kommen vermittels dieses Prozesses ›zu sich‹ und die ›Stimmung‹ des Dichters, die den poetischen Prozess begleitet, bildet den ›Grund‹ des Gedichts. Das Gedicht muss somit diesen Grund darstellen, eine ›Metapher‹ seines Grundes sein (vgl. Kapitel IV). Die Frage ist nun, wie sich dieser Grund, dieses Ursprüngliche, im tragischen Gedicht darstellen kann, wie sich also die Bedeutung, die »[z]wischen dem Ausdruke (der Darstellung) und der freien idealischen Behandlung«56 liegt, gestaltet. Sie ist bei Tragödien deshalb »am leichtesten aus dem Paradoxon zu begreifen«,57 weil »[d]er tragische Transport […] eigentlich leer«58 ist, so dass »[i]m Tragischen […] das Zeichen an sich selbst unbedeutend, wirkungslos«59 ist. Liegt die Bedeutung eines Gedichts »[z]wischen dem Ausdruke (der Darstellung) und der freien idealischen Behandlung«, ist sie das »geistigsinnliche, das formalmaterielle, des Gedichts«60 und ist im Tragischen das Zeichen, worin es sich darstellt, »an sich selbst unbedeutend, wirkungslos«,61 so muss sich in dieser Konstellation folglich der Grund, das »Ursprüngliche«, als er selbst darstellen.62
52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62
MA, ebd.; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 267. MA, Bd. 2, S. 81f.; FHA, Bd. 14, S. 306f.; StA, Bd. 4,1, S. 245f. MA, Bd. 2, S. 114; FHA, Bd. 14, S. 383; StA, Bd. 4,1, S. 274. Ebd. MA, Bd. 2, S. 81.; FHA, Bd. 14, S. 306; StA, Bd. 4,1, S. 245. MA, Bd. 2, S. 114; FHA, Bd. 14, S. 383; StA, Bd. 4,1, S. 274. ›Anmerkungen zum Oedipus‹, MA, Bd. 2, S. 310; FHA, Bd. 16, S. 250; StA, Bd. 5, S. 196. MA, Bd. 2, S. 114; FHA, Bd. 14, S. 383; StA, Bd. 4,1, S. 274. MA, Bd. 2, S. 81; FHA, Bd. 14, S. 306; StA, Bd. 4,1, S. 245. MA, Bd. 2, S. 114; FHA, Bd. 14, S. 383; StA, Bd. 4,1, S. 274. Es scheint verkürzt, die »Dialektik« auf das Verhältnis von Natur und Kunst zu beziehen und
108
Das ist deshalb im strengen Sinne paradox, weil die Bedeutung der Tragödien somit nicht nur – wie bei allen Dichtarten – »sich selber überall entgegengesezt ist«,63 sondern weil das ›Ursprüngliche‹, der Grund des Gedichts, von dem es eine Metapher ist, deshalb zum Vorschein kommt, weil das Zeichen, in dem es sich darstellt, »an sich selbst unbedeutend, wirkungslos«, »=0«64 ist. Die Bedeutung eines Gedichts ist in sich somit immer gegenstrebig. In der Tragödie ist diese Widerstrebigkeit jedoch in das Paradoxon gesteigert, und zwar dadurch, dass sich die eine Seite, die der Darstellung, das Zeichen, an sich zum Verschwinden bringt und somit das ›Ursprüngliche‹, der Grund, der sich darstellen soll, zum Vorschein kommt. Das ist von der gegenstrebigen Fügung von Grund und Zeichen her betrachtet einsichtig – und das Tragische führt diese Widerstrebigkeit insofern in ein Extrem, als das eine der widerstrebigen Teile (das Zeichen) verschwindet, »=0«65 wird. Das paradoxe Verhältnis, das sich im Tragischen zeigt, ist somit eine Verschiebung der Gegenstrebigkeit von Grund und Darstellung in ein Extrem. Auch ›an sich‹ betrachtet stellt dies ein Paradoxon dar, nämlich dasjenige, dass sich in einem Zeichen, das als solches bedeutungslos ist, ein anderes, das ›Ursprüngliche‹, der Grund, als sich selbst darstellt. Nur in einem an sich bedeutungslosen Zeichen kann sich das Ursprüngliche als es selbst darstellen. Hier wird deutlich, dass dieses ›Zeichen‹ nichts anderes als die ›Zäsur‹, der Umschlagspunkt, ›sein‹ kann.
63 64
65
das »Zeichen« mit dem »Held[en]« zu identifizieren (Peter Szondi: »Die Bedeutung der Tragödien. Text und Kommentar«. In: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis. Frankfurt/Main 1970, S. 170–172, hier S. 171). Das Zeichen ist nach Szondi deshalb ›unbedeutend‹ und ›wirkungslos‹, weil »er [der Held] gegen die Naturmacht nichts auszurichten vermag und von ihr vernichtet wird«, so dass der »Untergang des tragischen Helden« gleichbedeutend mit dem »Zeichen = 0« erscheint (ebd.). Vgl. zu diesem Verhältnis auch Anja Lemke: »›Nichts als Zeit‹ – Zum Verhältnis von Sprache, Gott und Geschichte in Hölderlins Tragödienkonzeption«. In: »Es bleibet aber eine Spur / Doch eines Wortes«. Zur späten Hymnik und Tragödientheorie Hölderlins. Hrsg. v. Christoph Jamme u. a. München 2004, S. 401–418, sowie Sibylle Peters und Martin J. Schäfer: »Selbstopfer und Repräsentation. ›Der Tod des Empedokles‹ und der Tod des Empedokles«. In: HJb 33 (1996/97), S. 282–307. MA, Bd. 2, S. 82; FHA, Bd. 14, S. 307; StA, Bd. 4,1, S. 245f. MA, Bd. 2, S. 114; FHA, Bd. 14, S. 383; StA, Bd. 4,1, S. 274. Ulrich Gaier (»Hölderlins vaterländische Sangart«. In: HJb 25 [1986/87], S. 12–59) sieht eine Weiterentwicklung dieses Gedankens darin, dass »die z. B. semantisch verdichteten Sprachzeichen [Aussparung, Ellipse, Aposiopese, der gedankliche Hiat zwischen direkt entgegengesetzten Elementen] sich nicht etwa = 0 setzen, daß aber zwischen ihnen durch Entgegensetzung, Paradoxie, scheinbares Nichtzusammengehören Lücken der Bedeutung entstehen, die der Leser durch eigenes Erfassen des Geistes ausfüllen muß, so daß der gemeinsame Geist nicht ausgesprochen und sprachlich fixiert ist, sondern durch die Füllung der Lücke lebendig werden muß« (S. 55). MA, Bd. 2, S. 114; FHA, Bd. 14, S. 383; StA, Bd. 4,1, S. 274.
109
4.
»Die tragische Ode …«
Dieser Auffassung entsprechen auch die Ausführungen in »Die tragische Ode …«.66 Das ›Reine‹ stellt sich in ihr dadurch dar, dass sie den »Zwist« »fingiert«, der durch ein »Übermaas der Innigkeit«67 entstanden ist. Was in der Abhandlung »Die tragische Ode …« unter ›Allgemeiner Grund‹ angegeben ist, bezieht sich auf die tragische Dichtung im Allgemeinen, während der folgende Abschnitt, ›Grund zum Empedokles‹, auf Hölderlins ›Empedokles‹Versuche Bezug nimmt. In dem Teil ›Allgemeiner Grund‹ kommt das Verhältnis der ursprünglichen Empfindung des Dichters zu ihrer Darstellung im Gedicht ungewöhnlich klar zum Ausdruck. 4.1
›Allgemeiner Grund‹
Im »tragischdramatischen Gedichte« bzw. im ›tragischen Gedicht‹, d. h. in der Tragödie (vgl. die Ausführungen in Kapitel V) ›drückt sich‹ »die tiefste Innigkeit«68 aus. Das ist – ohne dass es an dieser Stelle erläutert wird – deshalb der Fall, weil das tragische Gedicht gemäß »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« die Metapher einer ›intellektualen Anschauung‹69 darstellt, diese Empfindung somit den Grund des tragischen Gedichts bildet. Diese ›tiefste Innigkeit‹ kann sich nur in ihrem Gegenteil, in Unterscheidungen und Gegensätzen ausdrücken. Ist das auch bei der ›tragischen Ode‹, d. h. dem tragisch-lyrischen Gedicht der Fall, indem sie »das Innige […] in den positivsten Unterscheidungen […], in wirklichen Gegensäzen«70 darstellt, so besteht der Unterschied zum ›tragischdramatischen‹ bzw. ›tragischen Gedicht‹ darin, dass in der ›tragischen Ode‹ die Gegensätze bloß formaler Art sind und sich in ihnen die Empfindung der Innigkeit unmittelbar ausspricht.71
66
67 68 69 70 71
Die Entwürfe zu dem ›Empedokles‹-Drama selbst werden hier nicht betrachtet, aber vgl. beispielsweise Theresia Birkenhauer: »›Natur‹ in Hölderlins Trauerspiel ›Der Tod des Empedokles‹«. In: Friedrich Hölderlin. Neue Wege der Forschung. Hrsg. v. Thomas Roberg. Darmstadt 2003, S. 253–273, sowie Bernhard Böschenstein: »Hölderlins ›Tod des Empedokles‹«. In: Das neuzeitliche Ich in der Literatur des 18. und 20. Jahrhunderts. Zur Dialektik der Moderne. Ein internationales Symposion. Hrsg. v. Ulrich Fülleborn u. a. München 1988, S. 219–229. Für die Zusammensicht des ›Grund zum Empedokles‹ mit den dramatischen Entwürfen vgl. Theresia Birkenhauer: Legende und Dichtung. Der Tod des Philosophen und Hölderlins Empedokles. Berlin 1996, S. 449–483, Jürgen Söring: Die Dialektik der Rechtfertigung. Überlegungen zu Hölderlins Empedokles-Projekt. Frankfurt/Main 1973, sowie Stanley Corngold: »Disowning Contingencies in Hölderlin’s ›Empedocles‹«. In: The solid letter. Readings of Friedrich Hölderlin. Ed. by Aris Fioretos. Stanford/California 1999, S. 215–236. MA, Bd. 1, S. 865; FHA, Bd. 13, S. 868; StA, Bd. 4,1, S. 149. MA, Bd. 1, S. 866; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 150. Vgl. MA, Bd. 2, S. 104; FHA, Bd. 14, S. 370; StA, Bd. 4,1, S. 267. MA, Bd. 1, S. 866; FHA, Bd. 13, S. 868; StA, Bd. 4,1, S. 150. Vgl. MA, ebd.; FHA, Bd. 13, S. 868f.; StA, ebd.
110
Das ›tragische Gedicht‹ ist demgegenüber in der Lage, eine gesteigerte, »eine tiefere Innigkeit, ein unendlicheres Göttliches«72 dadurch darzustellen, dass es mit »stärkeren Unterscheidungen«73 arbeitet, d. h. seinen Grund in der Darstellung in höherem Maße »verhüllt«,74 so dass sich die zugrunde liegende Empfindung in dem ›tragischen Gedicht‹ vermittelter ausdrückt. Je größer somit die Innigkeit, die Einheit in der Empfindung ist, die dem Gedicht zugrunde liegt, desto mittelbarer, d. h. in desto stärkeren Gegensätzen und Unterscheidungen muss sie sich in dem Gedicht darstellen. Derselbe Gedanke wird im Folgenden genauer gefasst. Ziel der dichterischen Darstellung ist es, dass »das Göttliche […], das der Dichter in seiner Welt empfindet und erfährt«, das »Lebendige[…], das ihm in seinem Leben gegenwärtig ist und war«,75 sich im Gedicht ›ausspricht‹, um dadurch die »Empfindung in ihrer Gänze vestzuhalten«.76 Das ist aber nur dadurch möglich, dass das Gedicht seinen Grund, diese Empfindung der Innigkeit, umso stärker verleugnet, je ausgeprägter, »je unendlicher, je unaussprechlicher, je näher dem nefas die Innigkeit ist«.77 Je ausgeprägter somit die Empfindung der Innigkeit ist, desto weniger unmittelbar kann sie ausgesprochen und dargestellt werden. Die Mittelbarkeit der Darstellung in dem tragisch-dramatischen Gedicht erhöht sich gegenüber dem tragisch-lyrischen dadurch, dass jenes das Gegenteil der Innigkeit, d. h. die Unterscheidung und die Gegensätze, nicht nur formal verwirklicht – wie das in der tragischen Ode der Fall ist –, sondern auch im Stoff. Um also die Empfindung der höchsten Innigkeit darzustellen – und das ist die Innigkeit in der größten Annäherung an das ›nefas‹ – muss das Gedicht diese Empfindung, seinen Grund, »so wohl der Form als dem Stoffe nach verläugnen, der Stoff muß ein kühneres fremderes Gleichniß und Beispiel von ihr [der Empfindung] seyn, die Form muß mehr den Karakter der Entgegensezung und Trennung tragen«.78 72 73 74 75 76
77
78
MA, ebd.; FHA, Bd. 13, S. 868; StA, ebd. Ebd. Ebd. MA, ebd.; FHA, Bd. 13, S. 869; StA, ebd. Ebd. An späterer Stelle wird der dichterische Vorgang auch derart beschrieben, dass der Dichter einen (fremden) Stoff wählt, um »seine Totalempfindung in ihn [den Stoff] hineinzutragen, und in ihm, wie in einem Gefäße, zu bewahren« (MA, Bd. 1, S. 867; FHA, Bd. 13, S. 869; StA, Bd. 4,1, S. 151). MA, Bd. 1, S. 866; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 150. Die Empfindung der höchsten Innigkeit würde die höchste Annäherung des Menschen an das Göttliche oder gar die Vereinigung bedeuten. Das aber wäre im griechischen Sinne ›hybris‹, im lateinischen ›nefas‹. Auch muss der Mensch, um den Andrang des Göttlichen zu bestehen und ihm entsprechen zu können, diesem kontradiktorisch begegnen: »Es ist ein großer Behelf der geheimarbeitenden Seele, daß sie auf dem höchsten Bewußtseyn dem Bewußtseyn ausweicht, und ehe sie wirklich der gegenwärtige Gott ergreift, mit kühnem oft sogar blasphemischem Worte diesem begegnet und so die heilige lebende Möglichkeit des Geistes erhält« (›Anmerkungen zur Antigonä‹, MA, Bd. 2, S. 371; FHA, Bd. 16, S. 414f; StA, Bd. 5, S. 267). MA, Bd. 1, S. 866; FHA, Bd. 13, S. 869; StA, Bd. 4,1, S. 150. Ernst Mögel (Natur als Revo-
111
4.2
›Grund zum Empedokles‹
Ist der Beginn des Abschnitts ›Grund zum Empedokles‹ schon einleitend auf das ›Empedokles‹-Drama bezogen, so zeigen sich doch an dem Beispiel des Verhältnisses von Natur und Kunst aufschlussreiche Strukturen und Prozesse zwischen Gegensätzen allgemein und den Gegensätzen im Tragischen speziell. Das Verhältnis zwischen Natur und Kunst ist im »reinen Leben«79 eines der ›harmonischen‹, relationalen ›Entgegensetzung‹,80 was sich darin anzeigt, dass »[d]ie Kunst […] die Blüthe, die Vollendung der Natur«81 darstellen kann. Die harmonisch entgegengesetzten Teile realisieren sich in diesem Verhältnis durch das jeweils andere als sie selbst: »eines verbindet sich mit dem andern, ersezt den Mangel des andern, den es nothwendig haben muß, um ganz das zu seyn, was es als besonderes seyn kann«, so daß »jedes ganz ist, was es seyn kann«.82 Dieser Zustand, in den Gegensätze durch ihre Verbindung gelangen, wird als »Vollendung«83 bezeichnet, »und das Göttliche ist in der Mitte von beiden«.84 Befinden sich Natur und Kunst in diesem Verhältnis, so ›fühlt‹ der »organischere künstlichere Mensch«85 auf der Seite der Kunst dieses Verhältnis. »[D]ie aorgischere Natur, wenn sie rein gefühlt wird, vom rein organisirten, rein in seiner Art gebildeten Menschen, giebt ihm das Gefühl der Vollendung«.86 Ist »dieses Leben« jedoch nur »im Gefühle und nicht für die Erkenntniß vorhanden«, so muss es sich, um erkannt werden zu können, in einem Prozess von Trennung und Vereinigung für die Erkenntnis darstellen.87 Ist die harmonische Entgegensetzung ein Ineinander von Einheit und Differenz, so ist darin auch ein »Übermaaße der Innigkeit«, eine zu große Einheit, möglich. In diesem Punkt »verwechseln« sich die »Entgegengesezten«,88
79 80
81 82 83 84 85 86 87 88
lution. Hölderlins Empedokles-Tragödie. Stuttgart u. a. 1994) erkennt die Gegensatzstruktur der Darstellung nicht an, wenn er die »Auflösung dieses scheinbaren Paradoxes« darin sieht, »daß der Ton reiner Innigkeit […] nicht ohne weiteres als Grundton zu erkennen ist, sondern zunächst als ein Extrem unter anderen erscheint« (S. 9). MA, Bd. 1, S. 868; FHA, Bd. 13, S. 870; StA, Bd. 4,1, S. 152. Auf die in dem Text an späterer Stelle (MA, Bd. 1, S. 870; FHA, Bd. 13, S. 872; StA, Bd. 4,1, S. 155) angesprochene Parallelität zum ›Sprachlosen‹ bzw. ›Sprechenden‹ verweist Jürgen Söring (»›Die göttlichgegenwärtige Natur bedarf der Rede nicht‹. Wozu also Dichter?«. In: HJb 30 [1996/97], S. 58–82, vgl. hier S. 79). Zur ›Sprache der Natur‹ in Hölderlins Entwürfen zu ›Der Tod des Empedokles‹ vgl. Anke Bennholdt-Thomsen: Stern und Blume. Untersuchungen zur Sprachauffassung Hölderlins. Bonn 1967, S. 10–16. MA, Bd. 1, S. 868; FHA, Bd. 13, S. 870; StA, Bd. 4,1, S. 152. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. MA, ebd.; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 152f. Vgl. ebd.
112
sie schlagen ineinander um. Soll sich nun das Verhältnis von Kunst und Natur als ›harmonisch entgegengesetzt Eines‹ für die Erkenntnis darstellen, so müssen sich die Gegensätze in dem Moment der ›allzu großen‹ Einheit, in dem sie ineinander umschlagen, trennen. In diesem Moment geschieht also Mehreres: zum einen geraten die Entgegengesetzten in eine solchermaßen ausgeprägte Einheit, dass sie sich ›verwechseln‹, zum anderen sollen sich die Entgegengesetzten in diesem Moment trennen, damit sich das Verhältnis der harmonischen Entgegensetzung für die Erkenntnis darstellen kann. Durch diese übergroße Einheit, den Umschlag des einen in das andere und die Trennung dieser Einheit auf ihrem extremsten Punkt, schlagen die beiden entgegengesetzten Teile in das Extrem dessen zurück, was sie ursprünglich waren. Um sich in ihrem Verhältnis darzustellen, werden von den harmonisch entgegengesetzten Teilen die beiden extremsten Zustände durchlaufen, die in ihrem in sich widerstrebigen Verhältnis angelegt sind. Das Verhältnis harmonischer Entgegensetzung stellt sich für die Erkenntnis somit nur dadurch dar, dass es die beiden möglichen Extreme seiner selbst durchläuft. Diese Extreme sind in dem Verhältnis harmonischer Entgegensetzung als Ineinander von Einheit und Differenz die Zustände größtmöglicher Einheit einerseits (die so weit geht, dass die Vereinigten augenblicklich das jeweils andere ›werden‹/›sind‹) und größtmöglicher Differenz der Entgegengesetzten andererseits, die daraus entsteht, dass die Entgegengesetzten aus dem Übermaß der Innigkeit, in dem sie sich ›verwechseln‹, in das Extrem dessen zurück- und umschlagen, was sie ›ursprünglich‹ sind und waren. Die Verhältnisse der beiden Entgegengesetzten sind in jedem Extrem paradox. Das Verhältnis extremster Einheit ist zugleich das Verhältnis größtmöglicher Differenz, denn der Umschlag des einen in das andere, der in diesem ›Zustand‹ geschieht, ist zugleich das sich größtmögliche Entfernen eines jeden der Entgegensetzten von sich selbst. Dieser Zustand höchster paradoxer Spannung in sich schlägt in den extremsten Gegensatz seiner selbst um, nämlich dahin, dass jeder der beteiligten Entgegengesetzten in ausgeprägtester Weise das wird, was er ursprünglich war. Dieser Zustand bildet das andere Extrem möglicher Zustände des ›Einen in sich selber unterschiednen‹, das Extrem höchster Trennung. Auch dieser ist – entsprechend dem Zustand extremster Einheit, der zugleich in sich und als er selbst höchste Differenz bedeutet – ein in sich paradoxer Zustand, denn die entgegengesetzten Teile kommen als harmonisch Entgegengesetzte jeweils erst durch das andere, das heißt aber in dem Verhältnis harmonischer Entgegensetzung, zu sich selbst. Der Zustand, in dem die Entgegengesetzten in höchster Ausprägung zu sich selbst kommen, muss somit ein Zustand sein, der zum einen die Trennung im Extrem verwirklicht, denn nur so kann jedes der Entgegengesetzten in größtmöglicher Weise es selbst sein, zum anderen muss dieser Zustand jedoch einer der höchsten Einheit bedeuten, denn nur in der Einheit 113
der Entgegengesetzten, in dem Zustand harmonischer Entgegensetzung, kann jeder der Beteiligten überhaupt erst zu sich selbst kommen. Das eine – paradoxe – Extrem des Verhältnisses harmonischer Entgegensetzung schlägt somit in das andere – ebenfalls paradoxe – Extrem um. In den Extremen, sei es in dem der Einheit oder dem der Differenz, ist das jeweils andere des Extrems ebenfalls im Extrem konstitutiv vorhanden. Was somit für das Verhältnis der harmonisch Entgegengesetzten, für Natur und Kunst, gilt, bezieht sich auch auf das Verhältnis selbst. Dieses generiert aus sich selbst heraus dieselbe Relation. Es hat einen konstitutiven, unaufhebbaren Selbstbezug, der sich in der in sich paradoxen Verschränktheit der Verhältnisse selbst zeigt. Dieser Weise der Verschränkung entspricht auch die Struktur, die sich in dem Motto zum ›Hyperion‹, »Non coerceri maximo, contineri minimo, divinum est«89 anzeigt. Der Wechsel, in dem sich das Verhältnis des ›Einen in sich selber unterschiednen‹ von Kunst und Natur, das der Mensch als ›künstlicherer‹ in sich fühlt, auch für die Erkenntnis darstellen kann, vollzieht sich somit zunächst von dem einen Extrem des Verhältnisses zu dem anderen: Auf den Zustand ›übermäßiger‹ Innigkeit – der in sich zugleich ein Zustand übergroßer Trennung der Entgegengesetzten von sich selbst ist, da sich die Entgegensetzten darin ›verwechseln‹ – folgt der Zustand übermäßiger Trennung als harmonische Entgegensetzung zu dem vorigen Zustand, als Zustand, in dem die harmonisch Entgegengesetzten, Kunst und Natur, sich in extremster Weise sondern, jedes der Entgegengesetzten in ausgeprägtester Weise es selbst wird. Dies ist jedoch auch wiederum nur dadurch möglich, dass sie sich zugleich – paradoxerweise – in höchster Einheit befinden. Der eine, in sich paradox verfasste, Extremzustand der Einheit schlägt somit in den anderen, ihm harmonisch entgegengesetzten, Extremzustand der Individualisierung um. Aus dem einen Extrem des Zustandes folgt das andere Extrem. Diese »entgegengesezten Wechselwirkungen«90 setzen sich so lange fort, bis »die beiden ursprünglich einigen [Natur und Kunst] sich wie anfangs begegnen«,91 jedoch in einer Verschiebung zu dem anfänglichen Zustand, denn die beiden harmonisch Entgegengesetzten haben durch die Wechselwirkung das jeweils andere in sich aufgenommen,92 so dass sie nun selbst jeweils ein harmonisch in sich Entgegengesetztes bilden: »der verallgemeinerte geistig lebendige, künstlich reinaorgische Mensch und die Wohlgestalt der Natur«.93 Dieser neue Zustand, in dem die Natur und der Mensch als ›Kunst‹ sich vereinigen, entspricht einerseits dem Zustand, in dem der Mensch sich in 89 90 91 92 93
MA, Bd. 1, S. 610; FHA, Bd. 11, S. 578; StA, Bd. 3, S. 4. MA, Bd. 1, S. 868; FHA, Bd. 13, S. 871; StA, Bd. 4,1, S. 153. Ebd. Vgl. ebd. MA, Bd. 1, S. 868f.; FHA, ebd.; StA, ebd.
114
harmonischer Entgegensetzung mit der Natur gefühlt hat und den er in der Erkenntnis einholen wollte, andererseits ist er different, denn die Beteiligten haben sich durch die Wechselwirkungen mit dem jeweils anderen verändert. Doch ist diese Veränderung der Entgegengesetzten keine, die aus dem ursprünglichen Verhältnis herausspringen würde, somit eine Verwandlung wäre, sondern diese Veränderung bedeutet eine qualitative Steigerung, eine Potenzierung des Verhältnisses. Denn befinden sich nicht lediglich Natur und Kunst untereinander in diesem Verhältnis, sondern auch jeweils in sich, so wiederholt sich das Verhältnis harmonischer Entgegensetzung inhärent, es potenziert sich: Diß Gefühl [der ›neuen‹ Begegnung von Natur und Kunst im Menschen] gehört vieleicht zum höchsten, was der Mensch erfahren kann, denn die jezige Harmonie mahnt ihn an das vormalige umgekehrte Verhältniß, und fühlt sich und die Natur zweifach, und die Verbindung ist unendlicher.94
Die Wechselwirkungen zwischen den Entgegengesetzten, die oben nur in ihren ersten Schritten beschrieben wurden, kommen nun zur weiteren Ausführung. Es wurde dargestellt, wie auf den Zustand übermäßiger Innigkeit, in der sich die Entgegengesetzten ›verwechseln‹, der ›Rückschlag‹ des Verhältnisses in das Extrem der Scheidung folgt, in dem jedes im Extrem ganz es selbst wird. Doch scheiden sich die Entgegengesetzten in diesem Zustand der Vereinzelung nicht absolut, sondern dieser Zustand ist paradoxerweise nur möglich aufgrund einer gleichzeitig höchsten Einheit. Was in diesem Zustand also statthat, ist »reale[r] höchste[r] Kampf«95 der Entgegengesetzten. Der Unterschied zu der harmonischen Entgegensetzung zu Beginn, die ja auch ein Ineinander von Einheit und Differenz war, besteht darin, dass sich die Entgegengesetzten in diesem Zustand in dem Bewusstsein einander angenähert haben, sich bis zur gegenseitigen Verwechselung ›vermischt‹96 haben, während die Spannung jetzt real in das Extrem gesteigert ist, somit »reale[r] höchste[r] Kampf«97 herrscht. In diesem Sinne, dass sich das Jeweilige als es selbst real, nicht bloß ideal, ›verlässt‹, kann man von seinem ›Tod‹ sprechen: In diesem »reale[n] höchste[n] Kampf«98 »liegt der Tod des Einzelnen«.99 Dieser Moment bildet die »Mitte«100 des Prozesses zwischen der ursprünglich gefühlten harmonischen Entgegensetzung und dem Verhältnis, das am Schluss in qualitativer Steigerung des Anfangszustandes erreicht wird.
94 95 96 97 98 99 100
MA, Bd. 1, S. 869; FHA, ebd.; StA, ebd. (»[...] und er fühlt sich und die Natur zweifach [...]«, H. v. m.). Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
115
In diesem ›Kampf‹ höchster Entgegensetzung in höchster Einheit verlassen die Entgegengesetzten sich selbst, »das organische [der künstliche Mensch als der eine Teil der Entgegensetzung, M. H., legt] seine Ichheit, sein besonderes Daseyn, das zum Extreme geworden war [vgl. oben, M. H.], das aorgische [die Natur, M. H.] seine Allgemeinheit«101 ab. Dies geschieht wiederum dadurch, dass sich die Extreme einander gegenseitig annähern, jedoch nicht bloß ideal wie zu Beginn, sondern real. In diesem Prozess wird das eine zu dem anderen, es geschieht auch hier – parallel zu der übermäßigen Innigkeit, in der sich die Entgegengesetzten im menschlichen Gefühl, somit ideal verwechseln – eine, jetzt reale, Vertauschung. Auch diese hat einen ›Rückschlag‹ in das andere Extrem, die Trennung, zur Folge, was ein Sich-Wiederfinden der Entgegengesetzten als sie selbst bedeutet. Für diesen realen Extremzustand gilt genau dasselbe, was oben für den idealen Prozess beschrieben wurde. Er stellt den Zustand höchster Spannung dar. Doch war dieser Zustand im Idealischen ein ›wirklicher‹, so ist er nun im Realen – harmonisch entgegengesetzt – ein scheinbarer, […] wo dann das aorgisch [als elementare Bestimmung der Natur, M. H.] gewordene organische [als Bestimmung des ›Künstlichen‹ des Menschen, M. H.] sich selber wieder zu finden und zu sich selber zurükzukehren scheint, indem es die Individualität annimmt und das Object, das Aorgische sich selbst zu finden scheint, indem es auch zugleich das Organische auf dem höchsten Extreme des Aorgischen findet, so daß in diesem Moment, in dieser Geburt der höchsten Feindseeligkeit die höchste Versöhnung wirklich zu seyn scheint.102
Aus dem Extrem der Entgegensetzung, dem ›realen höchsten Kampf‹ heraus, in dem sich die Beteiligten in extremster Weise von sich selbst entfernen, scheinen die Entgegengesetzten in dem ›Um- oder Rückschlag‹ der Spannung zu sich selbst zurückzufinden. Somit scheint darin die »höchste Versöhnung« stattzufinden. Doch ist diese nur scheinbar, denn das jeweilige Zu-sich-Kommen der Streitenden, des Organischen in seiner Individualität, des Aorgischen in seiner Allgemeinheit, ist »nur ein Erzeugniß des höchsten Streits«103 und bleibt somit in diesem befangen. Dieser Moment, in dem die Beteiligten jeweils zu sich zu kommen scheinen, worin also Versöhnung zu herrschen scheint, ist der Augenblick, in dem 101 102
103
Ebd. MA, ebd.; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 153f. (»[...] indem es an die Individualität des Aorgischen sich hält, und das Object, das Aorgische sich selbst zu finden scheint, indem es in demselben Moment, wo es Individualität annimmt, auch zugleich das Organische [...]«). Die erste Abweichung der Lesart der StA bildet semantisch lediglich einen klärenden Zusatz (die Individualität, zu der das Organische zurückfindet, kommt in dem Moment höchster Spannung in der Verkehrung der Gegensätze dem Aorgischen zu). Die zweite Abweichung der StA, der Zusatz »in demselben Moment, wo es Individualität annimmt« (ebd.), spitzt den Moment und die Momenthaftigkeit des Umschlags semantisch zu. Ebd.
116
das Extrem der Einheit so groß wird, dass sich die harmonisch Entgegengesetzten ›verwechseln‹ und in der Gegenbewegung zu diesem Extrem in sich selbst zurückschlagen. Dieser ist somit der Moment, in dem das Organische dem Aorgischen und das Aorgische dem Organischen entspringt.104 Nach diesem Moment nähern sich die dem jeweils anderen entsprungenen harmonisch Entgegengesetzten wiederum dem anderen an: […] so wird auf die Eindrüke des organischen die in dem Moment enthaltene aorgischentsprungene Individualität wieder aorgischer, auf die Eindrüke des aorgischen wird die in dem Moment enthaltene organischentsprungene Allgemeinheit wieder besonderer […].105
Dabei entfernen sich die Jeweiligen von sich selbst. In der Paradoxie der Extremzustände, die auch hier vorherrscht, erscheint der Moment, in dem die Entgegengesetzten jeweils ganz sie selbst zu sein scheinen, als ein Augenblick der Einheit, während die nun folgende gegenseitige Annäherung der Entgegengesetzten als Auflösung dieser Einheit erscheint (»so daß der vereinende Moment, wie ein Trugbild, sich immer mehr auflöst«106). Entsprechend der ›Verfahrungsweise des poetischen Geistes‹ werden die Stadien der Einheit und deren Auflösung insgesamt drei Mal auf verschiedene Weise durchlaufen, bis sich das ursprüngliche Gefühl der Einheit (die ›erste‹ Einheit) zu einer gesteigerten Einheit für die Erkenntnis (der ›dritten‹ Einheit) ›geläutert‹ hat. Das Stadium, das mit der Auflösung des Moments der (scheinbaren) Einheit einsetzt, ist das dritte und letzte Stadium in diesem Prozess. Löst sich der Moment auf, so »reagirt« »er aorgisch [da sich auflösend, M. H.] gegen das organische [den ›künstlichen‹ Menschen, das Individuelle, Beson-
104
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106
Zum ›Aorgischen‹ – auch im kulturgeschichtlichen Kontext – vgl. Stefan Metzger: Die Konjektur des Organismus. Wahrscheinlichkeitsdenken und Performanz im späten 18. Jahrhundert. München 2002, sowie ders.: »›Auflösung‹«. In: HJb 33 (2002/03), S. 79–117. Nach Metzger stellt Hölderlin »das Aorgische in die Kontinuität des ›Seins‹ oder der ›Schönheit‹ […] – und zwar nicht als harmonikale Versöhnungsinstanz, sondern als Emotivatoren zur Begründung für Leid und Sehnsucht« (S. 90). Zugleich deutet er es als »Abgrund in einem wörtlichen Sinne: Gründung in und durch seine Abwesenheit« (ebd.). Stimmt die grundsätzliche Stoßrichtung zwar mit unseren Überlegungen überein, so ist doch fraglich, inwiefern dieser ›Abgrund‹ noch in einer ›Kontinuität‹ zu denken ist und ob das ›Aorgische‹ mit diesem zu ›identifizieren‹ wäre. Denn in den theoretischen Entwürfen im Umkreis des ›Empedokles‹-Dramas erscheint das ›Aorgische‹ als der Gegensatz zum ›Organischen‹ und nicht als das ›abgründig Gründende‹. Vielmehr ›ist‹ hier die Bewegung der Gegensätze, nicht ein Teil des Gegensatzes, das inkommensurabel ›Gründende‹, was allein in der in sich gestaffelten (Reflexions-)›Struktur‹ des einen (1= das wechselseitig-dynamische Konstitutionsverhältnis selbst) des einen (2= hier: das ›Organische‹) und des anderen (= hier: das Aorgische) ›dargestellt‹ werden kann. MA, ebd.; FHA, ebd. (»[...] wieder aorgischer, wie die in dem Moment enthaltene organischentsprungene Allgemeinheit auf die Eindrüke des aorgischen wieder besonderer wird, [...]«). Die Abweichungen beziehen sich lediglich auf die syntaktische Reihenfolge, ohne jedoch die Semantik zu verändern; StA, Bd. 4,1, S. 154. Ebd.; FHA (»[...] wie ein Trug, sich auflöst [...]«).
117
dere, M. H.]«,107 so dass sich der Moment und das Organische voneinander entfernen. Der Moment, die scheinbare Vereinigung des Extrems des Aorgischen mit dem Extrem des Organischen, wird somit aorgischer, d. h. weniger individuell, gesondert und verschieden. Das bedeutet jedoch, dass die Extreme »schöner versöhnt und vereiniget«108 werden als das in dem Moment der Fall war und dass der Moment als aorgischerer nicht mehr »in einem Einzelnen [das ein Organisches wäre, M. H.]«109 ist. Dadurch ist die Vereinigung der Extreme aber weniger innig, und das bedeutet, dass das Übermaß der Innigkeit, wovon die vorige Vereinigung bestimmt war, aufhört. Die Extreme schlagen somit in dieser neuen Vereinigung nicht mehr ineinander um, so dass »das Göttliche nicht mehr sinnlich erscheint«.110 Dadurch, dass sich der Moment der scheinbaren Vereinigung auflöst, d. h. sich in einem aorgischen Prozess befindet, entfernt er sich vom Organischen. Dadurch verliert die Vereinigung ihr Übermaß, wovon sie bis dahin geprägt war, »der glükliche Betrug der Vereinigung [hört] in eben dem Grade« auf, »als er zu innig und einzig war«.111 In dem Maß, das nun durch die Durchgänge durch die Extreme gefunden wurde, ist die Vereinigung vollkommener. Die nun stattfindende Vereinigung ist eine Vereinigung der harmonisch Entgegengesetzten als harmonisch Entgegengesetzte. Sie kommen in dieser Vereinigung zu sich selbst, indem sie in das Verhältnis gelangen, das sie als sie selbst sind, und dieses bedeutet ein in sich austariertes Verhältnis von Vereinigung und Trennung. Dieses ist dann nichts als die Realisation des Verhältnisses, in dem sich die harmonisch Entgegengesetzten immer schon befinden, es ist das Verhältnis der harmonischen Entgegensetzung selbst, d. h. für das Verhältnis gilt nichts anderes als für die harmonisch entgegengesetzten Teile. Es besteht keine Differenz zwischen den Teilen und dem Verhältnis der harmonischen Entgegensetzung, der Vereinigung der Entgegengesetzten in der Differenz. In diesem Verhältnis kommen die Entgegengesetzten und ihr Verhältnis zu sich, in ihre ›Eigentlichkeit‹, sie werden zu dem, was sie immer schon waren, indem diese und das Verhältnis ein und dasselbe werden. Die neue Vereinigung in der Differenz vereint die harmonisch Entgegengesetzten als Vereinigung in sich, »so daß die beiden Extreme […] und die Innigkeit des vergangenen Moments nun allgemeiner [aorgischer, M. H.] gehaltner [organischer, M. H.] unterscheidender [aorgischer, M. H.], klarer [organischer, M. H.] hervorgeht«,112 wobei die Zuordnungen der Prädikate, die zu jeweils einem der harmonisch 107 108 109 110 111 112
Ebd. Ebd. MA, Bd. 1, S. 870; FHA, ebd.; StA, ebd. Ebd. Ebd. MA, ebd.; FHA, Bd. 13, S. 871f.; StA, ebd.
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Entgegengesetzten, dem Aorgischen oder dem Organischen, vorgenommen wurden – entsprechend und in Wiederholung des Verhältnisses der harmonischen Entgegensetzung – relative Zuordnungen sind, die unter anderer Perspektive gerade umgekehrt zugeordnet werden müssten. Denn die Gegensätze, die die harmonisch Entgegengesetzten darstellen, sind relativ, und das heißt, sie sind gegen- und ineinander verschobene und verschiebbare Gegensätze, so dass die Zuordnung je nach Perspektive und Verhältnissen die eine oder die andere sein kann. Hier zeigt sich wiederum die Potenzierung, welche die Reflexion und Einholung bedeuten und die in dem gesamten Prozess stattfindet sowie dessen ›Ziel‹ darstellt. Diese Potenzierung hat dadurch statt, dass sich in dem Verhältnis der Entgegengesetzten das realisiert, was die harmonisch Entgegengesetzten als harmonisch Entgegengesetzte sind. Es geschieht hier somit eine doppelte Realisation des Verhältnisses – wie oben am Beginn der zweiten Phase gesehen –, die in ihrer Selbstbezüglichkeit eine Potenzierung darstellt, die jedoch in ihrer eigentlichen Realisation, wie sie am Ende der dritten Phase stattfindet, als potenzierte in eins zusammenfällt, indem sich das Verhältnis als das erfüllt, das es immer schon ist. Dieses Zusammenfallen geschieht dadurch, dass das Verhältnis sowie die harmonisch Entgegengesetzten zu sich selbst kommen, was jedoch nichts anderes bedeutet, als dass die harmonisch Entgegengesetzten das Verhältnis realisieren, das sie als harmonisch Entgegengesetzte immer schon sind. Das Zu-sichKommen des Verhältnisses ist somit das Zu-sich-Kommen der harmonisch Entgegengesetzten, die Realisation dessen, was die harmonisch Entgegengesetzten sind. Die harmonisch Entgegengesetzten stehen dann nicht mehr in einem Verhältnis (das sie nicht eigentlich sind), sondern sie sind das Verhältnis, das sie als sie selbst sind. Aus diesem Grund kann von einem Zusammenfallen der beiden – in dem Unmaß des Verhältnisses getrennten – Ebenen, des Verhältnisses und der harmonisch Entgegengesetzten, dann gesprochen werden, wenn sich beide als sie selbst realisieren, und das heißt, sich das Verhältnis der harmonisch Entgegengesetzten als Verhältnis harmonischer Entgegensetzung realisiert. In dieser letzten Vereinigung, in der das Verhältnis ganz zu sich kommt, geschieht somit die Vereinigung von Möglichkeit und Wirklichkeit des Verhältnisses, das heißt aber die Verwirklichung der Möglichkeit, die es selbst ist. Die Potenzierung des Verhältnisses meint somit die Vereinigung von dessen Möglichkeit und Wirklichkeit.113
113
Vgl. dazu auch die Aristotelische Auffassung des Göttlichen als die Identität von Wirklichkeit und Möglichkeit (Aristoteles: Metaphysik Λ, v. a. 1071 b 3ff). Das Göttliche ist somit dasjenige, das ganz zu sich gekommen ist, seine Möglichkeiten völlig realisiert hat. In diesem Sinne stellt es das Vollkommene dar.
119
Das Maß und die ›Vollkommenheit‹, die am Schluss erreicht werden, sind nur dadurch möglich, dass das Verhältnis alle ihm möglichen Extreme durchläuft. Nur über das Durchlaufen seines eigenen Unmaßes und die ›Entfremdung‹ von sich selbst kann die Potenzierung, worin die ›Eigentlichkeit‹ des Verhältnisses besteht, erreicht werden. Der Totaleindruck des Verhältnisses, der am Anfang steht und gefühlt wird, kann nur erkannt werden und in sein Maß, d. h. ganz und in höchstem Sinne zu sich selbst kommen, indem er sich in den Wechselprozess der Extreme, des Unmaßes des Verhältnisses, d. h. in seine eigene Uneigentlichkeit auflöst und sich darüber in seine Potenzierung, seine Eigentlichkeit, zu sich selbst bringt, sich als sich selbst verwirklicht. Dies entspricht genau den Verhältnissen, die in Bezug auf Bogen und Leier herausgearbeitet wurden (vgl. Kapitel II.2).
120
B. Theoretische Durchführung der Grundstruktur der Darstellung
121
122
IV. ›Harmonisch entgegengesetzt‹: Zu den Einholungsstrukturen des poetischen Geistes in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«
Die ›Realisation‹, wie sie in ihrer Zweideutigkeit von ›Darstellung‹ und ›Verwirklichung‹ bereits zur Sprache kam, ist das Hauptthema der poetologischen Erörterungen in dem theoretischen Fragment »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«. Doch ist diese Realisation, wie bereits angedeutet, im Gegensatz zu den Vorreden der früheren Fassungen des ›Hyperion‹ nicht mehr ein ›Ideal‹, sondern das poetische Werk. In diesem kommt der Mensch ›zu sich selbst‹.1 Die menschliche ›Bestimmung‹ liegt somit nicht mehr in einem ›Zustand der höchsten Bildung‹, sondern darin, dass der geistige Prozess auf ein konkretes sprachlich-darstellendes Werk hin überschritten wird. Die ›Erfüllung‹ des Menschen liegt also in einem Dichtertum, das ›wirklich wirkt‹, indem ein Werk hervorgebracht wird. Jenseits dieses Werkes existiert demnach kein Dichtertum und keine menschliche ›Erfüllung‹, worin eine klare Absage gegenüber einem ›Ästhetizismus‹ und einem Konzept ›ästhetischen Lebens‹ liegt: Die […] lezte[…] und dritte[…] Vollendung […] [ist] nicht blos ursprüngliche Einfalt, des Herzens und Lebens, wo sich der Mensch unbefangen als in einer beschränkten Unendlichkeit fühlt, auch nicht blos errungene Einfalt des Geistes, wo eben jene Empfindung zur reinen formalen Stimmung geläutert, die ganze Unendlichkeit des Lebens aufnimmt, (und Ideal ist) sondern [sie ist] […] aus dem unendlichen Leben wiederbelebter Geist, nicht Glük, nicht Ideal, sondern gelungenes Werk, und Schöpfung […], und [sie kann] nur in der Äußerung gefunden werden und außerhalb der Äußerung nur in dem aus ihrer bestimmten ursprünglichen Empfindung hervorgegangenen Ideale gehoff t werden […].2
Ansonsten folgt die ›Verfahrungsweise des poetischen Geistes‹ der Grundstruktur, die bereits in Hinsicht auf die Vorreden zu den früheren Fassungen des ›Hyperion‹ in Kapitel I.4.9 sowie in Bezug auf »Die tragische Ode …« in Kapitel III.4 herausgearbeitet wurde und die hier kurz rekapituliert werden soll: jeder geistige und poetische Prozess – und der eigentlich menschlich-geistige Prozess ist der poetische3 – geht aus von ›einem Leben‹, einer Empfindung,
1 2 3
Auch hier stellt sich somit erneut die Frage, was dieses ›Selbst‹ und das ›Werden zu sich‹ jenseits eines Ideals genau bedeutet. MA, Bd. 2, S. 97; FHA, Bd. 14, S. 320; StA, Bd. 4,1, S. 262, vgl. auch die Ausführungen in Kapitel I.4.9. Vgl. »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«, MA, Bd. 2, S. 98; FHA, Bd. 14, S. 320; StA, Bd. 4,1, S. 262f.
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das dadurch von dem Geist eingeholt und aufgefasst wird, dass er es in den ihm eigenen Wechsel von Einheit und Differenz zerlegt, es somit in sich, idealisch, wiederholt, bis es einerseits wieder in seiner ursprünglichen Einheit zu sich selbst zurückfindet, jedoch andererseits in einer Steigerung seiner selbst als Potenzierung seiner Einheit und seines Zusammenhangs in sich. Diese Potenzierung bedeutet jedoch gerade keine Aufhebung oder Abschwächung der Differenz, vielmehr treten die Differenzen als eingeholte stärker hervor. Entsprechend dem ›widerstrebigen‹ Verhältnis von Einheit und Differenz verhalten sich diese streng proportional, so dass nur in der Einholung und somit Steigerung des einen auch die Steigerung des anderen möglich ist. Auch hier ergibt sich in der ›Einholung‹ somit stets eine Rückkehr zu sich selbst, die zum einen tatsächlich diese Rückkehr ist, zum anderen jedoch zugleich eine verschobene Rückkehr, eine Rückkehr in der Differenz, darstellt. Das idealisch eingeholte Leben ist somit dieses Leben selbst, doch weicht es von diesem dadurch ab, dass es seine idealische Steigerung darstellt, somit dasjenige ist, wodurch das Leben erst zu sich selbst findet.4 Hier zeigt sich die paradoxe Struktur dieses Einholungsphänomens: das Einzuholende kann nur dadurch ganz es selbst werden, dass es von dem Geist aufgefasst wird und folglich ein anderes, nämlich ein Idealisches wird. Das Idealische ist somit zugleich das Eingeholte, und es ist es nicht. Diese paradoxe Einholungsstruktur ist die Darstellungsstruktur, die in jedem geistigen Prozess und in eminenter Weise in dem poetischen als dem Vorgang stattfindet, in dem sich der Geist als sich selbst ausprägt und in dem, als seine eigentliche ›Erfüllung‹, das ›Werk‹ entsteht. Der poetische Prozess ist somit in seiner zweiten Phase von der Selbsteinholung des Geistes in sich geprägt. Um überhaupt etwas aufzufassen, muss der Geist dieses Aufzufassende in seiner Einheit – gemäß seines grundsätzlichen Verfahrens, nämlich des Wechsels von Einheit und Differenz – aufbrechen, es somit als es selbst auflösen, um es in dem Wechsel von Einheit und Differenz durchzugehen und es dann in höherer und ›innigerer‹ Weise wieder mit sich selbst zu vereinigen und es so in vollem Sinne zu sich selbst kommen zu lassen.5 Es handelt sich hierbei somit um einen kontradiktorischen Akt. Um die Einheit darzustellen und sie zu steigern, muss sie aufgebrochen, als Einheit zerstört werden, um dann in der Potenzierung ihrer selbst im Geist allererst zu sich zu finden und sie selbst zu werden. Genau dieses Verhältnis von Stoff und idealischer Darstellung, aus der die poetische Darstellung im ›Werk‹ hervorgeht, wird nicht nur aus der Perspektive der Dichtung, sondern auch aus der des ›Lebens‹ in Hölderlins Widmung an Suzette Gontard in den ersten Band des ›Hyperion‹ beschrieben:
4 5
Dem entspricht die Struktur der Erinnerung, vgl. Kapitel I.4.1. Zu dem ›Zu-sich-Kommen‹ in seiner genauen Bedeutung vgl. Kapitel I.4.9 sowie III.4.
124
Der Einfluß edler Naturen ist dem Künstler so nothwendig, wie das Tagslicht der Pflanze, und so wie das Tagslicht in der Pflanze sich wiederfindet, nicht wie es selbst ist, sondern nur im bunten irrdischen Spiele der Farben, so finden edle Naturen nicht sich selbst, aber zerstreute Spuren ihrer Vortrefflichkeit in den mannigfaltigen Gestalten und Spielen des Künstlers.6
Dasselbe gilt für die Selbstauffassung des menschlichen Geistes. Dieser, und somit der Mensch selbst, kann nur dadurch ganz zu sich selbst kommen, dass er sich auffasst und sich in seinem poetischen Werk, das heißt in einem anderen und als ein anderes, darstellt.7 Dabei durchläuft der poetische Geist verschiedene Phasen und Ebenen der Einholung seiner selbst.
1.
Zum Aufbau des Entwurfs »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«
Der alineare Verlauf des Textes sowie sein sich oftmals fast überschlagender Duktus, der zum Teil den Anschluss an Voriges verliert, schon Gesagtes wiederaufnimmt und in weiterem Zusammenhang auslegt sowie die oftmals bloße Darstellung in »Winken«, deutet darauf hin, dass es sich bei dem Text um eine Selbstvergewisserung im Schreiben handelt. Dafür spricht auch, dass der Text abschließend nicht klarer strukturiert und ausführlich zu Ende geführt wird.8 Dadurch sieht sich die Rezeption vor besondere Schwierigkeiten gestellt, so dass zunächst dem Aufbau und der inneren Struktur des Textes nachgegangen werden muss. Die Darstellung dieser Struktur kann nur auf einer weit geführten Interpretation beruhen, so dass die Ansichten über den Aufbau des Textes in der Forschung stark differieren. Sachlich unterteilt sich der poetische Prozess in drei Phasen, von der die erste die ›ursprüngliche Empfindung‹ genannt werden kann. Auf diese folgt die im engeren Sinne ›idealisch‹ zu nennende zweite Phase, die in der dritten, der Selbstauffassung der poetischen Individualität in dem Werk, ihre ›Vollendung‹9 findet. Gemäß dieses Verständnisses setzt der Entwurf mit dem Zustand des 6 7
8
9
MA, Bd. 3, S. 316; FHA, Bd. 19, S. 278; StA, Bd. 2, S. 359, H. v. m. Vgl. die Parallele zur ›Athenerrede‹ in ›Hyperion‹: »Das erste Kind der menschlichen, der göttlichen Schönheit ist die Kunst. In ihr verjüngt und wiederholt der göttliche Mensch sich selbst. Er will sich selber fühlen, darum stellt er seine Schönheit gegenüber sich« (MA, Bd. 1, S. 683; FHA, Bd. 11, S. 678; StA, Bd. 3, S. 79, vgl. auch Kapitel I.4.8). Ulrich Gaier (Der gesetzliche Kalkül. Hölderlins Dichtungslehre. Tübingen 1962) stellt in der Forschung eine Ausnahme dar, wenn er die restlose Einheit des Textes betont und meint, »daß die ›Verfahrungsweise des poetischen Geistes‹ samt dem ›Wink für die Darstellung und Sprache‹ kein überflüssiges Wort enthält, daß die Gedankengänge von Anfang bis Ende klar und folgerichtig sind, und daß sie nur wegen der ungemein starken Zusammenhängigkeit der Entwicklungen derart komplexen Ausdrucks bedürfen« (S. 115). Auf die Bedeutung der ›Vollendung‹ wurde in dem Kontext der Teleologie und des ›Kommens zu sich selbst‹ bereits eingegangen, vgl. beispielsweise Kapitel I.4.9 und III.4.
125
Geistes in dem Übergang von der zweiten in die dritte Phase ein,10 denn nur darin kann der »Dichter einmal des Geistes mächtig« sein und »die gemeinschaftliche Seele, die allem gemein und jedem eigen ist, gefühlt und sich zugeeignet, sie vestgehalten, sich ihrer versichert« haben.11 Es scheint somit – von dem Ausgangspunkt des Entwurfes her geschlossen – ursprünglich darum gegangen zu sein, die dritte und höchste Phase des poetischen Prozesses, in der die Sprachfindung geschieht, das heißt das konkrete Gedicht entsteht, darzustellen. Nach diesem Eingangssatz, der sich über mehrere Seiten12 erstreckt, wird jedoch die Wahl des Stoffes erörtert, die zur zweiten Phase des dichterischen Prozesses gerechnet werden muss. Es zeigt sich somit eine Spannung zwischen dem Einsatz des Entwurfes – und der Dichter kann »des Geistes« erst »mächtig« sein und »die gemeinschaftliche Seele, die allem gemein und jedem eigen ist, gefühlt und sich zugeeignet, sie vestgehalten, sich ihrer versichert« haben, nachdem er die zweite Phase durchlaufen hat – und seiner Fortführung, die in dem Übergang in die dritte Phase bestehen müsste, tatsächlich jedoch die Tätigkeit des Geistes in der zweiten Phase ausführlicher behandelt. Nach der verdichteten Darstellung der zweiten Phase in dem ersten Satz13 folgt somit nicht die Erörterung des Übergangs in die dritte Phase, sondern der Text springt in die zweite Phase zurück und stellt diese sowie die Voraussetzungen für den Übergang in die dritte Phase differenzierter dar.14 Darauf folgen die Rekapitulation des gesamten Prozesses – auch unter Einbezug der bisher noch nicht erwähnten ersten Phase – anhand der allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes von der ›Kindheit‹ bis zur ›Reife‹ sowie Ansätze zur genaueren Bestimmung der dritten Phase.15 Der letzte Abschnitt des Entwurfs, der mit ›Wink für die Darstellung und Sprache‹ überschrieben ist, rekapituliert in der Analogie von Sprache und Erkenntnis die verschiedenen Phasen, um die dritte Phase in Bezug auf die Sprachwerdung genauer zu fassen.16 10
11 12 13
14 15 16
Ulrich Gaier (Der gesetzliche Kalkül. Hölderlins Dichtungslehre. Tübingen 1962) sieht in dem ersten Satz sogar »mit einem einzigen Zuge den ganzen Progreß des poetischen Geistes zum Gedicht und durch das Gedicht vor[gezeichnet], eben die gesamte Verfahrungsweise, wie sich Geist mit Materie verbindet« (S. 64). MA, Bd. 2, S. 77; FHA, Bd. 14, S. 303; StA, Bd. 4,1, S. 241. In MA, Bd. 2, S. 77–79; in FHA, Bd. 14, S. 303–305; in StA, Bd. 4,1, S. 241–243. Dieser erste Satz kann somit kaum auf einen »unmittelbaren Prozeß des idealisch erinnernden Dichtens« (Hans-Dieter Jünger: Mnemosyne und die Musen. Vom Sein des Erinnerns bei Hölderlin. Würzburg 1993) hin gedeutet werden, denn gerade in der zweiten Phase werden die Gegensätze durchgegangen und in Beziehung gesetzt, d. h. in diesem Sinn vermittelt. So kann auch der »Gesang« nicht derart gedacht werden, dass er »gleichsam mitten aus dem ›Zentrum des Seins‹ hervor[quillt], weil er in dessen ureigenem ›Seins-Rhythmus‹ schwingt und so auch von der Wahrheit des Seins unmittelbar kündet« (S. 233). Bis MA, Bd. 2, S. 80–90; FHA, Bd. 14, S. 305–312; StA, Bd. 4,1, S. 243–255, vor den Punkten »a)« und »b)«. MA, Bd. 2, S. 90–95; FHA, Bd. 14, S. 313–318; StA, Bd. 4,1, S. 255–260, vgl. IV.3. MA, Bd. 2, S. 96–100; FHA, Bd. 14, S. 318–322; StA, Bd. 4,1, S. 260–265; vgl. 4. »Der letzte Abschnitt des Entwurfs: ›Wink für die Darstellung und Sprache‹«.
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Die Grundthesen des Textes wurden bereits zusammengefasst. Der Entwurf bietet jedoch eine differenzierte Darstellung vor allem der geistigen Vorgänge in der zweiten Phase des poetischen Prozesses, die in grundsätzlicher Weise von der Dynamik von Einheit und Differenz geprägt sind. Aus diesem Grund erscheint es – über die bereits ausgeführten Grundgedanken hinaus – sinnvoll, den Gedankengang des Textes kommentarartig nachzuzeichnen. Dazu wird nach dem ersten, die zweite Phase zusammenfassenden Satz eingesetzt.17
2.
Die zweite Phase des poetischen Prozesses und der Übergang in die dritte Phase: Selbsteinholung des poetischen Geistes
2.1
Der erste Schritt in der zweiten Phase: die ›subjektive Begründung des Gedichts‹
Der poetische Geist muss in der zweiten Phase verschiedene Stadien durchlaufen, von denen das erste die ›subjektive Begründung des Gedichts‹ ist. Diese besteht darin, dass der Geist seine »idealische Stimmung« als eine der drei Möglichkeiten auffasst und festsetzt, die er aufgrund seiner unterschiedlichen Stoffwahl hat. Der Geist kann prinzipiell drei Arten von Stoffen wählen, die rezeptiv für den idealischen Gehalt und die idealische Form sind: Der Stoff ist entweder [1., M. H.] eine Reihe von Begebenheiten, oder Anschauungen Wirklichkeiten subjectiv oder objectiv zu beschreiben, zu mahlen oder er ist [2., M. H.] eine Reihe von Bestrebungen Vorstellungen Gedanken, oder Leidenschaften Nothwendigkeiten subjectiv oder objectiv zu bezeichnen oder [3., M. H.] eine Reihe von Phantasien Möglichkeiten subjectiv oder objectiv zu bilden.18
Es ist deutlich, inwiefern die Begründung des Gedichts, die vermittelt über die Wahl des Stoffes geschieht, eine ›subjective‹ sein muss, denn es sind nicht die Begebenheiten, Anschauungen, Wirklichkeiten etc. selbst, die den Stoff ausmachen, sondern der Stoff erscheint hier bereits als subjektiv Aufgefasster. Er ist das ›Beschreiben, Malen einer Reihe von Begebenheiten, oder Anschauungen Wirklichkeiten‹, ›das Bezeichnen einer Reihe von Bestrebungen Vorstellungen Gedanken, oder Leidenschaften Nothwendigkeiten‹, oder ›das Bilden einer Reihe von Phantasien Möglichkeiten‹.19 Diese Tätigkeiten des Geistes, die potentiell den Stoff bilden, können sich jeweils entweder »subjectiv oder objectiv«20 ausprägen, d. h. der Geist kann sich in seiner Tätigkeit, Stoffe zu bilden, mehr an sich selbst, an Begebenheiten, Anschauungen, Wirklichkeiten
17 18 19 20
MA, Bd. 2, S. 80; FHA, Bd. 14, S. 305; StA, Bd. 4,1, S. 243. MA, ebd.; FHA, ebd. (»[...] zu mahlen, oder er ist [...]«); StA, Bd. 4,1, S. 243f. Vgl. ebd. Ebd.
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etc. seiner selbst orientieren, dann wäre seine Tätigkeit subjektiv, oder er kann sich in seiner Tätigkeit, Stoffe zu bilden mehr an Begebenheiten, Anschauungen, Wirklichkeiten etc. orientieren, die nicht seine eigenen sind, wodurch seine Tätigkeit eine objektive wäre. Immer aber ist dieses Bilden des Stoffes, ob subjektiv oder objektiv, eine Tätigkeit des Geistes. Der Stoff muss dabei so beschaffen sein, d. h. vom Geist so gebildet werden – und hier zeigt sich bereits eine ›Zwiegestalt‹, auf die später noch zurückgekommen wird – dass er einer »idealischen Behandlung fähig«21 ist. Das ist aber dann der Fall, wenn »ein ächter Grund«22 zu dem, was in dem Stoff beschrieben wird, »vorhanden ist«.23 Dieser ›Grund‹ ist dasjenige, woraus die verschiedenen Arten des Stoffes als hervorgehend dargestellt werden. Dabei ist dieser ›ächte Grund‹ jeweils etwas, das einer anderen Stoffart zugehört, jedoch nicht aus der Darstellung dieser, sondern aus dem, was in dieser Stoffart beschrieben wird. Der ›ächte Grund‹, aus dem der Stoff in der subjektiven Begründung des Gedichts als hervorgegangen dargestellt wird, ist somit nichts ›Objektives‹, sondern ein ›Subjektives‹ entsprechend subjektivitätsphilosophischen Prämissen (wovon somit auch ›Begebenheiten‹ und ›Wirklichkeiten‹ umfasst wären). Doch muss dieser Grund ein ›ächter‹, das heißt eine ›echte‹ Anschauung, Empfindung etc. sein. Die erste Stoffart (»eine Reihe von Begebenheiten, oder Anschauungen Wirklichkeiten subjectiv oder objectiv zu beschreiben, zu mahlen«24) muss dargestellt werden als hervorgehend »aus rechten Bestrebungen«,25 die zweite Stoffart »aus einer rechten Sache« und die dritte aus »schöner Empfindung«.26 Die subjektive Begründung eines Gedichts besteht somit darin, die verschiedenen Stoffarten (die Darstellung von Begebenheiten [für Stoffart 1], von Bestrebungen [Stoffart 2] und von Phantasien [Stoffart 3]) darzustellen als aus etwas anderem, einem »ächten Grund«, wenn auch einem subjektiven, hervorgegangene. Konsequenterweise soll […] dieser Grund des Gedichts, seine Bedeutung, […] den Übergang bilden zwischen dem Ausdruk, dem Dargestellten, dem sinnlichen Stoffe, dem eigentlich ausgesprochenen im Gedichte, und zwischen dem Geiste, der idealischen Behandlung.27
Diese – immer noch – subjektive Bedeutung des Gedichts kann – »wie auch der Geist, das idealische, wie auch der Stoff die Darstellung«28 – sowohl ›unan21 22 23 24 25 26 27 28
MA, ebd.; Ebd. Ebd. MA, ebd.; MA, ebd.; Ebd. Ebd. Ebd.; StA:
128
FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 244. FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 243. FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 244. »[...] wie auch der Stoff, die Darstellung [...]«.
gewandt‹ als auch ›angewandt‹ verstanden werden. Im ersten Fall bezeichnet die (subjektive) Bedeutung des Gedichts lediglich die geistige Tätigkeit im poetischen Prozess, »die poëtische Verfahrungsweise, wie sie […] in jedem ächtpoetischen Geschäffte bemerkbar ist«.29 Auch hier wird nochmals deutlich, dass in diesem Kontext sowohl ›Stoff‹ als auch ›Grund‹ als ›Idealisches‹ verstanden werden müssen. Die subjektive Bedeutung oder Begründung des Gedichts wird in Bezug auf die Vermögen, die an dem poetischen Prozess beteiligt sind, als grundsätzlich synthetisch und in sich gegenstrebig bestimmt, als zugleich »genialisch und vom Urtheile geleitet«.30 Wird ›die Bedeutung des Gedichts‹ – als ›ächter Grund‹ des Gedichts, der »den Übergang […] zwischen dem Ausdruk, dem Dargestellten, dem sinnlichen Stoffe, dem eigentlich ausgesprochenen im Gedichte, und zwischen dem Geiste, der idealischen Behandlung«31 bilden soll – ›angewandt‹ verstanden, so »bezeichnen jene Worte die Angemessenheit des jedesmaligen poetischen Wirkungskreises, zu jener Verfahrungsweise, die Möglichkeit, die im Elemente liegt, jene Verfahrungsweise zu realisiren«.32 ›Angewandt‹ meint hier also nicht bloß die Umsetzung, sondern die erfolgreiche Realisation der geistigen Verfahrungsweise im »Elemente« des jeweiligen »poetischen Wirkungskreises«.33 2.2
Vorausgreifender Exkurs: die ›subjektive Begründung‹ ›angewandt‹ verstanden: zu ›Wirkungskreis‹ und ›Element‹
Der Abschnitt über den ›Wirkungskreis‹ und das ›Element‹34 findet sich in dem Fragment nicht hinreichend ausgeführt und nicht explizit in den Zusammenhang des Vorhergehenden und des Nachfolgenden integriert. Auch schließen die Ausführungen damit, dass die Definition der ›Begründung‹ bzw. der ›Bedeutung‹ des Gedichts, die vor den Erörterungen zum ›Wirkungskreis‹ und zum ›Element‹ gegeben wurde, an deren Abschluss wiederholt wird: Dieser Grund des Gedichts, seine Bedeutung, soll den Übergang bilden zwischen dem Ausdruk, dem Dargestellten, dem sinnlichen Stoffe, dem eigentlich ausgesprochenen im Gedichte, und zwischen dem Geiste, der idealischen Behandlung.35
29 30 31 32 33 34 35
MA, ebd.; FHA, Bd. 14, S. 305f.; StA, ebd. Ebd. MA, ebd.; FHA, Bd. 14, S. 305; StA, ebd. MA, ebd.; FHA, Bd. 14, S. 306; StA, ebd. Ebd. Vgl. MA, Bd. 2, S. 80 unten–81 unten; FHA, Bd. 14, S. 306; StA, Bd. 4,1, S. 244–245. MA, Bd. 2, S. 80; FHA, Bd. 14, S. 305; StA, Bd. 4,1, S. 244.
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Nach diesen Ausführungen heißt es dann: »Zwischen dem Ausdruke (der Darstellung) und der freien idealischen Behandlung liegt die Begründung und Bedeutung des Gedichts«.36 Doch scheint der Sinn dieser Ausführungen in der Bedeutungsgebung überhaupt zu liegen, in der das Gedicht seine Wahrheit (»seinen Ernst, seine Vestigkeit, seine Wahrheit«37) dadurch erhält, dass es im ›Leben‹ und nicht bloß in der idealischen Verfahrungsweise als ›leerer Manier‹38 gründet. Die leitende Fragestellung des Abschnitts besteht somit darin, wie ›das Leben‹, das NichtIdealische, in das Idealische der poetischen Verfahrungsweise übersetzt werden und darin der Bezug zum ›Leben‹ dennoch erhalten bleiben kann.39 Von der idealischen Seite her betrachtet bedeutet diese Frage, inwiefern und ob ein Nicht-Idealisches jeweils – ›angewandt‹ – dazu geeignet ist, in der Anverwandlung durch den Geist, somit als Idealisches, zugleich Nicht-Idealisches zu bleiben, d. h. aber, inwiefern das Nicht-Idealische, als Idealisches und NichtIdealisches im Gedicht, zum Zeichen für Idealisches werden kann, und d. h. in sich selbst Idealisches des Idealischen und des Nicht-Idealischen sein kann. Werden sowohl ›Stoff‹ als auch ›Grund‹ als bereits Idealische eingeführt, so lässt sich das Problem nur dadurch lösen, dass in der ›Anwendung‹40 das tatsächlich Nicht-Idealische, der ›Wirkungskreis‹ und das ›Element‹, eingeführt werden, die dem bereits idealischen ›Stoff‹ und ›Grund‹ gegenüberliegen. So verhält sich der ›Wirkungskreis‹ zum poetischen Geist in seinem Prozess zunächst widerstrebig (»der Tendenz nach, dem Gehalte seines Strebens nach dem poëtischen Geschäffte entgegen«41), da er, »im Zusammenhange der Welt betrachtet« »größer« als der poetische Geist ist und er somit, »indem dieser [der Wirkungskreis] aus dem Zusammenhange der lebendigen Welt genommen« wird, »der
36
37 38 39 40 41
MA, Bd. 2, S. 81; FHA, Bd. 14, S. 306; StA, Bd. 4,1, S. 245. Michael Konrad (Hölderlins Philosophie im Grundriß. Analytisch-kritischer Kommentar zu Hölderlins Aufsatzfragment »Über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes«. Bonn 1967) weist ebenfalls darauf hin (vgl. S. 155f.) und wertet die Ausführungen zum Wirkungskreis und zum Element lediglich als »Exkurs«, in dem der »Gedankengang nur unterbrochen und […] nicht fortgeführt« (S. 156) wird. In seinem Kapitel »Ergänzungen«, in dem Gedankengänge des Aufsatzfragments abgehandelt werden, die nach Konrads Analyse nicht zu den Hauptsträngen des Aufsatzes gehören, findet sich ein Abschnitt zu dem ›fragmentarischen Exkurs über den Wirkungskreis‹. In diesem betont Konrad, dass es kein Merkmal gebe – »außerhalb der Ausdrücke selbst« (S. 190) –, nach dem ›Element‹, ›Wirkungskreis‹ und ›Stoff‹ voneinander abgrenzbar wären. Er verweist lediglich auf eine Differenzierungsmöglichkeit innerhalb des Ausdrucks ›Stoff‹, insofern er auf zweierlei Weise betrachtet werden kann, nämlich einerseits als Darstellung (»insofern es [das, was im Gedicht aufgezählt wird, der Stoff] etwas darstellt«, S. 190) und andererseits als das Dargestellte (»insofern es [das, was im Gedicht aufgezählt wird, der Stoff] an sich etwas ist, also im Zusammenhang der Welt überhaupt betrachtet wird«, ebd.). MA, Bd. 2, S. 81; FHA, Bd. 14, S. 306; StA, Bd. 4,1, S. 245. Vgl. ebd. Hier zeichnet sich bereits das Kontradiktorische dieses Aktes ab. Vgl. MA, Bd. 2, S. 80; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 244. MA, Bd. 2, S. 81; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 245.
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poëtischen Beschränkung widerstrebt«.42 Ist dies aber der Fall, so muss für das Gelingen des Gedichts gerade in und aufgrund dieser Spannung eine Übertragung, eine ›Metapher‹, von einem Nicht-Idealischen in das Idealische erfolgen: »Insofern er [der Wirkungskreis] vom Dichter vestgehalten, und zugeeignet ist, [was genau das poetische ›Geschäft‹ ist, M. H.] ist er subordinirt«,43 somit etwas, das in den idealischen Prozess einbezogen werden kann. Diese Übersetzung kann im gegebenen Kontext jedoch keine einmalige und einseitige Bewegung vom Nicht-Idealischen in das Idealische bedeuten, sondern die Begründung des Gedichts ist zugleich ein Akt der Selbstreproduktion des Geistes in einem Nicht-Idealischen, somit auch eine Übertragung von dem Idealischen, dem Geist, in das Nicht-Idealische (neben der Selbstreproduktion des Geistes in sich). Der ›Wirkungskreis‹ ist somit »das, worinn und woran das jedesmalige poëtische Geschäfft und Verfahren sich realisirt, das Vehikel des Geistes, wodurch er sich in sich selbst und in andern reproducirt«.44 Es handelt sich bei dem Verhältnis des Geistes zum Nicht-Idealischen, dem ›Wirkungskreis‹ oder ›Element‹, somit um ein wechselseitiges Verhältnis von Übertragungen des einen in das andere: Es muß sich aber [dem Dichter im poetischen Prozess, M. H.] zeigen, wie dieses Widerstreits ungeachtet, in dem der poetische Geist bei seinem Geschäff te mit dem jedesmaligen Elemente und Wirkungskreise steht, dieser dennoch jenen begünstige, und wie sich jener Widerstreit auflöse, wie in dem Elemente das sich der Dichter zum Vehikel wählt, dennoch eine Receptivität für das poetische Geschäff t liege, und wie er [der poetische Geist] alle Forderungen, die ganze poëtische Verfahrungsweise in ihrem Metaphorischen ihrem Hyperbolischen, und ihrem [Lücke im Text] Karakter in sich realisire in Wechselwirkung mit dem Elemente, das zwar in seiner anfänglichen Tendenz widerstrebt, und geradentgegengesezt ist, aber im Mittelpuncte sich mit jenem vereiniget.45
Hölderlin verwendet ›Stoff‹ in diesem Zusammenhang einmal scheinbar ungenau, und zwar gleichbedeutend mit ›Wirkungskreis‹ (vgl. »der Dichter wird nur zu leicht durch seinen Stoff irre geführt«46), wie das auch schon in der Frage nach der »Receptivität des Stoffs zum idealischen Gehalt«47 der Fall war. Das erscheint jedoch nur dann ungenau, wenn man die Trennung von Idealischem und Nicht-Idealischem als unvermittelte aufrechterhält. Diese Differenz ist zwar notwendig, und um diese zu verdeutlichen und beizubehalten, werden im ›angewandten‹ Modus auch noch das ›Element‹ sowie der ›Wirkungskreis‹
42 43 44 45 46 47
Ebd. Ebd. MA, ebd.; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 244. MA, ebd.; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 245 (»[...] ihrem Metaphorischen, ihrem Hyperbolischen, [...] und gerade entgegengesezt ist [...]«), H. v. m. Ebd. MA, Bd. 2, S. 79; FHA, Bd. 14, S. 305; StA, Bd. 4,1, S. 243.
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als dezidiert Nicht-Idealisches eingeführt. Doch wird anhand der obigen Erörterungen über das eigentliche Verhältnis von Idealischem und Nicht-Idealischem (als Wechselwirkung im idealischen Prozess der Bedeutungsgebung) deutlich, dass in dem Vollzug der poetischen Verfahrungsweise und in dem gelungenen Gedicht (als sein ›Spiegel‹) der ›Stoff‹ und der ›Grund‹, das heißt das Idealische, letztlich das Nicht-Idealische (den ›Wirkungskreis‹ und das ›Element‹) als solches in sich aufgenommen haben muss. Das wiederum bedeutet, dass ›Stoff‹ und ›Grund‹ als ›Eines in sich selber unterschiednes‹ somit selbst jeweils ein Idealisches des Idealischen und des Nicht-Idealischen im Prozess der poetischen Verfahrungsweise werden müssen.48 Darin liegt ihr Sinn als ›subjektive Begründung‹ des Gedichts. Diese ›Zwiegestalt‹, die das Gedicht im Akt der subjektiven Begründung erlangt, macht das Gedicht zu einem gelungenen, das heißt überhaupt erst zu einem ›Gedicht‹. Dieses wird die Zweiheit von ›Geist‹ und ›Leben‹ als seinen ›Grund‹, seine ›Bedeutung‹, eigens aufzeigen. Die gelungene subjektive Begründung des Gedichts ist somit – wie dies in der synonymen Verwendung von ›Begründung‹, ›Bedeutung‹ und ›Grund‹ schon angezeigt ist – sowohl ein Akt in der poetischen Verfahrungsweise als auch das, worin das Gedicht ist. Diese Verdopplung muss erreicht werden, denn nur so kann sich der poetische Geist in dem Gedicht als einem zu ihm harmonisch Entgegengesetzten zugleich reproduzieren als auch sich selbst erkennen. Die Bedeutung und die Begründung des Gedichts ist »das geistigsinnliche, das formalmaterielle, des Gedichts«49 und sie ist »sich selber überall entgegengesezt«.50 Doch wirkt sich der idealische Vorgang des Begründens des Gedichts nicht in einem bloßen ›Zustand‹ desselben aus, sondern dieser ›Zustand‹ des Gedichts, dasjenige, worin die Begründung überführt wird, ist selbst dieser Vorgang. Der ›Grund‹ bzw. die ›Bedeutung‹ des Gedichts ist somit kein feststehendes ›Ergebnis‹, sondern vollzieht diesen Vorgang als Zustand selbst. Darin besteht der ganze Sinn der idealischen Bewegungen, die in der Verfahrungsweise vollzogen werden. Diese sollen ›zugeeignet‹, ›vestgehalten‹ werden, damit sich der menschliche Geist selbst einholen und auffassen kann. Das ist nur möglich durch die Gegenüberstellung mit etwas, das dem Geist harmonisch entgegengesetzt ist, das somit zum einen idealisch, als ›Produkt‹ des Geistes erscheint, zum anderen aber durch den konstitutiven Bezug auf ein Nicht-Idealisches 48
49 50
Dieses Nicht-Idealische ist dabei – gerade in der Anverwandlung durch den Geist in dem Verhältnis des ›Idealischen des Idealischen und des Nicht-Idealischen‹ – als das konstitutiv und unaufhebbar andere zu dem Idealischen gedacht. Den Stoff als »eine andere Erscheinungsform des Geistigen« in »typisch idealistische[r] […] Relativierung des Stofflichen« (Lawrence Ryan: Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne. Stuttgart 1960, S. 34) zu sehen, greift somit zu kurz und passt zu dem (idealistischen) Verständnis der ›ursprünglichen Einheit‹ als absoluter, das Ryan ansetzt (vgl. z. B. S. 23, 24 und 27). MA, Bd. 2, S. 81; FHA, Bd. 14, S. 306; StA, Bd. 4,1, S. 245. MA, Bd. 2, S. 82; FHA, Bd. 14, S. 307; StA, Bd. 4,1, S. 245f.
132
(hier als ›Wirkungskreis‹ und ›Element‹ bezeichnet) zugleich ein anderes zum Geist ist. Nur in diesem Verhältnis harmonischer Entgegensetzung von Geist und Nicht-Geist kann sich der Geist als er selbst erkennen und somit ›zu sich selbst‹, zu seiner ›Erfüllung‹ kommen. Das harmonisch Entgegengesetzte, das Gedicht, in dem und durch das sich der Geist als er selbst erkennt, muss somit in sich selbst die Bewegungen vollziehen, die der Geist in dem Schaffen dieses ihm harmonisch Entgegengesetzten, des Gedichts, selbst vollzogen hat (dies kommt am Ende des gesamten Entwurfs zur Darstellung51). Dieses andere, das Gedicht, unterscheidet sich in seinen Bewegungen insofern von dem Geist, als es diese Bewegungen – paradoxerweise – in sich festhält. Das Gedicht ›ist‹ diese Bewegungen, zugleich ist es ein anderes zu diesen und kann dies nur dadurch sein, dass der Geist sich einen Stoff gewählt hat, dessen ›Gehalt‹ er als ›Element‹ bzw. ›Wirkungskreis‹ aus Nicht-Idealischem genommen hat. Aus diesem Grund kann sich der begründete, idealische Stoff und somit das gelungene Gedicht als Idealisches des Idealischen und des Nicht-Idealischen zeigen. Nur dadurch, dass dieses Nicht-Idealische sowohl in dem Akt des Dichtens als auch in dem Gedicht selbst als solches erhalten und kenntlich bleibt, ist das Gedicht gelungen, hat es seine ›Wahrheit‹. Diese ›Wahrheit‹ ist eine Wahrheit in zweifachem Sinne. Sie ist die ›Wahrheit‹ des Nicht-Idealischen, das in dem Gedicht zu sich selbst kommt und zugleich die ›Wahrheit‹ des Geistes, der sich sowohl in dem Vorgang des Dichtens als auch in dem Gedicht als er selbst erkennt.52 Diese Zweiheit der Selbsterkenntnis in dem poetischen Prozess und dem Gedicht zeigt an, aus welchem Grund der Dichter – mit ›Hyperion‹ gesprochen – zum ›Erzieher des Volks‹ werden kann. Vollzieht sich im Dichten, das im gelungenen Gedicht mündet, nämlich die Selbsterkenntnis des poetischen, und d. h. des menschlichen Geistes und muss das Gedicht, damit es dies leisten kann, dem poetischen Verfahren harmonisch entgegengesetzt sein, indem es einerseits ein anderes zum Idealischen, andererseits aber dieses selbst ist, so gerät der Rezipient des Gedichts in der gelungenen Rezeption selbst in einen poetischen Prozess und vollzieht somit die Selbsterkenntnis als menschliches, und d. h. poetisches Wesen in seiner Ganzheit, was die Erfüllung der menschlichen Bestimmung gleichkommt. Der erzieherische Impetus des Gedichts ist somit deutlich. Er ist dadurch möglich, dass das Gedicht – wie oben bereits angedeutet – den poetischen Prozess, der sich in ihm reproduzieren soll, nicht bloß vollzieht, sondern ihn als solchen festhält und darstellt. Dieses ›Festschreiben‹ des Prozesses in der Darstellung kann jedoch keine Aufhebung desselben als Bewegung
51 52
Vgl. MA, Bd. 2, S. 99f.; FHA, Bd. 14, S. 321f.; StA, Bd. 4,1, S. 264f. Beides gilt nur im ›gelungenen‹ Fall, der jedoch weder garantiert ist, noch als solcher zweifelsfrei festgestellt werden kann.
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bedeuten, sondern die Darstellung kann nur ein in sich kontradiktorischer Akt und – von der Seite des ›Festgehaltenen‹ – eine in sich kehrige, paradoxe Struktur sein. Sie muss die Ruhe der Bewegung, das eine des Wechsels selbst sein (vgl. dazu auch Kapitel II). Damit ist jedoch kein Konstantes inmitten wechselnder Teile gemeint, sondern das ›eine‹, das der Wechsel als Wechsel selbst ist. Dieser ist als ständige Bewegung (als Oxymoron) seine eigene Ruhe und ›eines‹. Die ›poetische Verfahrungsweise‹ und das Gedicht entsprechen somit der grundsätzlichen, in sich widersprüchlichen Forderung des Geistes selbst, nämlich einerseits nach »Gemeinschaft und einige[m] Zugleichseyn aller Theile« und andererseits danach, »aus sich heraus zu gehen, und in einem schönen Fortschritt und Wechsel sich in sich selbst und in anderen zu reprodiciren«.53 2.3
Die poetische Verfahrungsweise als ›metaphorisch‹ und ›hyperbolisch‹
Die poetische Verfahrungsweise wird explizit als ›metaphorisch‹ und ›hyperbolisch‹ verstanden. ›Metaphorisch‹ wäre sie in diesem Kontext deshalb zu nennen, weil sich das Idealische in dem ›Element‹ realisiert, sich in dieses überträgt und dieses in Wechselwirkung zurückwirkt. ›Hyperbolisch‹ erscheint die poetische Verfahrungsweise deshalb, weil sie das ›Element‹ aus seinem lebendigen Zusammenhang in der Welt herausreißt, so dass die Anverwandlung des Elements durch den Geist dieses nicht als es selbst belassen kann, sondern es immer schon verändern, es zu einem anderen werden lassen muss. Dem entspricht auch die wörtliche Bedeutung des ›Hyperbolischen‹ als das ›Über … hinaus-Werfen‹.54 In dem Metaphorischen als dem Übertragen liegt die Bedeutung und Begründung des Gedichts. Denn genau das ist es, was »[z]wischen dem Ausdruke (der Darstellung) und der freien idealischen Behandlung liegt«.55 Die Widerstrebigkeit des poetischem Geistes mit dem von ihm gewählten Element im poetischen Prozess einerseits und ihre Vereinigung »im Mittelpuncte« andererseits bilden als Ganzes die Bedeutung des Gedichts. Diese ist – von der Seite des ›Werkes‹ betrachtet – »das geistigsinnliche, das formalmaterielle«.56 Die Bedeutung des Gedichts stellt folglich genau dieselbe, in sich widerstrebige Struktur dar, die oben herausgearbeitet wurde. Sie wird in ihrer Verfasstheit nochmals deutlich, wenn man betrachtet, dass »die idealische Behandlung in ihrer Metapher, ihrem Übergang, ihrer Episode, mehr vereinigend ist, hingegen 53 54
55 56
MA, Bd. 2, S. 77; FHA, Bd. 14, S. 303; StA, Bd. 4,1, S. 241, H. v. m. Die andere mögliche Bedeutung, dass die Anverwandlung des Elements durch den Geist gegenüber dem ursprünglichen Element nur in unendliche Annäherung erfolgen kann, dürfte aufgrund der Entsprechung von ›Metapher‹ und ›Hyperbel‹ zurücktreten. Dabei leistet die Hyperbel gegenüber der Metapher insofern noch eine gewichtige Differenzierung, als das diskontinuierliche Moment des ›Sprunges‹, das mit dem ›Über … hinaus-Werfen‹ verbunden ist, in dieser Fassung noch deutlicher wird. MA, Bd. 2, S. 81; FHA, Bd. 14, S. 306; StA, Bd. 4,1, S. 245. Ebd.
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der Ausdruk, die Darstellung in ihren Karakteren, ihrer Leidenschaft, ihren Individualitäten mehr trennend«.57 Verhält sich dies so, »so stehet die Bedeutung inne zwischen beiden, sie zeichnet sich dadurch aus, daß sie sich selber überall entgegengesezt ist«.58 Das Hyperbolische des Verfahrens der Bedeutungsgebung wird im Text nochmals genauer erläutert. Die Bedeutung ist sich unter anderem deshalb selbst entgegengesetzt, weil […] sie durch Entgegensezung durch das Berühren der Extreme vereiniget, indem diese sich nicht dem Gehalte nach, aber in der Richtung und dem Grade der Entgegensezung vergleichbar sind, so daß sie auch das Widersprechendste vergleicht, und durchaus hyperbolisch ist, daß sie nicht fortschreitet durch Entgegensezung in der Form, wo aber das erste dem zweiten dem Gehalte nach verwandt ist, sondern durch Entgegensezung im Gehalt, wo aber das erste dem zweiten der Form nach gleich ist, so daß naive und heroische und idealische Tendenz, im Object ihrer Tendenz sich widersprechen, aber in der Form des Widerstreits und Strebens vergleichbar sind, und einig nach dem Geseze der Thätigkeit, also einig im Allgemeinsten, im Leben.59
Das Übertragen der Metapher wird in dem Vergleichen der Extreme (›des Widersprechendsten‹) zu einem ›Über … hinaus-Werfen‹. Die verschiedenen Stoffarten, die gewählt wurden, sind nun nicht der Form, sondern dem Gehalt nach entgegengesetzt. In der Form ihres Widerstreits sind sie vergleichbar, also einig »nach dem Geseze der Thätigkeit, also einig im Allgemeinsten, im Leben«.60 Die Bedeutungsgebung, die ein Akt des Geistes, somit ein Idealisches ist, soll dem Idealischen einen realen Grund geben, d. h. es in Differenz mit ›dem Leben‹ vereinen. Wird ›das Leben‹ als der Einheitspunkt der verschiedenen – je nach Wahl des Stoffes naiven, heroischen und idealischen – ›Tendenzen‹ gesehen, so ist dieses Verhältnis wiederum lediglich ein »idealische[s], harmonisch entgegengesezte[s] und verbundene[s]«.61 Doch ist das Leben allgemein dasjenige, was hier die Verbindung stiftet, so wird »das idealische, harmonisch entgegengesezte und verbundene« nicht bloß als dieses, […] als schönes Leben, sondern auch als Leben überhaupt betrachtet, also auch als eines andern Zustandes fähig betrachtet […], und zwar nicht eines andern harmonischentgegengesezten, sondern eines geradentgegengesezten, eines Äußersten,
57 58 59 60 61
MA, Bd. 2, S. 81f.; FHA, ebd.; StA, ebd. MA, Bd. 2, S. 82; FHA, Bd. 14, S. 306f.; StA, Bd. 4,1, S. 245f. (»so stehet die Bedeutung zwischen beiden, [...]«). MA, ebd.; FHA, Bd. 14, S. 307; StA, Bd. 4,1, S. 246 (»[...] ihrer Tendenz, sich widersprechen [...]«). Ebd. Ebd.
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so daß dieser neue Zustand mit dem vorigen nur vergleichbar ist durch die Idee des Lebens überhaupt […].62
Der Geist treibt das hyperbolische Verfahren, das er in der Bedeutungsgebung ist, also dadurch voran, dass er die Verhältnisse der Entgegensetzung und Vereinigung auf eine höhere Ebene verlagert. So wird hier zunächst der Wechsel und die Entgegensetzung zwischen den verschiedenen Tendenzen durch das und in dem Leben vereint. Diese Vereinigung bedeutet jedoch, dass sich die widerstrebigen Tendenzen nicht ›gerade‹, direkt entgegengesetzt, sondern harmonisch entgegengesetzt verhalten. Doch erlaubt der Umstand, dass der Einheitspunkt hier das Leben allgemein ist, die Vorstellung, dass für dieses harmonisch Entgegengesetzte, das die widerstrebigen Tendenzen mit dem Einheitspunkt des Lebens bilden, auch ein anderer Zustand möglich ist, und zwar einer, der sich zu jenem nicht harmonisch, sondern »geradentgegengesezt[…]«, als ein »Äußerste[s]«63 verhält. Dies hätte zur Folge, dass sich der Gegensatz auf dieser höheren Reflexionsstufe in ein Extrem steigerte und wirklich als Gegensatz bestünde. Der neue Zustand, der zu dem alten in diesem offenen Gegensatz steht, ist mit dem alten nicht mehr »einig im Allgemeinsten, im Leben«,64 wie das bei den gegenstrebigen Tendenzen der Fall war, sondern er ist mit diesem nur noch »vergleichbar […] durch die Idee des Lebens überhaupt«.65 Die unendliche Annäherung des Idealischen an das Leben in der höchsten Entgegensetzung der beiden ist dasjenige, worin die poetische Verfahrungsweise als subjektive Bedeutungsgebung besteht. Sie erfüllt sich an diesem Punkt, da nun das Leben durch das idealische Verfahren der Entgegensetzung und Vereinigung in seinen äußersten Grenzen, dem äußersten möglichen Gegensatz, in dem nur noch die Idee des Lebens überhaupt das Verbindende sein kann, erfasst und in diesem idealischen Verfahren begriffen wird: »eben dadurch giebt der Dichter dem Idealischen einen Anfang, eine Richtung, eine Bedeutung. Das idealische in dieser Gestalt ist der subjective Grund des Gedichts, von dem aus, auf den zurükgegangen wird«.66 Das »innere idealische Leben« wird jedoch »in verschiedenen Stimmungen aufgefaßt«, so dass »es auch verschiedene Arten des subjectiven Begründens«67 gibt, die in Hölderlins Formulierung ausreichend deutlich werden: […] entweder wird die idealische Stimmung als Empfindung [H. v. m.] aufgefaßt dann ist sie der subjective Grund des Gedichts, die Hauptstimmung des Dichters beim ganzen Geschäff te, und eben weil sie als Empfindung vestgehalten ist, wird
62 63 64 65 66 67
Ebd. Ebd. Ebd., H. v. m. Ebd., H. v. m. Ebd. MA, Bd. 2, S. 82f.; FHA, ebd.; StA, ebd.
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sie durch das Begründen als ein verallgemeinbares [also gerade Entgegengesetztes, M. H.] betrachtet […].68
Die anderen beiden Möglichkeiten des subjektiven Begründens sind zum einen, das Streben als subjektiven Grund des Gedichts festzuhalten, so dass die idealische Stimmung durch das Begründen als Erfüllbares betrachtet wird, zum anderen die intellektuale Anschauung als Grund des Gedichts festzuhalten, so dass die idealische Stimmung durch das Begründen als Realisierbares betrachtet wird.69 2.4
Der zweite Schritt in der zweiten Phase: Die ›objektive Begründung‹
Dadurch, dass die idealische Stimmung im subjektiven Begründen als Realisierbares betrachtet werden kann, »fordert und bestimmt die subjective Begründung eine objective, und bereitet sie vor«.70 Durch diese objektive Begründung gibt der poetische Geist »seinem Geschäffte« »die Wirklichkeit«.71 Diese fehlt in der subjektiven Begründung, da das poetische Leben, um das es dabei geht, als »reines poëtisches Leben betrachtet«, »sich durchaus einig« ist, und zwar »vermöge des Harmonischen überhaupt und des zeitlichen Mangels«.72 Die poetische Verfahrungsweise hat somit ihr Ziel noch nicht erreicht. Sie muss das »Organ des Geistes« selbst betrachten […] als dasjenige, welches, um das harmonischentgegengesezte möglich zu machen, receptiv seyn muß so wohl für das eine [Harmonischentgegengesetzte, dass nämlich die verschiedenen harmonischen Stimmungen, s. o., materiell entgegengesezt und formal verbunden sind, M. H.], wie für das andre harmonischentgegengesezte [dass nämlich die verschiedenen harmonischen Stimmungen auch materiell verbunden und formal entgegengesezt sind, M. H.] […].73
Dies hat zur Folge, dass »derjenige Act des Geistes, welcher in Rüksicht auf die Bedeutung nur einen durchgängigen Widerstreit zur Folge hatte, ein ebenso vereinigender seyn [wird], als er entgegensezend war«.74 Das Entscheidende ist nun, wie dieser Akt in seiner Qualität begriffen wird, und das ist wiederum auf einer höheren Ebene der Fall, nämlich »im Begriffe der Einheit des Einigen, so daß von harmonischverbundenem eines wie das andere im Puncte der Entgegensezung und Vereinigung vorhanden ist, und daß
68 69 70 71 72 73 74
MA, Bd. 2, S. 83; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 246f. (»[...] aufgefaßt, dann [...]«). Vgl. MA, Bd. 2, S. 83; FHA, Bd. 14, S. 307f.; StA, Bd. 4,1, S. 247. MA, ebd.; FHA, Bd. 14, S. 308; StA, Bd. 4,1, S. 247. Ebd. Ebd. MA, Bd. 2, S. 85; FHA, Bd. 14, S. 309; StA, Bd. 4,1, S. 249. Ebd.
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der Geist in diesem Puncte in seiner Unendlichkeit fühlbar ist«,75 so »daß gerade da das Unendlichste sich am fühlbarsten am negativpositivsten und hyperbolisch darstellt, […] als Welt in der Welt, und so als Stimme des Ewigen zum Ewigen dargestellt wird«.76 Ziel ist also nicht nur, dass der poetische Geist »blos objectiven Zusammenhang«77 gewinnt, was in der objektiven Begründung der Fall ist, sondern auch »gefühlten und fühlbaren Zusammenhang und Identität im Wechsel der Gegensäze gewinne«.78 Um dieses Ziel zu erreichen, um sich letztlich »im Begriffe der Einheit des Einigen« zu begreifen, muss sich der Geist »beim Geschäffte eine Einheit« geben.79 Dies gelingt dem Geist in der Erinnerung, durch die er »in den verschiedenen Stimmungen sich gegenwärtig«80 bleibt, »so wie er sich ganz gegenwärtig ist, in der unendlichen Einheit«, die alle Erscheinungen von Entgegensetzung und Vereinigung umfasst, […] welche einmal Scheidepunct des Einigen als Einigen, dann aber auch Vereinigungspunct des Einigen als Entgegengesezten, endlich auch beedes zugleich ist, so daß in ihr [der unendlichen Einheit] das Harmonischentgegengesezte weder als Einiges entgegengesezt, noch als Entgegengeseztes vereinigt, sondern als beedes in Einem als einig entgegengeseztes unzertrennlich gefühlt, und als gefühltes erfunden wird.81 75 76 77 78 79
80 81
MA, Bd. 2, S. 85f.; FHA, Bd. 14, S. 310; StA, Bd. 4,1, S. 249f. (»[...] daß in diesem Puncte der Geist in seiner Unendlichkeit [...]«). MA, Bd. 2, S. 86; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 250 (»[...] am fühlbarsten, am negativpositivsten [...]«). MA, Bd. 2, S. 87; FHA, Bd. 14, S. 311; StA, Bd. 4,1, S. 251. Ebd. Ebd.; StA: »[...] beim Geschäffte, eine Einheit [...]«. Arnaud Villani (»Figures of duality. Hölderlin and Greek tragedy«. In: The solid letter. Readings of Friedrich Hölderlin. Ed. by Aris Fioretos. Stanford/California 1999, S. 175–200) schließt an seine Ausdeutung der Stelle weitere Reflexionen zum Verhältnis der Gegensätze an und sieht auch für die absolute Entgegensetzung in letzter Instanz die Möglichkeit der Versöhnung (»The absolutely opposed is the real irreconcilability of the real elements that do not struggle in a weak and insipid unity, but, at the end of their inexchangeability, find the strophe that joins them in reconciliation«, S. 194). Fred Lönker (Welt in der Welt. Eine Untersuchung zu Hölderlins »Verfahrungsweise des poetischen Geistes«. Göttingen 1989) arbeitet heraus, dass das Ziel des poetischen Verfahrens zwar in der Erfahrung der identischen Einheit des Ich »in seinen wechselnden Weltverhältnissen« liegt, dass »für den Verlauf des Wechsels« jedoch keine »Regel« rekonstruiert wird und es somit »fraglich bleiben« muss, »ob sich eine solche Erfahrung mit Notwendigkeit einstellt« (S. 131). Dies mag als Schwachpunkt einer subjektivitätsphilosophischen Abhandlung erscheinen, zugleich zeigt dies jedoch an, dass und inwiefern Hölderlins Ansatz diesen Rahmen gerade sprengt. MA, Bd. 2, S. 87; FHA, Bd. 14, S. 311; StA, Bd. 4,1, S. 251. Ebd. Johann Kreuzer (»Logik von Zeit und Erinnerung. Was unterscheidet die Wirklichkeit des Gesangs von der Form des Begriffs?« In: »Es bleibet aber eine Spur / Doch eines Wortes«. Zur späten Hymnik und Tragödientheorie Hölderlins. Hrsg. v. Christoph Jamme u. a. München 2004, S. 465–483) fasst die »Verfahrungsweise des poetischen Geistes« denn auch »als Logik der Zeit« auf, und zwar in der Hinsicht, dass die »poetische Logik […] dem Sinn und
138
Damit ist in der poetischen Verfahrungsweise die höchste und umfassendste Ebene der Einheit von Entgegengesetztem erreicht. Diese höchste Einheit von Entgegengesetztem bedeutet das ›Fühlen‹ dieser Struktur. Dieses ›Fühlen‹ ist jedoch nur ›eines‹ mit dem anderen seiner selbst, dem ›Erfinden‹. Ist ›Fühlen‹ hier in dem Sinne gebraucht, dass ein anderes, ›Objektives‹, diese Struktur der Einheit selbst, gefühlt wird, so steht der Akt des ›Erfindens‹ dieses Gefühlten dazu in diametralem Gegensatz. Doch sind beide ein und derselbe Akt. In diesem sind die äußersten Gegensätze in eins verschränkt. Dieser Umstand wird dadurch auf den Punkt gebracht, dass er in Bezug auf grundsätzlich widersprüchlich erscheinende Bestimmungen des Grundes von Kunst expliziert wird. Dieses ›Fühlen und Erfinden‹, dieser höchste poetische Akt, […] dieser Sinn ist eigentlich poëtischer Karakter, weder Genie noch Kunst, poëtische Individualität – und dieser [der poetischen Individualität] allein ist die Identität der Begeisterung und die Vollendung des Genie und der Kunst, die Vergegenwärtigung des Unendlichen, der göttliche Moment gegeben.82
Die poetische Individualität »ist also nie blos Entgegensezung des Einigen, auch nie blos Beziehung Vereinigung des Entgegengesezten und Wechselnden, Entgegengeseztes und Einiges sind in ihr unzertrennlich«.83 In ihrem »lezten Act« wird das »Harmonischentgegengesezte als Harmonisches entgegengeseztes, das Einige als Wechselwirkung in ihr als Eines begriffen«.84 2.5
Der dritte Schritt in der zweiten Phase: Übergang zur dritten Phase als Selbstauffassung der poetischen Individualität
Versucht der poetische Geist nun, das poetische Ich, ›die ursprüngliche poetische Individualität‹, auf dieser höchsten Stufe aufzufassen – was er gemäß der Forderung nach Freiheit tun muss – so kann er das nicht dadurch, dass er allein sich selbst zum Objekt wird. Vielmehr bedarf der poetische Geist auf dieser Stufe eines wahrhaft anderen, eines »äußere[n] Objects«,85 vermittels dessen er sich als poetische Individualität begreifen kann. Dieses ›äußere Objekt‹
82
83 84 85
dem ›poetischen Karakter‹ der Erinnerung als Logik artikulierter Zeit« (S. 480) entspricht. Vgl. auch ders.: »Zeit, Sprache, Erinnerung: Die Zeitlogik der Dichtung«. In: Hölderlin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. v. Johann Kreuzer. Stuttgart 2002, S. 147–161. MA, Bd. 2, S. 87; FHA, Bd. 14, S. 311; StA, Bd. 4,1, S. 251 (»[...] Individualität, und dieser allein ist die Identität der Begeisterung, ihr die Vollendung des Genie und der Kunst, [...]«), H. v. m. Diese syntaktische Umstellung in der StA ändert den Sinn nicht. Violetta L. Waibel (Hölderlin und Fichte. 1794–1800. Paderborn u. a. 2000) fasst Hölderlins Poetologie in dem letzten Teil (›Wink für die Darstellung und Sprache‹) als »eigener Beitrag Hölderlins zu einer Genieästhetik« (S. 295). MA, Bd. 2, S. 87; FHA, Bd. 14, S. 311; StA, Bd. 4,1, S. 251. MA, Bd. 2, S. 88; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 252, H. v. m. MA, ebd.; FHA, Bd. 14, S. 312; StA, ebd.
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muss so beschaffen sein, dass »die reine Individualität« durch dieses Objekt dazu bestimmt wird, einen der möglichen »poëtischen Karaktere[…], die sie annehmen kann«86 tatsächlich anzunehmen, »so daß also sowohl an der reinen Individualität, als an den andern Karakteren, die jezt gewählte Individualität und ihr durch den jetzt gewählten Stoff bestimmter Karakter, erkennbar und mit Freiheit vestzuhalten ist«.87 Die ursprüngliche poetische Individualität kann sich somit nicht rein an sich selbst auffassen. Sie ist sich nur erkennbar über die Vermittlung durch ein anderes, das sie zwar sein kann, das sie aber nicht als sie selbst ist, das heißt: Dieses andere, der poetische Charakter, den die poetische Individualität durch die Wahl des äußeren Objekts, des Stoffes, annimmt, ist zwar ein Zustand, welcher der reinen poetischen Individualität möglich ist, doch ist er diese nicht ›an ihr selbst‹. Die poetische Individualität kann sich nur durch ein anderes und in einem anderen ihrer selbst auffassen. Dennoch ist dieses Erkennen ›angemessen‹. Der Gedankengang wird nochmals in einer Fußnote wiederholt: Alles kommt also darauf an, daß das Ich nicht blos mit seiner subjectiven Natur, von der es nicht abstrahiren kann ohne sich aufzuheben, in Wechselwirkung bleibe, sondern daß es sich mit Freiheit ein Object wähle, von dem es, wenn es will abstrahiren kann, um von diesem durchaus angemessen bestimmt zu werden und es zu bestimmen. Hierin liegt die Möglichkeit, daß das Ich im harmonischentgegengesezten Leben als Einheit, und das Harmonisch-Entgegengesezte, als Einheit erkennbar werde im Ich in reiner (poëtischer) Individualität. Zur freien Individualität wird, zur Einheit und Identität für sich selbst gelangt das reine subjective Leben erst durch die Wahl seines Gegenstandes.88
Dieser Schritt, der als letzter in dem poetischen Verfahren notwendig ist, wird als derselbe erläutert, der bei der höchsten Erfassung des eigenen Ich überhaupt stattfinden muss. Hier deutet sich schon an, dass das höchste Menschsein mit dem Gelingen des dichterischen Prozesses zusammenfällt. Bevor der Text auf die dritte Phase zu sprechen kommt, rekapituliert er den Gesamtprozess, indem er die allgemeine Entwicklung des menschlichen Geistes darstellt.
86 87 88
Ebd. Ebd. MA, Bd. 2, S. 90; FHA, Bd. 14, S. 313f.; StA, Bd. 4,1, S. 254 (»[...] nicht abstrahiren kan ohne [...] wenn es will, abstrahiren kann, [...] freien Individualität, zur Einheit und Identität in sich selbst gebracht wird das reine subjective Leben [...]«). Die Abweichung in der Lesart, ›Identität für sich selbst gelangt‹ vs. ›Identität in sich selbst gebracht‹, ändert den Sinn nicht wesentlich.
140
3.
Nachtrag und Rekapitulation anhand der allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes und genauere Bestimmung der dritten Phase
3.1
Nachtrag zur ersten Phase und Rekapitulation der zweiten
Hölderlin beschreibt die Entwicklung des Menschen (den Phasen des poetischen Prozesses entsprechend) in drei Stufen. Geht der poetische Prozess von einer »lebendigen Empfindung«89 aus, so steht diese Phase in Analogie zur Kindheit, in welcher der Mensch in »natürlichem Zusammenhange mit einer natürlich vorhandenen Welt«90 lebt. Die zweite Phase im Dichten gehorcht den in sich gegensätzlichen Forderungen des Geistes, zugleich in sich zu bleiben und aus sich herauszugehen.91 Sie ist somit von einer Ineinanderstaffelung von Entgegensetzungen und Vereinigungen geprägt, in denen sich der Geist in sich und außerhalb seiner selbst reproduziert und sich somit selbst einholt. Diese Selbstauffassung des poetischen Geistes schreitet in dem Wechsel von Trennung und Vereinigung bis zu dem Punkt der Erkenntnis der eigenen poetischen Individualität voran, wo er sich selbst aufheben würde, wenn er sich kein ›äußeres Objekt‹ wählen würde. Der zweiten Phase, der ›Phase des Geistes‹, entspricht in der menschlichen Entwicklung die ›Jünglingsphase‹.92 In diesem »Mittelzustand« wird analog zum dichterischen Prozess […] erkannt und erfahren, wie er [der Mensch] schlechterdings im Widerspruche mit sich selber, im nothwendigen Widerstreite I) des Strebens zur reinen Selbstheit und Identität, 2) des Strebens zur Bedeutenheit und Unterscheidung, 3) des Strebens zur Harmonie verbleiben, und wie in diesem Widerstreite jede dieser Bestrebungen sich aufheben und als unrealisirbar sich zeigen muß […].93
Denn in dieser zweiten Phase wird versucht, das ›Unmögliche‹ zu vereinigen, »frei zu seyn, wie ein Jüngling, und in der Welt zu leben wie ein Kind« sowie die »Unabhängigkeit eines kultivirten Menschen, und […] [die] Accomodation eines gewöhnlichen Menschen«94 zu verwirklichen. Darin stellt sich folglich auch der Geist als in Widerspruch mit sich selbst und diesen wiederum in sich auflösend dar (vgl. den ersten Satz der Abhandlung).
89 90 91 92 93 94
MA, Bd. 2, S. 96; FHA, Bd. 14, S. 319; StA, Bd. 4,1, S. 261. MA, Bd. 2, S. 91; FHA, Bd. 14, S. 314; StA, Bd. 4,1, S. 255. Vgl. MA, Bd. 2, S. 77; FHA, Bd. 14, S. 303; StA, Bd. 4,1, S. 241. Vgl. MA, Bd. 2, S. 91; FHA, Bd. 14, S. 314; StA, Bd. 4,1, S. 255. Ebd. MA, ebd.; FHA, Bd. 14, S. 314f.; StA, ebd.
141
3.2
Der Übergang zur dritten Phase und nähere Bestimmung dieser
Wird dies »erkannt und erfahren«, also die zweite Phase durchlaufen, so […] löst sich [das Problem] auf in Befolgung der Regel: Seze dich mit freier Wahl in harmonische Entgegensezung mit einer äußeren Sphäre, so wie du in dir selber in harmonischer Entgegensezung bist, von Natur, aber unerkennbarer weise so lange du in dir selbst bleibst.95
Darin besteht der Übergang in die dritte und höchste Phase, den Zustand »reifer Humanität«, in dem sich der Mensch in einem »höheren Zusammenhange mit einer auch natürlich vorhandenen, aber mit freier Wahl zur Sphäre erkornen voraus erkannten und in allen ihren Einflüssen nicht ohne seinen Willen ihn bestimmenden Welt«96 befindet. Das Leben ist darin nicht mehr – wie im Zustand der Kindheit – »mechanisch schön[…]«, sondern »menschlich schön[…], mit Freiheit schöne[s] Leben«.97 Diesem dritten Zustand entspricht die höchste Stufe im dichterischen Prozess, in dem »die Sprache geahndet wird«98 und aus der heraus die eigentliche Schöpfung, das Werk als ›Produkt‹ (der Selbstreproduktion) der poetischen Individualität hervorgehen kann. Der poetische Geist erreicht diese Stufe jedoch nur dadurch, dass er sich – entsprechend dem Jüngling – in seiner Individualität erkennt, was wiederum nur durch ein anderes, ein »äußeres Object«,99 möglich ist, das sich der Geist frei wählt. In dieser Wahl besteht der Übergang von der zweiten in die dritte Phase. Darin setzt sich der Geist in harmonische Entgegensetzung mit der frei gewählten äußeren Sphäre, wodurch er sich allererst in seiner Individualität erkennen kann. Diese Erkenntnis, die zugleich die Erfüllung der Bestimmung des Menschen bedeutet,100 erreicht der Mensch weder dadurch, dass er ganz in sich bleibt und sich lediglich durch sich selbst zu erkennen versucht, noch dadurch, dass er sich ganz mit einer äußeren Sphäre vereinigt, wie das beim Kind der Fall ist.101 Die Erkenntnis der eigenen Individualität ist nur durch diese harmonische Entgegensetzung mit einer frei gewählten äußeren Sphäre möglich. Diese muss dabei jedoch ein wirklich anderes zu dem Geist sein und nicht – wie das in der zweiten Phase, der Bedeutungsgebung des Gedichts, der Fall war – ein selbst schon Idealisches, das als aus einem ›ächten Grund‹ hervorgegangen idealisch 95 96 97 98 99 100 101
MA, ebd.; FHA, Bd. 14, S. 315; StA, Bd. 4,1, S. 255f. MA, ebd.; FHA, Bd. 14, S. 314; StA, Bd. 4,1, S. 255. Ebd. MA, Bd. 2, S. 97; FHA, Bd. 14, S. 319; StA, Bd. 4,1, S. 261. MA, Bd. 2, S. 88; FHA, Bd. 14, S. 312; StA, Bd. 4,1, S. 252. Das sieht auch Lawrence Ryan so (vgl. Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne. Stuttgart 1960, S. 87). Vgl. MA, Bd. 2, S. 93f.; FHA, Bd. 14, S. 316f.; StA, Bd. 4,1, S. 257f.
142
dargestellt wird. Die subjektive wie die objektive Begründung des Gedichts bleiben trotz des Bezugs auf einen Wirkungskreis und ›ächten Grund‹ im Idealischen befangen, was bei dem Übergang von der zweiten in die dritte Phase nicht der Fall ist. Setzt sich der Geist in freier Wahl in harmonische Entgegensetzung mit einer – wirklichen – äußeren Sphäre, so bedeutet das, dass der Geist zum einen in einer Einheit mit der äußeren Sphäre steht, zum anderen jedoch in Differenz. Geschieht diese harmonische Entgegensetzung in ›freier Wahl‹, so ist ihm das Gesamtverhältnis bekannt, und es kann von ihm als dieses, als harmonische Entgegensetzung, festgehalten werden. Darin besteht der entscheidende Unterschied zu dem Verhältnis des Kindes zu seiner ›Sphäre‹, denn dieses kann die Differenz zwischen sich und seiner Welt nicht aufrechterhalten sowie zu dem Zustand des ›Jünglings‹, der von Widersprüchen in sich selbst geprägt ist. Der Geist kann also, wenn er sich in freier Wahl in harmonische Entgegensetzung mit einer äußeren Sphäre bringt, sowohl die Einheit als auch die Differenz mit dieser Sphäre bewahren. Aufgrund dieser Beziehung harmonischer Entgegensetzung, die er selbst hergestellt hat und somit kennt, kann sich der Geist in dem Durchgehen dieser Übereinstimmungen und Differenzen, als sich selbst erkennen. In diesem Wechselprozess von Vereinigung und Entzweiung des Geistes mit der äußeren Sphäre, der in dem idealischen ›Durchgehen‹ des Verhältnisses der harmonischen Entgegensetzung stattfindet, kann sich der Geist über diese Übereinstimmungen und Differenzen mit dem anderen als er selbst bestimmen und somit er selbst werden:102 Auf diese Art erreicht er [der Mensch] seine Bestimmung, welche ist – Erkenntniß des Harmonischentgegengesezten in ihm, in seiner Einheit und Individualität, und hinwiederum Erkenntniß seiner Identität, seiner Einheit und Individualität im Harmonischentgegengesezten [= in der äußeren Sphäre, zu der er sich durch freie Wahl in harmonische Entgegensetzung setzt]. Diß ist die wahre Freiheit seines Wesens […].103
Diese Wechselbeziehung zwischen Innerem und Äußerem, in der sich der Geist selbst erkennt als in dieser Wechselbeziehung stehend – auch hier wieder das Ineinander von Geschehen und gleichzeitigem Erkennen dieses Geschehens, wie es dem Verhältnis harmonischer Entgegensetzung entspricht – ist die Bestimmung des Menschen. Sie wird an anderer Stelle auch derart gefasst, »daß er [der Mensch] sich als Einheit in Göttlichem-Harmonischentgegengesezten enthalten, so wie umgekehrt, das Göttliche, Einige, Harmonischentgegengesezte, in sich, als Einheit enthalten erkenne«.104 102 103 104
Eine entsprechende Struktur zeigt sich auch in dem Aufsatzfragment »Das untergehende Vaterland …« in dem Verhältnis von realer und idealischer Auflösung. MA, Bd. 2, S. 92f.; FHA, Bd. 14, S. 316; StA, Bd. 4,1, S. 257. MA, Bd. 2, S. 94; FHA, Bd. 14, S. 317; StA, Bd. 4,1, S. 259. Es ist deutlich, inwiefern diese Charakterisierung eine differenziertere Ausführung des Mot-
143
Das andere, die äußere Sphäre, mit der sich der Geist in harmonische Entgegensetzung bringen muss, wird in diesem Kontext unvermittelt als ›Göttliches‹ bezeichnet.105 Dadurch wird nochmals deutlich, dass das andere, worum es hier geht, ein wahres anderes sein muss und nicht bloß in einem Reflex des Geistes oder einem ihm Anverwandelten bestehen kann. Der menschliche Geist setzt sich mit diesem anderen in harmonische Entgegensetzung, und so fasst er das Göttliche (als das harmonisch Entgegengesetzte) und sich selbst als zwei Einheiten auf, die – paradoxerweise – jeweils gegenseitig ineinander enthalten sind. In der Erkenntnis dieser gegenseitigen ›Verschlungenheit‹ von Göttlichem und Menschlichem erkennt der Mensch sich selbst und erfüllt darin seine Bestimmung: »[D]iß ist allein in schöner, heiliger, göttlicher Empfindung möglich«.106 Diese – auch »transcendental«107 genannte – Empfindung ist höchste Erkenntnis und vereint die verschiedenen Vermögen des Menschen, die sonst nur in zeitlichem Wechsel auftreten, in sich: Die Empfindung ist deshalb ›göttlich‹, […] weil sie weder bloßes Bewußtseyn, bloße Reflexion (subjective, oder objective,) mit Verlust des innern und äußern Lebens noch bloßes Streben, (subjectiv oder objectiv bestimmtes) mit Verlust der innern und äußern Harmonie, noch bloße Harmonie, wie die intellectuale Anschauung und ihr mythisches bildliches Subject-Object, mit Verlust des Bewußtseyns, und der Einheit, sondern weil sie alles diß zugleich ist, und allein seyn kann […].108
In Verbindung mit der Unterscheidung von Philosophie und Dichtung, die in den ›Anmerkungen zur Antigonä‹ gegeben wird, wonach »die Philosophie nur ein Vermögen der Seele behandelt«, die Dichtung jedoch »die verschiedenen Vermögen des Menschen«,109 wird deutlich, dass dies ein originär dichterischer Zustand sein muss.
105
106 107 108 109
tos des ›Hyperion‹, »Non coerceri maximo, contineri minimo, divinum est« (MA, Bd. 1, S. 610; FHA, Bd. 11, S. 578; StA, Bd. 3, S. 4), darstellt, zumal der erzählte Hyperion in seiner ›Athenerrede‹ den zu sich gekommenen Menschen als Gott und als schön bestimmt: »Der Mensch ist aber ein Gott, so bald er Mensch ist. Und ist er ein Gott, so ist er schön« (MA, Bd. 1, S. 683; FHA, Bd. 11, S. 678; StA, Bd. 3, S. 79). Das Wesen der Schönheit ist jedoch nichts anderes als »das εν διαϕεϱον εαυτῳ (das Eine in sich selber unterschiedne) des Heraklit« (MA, Bd. 1, S. 685; FHA, Bd. 11, S. 681; StA, Bd. 3, S. 81). Wie die Figur Hyperion kann der Mensch seine Bestimmung nur im poetischen Prozess erreichen. Sieglinde Grimm (»Vollendung im Wechsel«. Hölderlins Verfahrungsweise des poetischen Geistes als poetologische Antwort auf Fichtes Subjektphilosophie. Tübingen u. a. 1997) bringt diesen Ausdruck mit Hölderlins »Tragödienkonzeption« in Verbindung, die in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« »angelegt[…]« sei und die sie als Versuch deutet, »die antike Deckungsgleichheit zwischen Schönheit und Absolutem neu [zu] beleben« (S. 335). MA, Bd. 2, S. 94; FHA, Bd. 14, S. 317; StA, Bd. 4,1, S. 259. MA, Bd. 2, S. 95; FHA, ebd.; StA, ebd. MA, Bd. 2, S. 94f.; FHA, ebd. (»[...] Subject Object [...]«); StA, ebd. (»[...] bloßes Streben [subjectiv oder objectiv bestimmtes] […] Subject, Object [...] und allein seyn kan [...]«). MA, Bd. 2, S. 369; FHA, Bd. 16, S. 411; StA, Bd. 5, S. 265.
144
4.
Der letzte Abschnitt des Entwurfs: ›Wink für die Darstellung und Sprache‹
4.1
Die dritte Phase und das Werk
Der letzte Abschnitt des Entwurfs »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« rekapituliert zum einen die drei wesentlichen Phasen sowohl der menschlichen Entwicklung als auch des poetischen Prozesses, zum anderen deutet er das Verhältnis dieser höchsten Stufe zur Sprache, also zum konkreten Gedicht, in dem sich die Bestimmung des Dichters verwirklicht. Ein weiteres Mal wird somit in dem Text versucht, das eigentliche Ziel des poetischen Prozesses, das Entstehen des Gedichts, aus diesem heraus zu erklären. Inwiefern das auch in dem Schlussabschnitt nicht vollständig gelingt, zeigt bereits die Überschrift ›Wink für die Darstellung und Sprache‹ an. Wiederum rekapituliert Hölderlin die vorangegangenen Phasen unter Variation der Ausdrucksweise. Um diese jedoch nachvollziehbar zu machen, sollen hier auch die inhaltlichen Wiederholungen und Redundanzen des Textes nachverfolgt werden, um diesen als ganzen zu erschließen. Der Abschnitt setzt mit einer rhetorischen Frage ein, in der die in dem dritten Zustand beschriebene ›göttliche‹, ›transzendentale‹ Empfindung bzw. Erkenntnis mit der Sprache analog gesetzt wird. Die Sprache wäre demnach wie diese Erkenntnis oder Empfindung »dreifacher Art«, und »in ihr [wäre], als Einheit das Einige enthalten […], und umgekehrt«:110 »Muß nicht für das eine, wie für das andere der schönste Moment da liegen, wo der eigentliche Ausdruk, die geistigste Sprache das lebendigste Bewußtseyn, wo der Übergang von einer bestimmten Unendlichkeit zur allgemeineren liegt?«111 Die eigentliche Erfüllung des dichterischen Prozesses und der menschlichen Bestimmung liegt somit im ›Ausdruk‹. Dieser ist die Darstellung der göttlichen, transzendentalen Empfindung, somit der Vereinigung von Geistigem und Lebendigem in dem Übergang von der zweiten in die dritte Phase, in dem der Geist sich dadurch erkennt, dass er sich mit einer äußeren Sphäre, einem Göttlichen, in harmonische Entgegensetzung bringt. Der Ausdruck dieses Übergangs, dieses ›schönsten Moments‹, ist somit ein in sich in höchster Weise widerstrebig Gespanntes, da der Übergang auf dem Endpunkt höchster Geistigkeit geschieht, die Entgegensetzung zu der äußeren Sphäre somit extrem ist. Dieser Ausdruck ist »die geistigste Sprache« bzw. »das lebendigste Bewußtseyn«.112 Er ist Darstellung der göttlichen, transzendentalen Empfindung, die in diesem
110 111 112
MA, Bd. 2, S. 96; FHA, Bd. 14, S. 318; StA, Bd. 4,1, S. 260. Ebd.; StA: »[...] das eine wie für [...] die geistigste Sprache, das lebendigste Bewußtseyn, [...]«. Ebd.
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Übergang stattfindet und in der die verschiedenen Vermögen des Menschen zu einem verbunden sind und aus der sie zugleich hervorgehen können. Folglich wird auch »alle Beurtheilung der Sprache sich darauf reduciren, daß man nach den sichersten und möglich untrüglichsten Kennzeichen sie prüft, ob sie die Sprache einer ächten schön beschriebenen Empfindung sei«.113 In diesem Übergang, diesem ›schönsten Moment‹, wird somit die Sprache ›geahndet‹.114 Geht die Sprache jedoch aus diesem hervor und ist sie Ausdruck der ›göttlichen Empfindung‹, dann ist sie zugleich deren Zeugnis und Bezeugung, so dass zwischen beiden eine Wechselwirkung besteht: »So wie die Erkentniß die Sprache ahndet, so erinnert sich die Sprache der Erkentniß«.115 In der Sprache des Gedichts ist somit eine ›Erinnerung‹ an eine derartige Empfindung möglich. Die gelingende Rezeption bedeutet somit ein Durchlaufen des poetischen Prozesses durch den Leser. Die Stufen des dichterischen Verfahrens werden im Kontext der Darstellungsproblematik des menschlichen Geistes wiederholt, worin sich ein weiteres Mal andeutet, dass die höchste Bestimmung des Menschen im Dichten bestehen muss, da die Sprache, die in diesem ›schönsten Moment‹ geahndet wird und die der ›Ausdruck‹ der göttlichen Empfindung in ihrer Ganzheit sein soll, allein die poetische sein kann.116 Die ›göttliche Empfindung‹, in der die Erkenntnis die Sprache ›ahndet‹, kommt dann zustande, wenn die ersten beiden Stufen durchlaufen wurden, wenn die erste Phase, in der die Erkenntnis »noch unreflectirte reine Empfindung des Lebens war, der bestimmten Unendlichkeit worinn sie enthalten ist«,117 überwunden wurde auf die zweite hin, in der die ursprüngliche Empfindung reflexiv wiederholt wird, wodurch die Empfindung ihre Lebendigkeit verliert. Nur dadurch jedoch, dass beide Einseitigkeiten, die reine Empfindung und die reine Geistigkeit, durchlaufen werden, kann die höchste Stufe erreicht werden, die als göttliche Empfindung die verschiedenen Vermögen des Menschen in sich vereint.118
113 114 115
116 117 118
MA, ebd.; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 261. Vgl. MA, ebd.; FHA, Bd. 14, S. 318f.; StA, Bd. 4,1, S. 260f. MA, ebd.; FHA, Bd. 14, S. 319; StA, Bd. 4,1, S. 261. Lawrence Ryan (Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne. Stuttgart 1960) sieht darin mehr ein Begründungsverhältnis in dem Sinn, dass »die Erschaffung der Sprache den Vollzug der Erkenntnis voraussetzt« (S. 84), was einerseits sicherlich zutrifft, jedoch dem Vollzugscharakter der Sprachfindung in der Wechselwirkung mit der ›Erkenntnis‹ nicht gerecht wird. Angemessener sieht Ryan das Verhältnis von geistiger Verfahrungsweise und Gedicht an späterer Stelle (vgl. S. 102 und 104). Vgl. die ›Anmerkungen zur Antigonä‹, MA, Bd. 2, S. 369; FHA, Bd. 16, S. 411; StA, Bd. 5, S. 265. MA, Bd. 2, S. 96; FHA, Bd. 14, S. 319; StA, Bd. 4,1, S. 261. Zur Bestimmung der ›göttlichen‹ im Vergleich zur ›schönen‹ und ›heiligen Empfindung‹ vgl. die Aufstellung bei Georg Mein: Die Konzeption des Schönen. Der ästhetische Diskurs zwischen Aufklärung und Romantik: Kant – Moritz – Hölderlin – Schiller. Bielefeld 2000, S. 156.
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Diese Vereinigung wird wiederum nur dadurch möglich, dass sich der Mensch mit einem wahren anderen in harmonische Entgegensetzung bringt, d. h. ›über sich selbst hinausgeht‹. Darin findet der Mensch seine ursprüngliche Empfindung gesteigert wieder, denn der Mensch empfindet nicht bloß, wie in der ersten Phase, rein und unreflektiert das Leben, die »bestimmte Unendlichkeit worinn sie [die Empfindung] enthalten ist«,119 sondern die Empfindung und die Erkenntnis, die dann eines sind, finden sich durch den Bezug zu einer äußeren Sphäre »in der ganzen Unendlichkeit«120 wieder, und die Empfindung/Erkenntnis wird »ihres ganzen innern und äußern Lebens mächtig und inne«:121 In eben diesem Augenblike wo sich die ursprüngliche lebendige, nun zur reinen eines Unendlichen empfänglichen Stimmung geläuterte Empfindung, als Unendliches im Unendlichen, als geistiges Ganze [sic!] im lebendigen Ganzen befindet, in diesem Augenblike ist es, wo man sagen kann, daß die Sprache geahndet wird […].122
An späterer Stelle wird die Gleichsetzung der Bestimmung des Menschen mit der des Dichters explizit, wenn es heißt: […] also wenn diß der Gang und die Bestimmung des Menschen überhaupt zu seyn scheint, so ist ebendasselbe der Gang und die Bestimmung aller und jeder Poësie, und wie auf jeder Stuffe der Bildung, wo der Mensch aus ursprünglicher Kindheit hervorgegangen in Entgegengesezten Versuchen zur höchsten Form zum reinen Wiederklang des ersten Lebens sich emporgerungen hat, und so als unendlicher Geist im unendlichen Leben sich fühlt, wie der Mensch auf dieser Stuffe der Bildung erst eigentlich das Leben antritt, und sein Wirken und seine Bestimmung ahndet, so ahndet der Dichter, auf jener Stuffe, wo er auch aus einer ursprünglichen Empfindung, durch entgegengesezte Versuche, sich zum Ton, zur höchsten reinen Form derselben Empfindung emporgerungen hat und ganz in seinem ganzen inneren und äußeren Leben mit jenem Tone sich begriffen sieht, auf dieser Stuffe ahndet er seine Sprache, und mit ihr die eigentliche Vollendung für die jezige und zugleich für alle Poësie.123
Auch die vorigen Zustände haben ihre ›Äußerung‹. Deren ›Vollendung‹, somit die ›Vollendung‹ des poetischen Prozesses und der menschlichen Bestimmung, liegt in dem ›Ausdruck‹ der ›göttlichen Empfindung‹, der im Übergang von der zweiten in die dritte Phase ›geahndet‹ wird und auf der dritten Stufe als Reflexion stattfindet. Diese Reflexion ist dann jedoch nicht mehr »auflösend und verallgemeinernd, vertheilend, und abbildend, bis zur blosen Stimmung« – wie das in der zweiten Phase der Fall war –, sondern 119 120 121 122 123
MA, Bd. 2, S. 96; FHA, Bd. 14, S. 319; StA, Bd. 4,1, S. 261. Ebd. Ebd. MA, Bd. 2, S. 96f.; FHA, ebd.; StA, ebd. MA, Bd. 2, S. 98; FHA, Bd. 14, S. 320; StA, Bd. 4,1, S. 263.
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[…] sie giebt dem Herzen alles wieder, was sie ihm nahm, sie ist belebende Kunst, wie sie zuvor vergeistigende Kunst war, und mit einem Zauberschlage um den andern ruft sie das verlorene Leben schöner hervor, bis es wieder so ganz sich fühlt, wie es sich ursprünglich fühlte.124
Sie ist – wie es am Schluss der Abhandlung heißt – »die unendliche schöne Reflexion, welche in der durchgängigen Begränzung zugleich durchgängig beziehend und vereinigend ist«.125 Darin kommt nicht nur der Mensch zu seiner Bestimmung, sondern auch die ›äußere Sphäre‹, das Göttliche, womit sich der Geist im Übergang von der zweiten in die dritte Phase in harmonische Entgegensetzung brachte.126 Damit erfüllt sich zugleich der Bezug harmonischer Entgegensetzung von Menschlichem und Göttlichem, was bedeutet, dass die jeweils höchsten Zustände der beiden Beteiligten in wechselseitiger Konstitution erreicht werden. Das geschieht – so die Formulierung – dadurch, dass der Mensch dem Unendlichen, Göttlichen, »seiner Welt den Dank«127 wiederbringt. Dieser Dank muss aber notwendigerweise das dichterische Werk selbst sein.128 4.2
Die Aporie des ›göttlichen Moments‹ und das Gedicht zwischen Auto- und Heteroreferentialiät
Das Verhältnis von Göttlichem und Menschlichem erfüllt sich somit darin, dass der Mensch dem Göttlichen seinen Dank entgegenbringt, und zwar dafür, dass er sich dank dieses Göttlichen in seiner menschlichen Bestimmung findet und diese im Gedicht verwirklicht. Die Äußerung der ›göttlichen, transzendentalen Empfindung‹, die der Mensch in die Wechselwirkung mit der äußeren Sphäre, dem Göttlichen, erreichen konnte, ist somit selbst der Dank an das Göttliche und sowohl die Verwirklichung der Bestimmung des Menschen und des Göttlichen, als auch die Erfüllung des höchsten Verhältnisses, in das Menschliches und Göttliches als harmonisch Entgegengesetzte treten können.129 Diese Ver-
124 125 126 127 128
129
MA, Bd. 2, S. 97; FHA, Bd. 14, S. 319; StA, Bd. 4,1, S. 261. MA, Bd. 2, S. 100; FHA, Bd. 14, S. 322; StA, Bd. 4,1, S. 265. Dies betont auch Lawrence Ryan, vgl. Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne. Stuttgart 1960, S. 91. MA, Bd. 2, S. 97; FHA, Bd. 14, S. 319; StA, Bd. 4,1, S. 262. Zum Hölderlin’schen ›Dank‹ im Verhältnis zu Fichtes ›Wechselwirkung‹ vgl. Johann Kreuzer: »Vom Ich zur Sprache. Fichte und Hölderlin«. In: Fichte und die Literatur. Hrsg. v. Helmut Girndt u. a. Amsterdam 2002 (= Fichte-Studien 19), S. 185–198, v. a. S. 190f. und 192–194. Hölderlins ›späte‹ ›Hymnen‹ können somit trotz aller Einwände (vgl. Ulrich Gaier: »›Heilige Begeisterung‹. Vom Sinn des Hymnischen um 1800«. In: HJb 32 [2000/01], S. 7–49; ders.: »›Bald sind wir aber Gesang‹. Vom Sinn des Hymnischen nach 1800«. In: »Es bleibet aber eine Spur / Doch eines Wortes«. Zur späten Hymnik und Tragödientheorie Hölderlins. Hrsg. v. Christoph Jamme u. a. München 2004, S. 177–195, sowie ders.: »Späte Hymnen, Gesänge, Vaterländische Gesänge?«. In: Hölderlin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. v. Johann Kreuzer. Stuttgart 2002, S. 162–174) als solche bezeichnet werden.
148
wirklichung ist die Darstellung des Verhältnisses als wechselseitige Konstitution der höchsten Zustände der beiden Beteiligten, die Äußerung der ›göttlichen Empfindung‹ im Gedicht, und dieses ist es, worin der Mensch dem Göttlichen, dem Unendlichen, ›seiner Welt‹, den Dank zurückbringt. Auch hier zeigt sich eine Doppelwertigkeit des Dankes, d. h. aber des Gedichts selbst. Es ist zum einen die Verwirklichung des höchsten Zustandes des Menschen in seinem Verhältnis zum Göttlichen, zum anderen ist es darin auch der Dank für diese Erfüllung. Der Dank für die Erfüllung ist somit zugleich die Erfüllung dadurch, dass in dem Dank das Göttliche zu sich selbst kommt. Dies war aber auch schon in der Erfüllung des Verhältnisses harmonischer Entgegensetzung von Göttlichem und Menschlichem der Fall, und zwar darin, dass sich Göttliches und Menschliches in dem Erreichen ihres Höchstzustandes gegenseitig konstituieren. Der Umstand, dass das Gedicht in sich diese Zwiegestalt als Dank für die Erfüllung und als Erfüllung selbst annimmt, ist Ausdruck der Einlösung des Verhältnisses harmonischer Entgegensetzung von Göttlichem und Menschlichem, in der sich jedoch zugleich die harmonisch Entgegengesetzten wechselseitig – und das heißt dynamisch – in ihrem Höchstzustand konstituieren. In diesem Zusammenfallen von Ergebnis und Prozess zeigt sich die innere Doppelwertigkeit des Gedichts als ein einerseits in seiner sprachlichen Gestalt ›feststehendes‹ ›Ergebnis‹ des poetischen Prozesses und als andererseits konstitutiv in sich diesen Prozess als Prozess vollziehend. Die ›Erfüllung‹ des poetischen Aktes besteht somit in nichts anderem als in dem Vollzug des poetischen Aktes selbst, der als Vollzug jedoch in sich konstitutiv schon seine eigene Darstellung ist. Der poetische Akt ist als er selbst, als mit sich selbst ›identischer‹, stets schon nicht mit sich selbst identisch insofern, als sein eigentlicher Vollzug, seine ›Identität‹, immer bereits das Begreifen seiner selbst, somit die Differenz zu sich selbst, bedeutet. Er ist als Akt, wie der Akt des Selbstbewusstseins, zugleich identisch und different mit sich, wie auch sein ›Ergebnis‹, das Gedicht, sowohl identisch als auch different zu dem Akt seiner Hervorbringung ist.130
130
Das poetische ›Werk‹ lediglich als »Produkt« und nicht zugleich auch als Vollzug des poetischen Prozesses zu sehen und diesen als »reflexive[…] Überwindung und zugleich Integration anfänglich bestehender Gegensätze« (Dieter Burdorf: Hölderlins späte Gedichtfragmente: »Unendlicher Deutung voll«. Stuttgart u. a. 1993) zu betrachten, greift zu kurz. Genau die konstitutive Vollzugsdimension des sprachlichen Kunstwerks, das in Ableitung aus dem oben Herausgearbeiteten als ›Darstellung der Darstellung und des Vollzugs‹ beschrieben werden kann, begründet dessen Differenz zum diskursiven Sprechen. Johann Kreuzer formuliert diese folgendermaßen: »Die poetische Sprache ist weder ein Ausdruck sprachunabhängig formulierbarer theoretischer Einsichten noch verweist sie auf transrationale Gefühlswelten« (Johann Kreuzer: »Einleitung«. In: Johann Christian Friedrich Hölderlin. Theoretische Schriften. Mit einer Einleitung herausgegeben von Johann Kreuzer. Hamburg 1998, S. VII–LIII, hier S. XXXIII) und begründet dies in der konstitutiven wechselseitigen Bezogenheit von Sprache und Erinnerung (vgl. ebd.).
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Diese Struktur ist in sich paradox gekehrt, wie sie als Motto des ›Hyperion‹ fungiert und in ihrer abstraktesten Ausprägung als Identität (1) der Identität (2) und der Nicht-Identität bezeichnet werden kann, wobei die Identität (1) nichts anderes ist als die Gegensätzlichkeit der Identität (2) und der Nicht-Identität.131 Es ist somit festzuhalten, dass sich die Differenz nicht in der Identität (1) aufhebt, sondern sich das Verhältnis in sich gegenstrebiger Einheit, das mit dieser (Bewegungs-)Struktur angezeigt ist, aus sich selbst heraus potenziert, indem es die Dynamik von Selbstreflexivität schlechthin ist. Denn ist die Identität (1) nichts anderes als das Verhältnis von Identität (2) und Nicht-Identität, so untersteht die Identität (1) selbst wiederum der Struktur, die sie selbst ist. So kommt es zu einer unendlichen Selbstperpetuierung des reflexiven Prozesses, der sich seinem inhärenten ›Ziel‹, seiner Selbsterkenntnis (in sich selbst – somit in Identität mit sich selbst – und als er selbst – somit auch in Differenz zu sich selbst) lediglich unendlich annähern, sich jedoch grundsätzlich niemals voll einholen kann. Der Geist ist somit unaufhebbar different zu sich selbst und zu seinem Ziel vollständiger Selbstauffassung. Zugleich ist er jedoch in dem Vollzug der Reflexion, und zwar gerade aufgrund der Differenz, in dieser paradoxerweise stets schon bei sich selbst und somit auch an und in seinem ›Ziel‹. Jedes ›Erreichen‹ eines – immer relativen – ›Zielpunktes‹ bedeutet somit stets schon ein ›Umschlagen‹ und – als die in sich widerstrebige Einheit von ›Ziel‹ und ›Prozess‹ – zugleich ein ›Nicht-Umschlagen‹ in den erneuten und fortgehenden Prozess. In dieser Paradoxie besteht das ›Tragische‹ und das ›Erfüllte‹ dieser Konzeption in einem. Dem entspricht auch das Verhältnis von ›eingeholter‹ und ›uneingeholter‹ Wahrheit, das in dem ›Hyperion‹-Kapitel sowie in Bezug auf Platons ›Symposion‹ sowie Sophokles’ ›Ödipus‹ herausgearbeitet wurde und jetzt genauer gefasst werden kann. Der Prozess ist in sich paradox und unendlich verfasst. Was sein ›Sein‹ genannt werden könnte, wäre somit nichts anderes – und gerade darin ein anderes – als sein ›Werden‹. Es ist die Paradoxie einer Identität, die in einer Nicht-Identität, dem Gegensatz von Identität (2) und Nicht-Identität besteht und die nichts als dieses stets sich aus sich selbst heraus erneuernde Geschehen ist – und wird. Doch ist die sich stets aus sich selbst heraus anstoßende, unendliche Bewegung kein beliebiges, in sich verbleibendes und nur sich selbst bedeutendes Spiel. Gerade dieser, der Struktur der Selbstreflexivität inhärenten, Möglichkeit 131
Winfried Menninghaus (»Geist, Sein, Reflexion und Leben: Hölderlins Darstellungstheorie«. In: Friedrich Hölderlin. Neue Wege der Forschung. Hrsg. v. Thomas Roberg. Darmstadt 2003, S. 49–66) arbeitet die Verwerfungen innerhalb der Hölderlin’schen Darstellungstheorie heraus und konstatiert zu Recht: »also ist die Einheit selbst nur Effekt dieser Differenz- und Entgegensetzungslogik, ohne ein Substrat jenseits davon; also ist das ›Eine‹ gar nicht anderes als das Wechselspiel der ›Reflexion‹ und [sic!] ›Zeichen‹ im ›äußeren Organ‹ strukturiert« (S. 60).
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wird ja explizit mit dem konstitutiven Einbezug und dem Beibehalten eines ursprünglich Nicht-Idealischen im idealischen Verfahren begegnet.132 Im Kontext der subjektiven Begründung des Gedichts ist dieses andere der nicht-idealische ›Wirkungskreis‹ und das ›Element‹, in dem Übergang von der zweiten in die dritte Phase die harmonische Entgegensetzung der poetischen Individualität mit einer ›äußeren Sphäre‹133 und in dem höchsten und letzten poetischen Akt die Selbsterkenntnis des Geistes in der Sprachwerdung des Gedichts. Die konstitutive Bedeutung des Nicht-Idealischen für das poetische Verfahren und für die ›Erfüllung‹ der darin beteiligten Komponenten wird jeweils eigens betont. So wird die subjektive Begründung des Gedichts ausdrücklich als dasjenige bezeichnet, was »dem Gedichte seinen Ernst, seine Vestigkeit, seine Wahrheit giebt, sie sichert das Gedicht davor, daß die freie idealische Behandlung nicht zur leeren Manier, und Darstellung nicht zur Eitelkeit werde«.134 Für die Selbstauffassung der poetischen Individualität in dem Übergang von der zweiten in die dritte Phase wird der Bezug auf eine tatsächlich ›äußere Sphäre‹ herausgestellt: […] in ihrem [der poetischen Individualität] lezten Act […] kann und darf sie schlechterdings nicht durch sich selbst begriffen, sich selber zum Objecte werden, wenn sie nicht statt einer unendlich einigen und lebendigen Einheit, eine todte und tödtende Einheit ein unendlich positives gewordenes seyn soll […].135
Auf die Verhältnisse im ›göttlichen Moment‹ ›transzendentaler Empfindung‹ soll hier – entsprechend ihrer Wiederholung und Neuformulierung im Text – nochmals eingegangen werden, so dass auch die Schlusspassagen des Abschnittes ›Wink für die Darstellung und Sprache‹ durchsichtig werden. Wurde die ursprüngliche Empfindung des Dichters in der zweiten, idealischen, Phase des poetischen Prozesses – entsprechend der Verfahrungsweise des Geistes – »durch entgegengesezte Versuche« (›Wink für die Darstellung und Sprache‹136) und nun – im Übergang zur dritten Phase – durch harmonische Entgegensetzung mit einem wirklich anderen, einer ›äußeren Sphäre‹, »zum Ton, zur höchsten reinen Form derselben Empfindung«137 entwickelt und besteht darin der ›göttliche Moment‹ ›transzendentaler Empfindung‹,138 in der sich »der Dichter mit
132
133 134 135 136 137 138
Lawrence Ryan (Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne. Stuttgart 1960) sieht dies nicht, wenn er konstatiert: »nur eine solche Sprache, Produkt […] der sich in geistiger Idealität erfassenden und in ihrer Äußerung sich erkennenden Individualität, kann dichterische ›Echtheit‹ beanspruchen« (S. 88f.). Die grundsätzliche innere Widerstrebigkeit dieses Aktes zeigt sich darin, dass sich der Geist ›in freier Wahl‹ in harmonische Gegensetzung mit einer ›äußeren Sphäre‹ setzen muss. MA, Bd. 2, S. 81; FHA, Bd. 14, S. 306; StA, Bd. 4,1, S. 245. MA, Bd. 2, S. 88; FHA, Bd. 14, S. 311; StA, Bd. 4,1, S. 252. MA, Bd. 2, S. 98; FHA, Bd. 14, S. 320; StA, Bd. 4,1, S. 263. Ebd. Vgl. ebd.
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dem reinen Tone seiner ursprünglichen Empfindung in seinem ganzen innern und äußern Leben begriffen fühlt«,139 so muss ihm in diesem Zustand höchster Empfindung und Einheit mit seiner Welt, diese Welt paradoxerweise zugleich »neu und unbekannt«140 erscheinen. Die ›ursprüngliche‹ Benennung ist folglich keine beliebige in dem Sinne einer freien Setzung durch den poetischen Geist. Sie ist – genauer – wie ursprünglich, d. h. sie ist einerseits ursprünglich insofern, als dem Dichter seine Welt tatsächlich unbekannt erscheint (»alles ist wie zum erstenmale«141), zum anderen ist sie jedoch nicht im vollen Sinne ursprünglich, da sie auf der gegenseitigen Durchdringung von Ich und Welt, und zwar unter Beibehaltung des Nicht-Idealischen, gründet. Der Zustand, in dem die poetische Sprachfindung geschieht, ist somit ein Verhältnis extremer Gegensätzlichkeit. In der ausgeprägtesten Einheit von Ich und Welt muss dem Dichter diese, seine, Welt unbekannt erscheinen. Zum einen ist diese – in den Formulierungen des Schlussteils ›Wink für die Darstellung und Sprache‹ – nichts als »die Summe aller seiner [des Dichters] Erfahrungen, seines Wissens, seines Anschauens, seines Denkens, Kunst und Natur wie sie in ihm und außer ihm sich darstellt«.142 Zum anderen muss sie ihm darin, in dem Extrem der Einheit, in demselben Maße, wie sie sich ihm darstellt, »eben so neu und unbekannt«143 erscheinen. Nur aufgrund dieses Extrems des Gegensatzes kann die ›schöpferische Reflexion‹144 einsetzen, 139 140 141 142 143 144
MA, ebd.; FHA, Bd. 14, S. 321; StA, ebd. Ebd. MA, Bd. 2, S. 99; FHA, Bd. 14, S. 321; StA, ebd., H. v. m. MA, Bd. 2, S. 98f.; FHA, ebd.; StA, ebd. MA, Bd. 2, S. 98; FHA, ebd.; StA, ebd. Vgl. MA, ebd.; FHA, Bd. 14, S. 320f.; StA, ebd. Lawrence Ryan (Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne. Stuttgart 1960) weist darauf hin, dass diese Reflexion als Übergang von der zweiten zur dritten ›Vollendung‹ einen gegensätzlichen Charakter zu der Reflexion zwischen der ersten und der zweiten ›Vollendung‹ annimmt und dass sich »[s]chon an dieser Verschränkung der beiden Pole [an]zeigt […], daß die drei Vollendungen nicht etwa als Ruhepunkte in einer fortschreitenden Linie zu denken sind, daß vielmehr die ganze Bewegung die Form des Kreisens annimmt« (S. 92), die sich auf »zwei nebeneinander liegende[n] Kreise[n] [vollzieht], die sich an einem einzigen Punkt berühren« (ebd.). Diese zunächst einleuchtende Beschreibung wird in Bezug auf die Differenz der beiden Durchgänge von Ryan präzisiert (vgl. S. 93), doch bleibt zum einen fraglich, ob das analoge Verhältnis der beiden Reflexionen überhaupt als nebeneinander liegende Kreise angemessen versinnbildlicht werden kann und ob und inwiefern sich zum anderen (aufgrund der verschobenen ›Rückkehr‹ in der Differenz) die Struktur überhaupt als Kreisformation gestaltet. Denn die Tätigkeit des Geistes, wie sie hier erscheint, kann in ihrer Struktur der ›Einheit der Einheit und der Differenz‹ am einleuchtendsten an dem Bild des Bogens verdeutlicht werden, in dem die beiden Pole der Gegensätze als getrennte bestehen bleiben und so die ›Einheit der Differenz‹ konstituieren (vgl. Kapitel II.2.1). Lediglich in dem ›göttlichen Moment‹ ›transzendentaler Empfindung‹ wird die Bogenformation, die die Grundstruktur geistiger Tätigkeit als das untrennbare Ineinander von Identität und Differenz darstellt, zum ›Kreis‹ (als unendlich viele Punkte) geschlossen, indem Identität und Differenz in einem Sprung zugleich unun-
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deren ›Produkt‹ »die Sprache«,145 d. h. das Gedicht in seiner konkreten Gestalt ist. Ist die ›transzendentale Empfindung‹ des Dichters in dem ›göttlichen Moment‹ – wie in dem Abschnitt ebenfalls formuliert wird – aber der ›reine Ton‹ »seiner ursprünglichen Empfindung«, mit dem er sich nun »in seinem ganzen innern und äußern Leben begriffen fühlt«146 und die ›Welt‹ nichts als »die Summe aller seiner [des Dichters] Erfahrungen, seines Wissens, seines Anschauens, seines Denkens, Kunst und Natur wie sie in ihm und außer ihm sich darstellt«,147 so wird deutlich, dass der Extremzustand der Gegensätze als das ›absolute‹ Umschlagen von ›Innen‹ und ›Außen‹, von Ich und Welt, und das heißt auf übergeordneter Ebene, von Identität und Differenz, betrachtet werden muss.148
145 146 147 148
terscheidbar in eins fallen, somit zugleich ›absolut eines‹ und absolut getrennt, ›absolut zwei‹, sind (vgl. Kapitel II.2.2). Die Struktur der ›Identität der Identität und der Differenz‹, die die geistige Tätigkeit kennzeichnet, müsste in diesem Augenblick ›bestimmt‹ werden als das absolut Identische (und zugleich das absolut Differente) zu der Struktur der ›Differenz der Differenz und der Identität‹, wobei ›Bestimmung‹ hier metonymisch im Sinne eines paradoxen Verweises auf ein ›Undenkbares‹ aufzufassen ist. Diese Verfassung ist gegenüber dem Bogen nur über einen – diskontinuierlichen – ›Sprung‹ zu erreichen. Ryan sieht denn auch den »Wechsel der drei Töne« wie die »Phase des noch ungelösten Widerspruchs«, zu der er gehört, »als Teilmoment der poetischen Verfahrungsweise in einem umfassenderen Ganzen aufgehoben« (S. 94). Dass davon angesichts des ›göttlichen Augenblicks‹, wie er oben als absoluter Widerspruch und als nur momenthafter beschrieben wurde, eigentlich nicht gesprochen werden kann, ist deutlich. Ryan hätte mit der Charakterisierung der »›Vollendung‹ als Umkehrung oder Aufhebung des Wechsels« (S. 95) Recht, wenn er die ›Aufhebung‹ lediglich als momenthafter Sprung aus dem Ineinander von Identität und Differenz in die absolute Identität und Differenz von Identität und Differenz begreifen würde. Die »geometrische[n] Figuren«, die »Hölderlin öfters am Rande seiner Manuskripte zu zeichnen« »pflegte« (S. 92) und auf die Ryan verweist, zeigen denn auch nur in einer Figur zwei nebeneinander liegende Kreise (vgl. FHA, Bd. 14, S. 263), die sich auch nur als Teil einer genaueren Ausarbeitung innerhalb dieser größeren Figur finden (vgl. die Mittelpunkte der Kreise, ihre ›Durchkreuzung‹ durch zwei Geraden, die sich in dem Berührungspunkt der beiden Kreise treffen und der Einschluss des rechten Kreises durch einen größeren, konzentrischen Kreis). Diese stellt die linke von insgesamt drei Figuren auf dieser Handschriftenseite dar. Die mittlere Figur besteht aus zwei konzentrischen Kreisen, während die rechte als Bogenformation in zwei möglichen Ausprägungen ineinander betrachtet werden könnte, dem ›einfachen‹ Bogen (ein Kreissegment über einer Strecke) und dem antiken, geschwungenen, Bogen, der sich geometrisch einer Tangentialfunktion annähert sowie einer Dreieckskonstruktion innerhalb dieser Bogenformationen. MA, Bd. 2, S. 98; FHA, Bd. 14, S. 320f.; StA, Bd. 4,1, S. 263. Ebd. MA, Bd. 2, S. 98f.; FHA, Bd. 14, S. 321; StA, ebd. Ulrich Gaier (Der gesetzliche Kalkül. Hölderlins Dichtungslehre. Tübingen 1962) trägt der Augenblicklichkeit des ›göttlichen Moments‹ und der Verfasstheit der Gegensätze in diesem nicht wirklich Rechnung, wenn er das »Ende« der poetischen Verfahrungsweise, die er (auch in Bezug auf die Theosophie, vgl. z. B. S. 2–4 und S. 97) als »siebenstufige[n] Kursus« auffasst, folgendermaßen bestimmt: »Am Ende ist Sein und Dasein, Göttliches und Bewußtsein unzertrennlich – nicht etwa vernichtet, sondern trennungslos und doch unterschieden ineinander« (S. 96). Angemessener Annette Hornbacher (Die Blume des Mundes. Zu Hölderlins poetologischpoetischem Sprachdenken. Würzburg 1995), die die Selbstauffassung der poetischen Indivi-
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Darüber hinaus drückt sich jedoch ebenfalls aus, dass dieses Geschehen – ohne es dadurch aufzuheben – insgesamt zugleich ein idealisches ist, wodurch die ›schöpferische Reflexion‹ als die Vergleichsbewegung von ›Empfindung‹ bzw. ›Ton‹ und ›Welt‹ überhaupt erst einsetzen kann. Die ›schöpferische Reflexion‹ kann somit von dem ›göttlichen Moment‹ ›transzendentaler Empfindung‹ nicht absolut geschieden sein (wie es bei der intellektualen Anschauung in dem Verständnis einer bloß absoluten Einheit der Fall ist), vielmehr stellt sich das Verhältnis beider als ›Ausdruck‹ der höchsten Paradoxie dar, die der Geist, das ›umfassend‹ Idealische, in diesem göttlichen Moment ›ist‹. ›Göttlicher Moment‹ und ›schöpferische Reflexion‹ sind somit einerseits ›absolut‹ eines, zugleich können sie – wie es dem Extrem der ›Gegensätze in Einheit‹ entspricht, vgl. auch das Verhältnis von Bogen und Kreis in Kapitel II.2.2 – lediglich als durch einen ›Sprung‹, somit durch eine augenblicklich absolute Differenz, ›vereint‹ gedacht werden.149 Auf dieses ›Verhältnis‹ beziehen sich zudem die ›Anmerkungen zum Oedipus‹ zu Beginn des dritten Abschnitts: Die Darstellung des Tragischen [die stets das Extrem der poetischen Verfahrungsweise bedeutet, M. H.] beruht vorzüglich darauf, daß das Ungeheure, wie der Gott und Mensch sich paart, und gränzenlos die Naturmacht und des Menschen Innerstes im Zorn [als spezifisch tragische Empfindung des Dichters, M. H.] Eins wird, dadurch sich begreift, daß das gränzenlose Eineswerden durch gränzenloses Scheiden sich reinigt.150
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dualität »nicht als Identifikationsleistung, sondern ekstatisch in der durchgängigen Alteration aller Identifizierung« (S. 194) sieht. Diesen Gedanken führt sie jedoch nicht weiter aus, sondern überführt ihn in eine Betrachtung der ›Mitte‹ (vgl. S. 198ff.), die dieser jedoch eine zu große Bedeutung zumisst. Lawrence Ryan (Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne. Stuttgart 1960) betont zwar, dass »das Dichten [einerseits] ein geistiger Akt [sei], der dem Erkenntnisakt analog ist, dessen er sich erinnert« (S. 102), sieht jedoch das unaufhebbar widerstrebige Ineinander (und nicht Nacheinander) von Reflexion und poetischer Sprachfindung und somit auch von ›Auto- und Heteroreferentialität‹ der Dichtung nicht, wenn er formuliert: »andererseits geht es [das Dichten] über die bloße Erkenntnis hinaus und schafft eine neue Wirklichkeit, eben das Neuindividuelle der schöpferischen dichterischen Sprache« (ebd.). Die »Dichtung wiederholt formal die Bewegung des zu sich kommenden Geistes, aber gleichzeitig führt sie das geistige Leben einer neuen sonst nicht erreichbaren Vollendung entgegen« (ebd.). Zugleich hat er Recht, wenn er betont: »diese ›Vollendung‹ wird nicht bloß in der Dichtung abgebildet, sie spiegelt sich nicht bloß in der Dichtung wieder, sondern sie selbst ist das Dichterische« (ebd.), vgl. auch S. 104. Wolfgang Binder (»Sprache und Wirklichkeit in Hölderlins Dichtung«. In: ders.: Hölderlin-Aufsätze. Frankfurt/Main 1970, S. 27–46) fasst dies mit anderem Schwerpunkt und in veränderter Terminologie: die Dichtung ist »ursprünglichere Wirklichkeit«. »Die Wirklichkeit in der Dichtung verwandelt sich in die Wirklichkeit der Dichtung. Das dichterische Wort führt nicht aus der Welt hinaus, sondern in sie hinein, weil es das ursprüngliche Wesen der Wirklichkeit vollzieht« (S. 30). MA, Bd. 2, S. 315; FHA, Bd. 16, S. 257; StA, Bd. 5, S. 201.
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Erscheint die ›grenzenlose Vereinigung‹ dem ›grenzenlosen Scheiden‹ im ›Begreifen‹ vorgeordnet, so zeigt sich darin zudem, dass der ›göttliche Moment‹ ›transzendentaler Empfindung‹, in dem augenblickshaft die absolute Identität und die absolute Differenz von Identität und Differenz ›besteht‹, nur in zeitlichem Nacheinander zur Darstellung kommen kann. Denn der ›göttliche Moment‹ – so lässt sich schließen – ist nicht wie die Tätigkeit des Geistes in der Zeit, sondern ist als Augenblick Zeit – und zugleich Nicht-Zeit – selbst. Ist der ›göttliche Moment‹ jedoch derart ›verfasst‹, so lässt sich auf ihn als zugleich ›Zustand‹ und höchste ›Bewegtheit‹ diskursiv nicht anders verweisen als in aporetischen Formulierungen: als – beispielsweise – das in diesem Moment geschehende ›unendliche‹ Ineinander-Umschlagen von Identität und Differenz oder – zeitgenössisch ausgedrückt – als ›absolute Identität‹ und ›absolute Differenz‹ von Identität und Differenz. ›Ist‹ der ›göttliche Moment‹ dieses Verhältnis und steht die ›schöpferische Reflexion‹ mit diesem in derselben ›Relation‹, so muss auch die Sprache des Gedichts, die aus der ›schöpferischen Reflexion‹ hervorgeht, diese ›Verfasstheit‹ aufweisen.151 Wie sich in dem Bezug auf ›Welt‹ und ›Göttliches‹ zeigt, kann die Benennung trotz ihrer ›Ursprünglichkeit‹ und ihres Hervorgehens aus den Umschlägen keine beliebige sein. Sie gründet in der, zwar idealischen, gegenseitigen Durchdringung von Ich und Welt, jedoch unter Beibehaltung des Nicht-Idealischen als solches. Dieser konstitutive Bezug auf ein ›tatsächlich‹ anderes kommt auch in der Betonung der Notwendigkeit zum Ausdruck, die ›unendliche‹ Fremdheit, und d. h. die Differenz zwischen Ich und Welt in dem ›göttlichen Moment‹ nicht aufzuheben: […] es ist vorzüglich wichtig, daß er [der Dichter] in diesem Augenblicke nichts als gegeben annehme, von nichts positivem ausgehe, daß die Natur und Kunst, so wie er sie kennen gelernt hat und sieht, nicht eher spreche, ehe für ihn eine Sprache da ist, d. h. ehe das jezt Unbekannte und Ungenannte in seiner Welt eben dadurch für ihn bekannt und nahmhaft wird, daß es mit seiner Stimmung verglichen und als übereinstimmend erfunden worden ist […].152
Entsprechendes zeigt sich in den Oxymora ›als übereinstimmend erfinden‹ sowie ›schöpferische Reflexion‹. Gerade in dem letzten Ausdruck wird deutlich, dass das Gedicht aus dem ›absoluten‹ Extrem der paradoxen Struktur hervorgehen muss, denn nur so kann die Sprache des Gedichts einerseits die Sprache der poetischen Individualität des Dichters – und in diesem Sinne
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Vgl. auch den Beginn des ›Winks für die Darstellung und Sprache‹: »Ist die Sprache nicht, wie die Erkenntniß von der die Rede war, und von der gesagt wurde, daß in ihr, als Einheit das Einige enthalten seie, und umgekehrt? Und daß sie dreifacher Art sei p.p.« (MA, Bd. 2, S. 96; FHA, Bd. 14, S. 318; StA, Bd. 4,1, S. 260). MA, Bd. 2, S. 99; FHA, Bd. 14, S. 321; StA, Bd. 4,1, S. 264.
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›originell‹, ›ursprünglich‹, ›bestimmend‹,153 hervorgehend aus der ›schöpferischen Reflexion‹ – sein und andererseits eine ›echte‹, ›wahrhafte‹ Sprache der ›Welt‹, entstehend aus der ›schöpferischen Reflexion‹, darstellen, d. h. ›so alt sein wie die Welt‹.154 Folglich ›darf‹ der Dichter erst ›dann sprechen‹, wenn »irgend eine Sprache der Natur und Kunst für ihn in bestimmter Gestalt da«155 ist. Auf diesem Hintergrund wird auch verständlich, dass der Dichter in der ›transzendentalen Empfindung‹ nicht nur »seine Sprache«, sondern »mit ihr die eigentliche Vollendung für die jezige und zugleich für alle Poësie« »ahndet«.156 Ist der Akt der ›schöpferischen Reflexion‹ jedoch eine Vergleichsbewegung und werden in dieser die extremsten Gegensätze (von Ich und Welt, Kunst und Natur) verglichen, so zeichnet sich die Möglichkeit eines genaueren Verständnisses der Hölderlin’schen Konzeption des poetischen Prozesses als ›Metapher‹ sowie des erkenntnis- und sprachgenerierenden Potentials des Vergleichs ab. Dies kann auch auf die Struktur der entsprechenden sprachlichen Figuren157 und deren poetologische, poetische und interpretatorische Bedeutung sowie auf die relative Differenz zwischen poetischem und diskursivem Sprechen bezogen werden (vgl. Kapitel V.11). 4.3
›Rezeption‹, ›Zeichen‹, ›Sprache‹ und ›Leben‹
Die herausgearbeitete Heteroreferentialität des Gedichts stellt eine gewichtige Voraussetzung für die Möglichkeit der Rezeption dar, die am Ende des Abschnitts
153 154
155 156 157
Vgl. ebd. Vgl. MA, Bd. 1, S. 557; FHA, Bd. 10, S. 276; StA, Bd. 3, S. 235. Vgl. dazu auch Hölderlins Vorrede zur ›Friedensfeier‹, in der er einerseits das ›Unkonventionelle‹ und zugleich Notwendige seiner Sprache herausstellt (»Sollten […] einige eine solche Sprache zu wenig konventionell finden, so muß ich gestehen: ich kann nicht anders«, MA, Bd. 1, S. 361; FHA, Bd. 8, S. 638) und sie andererseits als aus der Natur hervorgehend und in sie zurückkehrend beschreibt: »die Natur, wovon es her ist, nimmts auch wieder« (ebd.). Dieselbe Struktur findet sich auch in der Vorrede zur vorletzten Fassung des ›Hyperion‹, in der sich eine Absetzung von einem zeitgenössischen Verständnis von ›Originalität‹ findet: »Originalität ist uns ja Neuheit; und mir ist nichts lieber, als was so alt ist, wie die Welt« (MA, Bd. 1, S. 557; FHA, Bd. 10, S. 276; StA, Bd. 3, S. 235). Dass damit jedoch keine a-historischen Substanzen gemeint sind, sondern sich in der ›Originalität‹ und ›Ursprünglichkeit‹ ein unaufhebbarer historischer Bezug findet, ist klar. Vgl. auch Johann Kreuzer (Erinnerung. Zum Zusammenhang von Hölderlins theoretischen Fragmenten »Das untergehende Vaterland …« und »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«. Königstein/Ts. 1985): »Der Übergang zur poetischen Sprache […] beruht für Hölderlin […] nicht auf einer ›Natur‹, die dem geschichtlichen Prozeß enthoben wäre« (S. 203), und ders. (»Hölderlin im Gespräch mit Hegel und Schelling«. In: HJb 31 [1998/99], S. 51–72): »Nicht Überwindung, sondern von Erinnerung durchdrungene Endlichkeit ist es, was als ästhetische Erfahrung immer von neuem der Sprache bedarf« (S. 71f.). MA, Bd. 2, S. 99; FHA, Bd. 14, S. 321; StA, Bd. 4,1, S. 264, H. v. m. MA, Bd. 2, S. 98; FHA, Bd. 14, S. 320; StA, Bd. 4,1, S. 263. ›Figur‹ ist hier im weiten, auch den ›Tropus‹ umfassenden Sinne gebraucht.
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›Wink für die Darstellung und Sprache‹ umrissen wird. Die Sprachfindung des Gedichts ist – wie oben gezeigt – in ihrer idealischen Komponente […] ein bestimmender Act der schöpferischen Reflexion des Künstlers, welcher darinn bestand, daß er aus seiner Welt aus der Summe seines äußern und innern Lebens, das mehr oder weniger auch das meinige [als Rezipient, M. H.] ist, daß er aus dieser Welt den Stoff nahm, um die Töne seines Geistes zu bezeichnen, aus seiner Stimmung das zum Grunde liegende Leben durch diß verwandte Zeichen hervorzurufen, daß er also, in so fern er mir [dem Rezipienten, M. H.] dieses Zeichen nennt, aus meiner Welt den Stoff entlehnt, mich veranlaßt, diesen Stoff in das Zeichen zu übertragen […].158
Es wird hier nicht deutlich, auf welchen Akt der Stoffwahl sich die Aussage bezieht, denn das Wechselverhältnis von ›Geist‹ und ›Stoff‹ in der Anverwandlung des Letzteren erfolgt innerhalb der poetischen Selbstreproduktion drei Mal, erstens im Rahmen der ›subjektiven Begründung des Gedichts‹, zweitens in der ›objektiven Begründung‹ und drittens in der Selbstauffassung der poetischen Individualität in dem Übergang von der zweiten in die dritte Phase des poetischen Prozesses, die zum ›göttlichen Moment‹ ›transzendentaler Empfindung‹ führt. Der Struktur nach verhält sich die Auffassung des Stoffes durch den Geist und dessen Reproduktion in den verschiedenen Akten – abgesehen von den Ebenen der Selbstauffassung – jedoch gleich. Der Geist bedarf jeweils eines anderen, mit dem er sich in Wechselwirkung begeben und sich somit ›in sich selbst und in anderen‹ reproduzieren kann. Dieses andere, der ›Stoff‹, der ›Wirkungskreis‹, das ›Element‹, das ›Göttliche‹, die ›äußere Sphäre‹, muss in dem gelungenen Akt der Selbstreproduktion des Geistes zugleich ein Idealisches werden und ein Nicht-Idealisches bleiben. Sind diese Akte vor der eigentlichen Sprachfindung angesiedelt, so findet sich aufgrund der Engführung von Idealischem und Sprache sowie ›göttlichem Moment‹ und ›schöpferischer Reflexion‹ dennoch der direkte Bezug dieses Verhältnisses auf die Rezeption des Gedichts. Wählt der Dichter in dem poetischen Verfahren »aus seiner Welt aus der Summe seines äußern und innern Lebens«,159 die er sich in dem poetischen Verfahren erschlossen und gebildet hat, den Stoff aus, mit dem er »die Töne seines Geistes«160 bezeichnet, so wird dieser Stoff zum Zeichen für die ›Töne‹, die die »höchste[…] reine[…] Form derselben [ursprünglichen] Empfindung«161 sind. Dies ist möglich, weil der Stoff derart
158 159 160 161
MA, Bd. 2, S. 99; FHA, Bd. 14, S. 321; StA, Bd. 4,1, S. 264 (»[…] daß er aus seiner Welt, aus der Summe […]«), H. v. m. Ebd. Ebd. MA, Bd. 2, S. 98; FHA, Bd. 14, S. 320; StA, Bd. 4,1, S. 263.
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gewählt ist, dass er ›rezeptiv für die idealische Behandlung‹ ist162 und zugleich idealisch so aufgefasst wird, dass er es wird.163 Eröffnet und bildet sich die ›Welt‹ des Dichters in dem poetischen Verfahren, d. h. in Wechselwirkung des Geistes mit der ›Stoff‹, der Teil dieser ›Welt‹ ist, so sind ›Geist‹ und ›Stoff‹ in diesem Verfahren konstitutiv in harmonischer Entgegensetzung aufeinander bezogen, zugleich identisch und different. Aus diesem Grund kann der im poetischen Verfahren behandelte Stoff am Ende des Entwurfs als »verwandtes«, als nicht bloß arbiträres »Zeichen«164 zu den Tönen des poetischen Geistes bestimmt werden. Denn dieses Zeichen referiert auf kein rein Idealisches, sondern auf die durch das poetische Verfahren ›gereinigte‹ Form der »ursprünglichen Empfindung«,165 die immer Empfindung von etwas anderem ist und mit diesem anderen, dem Stoff, in dem poetischen Verfahren in eine unauflösliche gegenseitige Konstitutionsbewegung gebracht wurde. Ist dies jedoch der Fall, d. h. ist der Stoff ›aus der Welt genommen‹ und entstehen die ›Töne des Geistes‹ aus einer ›ursprünglichen‹ lebendigen Empfindung von etwas ›aus der Welt‹, so kann der in dem poetischen Verfahren transformierte Stoff aufgrund seiner Unaufhebbarkeit als Nicht-Idealisches zum ›verwandten Zeichen‹ für die ›Töne des Geistes‹ werden. Aufgrund dieser dynamischen ›Verhältnisse‹ – der Beibehaltung und zugleich der Auflösung sowohl des ursprünglichen Stoffes als auch der ursprünglichen Empfindung – kann der Dichter durch das ›verwandte Zeichen‹ nicht nur die Stimmung, den Ton, sondern das dieser »Stimmung […] [dem Ton] zum Grunde liegende Leben«166 ›hervorrufen‹. Dabei wird deutlich, auch wenn diese Konsequenz innerhalb des Entwurfs nicht explizit gezogen wird, dass das ›Zeichen‹, das im geistigen Prozess zunächst ein umfassend Idealisches ist (worin sich das Nicht-Idealische jedoch nicht aufhebt) durch die ›schöpferische Reflexion‹ zu einem sprachlichen wird und sich dieses Zeichen, d. h. somit aber ›das Sprachliche‹, dadurch auszeichnet, dass es einerseits ein Idealisches ist, sich andererseits jedoch nur in der Wechselwirkung von Idealischem (der ›Stimmung‹, dem ›Ton‹) mit Nicht-Idealischem (dem erhaltenen ›Stoff‹, dem ›Leben‹), d. h. tatsächlich Wirklichem konstituiert. Sprache würde demnach nicht bloß auf Wirklichkeit als ein anderes referieren, sondern Sprache wäre auch tatsächliche Wirklichkeit (als anderes und Gleiches zur Sprache) und aufgrund der Wechselwirkung mit dem Idealischen, die herausgearbeitet wurde, sogar wirklichkeitsbildend.
162 163 164 165 166
Vgl. MA, Bd. 2, S. 80; FHA, Bd. 14, S. 305; StA, Bd. 4,1, S. 243. Vgl. die Ausführungen zum ›Wirkungskreis‹, MA, Bd. 2, S. 81; FHA, Bd. 14, S. 306; StA, Bd. 4,1, S. 244f. MA, Bd. 2, S. 99; FHA, Bd. 14, S. 321; StA, Bd. 4,1, S. 264. MA, Bd. 2, S. 98; FHA, Bd. 14, S. 320; StA, Bd. 4,1, S. 263. MA, Bd. 2, S. 99; FHA, Bd. 14, S. 321; StA, Bd. 4,1, S. 264.
158
Dies ist auch der Grund, warum das Zeichen hier als ein dem Stoff und in letzter Instanz ›dem Leben‹ ›verwandtes‹ bezeichnet wird. Dieselbe Grundstruktur von Sprache wurde bereits in Bezug auf ihre Ursprünglichkeit im poetischen Prozess herausgearbeitet. Das sprachlich-poetische Zeichen ist nach Hölderlin somit immer ein ›verwandtes‹, d. h. es ist einerseits tatsächlich das von ihm Bezeichnete und andererseits zugleich ein unaufhebbar anderes. Nur in dieser paradoxen Struktur bzw. Dynamik von Einheit und Differenz zwischen Idealisch-Sprachlichem und Wirklichkeit ist das Zeichen poetisch, und nur so erhält es den in dem poetischen Prozess anverwandelten Stoff als solchen und steigert ihn zugleich ›rückwärts‹, auf den Ursprung hin, zum ›Leben‹, das sich in dem Gedicht sowohl dargestellt als auch tatsächlich erfahrbar ist. Die Erfahrbarkeit ›des Lebens‹ in dem Gedicht beruht jedoch ebenso konstitutiv auf der teilweisen Überschneidung der ›Welten‹ des Dichters und des Rezipienten, worin sich eine notwendige Bedingung der umfassenden Verstehund Nachvollziehbarkeit andeutet, nämlich in dem Sinne, dass nicht bloß die (idealische) Darstellungsseite, sondern auch die (wirklich-lebendige) Vollzugsund Erfahrungsseite der Dichtung zur Geltung kommt: nur aufgrund dessen, dass der Künstler »aus seiner Welt aus der Summe seines äußern und innern Lebens, das mehr oder weniger auch das meinige [das des Rezipienten, M. H.] ist, daß er aus dieser Welt den Stoff nahm«,167 kann dieser von dem Rezipienten seinerseits als Zeichen aufgefasst werden, so dass der Künstler, »in so fern er mir [dem Rezipienten, M. H.] dieses Zeichen nennt, aus meiner Welt den Stoff entlehnt, mich veranlaßt, diesen Stoff in das Zeichen zu übertragen«.168 Die Formulierung irritiert zunächst dadurch, dass die Aufgabe des Rezipienten genau dem vorausgegangenen Akt des Dichters entspricht. Doch zeigt sich gerade darin die entscheidende Parallelität von ›Rezeption‹ und ›Produktion‹, wobei die Differenz darin besteht, dass der Künstler als der »bestimmende[…]«, der Rezipient als der »bestimmte[…]«169 fungiert. Die genauen Vorgänge in der Rezeption werden in dem Entwurf – gerade auch in Bezug zur ›Produktion‹ – zwar nicht ausgeführt, doch lassen sich aus den bisher erarbeiteten Strukturen durchaus Rückschlüsse ziehen. Denn ›nennt‹ der Dichter dem Rezipienten ›das Zeichen‹, das einerseits insgesamt ein Idealisches, darin andererseits jedoch das gegensätzliche Ineinander von Idealischem und Nicht-Idealischem, von Geistigem und ›wirklich‹ Stofflichem, ›Lebendigem‹ ist, und ist das Stoffliche aus der teilweise gemeinsamen Welt ›genommen‹, der ›Geist‹ jedoch mit dem ›gemeinsamen Geist‹ vermittelbar (vgl. den ersten Satz des Entwurfes), so kann der Rezipient in dem poetischen Zeichen ›den Stoff‹, das ›Leben‹ als solche nachvollziehen und entsprechend
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Ebd., H. v. m. Ebd. Ebd.
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ihrer Erscheinungsweise im Gedicht, nämlich als ›verwandtes Zeichen‹, zugleich auch die Poetizität des Gedichts, d. h. die Zeichenstruktur, erfassen und – als von dem Dichter ›bestimmter‹ – selbst vollziehen. Somit vollzieht der Rezipient in dem Gedicht den originär poetischen Akt in Einheit und Differenz. Aufgrund der Überschneidungen hinsichtlich des Stoffes und des Geistes wird dieser Akt einerseits dem ›originären‹ poetischen Verfahren des Dichters folgen, d. h. von diesem ›bestimmt‹ werden und durch die ebenso konstitutiven Differenzen in beiden Hinsichten von diesem abweichen. Dieses Ineinander von Einheit und Differenz der ›Produktion‹ und ›Rezeption‹ folgt wiederum dem Verhältnis ›harmonischer Entgegensetzung‹, das die ›Grunddynamik‹ des poetischen Prozesses darstellt. Hier zeigt sich darüber hinaus, dass die poetologisch zentrale Struktur der ›Wiederholung‹ genau diesem ›Verhältnis‹ entspricht. ›Wiederholt‹ der Rezipient somit den poetischen Prozess des Dichters (welcher das Gedicht in der Rezeption selbst ist und wird), so gerät er mit dem Gedicht, mit etwas, das seinem Geist und seiner Welt harmonisch entgegengesetzt ist, selbst in einen originär poetischen Prozess der Selbstdurchdringung und -einholung, in der sowohl er als auch das Gedicht – und damit einhergehend die jeweiligen ›Welten‹ – in dem idealischen Prozess der Vereinigung und Entzweiung ›zu sich selbst kommen‹. Dies geschieht entsprechend der ›poetischen Individualität‹ jedoch wiederum nur auf eine Weise, wie allein der individuelle Geist des Rezipienten und das jeweilige Gedicht in Wechselwirkung mit diesem – in einem singulären geschichtlichen Moment – ›zu sich selbst kommen‹ können.170 Auch dieser poetische Prozess wird wiederum ›seine‹ Sprache suchen, was zu einer unendlichen Selbstperpetuation und Potenzierung des Geistes, seiner Äußerungen und des ›Lebens‹ führt, wodurch jedoch weder ein konstant zunehmender Grad an Allgemeinheit noch ein vorbestimmter Weg zu einem eindeutigen Ziel impliziert ist. Denn die beteiligten Individualitäten verhalten sich zueinander strikt harmonisch entgegengesetzt, so dass sie – im Gegensatz zu Hegels Konzeption – in ihrer unaufhebbaren Differenz nicht ausschließlich als Erscheinungen eines allumfassenden und allvereinigenden absoluten Geistes bzw. Lebens verstanden werden können. Somit wird jeder Akt des Geistes (und des Lebens) – auch wenn er in seiner höchsten Form allgemein und unendlich ist – zugleich ein unaufhebbar individueller und singulärer sein. Gerade darin besteht der Sinn der Struktur der Identität (1) der Identität (2) und der Differenz im Hölderlin’schen Sinne, 170
Diese Weise der Rezeption geht somit über das hinaus, was Gerhard Kurz (»Hölderlins poetische Sprache«. In: HJb 23 [1982/83], S. 34–53) an den Gedichten herausarbeitet: »Bei Hölderlin ist die intendierte Wirkung geschichtsphilosophisch und geschichtstherapeutisch begründet. Der oratische Impetus soll die ›träge / Geboren[en]‹ […] Deutschen in ein Bewußtsein versetzen, aus dem große Taten entstehen könnten« (S. 39).
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in der die Negativität, die Differenz, nicht in der Identität erster Ordnung aufhebbar ist, sondern in ihrem Extrem, dem ›göttlichen Moment‹ ›transzendentaler Empfindung‹, mit der Struktur der Differenz (1) der Differenz (2) und der Identität – als Aporie – zusammenfällt und sich zugleich von ihr scheidet. Auch die Rezeption ist – als zugleich originär poetischer Akt und ›Nachvollzug‹ des ›bestimmenden‹ Aktes des Produzenten und des Gedichts – somit ein paradox verfasster Prozess ›schöpferischer Reflexion‹, der sich auf einen vorausgehenden ›göttlichen Moment‹ ›transzendentaler Empfindung‹ als das Umschlagen der Gegensätze bezieht und den gesamten poetischen Akt in Einheit und Differenz wiederholt. Durch die – in aller Einheit mit anderem – unaufhebbare Differenz, und d. h. Individualität des einzelnen Geistes, werden seine Wechselwirkungen mit anderem, und somit seine Äußerungen sowie die seiner Welt, qualitativ – auch – singuläre und unvorhersehbare sein. Strukturell gestaltet sich dieses Verfahren jedoch nicht singulär, vielmehr beanspruchen die Ausführungen apriorische Gültigkeit. Dennoch bleibt das konkrete Verfahren des poetischen Geistes in seiner Geschichtlichkeit stets individuell und konstitutiv offen, so dass sich auch in dem Status und der Bedeutung der Ausführungen selbst die Selbstreflexivität der Darstellungsstruktur zeigt. Dies wird zudem an dem Zielpunkt der gesamten poetologischen Abhandlungen deutlich, nämlich der Ausarbeitung der Möglichkeit, wie die höchste Idealität, der ›Ton‹, an ›das zum Grunde liegende Leben‹ rückgebunden werden kann und wie dieses Leben in Dichtung somit nicht bloß – als immer schon anderes – dargestellt werden kann, sondern zugleich in gesteigertem Maße als es selbst vollzogen, erfahren, ›gelebt‹ werden kann. 4.4
Exkurs zum 具Fragment philosophischer Briefe典
Die gemeinschaftsstiftenden Implikationen von Dichtung sind aufgrund der dargestellten Rezeptionsstrukturen deutlich, ebenso der konstitutive Bezug auf ›Göttliches‹ und somit insgesamt eine Dichtungskonzeption, die sich in Einheit und Differenz auf den Status antik-griechischer Mythologie beziehen lässt, wie er in Hölderlins Magisterarbeit ›Geschichte der schönen Künste unter den Griechen. Biß zu Ende des Perikleischen Zeitalters‹ (vgl. Kapitel II.1.1) ausgearbeitet ist. Zudem wird die grundsätzliche Übereinstimmung der poetologischen Überlegungen in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« mit der Poetik des 具Fragments philosophischer Briefe典 deutlich, die hier jedoch nur kursorisch aufgezeigt werden soll. In beiden Entwürfen erscheint Dichtung als potentiell gemeinschaftsstiftender Mythos, der jedoch die Individualitäten nicht aufhebt, sondern gerade ›zu sich kommen‹ lässt. So behandelt das 具Fragment philosophischer Briefe典 das Verhältnis verschiedener ›Welten‹, das in »Wenn der Dichter einmal des 161
Geistes mächtig …« in Bezug auf den Dichter und den Rezipienten dargestellt wird, unter geistigem und religiösem Gesichtspunkt analog: Und jeder hätte demnach seinen eigenen Gott, in so ferne jeder seine eigene Sphäre hat, in der er wirkt und die er erfährt, und nur in so ferne mehrere Menschen eine gemeinschaftliche Sphäre haben, in der sie menschlich, d. h. über die Nothdurft erhaben wirken und leiden, nur in so ferne haben sie eine gemeinschaftliche Gottheit; […]. Es muß aber hiebei nicht vergessen werden, daß der Mensch sich wohl auch in die Lage des andern versezen, daß er die Sphäre des andern zu seiner eigenen Sphäre machen kann […]. Es ist […] Bedürfniß der Menschen, […] ihre verschiedenen Vorstellungsarten von Göttlichem eben, wie im übrigen Interesse, sich einander zuzugesellen, und so der Beschränktheit, die jede einzelne Vorstellungsart hat und haben muß, ihre Freiheit zu geben, indem sie in einem harmonischen Ganzen von Vorstellungsarten begriffen ist […].171
In diesem Kontext kommt darüber hinaus die Notwendigkeit der Darstellung dieser Vorstellungen vom Göttlichen – auch für das Individuum selbst – zum Ausdruck: Du [impliziter, nicht weiter spezifizierter Rezipient des Fragments, M. H.] fragst mich, […] wenn auch wirklich dieser höhere [über die [physische und moralische] Nothdurft erhabene] Zusammenhang ihnen ihr [der Menschen] heiligstes sei, weil sie in ihm sich selbst und ihre Welt, und alles, was sie haben und seien vereiniget fühlen [was der ›transzendentalen Empfindung‹ entspricht, M. H.], warum sie sich den Zusammenhang zwischen sich und ihrer Welt gerade vorstellen, warum sie sich eine Idee oder ein Bild machen müssen, von ihrem Geschik, das sich genau betrachtet weder recht denken ließe noch auch vor den Sinnen liege?172
Jene »zarten Verhältnisse« wurden von den »Alten« »als religiose das heißt, als solche Verhältnisse betrachtet[…], die man nicht so wohl an und für sich, als aus dem Geiste betrachten müsse, der in der Sphäre herrsche, in der jene Verhältnisse stattfinden«.173 In dem Kontext der Frage nach der Notwendigkeit der Darstellung der Einheit (die der Zusammenhang dieser Verhältnisse ist und mit »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« als ›transzendentale Empfindung‹ bezeichnet werden kann) zeigt sich die Potenzierung, die die Einheit in der Darstellung gewinnt, wobei dieselben zentralen und jeweils hervorgehobenen Bezeichnungen wie in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« verwendet werden, nämlich ›Erinnerung‹, Dank‹ und ›Empfindung‹: So fragst du mich, und ich kann dir nur so viel darauf antworten, daß der Mensch auch in so fern sich über die Noth erhebt [somit in einen ›höheren Zusammenhang‹ gelangen kann, M. H.], als er sich seines Geschiks erinnern, als er für sein Leben 171 172 173
MA, Bd. 2, S. 51f.; FHA, Bd. 14, S. 45; StA, Bd. 4,1, S. 278f. (»[…] Göttlichem eben wie im übrigen Interesse […]«). MA, Bd. 2, S. 53; FHA, Bd. 14, S. 46; StA, Bd. 4,1, S. 275 (»[…] was sie haben und seien, vereiniget fühlen […]«), H. v. m. MA, Bd. 2, S. 55; FHA, Bd. 14, S. 48; StA, Bd. 4,1, S. 277 (»[…] religiöse […]«).
162
dankbar seyn kann und mag, daß er seinen durchgängigern Zusammenhang mit dem Elemente, in dem er sich regt, auch durchgängiger empfindet […].174
Religiöse Verhältnisse unterscheiden sich von »intellectualen moralischen rechtlichen Verhältnissen einestheils, und von physischen mechanischen historischen Verhältnissen anderntheils«,175 sind jedoch zugleich von der Unterschiedenheit, die den ersten zukommt und der Einheit, die die zweiten ausmacht, geprägt: […] so daß die religiösen Verhältnisse einestheils in ihren Theilen die Persönlichkeit, die gegenseitige Beschränkung, das negative gleiche Nebeneinanderseyn der intellectualen Verhältnisse, anderntheils den innigen Zusammenhang, das Gegebenseyn des einen zum andern, die Unzertrennlichkeit in ihren Theilen haben, welche die Theile eines physischen Verhältnisses karakterisirt […].176
Daraus folgt, dass »die religiösen Verhältnisse in ihrer Vorstellung weder intellectuell noch historisch, sondern intellectuell historisch, d. h. Mythisch sind, sowohl was ihren Stoff, als was ihren Vortrag betrifft«,177 wobei die »eigentliche[…] Hauptparthie«178 der ›Vorstellung‹ in dem »Gott der Mythe«179 besteht, so dass die Darstellung religiöser Verhältnisse eine poetische und so »alle Religion ihrem Wesen nach poëtisch«180 ist. Dichtung, »dichterische[…] Vorstellungen«,181 wären somit dasjenige, worin ein ›Gott‹ ›geehrt‹ würde, und zwar nicht als ein gemeinsamer Gott, sondern als ein Gott, der ein gemeinsamer nur sein kann als die Einheit des unaufhebbaren Ineinander von Einheit und Differenz mit sich selbst in den verschiedenen ›höheren Leben‹.182 Die gemeinschaftliche Gottheit muss konstitutiv identisch und different mit sich selbst sein: […] Hier kann nun noch gesprochen werden über die Vereinigung mehrerer zu einer Religion, wo jeder seinen Gott und alle einen gemeinschaftlichen in dichterischen Vorstellungen ehren, wo jeder sein höheres Leben und alle ein gemeinschaftliches höheres Leben, die Feier des Lebens mythisch feiern.183
174 175 176 177 178 179 180 181 182
183
MA, Bd. 2, S. 53; FHA, Bd. 14, S. 46; StA, Bd. 4,1, S. 275. Vgl. den Beginn der ›Winke zur Fortsezung‹, MA, Bd. 2, S. 56; FHA, Bd. 14, S. 48; StA, Bd. 4,1, S. 280. Ebd.; StA: »[…] Theilen die Persönlichkeit, die Selbstständigkeit, die gegenseitige Beschränkung […]«. Ebd. MA, ebd.; FHA, Bd. 14, S. 49; StA, Bd. 4,1, S. 281. Ebd. MA, Bd. 2, S. 57; FHA, ebd.; StA, ebd. Ebd. Manfred Koch (»Der Weg ins Gedicht – Der Weg des Gedichts. Eine Einführung in Hölderlins Lyrik am Beispiel der Elegie ›Der Gang aufs Land‹«. In: Castrum Peregrini 266/267 [54. Jahrgang 2005], S. 9–34) sieht ausgehend von ›Der Gang aufs Land‹ »die religiöse Sprechhaltung in Hölderlins Gedichten« als die »durchgängige Ausrichtung auf eine Dimension des ›Anderen‹, in die mitaufzubrechen die Freunde aufgefordert werden« (S. 17). MA, Bd. 2, S. 57; FHA, Bd. 14, S. 49; StA, Bd. 4,1, S. 281, H. v. m.
163
Die ›dichterische Vorstellung‹ ist der Ort, in dem der Gott geehrt wird und in dem die Vereinigung in harmonischer Entgegensetzung der Individuen zu einer ›Religion‹ geschieht. Dadurch steigert sich deren ›höheres‹, religiös-mythischdichterisches Leben, und ›Religion‹ wird als gemeinschaftliche darin erst gestiftet und vollzogen. Dichtung erscheint so religions- und gemeinschaftsbegründend im Sinne eines ›mythischen‹ Gottesverständnisses und entspricht in ihren Grundstrukturen und Implikationen der Poetik, wie sie in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« zur Darstellung kommt. 4.5
Der ›göttliche Moment‹ anders gefasst: Das Ende des Entwurfs
Auch der Schluss des Entwurfs versucht, den ›göttlichen Moment‹ und die daraus hervorgehende Sprachfindung des Gedichts darzustellen, wobei sich gerade in den immer neuen Ansätzen Hölderlins zur Ausarbeitung dieses Verhältnisses das generelle Problem seiner Darstellbarkeit und der Status des Entwurfs als Selbstvergewisserung anzeigt. Auch dieser erneute Formulierungsversuch soll hier jedoch nachvollzogen und in seiner inhärenten Grundstruktur bzw. -dynamik erschlossen werden. Geschieht die Sprachfindung des Gedichts in der ›schöpferischen Reflexion‹, in der die zum ›Ton‹, zur ›reinen Form‹ geläuterte Stimmung des Dichters mit seiner ›Welt‹ verglichen wird,184 so soll das Gedicht die ›Stimmung‹ des Dichters vermittels der ›Welt‹ zum Ausdruck bringen. Der Dichter muss somit seine ›Stimmung‹ ›erklären‹, was nur dadurch möglich ist, dass er sie als Stimmung in dem idealischen Prozess zunächst auflöst, um sie in idealisch eingeholter Form, als ›Ton‹, durch die Wechselwirkung mit dem Stoff als Teil seiner ›Welt‹ wiederzugewinnen, dass »er [der Dichter], indem er sich verständlich und faßlich macht, von der leblosen, immateriellen, ebendeßwegen weniger entgegensezbaren, und bewußtloseren Stimmung fortschreitet, ebendadurch, daß er sie erklärt«.185 Die Weise, wie diese Stimmung erklärt werden kann, ist der Gang des poetischen Prozesses selbst. Dabei entsprechen die drei erstgenannten Punkte186 den Begründungen, die das Gedicht in der zweiten Phase des poetischen Prozesses erfährt. Diese Begründungen vollziehen – wie sich hier zeigt – die Logik der Begründung von etwas überhaupt. Denn um etwas als etwas zu erklären bzw. darzustellen, muss es in seinen Grenzen aufgezeigt werden, und zwar in seiner Begrenzung von sich selbst her (»in ihrer [der Stimmung] Unendlichkeit der Zusammenstimmung«187) und von anderem her (»in ihrer Bestimmtheit und 184 185 186 187
Vgl. oben sowie MA, Bd. 2, S. 98f.; FHA, Bd. 14, S. 320f.; StA, Bd. 4,1, S. 263f. MA, Bd. 2, S. 99; FHA, Bd. 14, S. 321; StA, Bd. 4,1, S. 264 (»[…] entgegensezbaren und bewußtloseren […]«), H. v. m. Vgl. MA, Bd. 2, S. 99f.; FHA, Bd. 14, S. 321f.; StA, Bd. 4,1, S. 264f. MA, Bd. 2, S. 99; FHA, Bd. 14, S. 321; StA, Bd. 4,1, S. 264.
164
eigentlichen Endlichkeit«188). Diese Bestimmung des ›einen‹ von seiner ›inneren‹ und ›äußeren‹ Grenze her kann nur aufgrund und vermittels harmonischer Entgegensetzung erfolgen, indem erstens die Einheit des einen in sich, seine Grenze von ›innen‹ her (die ›Unendlichkeit der Zusammenstimmung‹) erklärt wird »durch eine so wohl der Form als Materie nach verhältnißmäßige Totalität verwandten Stoffs, und durch idealisch wechselnde Welt«,189 und zweitens seine ›Grenze‹ von ›außen‹ her (die ›Bestimmtheit und eigentliche Endlichkeit‹) dargestellt wird durch das ›Eigene‹ der Stimmung, »durch die Darstellung und Aufzählung ihres eigenen Stoffs«.190 Diese Weisen der ›Erklärung‹ der Stimmung entsprechen der ›subjektiven Begründung‹ des Gedichts, in der die »idealische Stimmung« in bestimmter, der gewählten Stoffart entsprechender Weise »aufgefaßt« wird.191 Dabei wird die der Stimmung ›verwandte Stoffart‹ als aus der Stoffart hervorgegangen betrachtet, die der Stimmung eigen ist.192 Dadurch konstituiert sich auch die ›Tendenz‹ des Gedichts193 bzw. der Stimmung, die am Ende des Entwurfs als dritter Schritt erscheint und als das Heraustreten der Stimmung in »ihrer Allgemeinheit im Besondern«194 bestimmt wird. Dies ist dadurch möglich, dass der ›eigene Stoff‹ der Stimmung mit dem ›unendlichen Stoff‹ in Beziehung gesetzt wird und sich das Verhältnis als harmonischer »Gegensaz«195 erweist. Dieser Bezug des der Stimmung ›eigenen Stoffs‹ zu dem »unendlichen Stoff« wird in den ersten beiden Schritten der ›Erklärung‹, und d. h. in der ›subjektiven Begründung‹, vorbereitet. Kommt es nun zu einer Ausweitung des ›verwandten‹ zu dem ›unendlichen‹ Stoff, so ist das dadurch möglich, dass die ›objektive Begründung‹ des Gedichts darin besteht, dass der der Stimmung ›eigene Stoff‹ aufgefasst wird, als wäre er die dritte Stoffart, die weder die eigene noch die in der ›subjektiven Begründung‹ eingebrachte ›verwandte‹ Stoffart ist. Im Ganzen der Begründungen ergibt sich somit ein Verhältnis des ›eigenen‹ Stoffs zu den anderen möglichen Stoffarten, d. h. zum »unendlichen Stoffe«,196 der als ›Gegensatz‹ zu dem eigenen erscheint und somit die ›Tendenz‹ der Stimmung, ihre »Allgemeinheit im Besondern«197 hervortreten lässt.
188 189 190 191 192 193 194 195 196 197
Ebd. Ebd. Ebd. MA, Bd. 2, S. 83; FHA, Bd. 14, S. 307; StA, Bd. 4,1, S. 246f. Vgl. MA, Bd. 2, S. 80; FHA, Bd. 14, S. 305; StA, Bd. 4,1, S. 243f. Vgl. MA, Bd. 2, S. 82; FHA, Bd. 14, S. 307; StA, Bd. 4,1, S. 246. MA, Bd. 2, S. 99f.; FHA, Bd. 14, S. 321; StA, Bd. 4,1, S. 264. MA, Bd. 2, S. 100; FHA, Bd. 14, S. 322; StA, ebd. Ebd. MA, ebd.; FHA, Bd. 14, S. 321; StA, ebd.
165
Der vierte Schritt, in dem die Stimmung »in ihrem Maas«198 erklärt wird, stellt – synthetisierend – den Zusammenhang zwischen den aufgewiesenen Komponenten dar, indem die Stimmung »in der schönen Bestimmtheit und Einheit und Vestigkeit ihrer unendlichen Zusammenstimmung«199 (= Schritt 1) sowie »in ihrer unendlichen Identität und Individualität«200 (= Schritt 2) erklärt wird. Wird der Zusammenhang zwischen den Schritten eins und zwei hergestellt, so impliziert das zugleich den Einbezug des dritten Schrittes, da dieser als ›Tendenz‹ das Verhältnis des eigenen zu dem unendlichen Stoff darstellt. Diese Synthetisierung entspricht dem Übergang von der zweiten in die dritte Phase des poetischen Prozesses, der Selbstauffassung der poetischen Individualität in dem ›göttlichen Moment‹.201 Setzt in diesem die ›transzendentale Empfindung‹ ein,202 aus der vermittels der ›schöpferischen Reflexion‹ die Sprache des Gedichts hervorgeht,203 so wird die Stimmung in ihrem Maß auch dadurch begreifbar gemacht, dass sie »in ihrer poetischen Prosa eines allbegränzenden Moments«204 erklärt wird. In diesem ›allbegrenzenden‹ ›göttlichen Moment‹ ›transzendentaler Empfindung‹ kommt somit alles, was in dem poetischen Prozess beteiligt ist, ›zu sich selbst‹, indem es in sein Maß, seine Begrenzung kommt. Dies wiederum ist möglich, weil sich in diesem Moment (aufgrund der Wechselwirkungen und des jetzigen Zusammenhangs vermittels der Erinnerung) das Verhältnis der beiden an dem Prozess grundlegend Beteiligten, des Menschen und seines harmonisch entgegengesetzten ›anderen‹, des Göttlichen, ›als es selbst‹, d. h. als Verhältnis harmonischer Entgegensetzung, realisiert und in der ›transzendentalen Empfindung‹ zugleich als solches eingeholt wird.205 In dem ›göttlichen Moment‹ realisiert sich das Grundverhältnis harmonischer Entgegensetzung von Mensch und Göttlichem in allen Implikationen dadurch, dass der Mensch »sich als Einheit in Göttlichem-Harmonischentgegengeseztem enthalten, so wie umgekehrt, das Göttliche, Einige, Harmonischentgegengesezte,
198 199 200 201 202 203 204 205
MA, ebd.; FHA, Bd. 14, S. 322; StA, ebd. Ebd. Ebd. Vgl. MA, Bd. 2, S. 87f.; FHA, Bd. 14, S. 311f.; StA, Bd. 4,1, S. 251f. Vgl. MA, Bd, 2, S. 94f.; FHA, Bd. 14, S. 317; StA, Bd. 4,1, S. 259. Vgl. MA, Bd. 2, S. 96–99; FHA, Bd. 14, S. 318–321; StA, Bd. 4,1, S. 260–264. MA, Bd. 2, S. 100; FHA, Bd. 14, S. 322; StA, Bd. 4,1, S. 264f. Elena Polledri (»… immer bestehet ein Maas«. Der Begriff des Maßes in Hölderlins Werk. Würzburg 2002) arbeitet das Wechselverhältnis von Einheit und Differenz, worin sich das Maß konstituiert und damit einhergehend das Verhältnis von Maß und Unmaß nicht eigentlich heraus, wenn sie zwischen Formulierungen der »Dialektik zwischen Maß und Unmaß« (S. 174), der »enge[n] Verbindung« (ebd.) von Entgegengesetztem und der »wichtige[n] Bedeutung« »der Erfahrung des Chaotischen« und der »Unordnung als […] Voraussetzung für die Entwicklung eines harmonischen Lebens« (ebd.) schwankt. Zudem sieht sie das »Wilde, die Disharmonie, das Aorgische« lediglich als »unentbehrliche Voraussetzung für die Entstehung des Maßes in der Dichtung« (S. 19) anstatt als konstitutiven Bestandteil der Wechselbeziehung, in der sich das Maß bildet und in der es ›ist‹.
166
in sich, als Einheit enthalten erkenne«.206 Dass dieses ›Maß‹ (und auch das ›Zusich-Kommen‹) hier keinesfalls vorgängig und absolut festgesetzt noch in sich spannungslos und statisch sein kann, sondern sich allererst in dem jeweiligen ›Streitprozess‹207 der harmonisch Entgegengesetzten konstituiert und das ›Maß‹ dieser Streit in seiner extremsten Ausprägung ist und darstellt, ist deutlich. In dieser ›Realisation‹, in dem doppelten Wortsinn als ›Werden‹ und ›Erkennen‹, kommt der Mensch wie auch das andere an dem poetischen Prozess Beteiligte – in der notwendigen extremen Spannung von Einheit und Differenz ›das Göttliche‹ – zu sich selbst, in seine »Bestimmung«,208 in sein »Maas«.209 Dieses ›Maß‹ ist nur in dem Extrem der Entgegensetzung und Einheit, der Wechselbestimmungen von Geist und anderem, von Menschlichem und Göttlichem, d. h. in dem ›göttlichen Moment‹ ›transzendentaler Empfindung‹ zu realisieren, wobei die ›Sprache‹ dieses aporetischen Moments, d. h. aber des Gedichts, konsequenterweise als »poetische[…] Prosa«210 bezeichnet wird. Der ›göttliche Moment‹ erscheint zudem als »allbegränzende[r]«,211 denn in ihm verwirklichen das Göttliche und das Menschliche jeweils ihre Individualität in dem unendlichen Bezug zum anderen, wobei das ›Maß‹, das für das Gedicht aufgrund dieses Moments erreicht wird, entsprechend dem poetischen Prozess als Ganzem, eine gemessene, maßvolle Bewegung, d. h. selbst ein in sich Widerstrebiges, harmonisch Entgegengesetztes von Statik und Dynamik, ein ›harmonischer‹ Wechsel, eine rhythmisierte Bewegung sein wird: »durch jenen Moment [nimmt] die unendliche Form ein Gebild, den Wechsel des Schwächern und Stärkern, der unendliche Stoff einen Wohlklang, einen Wechsel des Hellen und Leisern«212 an. Kommt das Verhältnis harmonischer Entgegensetzung in dem ›göttlichen Moment‹ in sein Extrem und zu sich selbst, so bedeutet das zugleich mit der ›Begrenzung‹ auch die Vereinigung der Beteiligten, der ›unendlichen Form‹ und des ›unendlichen Stoffs‹. Diese realisieren sich »durch jenen Moment« (im Gedicht) jedoch als »Gebild«, d. h. als »Wechsel des Schwächern und Stärkern« und als »Wohlklang«, d. h. als »Wechsel des Hellen und Leisern«,213 so dass sie eine – wiederum poetische – Wechseldynamik harmonisch Entgegengesetzter darstellen. Aufgrund der dem dichterischen Prozess inhärenten Selbstreflexivität und -perpetuation muss auch diese wechselseitige Bewegung durch den ›gött206 207 208 209 210 211 212 213
MA, Bd. 2, S. 94; FHA, Bd. 14, S. 317; StA, Bd. 4,1, S. 259; vgl. hierzu auch das Motto des ›Hyperion‹. Die Verwendung des Ausdrucks ›Streit‹ bezieht sich hier auf die analoge Struktur in Heraklits Fragment B 80. MA, Bd. 2, S. 94; FHA, Bd. 14, S. 317; StA, Bd. 4,1, S. 259. MA, Bd. 2, S. 100; FHA, Bd. 14, S. 322; StA, Bd. 4,1, S. 264. Ebd. MA, ebd.; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 265. Ebd. Ebd.
167
lichen Moment‹ zu ihrem aporetischen Extrem, einem ›erneuten‹ ›göttlichen Moment‹, führen, so dass […] sich beede [das Gebild als Wechsel des Schwächern und Stärkern und der Wohlklang als Wechsel des Hellen und Leisern] in der Langsamkeit und Schnelligkeit [d. h. in dem Wechselprozess harmonisch Entgegengesetzter, M. H.] endlich im Stillstande der Bewegung [d. h. in dem Extrem der Aporie, dem ›göttlichen Moment‹ im Gedicht] negativ vereinigen […].214
›Negativ‹ ist diese Vereinigung entsprechend der Aporie, dem Extrem des Verhältnisses harmonischer Entgegensetzung im ›göttlichen Moment‹, in dem Identität (›Vereinigung‹) und Differenz (›negativ‹) als ›negative Vereinigung‹ ununterscheidbar werden und augenblickshaft ineinander umschlagen. So wird auch ›verständlich‹, dass die dem ›göttlichen Moment‹ »zum Grunde liegende Thätigkeit, die unendliche schöne Reflexion«215 – entsprechend dem Verhältnis harmonischer Entgegensetzung, auf dem sie beruht und das sie zugleich hervorbringt216 – »in der durchgängigen Begränzung zugleich durchgängig beziehend und vereinigend ist«.217
214 215 216 217
MA, Bd. 2, S. 100; FHA, Bd. 14, S. 322; StA, Bd. 4,1, S. 264, H. v. m. MA, Bd. 2, S. 100; FHA, Bd. 14, S. 322; StA, Bd. 4,1, S. 265. Auch hier erscheint das Verhältnis harmonischer Entgegensetzung zugleich als Grund wie auch als Folge. MA, Bd. 2, S. 100; FHA, Bd. 14, S. 322; StA, Bd. 4,1, S. 265.
168
C. Durchführung der Grundstruktur hinsichtlich der Theorie der Töne sowie konkreter Dichtungen
169
170
V.
Die Darstellungsstruktur hinsichtlich der ›Töne‹ in der ›Verfahrungsweise‹ und weiteren poetologischen Entwürfen
1.
Zum Status und zum Verhältnis der poetologischen Entwürfe untereinander
Suggeriert die zeitliche und räumliche Nähe der verschiedenen poetologischen Entwürfe im ›Stuttgarter Foliobuch‹1 eine Einheitlichkeit, so sieht sich der Versuch, die verschiedenen Texte aufeinander zu beziehen, spezifischen Problemen gegenüber. Eine der Hauptschwierigkeiten besteht in dem nicht explizit geklärten Status der Ausführungen zwischen transzendentalem und empirischem Ansatz. Ist dies bereits in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« der Fall,2 so potenzieren sich die Schwierigkeiten in Bezug auf die weiteren poetologischen Entwürfe, die mit dem ›Wechsel der Töne‹ in Verbindung gebracht werden, »Die Empfindung spricht …«, »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …«, »Der Ausdruk, das karakteristische …« sowie die poetologischen Tafeln. Bei umfassender Betrachtung zeigt sich dieses spezifische Changieren zwischen empirischem und transzendentalem Ansatz jedoch als konsequente Umsetzung der poetisch-poetologischen Stoßrichtung Hölderlins, denn das Gedicht soll – wie der poetische Prozess, der in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« dargestellt wird – gerade dieses spannungsvolle und in sich paradoxe Verhältnis von transzendentaler Begründung und geschichtlicher Individualität in sich darstellen und vollziehen. Dieser ›Grundansatz‹ wird auch in den ›Anmerkungen zum Oedipus‹ explizit formuliert: [D]ie Poësie [bedarf] besonders sicherer und karakteristischer Prinzipien und Schranken. Dahin gehört einmal eben jener gesezliche Kalkul. Dann hat man darauf zu sehen, wie […] der Gang und das Vestzusezende, der lebendige Sinn, der nicht berechnet werden kann, mit dem kalkulablen Geseze in Beziehung gebracht wird.3
1 2
3
Mit Ausnahme des Entwurfs »Löst sich nicht …«. Vgl. Michael Konrad: Hölderlins Philosophie im Grundriß. Analytisch-kritischer Kommentar zu Hölderlins Aufsatzfragment »Über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes«. Bonn 1967, S. 217–220. MA, Bd. 2, S. 309; FHA, Bd. 16, S. 249f.; StA, Bd. 5, S. 195. Otto Pöggeler (Schicksal und Geschichte. Antigone im Spiegel der Deutungen und Gestaltungen seit Hegel und Hölderlin. München 2004) bezieht das Verhältnis von ›kalkulablem Gesetz‹ und ›lebendigem Sinn‹ auf Fichtes und Schellings Konzeption der ›intellektuellen Anschauung‹, konstatiert jedoch
171
Hölderlins Entwürfe zum ›Wechsel der Töne‹ vollziehen das Ineinander von transzendentaler Begründung und konkreter Ausprägung ebenfalls, jedoch unter dem Schwerpunkt möglicher Spezifizierungen der ›Grundtöne‹, ›Erscheinungsweisen‹ etc. von Gedichten, während »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« hauptsächlich auf die transzendentale Begründung von Gedichten zielt. In diesem Spannungsverhältnis erscheinen »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« und die weiteren Entwürfe als komplementäre und sich ergänzende Ausprägungen eines poetologischen Gesamtentwurfes. Finden sich die Spezifizierungen des Stofflichen in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« lediglich im Rahmen der ›subjektiven Begründung‹ sowie im Übergang zur ›objektiven Begründung‹, d. h. in Bezug auf geistige Prozesse vor der Sprachfindung des Gedichts, so ist der Bezug auf konkrete Ausprägungen von Gedichten und somit auch auf die weiteren poetologischen Entwürfe dennoch möglich. Denn der poetische Prozess verhält sich – gerade auch als das Ineinander von transzendentaler Begründung und empirischer Konkretion – in sich mimetisch, so dass sich die vorsprachliche zweite Phase des Prozesses, in der die Begründungen unter Angabe der verschiedenen Stoffe stattfinden, in der dritten Phase der Sprachfindung des Gedichts in Einheit und Differenz ›wiederholt‹. Diese ›Wiederholung‹ geschieht, wie bereits ausgeführt, unter Beibehaltung, d. h. Nicht-Aufhebung der einen Ebene – und dort insbesondere des Nicht-Idealischen, Stofflichen – in der jeweils höheren. Aufgrund dieses Umstandes ist es möglich, die Begründung, die als ›subjektive‹ und ›objektive‹ geschieht, auf das konkrete Gedicht zu beziehen. Der Bezug der Entwürfe aufeinander stellt aufgrund ihrer Verfasstheit jedoch auch vor spezifische Probleme, und zwar unter anderem deshalb, weil sich in der Darstellung der Möglichkeiten des Stofflichen – konsequenterweise – eine Vielfalt unterschiedlicher Bezeichnungen für ›dieselbe‹ Ausprägung findet. Die begrifflichen Varianzen können zwar teilweise hypostasierend aufgehoben werden, doch muss das Faktum unterschiedlicher Begrifflichkeit als möglicher Vollzug des Dargestellten auf diskursiver Ebene mit in die Deutung einbezogen werden. Zudem handelt es sich bei sämtlichen poetologischen Schriften um nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Entwürfe, die trotz der relativen Konsequenz und des sachlichen ›Zentrums‹, das in ihnen erkennbar wird, als Ansätze zur Ausarbeitung und als Versuche der Selbstvergewisserung betrachtet werden müssen. Folglich werden Begriffe zumeist nicht eingeführt, Zusammenhänge nicht explizit dargestellt, und auch eventuelle Irrwege oder Verwerfungen innerhalb und zwischen den Entwürfen nicht thematisiert. So lassen sich die Texte, trotz einer erkennbaren Hauptstoßrichtung, nicht bruchlos aufeinander beziehen. Es können jedoch relative Einheiten herausgestellt werden, deren Verdie Vielzahl unterschiedlicher Bezeichnungen für das ›kalkulable Gesetz‹ und deutet sie in die Richtung, »wie wenig er [Hölderlin] sich terminologisch festgelegt hat« (S. 90).
172
fasstheit in sich im Bewusstsein behalten werden sollte, so dass sich die Übereinstimmungen und Differenzen – entsprechend dem Hölderlin’schen Ansatz – gegenseitig hervortreiben können und ein in sich differenziertes, wenn auch nicht homogenes, Ganzes zum Vorschein kommen kann. Aus diesem Grund verfahren die folgenden Erörterungen zunächst textimmanent, um die möglichen Bezüge zwischen den Entwürfen herauszustellen und die Argumentation nachvollziehbar und überprüfbar zu machen. Das folgende Kapitel setzt somit den Mit- und Nachvollzug des Dargestellten an den Texten voraus. Nur so können herausgearbeitete Zusammenhänge deutlich werden und auf einen poetologischen Gesamtansatz bezogen werden.
2.
Rekapitulation der für den Tönewechsel relevanten Ausführungen in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«
Als Grundlage für die Erarbeitung der Bezüge zwischen den poetologischen Entwürfen sollen die Ausführungen zu den möglichen Stoffarten des Gedichts in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« rekapituliert werden. Auch hier wird zunächst textimmanent verfahren. Wie in Kapitel IV.4 ausgearbeitet, wird das ›Ergebnis‹ des poetischen Prozesses, das Zeichen, in seiner nicht-idealischen Komponente am relativen Ende des Entwurfs als ›Stoff‹ bezeichnet. Dieser geht aus dem jeweils ›anderen‹ zu dem Geist in dem poetischen Prozess hervor und ist somit einerseits identisch mit diesem, andererseits ist er jedoch konstitutiv different aufgrund dessen, dass sich auch diese ›anderen‹ auf den verschiedenen Ebenen des poetischen Prozesses voneinander unterscheiden. Das Verhältnis des ›Stoffes‹, wie er in dem gelungenen Gedicht erscheint, zu dem ›Geist‹ ist somit eines der Einheit in der Differenz, wie es für die Seite des Idealischen in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« expliziert wird. Denn wird die ›ursprüngliche Empfindung‹ bzw. die ›Stimmung‹ des Dichters in dem poetischen Prozess zu den ›Tönen seines Geistes‹ in der Vollendung des Prozesses ›geläutert‹, hat der Dichter »aus einer ursprünglichen Empfindung, durch entgegengesezte Versuche, sich zum Ton, zur höchsten reinen Form derselben Empfindung emporgerungen«,4 so gilt – aufgrund der konstitutiven Wechselwirkung von Idealischem und Nicht-Idealischem in dem poetischen Prozess – ein Analoges für das NichtIdealische, das jeweils ›andere‹ zum Geist auf den verschiedenen Stufen des poetischen Prozesses. Dieses ›andere‹ ist am ausführlichsten im Kontext der untersten Stufe der zweiten Phase, der ›subjektiven Begründung des Gedichts‹, dargestellt und wird in diesem Zusammenhang als ›Stoff‹ (und im Folgenden aus Gründen, die in 4
MA, Bd. 2, S. 98; FHA, Bd. 14, S. 320; StA, Bd. 4,1, S. 263, H. v. m.
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dem Kapitel zu »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« ausgeführt wurden, auch als ›Wirkungskreis‹ bzw. ›Element‹) bezeichnet.5 Werden zunächst drei verschiedene Stoffarten aufgezählt, der Stoff ist [1., M. H.] entweder eine Reihe von Begebenheiten, oder Anschauungen Wirklichkeiten subjectiv oder objectiv zu beschreiben, zu mahlen oder er ist [2., M. H.] eine Reihe von Bestrebungen Vorstellungen Gedanken, oder Leidenschaften Nothwendigkeiten subjectiv oder objectiv zu bezeichnen oder [3., M. H.] eine Reihe von Phantasien Möglichkeiten subjectiv oder objectiv zu bilden […],6
so sind die Kriterien dafür, dass der Stoff einer ›idealischen Behandlung fähig‹ ist, d. h. ein ›ächter Grund‹ zu dem Stoff ›vorhanden ist‹, terminologisch uneinheitlich. Hat ein Stoff der ersten Art nämlich einen ›ächten Grund‹, wenn er aus der zweiten Stoffart hervorgeht (»wenn die Begebenheiten oder Anschauungen [Stoffart 1, M. H.] hervorgehn aus rechten Bestrebungen [Stoffart 2, M. H.]«7), so werden für die ›Gründe‹ der anderen beiden Stoffarten (2 und 3) Ausdrücke eingeführt, die den Stoffarten 1 oder 3 nicht eindeutig zugeordnet werden können. Für die Stoffart 2 (»Gedanken und Leidenschaften«8) wäre der Grund, aus dem sie hervorgegangen sein soll, ›eine rechte Sache‹, für die Stoffart 3 (»die Phantasien«9) ›eine schöne Empfindung‹. Abgeleitet von den Verhältnissen bezüglich der ersten Stoffart könnte man annehmen, die zweite würde aus der dritten, die dritte aus der ersten hervorgehen. Dann müsste ›die rechte Sache‹ mit ›einer Reihe von Phantasien, Möglichkeiten‹ identifiziert werden, ›die schöne Empfindung‹ mit ›einer Reihe von Begebenheiten, Anschauungen, Wirklichkeiten‹. Die Fußnote, die an die Angabe der verschiedenen Stoffarten anschließt, führt den Ausdruck ›Empfindung‹ als ›Bedeutung‹ an und würde sich somit auf die dritte Stoffart beziehen. Hat die Stoffart 1 gemäß dem Haupttext dann einen Grund, wenn sie aus ›rechten Bestrebungen‹ hervorgeht, so ließe sich dies auf die ›Bedeutung‹ beziehen, die in der Fußnote als letzte genannt wird, den ›eigentlicheren Zwek‹. Der Grund der zweiten Stoffart, der im Haupttext als ›rechte Sache‹ bezeichnet wird, wäre demnach mit der ›Bedeutung‹ der ›Intellectualen Anschauung‹ zu identifizieren, so dass die Reihenfolge der ›Bedeutungen‹ in der Fußnote der der Stoffarten im Haupttext entgegengesetzt wäre. Synthetisiert mit den ›Gründen‹, die im Haupttext zu den verschiedenen Stoffarten
5
6 7 8 9
Zur theoretischen Verortung von Hölderlins Ausführungen v. a. in Bezug auf Schiller vgl. Cyrus Hamlin: »The Philosophy of Poetic Form. Hölderlin’s Theory of Poetry and the Classical German Elegy«. In: The solid letter. Readings of Friedrich Hölderlin. Ed. by Aris Fioretos. Stanford/California 1999, S. 291–320, v. a. S. 296–300. MA, Bd. 2, S. 80; FHA, Bd. 14, S. 305 (»[…] zu mahlen, oder er ist […]«); StA, Bd. 4,1, S. 243f. MA, ebd.; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 244. Ebd. Ebd.
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angegeben werden, müsste die ›rechte Sache‹ sowohl mit der ›Intellectualen Anschauung‹ als auch mit ›Phantasien, Möglichkeiten‹ (Stoffart 3) identifiziert werden, die ›schöne Empfindung‹ mit ›Begebenheiten, Anschauungen, Wirklichkeiten‹ (Stoffart 1), der ›eigentlichere Zwek‹ mit ›rechten Bestrebungen‹ (Stoffart 2). Entsprechend den ›subjektiven Begründungen‹, die die verschiedenen Stoffarten erfahren, wird die erste Stoffart, die ihren Grund in der zweiten findet, somit aus dieser hervorgehen soll, mit einer ›naiven Tendenz‹ der Begründung in Zusammenhang gebracht, die zweite Stoffart mit ihrem Grund in der dritten mit einer ›heroischen Tendenz‹ und die dritte Stoffart mit ihrer Begründung in der ersten mit der ›idealischen Tendenz‹.10 Unter Bezugnahme auf die Definition der ›Bedeutung‹ des Gedichts, die in dem Text nicht bloß unter Einschränkung auf die ›subjektive Bedeutung‹, sondern in Bezug auf das ›Gedicht‹ als solches gegeben wird,11 wird deutlich – und dem entsprechen auch die Angaben in der Fußnote –, dass das, was hier als ›Ausdruk‹, ›Dargestelltes‹, ›sinnlicher Stoff‹ und in der Fußnote als ›Darstellung‹ und ›das materielle‹ bezeichnet wird, der zunächst gewählten Stoffart entspricht, so dass sich die Stoffart 3 (›Phantasien‹, ›Möglichkeiten‹ etc.) in einer ›bildlichen‹ Darstellung, die Stoffart 2 (›Bestrebungen‹, ›Nothwendigkeiten‹ etc.) ›leidenschaftlich‹ und die erste Stoffart (›Anschauungen‹, ›Wirklichkeiten‹) ›sinnlich‹ äußert. Die ›Bedeutung‹ des Gedichts entspricht – wie erwähnt – der Stoffart, die den ›Grund‹ zu der zunächst gewählten Stoffart bildet. Die Ausführungen zur ›subjektiven Begründung des Gedichts‹ werden an späterer Stelle12 nochmals aufgenommen und bereiten den Übergang zur ›objektiven Begründung des Gedichts‹ vor. Diese ›objektive Begründung‹ setzt den Gang der ›subjektiven Begründung‹ fort, indem sie von dieser bzw. der ›Bedeutung‹, die zugleich »die idealische Stimmung«, »die Hauptstimmung des Dichters beim ganzen Geschäffte«13 ist, ausgeht und diese vermittels ihres Stoffs ›aufzufassen‹ versucht, mit dem Unterschied, dass sich die Weise des Verfahrens mit dem Stoff entsprechend der Begründungsart ändert.14 Diese ›Fortführung‹ der ›subjektiven Begründung‹ bedeutet zum anderen jedoch zugleich eine Umkehrung des Verhältnisses von Stoff und Geist. Schrei-
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12 13 14
Vgl. MA, Bd. 2, S. 82; FHA, Bd. 14, S. 307; StA, Bd. 4,1, S. 246. »Dieser Grund des Gedichts, seine Bedeutung, soll den Übergang bilden zwischen dem Ausdruk, dem Dargestellten, dem sinnlichen Stoffe, dem eigentlich ausgesprochenen im Gedichte, und zwischen dem Geiste, der idealischen Behandlung« (MA, Bd. 2, S. 80; FHA, Bd. 14, S. 305; StA, Bd. 4,1, S. 244); »[z]wischen dem Ausdruke (der Darstellung) und der freien idealischen Behandlung liegt die Begründung und Bedeutung des Gedichts. […] Sie ist das geistigsinnliche, das formalmaterielle, des Gedichts« (MA, Bd. 2, S. 81; FHA, Bd. 14, S. 306; StA, Bd. 4,1, S. 245). Vgl. MA, Bd. 2, S. 83; FHA, Bd. 14, S. 307f.; StA, Bd. 4,1, S. 246. MA, ebd.; FHA, Bd. 14, S. 307; StA, Bd. 4,1, S. 246f. Vgl. bei der Einführung der Stoffarten die Zusätze »subjectiv oder objectiv zu beschreiben, zu mahlen« etc., MA, Bd. 2, S. 80; FHA, Bd. 14, S. 305; StA, Bd. 4,1, S. 243.
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tet die ›subjektive Begründung‹ nämlich von dem gewählten Stoff zu einer ›idealischen Stimmung‹ fort, die der ›subjektive Grund‹ des Gedichts ist, so vollzieht sich in der ›objektiven Begründung‹ eine entgegengesetzte Bewegung, von der ›idealischen Stimmung‹, dem ›subjektiven Grund‹, zum Stofflichen. Der Anschluss der ›objektiven Begründung‹ an die ›subjektive‹ stellt somit zum einen eine Fortführung derselben dar, indem sie jedoch zum anderen die Richtung der Begründung, das Verhältnis von ›Stofflichem‹ und ›Idealischem‹ umkehrt, so dass sich ein gegenstrebiges Verhältnis von subjektiver und objektiver Begründung ergibt. Dabei ist das Verhältnis der ›Stimmung‹ bzw. ›Bedeutung‹, ihres zugehörigen Stoffes und der Weise der Auffassung dieses Stoffes in der ›objektiven Begründung‹ aufschlussreich. Findet die erste Stoffart (›Wirklichkeiten‹ etc.) ihren ›subjektiven Grund‹ in der zweiten (›Notwendigkeiten‹ etc., ›Zweck‹), so bedeutet dies, dass die ›idealische Stimmung‹ entsprechend diesem ›Grund‹ als ›Streben‹ festgehalten und folglich als ›Erfüllbares‹15 betrachtet wird. Wird sie aber als ›Erfüllbares‹ betrachtet, so muss der Stoff als »erfüllendes«16 verstanden werden. Die Eigenschaft, ›erfüllend‹ zu sein, kommt in dieser Ordnung der Stoffe – obwohl das im Text nicht expliziert wird – am ehesten der dritten Stoffart (›Phantasien‹, ›Möglichkeiten‹) zu. Die der ›idealischen Stimmung‹ des ›Strebens‹ zugeordnete Stoffart ist jedoch die zweite (›Bestrebungen‹, ›Nothwendigkeiten‹ etc.), so dass in der ›objektiven Begründung‹ die zweite Stoffart auf die Weise aufgefasst wird, die der dritten Stoffart (›Phantasien‹, ›Möglichkeiten‹) entspricht. Der zweiten Stoffart (›Notwendigkeiten‹ etc.) kommt der subjektive Grund in der dritten Stoffart (›Möglichkeiten‹ etc.) zu, so dass die ›Hauptstimmung‹ des Dichters im poetischen Prozess die ›Intellectuale Anschauung‹ sein wird und somit als ›Realisierbares‹ aufgefasst wird, was zur Folge hat, dass der Stoff als ›Geschehendes‹ verstanden werden muss. Diese Weise der ›idealischen Auffassung‹ entspricht jedoch der ersten Stoffart (›Wirklichlichkeiten‹ etc.), so dass die der ›idealischen Stimmung‹ zugehörige dritte Stoffart (›Möglichkeiten‹ etc.) in der Weise der ersten Stoffart begriffen wird. Gründet die dritte Stoffart (›Möglichkeiten‹ etc.) subjektiv in der ersten (›Wirklichkeiten‹ etc.), so ist die subjektive Bedeutung des Gedichts die ›Empfindung‹, die somit als ›Verallgemeinbares‹ und ihr Stoff als ›Allgemeines‹ aufgefasst wird. Diese Auffassungsweise kommt jedoch eigentlich der zweiten Stoffart (›Notwendigkeiten‹) zu, so dass die erste in dem Akt der ›objektiven Begründung‹ in der Weise der zweiten aufgefasst wird. Somit durchlaufen die beiden Akte der Begründung des Gedichts bei jeder Wahl einer Stoffart die beiden anderen Stoffarten bzw. deren Weisen, begrif15 16
Vgl. MA, Bd. 2, S. 83; FHA, Bd. 14, S. 307; StA, Bd. 4,1, S. 247. MA, ebd.; FHA, Bd. 14, S. 308; StA, ebd.
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fen zu werden, wobei die Begründungen in der Reihe der Stoffarten ›Wirklichkeiten‹ (1) – ›Notwendigkeiten‹ (2) – ›Möglichkeiten‹ (3) jeweils um eine Stoffart fortschreiten und sich somit der Strukturzusammenhang ›Stoffart 1‹ – ›subjektive Begründung in Stoffart 2‹ – ›objektive Begründung in Stoffart 3‹, oder allgemein ausgedrückt, ›Stoffart x‹ – ›subjektive Begründung in Stoffart x+1‹ – ›objektive Begründung in Stoffart x+2‹ abzeichnet. Dabei müsste der Zusammenhang der drei Stoffarten so definiert werden, dass ›x+2‹ – in dem Falle dass beispielsweise ›x=2‹ – ›4=1‹ bedeutet. Hier zeigt sich – mathematisch fassbar – ein Umschlag der ›Extreme‹ ineinander. Dabei ist zu beachten, dass die ›objektive Begründung‹ als Selbstauffassung der Stimmung und ihres Stoffes die Weise dieser Auffassung bedeutet. Dabei bleibt der ›begründende‹ Stoff aus dem Akt der ›subjektiven Begründung‹ erhalten, wird jedoch in der Weise begriffen, die der jeweils ›dritten‹ (im Sinne von ›x+2‹) Stoffart entsprechen würde. Die Stoffart, die den ›subjektiven Grund‹ des Gedichts bildet (Stoffart ›x+1‹) wird in der ›objektiven Begründung‹ somit aufgefasst, als ob sie die jeweils dritte (Stoffart ›x+2‹) wäre. Diese detaillierten Verhältnisse der Stoffarten in den Begründungen zueinander sowie die folgenden Ausführungen werden für den ›Wechsel der Töne‹ besonders bedeutsam. Das Gedicht bildet entsprechend den Angaben im Kontext der ›subjektiven Begründung‹ eine in sich differenzierte Einheit von ›Geistigem‹ und ›Sinnlichem‹, wobei die Entgegengesetzten durch einen Übergang vermittelt werden, der als ›geistigsinnliches‹, ›formalmaterielles‹ bestimmt wird, die ›Bedeutung‹ des Gedichts. Es wird in der Fußnote selbst17 nicht deutlich, ob die ›freie, geistige Behandlung‹ in Bezug auf die verschiedenen Stoffarten der jeweils dritten Stoffart zu den beiden Stoffarten der ›Bedeutung‹ und des ›Sinnlichen‹ des Gedichts entspricht, doch liegt diese Annahme unter Einbezug der ›objektiven Begründung‹ des Gedichts nahe. Dieses Verhältnis und der Sinn der ›objektiven Begründung‹ wird auch insofern deutlich, als sich das ›Sinnliche‹ und das ›Geistige‹ im Gedicht – entsprechend den Verhältnissen im poetischen Prozess – entgegengesetzt sein müssen, wenn das Gedicht gelungen sein soll, d. h. das Gedicht dasjenige sein soll, worin sich der Geist als das, was er ist, und d. h. als zwischen seinen ›Grundoperatoren‹ ›Einheit‹ und ›Differenz‹ Gespanntes, reproduzieren soll. Die Struktur des Geistes, die sich in dem poetischen Prozess als […] nothwendiger Widerstreit […] zwischen der ursprünglichsten Forderung des Geistes, die auf Gemeinschaft und einiges Zugleichseyn aller Theile geht, und zwischen der anderen Forderung, welche ihm gebietet, aus sich heraus zu gehen, und in einem schönen Fortschritt und Wechsel sich in sich selbst und in anderen zu reproduciren […]18
17 18
Vgl. MA, Bd. 2, S. 80; FHA, Bd. 14, S. 305; StA, Bd. 4,1, S. 244. MA, Bd. 2, S. 77; FHA, Bd. 14, S. 303; StA, Bd. 4,1, S. 241.
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zeigt, muss sich somit in dem Gedicht in den Gegensätzen des ›Geistigen‹ und ›Sinnlichen‹ manifestieren, wobei diese Komponenten tatsächlich als entgegengesetzte heraustreten müssen, was dadurch möglich ist, dass sie sich vermittels entgegengesetzter Stoffarten (›als Vehikel des Geistes‹) und entgegengesetzter Auffassungsweisen dieser Stoffarten äußern. Die ›Bedeutung‹ als das ›Geistig-Sinnliche‹, das ›Formal-Materielle‹ wäre somit das Gedicht in seinem konstitutiven Ineinander der Auseinanderstrebenden des ›Sinnlichen‹ und des ›Geistigen‹. Der Umstand, dass jede der drei Stoffarten die verschiedenen Funktionen in dem Prozess poetischer Selbstreproduktion des Geistes übernehmen kann, verdeutlicht zum einen, dass die Entgegensetzungen zwischen den unterschiedlichen Stoffarten relativ, d. h. ›harmonisch‹, verfasst sind und zum anderen, dass die Weise und der Grad der Entgegensetzung sich in jedem poetischen Prozess und somit in jedem Gedicht – gerade in dem Rahmen der ›kalkulablen‹ und schematisch darstellbaren Gesetze – dennoch jeweils individuell ausprägen müssen.19
3.
»Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« in Verbindung mit »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«
Im Folgenden wird der Zusammenhang zwischen »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« und »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« herausgearbeitet, was sachlich möglich ist, jedoch die jeweilige Übersetzung voneinander abweichender Begrifflichkeit erfordert. Somit müssen teilweise Sachverhalte aus »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« wiederholt und hinsichtlich der genauen terminologischen Bezüge muss zunächst textimmanent verfahren werden. In »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« werden die verschiedenen Stoffe und Bedeutungen von ›Gedichten‹ (hier synonym verwendet zu ›Dichtungen‹20), die in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«
19
20
Vgl. dazu auch die ›Anmerkungen zum Oedipus‹, MA, Bd. 2, S. 309; FHA, Bd. 16, S. 249f.; StA, Bd. 5, S. 195. Holger Schmid (»Geheimes Hesperien. Poetische und politische Fügung«. In: Castrum Peregrini 266/267 [54. Jahrgang 2005], S. 107–122) stellt den konstitutiven Bezug von »poetische[r] Fügung« und »gemeinschaftliche[r] Seele« heraus und sieht gerade in der ›gegenrhythmischen Unterbrechung‹ und der ›Zäsur‹ das ›individualisierende‹ Moment des ›Poetischen‹, in dem »die lebendige Eigentümlichkeit eines jeden zum Vorschein kommen soll (dies ist der Begriff des ›freien Volkes‹)« und wodurch sich das ›Poetische‹ »gegen die Allgemeinheit von Philosophie und Politik« (S. 114) abgrenzt. Vgl. die Auffassung der ›Ilias‹ als ›episches Gedicht‹ in ›Über die verschiednen Arten, zu dichten‹ (MA, Bd. 2, S. 68; FHA, Bd. 14, S. 130; StA, Bd. 4,1, S. 229).
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herausgearbeitet werden, den drei Gattungen ›lyrisch‹, ›episch‹ und – unter Gleichsetzung von ›tragisch‹ und ›dramatisch‹ – ›dramatisch‹ zugeordnet: Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht ist in seiner Bedeutung naiv. Es ist eine fortgehende Metapher Eines Gefühls. Das epische dem Schein nach naive Gedicht ist in seiner Bedeutung heroisch. Es ist die Metapher großer Bestrebungen. Das tragische, dem Schein nach heroische Gedicht, ist in seiner Bedeutung idealisch. Es ist die Metapher einer intellectuellen Anschauung.21
Wird in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« die ›bildliche Darstellung‹, die der dritten Stoffart (›Phantasien‹, ›Möglichkeiten‹ etc.) entspricht, mit einer ›idealischen Tendenz‹ in Verbindung gebracht und hat diese Stoffart ihren ›Grund‹ in der ersten (›Anschauungen‹, ›Wirklichkeiten‹ etc.), ist somit die ›Empfindung‹ ›Bedeutung‹, so findet sich dieser Komplex in »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« in dem ›lyrischen Gedicht‹ mit seiner ›idealischen‹ Erscheinung (entsprechend der Stoffart 3) und seiner ›naiven‹ Bedeutung (entsprechend der Stoffart 1) als ›Metapher Eines Gefühls‹ wieder. Die zweite Stoffart (›Bestrebungen‹, ›Nothwendigkeiten‹ etc.) mit ihrem ›leidenschaftlichen‹ Ausdruck, ihrer ›heroischen Tendenz‹ und ihrem Grund in dem dritten Stoff (›Phantasien‹, ›Möglichkeiten‹ etc.), somit der Bedeutung der ›Intellectualen Anschauung‹, bezieht sich auf das ›tragische Gedicht‹, das in »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« mit dem ›heroischen Schein‹ (entsprechend der Stoffart 2) und einer ›idealischen Bedeutung‹ (entsprechend der Stoffart 3) verbunden wird, und somit die ›Metapher‹ einer ›intellectualen Anschauung‹ darstellt. Die erste Stoffart (›Anschauungen‹, ›Wirklichkeiten‹ etc.) mit ihrem ›sinnlichen‹ Ausdruck und ihrer ›naiven Tendenz‹ findet ihren Grund in der zweiten Stoffart (›Bestrebungen‹, ›Nothwendigkeiten‹ etc.) und ist in ihrer Bedeutung somit ein ›eigentlicherer Zwek‹. Dem entspricht in »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« das ›epische Gedicht‹ mit seinem ›naiven Schein‹ (entsprechend der ersten Stoffart) und der ›heroischen Bedeutung‹ (entsprechend der zweiten Stoffart), die das Gedicht zu einer ›Metapher großer Bestrebungen‹ (entsprechend der dritten Stoffart) macht. Dieser ›naive‹ Schein wird in dem früheren Fragment ›Über die verschiednen Arten, zu dichten‹ im Kontext der ›Ilias‹ als »natürliche[r] Ton« bezeichnet, »der vorzüglich dem epischen Gedichte eigen«22 ist. Dort findet sich dieser ›Ton‹ in seinen konkreten Merkmalen beschrieben,23 doch nimmt die Abhandlung keine Differenzierung zwischen ›Bedeutung‹ und ›Darstellung‹, somit ›Grundton‹ und
21 22 23
MA, Bd. 2, S. 102; FHA, Bd. 14, S. 369; StA, Bd. 4,1, S. 266 (»[…] Das lyrische, dem Schein […] Das epische, dem Schein […]«). MA, Bd. 2, S. 68; FHA, Bd. 14, S. 130; StA, Bd. 4,1, S. 229. Vgl. v. a. MA, Bd. 2, S. 68f.; FHA, Bd. 14, S. 131f.; StA, Bd. 4,1, S. 229f.
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›Kunstcharakter‹ vor, die in den späteren Versuchen unter verschiedener Terminologie durchgängig erfolgt. Auf diese grundsätzlichen – und in ihrem direkten Bezug auf den Entwurf »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« ›transzendental‹ zu nennenden – Bestimmungen der drei Dichtungsgattungen folgen in »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« Ausführungen zu deren konkreten Erscheinungsformen, die als ›Stile‹ bezeichnet werden. Diese zeichnen sich durch eine grundsätzliche Relativität aus, so dass sich die Differenzen sowohl zwischen den unterschiedlichen Gattungen als auch die Differenzierungen innerhalb dieser als graduell erweisen. Die ›Entgegensetzungen‹, die sich hieraus ergeben, sind somit wiederum ›harmonische‹, relative. So beginnt die Übertragung der transzendentalen Feststellungen auf konkrete Erscheinungsweisen der ›Gedichte‹ einer bestimmten Gattung in »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« sowohl mit einer relativen Differenz in der Terminologie als auch unter Verwendung des Komparativs. Das ›lyrische Gedicht‹ erscheint so mit seiner ›naiven Bedeutung‹ – im Vergleich zu den Erscheinungen der anderen Gattungen – »in seiner Grundstimmung [als] das sinnlichere«24 und der dezidiert ›idealische Schein‹ des transzendental lyrischen Gedichts wird bezüglich des konkreten ›lyrischen Gedichts‹ ebenfalls in das Relativ-Graduelle transformiert: […] es [strebt] im äußern Schein nicht so wohl nach Wirklichkeit und Heiterkeit und Anmuth, es gehet der sinnlichen Verknüpfung und Darstellung so sehr aus dem Wege, […] daß es in seinen Bildungen und der Zusammenstellung derselben gerne wunderbar und übersinnlich ist […].25
Innerhalb dieser ›Grundform‹ der Erscheinung des ›lyrischen Gedichts‹ finden sich zusätzliche graduelle Differenzierungen in Bezug auf den jeweiligen ›Grundton‹, die weitere Veränderungen zur Folge haben. Von Bedeutung sind hier jedoch zunächst die Ausführungen über die innere ›Dynamik‹ der verschiedenen Konstituenten der jeweiligen Gedichte. Ist das ›lyrische Gedicht‹ nämlich entsprechend seiner ›naiven Bedeutung‹ »in seiner Grundstimmung [im Vergleich zu Erscheinungen der anderen Gattungen, M. H.] das sinnlichere, indem diese eine Einigkeit enthält, die am leichtesten sich giebt«,26 so muss der ›äußere Schein‹ des Gedichts (hier näher erläutert als »Verknüpfung«, »Darstellung«, »Bildungen« und deren »Zusammenstellung«27) danach ›streben‹, dieser Grundstimmung (harmonisch) entgegengesetzt zu sein, was in der logischen Anordnung der ›Bedeutungen‹ bzw. des ›Scheins‹ der 24 25 26 27
»Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …«, MA, Bd. 2, S. 103; FHA, Bd. 14, S. 369; StA, Bd. 4,1, S. 266. Ebd. Ebd. Ebd.
180
Gedichte, ›naiv – heroisch – idealisch‹, bedeutet, dass er sich einer ›idealischen‹ Erscheinung annähert. Aufgrund der ›sinnlicheren Grundstimmung‹, entsprechend der ›naiven Bedeutung‹, »strebt« das lyrische Gedicht […] im äußern Schein nicht so wohl nach Wirklichkeit und Heiterkeit und Anmuth [wie es nach »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« dem Stoff, ›Anschauungen‹, ›Wirklichkeiten‹ etc., der naiven Bedeutung, entsprechen würde, M. H.], es gehet der sinnlichen Verknüpfung und Darstellung so sehr aus dem Wege, (weil der reine Grundton eben dahin sich neigen möchte) daß es in seinen Bildungen und der Zusammenstellung derselben gerne wunderbar und übersinnlich ist […].28
Dieses ›Streben‹ der Darstellung, des ›äußeren Scheins‹, zum Idealischen hin, wird im Kontext der subjektiven Begründung des Gedichts in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« als ›idealische Tendenz‹ bezeichnet.29 Dessen ›Bedeutung‹ ist entsprechend seinem ›Grund‹ in der ersten, nun ›naiv‹ zu nennenden Stoffart (›Anschauungen‹, ›Wirklichkeiten‹ etc.), die ›Empfindung‹, und seine ›Darstellung‹ oder sein ›Ausdruk‹ muss entsprechend der dritten (›idealischen‹) Stoffart (›Phantasien‹, ›Möglichkeiten‹ etc.) ›bildlich‹ sein.30 Der ›idealische Schein‹ bzw. das ›Streben‹ der ›Bildungen‹ des Gedichts und deren ›Zusammenstellung‹ zum ›Wunderbaren‹ und ›Übersinnlichen‹ hin erscheint in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« als ›bildliche Darstellung‹.31 In Bezug auf das lyrische Gedicht finden sich innerhalb des Entwurfs »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« für den »äußern Schein« die Synonyme »Verknüpfung«, »Darstellung«, »Bildungen und […] Zusammenstellung derselben«, »Kunstkarakter«, »uneigentlicher Ton« sowie »Richtung«, für die ›Bedeutung‹ die Ausdrücke »Grundstimmung«, »Grundton« sowie »unmittelbarere[r] Ausdruk« und »Nachdruk«.32 Könnte die Formulierung ›äußerer Schein‹ eine Unmittelbarkeit des Eindrucks und die Bezeichnungen ›Bedeutung‹ bzw. ›Grundton‹ eine Mittelbarkeit suggerieren, so zeigt sich bei genauerer Betrachtung das relative Gegenteil insofern, als der ›äußere Schein‹ in seinen Synonyma (›Verknüpfung‹, ›Bildungen‹ und ›Zusammenstellung‹)
28
29 30 31 32
Ebd.; StA: »[…] dem Wege (weil […] möchte), daß […]«. Der ›reine Grundton‹ ist hierbei die in dem poetischen Prozess ›geläuterte‹ (vgl. »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«, MA, Bd. 2, S. 98; FHA, Bd. 14, S. 320f.; StA, Bd. 4,1, S. 263) ›idealische Stimmung‹, die über die Stoffwahl in der Bedeutungsgebung des Gedichts auf bestimmte Weise festgesetzt wird (vgl. MA, Bd. 2, S. 83; FHA, Bd. 14, S. 307f.; StA, Bd. 4,1, S. 246f.). Vgl. MA, Bd. 2, S. 82; FHA, Bd. 14, S. 307; StA, Bd. 4,1, S. 246. Vgl. »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«, MA, Bd. 2, S. 80; FHA, Bd. 14, S. 305; StA, Bd. 4,1, S. 243f. Vgl. »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«, MA, ebd.; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 244. »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …«, MA, Bd. 2, S. 103; FHA, Bd. 14, S. 369; StA, Bd. 4,1, S. 266f.
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als Kombiniertes und somit Vermitteltes erscheint, während der ›Grundton‹ als ›Grundstimmung‹ und explizit als ›unmittelbarerer Ausdruk‹ bezeichnet wird.33 Der »Widerspruch«34 zwischen naivem Grundton und idealischem Kunstcharakter ist – wie die drei Bestimmungen ›naiv‹, ›heroisch‹ und ›idealisch‹ selbst – relativ, d. h. ein Verhältnis harmonischer Entgegensetzung. Die ›Entgegengesetzten‹ zeichnen sich somit dadurch aus, dass die Zunahme einer Eigenschaft des einen zu der relationalen Abnahme der Eigenschaft des Entgegengesetzten führt, so dass die drei Bestimmungen ›naiv‹, ›heroisch‹, ›idealisch‹ auf einer Achse möglicher Gegensätze als relational verschiebbar erscheinen und metaphorisch von ›Spannungsverhältnissen‹ auf dieser Achse gesprochen werden kann. In dem Gegensatz von ›naivem Grundton‹ und ›idealischem Kunstcharakter‹, wie er dem ›lyrischen Gedicht‹ eigen ist, bedeutet das, dass das Gedicht aufgrund dieses Gegensatzes »im idealischen Bilde«, d. h. in seinem idealischen Kunstcharakter, »seine Wirklichkeit, sein Lebendiges« (als Bestimmungen des ›Naiven‹) und »im unmittelbareren Ausdruk«, d. h. in seinem (naiven) Grundton, »seine Tendenz zur Erhebung«35 (die dem Idealischen zukommt) relativ einbüßt. Diese Spannung zwischen ›Sinnlichem‹ und ›Geistigem‹, zwischen ›Naivem‹ und ›Idealischem‹, in der das lyrische Gedicht konstitutiv steht, findet seine ›Auflösung‹ in dem dritten Ton, der in der Mitte zwischen ›Naivem‹ und ›Idealischem‹ angesiedelt ist. Dieser vermittelnde, dritte Ton kann den Widerspruch zwischen Grundton und Kunstcharakter ›auflösen‹, indem er – in diesem Fall – »Erhebung und Leben«36 vereinigt. Doch ist diese ›Auflösung‹ des Gegensatzes bzw. die ›Vereinigung‹ keine Aufhebung der Differenz in eine absolute Einheit, sondern die ›Auflösung‹ behält die Spannung des Gegensatzes in sich. Die Vereinigung ist somit dezidiert eine Einheit in ihrer konstitutiven inneren Widerstrebigkeit, »die Auflösung des Widerspruchs« geschieht in nichts anderem als in »heroischen energischen Dissonanzen«37 selbst. Die Spannung von naivem Grundton und idealischem Kunstcharakter, worin sich das lyrische Gedicht konstituiert, hebt sich als solche auch in der ›heroischen Auflösung‹ des ›Widerspruchs‹ nicht auf, sondern wird als Gegensatz und in der Bestimmtheit
33
34 35 36 37
Dies gilt in dieser Ausprägung jedoch nur für das ›lyrische Gedicht‹. Die Gattungen unterscheiden sich voneinander auch aufgrund des Verhältnisses von Grundton und Kunstcharakter zu verschiedenen Graden der Mittelbarkeit. »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …«, MA, Bd. 2, S. 103; FHA, Bd. 14, S. 369; StA, Bd. 4,1, S. 266. Ebd. Ebd. Ebd., H. v. m.
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dieses Gegensatzes allererst dadurch kenntlich, dass sie in dem Heroischen als ›eines‹ erscheint. Erst aufgrund des Umstands, dass die Gegensätze in dem dritten, heroischen Ton, in ein ›eines‹ gelangen, treten sie als solche hervor und werden als sie selbst kenntlich. Erst in der heroischen ›Auflösung‹ als in sich widerstrebiger Einheit kann sich somit der Grundwiderspruch als die Verfasstheit des lyrischen Gedichts als Ganzes sowie als konstitutiver Teil des Gedichts darstellen. Die ›Auflösung‹ als ›Dissonanz‹, als ›Vereinigung‹ der Entgegengesetzten als solche, als ›harmonisch entgegengesetzt Eines‹, ist es also, in der sich die Grundverfasstheit des Gedichts in diesem selbst darstellt. Diese Darstellung der eigenen Grundverfasstheit, d. h. die Selbstreflexivität hinsichtlich der eigenen Ermöglichungsbedingungen, ist konstitutiv für das Gedicht. Es zeigt sich auch hier als unaufhebbar autoreflexiv in Bezug auf seine eigene Grundverfasstheit, d. h. es ist in dieser Hinsicht transzendental. Was aus transzendentalphilosophischer Perspektive hinsichtlich der Ausführungen in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« als Vermischung von transzendentalen und empirischen Hinsichten erscheinen kann,38 zeigt sich auch in dem nun gewonnenen Kontext geradezu als konsequent durchgeführte Intention. Die bereits hergestellten Bezüge zwischen den Texten sollen im Folgenden weiter spezifiziert und hinsichtlich der variierenden Begrifflichkeit aufeinander bezogen werden. Was sich in »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« als ›äußerer Schein‹, ›Kunstcharakter‹ bzw. ›Richtung‹ findet, entspricht im Kontext der zweiten Phase in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« der ›Tendenz‹, die das Gedicht durch den Akt des subjektiven Begründens erhält.39 Dem ›Grundton‹, der ›Grundstimmung‹ des Gedichts bzw. seinem ›Nachdruk‹ entspricht die ›Bedeutung‹, zu der das Gedicht durch den Akt der subjektiven Begründung gelangt.40 Die ›Auflösung‹ des ›Widerspruchs‹ von Grundton und Kunstcharakter schließlich verhält sich analog zu dem Akt der ›objektiven Begründung‹ des Gedichts, in der die Stoffart, die der subjektiven Bedeutung und somit der Hauptstimmung des Dichters entspricht (bei einer ›naiven Bedeutung‹ somit die erste, ›Anschauungen‹, ›Wirklichkeiten‹ etc.), in gegensätzlicher Weise aufgefasst wird. In dem Falle, dass die ›Bedeutung‹ ›naiv‹ ist, d. h. die ›Empfindung‹ den ›subjektiven Grund‹ des Gedichts bildet, besteht die zu dem Stoff entgegenge-
38
39 40
Vgl. Michael Konrad: Hölderlins Philosophie im Grundriß. Analytisch-kritischer Kommentar zu Hölderlins Aufsatzfragment »Über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes«. Bonn 1967, S. 217–220. Vgl. »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«, MA, Bd. 2, S. 80–82; FHA, Bd. 14, S. 305–307; StA, Bd. 4,1, S. 244–246. Vgl. »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«, MA, Bd. 2, S. 80; FHA, Bd. 14, S. 305; StA, Bd. 4,1, S. 244.
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setzte Auffassungsweise darin, ihn als »verallgemeinbares«41 zu betrachten. Diese Weise der Auffassung entspricht der zweiten, ›heroischen‹ Stoffart (›Bestrebungen‹, ›Nothwendigkeiten‹ etc.), so dass der erste Stoff in der ›objektiven Begründung‹ des Gedichts aufgefasst wird, als wäre er der dritte. In dieser Weise des Begreifens besteht die ›idealische Behandlung‹, die sich dementsprechend auf verschiedene Weise darstellt,42 und aus der Spannung von naivem Stoff und heroischer Behandlung entsteht der ›idealische Kunstcharakter‹. Tritt dieser nach »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« im ›lyrischen Gedicht‹ in Widerspruch zu der ›naiven Bedeutung‹ und löst er sich im Heroischen auf, so entspricht dieser ›Auflösung‹ die Weise, wie gemäß »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« der ›naive‹ Stoff in der ›objektiven Begründung‹ des Gedichts aufgefasst wird. In »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« wird die Art der Auflösung des Widerspruchs von Grundton und Kunstcharakter auch als ›Haltung‹ bezeichnet, was dann sinnvoll erscheint, wenn man mit einbezieht, dass die ›objektive Begründung‹ die Weise darstellt, in welcher der Stoff aufgefasst wird. In den Erörterungen zu den Verhältnissen der drei Töne wurde deutlich, dass sich zum einen alle möglichen Kombinationen von zwei Tönen zueinander jeweils relativ entgegengesetzt verhalten und dass zum anderen der jeweils dritte Ton die ›Auflösung‹ des ›Widerspruchs‹ bedeutet. Es stellt somit keine Verwerfung zwischen »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« und »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« dar, dass es die ›subjektive Bedeutung‹ ist, die zwischen dem ›Geistigen‹ und dem ›Sinnlichen‹ des Gedichts vermittelt, dass sich der Gegensatz des Stoffs der ›subjektiven Begründung‹ und dessen Auffassung im ›Kunstkarakter‹ manifestiert und sich der Gegensatz von ›Grundton‹ und ›Kunstcharakter‹ in dem jeweils dritten Ton auflöst. Vielmehr impliziert die jeweilige relative Gegensätzlichkeit der drei Töne in »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« eine Gesamtkomposition des poetischen Prozesses sowie des Gedichts in »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« als ein ständiges dynamisches Ineinander wechselnder Gegensätze und ihrer ›Auflösung‹ auf verschiedenen Ebenen und in ständiger Generierung auseinander, so dass das poetische Verfahren wie auch das Gedicht selbst als Prozess einer in ihren Gegensätzen und deren Auflösung dynamisch sich konstituierenden und aus sich selbst heraus generierenden ›Einheit‹ aufgefasst werden müssen. Das Gedicht ist somit nichts anderes als das ›eine‹ dieses Prozesses, der Prozess als solcher.43
41 42 43
»Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«, MA, Bd. 2, S. 83; FHA, Bd. 14, S. 307; StA, Bd. 4,1, S. 247. Vgl. die Fußnote in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«, MA, Bd. 2, S. 80; FHA, Bd. 14, S. 305; StA, Bd. 4,1, S. 244. In letzter Instanz gedacht führt dies wiederum zu der Struktur, die im Kontext von »Wenn
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Stellt der dritte Ton in »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« die ›Auflösung‹ des ›Widerspruchs‹ von Grundton und Kunstcharakter dar, so verhält sich diese – wie erwähnt – analog zu der ›subjektiven Begründung‹ des Gedichts in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«. Denn der ›Grund‹, die ›Bedeutung‹, bildet den »Übergang […] zwischen dem Ausdruk, dem Dargestellten, dem sinnlichen Stoffe, dem eigentlich ausgesprochenen im Gedichte, und zwischen dem Geiste, der idealischen Behandlung«,44 während der Grundton in dem konkreten Gedicht gemäß »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« den »unmittelbarere[n] Ausdruk«45 des ›Grundes‹ und der Kunstcharakter seine mittelbarere Darstellung bildet. Es ist die ›subjektive Begründung‹, die – bezogen auf »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« – die »Hauptstimmung des Dichters beim ganzen Geschäffte«46 und somit die ›geläuterte‹, »höchste[…] reine[…] Form derselben Empfindung«, den »Ton«47 des Gedichts bestimmt. Verhält sich die Auflösung des Widerspruchs von Grundton und Kunstcharakter somit analog zur ›subjektiven Begründung‹ des Gedichts und entsteht aus dieser »durch entgegengesezte Versuche«48 in der zweiten Phase der Ton und aus diesem der Grundton des Gedichts, so muss sich die Auflösung von Grundton und Kunstcharakter nach »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« als neuer Grundton, somit – beim lyrischen Gedicht im Vergleich zum Kunstcharakter – als »unmittelbarere[r] Ausdruk«49 manifestieren. Das jeweilige Gedicht muss somit als fortlaufender Wechsel der drei Grundtöne in ihrem jeweiligen Widerspruch zu einem der drei ›uneigentlichen Töne‹ verstanden werden, wobei der jeweils nachfolgende Grundton die Auflösung des Widerspruchs des vorausgehenden Grundtons mit dem Kunstcharakter darstellt. Das Gedicht besteht gemäß »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« somit in der ›Rotation‹ der drei Töne in ihren verschiedenen Funktionen auf und zwischen den beiden Ebenen des Grundtons und des Kunstcharakters. Realisiert das lyrische Gedicht grundsätzlich die Konstellation von naivem Grundton bzw. Bedeutung und idealischem Kunstcharakter bzw. Schein, so können sich die Verhältnisse aufgrund der relativen Gegensätzlichkeit der drei Töne in der konkreten Ausprägung des lyrischen Gedichts (als dessen ›Stile‹) verschieben. Der naive Grundton kann sich somit entweder »heroischer, gehaltreicher«, »idealischer« oder »am innigsten«50 (d. h. in gesteigerter Weise ›naiv‹)
44 45 46 47 48 49 50
der Dichter einmal des Geistes mächtig …« als die Identität der Identität und der Differenz als die Differenz der Differenz und der Identität erscheint. MA, Bd. 2, S. 80; FHA, Bd. 14, S. 305; StA, Bd. 4,1, S. 244. MA, Bd. 2, S. 103; FHA, Bd. 14, S. 369; StA, Bd. 4,1, S. 266. MA, Bd. 2, S. 83; FHA, Bd. 14, S. 307; StA, Bd. 4,1, S. 247. MA, Bd. 2, S. 98; FHA, Bd. 14, S. 320; StA, Bd. 4,1, S. 263. Ebd. MA, Bd. 2, S. 103; FHA, Bd. 14, S. 369; StA, Bd. 4,1, S. 266. Ebd.
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ausprägen, was seine relative Verschiebung auf der ›Achse‹ der drei harmonisch entgegengesetzten Töne ›naiv – heroisch – idealisch‹ bedeutet und eine entsprechende Verschiebung des Kunstcharakters zur Folge hat. Diese folgt dabei sowohl in der Richtung als auch in dem Maß der Verschiebung des Grundtons, so dass sich das Verhältnis, d. h. der Grad der Spannung von Grundton und Kunstcharakter, in jeder Verschiebung gleich bleibt.51 Konkret bedeutet das, dass ein ›gehaltreicherer‹, ›heroischerer‹ Grundton, der eine relative Verschiebung des Grundtons vom ›Naiven‹ zum ›Heroischen‹ (in der logischen Anordnung der Töne ›naiv – heroisch – idealisch‹) hin ist, die analoge Verschiebung des Kunstcharakters zur Folge hat, sich dieser als ›idealischer‹ somit dem ›naiven‹ annähern wird, so dass das Gedicht mit diesem ›naiven‹ Kunstcharakter anfängt: Ist sein [des lyrischen Gedichts] Grundton jedoch heroischer, gehaltreicher […], so fängt es naiv an, ist er idealischer, dem Kunstkarakter, dem uneigentlichen Tone verwandter […], so fängt es heroisch an, ist er am innigsten [in gesteigertem Maße naiv, M. H.] […], so fängt es idealisch an.52
Bei allen Verschiebungen in den Stilen muss das Spannungsverhältnis von Grundton und Kunstcharakter somit gleich bleiben, die Verschiebungen müssen in Richtung und Maß analog erfolgen. Das gilt entsprechend auch für mögliche – immer relationale – Verschiebungen konkreter Ausprägungen des ›epischen Gedichts‹ gegenüber seiner (transzendental anzusetzenden53) Gattungsbestimmung des ›naiven Scheins‹ und
51
52
53
Denn beruht die Differenz der Gattungen auf dem unterschiedlichen Verhältnis von Grundton und Kunstcharakter hinsichtlich ihres Grades an Vermitteltheit, so bleibt diese gattungsspezifische Ausprägung des Spannungszustandes auch in den verschiedenen Stilen innerhalb der Gattungen erhalten. Denn werden bloß die Reihungen von Grundton und Kunstcharakter in den verschiedenen Stilen betrachtet, so fallen diese jeweils gleich aus. Entscheidend für die Spezifikation der Gattungen ist somit das Verhältnis von Grundton und Kunstcharakter hinsichtlich des Grades der Vermitteltheit, der sich bei allen Stilen einer Gattung gleich bleibt. MA, Bd. 2, S. 103; FHA, Bd. 14, S. 369; StA, Bd. 4,1, S. 266 (»Ist sein Grundton jedoch heroischer, gehaltreicher […], hat er also an Innigkeit weniger zu verlieren, so fängt es naiv an, ist er idealischer, dem Kunstkarakter, dem uneigentlichen Tone verwandter, hat er also an Leben weniger zu verlieren, so fängt es heroisch an […]«, H. v. m.). Die Abweichung der StA gegenüber den anderen Ausgaben in den kursiv markierten Stellen ist eklatant, wobei die Lesart der StA einleuchtender erscheint. Denn beruhen die verschiedenen Stile auf Verschiebungen gegenüber der Grundform, so muss in den Stilen doch der Grad der Entgegensetzung von Grundton und Kunstcharakter gleich bleiben. Auf diesem Hintergrund ist unmittelbar einsichtig, dass ein heroischerer Grundton, der gegenüber dem naiven weniger Einheit aufweist, »an Innigkeit weniger zu verlieren« (StA, Bd. 4,1, S. 266) hat und ein idealischerer Grundton, der gegenüber dem naiven weniger lebendig ist, »an Leben weniger zu verlieren« (ebd.) hat. Zwar kann das Prinzip der gleichbleibenden Spannung auch in den Versionen der MA und der FHA erkannt werden, doch tritt es dort weniger deutlich hervor. Trotz dieser Abweichungen in der Begründung sind die Angaben zu den Anfangstönen in den drei Ausgaben dieselben. Die transzendentale Begründung der Gattungen findet sich in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«. Das stellt auch Peter Reisinger (»Hölderlins poetologische Topologie oder:
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der ›heroischen Bedeutung‹. Die Auflösung des Widerspruchs von Grundton und Kunstcharakter wird somit im idealischen Ton erfolgen.54 Im Kontext des ›epischen Gedichts‹ werden die Bezeichnungen ›Nachdruk‹, ›Haltung‹ und ›Richtung‹, die in Bezug auf das lyrische Gedicht nur in ihrer konkreten Bestimmtheit genannt werden (»In lyrischen Gedichten fällt der Nachdruk auf die unmittelbarere Empfindungssprache, auf das Innigste, das Verweilen, die Haltung auf das Heroische, die Richtung auf das Idealische hin«55), etwas ausführlicher behandelt: Wenn das, was den Grundton, und den Kunstkarakter eines Gedichts vereiniget und vermittelt, der Geist des Gedichts ist, und dieser am meisten gehalten werden muß, und dieser Geist im epischen Gedichte das Idealische ist, so muß das epische Gedicht bei diesem am meisten verweilen, da hingegen auf den Grundton, der hier der energische ist, am meisten Nachdruk, und auf das Naive, als den Kunstkarakter die Richtung fallen, und alles darinn sich koncentriren, und darinn sich auszeichnen und individualisiren muß.56
Geschieht nach »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« in dem ›göttlichen Moment‹ ›transzendentaler Empfindung‹ vermittels der ›schöpferischen Reflexion‹ die konkrete Sprachfindung des Gedichts, indem […] die unendliche Form ein Gebild, den Wechsel des Schwächern und Stärkern, der unendliche Stoff einen Wohlklang, einen Wechsel des Hellen und Leisern annimmt, und sich beede in der Langsamkeit und Schnelligkeit endlich im Stillstande der Bewegung negativ vereinigen, immer durch ihn und die ihm zum Grunde liegende Thätigkeit, die unendliche schöne Reflexion, welche in der durchgängigen Begränzung zugleich durchgängig beziehend und vereinigend ist[,]57
so zeigt sich diese negative Vereinigung von ›Gebild‹ und ›Wohlklang‹, des Wechsels hinsichtlich der ›Form‹ (des Wechsels ›des Schwächern und Stärkern‹) und des Wechsels hinsichtlich des ›Stoffs‹ (des Wechsels ›des Hellen und Leisern‹) ›im Stillstande der Bewegung‹ in dem konkreten Gedicht als »Haltung«.58 Dieser Ausdruck wird am Ende des Entwurfs »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« in dem Zusammenhang der Erklärung des Maßes der Stimmung (Punkt 4) gebraucht, und zwar in dem Kontext der Wiederholung
54 55 56 57 58
Die Bedingungen der Möglichkeit zur ästhetischen Interpretation von Poesie«. In: Helmut Bachmaier, Thomas Horst, Peter Reisinger: Hölderlin. Transzendentale Reflexion der Poesie. Stuttgart 1979, S. 12–82, hier S. 53) heraus. Vgl. MA, Bd. 2, S. 103; FHA, Bd. 14, S. 369; StA, Bd. 4,1, S. 267. Ebd. MA, Bd. 2, S. 104; FHA, Bd. 14, S. 370; StA, ebd. (»[…] den Kunstkarakter, die Richtung […]«). MA, Bd. 2, S. 100; FHA, Bd. 14, S. 322; StA, Bd. 4,1, S. 265. Vgl. die bereits erwähnte Abweichung in StA, die jedoch keine Sinnänderung bedeutet. MA, ebd.; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 264.
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der früheren Schritte in ihrem Zusammenhang sowie in Bezug auf die ›poetische Prosa‹ des ›allbegrenzenden Moments‹. Wiederholen die ersten beiden Punkte (»in der schönen Bestimmtheit und Einheit und Vestigkeit ihrer [der zu erklärenden Stimmung] unendlichen Zusammenstimmung, in ihrer unendlichen Identität und Individualität«59) den Zusammenhang der Schritte eins bis drei (denen die ›Begründung‹ und die ›Tendenz‹ des Gedichts entspricht und aus denen der ›Grundton‹ und ›Kunstkarakter‹ bzw. der ›Nachdruck‹ und die ›Richtung‹ des Gedichts hervorgehen), so stellt der drittgenannte Punkt (»Haltung«60) deren negative Vereinigung dar. Dieser negativen Vereinigung von Grundton und Kunstcharakter in dem konkreten Gedicht entspricht auf der zweiten Ebene des poetischen Prozesses die ›objektive Begründung‹. Diese fasst den der Stimmung eigenen Stoff so auf, als gehörte er der Stoffart an, der weder der ›eigene‹ noch der ›verwandte‹ Stoff angehören. Die ›objektive Begründung‹ des Gedichts ist somit die Weise der geistigen Auffassung des der Stimmung eigenen Stoffs, die weder diesem Stoff selbst (aus dem der Grundton hervorgeht) noch dem verwandten Stoff (aus dem der Kunstcharakter hervorgeht) entspricht. Die Wahl der dritten Stoffart als Weise, wie der eigene Stoff aufgefasst wird, kann aufgrund des Verhältnisses harmonischer Entgegensetzung zwischen den Stoffarten als Vereinigung des eigenen mit dem verwandten Stoff betrachtet werden. In dem Beispiel, dass die erste Stoffart (Anschauungen, Wirklichkeiten etc.) als subjektiver Grund gewählt wird61 und die dritte Stoffart (Phantasien, Möglichkeiten etc.) Tendenz ist,62 entspricht die Weise, wie die der Stimmung (naiv, Empfindung) eigene Stoffart in der objektiven Begründung aufgefasst wird, der zweiten, heroischen Stoffart (Bestrebungen, Notwendigkeiten etc.). Diese zweite Stoffart kann als Vereinigung der ersten und der dritten betrachtet werden. Die logische, von den Bestimmungen der einzelnen Stoffarten her gestützte Anordnung der Stoffarten als Gruppe in der Reihenfolge ›naiv (Stoffart 1) – heroisch (Stoffart 2) – idealisch (Stoffart 3)‹ zeigt dieses Verhältnis formal auf. Diesem Begründungsverhältnis, das sich zu Beginn der Ausführungen zu der zweiten Phase des poetischen Prozesses findet,63 entspricht in dem Aufsatz »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« das lyrische Gedicht in seiner Grundform mit naivem Grundton und idealischem Kunstcharakter. Dem
59 60 61 62
63
Ebd. In FHA findet sich das »in« vor »der schönen Bestimmtheit« nicht, was jedoch keine Sinnänderung nach sich zieht. Ebd. Somit wird ›Empfindung‹ die Bedeutung, aus der sich der Grundton des Gedichts bildet. Die dritte Stoffart geht in der subjektiven Begründung als ›verwandte‹ aus der der Stimmung ›eigenen‹, ersten Stoffart hervor. Aus der ›Tendenz‹, hier der dritten Stoffart, geht der Kunstcharakter des Gedichts hervor. Vgl. MA, Bd. 2, S. 80–83; FHA, Bd. 14, S. 305–308; StA, Bd. 4,1, 243–247.
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in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« zweitgenannten Begründungsverhältnis64 entspricht das tragische, dem dritten das epische Gedicht. Die Übertragungen von Prozessen der zweiten Phase auf das konkrete Gedicht und ihre Engführung sind möglich aufgrund des mimetischen Verhältnisses zwischen den verschiedenen Phasen des poetischen Prozesses, das sich in der transzendentalen Selbstreflexivität des Gedichts manifestiert und zugleich ein genetisches Verhältnis in dem Sinne ist, dass sich beispielsweise der Grundton eines Gedichts tatsächlich aus der in der subjektiven Begründung festgesetzten Stimmung heraus entwickelt. Dasselbe gilt für die ›Darstellung‹ und die ›Tendenz‹, die sich in dem Gedicht als Kunstcharakter und Richtung äußern. Die dritte genetische Entsprechung wurde gerade herausgearbeitet, die zwischen der objektiven Begründung und der Haltung des Gedichts. Auf diesem Hintergrund wird auch deutlich, warum die ›Haltung‹ als der »Geist«65 des Gedichts bezeichnet werden kann, denn die objektive Begründung ist nichts anderes, als die Weise, wie der poetische Geist den der Stimmung eigenen Stoff auffasst. Aus dieser Art der Auffassung ergibt sich die Weise, wie sich die ›geistige Behandlung‹ in dem Gedicht zeigt.66 Die ›Haltung‹, der ›Geist des Gedichts‹ als hervorgehend aus der objektiven Begründung, ist somit die Vereinigung des Kunstcharakters, der ›Richtung‹ des Gedichts (als hervorgehend aus der ›Darstellung‹ bzw. der ›Tendenz‹) und dessen Grundton, auf dem der ›Nachdruck‹ liegt (als hervorgehend aus der Bedeutung, der subjektiven Begründung bzw. der Grundstimmung des Dichters in dem poetischen Prozess). Zudem kann eine Verbindung zwischen der ›Haltung‹ und der ›schöpferischen Reflexion‹ hergestellt werden, die die Stimmung des Dichters mit seiner Welt vergleicht und als ›übereinstimmend erfindet‹.67 Entsprechend geschieht die negative Vereinigung des ›Gebilds‹ (als der Wechsel, der sich aus der unendlichen Form ergibt) und des ›Wohlklangs‹ (als der Wechsel, der sich aus dem unendlichen Stoff bildet) ebenfalls durch den ›göttlichen Moment‹ sowie »die ihm zum Grunde liegende Thätigkeit, die unendliche schöne Reflexion, welche in der durchgängigen Begränzung zugleich durchgängig beziehend und vereinigend ist«.68 Vergleicht die ›schöpferische Reflexion‹ die Stimmung bzw. den Ton des Dichters mit seiner Welt und erfindet sie die beiden als übereinstimmend, so entspricht dies der Weise der Vereinigung von Grundton bzw. ›Wohlklang‹ 64
65 66 67 68
Das bedeutet, dass die ›intellektuale Anschauung‹ entsprechend der dritten Stoffart die Bedeutung bildet, die zweite als ›verwandte‹ aus dieser hervorgeht und eine heroische ›Tendenz‹ besteht. Die ›objektive Begründung‹ entspricht dann der ersten Stoffart. »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …«, MA, Bd. 2, S. 104; FHA, Bd. 14, S. 370; StA, Bd. 4,1, S. 267. Vgl. die Fußnote in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«, MA, Bd. 2, S. 80, FHA, Bd. 14, S. 305; StA, Bd. 4,1, S. 244. Vgl. MA, Bd. 2, S. 98f.; FHA, Bd. 14, S. 321; StA, Bd. 4,1, S. 263. MA, Bd. 2, S. 100; FHA, Bd. 14, S. 322; StA, Bd. 4,1, S. 265.
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und Kunstcharakter bzw. ›Gebild‹. Denn vereinigen sich der ›Wohlklang‹ als der »Wechsel des Hellen und Leisern« und das ›Gebild‹ als der »Wechsel des Schwächern und Stärkern« »in der Langsamkeit und Schnelligkeit endlich im Stillstande der Bewegung negativ«,69 so entspricht dieser ›Langsamkeit und Schnelligkeit‹ die Wechselbewegung, die das Vergleichen selbst ist. Vereinigen sich die Wechsel endlich im ›Stillstande der Bewegung negativ‹, so entspricht dem das Ende der Vergleichsbewegung, in dem der Ton und die Welt des Dichters als übereinstimmend erfunden werden und die Sprache des Gedichts als negative Einheit, d. h. als Einheit in dem Gegensatz von Grundton und Kunstcharakter allererst entsteht. Löst sich dieser Widerspruch von Grundton und Kunstcharakter in der Haltung auf, die gerade die in sich gegenstrebige Einheit von Grundton und Kunstcharakter ist, so kann deutlich werden, dass das Vermögen, worin sich die ›schöpferische Reflexion‹ vollzieht, dasjenige sein muss, das sich in dem konkreten Gedicht als ›Haltung‹, als dessen ›Geist‹ und als dasjenige Vermögen manifestiert, vermittels dessen das Gedicht überhaupt geworden ist, aus dem die Sprache des Gedichts hervorgeht, d. h. vermittels dessen das Gedicht sowohl in seinem Grundton als auch in seinem Kunstcharakter ›ist‹.70
4.
»Die Empfindung spricht …«
Diese Verhältnisse finden sich in »Die Empfindung spricht …« wieder. In diesen Ausführungen werden zunächst die verschiedenen Bedeutungen bzw. Stimmungen, die den Grundtönen entsprechen, mit einer jeweiligen Darstellungsweise, einem Kunstcharakter, in Verbindung gebracht: »Die Empfindung spricht im Gedichte idealisch – die Leidenschaft naiv – die Phantasie energisch«.71 Dem entsprechen sowohl die Zuordnungen, die im Kontext der subjektiven Begründung des Gedichts in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« vorgenommen werden als auch diejenigen, die sich in »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« finden. Bei der letzteren Verbindung ist jedoch zu beachten, dass sich die Konstellationen, die in »Die Empfindung spricht …« aufgeführt werden, auf Stile beziehen, die sich in allen Gattungen finden können. Die Untergliederung in »Die Empfindung spricht …« in ›naives‹, ›energisches‹ und ›idealisches Gedicht‹ ist somit als Stil-Differenzierung innerhalb der drei Gattungen aufzufassen. Darauf verweist auch das Ende von »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …«: »In jeder Dichtart, der epischen, tragi-
69 70 71
Ebd. Lawrence Ryan führt diese wichtigen Zusammenhänge nicht eigens aus (vgl. Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne. Stuttgart 1960, S. 54f.). MA, Bd. 2, S. 101; FHA, Bd. 14, S. 325; StA, Bd. 4,1, S. 270.
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schen und lyrischen, wird ein stoffreicherer Grundton im naiven, ein intensiverer empfindungsvollerer im idealischen, ein geistreicherer im energischen Style sich äußern«.72 Diese ›Verschiebungen‹ innerhalb der Grundtöne finden sich auch in den vorangegangenen Differenzierungen zu den einzelnen Gattungen.73 Die ›Grundform‹ einer Gattung ist jeweils diejenige, in der der Grundton in der konkreten Erscheinung des Gedichts gesteigert ist, somit nicht von der transzendentalen Zuordnung abweicht. Kann beispielsweise das ›naive Gedicht‹ in dem Entwurf »Die Empfindung spricht …« in jeder der drei Gattungen – mit spezifischen Abweichungen, vgl. die Anmerkungen oben – vorkommen, so entspricht es doch der Grundform des epischen Gedichts, das im Kontext der Verschiebungen des Grundtons in »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« als dritter Fall behandelt wird: »hat der Grundton seinen eigentlichen Karakter so sehr, daß er darüber an Anlage zum Idealen, noch mehr aber zur Naivität verlieren muß, so fängt es naiv an«.74 Diese Anfangskonstellation von heroischem Grundton und naivem Kunstcharakter findet sich in dem ›naiven Gedicht‹. Analog entspricht das ›energische Gedicht‹ in »Die Empfindung spricht …« – mit den oben angemerkten Einschränkungen – dem Grundtypus des tragischen, das ›idealische Gedicht‹ dem des lyrischen Gedichts. In »Die Empfindung spricht …« wird nun zusätzlich zu dem Verhältnis von Grundton und Kunstcharakter auch die Wirkung berücksichtigt, die – ableitbar daraus, dass der Grundton in »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« als ›Grundstimmung‹ und ›unmittelbarerer Ausdruck‹ bezeichnet wird – dem Grundton entspricht. ›Spricht‹ der Grundton der Empfindung somit im Gedicht idealisch, ist die Phantasie Kunstcharakter, so »wirkt auch wieder das Idealische [als Kunstcharakter, M. H.] im Gedichte auf die Empfindung«.75 ›Spricht‹ die Leidenschaft naiv, so wirkt »das naive auf die Leidenschaft«, ›spricht‹ die Phantasie energisch, so wirkt »das energische auf die Phantasie«.76 Das Vermögen, vermittels dessen diese Wirkung erzielt wird, entspricht der ›Haltung‹, in der der Widerspruch von Grundton und Kunstcharakter seine Auflösung findet. Dieses Vermögen ist es auch – wie oben bereits herausgestellt –, durch das sowohl der Grundton als auch der Kunstcharakter des Gedichts hervorgebracht wird. So wird in der Auflistung der verschiedenen Gedichtarten bei der Folge der Grundtöne und Kunstcharaktere jeweils das Vermögen genannt, »vermittelst«77 dessen das Gedicht hervorgebracht wird. Diesem Vermögen entspricht die ›schöpferische Reflexion‹, die die Sprache des 72 73 74 75 76 77
MA, Bd. 2, S. 107; FHA, Bd. 14, S. 372; StA, Bd. 4,1, S. 272. Vgl. MA, Bd. 2, S. 103f.; FHA, Bd. 14, S. 369f.; StA, Bd. 4,1, S. 266f. MA, Bd. 2, S. 104; FHA, Bd. 14, S. 370; StA, Bd. 4,1, S. 267. MA, Bd. 2, S. 101; FHA, Bd. 14, S. 325; StA, Bd. 4,1, S. 270. Ebd. Ebd.
191
Gedichts in der negativen Einheit von Grundton und Kunstcharakter hervorbringt. Vermittels dieses Vermögens wirkt das Gedicht in seinem Kunstcharakter wiederum auf ein anderes, dem Grundton entsprechendes Vermögen. Ist das naive Gedicht in seinem Anfang von dem Gegensatz von heroischem Grundton (»Leidenschaft«) und naivem Kunstcharakter (»Sprache. Empfindung«) geprägt, so sind beide hervorgebracht »vermittelst« des dritten Vermögens, »der Phantasie«,78 die in der ›schöpferischen Reflexion‹ Stimmung und Welt des Dichters vergleicht und ›als übereinstimmend erfindet‹. Als Vereinigung von Ton und Welt bringt sie die konkrete Sprache des Gedichts hervor, die somit die negative, in sich widerstrebige Einheit von Grundton und Kunstcharakter ist. Beide werden vermittels dieses dritten Vermögens als harmonisch in einer Einheit Entgegengesetzte hervorgebracht. Dieses Vermögen ist es auch, das den Widerspruch von Grundton und Kunstcharakter auflöst, indem es beide in sich als Widerstrebige vereint und hervorbringt. Es ist die ›Haltung‹, der ›Geist‹ des Gedichts, vermittels derer es in seiner konkreten Erscheinung hervorgebracht wird und die zugleich die erste Ausprägung des Widerspruchs von Grundton und Kunstcharakter auflösen und somit den darauffolgenden Grundton bilden. Auf diesem Hintergrund lassen sich die Auflistungen zum naiven, energischen und idealischen Gedicht erklären. Entsprechend »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« wird in jeder der drei Gattungen »ein stoffreicherer [d. i. heroischerer, M. H.] Grundton im naiven, ein intensiverer empfindungsvollerer [d. i. naiverer, M. H.] im idealischen, ein geistreicherer [d. i. idealischerer, M. H.] im energischen Style sich äußern«.79 Folglich fängt das ›naive Gedicht‹ in »Die Empfindung spricht …« mit dem Gegensatz von heroischem Grundton (»Grundton. Leidenschaft«80) und naivem Kunstcharakter (»Sprache. Empfindung«81) an, der Gegensatz löst sich in dem darauffolgenden idealischen Grundton auf, und dieser entspricht der Haltung des Gedichts (»vermittelst der Phantasie«82 sowohl in Bezug auf den Grundton als auch den Kunstcharakter). Die Auflösung in der ›Phantasie‹ als zweitem Grundton ist zwar in dem Entwurf nicht explizit angegeben, sondern lediglich mit »pp.«83 versehen, jedoch muss die Folge der Grundtöne jener der ›Wirkung‹ entsprechen. Dieser zweite, idealische Grundton, der den Gegensatz von Leidenschaft und Empfindung in sich auflöst, findet seinen eigenen Gegensatz in dem Kunstcharakter der »Leidenschaft«,84 was zur Auflösung in dem dritten Grundton der ›Empfin-
78 79 80 81 82 83 84
Ebd. MA, Bd. 2, S. 107; FHA, Bd. 14, S. 372; StA, Bd. 4,1, S. 272. MA, Bd. 2, S. 101; FHA, Bd. 14, S. 325; StA, Bd. 4,1, S. 271. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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dung‹ führt. Dieser wiederum ist dem idealischen Kunstcharakter entgegengesetzt und findet seine Auflösung in dem heroischen Grundton, von dem aus sich die Konstellation wiederholt. ›Auflösung‹ ist hier nicht als Aufhebung der Gegensätze zu verstehen, sondern vielmehr als ›Dissonanz‹.85 Das ›energische Gedicht‹ geht in allen seinen Elementen, dem Grundton (Nachdruck), dem Kunstcharakter (Richtung), dem vermittelnden Vermögen (Haltung) sowie der Wirkung, in der Reihe der Töne ›Empfindung – Leidenschaft – Phantasie‹ um einen Ton, das ›idealische Gedicht‹ um zwei Töne weiter. Was sich jedoch nicht in das Schema fügt, sind die Auflistungen, die sich auf den »Styl des Lieds Diotima«86 beziehen. Scheinen die drei Arten ›naives‹, ›energisches‹ und ›idealisches Gedicht‹ die möglichen Grundtypen innerhalb jeder Gattung auszumachen, so geht die Formalisierung zu dem Lied über diese hinaus und bleibt in sich Fragment. Hinsichtlich der Datierung dürfte jede der überlieferten Fassungen des Lieds vor dem Entwurf »Die Empfindung spricht …« entstanden sein. Es liegt somit nahe, die Notizen zu dem Lied ›Diotima‹ als Versuch zu werten, die entwickelte Theorie auf ein bereits vorliegendes Gedicht zu beziehen. Dabei entsprechen die Auflistungen in mehrfacher Hinsicht nicht der Systematik, wofür das Fragezeichen, das das Schema einleitet, nur ein erstes äußerliches Anzeichen sein könnte. Am gravierendsten erscheint die Abweichung in Bezug auf die innere Reihung der Töne. Halten sich alle bereits behandelten Entwürfe an die logische Folge ›naiv – heroisch – idealisch‹ und wird diese auch inhaltlich begründet (vgl. beispielsweise die Ausführungen zu den ›Verschiebungen‹ der Grundtöne in »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …«), so folgen die Reihen nun dem Schema ›naiv – idealisch – heroisch‹. Um jedoch wenigstens die einleitenden Grundsätze zu den verschiedenen Sprechweisen der Töne beizubehalten (»Die Empfindung spricht im Gedichte idealisch […]«87), müsste die erste, nicht eigens klassifizierte Reihung »Phantasie […]«88 den Kunstcharakter und somit die zweite (»Empfindung […]«89) den Grundton bezeichnen, was jedoch bedeuten würde, dass die bei den Gedichttypen durchgehaltene Reihenfolge von Grundton als erste und Sprache als zweite Rubrik verändert würde. Auch würde bei dieser Zuordnung die ›Haltung‹, die die Spannung von Grundton und Kunstcharakter auflöst, nicht den neuen Grundton, sondern den nächsten Kunstcharakter ergeben. Das vermittelnde Vermögen, das bei den drei Gedichttypen der Haltung entspricht, fügt sich
85 86 87 88 89
Vgl. »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …«, MA, Bd. 2, S. 103; FHA, Bd. 14, S. 369; StA, Bd. 4,1, S. 266. »Die Empfindung spricht …«, MA, Bd. 2, S. 102; FHA, Bd. 14, S. 326; StA, Bd. 4,1, S. 272. MA, Bd. 2, S. 101; FHA, Bd. 14, S. 325; StA, Bd. 4,1, S. 270 ([…] spricht […]). MA, Bd. 2, S. 102; FHA, Bd. 14, S. 326; StA, Bd. 4,1, S. 272. Ebd.
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insofern nicht in das Schema, als es als »Empfindung«90 nicht die Auflösung des ersten Gegensatzes zwischen Grundton und Kunstcharakter darstellt. Ordnet man jedoch die erste Reihe dem Grundton und die zweite dem Kunstcharakter zu, so widersprächen die Zuordnungen den einleitenden Grundsätzen zu den ›Sprechweisen‹ der Töne. Sämtliche Möglichkeiten, das Schema zum ›Lied Diotima‹ mit den theoretischen Festlegungen in Übereinstimmung zu bringen, scheitern. Auch die Erörterungen in »Löst sich nicht …« fügen sich nicht unmittelbar mit »Die Empfindung spricht …« zu einer Einheit. Das mag einerseits nicht verwundern, da sich diese Ausführungen als einzige nicht in dem Handschriftenkonvolut des ›Stuttgarter Foliobuchs‹ finden. Andererseits zeigt es aber gerade in der zunächst scheinbaren Systematik einer ›Lehre vom Wechsel der Töne‹91 das heterogene Moment an, das sich in den im Folgenden dargestellten Versuchen, die Ansätze zu einer Einheit zu bringen, als unaufhebbar erweist. Um der Bedeutung der »Katastrophe«92 näherzukommen, die in verschiedenen Ausprägungen in »Löst sich nicht …« zwar genannt, jedoch nicht erläutert wird und wörtlich entweder die ›Nach-Strophe‹ oder aber die ›Umwendung‹ bzw. ›Umkehrung‹ bedeuten kann, werden im Folgenden zunächst die bisher ausgelassenen Passagen zum ›tragischen Gedicht‹ in »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« behandelt. Das Phänomen des ›Umschlags‹ und der ›Vertauschung‹ durch zu große Innigkeit zweier Entgegengesetzter ist vor allem aus den theoretischen Versuchen zum ›Empedokles‹-Drama bekannt. Die Ausführungen zum ›tragischen Gedicht‹ in »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« schließen sachlich an diese an und können unter Umständen eine Annäherung an »Löst sich nicht …« ermöglichen.93
5.
Das ›tragische Gedicht‹ in »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …«
Die Ausführungen zum ›tragischen Gedicht‹ in »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« stellen dessen theoretische Voraussetzungen in den Vordergrund. Ist das tragische Gedicht »die Metapher einer intellectuel-
90 91 92 93
MA, ebd.; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 271. Vgl. Lawrence Ryan: Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne. Stuttgart 1960. MA, Bd. 2, S. 108; FHA, Bd. 14, S. 340; StA, Bd. 4,1, S. 238. Trotz einiger Übereinstimmungen scheint es zu kurz zu greifen, die ›Katastrophe‹ als »Moment des höchsten Streites« mit der »Vertauschung von Grundton und Kunstcharakter von der dritten zur vierten Stufe des Tonschemas, bei dem die Grundtöne, die sonst in harmonischem Verhältnis stehen, geradentgegengesetzt sind«, zu identifizieren (Stefan Metzger: Die Konjektur des Organismus. Wahrscheinlichkeitsdenken und Performanz im späten 18. Jahrhundert. München 2002, S. 394).
194
len Anschauung«,94 liegt somit »allen Werken dieser Art […] Eine intellectuale Anschauung zum Grunde«,95 so muss sich dieser Grund – wie bei allen ›Gedichtarten‹, Gattungen – in dem Gedicht selbst darstellen (vgl. auch den Abschnitt ›Allgemeiner Grund‹ im Kontext des ›Empedokles‹-Dramas96). Dies ist in dem Falle des tragischen Gedichts, dessen Grund somit die höchste Innigkeit ist, nur in dem Entgegengesetzten, in Trennungen, möglich, so dass sich die Einigkeit der intellectualen Anschauung in dem tragischen Gedicht lediglich mittelbar, vermittels ihres harmonisch Entgegengesetzten darstellt.97 Die Spannung von Grundton und Kunstcharakter prägt sich in dem tragischen Gedicht am stärksten aus. In »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« wird die ›Innigkeit‹, die der intellectualen Anschauung eigen ist, genauer ausgeführt, und zwar nicht nur in Bezug auf ihre Darstellung und Darstellbarkeit (vgl. den ›Allgemeinen Grund‹ zum ›Empedokles‹-Drama98), sondern in Bezug auf ihre notwendige innere Verfasstheit als diese Innigkeit selbst. Die ›intellectuale Anschauung‹ erscheint hier nämlich nicht mehr bloß als durch ihr harmonisch Entgegengesetztes, die Trennung, darstellbar, sondern sie umfasst aufgrund dessen, dass sie höchste Einheit ist, konstitutiv ihre eigene Trennung in sich.99 94 95 96 97 98 99
MA, Bd. 2, S. 102; FHA, Bd. 14, S. 369; StA, Bd. 4,1, S. 266. MA, Bd. 2, S. 104; FHA, Bd. 14, S. 370; StA, Bd. 4,1, S. 267. MA, Bd. 1, S. 866ff.; FHA, Bd. 13, S. 868f.; StA, Bd. 4,1, S. 150f. Vgl. ebd. Ebd. Die Einheit der ›intellektualen Anschauung‹ ist somit – auch in den einzelnen Bestimmungen, die in »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« gegeben werden – gerade als höchste Einheit keine »absolute Einigkeit«, wie Lawrence Ryan sie deutet (Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne. Stuttgart 1960, S. 23), wobei an dieser Stelle zugleich nicht deutlich wird, ob Ryan die ›intellektuale Anschauung‹ selbst oder das in ihr ›Erkannte‹ (vgl. S. 23) als die absolute Einheit auffasst (ähnliche Bestimmungen der ›intellektualen Anschauung‹ bzw. der ›ursprünglichen Einheit‹ finden sich auch auf S. 24 und 27). Hölderlins Denken ist gerade in diesem Punkt nicht als »typisch idealistisch«, als »in der Philosophie des deutschen Idealismus« (S. 127) verwurzelt zu begreifen. Soll »die Trennung […] als Funktion des Absoluten« (S. 24) erfolgen, so wäre das nichts anderes als sie in Fichte’scher Manier, als analog zur Tathandlung des absoluten Ichs aufzufassen. Von diesem Verhältnis von Einheit und Differenz setzt sich Hölderlin in seinen späteren Schriften jedoch durchgängig ab. Behält Ryan die Auslegung der ›intellektualen Anschauung‹ – nun gefasst als das ›Erfassen‹ der »absolute[n] Einigkeit« (S. 24) – bei, so stimmt auch die gleich im Anschluss gegebene, angemessenere Deutung, mit dem hier ausgearbeiteten Verständnis nicht überein (vgl. »die so [in der intellektuellen Anschauung, M. H.] ergriffene Simultaneität von Einigkeit [des ursprünglichen Ganzen], Trennung [des Ganzen in die Teile] und neuer Einigkeit [des fühlbaren Ganzen] kann sich im realen Leben nur als zeitlicher Prozeß entfalten«, S. 24). Auch geht die angemessenere Rede davon, dass »das Paradox des geteilten Ganzen in das ursprüngliche Ganze selbst zurückverlegt« (S. 24) wird, mit der absoluten Einheit nicht zusammen. Kurz darauf wird ›das ursprüngliche Ganze‹ »bei aller idealen Differenzierbarkeit« als ›real indifferent‹ betrachtet (vgl. S. 25). Angemessener, aber einerseits mit den vorigen Ausführungen nicht zusammenstimmend und andererseits das ›ursprüngliche Ganze‹ wiederum unangemessen auffassend: »das Ganze kann nicht im Zustand der (realen) Indifferenz bleiben, weil das ›lebendigere‹, ja das ›ganzere‹ Ganze erst aus dem Werden der Teile entsteht« (S. 25). Diese ›Verlagerung‹ des Paradoxon in ›das ursprüng-
195
Denn kann nach »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« die »Eine intellectuale Anschauung«, die den tragischen Gedichten jeweils »zum Grund liegen« muss, »keine andere seyn […], als jene Einigkeit mit allem, was lebt«100 – und damit kann keine absolute Einheit gemeint sein –, so lässt sich diese höchste Einheit nur dadurch realisieren, dass »alles allem begegene«,101 d. h. die Einheit sich auflöst und auf neue und andere Weise wieder zusammensetzt. Bliebe die Einheit bewegungslos in sich bestehen, könnte sie deshalb nicht die ausgeprägteste Einheit sein, weil die Beziehungen unter den Teilen beschränktere wären. Um sich somit als höchste Einheit zu realisieren, ist ihre Auflösung als Einheit notwendig.102 Dieser Gedanke der ›Potenzierung‹ der Einheit durch ihre Auflösung und Neuentstehung wurde bereits in dem früheren Kapitel zu »Die tragische Ode …« ausgeführt. An diesem Gedankengang wird nochmals deutlich, dass die höchste Einheit, um die es hier geht, keine absolute sein kann, sondern eine Einheit, die ihre eigene Auflösung als Konstitutivum ihrer selbst nicht nur der Möglichkeit nach, sondern wirklich umfasst und somit als Einheit der Einheit und der unaufhebbaren Differenz zu denken ist. Diese Einheit in der Differenz, wie sie in der ›intellectualen Anschauung‹ statthat, muss von dem Zustand in dem ›göttlichen Moment‹ ›transzendentaler Empfindung‹ unterschieden wer-
100 101 102
liche Ganze‹ wird an späterer Stelle dahingehend ausgedeutet, »daß die wirkliche Trennung eine ideale Trennbarkeit voraussetzt« (S. 39). Eine zunächst angemessene Konzeption vertritt Stefan Büttner (»Natur – Ein Grundwort Hölderlins«. In: Friedrich Hölderlin. Neue Wege der Forschung. Hrsg. v. Thomas Roberg. Darmstadt 2003, S. 227–252) in Bezug auf die Naturkonzeption, nimmt dem Verhältnis jedoch die Spitze, wenn er den ›göttlichen Moment‹ im Sinne einer umfassenden Einheit beschreibt (vgl. v. a. S. 243, aber auch S. 247). Uwe Beyer (Mythologie und Vernunft. Vier philosophische Studien zu Friedrich Hölderlin. Tübingen 1993) sieht das ›ursprünglich einige‹ in »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« im Gegensatz zur Konzeption in 具Seyn, Urtheil, Modalität典 nun als transzendental Zeitliches (vgl. S. 34). Xavier Tilliette (»Hölderlin und die intellektuale Anschauung«. In: Philosophie und Poesie. Otto Pöggeler zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Annemarie Gethmann-Siefert. Stuttgart-Bad Cannstatt. Bd. 1 1988, S. 215–234) stellt ebenfalls heraus, »daß die Aufwertung der intellektuellen Anschauung ein früheres Stadium markiert, also die [sic! der, M. H.] Darstellung des Unterschieds der Dichtarten [d. i. »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …«, M. H.] vorangeht, während die Begegnung mit Schelling und die längere Zusammenarbeit mit Hegel Spuren in der Bestimmung der Anschauung hinterlassen haben, d. h. die Anschauung wurde depotenziert« (S. 231). Hölderlin gebe dann »einer ›schönen, heiligen, göttlichen Empfindung‹, die dazu transzendental ist, den Vorzug« (S. 233), so dass »die intellektuale Anschauung schließlich suspendiert« (ebd.) wird. MA, Bd. 2, S. 104; FHA, Bd. 14, S. 370; StA, Bd. 4,1, S. 267, H. v. m. MA, Bd. 2, S. 105; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 268. Die höchste Einheit umfasst somit die Differenz und den dynamischen Wechsel konstitutiv in sich. Rainer Nägele (»Ancient Sports and Modern Transports. Hölderlin’s Tragic Bodies«. In: The solid letter. Readings of Friedrich Hölderlin. Ed. by Aris Fioretos. Stanford/California 1999, S. 247–267) hat somit zu Recht Zweifel »about the clear distribution of the difference between pure an impure« (S. 265).
196
den, denn sie erscheint hier lediglich als ein – wenn auch herausgehobenes, da extremes – Vermögen von dreien, die das Gedicht begründen können. Zwar besteht ein konstitutiver Zusammenhang dieser jeweiligen Vermögen mit der Realisation des ›göttlichen Moments‹ ›transzendentaler Empfindung‹,103 doch ist dieser Moment nicht mit einem der drei möglichen Grundtöne zu identifizieren. Die entgegengesetzte Perspektive auf diese Struktur, die sie selbst ermöglicht, geht von der ›wirklichen Trennung‹104 und – als Konterpart zu der Unmöglichkeit der absoluten Einheit – zugleich von der »Unmöglichkeit einer absoluten Trennung und Vereinzelung«105 aus, woraus sich allererst die Möglichkeit einer ›intellectualen Anschauung‹ als »Einigkeit mit allem, was lebt«106 ergibt. Kann die Trennung (wie übrigens auch die Einheit) als wirkliche nicht absolut sein, so erscheint aus dieser Perspektive alle reale Trennung »und mit ihr alles wirklich Materielle Vergängliche, so auch die Verbindung und mit ihr alles wirklich Geistige Bleibende, das Objective, als solches, so auch das subjective als solches« als »ein Zustand des ursprünglich einigen«.107 Die Notwendigkeit der Trennung dieser ursprünglichen Einheit liegt in dem Argument, das oben dargestellt wurde und das noch weiter differenziert wird in die »Art der Vereinigung«, die »nicht immer dieselbe bleiben dürfe« sowie in die »Materie«, nach der […] die Theile des Einigen nicht immer in derselben näheren und entfernteren Beziehung bleiben dürfen, damit alles allem begegene, und jeden ihr ganzes Recht ihr ganzes Maas von Leben werde, und jeder Theil im Fortgang dem Ganzen gleich an Vollständigkeit sei […].108
Die Wechselwirkungen der Teile und des Ganzen, die in der Auflösung der Einheit stattfinden, führen zu einem gegenseitigen Austausch der Bestimmungen der Teile und des Ganzen, ohne dass dadurch jedoch ihre Differenz verkleinert würde. Zeichnet sich das Ganze gegenüber den Teilen zunächst durch seine »Vollständigkeit«109 aus, so ist sie es, die die Teile durch die Wechselwirkung gewinnen, wie es andersherum die größere »Bestimmtheit«110 der Teile ist, die dem Ganzen durch die Wechselwirkung zukommt. Ausgeführt bedeutet dieser ›Austausch‹ eine Zunahme der »Innigkeit« und »Lebhaftigkeit«111 in den Teilen sowie einen Zuwachs an »Inhalt« und »Leben«112 seitens des Ganzen. Die Teile
103 104 105 106 107 108 109 110 111 112
Vgl. die Ausführungen oben. Vgl. MA, Bd. 2, S. 104; FHA, Bd. 14, S. 370; StA, Bd. 4,1, S. 268. Ebd. MA, ebd.; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 267. MA, ebd.; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 268. MA, Bd. 2, S. 104f.; FHA, ebd.; StA, ebd. (»[…] ihr ganzes Recht, ihr ganzes […]«). MA, Bd. 2, S. 105; FHA, ebd.; StA, ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
197
»erfüllen« sich »im Fortgang« stärker,113 während sich das Ganze ›mehr fühlt‹.114 Diese Wechselwirkung beruht auf einem »ewige[n] Gesetz«,115 das durch den gegenseitigen Austausch zugleich relativiert wird – auch hier ein widerstrebiges Verhältnis –, nämlich dem Umstand, »daß das gehaltreiche Ganze, in seiner Einigkeit nicht mit der Bestimmtheit und Lebhaftigkeit sich fühlt, nicht in dieser sinnlichen Einheit, in welcher seine Theile, die auch ein Ganzes, nur leichter verbunden sind, sich fühlen«.116 ›Nähert sich‹ das Ganze somit seinen Teilen an, indem es dadurch an Bestimmtheit gewinnt, dass die Trennung in ihm fortschreitet und ›fühlt‹ es sich somit als Ganzes verstärkt, so handelt es sich darin zugleich um ein proportionales und ein widerstrebiges Verhältnis. Denn zum einen nimmt die Fühlbarkeit des Ganzen als solches in demselben Maß wie die Trennung zu, die sich in ihm vollzieht, zum anderen bedeutet die Fühlbarkeit des Ganzen jedoch zugleich einen Zuwachs an Ganzheit, denn höchste Einheit kann nur eine solche sein, die sich selbst in größtmöglichem Maße – im zweifachen Sinn des Wortes – realisiert. Die höchste Ausprägung von etwas kann nur dasjenige sein, was sich als es selbst eingeholt, dargestellt, realisiert hat. Die Zunahme der Fühlbarkeit des Ganzen bedeutet somit einen qualitativen Zuwachs an Ganzheit. Die Fühlbarkeit einer Einheit ist reflexionstheoretisch jedoch nur vermittels ihres relativen Gegenteils, der Trennung, zu erreichen. Dieses Verhältnis gestaltet sich somit in mehreren Hinsichten in sich widerstrebig. Zum einen bildet die relative Auflösung der Ganzheit die Voraussetzung für deren Fühl- bzw. Erkennbarkeit, zum anderen nimmt diese Fühlbarkeit, und das heißt aber auch die Einheit der Ganzheit selbst, proportional zu deren Auflösung zu. Dieses in sich widerstrebige Verhältnis von Auflösung und Steigerung der Einheit in einem wirkt jedoch nur bis zu dem bestimmten Punkt, an dem die beteiligten Pole, Ganzheit und Individualität, in das jeweils andere umschlagen. Die Zunahme der Fühlbarkeit der Ganzheit und somit der Ganzheit selbst durch deren Auflösung kann zunächst nur bis zu dem Punkt stattfinden, an dem die Einheit in aller Trennung noch erkennbar ist. Schreitet die Auflösung weiter voran, so verliert sich der Zusammenhang zugunsten der Teile, die Ganzheit schlägt in Trennung um, so dass die bloßen Teile hervortreten, die nun jedoch nicht mehr als Teile eines Ganzen erscheinen, sondern als Ganze selbst. In der Überschreitung des Maßes schlagen Verbindung und Trennung, Ganzheit und Individualität in das jeweils andere um: […] so daß man sagen kann, wenn die Lebhaftigkeit, Bestimmtheit, Einheit der Theile wo sich ihre Ganzheit fühlt, die Grenze für diese übersteige, und zum Leiden,
113 114 115 116
Ebd. Vgl. ebd. Ebd. MA, ebd.; FHA, Bd. 14, S. 370f.; StA, ebd. (»[…] Ganze in seiner Einigkeit […]«).
198
und möglichst absoluter Entschiedenheit und Vereinzelung werde, dann fühle das Ganze in diesen Theilen sich erst so lebhaft und bestimmt, wie jene sich in einem ruhigern aber auch bewegten Zustande, in ihrer beschränkteren Ganzheit fühlen, (wie z. B. die lyrische (individuellere) Stimmung ist […]) […].117
Damit ist jedoch die Widerstrebigkeit des Verhältnisses keineswegs aufgehoben, vielmehr setzt es sich unter veränderten Rollen, aber immer noch unter Steigerung beider Beteiligten fort. Denn der Umschlag beruht nicht allein auf der Zunahme der Trennung in dem ursprünglichen Ganzen, denn – widerstrebig ineins damit – hat die lebendige Einheit in den Teilen zugenommen, so dass diese nun selbst Ganzheiten bilden dadurch, dass sie – wie oben ausgeführt – in der Wechselwirkung an Vollständigkeit, Innigkeit und Lebhaftigkeit gewonnen haben. An die Stelle eines Ganzen treten nun zahlreiche ›Ganzheiten‹, in deren äußersten Trennung sich jedoch die ›Ganzheit‹ gegenüber der ursprünglichen in gesteigertem Maße ›fühlt‹. Wurde vor dem Umschlag die Trennung von den in der Ganzheit enthaltenen Teilen konstituiert und bildete die Ganzheit das die Trennungen umfassende, jedoch nicht aufhebende ›eine‹, so verkehren sich die Bestimmungen in dem Umschlag, indem sich die Einheit und Ganzheit nun in den einzelnen Teilen realisiert und deren Zusammenhang, der vorher die ›Ganzheit‹ und ›Einheit‹ war, nun die höchste Trennung ist. Doch genau in dieser Steigerung von Trennung und Vereinigung über den Umschlagspunkt hinaus liegt das Erreichen der höchsten Einheit und Ganzheit. Denn gerade die höchste Trennung, in der sich die einzelnen Ganzheiten befinden, ermöglicht die Teile als Ganzheiten und in diesen fühlt sich eine höhere Ganzheit in der äußersten Differenz dieser Ganzheiten. Das Verhältnis der Widerstrebigkeit bleibt somit über den Umschlagspunkt hinweg erhalten, auch wenn sich die Beteiligten ›vertauschen‹, und nur in der Steigerung der Widerstrebigkeit, der Spannung von Einheit und Differenz, nur in der und als die höchste Differenz ist die höchste Einheit zu erreichen.118 Der Vergleich des nun erreichten Zustandes mit der ›lyrischen Stimmung‹, wie sie sich in dem obigen Zitat findet, zeigt ein weiteres Mal, inwiefern die Differenzierungen zwischen den Gattungen und den Stilen auf relativen Entgegensetzungen beruhen und ineinander übergehen. Auf den Klammerexkurs119 zur Verfasstheit der Verhältnisse in der lyrischen Stimmung folgen erneute und differenziertere Ausführungen zur Prozessualität der ›intellectualen Anschauung‹ 117 118
119
MA, ebd.; FHA, Bd. 14, S. 371; StA, ebd. Auch diese Erscheinung des Verhältnisses von Einheit und Differenz verweist auf die Verfasstheit eines ›Absoluten‹ (das nicht mehr eigentlich ›absolut‹ genannt werden kann) bzw. eines ›Zugrundeliegenden‹ (auch hier ein Sprachproblem) als das Verhältnis der Identität und Differenz ›im Sinne‹ der ›Identität der Identität und der Differenz‹ und der ›Differenz der Differenz und der Identität‹. Vgl. MA, Bd. 2, S. 105f.; FHA, ebd.; StA, ebd.
199
in sich, die stets auch schon die Bewegung aus sich heraus und in veränderter Form in sich selbst zurück ist. Die Bewegung der ›intellectualen Anschauung‹ aus sich heraus, die Auflösung der Einheit und zugleich die Zunahme ihrer Fühlbarkeit, die die Trennung bedeutet, wird hier als Prozess der Versinnlichung gefasst, wodurch deutlich wird, dass sich die Einheit dann als höhere und umfassendere realisiert, wenn sie einen Teil der in ihr Widerstreitenden, hier die Sinnlichkeit, verstärkt zur Geltung bringt und somit die Spannung der Gegensätze in sich erhöht. Nur in der Zunahme des Widerstreits in sich kann sich die ›intellectuale Anschauung‹ als das Ineinander von ›Intellectualem‹ und Anschauung, Sinnlichkeit, ›als sie selbst‹, und das heißt auch als ›Einheit‹, ›voll‹ realisieren. Stellt die ›intellectuale Anschauung‹ als das Widerstrebige von ›Intellect‹ und ›Anschauung‹ jedoch potentiell die höchste Einheit im Geist und des Geistes dar, so bedeutet die ›volle‹ Realisation der ›intellectualen Anschauung‹, dass sich der Geist (in der ganzen Widerstrebigkeit der folgenden Formulierung) auf die Einheit mit seinem anderen, dem Sinnlichen, hin auflösen muss. Denn ist die ›intellectuale Anschauung‹, wie auch die anderen Vermögen, ein möglicher ›Zustand‹ bzw. eine mögliche Dynamik des Geistes, so zeigt sich auch hier wiederum die paradoxe Grundstruktur, dass im Geist das andere zu diesem, das Sinnliche, als solches erhalten bleibt und so im und als Geist in Gegensatz zu diesem treten kann. Nur aufgrund des Strebens der ›intellectualen Anschauung‹, und d. h. des Geistes, nach ›Versinnlichung‹, das die Auflösung und die Herstellung der höchsten ›Einheit‹ des Geistes bedeutet, kann der zunächst ›unausgeglichene‹ Zustand, das »Übermaaß des Geistes in der Einigkeit«,120 ausgeglichen werden und der Geist in dem Höchstmaß der Spannung in ein Maß kommen und sich ›realisieren‹. Nur so ist die ›höchste‹ Einheit (und untrennbar mit ihr verbunden die ›höchste‹ Differenz) zu erreichen, und darin besteht der eigentliche poetische Prozess als Reproduktion (und d. h. Realisation in dem doppelten Sinn von ›Verwirklichung‹ und ›Selbstauffassung‹) des Geistes in sich und anderen, das Grundmovens des geistig-poetischen Prozesses. Dieser Prozess lässt sich aufgrund dessen, dass die ›intellectuale Anschauung‹ die höchste (jedoch nicht absolute) Form der Einheit des Geistes in sich ist und die anderen poetischen ›Empfindungen‹ lediglich als relative ›Abschattungen‹ dieses Zustandes erscheinen, an dieser am deutlichsten herausarbeiten. Dieser Umstand ist der entscheidende Grund dafür, dass die Erörterungen zum Tragischen in Hölderlins poetologischen Schriften einen herausragenden Stellenwert einnehmen. Aus diesem übergreifenden Begründungszusammenhang für die Notwendigkeit der Trennung lassen sich verschiedene Gründe in Bezug auf konkrete
120
MA, Bd. 2, S. 106; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 269.
200
Aspekte der Ganzheit ableiten. So wird die Trennung damit begründet, dass sich die Teile […] zu einig fühlen, wenn sie im Ganzen dem Mittelpuncte näher sind, oder weil sie sich nicht einig genug fühlen der Vollständigkeit nach, wenn sie Nebentheile sind, vom Mittelpuncte entfernter liegen, oder, der Lebhaftigkeit nach, wenn sie weder Nebentheile, im genannten Sinne, sondern weil sie noch nicht gewordene, weil sie erst Theilbare Theile sind.121
Aus dem letztgenannten Grund geht die oben ausgeführte Begründung für die Notwendigkeit der Trennung hervor, die von der grundsätzlichen Verfasstheit des Geistes ausgeht: Und hier, im Übermaaß des Geistes in der Einigkeit, und seinem Streben nach Materialität, im Streben des Theilbaren Unendlichern, Aorgischern, in welchem alles organischere enthalten seyn muß, weil alles bestimmter, und nothwendiger vorhandene, ein Unbestimmteres, unnothwendiger Vorhandenes nothwendig macht, in diesem Streben des theilbaren Unendlichern nach Trennung welches sich im Zustande der höchsten Einigkeit alles organischen den in dieser enthaltenen Theilen mittheilt, in dieser nothwendigen Willkür des Zeus liegt eigentlich der ideale Anfang der wirklichen Trennung.122
Dieser Anfang ist nicht allein deshalb ideal, weil er ein ›Streben‹ ist – dem ›Streben‹ entspricht vielmehr die Anfänglichkeit –, sondern deshalb, weil er, wie oben gesehen, in der Verfasstheit des Geistes selbst gründet. Das obige Zitat fasst die Notwendigkeit der Trennung in der Terminologie des Abschnitts ›Grund zum Empedokles‹ in »Die tragische Ode …«,123 wobei es in dem Kontext der Ganzheit hier – je nach Fortschritt der Trennung – die ›Reste‹ der ursprünglichen Innigkeit des Geistes in der ›intellectualen Anschauung‹ sind, die als Unbestimmteres, Ungeteiltes, als ›Theilbares Unendlicheres‹ das ›Aorgischere‹ ausmachen, während die Teile, die sich im Zuge der Trennung herausgebildet haben, das ›Organischere‹ bilden. Im Zuge der Trennung wird das ›Organischere‹, das Geteilte, somit in dem noch ungeteilten Unendlicheren, dem Aorgischen, enthalten sein, wie es auch die Logik harmonischer Entgegensetzung verlangt: In dem »Theilbaren Unendlichern, Aorgischern« muss »alles organischere enthalten seyn […], weil alles bestimmter, und nothwendiger vorhandene, ein Unbestimmteres, unnothwendiger Vorhandenes nothwendig macht«.124 Umfasst dieses ›Aorgischere‹ das ›Organischere‹, die Teile, so befin-
121 122
123 124
Ebd. Ebd.; FHA: »[…] organischen, den in dieser enthaltenen […]«; StA: »[…] Unendlichern Aorgischern […] bestimmter und nothwendiger vorhandene ein Unbestimmteres, […] Einigkeit alles organischen allen in dieser enthaltenen Theilen […]«. Vgl. MA, Bd. 1, S. 868ff.; FHA, Bd. 13, S. 870ff.; StA, Bd. 4,1, S. 152ff. MA, Bd. 2, S. 106; FHA, Bd. 14, S. 371; StA, Bd. 4,1, S. 269 (»[…] bestimmter und nothwendiger vorhandene ein Unbestimmteres, […]«).
201
den sich diese selbst in »der höchsten Einigkeit«.125 Geht das Streben nach Trennung nun von dem Aorgischeren aus, so muss es sich den Teilen ›mitteilen‹, die in der höchsten Einheit des Organischen enthalten sind. Wird Zeus als das ›höchste Trennbare‹126 und somit – wie im griechischen Kontext üblich – als höchste Innigkeit verstanden, so erscheint das Streben des Innigen, des »Theilbaren Unendlichern« nach Trennung als »nothwendige[…] Willkür des Zevs«,127 und somit als in ihrem Anfang paradoxe, da wechselseitige Begründungsstruktur. Denn wird zum einen die Notwendigkeit des Aorgischeren durch die Existenz des Organischeren begründet (»weil alles bestimmter, und nothwendiger vorhandene [alles Organischere, M. H.], ein Unbestimmteres, unnothwendiger Vorhandenes [ein Aorgischeres, M. H.] nothwendig macht«128), so ist es zum anderen jedoch das Streben nach Trennung in dem Aorgischeren, das das Organischere erst der Möglichkeit nach begründet. Aufgrund dieses unauflöslich wechselseitigen Begründungsverhältnisses von Organischem und Aorgischem lässt sich die eine Begründungsrichtung, nämlich das Streben nach Trennung seitens des Aorgischen, dessen Höchstes Zeus ist, angemessen in dem Oxymoron der »nothwendigen Willkür des Zevs«129 fassen. Auch hier zeigt sich – wie schon in den Ausführungen zu »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« deutlich wurde und vor allem auch in Hölderlins späteren ›Gesängen‹ hervortritt –, dass das Göttliche nicht, und nicht einmal der höchste Gott, Zeus, als Unbedingtes oder Absolutes gedacht wird, sondern vielmehr als das notwendige andere erscheint, wodurch sich sowohl das eine wie das andere, das Menschliche wie das Göttliche, in ihrer unauflöslichen Wechselwirkung gegenseitig konstituieren. Diese erneute Fassung des Vorgangs der Trennung unter veränderter Perspektive setzt sich bis zu dem Endpunkt der neuentstehenden, zweiten Einheit fort. Was in den vorangegangenen Ausführungen als »Leiden«,130 als »möglichst absolute[…] Entschiedenheit und Vereinzelung« gefasst wurde, die daraus folgt, dass die Separation der Teile »die Grenze für diese [die Ganzheit] übersteige«,131 findet nun seinen Ausdruck in dem Zustand »äußerste[r] Spannung […], wo diese [die Teile] sich am stärksten widerstreben«.132 Gehen die vorausgegangenen Ausführungen zu der erneuten Begründung der Notwendigkeit der Trennung über, so stellt die jetzige Auslegung den Prozess bis zu seinem Ende dar:
125 126 127 128 129 130 131 132
Ebd. Vgl. MA, Bd. 2, S. 107; FHA, Bd. 14, S. 372; StA, Bd. 4,1, S. 270. MA, Bd. 2, S. 106; FHA, Bd. 14, S. 371; StA, Bd. 4,1, S. 269. Ebd.; StA: »[…] bestimmter und nothwendiger vorhandene ein Unbestimmteres, […]«. Ebd. MA, Bd. 2, S. 105; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 268. Ebd. MA, Bd. 2, S. 106; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 269.
202
Von diesem Widerstreit gehet sie wieder in sich selbst zurük, nemlich dahin, wo die Theile, wenigstens die ursprünglich innigsten, in ihrer Besonderheit, als diese Theile, in dieser Stelle des Ganzen sich aufheben, und eine neue Einigkeit entsteht.133
Die Teile als die Ganzheiten, die sie in dem Wechselprozess geworden sind, heben sich somit in eine neue Einheit auf. ›Als die Ganzheiten‹ heißt hier sowohl, dass die Teile an Vollständigkeit gewonnen haben, zu Ganzheiten geworden sind, als auch, dass sie als solche eingeholt wurden, d. h. eine ›Realisation‹ der Teile als Ganzheiten stattgefunden hat. Heben sich diese nun in eine neue Einheit auf, so ist diese potenziert, und zwar dadurch, dass sie in sich sowohl durchgängiger bestimmt als auch – durch die ›Versinnlichung‹ des Geistes in dem Herausgehen aus sich selbst – umfassender ist. Die ›Verbindung‹ zwischen den beiden Einheiten, ihr »Übergang«,134 so wird im Text nochmals explizit herausgestellt, ist dabei nichts als »jene höchste Spannung des Widerstreits«.135 Die Auflösung der ersten und die Neubildung der zweiten Einheit werden dabei ausdrücklich als »Ausgang« aus der Einheit und als »Rükgang«136 in diese bezeichnet, wobei der ›Rückgang‹ in Differenz zum Ausgangspunkt stattfindet. Die Bewegung erscheint somit als Bogen in höchstmöglicher Spannung, der sich dem Kreis annähert, sich jedoch nicht zum Kreis schließt. Symbolisiert der Kreis die Rückkehr in das Identische, so stellt der Bogen in seiner höchsten Spannung zwar ebenfalls eine Rückkehr (in eine Einheit) dar, dies jedoch nur in der Verschiebung der (qualitativen) Ebenen der beiden Pole, und das heißt in der Differenz. Die Widerstrebigkeit der Struktur sowie ihre reflexive Ineinanderstaffelung tritt in der Rückkehr in der Differenz deutlich hervor: Ausgangs- und Endpunkt sind einerseits identisch (die zweite Einheit ist die Darstellung und Potenzierung der ersten Einheit, der ›intellectualen Anschauung‹) und sie sind andererseits zugleich different dadurch, dass die zweite Einheit die Darstellung und Potenzierung der ersten Einheit ist. Die zweite Einheit ist die ›Realisation‹ der ersten, sie ist deren eingeholte, dargestellte, potenzierte Erscheinung, sie ist somit die erste in ihrem vollen Sinn, und doch ist sie diese nur in der konstitutiven Differenz, die alle Darstellung, Einholung und Potenzierung einschließt. ›Realisation‹ folgt stets der in sich widerstrebigen Struktur der Identität (1) der Identität (2) und der Differenz: Der Übergang von der ersten [Einigkeit] zur zweiten ist wohl eben jene höchste Spannung des Widerstreits. Und der Ausgang bis zu ihm unterscheidet sich vom Rükgang, daß der erste idealer, der zweite realer ist, daß im ersten das Motiv ideal
133 134 135 136
Ebd. Ebd. MA, ebd.; FHA, Bd. 14, S. 372; StA, ebd., H. v. m. Ebd.
203
bestimmend, reflectirt, mehr aus dem Ganzen, als individuell ist, im zweiten als Leidenschaft und den Individuen hervorgegangen ist […].137
Der ›Spannungsbogen‹, der die beiden Einheiten als Übergang verbindet, ist in sich zweigeteilt, und diese Teile, der ›Ausgang‹ und der ›Rückgang‹, verbinden nicht nur zwei Zustände, die sich zugleich identisch und different zueinander verhalten, sondern sie befinden sich selbst in diesem Verhältnis als – bildlich ausgedrückt – die ›zwei Seiten‹ der ›einen Medaille‹ bzw. als die beiden Arme des Bogens, als der sich der Realisationsprozess ›darstellen‹ lässt. Dieses Verhältnis wird auch insofern einsichtig, als die jeweiligen Prozesse der Trennung der Einheit ihren Anfang und Grund jeweils als notwendige Bewegung in dem Zustand selbst finden, aus dem sie hervorgehen. Geht die Trennung aus dem Übermaß der Innigkeit des Geistes in sich hervor, d. h. ist der ›Ausgang‹ aus der Einheit »idealer« und sein »Motiv ideal bestimmend, reflectirt, mehr aus dem Ganzen«138 kommend, so wird sich die Vereinigung als ›Rückgang‹ aus der höchsten Spannung des Widerstreits der vereinzelten Teile, d. h. aus dem Umschlags- und Wendepunkt der Bewegung, folglich »realer« gestalten und das Motiv »aus Leidenschaft und den Individuen hervorgegangen«139 sein. Der gesamte Prozess der Darstellung und ›Realisation‹ der ›intellectualen Anschauung‹ ist in höchstem Maße in sich widerstrebig. Ist die Einheit in der ›intellectualen Anschauung‹ derart ausgeprägt, dass sie aus sich ihr Gegenteil hervortreibt und vollzieht, so ist die zweite Einheit in sich stärker von ihrem eigenen Gegenteil, der Differenz, bestimmt und ist gerade deshalb die umfassendere, höhere, potenzierte und zu sich selbst gekommene Einheit. ›Potenzierung‹, ›Realisation‹, meint hier somit gerade keine (unendliche) Steigerung des reinen ›Selbst‹, sondern vielmehr die ›Realisation‹ des eigenen Maßes und der eigenen Grenze, die lediglich möglich ist in der Wechselbestimmung mit dem eigenen Gegensatz, der jedoch nicht in das ›Selbst‹ im Sinne eines Aufhebungsverhältnisses integriert wird, sondern als das unaufhebbar andere die Spannung, den Widerstreit, konstituiert, der das ›Selbst‹, die ›Einheit‹ ›ist‹. Geschieht in diesem Widerstreit jedoch die ›Realisation‹, das ›Zu-sichselbst-Kommen‹, die ›Darstellung‹ der Beteiligten, so wird deutlich – wie im Zusammenhang der ›Rückkehr‹ bereits angedeutet –, dass diese Realisation von etwas als etwas einerseits dieses ›etwas‹ ›ist‹, andererseits jedoch ein unaufhebbar anderes zu diesem sein muss. Die Darstellung meint somit immer, dass das Darzustellende in der Darstellung und Realisation seiner selbst ein anderes wird bzw. geworden ist. Die Darstellung zeigt sich als grundsätzlich aporetisch, und
137
138 139
MA, ebd.; FHA, Bd. 14, S. 371f.; StA, Bd. 4,1, S. 269f. (»[…] unterscheidet sich vom Rükgang darinn, daß […] als individuell ist, p.p. im zweiten als Leidenschaft und den Individuen hervorgegangen ist«). MA, ebd.; FHA, Bd. 14, S. 372; StA, ebd. Ebd.
204
in diesem Sinne ›tragisch‹140 verfasst: damit sich etwas ›als es selbst‹ darstellen kann, muss es ein anderes werden. Das ›reine Selbst‹ kann niemals eingeholt und begriffen werden, es ›existiert‹ im strengen Sinne nicht.141 Die Ausführungen zur ›intellectualen Anschauung‹ und deren Darstellung lassen sich auf jede Weise poetischer Darstellung beziehen, weil die Verhältnisse im Tragischen die gesteigerte Ausprägung der poetischen Prozesse in den anderen Dichtarten sind. Aus diesem Grund erfolgt im Text wiederholt der Vergleich mit dem ›lyrischen Gedicht‹.142 Wie jede der drei Dichtarten kann sich auch die tragische in verschiedenen Stilen äußern. Wurden die unterschiedlichen Stilarten im Kontext des lyrischen und des epischen Gedichts von Tendenzen des Grundtons hin zu anderen Tönen gedeutet (vgl. z. B. »Ist sein [des lyrischen Gedichts] Grundton jedoch heroischer […]«143), so werden die verschiedenen Ausprägungen der ›intellectualen Anschauung‹ als »subjectiver« und »objectiver«144 bezeichnet, wobei die dritte Art nicht eigens gekennzeichnet wird. Sämtliche Stilarten des tragischen Gedichts werden auf den Ursprung der Trennung in der ›intellectualen Anschauung‹ zurückgeführt. Dies ist insofern konsequent, als die Darstellung der zugrunde liegenden Empfindung in dem Falle des Tragischen die Auflösung der ›intellectualen Anschauung‹ ist. Die Varianten innerhalb der Verfasstheit der ›intellectualen Anschauung‹ als Grundton werden sich somit in dem Ursprung und folglich auf die Weise der Trennung, somit auf den Stil des Gedichts auswirken. In dem Kontext der Begründung der Trennung wurden drei mögliche Arten der Auflösung entsprechend der Position der Teile in dem Ganzen aufgezeigt.145 Diese Möglichkeiten führen zu den drei verschiedenen Stilen des tragischen Gedichts. Die Trennung, »die vorzüglich von den conzentrirenden Theilen«146 ausgeht (entsprechend der ersten Möglichkeit der Trennung147) und die dann eintritt, wenn die »intellectuelle Anschauung subjectiver«148 ist,
140
141 142 143 144 145 146 147 148
Es ist somit nicht verwunderlich, dass sich das aporetische Verhältnis an der Darstellung des Tragischen zeigt. Das ist deshalb der Fall, weil das Verhältnis von Grundton und Kunstcharakter, Darzustellendem und Darstellung, das stets eines harmonischer Entgegensetzung ist, im Tragischen in sein Extrem gesteigert erscheint und sich das, was etwas ›ist‹ in dem Extrem am deutlichsten ablesen lässt. Das ist auch der Grund, warum der tragischen Darstellung in Hölderlins Erörterungen eine so herausragende Rolle zukommt. Vgl. dazu auch die abschließenden Ausführungen zur ›Teleologie‹ im ›Hyperion‹ in Kapitel I.4.9. Vgl. MA, Bd. 2, S. 105ff.; FHA, Bd. 14, S. 371f.; StA, Bd. 4,1, S. 268ff. MA, Bd. 2, S. 103; FHA, Bd. 14, S. 369; StA, Bd. 4,1, S. 266. MA, Bd. 2, S. 107; FHA, Bd. 14, S. 372; StA, Bd. 4,1, S. 270. Vgl. MA, Bd. 2, S. 106; FHA, Bd. 14, S. 371; StA, Bd. 4,1, S. 269. MA, Bd. 2, S. 107; FHA, Bd. 14, S. 372; StA, Bd. 4,1, S. 270. Vgl. MA, Bd. 2, S. 106; FHA, Bd. 14, S. 371; StA, Bd. 4,1, S. 269. MA, Bd. 2, S. 107; FHA, Bd. 14, S. 372; StA, Bd. 4,1, S. 270.
205
»wie bei der Antigonä«,149 führt zum ›lyrischen Styl‹, diejenige, die »mehr von den Nebentheilen«150 im Falle einer ›objectiveren intellectualen Anschauung‹ ausgeht (entsprechend der zweiten Möglichkeit151), führt zum ›epischen‹ und schließlich die Trennung, die »von dem höchsten Trennbaren, von Zevs«152 (entsprechend der dritten Art der Trennung153) ausgeht, »wie bei Oedipus«,154 führt zum ›tragischen Styl‹. Die Stile des tragischen Gedichts, die hier mit den Gattungsbezeichnungen versehen werden, entsprechen den Stilen, die für die anderen Gattungen anhand des Kunstcharakters festgelegt werden. In allen drei Gattungen finden sich jeweils Ausprägungen, die dem ›naiven‹, dem ›energischen‹ und dem ›idealischen Gedicht‹ zugeordnet werden können.155 Die für das tragische Gedicht vorgenommenen Charakterisierungen ergänzen sich dabei gegenseitig. Der ›lyrische Stil‹ des tragischen Gedichts beruht auf einer subjektiveren Ausprägung der ›intellectualen Anschauung‹, was dem »intensivere[n] empfindungsvollere[n]«156 Grundton des »idealischen«157 Stils entspricht. Bei diesem geht die Trennung, die die Darstellung des Grundtons bedeutet, von den »conzentrirenden Theilen«158 aus. Der ›epische Stil‹, der auf einer objektiveren ›intellectualen Anschauung‹ beruht, findet seine Entsprechung in dem ›naiven Stil‹, dessen Grundton stoffreicher ist und bei dessen Darstellung die Trennung von den Nebenteilen ausgeht, während der ›tragische Stil‹ als die Darstellung des »höchsten Trennbaren, von Zevs«,159 bei dem die Trennung somit vom Unendlichen ausgeht, dem ›energischen Stil‹ mit seinem geistreicheren Grundton entspricht. Die Beschreibung des tragischen Gedichts und seiner Stilarten weicht in ihrer Perspektive von den Erörterungen zum lyrischen sowie zum epischen Gedicht ab. Der Abschluss des Entwurfs »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« versucht die Übertragung der Charakterisierung der Stile des tragischen Gedichts, die von der Weise der Trennung ausgehen, auf die anderen Gattungen. Dies wird jedoch nur in Bezug auf den ›energischen‹ bzw. ›tragischen Stil‹ durchgeführt. Der Ansatz für den ›lyrischen‹ bzw. ›idealischen‹
149 150 151 152 153 154 155
156 157 158 159
Ebd. Ebd. Vgl. MA, Bd. 2, S. 106; FHA, Bd. 14, S. 371; StA, Bd. 4,1, S. 269. MA, Bd. 2, S. 107; FHA, Bd. 14, S. 372; StA, Bd. 4,1, S. 270. Vgl. MA, Bd. 2, S. 106; FHA, Bd. 14, S. 371; StA, Bd. 4,1, S. 269. MA, Bd. 2, S. 107; FHA, Bd. 14, S. 372; StA, Bd. 4,1, S. 270. Vgl. »Die Empfindung spricht …«, MA, Bd. 2, S. 101f.; FHA, Bd. 14, S. 325f.; StA, Bd. 4,1, S. 270ff. sowie »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …«, MA, Bd. 2, S. 107; FHA, Bd. 14, S. 372; StA, Bd. 4,1, S. 270. MA, ebd.; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 272. Ebd. Ebd. MA, ebd.; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 270.
206
Stil bricht ab, und ein Versuch für den ›epischen‹ bzw. ›naiven Stil‹ findet sich nicht. Die Begründung des ›tragischen‹, ›energischen‹ Stils enthält jedoch wichtige Differenzen zum ›lyrischen‹, ›idealischen Stil‹. Denn geschieht bei einem […] geistreicheren Grundton die Trennung vom Unendlichen aus […], so muß sie zuerst auf die conzentrirenden Theile oder auf das Centrum wirken, sie muß sich diesen mittheilen, und insofern die Trennung eine empfangene ist, so kan sie sich nicht bildend, nicht ihr eigenes Ganze reproduzirend äußern, sie kan nur reagiren und diß ist der energische Anfang.160
Was für den ›tragischen‹ bzw. ›energischen Stil‹ nicht gilt, trifft gerade auf den ›lyrischen‹, ›idealischen Stil‹ zu, denn dieser steht zu dem tragischen in dem größtmöglichen Gegensatz. Im ›lyrischen Stil‹ geht die Trennung von den konzentrierenden Teilen bzw. dem Zentrum aus, sie teilt sich diesen nicht mit, sondern findet darin ihren Anfang. Aus diesem Grund kann sich die Trennung in dem ›lyrischen Stil‹ – im Gegensatz zum ›tragischen‹ – gerade »bildend, […] ihr eigenes Ganze reproduzirend äußern«,161 so dass das Gedicht im ›idealischen‹, ›lyrischen Stil‹ idealisch anfängt162 und sich der Grundton im lyrischen Gedicht – und vor allem in dessen ›idealischen Stil‹ – am unmittelbarsten von allen Gattungen und Stilen ausdrückt.163 Den entgegengesetzten Pol zu der lyrischen Dichtart (und noch gesteigert im ›idealischen Stil‹) sowie deren Darstellungsgrundsätzen bildet die tragische Gattung (und da gesteigert in deren ›energischen Stil‹). Denn findet sich in dem lyrischen Gedicht der unmittelbarste Ausdruck des Grundtons, so muss das tragische Gedicht seinen Grundton deshalb in seiner Darstellung ›verleugnen‹, weil er als ›intellectuale Anschauung‹ eine größere Innigkeit bildet als die ›Empfindung‹, die dem lyrischen Gedicht zugrunde liegt. Je größer somit die Einheit des Grundtons ist – sei es zwischen unterschiedlichen Gattungen oder auch innerhalb ihrer verschiedenen Stile –, desto mehr muss sich dieser Grundton in der Darstellung, dem Kunstcharakter, ›verleugnen‹, d. h. desto mittelbarer, desto stärker vermittels seines Gegenteils, vermittels extremerer Unterscheidungen, muss sich der Grundton ›ausdrücken‹.164 Es lässt sich somit eine Reihung der Gattungen und Stile aufsteigend nach dem Grad der Spannung von Grundton und Kunstcharakter erstellen, die von
160 161 162 163
164
MA, ebd.; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 272. Ebd. Vgl. »Die Empfindung spricht …«, MA, Bd. 2, S. 101; FHA, Bd. 14, S. 325; StA, Bd. 4,1, S. 270. Vgl. »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …«, MA, Bd. 2, S. 103; FHA, Bd. 14, S. 369; StA, Bd. 4,1, S. 266f., wo im Kontext des ›lyrischen Gedichts‹ der ›Grundton‹ mit dem »unmittelbareren Ausdruk« identifiziert wird. Vgl. auch »Die tragische Ode …«, Abschnitt ›Allgemeiner Grund‹, MA, Bd. 1, S. 866ff.; FHA, Bd. 13, S. 868ff.; StA, Bd. 4,1, S. 150f.
207
dem lyrischen Gedicht im lyrischen bzw. idealischen Stil ausgeht, in dem sich der Grundton in seinem Kunstcharakter am unmittelbarsten darstellt, über dessen epischen/naiven Stil bis zum tragischen bzw. energischen Stil des lyrischen Gedichts. Darauf folgt das epische Gedicht im lyrischen/idealischen Stil, dasselbe im epischen/naiven und schließlich im tragischen/energischen Stil. Die am stärksten vermittelte Weise der Darstellung findet sich im tragischen Gedicht, und innerhalb von diesem aufsteigend von dem lyrischen/idealischen über den epischen/naiven bis hin zum tragischen/energischen Stil. Entsprechend dem Grundsatz, dass sich Einheit ausschließlich vermittels ihres Gegensatzes, der Trennung bzw. Differenz, darstellt und sämtliche hier behandelten Gegensätze relative, harmonische Entgegensetzungen sind, steigt die Reihe auch in Bezug auf das Maß der Einheit des Grundtons sowie hinsichtlich des Grades der Unterscheidungen und Gegensätze, die sich in dem Kunstcharakter finden, auf. Je ausgeprägter die Einheit im Grundton ist, desto größer ist der Gegensatz zwischen dem Grundton und seiner Darstellung, dem Kunstcharakter des Gedichts.
6.
Bezug zu den Erörterungen im Kontext des ›Empedokles‹-Dramas sowie Übergang zu »Löst sich nicht …«
Gehen die Ausführungen in »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« von den drei Gattungen aus und werden diese jeweils in die verschiedenen Stile differenziert, so stellt »Die Empfindung spricht …« lediglich die Stile dar, die sich in jeder der drei Gattungen finden. Der Abschnitt ›Allgemeiner Grund‹ fokussiert im Kontext des ›Empedokles‹-Dramas hingegen lediglich den ›tragischen Stil‹ (in der Terminologie der anderen Entwürfe auch ›energischer‹ und ›heroischer Stil‹ genannt), und zwar im Drama (der ›dramatischen‹/›tragischen‹ Gattung) und in der Lyrik (›Ode‹, der ›lyrischen‹/›idealischen‹ Gattung). Entsprechend der oben angeführten Reihung hinsichtlich der Grade der Vermitteltheit der Darstellung erscheint das »tragischdramatische« Gedicht,165 d. h. die ›dramatische‹ (bzw. ›tragische‹) Dichtung im ›tragischen‹ (bzw. ›energischen‹/›heroischen‹) Stil, als die Verwirklichung höchster Gespanntheit von Grundton und Kunstcharakter. Diese Widerstrebigkeit in sich nimmt bei dem ›epischen Gedicht‹ im ›tragischen‹ (›energischen‹/›heroischen‹) Stil und weiter noch in der – im Text erwähnten – »tragische[n] Ode«,166 d. h. im lyrischen Gedicht in demselben Stil ab.167 165 166 167
MA, Bd. 1, S. 866; FHA, Bd. 13, S. 868; StA, Bd. 4,1, S. 150. Ebd. Das Verhältnis von Grundton und Kunstcharakter als die Relation von »Subjektivem und Objektivem« zu fassen, die sich in der Tragödie als »Gegensatz« äußere, während »sich die Empfindungen des Dichters« in »der tragischen Ode« »unmittelbar ausdrüken [sic!]« (Katharina Grätz:
208
Die ausführliche Beschreibung der ›tragischen Ode‹, somit des lyrischen Gedichts im energischen/heroischen Stil, entspricht dabei genau der formalen Auflistung zu dieser Stilart (»energisches Gedicht«) in »Die Empfindung spricht …«. Die Bezüge zu diesem Entwurf erscheinen im Folgenden in eckigen Klammern:168 Die tragische Ode fängt im höchsten Feuer [Kunstcharakter/Sprache: Leidenschaft, M. H.] an, der reine Geist, die reine Innigkeit [Grundton: Phantasie, M. H.] hat ihre Grenze überschritten […] und so ist, durch Übermaas der Innigkeit, der Zwist [zwischen dem Grundton und dem Beginn im Kunstcharakter, M. H.] entstanden, den die tragische Ode gleich zu Anfang fingirt, um das Reine darzustellen. Sie gehet dann weiter, durch einen natürlichen Act [zweiter Grundton: Empfindung, M. H.], aus dem Extrem des Unterscheidens und der Noth in das Extrem des Nichtunterscheidens des Reinen, des Übersinnlichen [zweiter Kunstcharakter: Phantasie, M. H.], das gar keine Noth anzuerkennen scheint, von da fällt sie in eine reine Sinnlichkeit, in eine bescheidenere Innigkeit [dritter Kunstcharakter: Empfindung, M. H.] […], sie muß aus den Extremen des Unterscheidens und der Nicht-unterschiedenheit in jene stille Besonnenheit und Empfindung übergehen, wo sie freilich den Kampf der einen angestrengteren Besonnenheit nothwendig, also ihren Anfangston und eigenen Karakter [erster Kunstcharakter: Leidenschaft, M. H.], als Gegensaz empfinden, und in ihn [vierter Kunstcharakter: Leidenschaft, M. H.] übergehen muß, wenn sie nicht in dieser Bescheidenheit tragisch enden soll, aber weil sie ihn als Gegensaz empfindet, gehet dann das idealische [fünfter Kunstcharakter: Phantasie, M. H.] das diese beeden Gegensäze vereiniget, reiner hervor, der Urton [Grundton: Phantasie, M. H.] ist wieder und mit Besonnenheit gefunden, und so gehet sie wieder von da aus durch eine mäßige freiere Reflexion oder Empfindung [sechster Kunstcharakter: Empfindung, M. H.] sicherer freier gründlicher (d. h. aus der Erfahrung und Erkentniß des Heterogenen) in den Anfangston [siebter Kunstcharakter: Leidenschaft, M. H.] zurük.169
Aufgrund dieser ausführlichen Beschreibung des Wechsels im Kunstcharakter der ›tragischen Ode‹ lassen sich unter dem Vorbehalt mangelnder Bestimmtheit im Text Rückschlüsse auf das ziehen, was in »Löst sich nicht …« »Katastrophe«170 genannt wird. Geht das lyrische Gedicht im energischen Stil, d. h. die ›tragische Ode‹, nach dem Durchlaufen des heroischen und idealischen Tons im Kunstcharakter in »jene stille Besonnenheit und Empfindung«,171 d. h. den nai-
168
169 170 171
Der Weg zum Lesetext. Editionskritik und Neuedition von Friedrich Hölderlins ›Der Tod des Empedokles‹. Tübingen 1995, S. 17), greift zu kurz. Lawrence Ryan (Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne. Stuttgart 1960) bezieht diesen Wechsel auf die tabellarischen Auflistungen in »Löst sich nicht …« und auf die 具Poetologischen Tafeln典 (vgl. S. 110). In diesen weichen die Grundtöne ab dem vierten Ton von den Reihen ab, die aus »Die Empfindung spricht …« und »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« ableitbar sind. Der Wechsel im Kunstcharakter sowie die ersten drei Tonkombinationen gestalten sich jedoch gleich. MA, Bd. 1, S. 865; FHA, Bd. 13, S. 868; StA, Bd. 4,1, S. 149 (»[…] durch einen natürlichen Act aus dem Extrem […]«). MA, Bd. 2, S. 108; FHA, Bd. 14, S. 340; StA, Bd. 4,1, S. 238. MA, Bd. 1, S. 865; FHA, Bd. 13, S. 868; StA, Bd. 4,1, S. 149.
209
ven Ton, über und wäre der Tönewechsel damit abgeschlossen, so würde die ›tragische Ode‹ »in dieser Bescheidenheit tragisch enden«,172 denn diese naive Einheit der Empfindung kann keine angemessene Darstellung der Innigkeit der ›intellectualen Anschauung‹ sein. Die ›tragische Ode‹ muss in diesem naiven Kunstcharakter somit »ihren Anfangston und eigenen Karakter [erster Kunstcharakter: Leidenschaft, M. H.], als Gegensaz empfinden, und in ihn [vierter Kunstcharakter: Leidenschaft, M. H.] übergehen«,173 so dass der Tönewechsel von vorne beginnt. Als ›Katastrophe‹ erscheint hier somit der erste naive Ton im Kunstcharakter, der den Endpunkt der ersten Tonfolge ›heroisch – idealisch – naiv‹ und den Übergang zu einem erneuten Durchgang bildet. Diese Interpretation der ›Katastrophe‹ als jeweils dritter Ton im Kunstcharakter entspricht auch der wörtlichen Bedeutung des Ausdrucks als ›Umwendung‹ oder ›Umkehrung‹, und zwar insofern, als mit dem dritten Ton alle möglichen verschiedenen Töne durchlaufen sind und in diesem somit eine Rückwendung, eine Umkehrung, zum ersten Ton erfolgt, aus dem heraus sich die gesamte Tonfolge in einem zweiten Durchgang wiederholt.174 Es liegt somit nahe, die ›Katastrophe‹ auch in den anderen Gattungen mit dem jeweils dritten Ton der Folge im Kunstcharakter zu identifizieren. Die Tonreihe im Kunstcharakter, die für die ›tragische Ode‹, somit das ›lyrische Gedicht‹ im ›energischen/heroischen Stil‹ anhand der Erörterungen im Umkreis des ›Empedokles‹-Dramas herausgearbeitet wurde (heroisch – naiv – idealisch – heroisch – naiv – idealisch – heroisch) entspricht den Ausführungen in »Löst sich nicht …«, wonach das lyrische Gedicht »mit sich selber«,175 somit mit dem Anfangston seines Kunstcharakters, und genauer sogar mit seiner Grundmetapher, d. h. dem Gegensatz zwischen seinem ersten Grundton und seinem ersten Kunstcharakter (die je nach Stil unterschiedlich sind) endet. Beziehen sich die Angaben in »Die Empfindung spricht …« auf die verschiedenen Stile (naiv, energisch/heroisch, idealisch) in den Gattungen, so werden die Gattungen in »Löst sich nicht …« untereinander zusätzlich differenziert. Hört »das epische Gedicht […] mit seinem anfänglichen Gegensaz, das tragische mit dem Tone seiner Katastrophe, das lyrische mit sich selber auf«,176 so unterscheiden sich die Gattungen hinsichtlich der Länge ihrer Tonfolgen. Konkret bedeutet dies, dass das lyrische Gedicht in allen Stilen eine Folge von sieben Tönen realisiert, das tragische eine Reihe von sechs, das epische von fünf
172 173 174 175 176
Ebd. Ebd. Zur Struktur der ›Wiederholung‹ bzw. der ›Rückkehr in der Differenz‹ vgl. auch Kapitel V.5 sowie die Erinnerungsstruktur im ›Hyperion‹, v. a. Kapitel I.4.1 und I.4.9. MA, Bd. 2, S. 108; FHA, Bd. 14, S. 340; StA, Bd. 4,1, S. 238. Ebd.
210
Tönen.177 In Bezug auf die Reihung der Töne sowie deren Beginn verhalten sich die verschiedenen Gattungen in allen Stilen jedoch gleich. Das lyrische Gedicht äußert sich in seinen verschiedenen Stilen somit in genau der Weise, wie in »Die Empfindung spricht …« angegeben, das tragische Gedicht wäre demgegenüber um einen, das epische um zwei Töne verkürzt. Aus der Perspektive von »Löst sich nicht …« müssten die Auflistungen in »Die Empfindung spricht …« somit im strengen Sinne als Realisationen der Stile des lyrischen Gedichts aufgefasst werden, wobei die Differenz zu den anderen Gattungen lediglich in der Anzahl der realisierten Töne (für das lyrische Gedicht sieben, das tragische sechs und das epische fünf ) und somit in dem Ende des Tonwechsels bestünde. In Zusammensicht der Erörterungen in »Löst sich nicht …«, »Die Empfindung spricht …« und »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« würde sich für die Gattungen in den verschiedenen Stilen folgendes Bild ergeben: 177
Diese Auslegung würde auch dem Zusatz entsprechen, den die StA, nicht jedoch die MA und die FHA, angibt, »daß das lyrische Ende ein naividealisches, das tragische ein naivheroisches, das epische ein idealischheroisches ist« (StA, Bd. 4,1, S. 238), jedoch mit einer Verkehrung von Grundton und Kunstcharakter in Bezug auf das Ende des tragischen Gedichts. Denn endet das lyrische nach sieben Tönen auf dem naiven Grundton und dem idealischen Kunstcharakter und wird dieses Ende ›naividealisch‹ genannt, während das epische Gedicht nach fünf Tönen auf dem idealischen Grundton und dem heroischen Kunstcharakter endet und dieses Ende als ›idealischheroisch‹ bezeichnet wird, so findet sich für das Ende des tragischen Gedichts nach sechs Tönen auf dem heroischen Grundton und dem naiven Kunstcharakter die Bezeichnung ›naivheroisch‹. Auch J. Isberg (Hölderlin in Homburg 1798–1800. Masch.-schriftl. Diss. Hamburg 1954, vgl. S. 105ff.) sieht diese Differenzierung in Bezug auf die Länge des Wechsels, geht jedoch in dem Wechsel des Grundtons von der Reihenfolge aus, die sich in den Auflistungen zu Ende von »Löst sich nicht …« finden und nicht von »Die Empfindung spricht …«. Isbergs Interpretation führt dann auch zu einer Unstimmigkeit, auf die Lawrence Ryan hinweist (vgl. Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne. Stuttgart 1960, S. 122f.). Lawrence Ryan (Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne. Stuttgart 1960) behandelt die ausformulierten Abschnitte »Löst sich nicht …« erst, nachdem er die Ausdeutung der 具Poetologischen Tafeln典 und der mit diesen korrespondierenden Auflistungen unter den Bezeichnungen »Lyrisch«, »Tragisch« und »Episch« vorgenommen hat. Dabei folgen letztere in der Entstehung unmittelbar auf die ausformulierten Abschnitte (vgl. FHA, Bd. 14, S. 338f.) und scheinen diese somit vorauszusetzen. Dies wird in der Handschrift auch daran deutlich, dass sich der Beginn von »Löst sich nicht …« an dem unterem Teil der Handschriftenseite 38/9 (in der Zählung der FHA, vgl. Bd. 14, S. 330f.) und seine Fortsetzung in der zweiten Hälfte der darauffolgenden Seite (38/10, vgl. S. 332f.) findet. Diese Ausführungen gehen auf derselben Seite in Auflistungen über, und die erste von Ryans behandelte, »Lyrisch«, findet sich noch an dem untersten Rand dieser Seite, während sich die weiteren an dem unteren Rand der darauffolgenden Handschriftenseiten (vgl. S. 334f.) befinden. Erst auf der wiederum folgenden Seite finden sich dann die Tabellen der 具Poetologischen Tafeln典 (vgl. S. 336f.). Die Topographie der Handschrift lässt es somit eigentlich nicht zu, die Auflistungen am Ende von »Löst sich nicht …« unabhängig von den ausformulierten Ausführungen am Beginn zu sehen. Genau das tut jedoch Ryan (vgl. S. 115ff.) und weist erst nach Abschluss seiner Ausdeutung der Auflistungen darauf hin, dass deren einleitende Passagen, die er lediglich als »Notiz« (S. 121) bezeichnet, »schwierig« (ebd.) seien.
211
1. Episches Gedicht: a. Naiver Stil Grundton: heroisch – idealisch – naiv – heroisch – idealisch Kunstcharakter: naiv – heroisch – idealisch – naiv – heroisch b. Heroischer/Energischer Stil Grundton: idealisch – naiv – heroisch – idealisch – naiv Kunstcharakter: heroisch – idealisch – naiv – heroisch – idealisch c. Idealischer Stil Grundton: naiv – heroisch – idealisch – naiv – heroisch Kunstcharakter: idealisch – naiv – heroisch – idealisch – naiv 2. Tragisches Gedicht: a. Naiver Stil Grundton: heroisch – idealisch – naiv – heroisch – idealisch – naiv Kunstcharakter: naiv – heroisch – idealisch – naiv – heroisch – idealisch b. Heroischer/Energischer Stil Grundton: idealisch – naiv – heroisch – idealisch – naiv – heroisch Kunstcharakter: heroisch – idealisch – naiv – heroisch – idealisch – naiv c. Idealischer Stil Grundton: naiv – heroisch – idealisch – naiv – heroisch – idealisch Kunstcharakter: idealisch – naiv – heroisch – idealisch – naiv – heroisch 3. Lyrisches Gedicht: a. Naiver Stil Grundton: heroisch – idealisch – naiv – heroisch – idealisch – naiv – heroisch Kunstcharakter: naiv – heroisch – idealisch – naiv – heroisch – idealisch – naiv b. Heroischer/Energischer Stil Grundton: idealisch – naiv – heroisch – idealisch – naiv – heroisch – idealisch Kunstcharakter: heroisch – idealisch – naiv – heroisch – idealisch – naiv – heroisch c. Idealischer Stil Grundton: naiv – heroisch – idealisch – naiv – heroisch – idealisch – naiv Kunstcharakter: idealisch – naiv – heroisch – idealisch – naiv – heroisch – idealisch
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Die ›Katastrophen‹ und deren ›Auflösung‹, die in »Löst sich nicht …« angesprochen werden, lassen sich auf dieser Grundlage genauer beschreiben. In allen Gattungen besteht die ›Katastrophe‹ zwar in dem dritten Ton des Kunstcharakters, die Art und Weise der ›Auflösung‹ differiert jedoch von Gattung zu Gattung. Im epischen Gedicht wird die ›Katastrophe‹ im dritten Ton des Kunstcharakters dadurch aufgelöst, dass der erste Ton des Kunstcharakters auf ihn folgt und sich dieser Gegensatz in dem noch ausstehenden dritten Ton ›auflöst‹.178 Im naiven Stil bedeutet das, dass auf die ›idealische Katastrophe‹, auf den idealischen dritten Ton des Kunstcharakters, der naive Anfangston folgt und dieses Spannungsverhältnis in den heroischen Endton im Kunstcharakter übergeht.179 Im energischen Stil findet die naive Katastrophe ihren Gegensatz in dem heroischen Anfangston und löst sich somit in dem idealischen Endton auf, während die heroische Katastrophe im idealischen Stil den idealischen Anfangston als Gegensatz gebraucht und sich folglich im naiven Ton auflöst. Die abschließende Formulierung, »das epische Gedicht hört mit seinem anfänglichen Gegensaz […] auf«,180 bezieht sich dabei auf die Wiederholung der ersten beiden gegensätzlichen Töne im Kunstcharakter am Ende des Wechsels (naiv – heroisch im naiven Stil, heroisch – idealisch im energischen und idealisch – naiv im idealischen Stil). Geht »das tragische Gedicht« gegenüber dem epischen »um einen Ton weiter«,181 so ist das, wie erwähnt, als Realisation von sechs anstatt nur fünf Tönen beim epischen Gedicht zu verstehen. Dem entspricht auch die zweite Bestimmung, die in »Löst sich nicht …« für das tragische Gedicht gegeben wird, dass es nämlich »mit dem Tone seiner Katastrophe«182 endet. Besteht die Katastrophe jeweils im dritten Ton des Kunstcharakters,183 so ist dieser bei einer Folge von sechs Tönen jeweils mit dem letzten Ton des Kunstcharakters identisch. Im naiven Stil handelt es sich dabei um den idealischen, beim 178 179
180 181 182 183
Was einer ›Einlösung‹ gleichkommt. Vgl. »Löst sich nicht die idealische Katastrophe, dadurch, daß der natürliche Anfangston zum Gegensaze wird, ins heroische auf?« (MA, Bd. 2, S. 108; FHA, Bd. 14, S. 340; StA, Bd. 4,1, S. 238). Ebd. Ebd. Ebd. Die ›Katastrophe‹ kann somit nicht generell mit der »Mitte des Gedichts« identifiziert werden, wie das Holger Schmid (»Wechsel der Töne«. In: Hölderlin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart u. a. 2002, S. 118–127, hier S. 123) vornimmt, sondern muss mit dem dritten Ton im Kunstcharakter gleichgesetzt werden, denn die Mitte bildet dieser lediglich beim epischen Gedicht. Selbst bei der Interpretation von Lawrence Ryan (Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne. Stuttgart 1960, vgl. S. 115f.), nach der sämtliche Gattungen einen Wechsel von sieben Tönen verwirklichen und die letzten vier Tonkombinationen aus Grundton und Kunstcharakter von den ersten drei abweichen, wäre der dritte Ton, und somit nicht die Mitte, der Ton der Katastrophe, und der Umschlag würde zwischen dem dritten und dem vierten Ton, somit aus der Mitte heraus verschoben stattfinden.
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heroischen/energischen Stil um den naiven und beim idealischen Stil um den heroischen Ton. Das lyrische Gedicht hört dagegen »mit sich selber auf«,184 was sowohl auf die Entsprechung zwischen dem ersten und dem letzten Ton des Kunstcharakters bezogen werden kann als auch auf deren Verhältnis zum jeweiligen Grundton, das zu Beginn und zu Ende des Wechsels identisch ist. Im naiven Stil ist es der Gegensatz von heroischem Grundton und naivem Kunstcharakter, im heroischen Stil von idealischem Grundton und heroischem Kunstcharakter und im idealischen Stil von naivem Grundton und idealischem Kunstcharakter, so dass sich die Grund- und Anfangsmetapher des lyrischen Gedichts an seinem Ende wiederholt. Wird von dem lyrischen Gedicht außerdem gesagt, dass es »diesen Ton als Gegensaz«185 gebraucht und »auf diese Art, bei jedem Styl, in seinen Anfangston zurük[kehrt]«, so ist ›dieser Ton‹ derjenige, um den ›das tragische Gedicht‹ ›weiter‹ als das epische ›geht‹,186 somit der vorletzte Ton des lyrischen Gedichts (im naiven Stil ist dies der idealische Ton im Kunstcharakter, im heroischen der naive, im idealischen der heroische). ›Gebraucht‹ das lyrische Gedicht diesen Ton als ›Gegensatz‹, so ist damit die Spannung zu dem vorangehenden, drittletzten Ton gemeint, und dieser ›Gegensatz‹ löst sich in dem letzten Ton auf, der im lyrischen Gedicht folglich dem Anfangston entspricht. Besteht der Sinn des ›Tönewechsels‹ in der Selbstperpetuation des Gedichts aufgrund seiner inhärenten Spannungsverhältnisse, so fällt die ›Auflösung‹ der ›Katastrophe‹ beim epischen Gedicht mit der Selbstperpetuation des Endes des Gedichts in seinen letzten drei Tönen zusammen. Beim tragischen Gedicht geht die Dynamik der drei Endtöne gegenüber der Katastrophe ›um einen Ton weiter‹ (die letzten drei Töne folgen auf den Ton der Katastrophe), während das lyrische Gedicht den Endton des tragischen Gedichts als vorletzten Ton, als Gegensatz, gebrauchen muss, um in seinen ›Anfangston zurückkehren‹ zu können. In diesem Sinne könnte der Übergang von den Beschreibungen der ›Katastrophen‹ und ihrer Auflösungen im ›epischen Gedicht‹ zu dem ›tragischen Gedicht‹, das ›um einen Ton weiter gehet‹, gedeutet werden. Dennoch findet sich darin insofern eine Unschärfe, als man bei der Formulierung »Das tragische Gedicht gehet um einen Ton weiter«187 in direktem Bezug auf die vorausgehenden Ausführungen erwarten würde, dass sich die ›Katastrophen‹ und ihre Auflösungen in dem tragischen Gedicht um einen Ton verschieben würden. Diese Deutung zieht jedoch größere Verwerfungen nach sich, so dass die
184 185 186 187
MA, Bd. 2, S. 108; FHA, Bd. 14, S. 340; StA, Bd. 4,1, S. 238. Ebd. Vgl. ebd. Ebd.
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hier vorgeschlagene Möglichkeit sowohl innerhalb von »Löst sich nicht …« als auch mit den anderen poetologischen Entwürfen, »Die Empfindung spricht …« sowie »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …«, die größtmögliche Homogenität herstellt. ›Katastrophe‹ wurde ausgehend von den Ausführungen zum Tönewechsel in »Die tragische Ode …« und in Übereinstimmung mit dem etymologischen Wortsinn als ›Umwendung‹ oder ›Umkehrung‹ verstanden, und es wurde gezeigt, inwiefern sich diese Deutung auf die formale Darstellung des Tönewechsels beziehen lässt. Dies ist insofern der Fall, als der dritte Ton der Folge im Kunstcharakter als die ›Katastrophe‹ den Endpunkt eines Durchgangs durch alle drei Töne darstellt und somit eine ›Umwendung‹ zu dem Anfangston bedeutet, aus dem heraus sich ein erneuter Durchgang ergibt.188 Im Folgenden soll diesem Phänomen unter weniger formalen Gesichtspunkten nachgegangen werden. Unter Einbezug des Entwurfs »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« ist die ›Katastrophe‹ im tragischen Gedicht mit dem Umschlag von der Trennungs- in die erneute Vereinigungsbewegung zu identifizieren, durch die sich die zugrunde liegende ›intellectuale Anschauung‹ darstellt.189 Gestützt wird dieses Verständnis nicht nur durch die etymologisch vermittelte, sondern auch durch die unmittelbare Semantik, mit der dieser Umschlag beschrieben wird: […] so daß man sagen kann, wenn die Lebhaftigkeit, Bestimmtheit, Einheit der Theile wo sich ihre Ganzheit fühlt, die Grenze für diese übersteige, und zum Leiden [H. v. m.], und möglichst absoluter Entschiedenheit und Vereinzelung werde, dann fühle das Ganze in diesen Theilen sich erst so lebhaft und bestimmt, wie jene sich in einem ruhigern aber auch bewegten Zustande, in ihrer beschränkteren Ganzheit fühlen, (wie z. B. die lyrische (individuellere) Stimmung ist […]) […].190
Diesen Auslegungen zum tragischen Gedicht entspricht die Systematik der ›Katastrophe‹, die in dem dritten Ton der Folge stattfindet. Denn entspricht 188
189 190
›Katastrophe‹ lässt sich somit durchaus bereits bei den in »Die Empfindung spricht …« dargestellten Wechseln ansetzen und nicht erst bei den Auflistungen am Ende von »Löst sich nicht …« sowie den 具Poetologischen Tafeln典 (wobei diese jedoch eine Ebene höher anzusetzen sind, vgl. unten). Somit leuchtet die Argumentation von Holger Schmid (»Wechsel der Töne«. In: Hölderlin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart u. a. 2002, S. 118–127, hier S. 124) nicht ein, dass – falls »Löst sich nicht …« sowie die 具Poetologischen Tafeln典 nach den anderen Entwürfen entstanden wären – angenommen werden muss, dass Hölderlin »bis tief in das Jahr 1799 hinein« »unklar« geblieben sein müsste, »daß in der attischen Tragödie die von Aristoteles behandelte ›Peripetie‹, daß in der antiken Stillehre der ›Omphalos‹ oder daß in der ›Ilias‹ Zorn und Versöhnung Achills von fundamentaler Bedeutung sind« (S. 124). Ist zum einen die Gleichsetzung dieser Beispiele mit der ›Katastrophe‹ fraglich, so findet sich zum anderen die ›Katastrophe‹ auch schon in den Darstellungen in »Die Empfindung spricht …«, »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« sowie in den Erörterungen zum ›Empedokles‹Drama. Vgl. MA, Bd. 2, S. 105f.; FHA, Bd. 14, S. 371f.; StA, Bd. 4,1, S. 267ff. MA, Bd. 2, S. 105; FHA, Bd. 14, S. 371; StA, Bd. 4,1, S. 268.
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erstens die Grundform des tragischen Gedichts (als ›tragisch-dramatisches‹ bzw. tragisches Gedicht im energischen Stil) der Tonfolge ›idealisch – naiv – heroisch – idealisch – naiv – heroisch‹ im Grundton und der Reihe ›heroisch – idealisch – naiv – heroisch – idealisch – naiv‹ im Kunstcharakter; erreicht zweitens die Trennungsbewegung der Teile der ›intellectualen Anschauung‹ ihren Höheund Wendepunkt in dem »Leiden«, in »möglichst absoluter Entschiedenheit und Vereinzelung«191 und entspricht dieser Zustand drittens der »lyrische[n] (individuellere[n]) Stimmung«,192 so decken sich diese Beschreibungen mit dem dritten, heroischen Grundton und dem dritten, naiven Kunstcharakter der Grundform des tragischen Gedichts, somit mit dem Ton, der formal bereits als der Ton der ›Katastrophe‹ bestimmt wurde. Die Weise, wie sich diese ›Katastrophe‹ in den anderen beiden Gattungen vollzieht, wird in den poetologischen Entwürfen zwar nicht eigens dargestellt, aufgrund des Verhältnisses relativer Entgegensetzung, in dem sich die Gattungen und ihre Stile befinden, muss diese ›Umwendung‹ jedoch in relativer Verschiebung stattfinden. Somit wäre anzunehmen, dass sich in der Gattung des lyrischen Gedichts – jeweils relativ durch den Stil verstärkt oder abgeschwächt – in den ersten drei Tönen des Kunstcharakters ebenfalls eine Trennung vollzieht. Dies entspricht der Grundform des lyrischen Gedichts (als lyrisches Gedicht im idealischen Stil), wie sie in »Die Empfindung spricht …« zur Darstellung kommt. Die relative Einheit, die die Bedeutung der ›Empfindung‹ ist, findet ihre Darstellung in der ihr entsprechenden Trennung. Genau diese Trennungsbewegung beschreibt der Zusammenhang von ›Phantasie – Empfindung – Leidenschaft‹ in der ›Sprache‹,193 somit die Bewegung des Kunstcharakters von dem idealischen über den naiven hin zum heroischen Ton, in dem die größte Trennung stattfindet. Im epischen Gedicht verläuft – so lässt sich weiter ableiten – die Bewegung bis zur ›Katastrophe‹ im dritten Ton den bisher beschriebenen Bewegungen entgegengesetzt. Soll in ihm – wieder relativ gemildert oder verstärkt durch die jeweiligen Stile – die Bedeutung der ›Leidenschaft‹ zur Darstellung kommen, so kann sich auch diese lediglich vermittels ihres relativen Gegenteils, ihres harmonisch Entgegengesetzten, somit vermittels der Einheit bzw. der Vereinigungsbewegung darstellen. Entsprechend verzeichnet die Auflistung in »Die Empfindung spricht …« für das ›naive Gedicht‹ (d. i. die Grundform des Epischen als ›episches Gedicht‹ im naiven Stil) im Kunstcharakter die Bewegung vom naiven (»Empfindung«) über den heroischen (»Leidenschaft«) hin zum idealischen (»Phantasie«194) Ton, der das Höchstmaß an Einigkeit realisiert,
191 192 193 194
Ebd. Ebd. Vgl. MA, Bd. 2, S. 101; FHA, Bd. 14, S. 325; StA, Bd. 4,1, S. 270. Ebd.
216
das dem epischen Gedicht, auch durch die Trennung in dem vorhergehenden heroischen Ton hindurch, möglich ist. Die Auflistungen zu »das lyrische«, »das epische« sowie »das tragische«,195 die auf den ausformulierten Teil von »Löst sich nicht …« folgen, stellen die jeweiligen Anfangstöne in Bezug auf den Grundton (in der ersten Zeile) sowie den Kunstcharakter (in der zweiten Zeile) der verschiedenen Stile, wie sie in »Die Empfindung spricht …« zum Ausdruck kommen, dar: in Bezug auf »das lyrische« in der Reihenfolge idealisch – naiv – heroisch/energisch, hinsichtlich des tragischen Gedichts als heroisch/energisch – idealisch – naiv, bezüglich des epischen Gedichts in der Reihe naiv – heroisch/energisch – idealisch. An der Reihung der Stile, wie sie hier für jede Gattung vorgenommen wird, wird auch deutlich, dass sich die Auflistung der Töne nach Grundton und Kunstcharakter ebenso auf die ersten drei Töne in der Grundform der jeweiligen Gattung beziehen könnte. Da jedoch in dem unmittelbar vorangehenden Textabschnitt die Differenzierung nach Stilen vorgenommen196 und auf diese explizit Bezug genommen wird,197 scheint die Auslegung der in dem Text nicht näher spezifizierten Listen im Sinne der ersten Option naheliegender. Über sämtliche bisher ausgeführten Ansätze gehen die Schemata hinaus, die auf diese Auflistungen folgen.198 Finden sich auch hier unter den Sparten »Lyrisch«, »Tragisch« und »Episch« zunächst die Paare aus Grundton (als jeweils Erstgenanntes) und Kunstcharakter (in Großschreibung und im Druck gesperrt), die den bereits herausgearbeiteten Schemata entsprechen, so folgen nach dem Gedankenstrich jeweils Kombinationen, die sich aus keinem der bisherigen Ansätze ableiten lassen.199 195 196 197 198 199
MA, Bd. 2, S. 108; FHA, Bd. 14, S. 340; StA, Bd. 4,1, S. 238. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Lawrence Ryan (Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne. Stuttgart 1960) deutet diese Auflistungen als auf derselben Ebene befindlich wie die Ausführungen in »Die Empfindung spricht …« und »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …«, somit als Darstellung eines Wechsels innerhalb einer Gattung. Das erscheint jedoch sowohl im Zusammenhang mit den vorausgehenden Ausführungen in »Löst sich nicht …« als auch mit den nachfolgenden 具Poetologischen Tafeln典 problematisch. Denn »Löst sich nicht …« bezieht sich durchgängig nicht auf einen möglichen Wechsel oder den Grundwechsel innerhalb einer Gattung, sondern auf die Differenzierung der drei Gattungen in ihre Stile (so finden sich unter den ausformulierten Ausführungen zu den Stilen zunächst die Auflistungen der Anfangstöne der drei Grundstile der drei Gattungen, vgl. MA, Bd. 2, S. 108; FHA, Bd. 14, S. 340; StA, Bd. 4,1, S. 238, die in »Die Empfindung spricht …« und »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« ausgearbeitet sind). Auf diese abgekürzte Wiedergabe der drei Stile in den drei Gattungen folgen die Auflistungen von sieben Kombinationen von Grundton und Kunstcharakter. Diese bilden keine systematische Darstellung möglicher Stile (sonst dürfte die siebte Kombination nicht die vierte wiederholen), sondern sie realisieren wie die nachfolgenden Spalten Folgen von Wechseln, deren anfänglicher Gegensatz von Grundton und Kunstcharakter – entsprechend der Wiedergabe der Stile in den verschiedenen Gattungen – als ›Abkürzung‹ eines ganzen Wechsels angesehen werden muss. Sowohl die Auflistungen zu Ende von »Löst sich nicht …« als auch
217
7.
具Poetologische Tafeln典 und ihr Bezug zu den Erörterungen im Umkreis des ›Empedokles‹-Dramas
Diese Gesamtfolgen finden sich auch in den 具Poetologischen Tafeln典.200 Auf die Spalten »L.« für ›Lyrisch‹, »T.« für ›Tragisch‹ sowie »N.«201 für ›Naiv‹ (somit ›Episch‹) mit ihren internen Unterteilungen in zwei Spalten für Grundton (links) und Kunstcharakter (rechts) sowie sieben Zeilen folgen Matrizen von Tönen (sieben Zeilen à sieben Töne). Dabei führt die jeweilige Zeile der Matrix den Wechsel im Kunstcharakter aus, der der Kombination aus Grundton und Kunstcharakter in den obigen Zeilen der Spalten »L.«, »T.« und »N.« entspricht.202 Aufgrund dieses Umstandes liegt es – entsprechend den bisherigen Auslegungen – nahe, die Tonkombinationen sowohl in den Auflistungen am Ende von »Löst sich nicht …« als auch in den Spalten der 具Poetologischen Tafeln典 als Angabe der jeweiligen Anfangskombination von Grundton und Kunstcharakter eines Wechsels und nicht als den gesamten Wechsel zu betrachten. Unter den Gattungsbezeichnungen »L.«, »T.« und »N.« folgen somit sieben in der jeweiligen Gattung mögliche Wechsel, die jeweils mit ihrer Anfangskombination von Grundton und Kunstcharakter angegeben werden. Dabei entsprechen die jeweils drei erstgenannten den in »Die Empfindung spricht …« aufgelisteten Stilen. Wie bereits erwähnt, fügen die Kombinationen, die auf den Gedankenstrich bzw. die Verbindungsstriche in den Spalten folgen (somit die Kombinationen vier bis sieben), diesen drei Grundstilen jeweils drei neue hinzu. Der Umstand, dass der jeweils zuletzt angegebene Stil die vierte Option wiederholt, deutet jedoch darauf hin, dass es sich nicht lediglich um eine systematische Auflistung der möglichen Stile handelt, sondern um den formalen Entwurf einer Kombination verschiedener Tonfolgen zu einem Ganzen in jeder Gattung.203 Mit diesen könnten sowohl Dichtungen als Ganze wie auch ein-
200 201 202
203
die Spalten in den 具Poetologischen Tafeln典 sind gegenüber der Erörterung einzelner Wechsel in »Die Empfindung spricht …« und »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« auf umfassenderer Ebene angesiedelt. Vgl. MA, Bd. 2, S. 109; FHA, Bd. 14, S. 341; StA, Bd. 4,1, S. 239f. Ebd. Der Umstand, dass in der MA wie in der FHA diese Matrizen unmittelbar unter den Auflistungen »L.«, »T.« und »N.« und somit nebeneinander angeordnet sind, während die Matrizen in der StA untereinander gestellt werden, ist nicht maßgeblich, insofern sich in der Handschrift (vgl. FHA, Bd. 14, S. 336) eine dritte Anordnung findet. Lawrence Ryan (Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne. Stuttgart 1960) sieht diese Differenzierung nicht und behandelt die abschließenden Auflistungen in »Löst sich nicht …« sowie die Tontabellen in den 具Poetologischen Tafeln典 unausdrücklich als Darstellung eines Wechsels, der auf derselben Ebene angesiedelt ist wie die Ausführungen in »Die Empfindung spricht …« und »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« (vgl. S. 115ff.). Auch die Interpretation der Matrizen in den 具Poetologischen Tafeln典 fällt verkürzt aus, wenn er sie lediglich als »weitere Tonreihen« auffasst, »in denen [im Vergleich zu den Tabellen in den 具Poetologischen Tafeln典, M. H.] aber die Zweiheit von Grundton und Kunstcharakter wegfällt und nur der Kunstcharakter festgehalten wird« (S. 119).
218
zelne Charaktere bezeichnet werden. Dafür sprechen die Anmerkungen »Ajax oder umgekehrt […] Antigonä«,204 die sich unter den Auflistungen finden. Die ›Verwechslung‹ von Grundton und Kunstcharakter, die in dem Übergang von der dritten zur vierten Kombination stattfindet, kann in dem Sinne einer ›Katastrophe‹ verstanden werden, allerdings lediglich auf einer höheren Ebene als derjenigen, die zu Beginn von »Löst sich nicht …« dargestellt wird. Die Auflistungen zu Ende von »Löst sich nicht …« bewegen sich bereits auf derselben, übergeordneten Ebene wie die 具Poetologischen Tafeln典.205 Findet die ›Katastrophe‹ gemäß des Beginns von »Löst sich nicht …« innerhalb der Reihung des Kunstcharakters statt, genauer gesagt in dem dritten Ton, so wäre die ›Umwendung‹, die sich in den 具Poetologischen Tafeln典 findet, umfassender. Zugleich muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass die einzelnen Wechsel, die in den Matrizen angegeben werden, in allen Gattungen jeweils sieben Töne realisieren und hier die Gattungsdifferenzierung nach der Länge der Wechsel, die sich zu Beginn von »Löst sich nicht …« findet, nicht durchgeführt wird.206 Auch befindet sich die Zäsur bzw. die Katastrophe in den Matrizen
204 205
206
MA, Bd. 2, S. 109; FHA, Bd. 14, S. 341; StA, Bd. 4,1, S. 239. Lawrence Ryan (Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne. Stuttgart 1960) erkennt diese Verschiebung der Ebene nicht, gibt jedoch eine Erklärung für den Umschlag von Grundton und Kunstcharakter, die sich auch auf die höhere Ebene anwenden lässt und auf dieser der ›Zäsur‹ bzw. der ›gegenrhythmischen Unterbrechung‹ entspricht, die in den ›Anmerkungen zur Antigonä‹ genannt wird (MA, Bd. 2, S. 369; FHA, Bd. 16, S. 411; StA, Bd. 5, S. 265, vgl. auch die Anmerkungen »Ajax oder umgekehrt […] Antigonä«, MA, Bd. 2, S. 109; FHA, Bd. 14, S. 341; StA, Bd. 4,1, S. 239, zu der mittleren Spalte in den 具Poetologischen Tafeln典). Nach Ryan erfolgt die direkte Umkehrung von Grundton und Kunstcharakter zwischen dem dritten und dem vierten Ton (in unserer Interpretation zwischen dem dritten und dem vierten Wechsel) deshalb, weil »nur durch die genaue Umkehrung des dritten Tons der unendliche Augenblick und der Umschlag in den Anfangston in ihrer Unzertrennlichkeit und gegenseitigen Abhängigkeit wiederzugeben waren« (S. 116, vgl. auch S. 115), gibt jedoch nicht an, warum das genau der Fall sein soll. Außerdem sieht er in dieser neuen Gestaltung des Verhältnisses von Grundton und Kunstcharakter nach der ›Katastrophe‹ eine Abschwächung des Gegensatzes, die für den zweiten Durchgang, oder wie Ryan es nennt, »›Kreis‹ überhaupt kennzeichnend« (ebd.) sei. Diesen letzten Punkt arbeitet er im Folgenden (vgl. S. 117f.) genauer aus. Ryan sieht ebenfalls den Bezug zwischen der ›Zäsur‹ in den ›Sophokles-Anmerkungen‹ und dem ›göttlichen Moment‹: »Hier wie dort fällt der (negative) Stillstand der Bewegung mit dem (positiven) Fühlbarwerden des Unendlichen zusammen« (S. 126), während Holger Schmid (»Wechsel der Töne«. In: Hölderlin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart u. a. 2002, S.118–127) behauptet, die Katastrophe sei »von der tragischen ›Zäsur‹ scharf zu unterscheiden« (S. 124f.) und bringt sie stattdessen mit Aristoteles’ ›Peripetie‹, ›Omphalos‹ sowie dem ›Zorn‹ und der ›Versöhnung‹ Achills in der ›Ilias‹ in Verbindung (vgl. S. 124). Lawrence Ryan (Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne. Stuttgart 1960) weist auf diese Verwerfung hin und deutet sie entsprechend seinem Ansatz dahingehend, dass die mögliche Verkürzung der Wechsel in den verschiedenen Gattungen im Laufe des Entwurfs von »Löst sich nicht …« und der 具Poetologischen Tafeln典 aufgegeben wird (vgl. S. 124). Seinem Schluss, dass »die abschließenden Tabellen als das einzig sichere Ergebnis zu werten« (ebd.) seien, und zwar vor allem deshalb, »weil sie allein den sonstigen theoretischen Äußerungen Hölderlins konform sind« (ebd.), kann jedoch nicht zugestimmt werden, denn sie widersprechen in der direkten Vertauschung von Grundton und Kunstcharakter im Übergang von dem dritten zum vierten
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sowohl für das lyrische Gedicht (eindeutig) als auch für das tragische Gedicht (nachträglich geändert) nicht nach dem dritten, sondern nach dem vierten Ton.207 Hier muss somit nochmals der Charakter der Hölderlin’schen Entwürfe zu den ›Tönen‹ in Betracht gezogen werden, die sich – gerade in allen Versuchen, sie als homogen zu betrachten – als Selbstvergewisserungen in einem Reflexions- und Experimentierprozess und eben nicht als Ausdruck einer vollständig durchgearbeiteten und bestimmten ›Lehre‹ erweisen.208 Dafür spricht auch, dass die in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«, in »Die Empfindung spricht …« und in »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« transzendental hergeleitete und konsequent angewandte Auffassung von ›Metapher‹, dass sich nämlich der heroische Grundton im naiven Kunstcharakter, der idealische im heroischen und der naive im idealischen äußern muss, am Ende von »Löst sich nicht …« und in den 具Poetologischen Tafeln典 unterlaufen wird. Denn dort kann sich der heroische Grundton auch im idealischen, der idealische im naiven, der naive im heroischen ausdrücken. Darauf weist auch Ryan209 hin, nimmt dies jedoch sofort wieder in eine einheitliche Konzeption zurück,210 wobei er – wie erwähnt – die Differenz der Ebenen zwischen den unterschiedlichen Entwürfen nicht beachtet. Findet sich in den 具Poetologischen Tafeln典 zwar explizit der Verweis auf »Antigonä«,211 so lässt sich der Bezug zu den ›Anmerkungen‹ hinsichtlich kon-
207
208
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211
Tonpaar sowohl den Ausführungen in »Die Empfindung spricht …«, in »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« als auch der Konzeption in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«. Auch Ryan selbst hat darauf zum Teil hingewiesen (vgl. S. 115f.). Dies als Schwanken Hölderlins zu deuten, ist völlig berechtigt (vgl. Lawrence Ryan: Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne. Stuttgart 1960, S. 119), jedoch unterschlägt Ryan die Verwerfung zu den sonstigen (und somit auch seinen) Ausführungen, indem er behauptet, die Zäsur nach dem vierten Ton hätte Hölderlin gesetzt, »um die Möglichkeit eines Abschlusses des Gedichts an diesem Punkt anzudeuten« (S. 119f.), was jedoch einer plötzlich völlig anderen Deutung der Striche in Hölderlins Manuskript gleichkommt. Das ist selbstverständlich nur der Fall, wenn man das Augenmerk auch auf den ›Rest‹ selbst lenkt und diesen weder zu verschweigen, noch ihn in zum Teil erheblich unsicheren Konstruktionen aufzuheben versucht. Lawrence Ryan: Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne. Stuttgart 1960, S. 115f. So werden eventuelle Verwerfungen nicht mit dem experimentellen Charakter der Entwürfe und der grundsätzlichen Suchbewegung, sondern mit den Grenzen der tabellarischen Darstellung erklärt, die »in mancher Hinsicht die Intention des Dichters nur andeuten können« (S. 116). Eine andere Vorgehensweise zeigt Ryan jedoch in Bezug auf die tabellarischen Auflistungen zum ›Tragischen‹ in den 具Poetologischen Tafeln典 (vgl. S. 121), auch wenn diese ganz zum Schluss in einem Klammerzusatz – nicht ganz überzeugend – wiederum ins »Positive[…]« (ebd.) gewendet werden: »Aber auch in diesem negativen Ergebnis birgt sich etwas Positives – liegt doch diesem Variierungsversuch die Einsicht zugrunde, die meistens so regelmäßig durchgeführten Tonreihen seien doch nicht so inflexibel, daß die Möglichkeit empirisch vorhandener Abweichungen ausgeschlossen wäre« (S. 121). MA, Bd. 2, S. 109; FHA, Bd. 14, S. 341; StA, Bd. 4,1, S. 239.
220
kreter Tonfolgen jedoch kaum herstellen. Von diesem Hinweis, wie auch von dem Bezug auf »Ajax«,212 lässt sich jedoch ableiten, dass es sich bei den Auflistungen in den 具Poetologischen Tafeln典 um eine Reihe von Tonwechseln handelt, die sich auf ein größeres Werk oder auf den Protagonisten als ›Zentralcharakter‹ (in dem sich der ›Grundton‹ manifestiert) bezieht. Die ausführlichsten Beschreibungen zu Gegensatzverhältnissen und dem Phänomen der Umkehrung bzw. der ›Verwechslung‹ finden sich im Kontext des ›Empedokles‹-Dramas, und hier vor allem in dem Abschnitt ›Grund zum Empedokles‹ (die Ausführungen in dem vorigen Kapitel hatten den ›Allgemeinen Grund‹ und die ›tragische Ode‹, somit das ›lyrische Gedicht‹ im ›energischen‹ Stil, zum Gegenstand). Zudem bezieht sich ›Grund zum Empedokles‹ auf den Gesamtentwurf des Dramas und den Protagonisten Empedokles, so dass es möglich scheint, den Zusammenhang mit den 具Poetologischen Tafeln典 herzustellen. Im Folgenden werden mögliche Zuordnungen aufgewiesen, doch muss deren heuristischer Charakter im Bewusstsein gehalten werden, und es wird sich zeigen, dass die Übertragungen vor allem in Bezug auf den letzten in den 具Poetologischen Tafeln典 angeführten Wechsel nicht ohne Verwerfungen möglich sind. Als ›tragischdramatisches‹ Gedicht stellt das ›Empedokles‹-Drama ein tragisches Gedicht im energischen Stil dar. Entsprechend der Auflistung in »Die Empfindung spricht …« müsste es mit dem Gegensatz von idealischem Grundton und heroischem Kunstcharakter beginnen. Der von diesem Grundgegensatz implizierte Wechsel im Kunstcharakter (heroisch – idealisch – naiv – heroisch – idealisch – naiv – heroisch) ist in der ersten Zeile der Matrix unter »T.«213 für ›tragisch‹ dargestellt und entspricht insofern dem für »Die Empfindung spricht …« herausgearbeiteten Wechsel für das ›energische Gedicht‹. Auch die folgenden beiden Zeilen, die Kombination von naivem Grundton und idealischem Kunstcharakter sowie von heroischem Grundton und naivem Kunstcharakter sowie deren Wechsel im Kunstcharakter in der Matrix entsprechen den bisherigen Ausführungen. Anders – wie bereits angedeutet – die Zeilen vier bis sieben. Dennoch soll hier der Versuch eines Bezuges zwischen ›Grund zum Empedokles‹ und diesen Reihen von Wechseln dargestellt werden. Dem tragischen Gedicht liegt die höchste Einheit, eine ›intellectuale Anschauung‹ zugrunde, die sich lediglich vermittels der Trennung darstellen kann. Im Falle des ›Empedokles‹-Dramas ist dieser Grund die innigste Einheit von Natur und Kunst, die sich – wie in dem Abschnitt ›Allgemeiner Grund‹214 ausgeführt – in dem Charakter der Hauptfigur des Dramas manifestieren muss: 212 213 214
Ebd. MA, Bd. 2, S. 109; FHA, Bd. 14, S. 341; StA, Bd. 4,1, S. 239. Vgl. »die zum Grunde liegende Totalempfindung [verräth] [sich] am meisten […] in der Hauptperson, die den Ton des Drama angiebt« (MA, Bd. 1, S. 867; FHA, Bd. 13, S. 870; StA, Bd. 4,1, S. 151), und zugleich – so der Kontext – ›verleugnet‹ sie sich darin auch.
221
So ist Empedokles ein Sohn seines Himmels und seiner Periode, seines Vaterlandes, ein Sohn der gewaltigen Entgegensezungen von Natur und Kunst in denen die Welt vor seinen Augen erschien. Ein Mensch, in dem sich jene Gegensäze so innig vereinigen, daß sie zu Einem in ihm werden, daß sie ihre ursprüngliche unterscheidende Form ablegen und umkehren […].215
Liegt dem ›tragischen Gedicht‹ die höchste Einheit von Natur und Kunst in der ›intellectualen Anschauung‹ zugrunde (Grundton: idealisch) und muss sich diese zugleich verleugnen, so kann sie sich lediglich vermittels der Trennung ›darstellen‹ (Kunstcharakter: heroisch). Im ›tragischdramatischen‹ Gedicht ist die Einheit und Spannung der Gegensätze extrem, so dass sich diese gleich am Anfang, in der ›intellectualen Anschauung‹, ›verwechseln‹: Soll es [das Leben als die Einheit harmonischer Entgegensetzung von Kunst bzw. Mensch und Natur, M. H.] erkennbar seyn, so muß es dadurch sich darstellen, daß es im Übermaaße der Innigkeit, wo sich die Entgegengesezten verwechseln, sich trennt […].216
Dieses Grundverhältnis deckt sich mit dem Wechsel, der in der ersten Zeile der 具Poetologischen Tafeln典 unter »T.« mit dem Grundton ›idealisch‹ und dem Kunstcharakter ›heroisch‹ angedeutet ist. Dadurch ist der gesamte Wechsel im Kunstcharakter, wie er in der ersten Zeile der zugeordneten Matrix ausgeführt ist, impliziert. Geschieht diese ›Trennung‹, so wird die zugrunde liegende Einheit eine gemäßigte, was einem Übergang zum naiven Grundton (zweite Zeile) gleichkommen könnte, der sich im idealischen Kunstcharakter darstellt. Diese Trennung setzt sich fort, bis die Entgegengesetzten in das Extrem der Vereinzelung gelangen (heroischer Grundton in der dritten Zeile), in dem sich die Beteiligten zwar in größtmöglicher Weise als sie selbst realisieren,217 was aufgrund des Verhältnisses harmonischer Entgegensetzung jedoch eine Umkehrung (›Katastrophe‹) von der Trennungs- in eine Annäherungsbewegung zur Folge hat (vgl. die ›Vertauschung‹ von Grundton und Kunstcharakter im Übergang von der dritten in die vierte Zeile): […] das besondere [d. i. das Organische, M. H.] auf seinem Extrem [muß] gegen das Extrem des aorgischen sich thätig immer mehr verallgemeinern, immer von seinem Mittelpuncte sich reißen […], das aorgische [muß] gegen das Extrem des besondern sich immer mehr concentriren und immer mehr einen Mittelpunct gewinnen und zum besondersten werden […].218
215 216 217 218
MA, Bd. 1, S. 870; FHA, Bd. 13, S. 872; StA, Bd. 4,1, S. 154. ›Grund zum Empedokles‹, MA, Bd. 1, S. 868; FHA, Bd. 13, S. 870; StA, Bd. 4,1, S. 152. Vgl. MA, ebd.; FHA, Bd. 13, S. 870f.; StA, Bd. 4,1, S. 152f. MA, Bd. 1, S. 869; FHA, Bd. 13, S. 871; StA, Bd. 4,1, S. 153.
222
Die Annäherung geschieht somit dadurch, dass die Entgegengesetzten ihre eigene Bestimmtheit immer mehr ablegen und die des anderen annehmen. Die daraus folgende Mäßigung der Spannung kann mit dem naiven Grundton (Zeile vier) in Verbindung gebracht werden. Nimmt diese Annäherung jedoch weiter zu, so hat sie in ihrem Extrem219 den »Tod des Einzelnen« zur Folge »wo das organische seine Ichheit, sein besonderes Daseyn, das zum Extreme geworden war, das aorgische seine Allgemeinheit […] in realem höchsten Kampf ablegt«.220 ›Höchster Kampf‹ bedeutet der End- und Wendepunkt dieser Bewegung deshalb, weil die Spannung zwischen der ursprünglichen Bestimmtheit der Entgegengesetzten und ihrer Entwicklung innerhalb der Bewegung ständig zunimmt, bis sie in dem Umschlags- und Wendepunkt, der ›Vertauschung‹ der Gegensätze, kulminiert. Denn werden die Entgegengesetzten zu dem jeweils anderen, schlagen sie somit ineinander um, so ›ist‹ dies die höchste denkbare Spannung.221 Dies kann – entsprechend dem vorigen Extremzustand – wiederum als heroischer Grundton gedeutet werden, der sich in den 具Poetologischen Tafeln典 in Zeile fünf findet. Eine Versöhnung innerhalb dieses ›Zustandes‹ ›scheint‹ deshalb ›wirklich‹, weil in diesem Extrem entsprechend dem Verhältnis harmonischer Entgegensetzung ein Umschlag in das wiederum andere, somit in die eigene Bestimmtheit stattfinden muss: In dem Extrem des anderen scheint […] das aorgisch gewordene organische sich selber wieder zu finden und zu sich selber zurükzukehren […] und das Object, das Aorgische sich selbst zu finden […], indem es auch zugleich das Organische auf dem höchsten Extreme des Aorgischen findet, so daß in diesem Moment, in dieser Geburt der höchsten Feindseeligkeit die höchste Versöhnung wirklich zu seyn scheint.222
In dieser Weise der ›Vereinigung‹, in der die Entgegengesetzten das jeweils andere geworden sind, könnte der Moment höchster Einheit bestehen. Doch ist gerade dies nicht der Fall, da das jeweils ›Eigene‹ aus dem Extrem des anderen entspringt223 und der Moment der scheinbar höchsten Versöhnung somit mit der ›Geburt‹ der höchsten Feindseligkeit identifiziert werden muss: »so daß in
219 220 221 222
223
Vgl. den Superlativ »zum besondersten«, ebd. MA, Bd. 1, S. 869; FHA, Bd. 13, S. 871; StA, Bd. 4,1, S. 153 (»[…] geworden war; das aorgische […]«). Dem entsprechen genau die Spannungs- und Bewegungsverhältnisse in der Kreisformation, wenn sie von ihrer Genese aus dem Bogen her gedacht werden. MA, Bd. 1, S. 869; FHA, Bd. 13, S. 871; StA, Bd. 4,1, S. 153f. (»[…] das Aorgische sich selbst zu finden […], indem es in demselben Moment, wo es Individualität annimmt, auch zugleich das Organische auf dem höchsten Extreme des Aorgischen findet, so dass in diesem Moment, […]«). Die Abweichungen zwischen der StA und den anderen Ausgaben gestalten sich derart, dass sich zwar kein grundsätzlicher Sinnunterschied ergibt, der Sachverhalt in der StA jedoch deutlicher wird. Vgl. die »aorgischentsprungene Individualität« und die »organischentsprungene Allgemeinheit«, MA, ebd.; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 154.
223
diesem Moment, in dieser Geburt der höchsten Feindseeligkeit die höchste Versöhnung wirklich zu seyn scheint«.224 Der ›Schein‹ ›höchster Versöhnung‹ entspricht genau der Definition des idealischen Kunstcharakters, der mit dem heroischen Grundton in Zeile fünf kombiniert wird. Die in dem Moment entsprungenen ›Keime‹ des jeweils Eigenen ›scheinen‹ sich – entsprechend der mutmaßlichen Einheit – auf sich selbst hin zu verstärken,225 so dass aus dem idealischen Kunstcharakter ein naiver (Zeile sechs) hervorgeht. ›Eigentlich‹, d. h. im Grundton, findet jedoch die entgegengesetzte Bewegung, nämlich die auf das andere hin statt: […] auf die Eindrüke des organischen [wird] die in dem Moment enthaltene aorgischentsprungene Individualität wieder aorgischer, auf die Eindrüke des aorgischen wird die in dem Moment enthaltene organischentsprungene Allgemeinheit wieder besonderer, so daß der vereinende Moment [der idealische Kunstcharakter, vgl. oben, M. H.], wie ein Trugbild, sich immer mehr auflöst […].226
Die ›eigentliche‹ Bewegung der Entgegengesetzten und die Auflösung, der ›Tod‹, des scheinhaft ›vereinenden Moments‹, d. h. »daß er aorgisch gegen das organische reagirt, immer mehr von diesem sich entfernt«,227 führt dazu, dass dieser ›Moment‹ eine wirkliche Vereinigung der Entgegengesetzten hervorbringt, er »die kämpfenden Extreme [heroischer Grundton in der fünften Zeile, M. H.] aus denen er hervorgieng, schöner versöhnt und vereiniget, als in seinem Leben«.228 Dies entspricht dem idealischen Grundton, der in Zeile sechs auf den heroischen folgt. In diesem ist die Einheit harmonischer Entgegensetzung ›zu sich‹ gekommen, d. h. das Übermaß der ›Einigkeit‹ wird korrigiert: »der glükliche Betrug der Vereinigung [hört] in eben dem Grade auf[…], als er zu innig und einzig war«, und »die Innigkeit des vergangenen Moments [geht] nun allgemeiner gehaltner unterscheidender, klarer hervor[…]«.229 Sind die vorgenommenen Zuordnungen nur unter Vorbehalt möglich, so findet sich in diesen zudem insofern eine Verwerfung, als die ›zu sich‹ gekommene ›Innigkeit‹ auch dadurch charakterisiert wird, dass »das Göttliche nicht mehr sinnlich erscheint«.230 Dies würde jedoch bedeuten, dass der idealische Kunstcharakter (Zeile fünf ) mit der sinnlichen Erscheinung identifiziert werden müsste. Diese kommt jedoch nicht dem idealischen, sondern dem nai-
224 225
226 227 228 229 230
MA, ebd.; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 153f. (»[…] so daß in diesem Moment, in dieser Geburt der höchsten Feindseeligkeit die höchste Versöhnung wirklich zu seyn scheint […]«). Vgl. »so wie also die Versöhnung da zu seyn scheint, und das organische nun wieder auf seine Art, das aorgische auf die seinige auf diesen Moment hin wirkt […]«, MA, ebd.; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 154. Ebd. Ebd. Ebd. MA, Bd. 1, S. 870; FHA, Bd. 13, S. 871f.; StA, ebd. MA, ebd.; FHA, Bd. 13, S. 871; StA, ebd.
224
ven Kunstcharakter zu. Der naive Kunstcharakter (Zeile sechs) folgt in den 具Poetologischen Tafeln典 zwar auf den idealischen, jedoch in Kombination mit dem idealischen Grundton, der gerade die in ihr Maß gekommene ›Innigkeit‹ repräsentiert, so dass die ›sinnliche Erscheinung des Göttlichen‹ hier nicht als Charakteristikum einer unmäßigen Vereinigung gelten dürfte. Eine Möglichkeit, diese Verwerfungen aufzulösen, besteht zwar darin, auch den letzten Wechsel in den 具Poetologischen Tafeln典, den naiven Grundton und den heroischen Kunstcharakter, auf den ›Grund zum Empedokles‹ zu beziehen, doch müsste dann die zuletzt erreichte maßvolle ›Innigkeit‹ mit dem naiven Grundton identifiziert werden, was aufgrund der Charakteristika des ›Naiven‹ und der Beschreibungen der ›Innigkeit‹ kaum möglich ist.
8.
›Poetische Darstellung‹ und ›Stoff‹ ausgehend von Hölderlins 具Rezension zu Siegfried Schmids ›Heroine‹典
Beziehen sich die poetologischen Erörterungen vorwiegend auf die Töne und kommt der Stoff somit lediglich vermittelt zur Geltung (auch in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« werden die verschiedenen Stoffarten ausschließlich im Kontext der subjektiven Begründung dargestellt), so kommt dieser in Hölderlins 具Rezension zu Siegfried Schmids ›Heroine‹典 explizit zum Tragen. Nach »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« erfolgt die Wahl des Stoffs durch den Dichter, »um die Töne seines Geistes zu bezeichnen, aus seiner Stimmung das zum Grunde liegende Leben durch diß verwandte Zeichen hervorzurufen«.231 Das Problem bei diesem Zeichen besteht jedoch darin, dass der Stoff aus dem Zusammenhang des Lebens gerissen werden muss, um überhaupt ›Zeichen‹, ein Idealisch-Sprachliches, werden zu können, somit gerade nicht in der Lage zu sein scheint, das ›zugrunde liegende Leben‹ ›hervorzurufen‹.232 In der 具Rezension zu Siegfried Schmids ›Heroine‹典 wird dieses Grundproblem des poetischen Prozesses – wie etwas undeutlicher in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« sowie in der Widmung in den ersten Band des ›Hyperion‹ an Suzette Gontard233 – als die Notwendigkeit gefasst, dass 231 232
233
MA, Bd. 2, S. 99; FHA, Bd. 14, S. 321; StA, Bd. 4,1, S. 264. Hierin ist wiederum das Grundproblem angesprochen (das in Hölderlins Poetik durch die paradoxe Struktur des ›Sowohl-als-auch‹ gelöst wird), dass das ›Zeichen‹, die Darstellung, in sich zugleich es selbst, Zeichen, Darstellung, Idealisches und das andere seiner selbst, der Stoff, das Dargestellte, das Nicht-Idealische, sein muss. Vgl. »›Der Einfluß edler Naturen ist dem Künstler so nothwendig, wie das Tagslicht der Pflanze, und so wie das Tagslicht in der Pflanze sich wiederfindet, nicht wie es selbst ist, sondern nur im bunten irrdischen Spiele der Farben, so finden edle Naturen nicht sich selbst, aber zerstreute Spuren ihrer Vortrefflichkeit in den mannigfaltigen Gestalten und Spielen des Künstlers‹« (MA, Bd. 3, S. 316; FHA, Bd. 19, S. 278; StA, Bd. 2, S. 359, H. v. m.).
225
der Dichter »bei jedem Stoffe den er wählen möchte, immer ein Fragment des Lebens aus dem lebendigen Zusammenhang reißen und zur Behandlung wählen muß«.234 Dieser Umstand sowie die Einsicht des Künstlers in diesen235 ist es, »was ihn zum Künstler macht, was nemlich den Grund enthält zum Vortrag seines Gedichts«.236 Dieser zentrale poetische Akt sowie dessen Problematik wird in der ›Rezension‹ genauer beschrieben: wird der Stoff seines »lebendigen Zusammenhangs« entrissen, so erscheint er sowohl ›überschwinglich‹ als auch ›einseitig‹,237 d. h. er hält sich »zwischen Extremen«.238 Damit der Stoff nun dennoch zum Zeichen für das der Stimmung und ihm selbst zugrunde liegende Leben im Gedicht werden kann, muss dieser »Kontrast des Überschwinglichen und Einseitigen«239 in dem Gedicht ausgemittelt werden. Dies geschieht dadurch, dass der Dichter erstens […] jenen Kontrast in reinen Gegensäzen gleichmäßig und scharf genug darstellt; denn [zweitens, M. H.] dadurch, daß er ihn hinlänglich begründet und motivirt, und endlich [drittens, M. H.] dadurch, daß er alle Theile des Stoffs in die möglichste durchgängige Beziehung sezt […].240
Die Weise der Darstellung des Stoffs im Gedicht ist es somit, welche die Fragmentierung und somit die Verzerrung des Stoffes in der Isolation von seinem Lebenszusammenhang ausgleichen muss. Siegfried Schmids ›Heroine‹ wird von Hölderlin indirekt als Komödie charakterisiert.241 Behandelt »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« das Drama zwar lediglich unter dem Schwerpunkt der Tragödie und scheint dadurch der Bezug auf Hölderlins Rezension der ›Heroine‹ nicht unmittelbar möglich, so wird in »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« jedoch deutlich, dass der Tonwechsel einer konkreten Dichtung stets dem Stil entspricht, den ›das Gedicht‹ ausprägt. Im Zusammenhang mit den Ausführungen in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« sowie in »Die Empfindung spricht …« betrachtet, realisiert ›Heroine‹ nach Hölderlins Rezension den idealischen Stil, der in »Die Empfindung spricht …« als ›idealisches Gedicht‹ dargestellt wird. Denn ›Heroine‹ wird charakterisiert als
234 235 236 237 238 239 240 241
MA, Bd. 2, S. 111f.; FHA, Bd. 14, S. 375; StA, Bd. 4,1, S. 288f. Vgl. MA, Bd. 2, S. 111; FHA, ebd.; StA, ebd. MA, Bd. 2, S. 112; FHA, ebd.; StA, Bd. 4,1, S. 289. Vgl. ebd. MA, ebd.; FHA, Bd. 14, S. 376 (»[…] zwischen Extremen […]«); StA, ebd. MA, ebd.; FHA, Bd. 14, S. 375; StA, ebd. MA, ebd.; FHA, Bd. 14, S. 375f. (»[…] begründet und motivirt […]«); StA, ebd. Vgl. MA, Bd. 2, S. 111; FHA, Bd. 14, S. 374f.; StA, Bd. 4,1, S. 288.
226
[…] treues, aber dichterischgefaßtes und künstlerischdargestelltes Abbild des sogenannten gewöhnlichen, das heißt, desjenigen Lebens welches in schwächeren und entfernteren Beziehungen mit dem Ganzen steht, und eben darum dichterisch begriffen unendlich bedeutend, an sich in hohem Grade unbedeutend sein muß.242
Zudem wird der Stoff »in der Idylle und Komödie, und Elegie« gemäß der Rezension »am meisten aus der Wirklichkeit genommen«.243 Ist die gesamte Komödie das ›Abbild‹ einer bestimmten Art von ›Leben‹, so muss dieses ›Leben‹ dem Grundton der Dichtung entsprechen. Dessen Beschreibung deckt sich mit dem Naiven (›Empfindung‹, ›Wirklichkeit‹, ›gewöhnliches Leben in schwächeren und entfernteren Beziehungen mit dem Ganzen‹, ›an sich in hohem Grade unbedeutend‹), das somit Grundton wird, und die Charakterisierung der künstlerischen Darstellung (›dichterisch begriffen unendlich bedeutend‹) spricht für den idealischen Kunstcharakter (›Phantasie‹). Dieser Grundgegensatz wird in »Die Empfindung spricht …« für den idealischen Stil geltend gemacht. Dieser realisiert folgende Tonverhältnisse:244 Grundton: Kunstcharakter:
naiv idealisch
heroisch naiv
idealisch heroisch
naiv … idealisch …
In Verbindung mit »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« und »Die Empfindung spricht …« wird jedoch darüber hinaus deutlich, dass sich der Ausdruck ›Stoff‹ in der Rezension auf verschiedene Stoffarten in den verschiedenen Phasen des poetischen Prozesses bezieht. Erscheint ›Stoff‹ in der Rezension nämlich auch als dasjenige, »was […] den Grund enthält zum Vortrag seines [des Dichters] Gedichts«,245 so muss der dort erwähnte Stoff derjenige sein, der nach »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« in der ›objektiven Begründung‹, d. h. als ›Grund‹ für die konkrete Sprachfindung, gewählt wird. Dieser erscheint in »Die Empfindung spricht …« als dasjenige, »vermittelst«246 der Grundton zur Geltung kommt. Der Stoff, der zur ›idealischen Behandlung‹ für das ›lyrische‹ bzw. ›idealische‹ Gedicht aus dem ›Leben‹ genommen wird, ist somit der heroische. In diesem Akt der Stoffwahl besteht die ›objektive Begründung‹ des Gedichts, die sich in dem Gedicht als die ›geistige Behandlung‹247 bzw. als ›Haltung‹248 manifes-
242 243 244 245 246 247 248
Ebd. MA, Bd. 2, S. 112; FHA, Bd. 14, S. 376; StA, Bd. 4,1, S. 289. Vgl. MA, Bd. 2, S. 101; FHA, Bd. 14, S. 326; StA, Bd. 4,1, S. 271. MA, Bd. 2, S. 112; FHA, Bd. 14, S. 375; StA, Bd. 4,1, S. 289, H. v. m. MA, Bd. 2, S. 101; FHA, Bd. 14, S. 325f.; StA, Bd. 4,1, S. 271. Vgl. die Ausführungen zu »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«, Kapitel IV.2.4. Vgl. die Auslegungen von ›Nachdruk‹, ›Haltung‹ und ›Richtung‹ im Kontext von »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …«, Kapitel V.3.
227
tiert. Dem entspricht auch der unmittelbare Bezug auf den Stoff im Titel der Komödie, ›Heroine‹. Dieser Stoff kann »den Grund […] zum Vortrag seines [des Künstlers] Gedichts«249 nur bilden, d. h. zum ›Zeichen‹ für die ›Töne des Geistes‹ werden und das dem Grundton ›zugrunde liegende Leben‹ ›hervorrufen‹, wenn der Geist – und mit ihm das Gedicht – diesen Stoff im poetischen Prozess in bestimmter Weise250 behandelt. Denn wird der heroische Stoff aus seinem Zusammenhang in der Welt genommen, so zerfällt er in den ihm eigenen Gegensatz von Idealischem (erster Kunstcharakter) und Naivem (erster Grundton). Um diesen ›Kontrast‹ auszumitteln, muss er nach der 具Rezension典 erstens dargestellt werden, zweitens muss der Stoff »hinlänglich begründet und motivirt«251 sowie drittens seine Teile »in die möglichste durchgängige Beziehung«252 gesetzt werden. Die ›Darstellung‹ des Gegensatzes von Grundton und Kunstcharakter geschieht gemäß der bisher herausgearbeiteten Dynamik dadurch, dass sich der Gegensatz als getrennter ›vereint‹. Aufgrund dieses in sich widerstrebigen Verhältnisses von Einheit und Differenz kann sich die Differenz, d. h. der Gegensatz als ›einer‹ und ›zwei‹, eigens darstellen. Im Falle einer Dichtung im ›idealischen‹ Stil bedeutet das, dass sich der Anfangs- und Grundgegensatz von naivem Grundton und idealischem Kunstcharakter in den zweiten heroischen Grundton, als Dissonanz, ›auflöst‹.253 Des Weiteren muss dieser Gegensatz »hinlänglich begründet und motivirt«254 werden. Entsteht der Gegensatz von Grundton und Kunstcharakter jedoch durch die Stoffwahl in der objektiven Begründung, so geht diese auf die subjektive Begründung zurück, d. h. der Gegensatz muss durch die subjektive Begründung ›motiviert‹ werden. Die subjektive Begründung besteht in dem Falle des lyrischen/idealischen Gedichts darin, dass der idealische Stoff, der in der subjektiven Begründung gewählt wird, als aus dem naiven Stoff hervorgegangen dargestellt wird. Das ist dadurch möglich, dass auf den ersten, idealischen Kunstcharakter, der zweite, naive folgt und sich dieser somit in Gegensatz zu dem zweiten, heroischen Grundton setzt. Der Gegensatz von heroischem Grundton und naivem Kunstcharakter stellt sich jedoch in dem darauffolgen-
249 250 251 252 253
254
MA, Bd. 2, S. 112; FHA, Bd. 14, S. 375; StA, Bd. 4,1, S. 289, H. v. m. Vgl. oben. MA, Bd. 2, S. 112; FHA, Bd. 14, S. 375 (»[…] begründet und motivirt […]«); StA, Bd. 4,1, S. 289. Ebd. Vgl. »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …«: »[D]iese energischen heroischen Dissonanzen, die Erhebung und Leben vereinigen, sind die Auflösung des Widerspruchs in den es [das lyrische Gedicht] geräth, indem es von einer Seite nicht ins sinnliche fallen, von der andern seinen Grundton, das innige Leben nicht verläugnen kann und will«, MA, Bd. 2, S. 103; FHA, Bd. 14, S. 369; StA, Bd. 4,1, S. 266 (»[…] Widerspruchs, in den es […]«). MA, Bd. 2, S. 112; FHA, Bd. 14, S. 375 (»[…] begründet und motivirt […]«); StA, Bd. 4,1, S. 289.
228
den dritten, idealischen Grundton dar. In dieser Dynamik zeigt sich somit der idealische Stoff als aus dem naiven hervorgehend. Nun soll damit jedoch der Grundgegensatz von naivem Grundton und idealischem Kunstcharakter ›begründet und motiviert‹ werden. Das geschieht dadurch, dass in der objektiven Begründung der heroische Stoff gewählt wird, der sich als dritter Kunstcharakter in Gegensatz zu dem idealischen Grundton setzt. Dieser Gegensatz wiederum löst sich in den vierten, naiven Grundton auf und stellt sich in diesem dar. Der naive Grundton als ›Grundstimmung‹ des Gedichts kann sich insgesamt nur vermittels des heroischen Stoffs als Stoff der objektiven Begründung darstellen. Der heroische Stoff ist jedoch der Gegensatz von Naivem und Idealischem, so dass dem vierten, naiven Grundton wiederum der idealische Kunstcharakter entgegenstehen muss und sich somit die Ausgangskonstellation sowie der Tonwechsel wiederholt. Doch ist diese ›Wiederholung‹ keine ›leere‹ Verdopplung, sondern es findet in den Entgegensetzungen von jeweiligem Grundton und Kunstcharakter sowie deren ›Auflösung‹ im folgenden Grundton eine Darstellung, eine sich in der Zeit erstreckende Explikation der ansonsten immanenten Gegensatz- und Einheitsverhältnisse statt. Damit aus dieser ›Reihe‹ von Entgegensetzungen und Vereinigungen, d. h. aus dem Tonwechsel, der den poetischen Prozess darstellt, jedoch wiederum das werden kann, was eigentlich dargestellt werden soll, nämlich der Grundton, in diesem Falle die (naive) Empfindung, ist es notwendig, diese partiellen Darstellungen in ihrer zeitlichen Folge in ein ›Ganzes‹ zu synthetisieren, d. h. zu erinnern, in einen Zusammenhang zu bringen. Dem entspricht die dritte Forderung in der Rezension, »alle Theile des Stoffs in die möglichste durchgängige Beziehung«255 zu setzen. Die Herstellung des Zusammenhangs – d. h. die ›Erinnerung‹ im poetischen Akt, vgl. »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« – ›wiederholt‹ somit den Tonwechsel, durchläuft ihn erneut und nimmt zugleich eine ›Metaebene‹ ein. Die für den Tonwechsel herausgearbeiteten Verhältnisse entsprechen somit genau der Struktur der Darstellung, wie sie in anderen Kontexten herausgearbeitet wurde. Aus der inhärenten Selbstperpetuation und -reflexivität kann der ›transzendentale Moment‹ ›göttlicher Empfindung‹ hervorgehen, in dem sich die in zeitlicher Folge explizierten und ineinandergestaffelten Einheitsund Differenzverhältnisse ›in eins‹ verdichten und aus dem das dem Grundton, der Grundstimmung des Dichters »zum Grunde liegende Leben« »durch diß verwandte Zeichen«256 (den Stoff der objektiven Begründung) ›hervorgerufen‹ wird. Hier bestätigt sich nochmals, dass das Gedicht den poetischen Prozess in sich zugleich vollzieht als auch eigens darstellt.
255 256
MA, ebd.; FHA, Bd. 14, S. 375f.; StA, ebd. MA, Bd. 2, S. 99; FHA, Bd. 14, S. 321; StA, Bd. 4,1, S. 264.
229
9.
Ansatz zur Herausarbeitung des Töneschemas an dem lyrischen Entwurf »Wie wenn am Feiertage …«
Die Grundverfasstheit des lyrischen Gedichts, wie sie in Bezug auf »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« herausgearbeitet wurde und wie sie sich in der Explikation des Stoffes in der objektiven Begründung nochmals bestätigt hat, kommt zu Beginn des lyrischen Entwurfs »Wie wenn am Feiertage …« zur Darstellung sowie zum Vollzug. Dabei sind die Zuordnung der verschiedenen Töne zu Abschnitten des Gedichts sowie die Trennung von Grundton und Kunstcharakter nicht eindeutig möglich. Dennoch soll eine mögliche Zuordnung aufgezeigt und begründet werden, wobei die hier angedeuteten Textbeobachtungen in Kapitel VI.1 genauer ausgearbeitet werden. Der Beginn des Fragments »Wie wenn am Feiertage …« kann als Manifestation des Gegensatzes von naivem Grundton und idealischem Kunstcharakter aufgefasst werden.257 Denn der unmittelbare Eindruck, den die erste Strophe vermittelt, ist der einer Naturidylle, wie sie der Definition des naiven Stoffes in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« entspricht, nämlich »eine Reihe von Begebenheiten, oder Anschauungen Wirklichkeiten subjectiv oder objectiv zu beschreiben, zu mahlen«.258 Diese Weise der Beschreibung
257
258
Bernhard Böschenstein (»Frucht des Gewitters«. Hölderlins Dionysos als Gott der Revolution. Frankfurt/Main 1989) trägt der grundsätzlichen Zweiheit und inneren Widerstrebigkeit der Hölderlin’schen Töne nicht Rechnung, wenn er die erste Strophe als »des naiven Tons gemäß« bezeichnet mit der Begründung, dass sie »deskriptiv« bleibe (S. 115). Dieselben Vereinfachungen finden sich für die zweite Strophe, die »in idealischem Ton gehalten« sei, »dem Ton der Reflexion, der verallgemeinernden Sentenz« (S. 116). Entspricht der ›naive Ton‹ – unserem Ansatz nach die ersten anderthalb Strophen – dem Grundton, so findet sich der ›idealische Ton‹ in der zweiten Hälfte der zweiten Strophe als Kunstcharakter. In der dritten Strophe sieht Böschenstein den ›heroischen Ton‹ verwirklicht, der unserer Auffassung des Grundtons entspricht. Peter Szondi (»Gattungspoetik und Geschichtsphilosophie. Mit einem Exkurs über Schiller, Schlegel und Hölderlin«. In: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis. Frankfurt/Main 1970, S. 119–169) sieht in der ersten Strophe aufgrund der »Naivität des Bildes«, »der Landschaftsschilderung« (S. 137) den naiven Kunstcharakter sowie den heroischen Grundton verwirklicht (vgl. ebd. und S. 149–151), revidiert diese Feststellung anschließend jedoch im Sinne einer bestimmten ›Tönung‹ (vgl. S. 138) des Grundtons und Kunstcharakters, die dem heroischen Stil des lyrischen Gedichts gleichkomme. Diese ›Tönung‹ versucht Szondi unter Parallelsetzung des Hölderlin’schen Beispiels für diesen Stil, Pindars 7. Olympischer Ode, mit »Wie wenn am Feiertage …« zu plausibilisieren. Doch ist zum einen nicht erwiesen, dass »Wie wenn am Feiertage …« – trotz der sonstigen Parallelen – gerade den Wechsel dieser Ode nachahmt, und zum anderen weist Szondi diese Töne an dem Beginn von »Wie wenn am Feiertage …« selbst nicht eigentlich nach. So ist nicht einzusehen, worum der ›unmittelbarere Ausdruck‹ (und das ist die Definition des Grundtons des lyrischen Gedichts, vgl. MA, Bd. 2, S. 103; FHA, Bd. 14, S. 369; StA, Bd. 4,1, S. 266) der ersten Strophe heroisch und der Kunstcharakter, die »Verknüpfung und Darstellung«, die »Bildungen« und die »Zusammenstellung derselben« (ebd.), naiv sein sollte. Zur Diskussion im größeren Kontext des ›Spätwerks‹ und der Gültigkeit des Entwurfs »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« vgl. Szondi, S. 157–159. MA, Bd. 2, S. 80; FHA, Bd. 14, S. 305; StA, Bd. 4,1, S. 244.
230
von Wirklichkeit zieht sich bis zur Mitte der zweiten Strophe, mit geringerer Evidenz bis zu deren Ende hin. Vor allem in den ersten anderthalb Strophen ist der Gegensatz dieses unmittelbaren Eindrucks zu den sprachlichen »Bildungen« sowie deren »Zusammenstellung«,259 dem Kunstcharakter, deutlich. Die Vergleichskonstruktion, die sich vom Beginn der ersten Strophe bis zum Ende des vierten Verses der zweiten Strophe erstreckt, ist in sich hypotaktisch in zwei ›Wenn‹Sätze sowie weitere parataktische Fügungen untergliedert, die syntagmatisch ein komplexes Geflecht von Bezüglichkeiten und Wechselwirkungen bilden, die durch die Doppelwertigkeit des »So« zu Beginn der zweiten Strophe (einerseits als Abschluss der Vergleichskonstruktion, andererseits als Anschluss an die konditional bzw. temporal aufgefassten ›Wenn‹-Sätze) noch gesteigert wird. In dieser Komplexität der Vergleichskonstruktion treten auch die Comparata nicht eindeutig hervor. Stattdessen ergibt sich eine Potenzierung von Vergleichsmöglichkeiten und Bezüglichkeiten, die nicht abschließend expliziert werden können. Die Semantik der Vergleichskonstruktion gerät dadurch in eine Pluralität einander ausschließender Bedeutungen, die in sich aufgrund der Übertragungsbewegung des Vergleichs zudem dynamisch erscheinen. Dies wird durch die Doppelwertigkeit des »sie« im ersten Vers der zweiten Strophe noch gesteigert, das sich zum einen auf »die Bäume des Haines«,260 zum anderen auf die »Dichter«261 bezieht. Die Komplexität der syntaktischen Konstruktion erfordert eine eingehende Analyse, bei der die Vielzahl möglicher Bezüge sowie die Sprachlichkeit als dynamische eigens hervortreten. Aufgrund dieser Merkmale kann der Kunstcharakter des Vergleichs als idealisch aufgefasst werden. Die Vergleichskonstruktion steht somit in dem Spannungsverhältnis von naivem Grundton und idealischem Kunstcharakter, das aufgrund der ausgeführten Verhältnisse eigens hervortritt. Zudem wird deutlich, dass sich dieser Gegensatz in dem ›einen‹, das der Vergleich ist, hält und darstellt, so dass der Vergleich als ›energische heroische Dissonanz‹ gelten kann, die ›Erhebung‹ (Idealisches) und ›Leben‹ (Naives) ›vereinigt‹.262 Die letzten fünf Verse der zweiten Strophe lassen sich nicht mit derselben Bestimmtheit konkreten Tönen zuordnen, doch kann die Wortwahl aus dem sinnlich-natürlichen (vgl. »schlafen«, »Zeiten des Jahrs«, »Himmel«, Pflanzen«) sowie dem emotionalen Bereich (vgl. »trauert«, »allein zu seyn«, »ahnen«, »ruhet«) auf einen ebenfalls naiven Grundton hindeuten. Die sprachlichen Fügungen erscheinen wiederum analytisch (vgl. das kausale ›Drum‹ und ›Denn‹,
259 260 261 262
MA, Bd. 2, S. 103; FHA, Bd. 14, S. 369; StA, Bd. 4,1, S. 266. St. 1, V. 9, MA, Bd. 1, S. 262; FHA, Bd. 8, S. 557; StA, Bd. 2,1, S. 118. St. 2, V. 7. Vgl. MA, Bd. 2, S. 103; FHA, Bd. 14, S. 369; StA, Bd. 4,1, S. 266.
231
das adversative ›Doch‹ sowie das temporal-konditionale ›Wenn‹ in Kombination mit ›So‹, das die vorige Konstruktion teilweise wiederholt) und können somit einem idealischen Kunstcharakter zugeordnet werden. Die Ausprägungen von Grundton und Kunstcharakter sind jedoch gegenüber der Vergleichskonstruktion abgeschwächt, so dass der Gegensatz zwar nicht aufgehoben, jedoch weniger ausgeprägt erscheint. Entsprechend dem Tonschema zum idealischen Gedicht in »Die Empfindung spricht …« müsste die ›heroische Dissonanz‹263 von naivem Grundton und idealischem Kunstcharakter in den heroischen Grundton übergehen,264 was in der dritten Strophe in ihrem unmittelbar enthusiastischen und energischen Ton, den »Bestrebungen« und »Leidenschaften«,265 der Fall ist. Die ›Verknüpfung‹ sowie die »Zusammenstellung« der »Bildungen«266 erscheinen aufgrund der weitgehend parataktischen Syntax einfach und linear, können somit dem naiven Kunstcharakter zugeordnet werden. In dem expliziten Selbstbezug des Gedichts sowie des (Dichter-)Ichs in der dritten Strophe kann zudem die Vermittlung des Gegensatzes in dem Idealischen gesehen werden. Dieser Gegensatz (vgl. die relativ einfache und lineare Ausprägung der Vergleichskonstruktion sowie den vorwiegend parataktischen Satzbau als naiven Kunstcharakter und die heroisch-energische Grundstimmung) sowie dessen ›Dissonanz‹ (in idealischer Autoreferentialität) lassen sich bis zum Ende der vierten Strophe nachverfolgen. Die fünfte und sechste Strophe könnten die Gegenstrebigkeit von idealischem Grundton (›Erhebung‹,267 ›Übersinnliches‹, ›Phantasie‹268) und heroischem Kunstcharakter darstellen (als in den ›Bildern‹,269 explizit zwischen dem Idealischen, Möglichen, Übersinnlichen, dem Autoreferentiellen, vgl. »Liede«, »Geist« etc. sowie dem Naiven, Anschaulichen, Sinnlichen, Wirklichen stehend). Für die Strophen sieben und acht gestaltet sich die Zuordnung schwieriger. Sie können bedingt dem naiven Grundton (»ohne Gefahr«, »reinen Herzens wie Kinder«, »schuldlos unsere Hände« etc.) und dem idealischen Kunstcharakter (die ›übersinnlichen‹ Bilder »himmlisches Feuer«, »unter Gottes Gewittern […] zu reichen«, »Des Vaters Stral […] das Herz doch fest«) zugeordnet werden, während die neunte Strophe als das Ineinander von heroischem Grundton
263 264 265 266 267 268 269
Vgl. ebd. Vgl. MA, Bd. 2, S. 101; FHA, Bd. 14, S. 326; StA, Bd. 4,1, S. 271. MA, Bd. 2, S. 80; FHA, Bd. 14, S. 305; StA, Bd. 4,1, S. 243. MA, Bd. 2, S. 103; FHA, Bd. 14, S. 369; StA, Bd. 4,1, S. 266. Vgl. ebd. Vgl. MA, Bd. 2, S. 80; FHA, Bd. 14, S. 305; StA, Bd. 4,1, S. 243f. Vgl. MA, Bd. 2, S. 103; FHA, Bd. 14, S. 369; StA, Bd. 4,1, S. 266.
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(»Leidenschaften«270) und naivem Kunstcharakter (anschauliche Beschreibung, eindeutige syntaktische Bezüge) gelten kann. »Wie wenn am Feiertage …« würde im Grundton demnach den Wechsel ›naiv – heroisch – idealisch – naiv – heroisch‹, im Kunstcharakter die Folge ›idealisch – naiv – heroisch – idealisch – naiv‹ vollziehen und hinsichtlich der Reihenfolge der Töne somit dem ›idealischen Gedicht‹ in »Die Empfindung spricht …« entsprechen. Dies ist jedoch nicht in Bezug auf die Länge des Wechsels der Fall, denn das lyrische Gedicht müsste demnach – wie auch gemäß dem Entwurf »Löst sich nicht …« – eine Folge von sieben und nicht bloß fünf Tönen realisieren.
10. Zum Status der poetologischen Reflexionen in Bezug auf konkrete Dichtungen Abgesehen von diesen Verwerfungen gestaltet sich die Zuordnung der Töne zu konkreten Gedichtabschnitten allgemein problematisch. Dies ist zum einen deshalb der Fall, weil die Paraphrasen zum Grundton und zum Kunstcharakter, die sich in »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« noch am ausführlichsten finden, begrifflich keine eindeutige Abgrenzung zulassen (vgl. »Grundstimmung«, ›unmittelbarerer Ausdruck‹ als Paraphrase des Grundtons in Bezug auf das lyrische Gedicht sowie ›äußerer Schein‹, »Verknüpfung«, »Darstellung«, »Bildungen und […] Zusammenstellung derselben« sowie ›Bild‹ als Umschreibung des Kunstcharakters271) und zum anderen, weil sich die beiden Ebenen im konkreten Gedicht nicht eindeutig voneinander abheben lassen. So eröffnen die meisten Passagen von »Wie wenn am Feiertage …« eine Vielzahl möglicher Zuordnungen, wodurch die Festlegung auf eine Tonkombination, wie sie oben vorgenommen wurde, stets auf einer Abstraktion und einem fast gewaltsam verengenden Ausschließen weiterer Möglichkeiten beruht. Auch stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, welchen Erkenntniszuwachs derartige Zuordnungen zu konkreten Gedichten überhaupt bedeuten könnten und ob diese schlagwortartigen Bezeichnungen das Gedicht in seiner sprachlichen Individualität nicht immer schon verfehlen müssen.272 Die Erörterungen zu den Tönen sowie zu deren Verhältnis untereinander sind in dem Kontext des Versuchs einer transzendentalen Begründung von Dichtung sowie der sich daraus ableitenden Darstellungsstruktur bedeutsam, 270 271 272
Vgl. MA, Bd. 2, S. 80; FHA, Bd. 14, S. 305; StA, Bd. 4,1, S. 244. Vgl. MA, Bd. 2, S. 103; FHA, Bd. 14, S. 369; StA, Bd. 4,1, S. 266. Nach Karlheinz Stierle (»Sprache und die Identität des Gedichts. Das Beispiel Hölderlins«. In: Friedrich Hölderlin. Neue Wege der Forschung. Hrsg. v. Thomas Roberg. Darmstadt 2003, S. 19–34) führt dieser Versuch »in ein Prokrustesbett der Deutung, das die Dichtung selbst allegorisieren muß, um sie Hölderlins eigenen Schemata nachträglich anzupassen« (S. 26).
233
denn das Verhältnis der Töne untereinander folgt ja der Grundstruktur harmonischer Entgegensetzung. Auch die in diesen Versuchen sich anzeigende Stellung der modernen Dichtung und Poetologie gegenüber der griechischen ›mechane‹,273 die sich als ›harmonisch entgegengesetzt‹ erweist, ist im Kontext der Hölderlin’schen Poetologie äußerst relevant. Doch würde die bloße Betrachtung eines sprachlichen Kunstwerks als Manifestation poetologischer Reflexionen dieses wesentlich verkürzen. Auffällig ist auch an den von Hölderlin selbst vorgenommenen Analysen konkreter Dichtungen, dass diese mit den aufgestellten Tonschemata immer wieder brechen. Ganz deutlich ist dies in dem Fall des »Lieds Diotima«,274 das sich mit seinem »Styl« in keine der drei Möglichkeiten fügt, die in »Die Empfindung spricht …« in systematischer Manier angegeben werden.275 In Bezug auf die 具Poetologischen Tafeln典 zum Tragischen ist zudem nicht deutlich, ob sich die möglichen Abweichungen vom Grundschema (dem »Ajax«276 entspricht) auf die Umkehrung von Grundton und Kunstcharakter beschränken (wie für »Antigonä«277 angegeben), oder ob noch weitere Differenzen denkbar sind. Diese und die weiteren Verwerfungen, die in den vorigen Kapiteln dargestellt wurden, können einerseits einen Hinweis auf den unabgeschlossenen Charakter der Poetologie darstellen, andererseits kann die stark hervortretende Varianz in den Bezeichnungen bei einem an der zeitgenössischen Philosophie geschulten Autor auch auf eine intentionale Absetzung von einem im strengen Sinne poetologischen ›System‹ hindeuten. Daraus folgt jedoch nicht, dass die Ausführungen Hölderlins einem ›systematischen‹ Ansatz zuwiderlaufen würden. Die poetologischen Entwürfe streben dezidiert das an, was Hölderlin in den späteren ›Sophokles-Anmerkungen‹ in Übertragung der antiken ›mechane‹ den »gesezlichen Kalkul«278 bzw. das »kalkulable Gesez«279 nennt. Es geht Hölderlin somit um die Herausarbeitung einer »poëtische[n] Logik«,280 die der philosophischen sowohl entspricht als sich auch von ihr absetzt, wobei ›Logik‹ in diesem Kontext stärker von der Vielfalt der Bedeutungen des griechischen
273 274 275
276 277 278 279 280
Vgl. die ›Anmerkungen zum Oedipus‹, MA, Bd. 2, S. 309; FHA, Bd. 16, S. 249; StA, Bd. 5, S. 195. MA, Bd. 2, S. 102; FHA, Bd. 14, S. 326; StA, Bd. 4,1, S. 272. Es ist fraglich, ob diese Abweichungen lediglich dahingehend zu deuten sind, dass Hölderlin »bereit war, gewisse Ausnahmen zuzulassen« (Lawrence Ryan: Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne. Stuttgart 1960, S. 120), aber »Hölderlin im Grunde genommen noch an den üblichen Formen festhielt« (ebd.). Leider führt Ryan auch nicht aus, inwiefern die Abweichungen noch »vom Prinzip des Wechsels […] zu erfassen sind« (ebd.). MA, Bd. 2, S. 109; FHA, Bd. 14, S. 341; StA, Bd. 4,1, S. 239. Ebd. MA, Bd. 2, S. 309; FHA, Bd. 16, S. 249; StA, Bd. 5, S. 195. MA, Bd. 2, S. 369; FHA, Bd. 16, S. 411; StA, Bd. 5, S. 265. Ebd.
234
›logos‹ als von dem neuzeitlich verengten Begriff von ›Logik‹ als den abstraktesten Gesetzen des Denkens geprägt zu sein scheint.281 Dieser offeneren ›Systematik‹ entspricht in den ›Anmerkungen zum Oedipus‹ das für die Dichtung konstitutive Ineinander der Gegensätze von ›gesezlichem Kalkul‹ und »lebendige[m] Sinn, der nicht berechnet werden kann«,282 so dass sich Dichtung auch in dieser Hinsicht als ein Ineinander von Gegensätzen darstellt und der Fokus auf bloß eine Seite immer schon einer Reduktion gleichkommt. Die Rezeption muss somit vielmehr auf die Herausarbeitung dieses Gegensatzes,283 und d. h. auf die Darstellung der singulären Ausprägung des Verhältnisses harmonischer Entgegensetzung in dem individuellen Werk zielen. Die poetologischen Entwürfe verbieten somit von sich selbst her eine Rezeption, die die konkreten Dichtungen als bloße ›Manifestationen‹ der theoretischen Reflexionen innerhalb eines Systems betrachtet.
11.
Methodologische Vorüberlegungen zur Betrachtung der Dichtungen und zum Verhältnis von diskursivem und poetischem Sprechen
Soll aufgezeigt werden, inwiefern sich poetisches Sprechen vom philosophischen in grundlegender Weise – nicht bloß unter Angabe diverser einzelner Merkmale – unterscheidet, und darin besteht das immanente Ziel der poetologischen Erörterungen Hölderlins,284 so ist das nur möglich, indem sich die Untersuchung weitgehend von poetologischen Vorannahmen löst. Das erfordert gerade bei der Betrachtung lyrischen Sprechens ein kleinschrittiges Vorgehen,
281 282
283
284
›Logos‹ wird im Kontext eines ›Logozentrismus‹ im ›metaphysischen‹ Zusammenhang oftmals zu eng aufgefasst (so auch Pierre Bertaux: Friedrich Hölderlin. Frankfurt/Main 1978, S. 356). MA, Bd. 2, S. 309; FHA, Bd. 16, S. 250; StA, Bd. 5, S. 195. Vgl. dazu in einem grundsätzlichen Sinn Volker Rühle: »Poesie existiert nicht vor ihrer Übersetzung. Zur Übersetzbarkeit von Hölderlins Sophoklesübersetzungen«. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 23,1 (1998), S. 19–41, sowie ders.: »›Schikliche Hände‹. Der Anspruch des Absoluten in Hölderlins Dichtung«. In: »Es bleibet aber eine Spur / Doch eines Wortes«. Zur späten Hymnik und Tragödientheorie Hölderlins. Hrsg. v. Christoph Jamme u. a. München 2004, S. 197–222: »wir haben es im Fortgang poetischer Logik mit irreversiblen schöpferischen Veränderungsprozessen zu tun, die Hölderlin der reversiblen Fortschrittslogik der zeitgenössischen Philosophie und poetischen Klassik entgegensetzt, die schöpferische Erfahrungsprozesse im Rahmen ihrer vorausgesetzten Unterscheidungen auf das Muster linearen und akkumulativen Fortschreitens festlegt« (S. 219). Vgl. die ›Anmerkungen zum Oedipus‹, wonach in der Rezeption darauf geachtet werden soll, wie sich unter anderem »der Gang und das Vestzusezende [was selbst in sich gegenstrebig ist, M. H.], der lebendige Sinn, der nicht berechnet werden kann, mit dem kalkulablen Geseze in Beziehung gebracht wird«, MA, Bd. 2, S. 309; FHA, Bd. 16, S. 250; StA, Bd. 5, S. 195. Vgl. die Differenz von philosophischer und poetischer Logik, wie sie zu Beginn der ›Anmerkungen zur Antigonä‹ dargestellt werden (MA, Bd. 2, S. 369; FHA, Bd. 16, S. 411; StA, Bd. 5, S. 265).
235
das sich an der konkreten Sprachlichkeit (im Sinne einer poetischen ›logos‹Logik) des Gedichts orientiert. Es kann somit auf keinen Fall darum gehen, das Gedicht auf eine These oder einen rein semantischen Sinn hin zu übersteigen. Was an Hölderlins Gedichten gerade in Differenz zu ›nicht-poetischen‹ Texten hervortritt, ist deren Sprachlichkeit als solche, während ›diskursive‹ Texte in ihrer immanenten Tendenz darauf gerichtet sind, sich in ihrer Sprachlichkeit auf ihren Sinn hin zu transzendieren – und das umso mehr, je ›gelungener‹ sie sind.285 ›Diskursive‹ und ›poetische‹ Texte, wie sie hier vorläufig bestimmt wurden, können in ihrem Verhältnis aufgrund ihrer gemeinsamen sprachlichen Verfasstheit jedoch nur als relational, nicht absolut, verschieden begriffen werden, so dass es sich bei den ›Bestimmungen‹ um graduelle Verschiebungen auf ein und derselben Achse zwischen den abstrahierten Polen des ›schlechthin Diskursiven‹ und des ›schlechthin Poetischen‹ handelt, wobei die Differenz – wie das für jedes Verhältnis harmonischer Entgegensetzung gilt – nicht aufgehoben werden kann. Die erste Bestimmung des Unterschiedes zwischen diskursivem und poetischem Sprechen hinsichtlich der Rolle der Sprachlichkeit, die hier gegeben wurde, ist zum einen keine selbstverständliche, zum anderen jedoch auch keine, die auf methodischen Vorannahmen beruht. Es ist vielmehr das, was das Gedicht in seiner Sprachlichkeit selbst aufzeigt. Offensichtlich bewegt sich diese Argumentation in einer Struktur innerer Widerstrebigkeit, die sich selbst nicht transzendieren und – will sie angemessen sein – durch kein ›tertium comparationis‹ aufgelöst werden kann, sondern in letzter Instanz auf die ›Evidenz‹ der ›Darstellung‹ und mit ihr ›des Dargestellten‹ (als identisch und different zu jener) verweisen muss. ›Darstellung‹ zeigt sich auch hier als Darstellung (1) der Darstellung (2) und des Dargestellten in der Grundstruktur der Identität (1) der Identität (2) und der unaufhebbaren Differenz. In dieser grundlegenden Selbstperpetuation der Darstellungsstruktur ist in besonderem Maße die Darstellung befangen – und an dieser zeigt sie sich zugleich eminent – die, wie das hier der Fall ist, die Darstellung zugleich zum ›Gegenstand‹ hat. Denn so stellt sie die Darstellung zugleich dar und vollzieht ›sich‹. Die Darstellung des ›Dargestellten‹ zeigt sich in ausgezeichneter Weise als Darstellung der Darstellung, diese als Darstellung der Darstellung und des Dargestellten usf., so dass die unendliche Ineinanderstaffelung der Darstellungsstruktur, ihre grundlegende Autoreflexivität, Selbstpotenzierung und -perpetu285
Diese ›Sprachlichkeit‹ des Gedichts darf mit Hölderlin jedoch nicht in einem verkürzten Sinn als reines Spiel der Signifikanten aufgefasst werden. Vielmehr lässt sich auch in einer solchen Sprachauffassung die Zwiegestalt von Sprache als konstitutives Ineinander von Signifikat und Signifikant festhalten, wenngleich das Signifikat nicht als das ›Bezeichnete selbst‹, sondern als dasjenige aufgefasst werden muss, was dieses ›Bezeichnete‹ als sprachlich Erfasstes, als ›Dargestelltes‹ ›ist‹.
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ation in diesem Fall besonders deutlich hervortritt und die Darstellung darin – in dem herausgearbeiteten Sinne – ›zu sich selbst kommt‹. Anknüpfend an die oben erfolgte Bestimmung des Verhältnisses von poetischer und diskursiver Sprachlichkeit ist die ›Darstellung‹ poetischen Sprechens in ihrem ›methodischen Vorgehen‹ somit auf die Achtsamkeit auf die Sprachbewegung in der Dichtung, und zwar in dem Bewusstsein der Unaufhebbarkeit der Differenz der verschiedenen Sprechweisen, verwiesen. Erst aufgrund dieses Bewusstseins besteht überhaupt die Möglichkeit, diese Differenz kenntlich zu machen und ihr somit, und das heißt dem poetischen Sprechen, gerecht zu werden. Eine diskursive ›Auslegung‹ poetischer Texte kann jedoch gerade aufgrund dieser unaufhebbaren Differenz nicht im eigentlichen Sinne ›Darstellung‹ des poetischen Sprechens sein, sie kann lediglich eine Richtung anzeigen, in der sich die augenblickshaft ›vernommene‹ Sprachbewegung vollziehen könnte. Der diskursive Bezug auf poetische Sprache kann im strengen Sinne nur Verweis auf das andere sein, er kann das poetische Sprechen nicht ersetzen, sondern nur in der Struktur der Darstellung vermittels ihrer unaufhebbaren Differenz auf dieses andere verweisen, eine Richtung anzeigen, in der ein ›wirklicher‹ Vollzug des anderen möglich sein könnte. Ein gewichtiger Unterschied zwischen poetischem und diskursivem Sprechen wäre darin angezeigt, dass die Intention des diskursiven Sprechens in erster Linie Darstellung eines anderen ist, poetisches Sprechen jedoch konstitutiv das gegenstrebige Ineinander von Darstellung und Vollzug der Sprachbewegung in der in sich unterschiedenen ›Einheit‹ selbst ist. Poetisches Sprechen zeigt sich – entsprechend dem Darstellungsverhältnis in seiner extremen Ausprägung, in dem Identität und Differenz ineinander umschlagen – als Darstellung (1) der Darstellung (2) und des Vollzugs (2) und zugleich als der Vollzug (1) des Vollzugs (2) und der Darstellung (2). Diskursives Sprechen, das poetisches Sprechen ›darstellen‹ will, kann im Konkreten (nicht im Allgemeinen, wie es hier ausgeführt wird) lediglich die Darstellung (a) der Darstellung (b) (entsprechend der Darstellung [1]) der Darstellung (c) (entsprechend der Darstellung [2]) und des Vollzugs (entsprechend dem Vollzug [2])286 sein. Letzter ist in diesem Kontext der in dem Gedicht 286
Hier staffelt sich diskursives (a, b) mit poetischem Darstellen (1, 2) auf verschiedenen Ebenen ineinander, weshalb der Unterschied durch Buchstaben und Ziffern verdeutlicht wird. Der Umstand, dass sich hier an Stelle des oben genannten ›Dargestellten‹ bzw. der ›Darstellung‹ der ›Vollzug‹ findet, widerspricht den obigen Erörterungen insofern nicht, als der Vollzug (entsprechend dem Vollzug [2]) hier selbst immer schon Darstellung ist, und zwar aufgrund dessen, dass die Darstellung (1) in der Struktur der ›Darstellung (1) der Darstellung (2) und des Dargestellten/des Vollzugs‹ das Dargestellte bzw. den Vollzug immer schon umfasst, d. h. ›das Dargestellte‹/›der Vollzug‹ immer schon ›Darstellung‹ ist, jedoch ohne in seiner Differenz aufgehoben zu werden. ›Vollzug (entsprechend dem Vollzug [2])‹ ist hier somit lediglich eine Spezifizierung dessen, was oben ›Dargestelltes‹ heißt.
237
dargestellte Vollzug und nicht der in dem Gedicht vollzogene im Sinne des Vollzugs (1) des Vollzugs (2) und der Darstellung (2). Dieser in dem Gedicht nicht eigens dargestellte Vollzug (1) ist es, auf den das diskursive Sprechen bloß verweisen kann, denn der originäre Vollzug (1) kann als solcher nur vollzogen, nicht aber dargestellt werden. Das diskursive Sprechen kann somit lediglich die Darstellung in dem Gedicht (die Darstellung [1] in ihren Untergliederungen) darstellen, nicht aber den Vollzug (1), womit die Darstellung (1) in harmonischem Gegensatz steht. Es wird deutlich, dass die harmonische Gegensatzstruktur, die das Gedicht kennzeichnet, in dem Verhältnis von Darstellung (1) und Vollzug (1) besteht.287 Das diskursive Sprechen kann lediglich die Darstellung (1) der Darstellung (2) und des Vollzugs (2), somit die eine Seite der Gegenstrebigkeit des Gedichts, darstellen und auf die andere, die originäre Vollzugskomponente (1), lediglich als das konstitutiv andere und als Vollzug selbst nicht Darstellbare, verweisen. Der hier vorgenommene ›Verweis‹ auf die Grenze der diskursiven (Un-)Darstellbarkeit poetischen Sprechens muss zum einen den umkreisenden Charakter des hier Vollzogenen haben, zum anderen geschieht gerade darin und in der formalistischen Ausdrucksweise der Übergang vom diskursiven zum poetischen Sprechen. Denn zum einen stellt diese formale Ausdrucksweise den geraden und extremen Gegensatz von dem dar, worauf verwiesen werden soll, nämlich die inhärente Dynamik wechselseitiger Bezüge und Konstitutionen innerhalb der Struktur, und gerade aufgrund dieses und in diesem Gegensatz kann die ›Darstellung‹ auf dieses andere in ihr verweisen. Zum anderen geschieht in dieser Ausdrucksweise der notwendige Übergang zu diesem anderen, ›Darzustellenden‹, nämlich zur nicht-darstellbaren und konstitutiven Dynamik poetischen Sprechens, die gerade in der extremen Statik formaler Ausdrucksweise vollzogen werden kann und die so in sich auf ihr anderes verweist und es darin zugleich auch ›wird‹.
287
Das ›Umfassende‹ zu dieser Gegensatzstruktur ist die poetische Sprache, die als Einheitspunkt dieser in sich extremen Entgegensetzung von Darstellung und Vollzug mit keiner ihrer entgegengesetzten Komponenten identifiziert werden kann.
238
VI. Exemplarische lyrische Dichtungen
1.
»Wie wenn am Feiertage …«
Der lyrische Entwurf »Wie wenn am Feiertage …« wird im Folgenden entsprechend der grundsätzlichen Differenz zwischen poetischem und diskursivem Sprechen immanent behandelt, wenngleich die Übereinstimmungen und Differenzen zu den bisher herausgearbeiteten poetologischen Grundsätzen herausgestellt werden. Keinesfalls jedoch soll der lyrische Entwurf als ›Umsetzung‹ eines poetologischen Programms betrachtet und auf diesen Deutungshorizont verkürzt werden. Da sich der bisher erarbeitete poetologische Kontext jedoch methodisch nicht annullieren lässt, ist es umso wichtiger, unter Beibehaltung des thematischen Fokusses der ›Darstellung‹ sowie ihrer bisher herausgearbeiteten Struktur, die Bezüge zur Theorie – in Übereinstimmung und Differenz – zu explizieren. Dabei werden lediglich die ersten drei Strophen des Entwurfs eingehend betrachtet, denn diese können gegenüber den anderen Teilen dadurch eine Sonderstellung beanspruchen, dass sie im Stuttgarter Foliobuch nochmals in Reinschrift gebracht werden.1 Zudem zeigen sie eine Konzeption von Mittelbarkeit auf, die auch in den späteren ›Gesängen‹ beibehalten wird und sich gerade nicht mit der größeren Unmittelbarkeit deckt, die kurz vor und in dem Abbruch des Gedichts zur Geltung kommt (»Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern, / Ihr Dichter! Mit entblößtem Haupte zu stehen«2). Die in Kapitel V.9 unter anderen methodischen Prämissen angedeuteten Grundverhältnisse der ersten Strophe sowie der ersten vier Verse der zweiten Strophe bestätigen sich auch unabhängig von einer Theorie der Töne. Der unmittelbare Eindruck einer einheitlichen idyllischen Naturbeschreibung, vor allem in der ersten Strophe, wird bei genauerer Betrachtung der sprachlichen
1
2
Vgl. FHA, Bd. 7, S. 102f. sowie Bd. 8, S. 550f. Auf die Editionsproblematik sowie die in der Reinschrift erwogenen Alternativen (vgl. FHA, Bd. 7, S. 102f. sowie Bd. 8, S. 551–553) wird hier nicht eingegangen. St. 7, V. 3f., MA, Bd. 1, S. 263; FHA, Bd. 8, S. 558; StA, Bd. 2,1, S. 119.Vgl. auch die gesamten drei letzten Strophen bzw. deren Ansätze. Peter Szondi liest die ersten drei Strophen von dem Ende des Entwurfs her, was methodisch nicht gerechtfertigt erscheint (vgl. »Der andere Pfeil. Zur Entstehungsgeschichte des hymnischen Spätstils«. In: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis. Frankfurt/Main 1970, S. 37–61, hier S. 42).
239
Struktur aufgebrochen in eine Vielzahl, auch einander ausschließender, Bedeutungen, die jedoch – im Sinne der einen, sprachlich-materiellen Erscheinung des Eingangsvergleichs – in ›eines‹ zusammengedacht werden müssen.3 Bereits die Eingangskombination ›Wie wenn‹ kann in Bezug auf den Grad ihrer Einheit unterschiedlich aufgefasst werden. Wird die Fügung in größtmöglicher Zusammengehörigkeit betrachtet, so nimmt sie die Bedeutung des Irrealis im Sinne eines ›Als-ob‹ an, wird sie in relativer Differenz gesehen, so erscheint sie als Kombination des Vergleichspartikels ›Wie‹ mit dem in sich ambivalenten, temporal-konditionalen ›Wenn‹. Beide Möglichkeiten lösen die Konstruktion jedoch nicht auf, sondern lassen vielmehr deren Komplexität und die Dynamik einander ausschließender und doch unabweisbarer Bedeutungen hervortreten. So ist die reine Interpretation als Irrealis aufgrund der Weiterführung mit ›So‹ nicht möglich (›Wie wenn‹ / ›Als ob‹ … ›So‹ ist keine zulässige sprachliche Konstruktion), und die Auffassung als Vergleichspartikel in Kombination mit ›wenn‹ verweist auf die Vielzahl syntaktischer Bezugsmöglichkeiten, die insgesamt ein nicht auf eine oder mehrere bestimmte Bedeutungen festlegbares Changieren generieren. Denn ist der Vergleich ›Wie … So‹ bereits in sich eine dynamische Übertragung, bei der in diesem Fall weder ein ›tertium comparationis‹ noch die beiden Comparata eindeutig festzulegen sind,4 so wird diese Komplexität durch die Kombination mit ›Wenn‹ noch gesteigert, das sich sowohl auf das vorausgehende ›Wie‹ als auch auf das abschließende ›So‹ bezieht und in sich bereits temporal und konditional aufgefasst werden muss. Der Versuch, diesen Bezügen und ihren jeweiligen Bedeutungen nachzugehen, führt zu einem ständigen Wechsel, einem Umschlagen zwischen den Bedeutungen, deren Interaktionen und ›Schattierungen‹ sich als nicht abschließend fassbar zeigen.5
3
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Martin Heidegger (»›Wie wenn am Feiertage …‹«. In: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. 5., durchgesehene Aufl. Frankfurt/Main 1981, S. 49–77) sieht dies nicht, wenn er bemerkt: »Die erste Strophe versetzt in den Aufenthalt eines Landmannes draußen in der Flur am Morgen des Feiertages« (S. 51). Günter Figal (»Götterflucht, Epiphanie und dichterische Vermittlung. Zur philosophischen Bedeutung Hölderlins«. In: »… auf klassischem Boden begeistert«. Antike-Rezeptionen in der deutschen Literatur. Hrsg. v. Olaf Hildebrand u. a. Freiburg 2004, S. 235–246) sieht den Vergleich ebenfalls als »in sich strittig« und spezifiziert dahingehend, dass dieser »eher die Verschiedenheit des Verglichenen als seine Gemeinsamkeit hervortreten« (S. 239) lässt. Yahya A. Elsaghe (Untersuchungen zur Funktion des Mythos in Hölderlins Feiertagshymne. Tübingen 1998) betrachtet den Vergleich als Gleichnis, das gemäß Heinrich Lausberg »durch vereindringlichende Detaillierung das tertium comparationis verdeutlicht«, wobei »nicht alles Detail dem tertium comparationis« (S. 36) entsprechen muss. Diese – und weitere Charakterisierungen in diesem Kontext – treffen auf den Eingangsvergleich sicherlich zu, es bleibt jedoch zu klären, welchen Stellenwert die doppelte ›Wenn‹-Konstruktion einnimmt. Dies ist zum einen deshalb der Fall, weil hier (Teil-)Sätze und nicht bloß Nomen verglichen werden, zum anderen – und damit verbunden – nähert sich der Vergleich einer dynamisch aufgefassten Metapher. Metaphorisch könnte dies am ehesten als ›Flimmern‹ der Bedeutungen beschrieben werden.
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Dies ist bereits innerhalb der Konstruktion ›Wie wenn … So‹ der Fall, in der die oben umrissenen Aspekte des Vergleichs, des Irrealis, des Temporalen und Konditionalen in ihren Wechselwirkungen zusammenspielen. Verstärkt wird die Komplexität und Heterogenität dieser ›Dynamiken‹ durch das zweite ›Wenn‹ zu Ende des zweiten Verses, das sich sowohl hypotaktisch auf ›des Morgens‹ als auch parataktisch auf das erste ›Wenn‹ und somit auf die gesamte Eingangskombination beziehen lässt.6 In beiden Fällen potenziert sich die Komplexität der Vergleichs-, der Temporal- und Konditionalkonstruktion sowie deren Zusammenspiel. Im ›reflektierten‹ Lesen löst sich somit die ›materielle‹ Einheit der Sprache und die ›unmittelbare‹ semantische Naturidylle in eine Dynamik, oder besser ›Dynamiken‹, von Wechseln und ›Umschlägen‹ der Bedeutung auf, die nicht zu einer qualitativen Einheit ›fest-gestellt‹ werden können. Die ›Einheit‹ zeigt sich vielmehr als ein anderes – und doch als ›dasselbe‹ – zu den disparaten und aufeinander verweisenden, in ›eins‹ zusammengehörenden, ›Wechseln‹. Dieser Vollzug der Auflösung der unmittelbaren Einheit, des Durchgehens der verschiedenen Teile und ihrer Bezugsmöglichkeiten sowie der ›Neukonstitution‹ der Ganzheit als ›Einheit‹ disparater und unaufhebbar aufeinander bezogener Bewegungen wird aufgrund der Komplexität und der Unmöglichkeit der Synthese zu einer qualitativ feststellbaren Einheit eigens thematisch. Die Selbstreflexivität von ›Einholung‹ und Darstellung wird somit im genauen Lesen sowohl vollzogen als auch reflektiert, d. h. ›Darstellung‹ stellt sich in der ihr inhärenten Autoreflexivität, Selbstperpetuierung und -potenzierung eigens dar.7 Finden sich diese ›Verhältnisse‹ auf der Ebene semantischer Bedeutungsgenerierung, so implizieren die Beschreibungen der Natur am Morgen nach der Gewitternacht denselben Vorgang. Der Dreischritt von Auflösung der ›unmittelbaren‹ Einheit (1), Vollzug und Ausdrücklichwerden der Bewegungen der Teile (2) sowie Neukonstitution und Darstellung als in sich unaufhebbar dynamisch-differenter ›Einheit‹ (3) zeigt sich vor allem in dem zentralen Vers
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Die zweite Option tritt vor allem dadurch hervor, dass das ›So‹ zu Beginn der zweiten Strophe durch das zweite ›Wenn‹ als Abschluss der Konditionalkonstruktion erscheinen kann, wodurch sich das erste stärker aus der Vergleichskonstruktion löst und – parallel zu dem zweiten – in seinem konditional-temporalen Sinn erscheint. Das ›So‹ zu Beginn der zweiten Strophe kann als Abschluss der (temporalen) Konditionalkonstruktionen wie auch als Einleitung des zweiten Teils des Vergleichs gelesen werden. Gerade wenn das zweite ›Wenn‹ als Parallelkonstruktion zu dem ersten gesehen wird, können die Teile des zweiten Konditional- bzw. Temporalsatzes in den Vergleich mit einbezogen werden. Günter Figal (»Götterflucht, Epiphanie und dichterische Vermittlung. Zur philosophischen Bedeutung Hölderlins«. In: »… auf klassischem Boden begeistert«. Antike-Rezeptionen in der deutschen Literatur. Hrsg. v. Olaf Hildebrand u. a. Freiburg 2004, S. 235–246) fasst dies allgemeiner, wenn er betont, dass die ›Feiertags-Hymne‹ »nicht nur das Verhältnis von Göttern und Menschen zur Sprache bringen will, sondern dieses Zur-Sprache-Bringen selbst dichtet« (S. 243).
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fünf (»In sein Gestade wieder tritt der Strom«8), der sowohl den ursprünglichen Zustand des Flusses in seinem Ufer als auch sein Übertreten, und das heißt die Auflösung seiner Einheit, impliziert. Darin sowie in der expliziten Nennung der Zweiheit von ›Gestade‹ und ›Strom‹ wird zudem deutlich, dass erst aufgrund der Auflösung der unmittelbaren Einheit des Flusses dessen eigentliche Verfasstheit zum Vorschein kommt. Diese zeigt sich als das konstitutive Ineinander von zwei Entgegengesetzten, dem Ufer sowie dem fließenden Wasser, so dass sich der Fluss als (und begründet durch) die ›Einheit‹ des Widerspruchs von Fließendem und Festem darstellt. Die Wortwahl gestaltet dieses ›Verhältnis‹ nach, denn im Gegensatz zu dem gebräuchlicheren ›Ufer‹ zeigt die Ableitung des Substantivs ›Gestade‹ von dem Verb ›stehen‹ – gerade mit dem Präfix ›Ge-‹ – das Ineinander des BegrenzendStatischen des Substantivs mit dem Dynamischen des Verbs an. Als die spezifische Verschränkung von Fließendem und Festem kann der Fluss sowohl im Kontext der Darstellungsproblematik bei Hölderlin als auch in Rückbezug auf die Antike9 als Metapher für alles, was überhaupt (eines, etwas) ist, gelten. Denn der Fluss zeigt sich als das ›eine‹ (der Fluss) des einen (des Flusses als Wasser) und des anderen (des Ufers) und kann in seiner Grundstruktur als Einheit (1) der Einheit (2) und der Differenz beschrieben werden. Gerade in der Schilderung des Rückgangs des Flusses in sein Ufer (»In sein Gestade wieder tritt der Strom«10), die das vorhergehende Überschreiten des Ufers impliziert, wird deutlich, dass sich die grundsätzliche Verfasstheit des Flusses als dieses konstitutive Ineinander der Gegensätze nur vermittels der relativen Auflösung dieser ›Einheit‹ in dem Überschreiten der ursprünglichen Grenze, des Ufers, zeigt. Auch die weiteren Naturphänomene werden explizit als die Einheit in der Zweiheit von Entgegengesetztem, konkret als das irdische Ineinander von Irdischem und Himmlischem beschrieben: Und von des Himmels erfreuendem Reegen Der Weinstok trauft und glänzend In stiller Sonne stehn die Bäume des Haines […].11
Diese Verfasstheit wird entsprechend traditioneller Metaphorik explizit als Wachstum (»Und frisch der Boden grünt«12) herausgestellt, das auf dem vorausgegangenen Zeugungsgeschehen von Himmel und Erde in dem Gewitter beruht. 8 9 10 11 12
St. 1, V. 5, MA, Bd. 1, S. 262; FHA, Bd. 8, S. 557; StA, Bd. 2,1, S. 118. Vgl. die Thematik von ›peras‹ und ›apeiron‹ in Platons ›Philebos‹, 16e–31c. St. 1, V. 5. St. 1, V. 7–9, H. v. m. St. 1, V. 6.
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Aufgrund dieser unmittelbar vergangenen ›Hochzeit‹13 von Himmel und Erde bildet der folgende Tag eine qualitativ ausgezeichnete Hoch-Zeit im Sinne des Festes, einen ›Feiertag‹, der entsprechend der antiken Auffassung konstitutiv mit dem Schauen, der ›theoria‹ (›zu sehn‹, gerade im Gegensatz zu dem alltäglichen Bearbeiten des Feldes) verbunden ist. Entsprechend der Zweideutigkeit der ›günstigen Witterung‹ erscheint der Feiertag nach der nächtlichen Hochzeit sowohl als ›Gunst‹ als auch als ›günstige Witterung‹ für das Wachstum. Mit der ersten Bedeutung der ›günstigen Witterung‹ sowie mit der ›theoria‹ des Landmanns verbindet sich die Erkennbarkeit der Naturerscheinungen in ihrer grundlegenden Verfasstheit, die von deren spezifisch ›exzentrischen‹ Bewegung ›am Feiertage‹ ermöglicht wird, wie sie an dem Beispiel des Flusses aufgezeigt wurde. Doch stellen sich in dieser qualitativ-zeitlichen Konstellation nicht bloß die Naturerscheinungen von ihrem ›Grund‹ her dar, sondern auch das ›Himmlische‹, denn die Sonne tritt an den irdischen Naturerscheinungen als Lichtquelle hervor: Und von des Himmels erfreuendem Reegen Der Weinstok trauft und glänzend In stiller Sonne stehn die Bäume des Haines […].14
Das Licht, das an sich nicht wahrnehmbar ist und in der Regel auch dadurch nicht hervortritt, dass es die Ermöglichungsbedingung darstellt, vermittels dessen das andere, von ihm Beschienene, überhaupt erscheinen kann, kommt in dem Glänzen der nassen Blätter selbst zum Vorschein. Dieses Erscheinen des Lichtes (›vom Himmel‹) beruht somit auf dem Ineinander eines Himmlischen, des Regens, mit einem Irdischen, den Blättern, wodurch es gespiegelt, reflektiert wird. In dieser Reflexion kann das Licht als das Glänzen eigens erscheinen und vermittelterweise als dasjenige hervortreten, aufgrund dessen sich überhaupt etwas (optisch15) zeigen kann.16
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Albrecht Seifert (Untersuchungen zu Hölderlins Pindar-Rezeption. München 1982) stellt – wie schon Günther Zuntz (Über Hölderlins Pindar-Übersetzung. Diss. Marburg 1928, S. 74) – die Anleihen von »Wie wenn am Feiertage …« bei Pindars 7. Olympischer Ode heraus (vgl. S. 122), fasst jedoch die ›Feier‹ bei Hölderlin lediglich als »Sonntagmorgen[…]« (S. 158) auf, wodurch er die substantielle Parallele zu der Schilderung einer Hochzeit bei Pindar übersieht. Einen Vergleich von »Wie wenn am Feiertage …« mit Pindars 1. Olympischer Ode bietet Wolfgang Martin: Mit Schärfe und Zartheit. Zu einer Poetik der Sprache bei Hölderlin mit Rücksicht auf Herder. Bonn 1990, S. 119–127. Umfassende Bezüge zu Pindars Dichtung finden sich bei Karl Maurer: »Die Anfänge von Hölderlins hymnischem Sprechen – ›Wie wenn am Feiertage‹«. In: »Es bleibet aber eine Spur / Doch eines Wortes«. Zur späten Hymnik und Tragödientheorie Hölderlins. Hrsg. v. Christoph Jamme u. a. München 2004, S. 21–66. St. 1, V. 7–9, H. v. m. Die zentrale Stellung der Sinneswahrnehmungen in ihrer Verschiedenheit und Einheit kommt auch in der Synästhesie »In stiller Sonne« zum Ausdruck. Vgl. dazu auch die Platonische Betrachtung des Lichtes im Kontext der Idee des Schönen
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Diese Struktur des konstitutiven Bezugs auf den Gegensatz zu einem anderen (in der Staffelung der Einheit der Einheit und der Differenz), um als ›es selbst‹ erscheinen zu können, findet sich auch in der Darstellungsweise des nächtlichen Gewitters, denn auf dieses wird direkt nur in der Nennung der ›kühlenden Blize‹ als vergangene Bezug genommen, auf die weiteren konstitutiven Komponenten des Gewitters (den Regen und den Donner) sowie auf die geschehene Vereinigung von Himmel und Erde wird lediglich vermittels der präsentischen Naturbeschreibungen verwiesen. Diese fungieren – als die konkrete Hinterlassenschaft des Gewitters – innerhalb des ›Bildes‹ als natürliche Zeichen für das vergangene Gewitter und die geschehene Vereinigung. Beide erscheinen in dem Gedicht somit in zweifacher Weise vermittelt, als Vergangene und als lediglich über die Zeichen Erschließbare.17 Der einzige direkte Bezug auf das vergangene Gewitter in der Nennung der Blitze, »[…] wenn / Aus heißer Nacht die kühlenden Blize fielen / Die ganze Zeit […]«,18 stellt zugleich dessen Grund mit dar. Dieser besteht – so wird implizit deutlich – in dem Extrem (»heiße[…] Nacht«19), das in einem Umschlag aus sich selbst heraus (»[a]us heißer Nacht«20) seinen Ausgleich und sein ›Maß‹21 findet (»die kühlenden Blize fielen«22). Dabei sind die Ausgleichenden, die ›kühlenden Blitze‹, der Nacht nicht nur in Bezug auf deren akzidentelle Bestimmung, die Hitze, entgegengesetzt (wodurch die Nacht mittelbar als Sommernacht bestimmt wird), sondern auch hinsichtlich ihrer essentiellen Bestimmung, der Dunkelheit. Zudem werden die Blitze in zeitlicher Hinsicht aporetisch ›bestimmt‹, denn das sowohl in seiner Erscheinung als auch in der poetischen Adaption Plötzliche, Augenblickliche, zeitlich Diskontinuierliche, des Blitzes wird hier als kontinuierlicher Vorgang beschrieben: »[…] die kühlenden Blize fielen / Die ganze Zeit […]«.23 Es ist deutlich, dass sich in diesem Geschehen des Umschlags und der Entgegensetzung das Jeweilige (die Nacht als heiße und dunkle, die Blitze als kühlende und erhellende) in der Struktur der Einheit der Einheit und der Differenz (als das Dunkle des Dunklen und des Hellen, als das Heiße des Heißen und des Kühlenden) darstellt. Diese Bewegung des Extrems, das aus sich sein Gegenteil hervortreibt, dadurch in den Ausgleich harmonischer Entgegenset-
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(›Politeia‹, 508 e–509 b sowie 515 e–517 c; ›Philebos‹, 64 e–65 a; ›Phaidon‹, 65 d, 76 d–77 a sowie 99 d–e). Hier geht es somit nicht um ein »Erleben der Natur im spannungsgeladenen Gewitter«, auch nicht im »Übergang« »zu einem Hören des Tönens […]« (Maria Behre: »Des dunkeln Lichtes voll«. Hölderlins Mythokonzept Dionysos. München 1987, S. 223). St. 1, V. 2–4. St. 1, V. 3. Ebd., H. v. m. Vgl. die herausgearbeiteten Bedeutungen von ›Ausgleich‹ und ›Maß‹. St. 1, V. 3. St. 1, V. 3f., H. v. m.
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zung gelangt und sich darin darstellt, ist aus den Erörterungen im Umkreis des ›Empedokles‹-Dramas bekannt. Erfolgt die Nennung des Blitzes und des Ermöglichungsgrundes des Gewitters lediglich in zeitlicher Distanz und wird auf die ›ekstasis‹, die sich in dem Gewitter zugetragen haben muss, lediglich vermittels der präsentischen Hinterlassenschaft des Gewitters als ›natürliche‹ Zeichen verwiesen, so zeigt sich darin an, dass die ›ekstasis‹ als Auflösung der Grenzen in der Vereinigung (vgl. den Fluss als exorbitantes Zeichen der Selbst-Auflösung in der grenzüberschreitenden Vereinigung mit der umliegenden Erde24) nicht eigentlich dargestellt werden kann.25 Denn diese ekstatische Einheit muss ausgehend von dem Verhältnis zwischen Nacht und Blitz eine ›Einheit‹ sein, in der ›Einheit‹ und ›Differenz‹ augenblicklich ineinander umschlagen. Auch in dem mittelbaren Zeichen für dieses Geschehen, in der vergangenen, aber implizierten Überschwemmung des Landes durch den Fluss, wird dessen Grenze in jedem Augenblick verschoben, so dass sich für diesen Zeitraum ein ›ständig-augenblicklicher‹ Umschlag von Begrenzung und Überschreitung ineinander ergibt. Der Extremzustand der ›Hochzeit‹ kann somit nicht als bloß ununterscheidbare Vereinigung beschrieben werden, sondern als der Moment des Umschlagens von Identität und Differenz, auf den mit der aporetischen Struktur der ›Identität der Identität und der Differenz als der Differenz von Differenz und Identität‹ bzw. mit der ›absoluten Differenz und der absoluten Identität von Differenz und Identität‹ nur verwiesen werden kann.26 Dieser Augenblick ist im strengen Sinne nicht darstellbar, auf ihn ist nur der Verweis möglich, und zwar vermittels seines immer anderen, der wechselseitigen Unterschiedenheit
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Diese Stellung des Flusses wurde oben in dem einen Aspekt bereits ausgeführt, der andere, welcher den Fluss gegenüber den weiteren Zeichen heraushebt, besteht darin, dass er als Irdisches und als konstitutiv von der Erde Umgebenes zugleich aus dem Element, dem Wasser, besteht, vermittels dem (als Regen) die Vereinigung von Himmel und Erde geschieht und das, als Ergebnis der Vereinigung, die Erde fruchtbar macht. Christof Forderer (»Das Singen der ›Sprachen des Himmels‹. Überlegungen zu Reden und Schweigen in Hölderlins Gedichten«. In: Zeitschrift für Germanistik, N. F. 10,3 [2000], S. 536–546) geht auf das Verhältnis von ›Blitz‹/›himmlischem Feuer‹ und Rede bzw. Schweigen ein und stellt heraus: »Reden ist aufgrund seines eigenen Wahrheitsgehalts [in dem Kontext des ›Blitzes‹, M. H.], d. h. dessen, wovon es zu reden hat, zu einer Angelegenheit geworden, die prinzipiell vom Scheitern bedroht ist (wovon nicht zuletzt der fragmentarische Charakter vieler Texte von Hölderlin und insbesondere auch des ›poetologischen‹ Gedichts ›Wie wenn am Feiertage‹ eine Konsequenz ist)« (S. 545). Nur wenn der ›Augenblick‹ als diese Dynamik betrachtet wird, kann die Darstellungsstruktur als ›Identität der Identität und der Differenz‹ in ihrer Differenz als unaufhebbare und die erste Identität als nichts anderes als der Widerstreit gefasst werden. Wird dieser ›Augenblick‹ jedoch lediglich als absolute Identität aufgefasst, so bildet die erste Identität in der Darstellungsstruktur ein jenseits des Verhältnisses von Identität (2) und Differenz Angesiedeltes, von dem die Differenz immer schon umfasst und begründet wird und in dem sie sich folglich aufheben muss. In den Texten Hölderlins erscheint die Differenz jedoch als gleichursprünglich mit der Einheit.
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von Identität und Differenz in der zeitlichen Erstreckung, von dem her das Undarstellbare wiederum als das grundsätzlich andere erscheint. Der Verweis zeigt sich somit als die doppelte Vermittlung eines ›Nicht‹, als die Realisation der Darstellungsstruktur in ihrem Extrem, die sich darin zugleich als Darstellung aufhebt und zum bloßen Verweis wird. Auf der selbstreflexiven Ebene des Gedichts ist dieses grundsätzlich Zeitliche und in sich Unterschiedene als die Sprache dargestellt und unter Einbezug von »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« als ihr Analoges, der menschliche Geist.27 Die höchste Ebene der Gegensatzstruktur in den ersten anderthalb Strophen des lyrischen Entwurfs, die alle bisher genannten Erscheinungen semantischer wie syntaktischer Art umfasst, stellt der Eingangsvergleich ›Wie … So‹ dar. Trotz der in sich starken Untergliederung des ersten Comparatum lässt sich eine grundlegende Ebene des Vergleichs, das ›Gehen des Landmanns am Feiertage, das Feld zu sehn‹ mit ›ihrem Stehen unter günstiger Witterung‹ feststellen.28 Diese soll im Folgenden unter weiterführender Betrachtung der oben festgestellten syntaktischen und semantischen Struktur herausgearbeitet werden. Auffällig ist zunächst, dass die Vergleichskonstruktion durch den doppelten Anschluss mit ›Wenn‹ auf unterschiedliche Weise unterlaufen wird. Denn wird
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Vgl. MA, Bd. 2, S. 96; FHA, Bd. 14, S. 318f.; StA, Bd. 4,1, S. 260f. Alexander Honold (Hölderlins Kalender. Astronomie und Revolution um 1800. Berlin 2005) sieht die »zeitgenössischen Dichter« nicht mit dem »Inspektionsgang des Bauern nach einem Gewitter«, sondern mit dem »vom Naturereignis unbeeindruckte[n] Ausharren der Bäume des Hains« verglichen (S. 338). Annette Hornbacher (Die Blume des Mundes. Zu Hölderlins poetologisch-poetischem Sprachdenken. Würzburg 1995) bezieht den Vergleich zunächst auf den Landmann und den Dichter, um ihn dann jedoch als Vergleich zu betrachten, »der die Ereignisqualität des ›Feiertags‹, an dem alle Erscheinungen erst in die ihnen eigentümliche Seinsfülle gelangen, mit der ›günstigen Witterung‹ in Bezug setzt, unter der die ›Dichter‹ ›stehn‹, sofern sie sich wie die ›Bäume‹ offen den ›Wettern‹ aussetzen« (S. 156). Peter Szondi (»Der andere Pfeil. Zur Entstehungsgeschichte des hymnischen Spätstils«. In: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis. Frankfurt/Main 1970, S. 37–61, hier S. 42) trifft den Vergleich nicht, wenn er behauptet, »Rebe« und »dichterische[s] Wort« statt Landmann und Dichter seien hier ›ineinsgesetzt‹. Denn zum einen ist in diesem Zusammenhang von keinem ›dichterischen Wort‹ die Rede und zum anderen stützt sich seine Lesart auf die Gleichsetzung von ›Gottes Gewittern‹ mit der ›günstigen Witterung‹, was dem Beginn des Gedichts nicht angemessen ist. Den zweifachen Bezug von »sie« sowohl auf »die Bäume des Haines« als auch auf die »Dichter« verkennt auch Rainer Nägele (Text, Geschichte und Subjektivität in Hölderlins Dichtung: »Uneßbarer Schrift gleich«. Stuttgart 1985, vgl. S. 182). Paul de Man (»Patterns of Temporality in Hölderlin’s ›Wie wenn am Feiertage …‹«. In: Romanticism and Contemporary Criticism. Ed. by E. S. Burt u. a. Baltimore u. a. 1993, S. 50–73) diskutiert die Lesarten (Bezug von »sie« auf den Landmann, vgl. S. 61 bzw. auf die ›Bäume‹ und den ›Weinstock‹, vgl. S. 62), verfehlt aber ebenfalls die positive strukturelle Bedeutung dieses doppelten Bezuges, wenn er konstatiert: »no important problem is raised by this possible ambiguity of metaphorical reference« (S. 62). Angemessener Wolfgang Lange (»Das Wahnsinns-Projekt oder was es mit einer ›antiempedokleischen Wendung‹ im Spätwerk Hölderlins auf sich hat«. In: DVjs 63 [1989], S. 645–678), der jedoch in dieser Ambiguität die ›doppelte Präsenz‹ des Dichters sieht, »einmal in Gestalt des Landmannes […] zum anderen in Gestalt der Gewächse auf dem Felde, vor allem in dem des Weinstockes« (S. 664).
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die Konstruktion als reiner Vergleich aufgefasst, so muss die Einheit von ›Wie wenn‹ aufgebrochen werden, und das bedeutet, dass das ›Wenn‹ als elementarer Bestandteil des ersten Comparatum verstanden werden muss. Dadurch, dass das zweite Comparatum (›So …‹) die ›Wenn‹-Konstruktion jedoch nicht wiederholt, sondern in dem ›So‹ einen Abschluss der konditional-temporalen Struktur bildet, tritt diese Bedeutung so stark hervor, dass sich der Vergleich in eine rein konditional-temporale Aussage aufzulösen scheint. Die alternative Betrachtungsweise der ›Wie wenn‹-Konstruktion als Einheit löst den Vergleich jedoch ebenfalls auf, indem sie sich an die Bedeutung der irrealen ›Als ob‹-Konstruktion annähert. Die einzige Möglichkeit, den Vergleich als solchen zu erhalten, liegt darin, die Verbindung von ›Wie‹ und ›Wenn‹ als zwischen den beiden eindeutigen und insofern extremen Alternativen liegend zu betrachten. Dabei umfasst diese dritte Möglichkeit die beiden Extreme, ohne jedoch mit einem von beiden identisch zu sein. Vielmehr impliziert diese Deutung das Umschlagen von dem einen Extrem in das andere, somit die Bewegung des Wechsels und darin die Struktur der Identität der Identität und der Differenz. Eine weitere Schwierigkeit bei der Betrachtung des Vergleichs besteht darin, dass die auf das zweite ›Wenn‹ folgenden Naturbeschreibungen nicht bloße Zusätze, sondern die genauere Bestimmung ›des Morgens‹ und vermittelterweise auch des ›Feiertags‹ darstellen, unter dessen Voraussetzung das ›Gehen des Landmanns‹ in diesem Sinne überhaupt möglich wird. Somit müssen die parataktischen Reihungen, die sich an das zweite ›Wenn‹ anschließen, mit in den Vergleich einbezogen werden. Einerseits finden diese ihre explizite Entsprechung in der ›günstigen Witterung‹ des zweiten Teils des Vergleichs, andererseits fungieren die jedoch in stärkerem Maße als Ermöglichungsgrund und als substantielle Bestimmungen dieses ausgezeichneten ›Gehens des Landmanns am Feiertage‹, als dies in dem Verhältnis der ›günstigen Witterung‹ zu dem ›Stehen‹ der Fall ist. Die bloße Aufhebung der einzelnen Naturbeschreibungen in der ›günstigen Witterung‹ ist somit nicht bruchlos möglich. Aufgrund der Komplexität des ersten Comparatum tritt sowohl der Vollzug seiner Analyse und Synthese als auch die Vergleichsbewegung und -struktur als solche hervor. In deren Vollzug wird zum einen deutlich, dass der materiell sprachlich feststehende Vergleich tatsächlich eine Übertragungsbewegung, und zwar eigentlich in beide ›Richtungen‹, somit eine Wechselbestimmung der Comparata hinsichtlich deren Übereinstimmung und Differenz, bedeutet. Zum anderen tritt hervor, dass die Auf- und Einlösung des Vergleichs in keinem isolierten und in sich feststehenden ›tertium comparationis‹ bestehen kann, sondern dass der Vergleich nur ›aufgelöst‹ und ›gefasst‹ werden kann in der und als die Vergleichsbewegung, die er ist, so dass sich das ›tertium comparationis‹ als die Einheit der Einheit und der Differenz der Comparata in ihrer Wechselbewegung erweist. 247
Diese Vergleichsbewegung, die der eine sprachlich-materiell feststehende Vergleich ist und darstellt, entspricht auch dem in den beiden Vergleichsteilen Beschriebenen. Denn werden auf der untersten Ebene des Vergleichs das Gehen des Landmanns am Feiertage und ›ihrem‹ (vgl. »sie«) Stehen unter günstiger Witterung verglichen, so zeigt sich darin dasselbe Verhältnis von Prozessualität und Statik, das der Vergleich darstellt. Dabei bezieht sich »sie« zum einen auf »die Bäume des Haines« zurück – und das ist in der Chronologie des Gedichts die unmittelbare Lesart – zum anderen – und das wird erst in dem Rückbezug des später im Gedicht Folgenden auf das Vorige deutlich – muss sich »sie« auch auf die »Dichter« beziehen, die erst in dem siebten Vers des Gedichts genannt werden. Ohne diesen Rückbezug fände das ›Gehen des Landmanns‹ in dem Vergleich als Übertragungs- und Wechselbewegung keine Entsprechung, denn die »Bäume des Haines« sind selbst Teil der Naturerscheinungen, in denen sich der Landmann innerhalb der Bildlichkeit des Vergleichs bewegt und können somit nicht als Entsprechung des Landmanns in der Übertragung dienen. Ist dieser Bezug auf die Dichter somit konstitutiv, so werden auf der grundlegenden Ebene des Vergleichs »am Feiertage, das Feld zu sehn / Ein Landmann geht« mit »So stehn sie [die Dichter] unter günstiger Witterung« verglichen, und so erscheint das Stehen der Dichter unter günstiger Witterung als nichts anderes denn als eine Bewegung, die noch nicht an ihr Ziel gekommen ist: »das Feld zu sehn / Ein Landmann geht«. Diese Bewegung korrespondiert mit der Vergleichsbewegung, durch welche das ›Gehen‹ erst auf das ›Stehen‹ der Dichter bezogen wird. Der Bezug von »sie« auf die Dichter generiert eine weitere Bedeutung der »Witterung«, nämlich im Sinne des ›Witterns‹ von etwas, das räumlich zwar getrennt ist, dessen ›Spur‹ jedoch aufgenommen werden kann. Für diese weitere Bedeutung spricht auch das explizite ›Ahnen‹ und ›Harren‹ zu Ende der zweiten und zu Beginn der dritten Strophe. In der Zweideutigkeit von ›Witterung‹ zeigt sich zudem ein entscheidendes Verhältnis zwischen der Natur und dem Dichter insofern an, als sich in diesem, einen, Wort die Natur und der Dichter als differente Bezugspunkte ›vereinigen‹ und es gerade dieses Verhältnis ist, das das Dichten ermöglicht.29 Die konstitutive Übertragungsbewegung von einem Prozessualen in ein Statisches, vom ›Gehen‹ in ein ›Stehen‹, das sich dadurch als Statisches des
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Das Verhältnis der Dichter zur Natur (die als das »All-Eine« und die »All-Natur« charakterisiert wird) derart zu bestimmen, dass die Dichter »in besonderer Weise dieser Sphäre« angehören, da »sie […] durch die Fähigkeit zu jenem All-Einheitserlebnis ausgezeichnet [sind], das Hölderlin theoretisch ›intellektuale Anschauung‹ nennt« und die Natur dann als die Instanz zu fassen, worin die »Genialität« der Dichter besteht, greift zu kurz (Jochen Schmidt: »Hölderlins idealistischer Dichtungsbegriff in der poetologischen Tradition des 18. Jahrhunderts«. In: HJb 22 [1980/81], S. 98–121, S. 117, vgl. auch ders.: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945. Band 1. Darmstadt 1985, S. 404–429).
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Statischen und des Dynamischen bestimmt, findet sich nicht nur auf dieser untersten Ebene des Vergleichs, sondern sämtliche, in dem ersten Teil des Vergleichs beschriebenen, Naturphänomene sind als prozessuale dargestellt und werden auf das ›Stehen‹ übertragen.30 Auch erscheint das Gewitter nicht bloß als Vergangenes, Abwesendes, sondern es ist in den Zeugen, In sein Gestade wieder tritt der Strom, Und frisch der Boden grünt Und von des Himmels erfreuendem Reegen Der Weinstok trauft und glänzend In stiller Sonne stehn die Bäume des Haines[,]31
einerseits als Abwesendes anwesend, und d. h. als Abwesend-Anwesendes gesagt, und es wird andererseits in der Sentenz »und fern noch tönet der Donner«32 als etwas verdeutlicht, das in dem Prozess des Sich-Entfernens begriffen ist. Auch hier kommt somit das in sich widerstrebige Verhältnis von Statik und Dynamik zur Geltung. Das Gewitter erscheint folglich – in gegenteiliger, chiastischer Entsprechung zu dem Gehen des Landmanns33 – in einem ›Zwischen‹ von unmittelbarer Anwesenheit und völliger Abwesenheit, indem es in einem konstitutiv zu ihm gehörigen Teil, dem Donnern, präsent ist, sich jedoch gerade dadurch in seinen anderen Bestimmungen als abwesend zeigt. Denn wäre das Gewitter nicht noch in einem konstitutiven Teil anwesend, könnte es in diesem Kontext auch nicht sinnvoll als Abwesendes bestimmt werden. Das Gewitter ist in den beschriebenen Naturphänomenen nach dem Gewitter entsprechend der Zeichenstruktur als Abwesendes im prozessualen Sinne präsent. Dabei tritt die akustische Dimension, die spezifisch als ›Tönen‹ gesagt ist, in ihrer eminenten Stellung gegenüber den anderen Sinneswahrnehmungen hervor. Denn das Hören ist neben dem Riechen (und das kommt in der Zweideutigkeit der ›Witterung‹ zum Tragen, vgl. die Ausführungen oben) der Sinn, der Abwesendes präsentisch wahrnehmen kann und vermittels dem das Abwesende als (anwesend) Abwesendes bestimmt werden kann. Das Gewitter wird im ›Tönen‹ des Donners – im Gegensatz zu den Zeichen – in seinem Vollzug auch als Abwesendes selbst vernehmbar. 30
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Bernhard Böschenstein (»Geschehen und Gedächtnis. Hölderlins Hymnen ›Wie wenn am Feiertage …‹ und ›Andenken‹«. In: Le pauvre Holterling. Blätter zur Frankfurter Ausgabe 7 [1984], S. 7–16) fasst das folgendermaßen: »[W]ir befinden uns an der für Hölderlin entscheidenden Schwelle zwischen Aufruhr und Beruhigung, zwischen Entgrenzung und neuer Sicherung, zwischen dem revolutionären Geschichtswetter und dem Frieden. Der Dichter versucht, beide Zustände darzustellen, indem er sich an der Grenze zwischen beiden aufhält« (S. 9). St. 1, V. 5–9. St. 1, V. 4. Denn der Landmann ist noch nicht am Ziel (»[…] das Feld zu sehn / Ein Landmann geht […]«, St. 1, V. 1f.), das Gewitter schon nicht mehr anwesend.
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Doch verweist die Vergleichskonstruktion nicht allein auf ihre eigene Verfasstheit, die der Darstellungsstruktur entspricht, sondern sie zeigt sich – als die Übertragung von konkreten Naturerscheinungen auf das Dichten – auch als genaue Analogie zu der Anverwandlung des Stoffes durch den Geist in dem poetischen Prozess, wie er in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« dargestellt ist. Die poetische Übertragungsbewegung des ›Stoffs‹ in das ›Zeichen‹, wodurch sich das Gedicht im grundsätzlichen Sinne als ›Metapher‹ bestimmt, sowie dessen Verfasstheit als Idealisches (bzw. Sprachliches) des Idealischen und des Nicht-Idealischen entspricht genau dem Verhältnis konkreter Naturerscheinungen zu dem Dichten, wie es in der Konstruktion des ›Wie wenn … So‹ zur Darstellung kommt. Denn bezieht sich »sie« zu Beginn der zweiten Strophe zunächst auf »die Bäume des Haines« zurück und wird der weitere Bezug auf die »Dichter« erst in dem siebten Vers rückwirkend deutlich, so unterläuft der erste und unmittelbare Bezug von »sie« zunächst die Vergleichsstruktur, so dass in diesem Fall der erste Vers der zweiten Strophe als Abschluss des zweiten konditional-temporalen ›Wenn‹-Satzes erscheint und somit auf der Ebene der einzelnen Naturerscheinungen verbleibt. Auch kann dann das Zentrum des ersten Comparatum, das Gehen des Landmanns am Feiertage, in dem ersten Vers der zweiten Strophe keine Entsprechung finden. Die Übertragung wird erst durch den Bezug von »sie« auf die »Dichter« im siebten Vers der zweiten Strophe möglich, so dass sich der Vergleich zwischen dem ›Gehen des Landmanns am Feiertage‹ und dem ›Stehen der Dichter unter günstiger Witterung‹ ergibt. Die ersten anderthalb Strophen verbleiben somit einerseits auf der Ebene der Beschreibung konkreter Naturerscheinungen, andererseits wird diese jedoch von der Vergleichsbewegung umfasst, die eine Übertragung auf die Dichter bedeutet. Darin wird die poetische Selbstreflexivität des Vergleichs und zugleich die Entsprechung zu der entscheidenden Struktur des poetischen Prozesses deutlich: der Stoff muss in der Anverwandlung durch den poetischen Geist konstitutiv auch als Nicht-Idealisches erhalten bleiben, wie die Naturerscheinungen in der umfassenden Übertragung auf den Dichter im Vergleich (›Wie … So‹) auch auf ihrer ursprünglichen Ebene (›Wenn … So‹) verbleiben. Die Gesamtstruktur der ersten anderthalb Strophen kann somit als ›Übertragung der Übertragung und der Nicht-Übertragung‹ bestimmt werden und entspricht der ›Metapher‹, die der poetische Prozess als ›Idealisches des Idealischen und des Nicht-Idealischen‹ ist und darstellt. Besteht das Verhältnis der ersten Strophe zu dem ersten Vers der darauffolgenden Strophe jedoch nicht lediglich in der Übertragung, sondern auch in einer konditional bestimmten Konsequenz, so erscheinen die Naturbeschreibungen nicht nur im übertragenen Sinne als ›günstige Witterung‹ für das Dichten, sondern auch in dem tatsächlichen. Darin kommt zum einen der in der Selbstreflexivität von Dichtung verbleibende, konstitutiv heteroreferentielle 250
Bezug auf ›Welt‹ zum Ausdruck, zum anderen erscheint aber auch die ›Welt‹ als solche poetisch, und zwar analog zu der Weise, wie der antike Mythos das Verhältnis von Göttlichem und Natur sowie von Göttern und deren kultisch›künstlerischen‹ Darstellungen bestimmt, nämlich in dem Sinn, dass der Gott in dem anderen als er selbst präsent ist. Diese paradoxe Struktur der Darstellung ist jedoch nur möglich aufgrund der harmonischen Entgegensetzung von ›Natur‹ und Dichtung, in der die Pole untrennbar aufeinander bezogen sind und insofern eine ›Einheit‹ bilden. In »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« wird dieses Verhältnis vorausgesetzt und in Bezug auf die konkrete Stoffwahl noch verstärkt, indem gefordert wird, der ausgewählte Stoff müsse für »das Idealische« »vorzüglich receptiv«34 sein. Entsprechend werden die Naturerscheinungen und das Idealisch-Dichterische in dem Gedicht als in Wechselkonstitution aufeinander bezogene beschrieben: »Drum wenn zu schlafen sie [die göttlichschöne Natur] scheint zu Zeiten des Jahrs / […] / So trauert der Dichter Angesicht auch, / […] doch ahnen sie immer. / Denn ahnend ruhet sie selbst auch«.35 Die Wechselbestimmung kommt auch auf diskursiver Ebene in der chiastischen Anordnung der beiden Entsprechungen (Natur – Dichter, Dichter – Natur) zum Ausdruck. Zudem wird die ›Natur‹ als in sich doppelwertig beschrieben, als ›Natur‹ im engeren Sinne in ihrem Gegensatz zur ›Kultur‹, und im weiteren Sinne, das ›Kulturelle‹ mit umfassend: »Drum wenn zu schlafen sie scheint zu Zeiten des Jahrs / Am Himmel oder unter den Pflanzen oder den Völkern«.36 Darin zeigt sich die ›Natur‹ bereits als das ›Umfassende‹ der Gegensatzkonstitution an. Muss der Leser jedoch die in dem Vergleich immanente Bewegung selbst vollziehen und impliziert diese sowohl ein Verbleiben auf der Ebene der Naturphänomene als auch die Übertragung auf die Dichter, so vollzieht er einen Prozess, der zu dem poetischen Akt analog verläuft. Der grundlegende Akt des poetischen Prozesses als Übertragung des Stoffes in das Zeichen wird in dem Vergleich somit von dem Leser übernommen, und er stellt sich darin zugleich eigens dar. Der Rezipient wird zum Medium und ›Akteur‹ sowohl des Vollzugs als auch der Selbstreflexion der Dichtung in Bezug auf ihre Ermöglichungsbedingungen und Grundverfasstheit, die als ›metaphorisch‹ bestimmt wird und sich auf allen Ebenen des Vergleichs vollzieht. So erweist sich auch in dem Rückbezug auf die Ausführungen zu »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« dieser Vergleich als die Darstellung und der Vollzug der Darstellung und des Vollzuges der Sprachfindung des Gedichts, indem sich in ihm zum einen der Verweis auf den ›göttlichen Moment‹ ›transzendentaler Empfindung‹ in dem vergangenen Gewitter findet
34 35 36
MA, Bd. 2, S. 80; FHA, Bd. 14, S. 305; StA, Bd. 4,1, S. 243. St. 2, V. 5–9. St. 2, V. 5f., H. v. m.
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und sich zum anderen der Prozess der Sprachfindung in dem Vergleich der fremd erscheinenden Welt mit der Empfindung des Dichters – im doppelten Wortsinn – ›realisiert‹. Ist in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« die neu erscheinende Welt zugleich nichts anderes als die Welt des Dichters, die sich in dem poetischen Prozess in Wechselwirkung mit seiner Empfindung und deren ›Läuterung‹ zu dem Ton gebildet hat, so ist die Welt des Landmanns, in der er sich am Feiertage bewegt, um »das Feld zu sehn«, in genauer Entsprechung zugleich identisch mit seiner alltäglichen Welt, und sie muss ihm in dieser ekstatischen Hoch-Zeit wie ›neu‹ und ›fremd‹ erscheinen, was sich in der Differenz des Bezuges (der Landmann geht, um »zu sehn« und nicht, um das Feld zu bearbeiten) im Sinne der bloßen Betrachtung, der ›theoria‹, zeigt. So stellt das Gehen des Landmanns als das ›Stehen der Dichter‹ den Prozess ›schöpferischer Reflexion‹ dar, in dem der Dichter/der Landmann seine Stimmung mit seiner Welt vergleicht und ›als übereinstimmend erfindet‹. Dieser Prozess ist in dem Eingangsvergleich des Gedichts gesagt, und der Leser muss die Vergleichsbewegung vollziehen, um die Bedeutung des Gedichtsanfangs, seine Selbstreflexivität und somit die ›Übereinstimmung‹ mit dem dichterischen Prozess zu ›(er)finden‹.37 Die Sprachfindung des Dichters ist nach »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« in gewissem Sinne eine ›ursprüngliche‹, auch wenn sie sich in der erlernten, ›alten‹ Sprache hält. Dasselbe gilt in abgeschwächter Form für den Leser. Auch er muss die ›Sprache des Gedichts‹ – wie ›ursprünglich‹ – (er)finden, denn nur in diesem Akt kommt das Gedicht ›zu sich selbst‹, mit dem Unterschied, dass der Leser durch das poetische Zeichen ›bestimmt‹ wird und der Dichter der ›bestimmende‹ ist. Die Sprachfindung des Dichters wie die des Lesers stellen sich somit jeweils als ›Wiederholung‹, als Verhältnis der Einheit der Einheit und der Differenz, zu einer hypostasierten ›wirklich‹ ›ursprünglichen‹ Sprachfindung38 dar. Genau diese Wiederholungsstruktur ist auch für das als aktual sich vollziehend dargestellte ›Erwachen der Natur‹39 im Verhältnis zu einem ursprünglichen Erwachen festzustellen. Dies wird auch durch die Betonung des ›festen Gesetzes‹ hervorgehoben: Und hoch vom Aether bis zum Abgrund nieder Nach vestem Gesetze, wie einst, aus heiligem Chaos gezeugt,
37 38 39
›(Er)finden‹, weil der Leser der ›bestimmte‹, der Dichter der ›bestimmende‹ ist (vgl. Kapitel IV.4.3). Vgl. die Thematik in Platons ›Kratylos‹. Vgl. St. 3, V. 5, den zentralen Vers der Strophe.
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Fühlt neu die Begeisterung sich, Die Allerschaffende wieder.40
Dieses Geschehen wird gedichtintern als Voraussetzung für das Dichten beschrieben, und das Gedicht zeigt sich in dem Vergleich auch als aktual aus dem Lesen hervorgehend. Dies bildet jedoch einen Gegensatz zu dem präsentischen »Jezt aber tagts!«41 und zu dem von dem Ich ausgesprochenen Wunsch des Gelingens des Gedichts. Die eigenen Voraussetzungen, die in dem Gedicht als sich aktual vollziehende dargestellt werden (»Jezt aber tagts!«) kommen erst in der dritten Strophe, und das heißt inmitten des Vollzugs des Gedichts zur Sprache, wodurch das eigentlich dichterische Sprechen vermittelterweise als zukünftiges (»sei mein Wort«42) dargestellt wird. Diese Stelle könnte somit einerseits als Diskreditierung des eigenen Sprechens aufgefasst werden, andererseits vollzieht sich das ›Tagen‹ (»Jezt aber tagts!«, H. v. m.) in dem jeweiligen Lesen des Gedichts ›neu‹ und muss folglich auch als gedichtimmanentes Geschehen gewertet werden, das seine eigenen Voraussetzungen zugleich mit darstellt und vollzieht und sich somit selbst wiederum als gelungenes Gedicht markiert. Was hier hervortritt – und darin besteht der zentrale Punkt – ist der Gegensatz von Darstellung und Vollzug der eigenen Voraussetzungen in dem Gedicht.43
40 41 42 43
St. 3, V. 6–9, H. v. m. St. 3, V. 1. St. 3, V. 2. Martin Heidegger (»›Wie wenn am Feiertage …‹«. In: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. 5., durchgesehene Aufl. Frankfurt/Main 1981, S. 49–77) geht auf diese selbstreflexiven Implikationen des ›Jezt‹ nicht deutlich genug ein, wenn er es auf mögliche qualitative Zeitpunkte bezieht, in denen sich »Geschichte« im Gegensatz zur Historie ereignet, d. h. »wenn […] das Wesen der Wahrheit anfänglich entschieden wird« (S. 76). Dabei vernachlässigt er die konstitutiven Analogien zur Augenblicklichkeit des Blitzes, und sieht diesen, »Des Vaters Stral« (St. 7, V. 5), in Bezug auf die Dichter als »vermittelnden« (S. 71), obgleich dieser in dem Zusatz »ihn selbst« in engste Verbindung mit dem ›Vater‹ gesetzt wird. Auch Heideggers Ausdeutung der Randbemerkung Hölderlins rechtfertigt seine Deutung nicht, die zudem nur unter Einbezug von Hölderlins Deutung des Pindarfragments ›Das Höchste‹ möglich ist. Das Motiv des Blitzes stellt Peter Szondi ins Zentrum seiner Auslegung (vgl. »Der andere Pfeil. Zur Entstehungsgeschichte des hymnischen Spätstils«. In: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis. Frankfurt/Main 1970, S. 37–61, hier S. 41). Dabei scheint Szondis Bezug des ›Waffenklangs‹ auf die konkreten historischen Ereignisse zu Ende des 18. Jahrhunderts von Heideggers Deutung nicht so weit entfernt, wie immer wieder behauptet wird, denn auch Szondi deutet die Stelle dahingehend, dass »Hölderlin [in den Revolutionsund Koalitionskriegen des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts] nichts bloß Menschliches« »erblickt« und ihren »Wirkungsraum« somit »nicht nur unter den Völkern, sondern auch zwischen Himmel und Erd« (S. 42) ansetzt und folglich »nicht bloß eine Veränderung der historisch-sozialen Verhältnisse sich versprach, sondern einen grundlegenden Wandel, eine metanoia, im Verhältnis der Menschen zum Göttlichen, ein Erwachen aus dem Schlummer jener Nacht, die die Nacht der Götterferne und Vereinzelung ist« (S. 43). Zu Heideggers These der Überwindung des transzendentalen Ansatzes sowie eines ›ästhetischen Platonismus‹ vgl. Holger Schmid: »Geschick und Verhältnis des Lebendigen. Die grie-
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Diese paradoxe Struktur der eigenen Voraussetzungen hinsichtlich der zeitlichen Chronologie des Gedichts findet ihre Entsprechung in der Nennung des ›Jezt‹. Denn wurde in Bezug auf das nächtliche Gewitter in der ersten Strophe die (Un-)Zeitlichkeit des Blitzes als Symbol des augenblickshaft Plötzlichen und die bloße Möglichkeit des Verweises deutlich, so zeigt sich auf diesem Hintergrund das ›Jezt‹ als paradoxes, und zwar in dem Sinne, dass das Sprechen, das immer in zeitlicher Erstreckung geschieht, niemals den bloßen Augenblick eines ›Jetzt‹ sagen kann. Tritt aufgrund der Widerstrebigkeit des Bezugs auf die eigenen Voraussetzungen der Gegensatz von Vollzug und Darstellung hervor, so soll dieser im Rückgriff auf bereits erfolgte Beobachtungen genauer herausgearbeitet werden. Für den Eingangsvergleich bleibt festzuhalten, dass das Gedicht in diesem ›selbst beginnt‹ und der Leser in der Auflösung des Vergleichs einen Prozess vollzieht, der zu dem poetischen Entstehungsprozess analog verläuft. Die Selbstreflexivität des Eingangsvergleichs zeigt sich jedoch nicht unmittelbar, sondern wird erst in der Auflösung des Vergleichs auf die Dichter hin deutlich, worin sich zugleich auch die Nicht-Übertragung, das Verbleiben der Naturphänomene auf ihrer Ebene zeigt. In dem Vollzug dieser Übertragung (1) der Übertragung (2) und der Nicht-Übertragung tritt dieser selbst hervor. Der Bezug auf die Dichter wird dabei lediglich in der Übertragung (2) generiert und kommt somit nicht unmittelbar zur Darstellung und bezieht sich zudem auf allgemeine poetische Verhältnisse, nicht auf das konkrete Gedicht in seinem aktualen Vollzug. Dennoch kommt die – im weiteren Sinne – selbstreflexive Bedeutung ausschließlich in dem Vollzug der Übertragung zum Vorschein, die der Vergleich ist und die analog zu dem grundsätzlichen poetischen Akt der Anverwandlung des Stoffes durch den Geist verläuft. Das Verhältnis von Vollzug und Darstellung der Entstehungsvoraussetzungen von Dichtung ist in den ersten beiden Strophen somit eines des Vollzugs (1) (das Gedicht vollzieht sich im Lesen) des Vollzugs (2) (der Akt, den der Leser ausführen muss, ist analog zu dem ursprünglich poetischen Akt) und der Darstellung (in der Übertragung werden die Entstehungsvoraussetzungen von Dichtung dargestellt). Dabei sind die Ermöglichungsbedingungen von Dichtung, wie sie in diesem poetischen Vollzug hervortreten, als allgemeine und nicht auf den aktualen poetischen Vollzug bezogene dargestellt (vgl. die Struktur ›Wie wenn … wenn … So‹, die eine Allgemeingültigkeit und keine aktuale Bezogenheit impliziert sowie explizit ›die Dichter‹). Diesem Modus folgt auch die gesamte zweite Strophe, die nicht nur die allgemeinen Voraussetzungen (»So stehn sie unter günsti-
chische Sphäre zwischen Heidegger und Hölderlin«. In: »Voll Verdienst, doch dichterisch wohnet / Der Mensch auf dieser Erde«. Heidegger und Hölderlin. Hrsg. v. Peter Trawny. Frankfurt/ Main 2000, S. 165–179, v. a. S. 165f.
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ger Witterung«44 mit dem Bezug auf die »Dichter«45) darstellt, sondern sogar die Bedingung der Möglichkeit der Voraussetzung, nämlich die grundsätzliche Bezogenheit der Natur und der Dichter in der Natur: Drum wenn zu schlafen sie scheint zu Zeiten des Jahrs […] So trauert der Dichter Angesicht auch, Sie scheinen allein zu seyn, doch ahnen sie immer. Denn ahnend ruhet sie selbst auch.46
Dabei erscheint die Natur als Natur der Natur und der Kultur: »Drum wenn zu schlafen sie scheint zu Zeiten des Jahrs / Am Himmel oder unter den Pflanzen oder den Völkern«.47 Exkurs Es deutet sich hier ein zu den theoretischen Schriften entgegengesetztes Verhältnis von Idealischem und Nicht-Idealischem an. Diese Umkehrung der Struktur, in der nicht der poetische Geist, sondern die Natur als das Umfassende erscheint, zieht sich semantisch durch die gesamten ersten drei Strophen.48 So erscheint die Natur als die ›Erzieherin‹ der Dichter49 und diese als ihr Spiegel und ihre Entsprechung.50 Darüber hinaus stellt sie sich als Natur (1) der Natur (2) und der Kultur dar51 und fungiert somit als dasjenige, das die Voraussetzungen für das Dichten allererst schaff t und dieses zugleich konstitutiv umfasst. 44 45 46 47
48
49 50 51
St. 2, V. 1. St. 2, V. 7. St. 2, V. 5–9. St. 2, V. 5f., H. v. m. Es ist nicht einleuchtend, das Fragment deshalb als ›Vorführung‹ der »Sublimierung und Vergeistigung der ursprünglich naturhaften Genialität« zu betrachten, »indem sie der Geschichte eine bewußtseinserzeugende Funktion zumißt – einer Geschichte allerdings, die nicht aus dem Wirkungsgefüge der Natur herausfällt« (Jochen Schmidt: »Hölderlin: Die idealistische Sublimation des naturhaften Genies zum poetisch-philosophischen Geist«. In: Friedrich Hölderlin. Neue Wege der Forschung. Hrsg. v. Thomas Roberg. Darmstadt 2003, S. 115–139, hier S. 129). Die mit den theoretischen Schriften übereinstimmende Struktur des ›Idealischen des Idealischen und des Nicht-Idealischen‹, die an der Vergleichsstruktur herausgearbeitet wurde, zeigt sich dort erst vermittelt über die genaue Betrachtung der Struktur und somit der Sprachlichkeit als solcher. Unmittelbar erscheint auch da die ›günstige Witterung‹ als Grundlegendes und das Dichten Ermöglichendes. Vgl. St. 2, V. 1–4. St. 2, V. 5–9. Vgl. oben. Martin Heidegger (»›Wie wenn am Feiertage …‹«. In: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. 5., durchgesehene Aufl. Frankfurt/Main 1981, S. 49–77) sieht die Natur – auch unter Einbezug des »Allgegenwärtig« (St. 2, V. 3) – deshalb in der »Allheit ihrer Gegenwart« (S. 53), was zu weitgehend erscheint. Auch ist die Frage, ob der Gegensatz, in dem die Natur besteht – bzw. den nach Heidegger die »Allheit ihrer Gegenwart« ›durchwaltet‹ – in seiner Zuspitzung die »äußersten Gegensätze des höchsten Himmels und des tiefsten Abgrundes« (ebd.) darstellt, oder ob es sich nicht vielmehr um das Spannungsverhältnis von ›Natur (2)‹ und ›Geist‹, somit von Nicht-Idealischem und Idealischem handelt.
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Der Dichter muss dieses Geschehen in der Dichtung ›zu sich bringen‹ und ›vollenden‹ (vgl. den in früheren Kapiteln dargelegten Sinn), jedoch ist er in seinem Dichten konstitutiv auf für ihn unverfügbare Voraussetzungen bezogen, wie an dem Gewitter als Anwesenheit des Göttlichen deutlich wird. Nur aufgrund dieser unmittelbar vergangenen Präsenz des Göttlichen und der geschehenen Vereinigung des Himmels und der Erde in der ›Hoch-Zeit‹ kann der Dichter ›wie der Landmann am Feiertage, das Feld zu sehn‹ gehen und – wie es in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« heißt – aus diesem geschehenen ›göttlichen Moment‹ ›transzendentaler Empfindung‹ die Sprache des Gedichts in ›schöpferischer Reflexion‹ ›erfinden‹. Der in dem Gedicht dargestellt-vollzogene Wunsch nach dem Gelingen des Dichtens zu Beginn der dritten Strophe (»Und was ich sah, das Heilige, sei mein Wort«52) spart in dem präsentischen Sprechen die Gegenwart als Bezugspunkt aus und bezieht sich lediglich auf die Vergangenheit (»Und was ich sah«) sowie die Zukunft (»sei mein Wort«). Auch hier zeigt sich bereits das widerstrebige Verhältnis von Vollzug und Darstellung.53 Zugleich kommt in diesem zentralen Vers das Verhältnis von Dargestelltem, ›Stoff‹, und poetischer ›Darstellung‹ in der sprachlichen Struktur zum Ausdruck. Denn bezieht sich die metrische Mitte des Verses, »das Heilige« (diesem gehen zwei Hebungen voraus und zwei folgen nach), zunächst auf das Vorangegangene und ist »das Heilige« somit das ›Gesehene‹ (»Und was ich sah«), so erscheint das erhoff te ›Wort‹ (»sei mein Wort«) demgegenüber als ›abbildend‹. Zugleich wird dieses in der zweideutigen syntaktischen Konstruktion jedoch auch mit dem ›Heiligen‹ identifiziert (»das Heilige sei mein Wort«), so dass das ›Wort‹ zu dem ›Heiligen‹ und das ›Heilige‹ zu dem ›Wort‹ werden soll.54 Das gelungene ›Wort‹ bzw. Gedicht besteht somit in der Gegenstrebigkeit des konstitutiven Bezugs auf ein anderes, Nicht-Idealisches, und zugleich stellt sich die Identität mit diesem derart dar, dass das andere, hier ›das Heilige‹, erst in der Anverwandlung in dem poetischen Prozess ›es selbst‹ wird. Das Gedicht ist somit konstitutiv für das ›Heilige‹ und wird zu seinem eigentlichen Vollzug, jedoch nicht in völliger Ablösung von einem vorgängigen, nicht-idealischen ›Heiligen‹, auf das es sich konstitutiv als sein begründendes anderes bezieht.55 Eine Lesart, die das Heilige als sich ausschließlich in dem Gedicht konstituierend und vollziehend betrachtet, würde den ersten Teil des Verses nicht mit einbeziehen. Die Auffassung, die das Gedicht als den eigentlichen Vollzug des Heiligen ansieht und somit in Betonung des zweiten Teils des Verses zwar die Identität von ›Wort‹ und ›Heiligem‹ im Wort konstatiert, kann und muss in sich dennoch auch die Diff erenz
52 53
54
55
St. 3, V. 2. Hans-Jost Frey (»Das Heilige und das Wort«. In: Friedrich Hölderlin. Neue Wege der Forschung. Hrsg. v. Thomas Roberg. Darmstadt 2003, S. 35–48) stellt in Absetzung von Heideggers Interpretation die Differenz von Nennen und Ereignis/Sein (vgl. v. a. S. 43) sowie von Sagen (als Vollzug/Ereignis) und Gesagtem (vgl. v. a. S. 44) heraus. Der Vers ordnet sich somit in seiner internen Widerstrebigkeit bogenförmig um die Mitte des ›Heiligen‹, das zu den beiden Teilen des Verses in jeweils unterschiedlicher Bedeutung zugeordnet werden muss (»Und was ich sah, das Heilige« sowie »das Heilige sei mein Wort«) und somit – im Bild des Bogens – den Umschlagspunkt zwischen den widerstrebigen Armen bildet. Vgl. dazu auch die Betonung der Notwendigkeit eines wahrhaft anderen für die Selbstrealisation des Geistes im poetischen Prozess in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«, aufgrund dessen es erst zu dem ›göttlichen Moment‹ ›transzendentaler Empfindung‹ und somit zu dem wirklichen Gedicht kommen kann.
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zwischen dem ursprünglichen Heiligen und dem poetischen Geist bzw. dem Wort, d. h. den ersten Teil des Verses erhalten. Darin wird die innere Widerstrebigkeit der Verhältnisse und somit auch des Verses als solchem nicht aufgehoben, vielmehr folgt der Vers der Struktur, die für das Verhältnis von Stoff und Geist im poetischen Prozess herausgearbeitet wurde. Auch hier zeigt sich jedoch die Umkehrung der Verhältnisse gegenüber den theoretischen Schriften. Denn erscheint der Bezug des poetischen Geistes auf ein NichtIdealisches konstitutiv, und zwar gerade auch für die Identität von Wort und Heiligem im Gedicht, hebt sich der erste Teil des Verses somit nicht in dem zweiten auf, so erscheint dieser und mit ihm seine Bedeutung für das gesamte, in sich widerstrebige Verhältnis, das der Vers bildet, umfassend und begründend. Wird somit das zunächst Nicht-Idealische, das ›Heilige‹, als das Grundlegende und Umfassende der Identität von Heiligem und Wort konstatiert, so bedeutet das gedichtimmanent eine Struktur des Nicht-Idealischen des Nicht-Idealischen und des Idealischen. Zugleich kommt dieses umgekehrte Verhältnis jedoch in dem Gedicht, somit in einem Idealischen, zum Ausdruck, wodurch die Darstellungsdimension des Gedichts (als Nicht-Idealisches des Nicht-Idealischen und des Idealischen) mit seinem Vollzug (als Idealisches des Idealischen und des Nicht-Idealischen) in Widerspruch gerät und sich das Verhältnis der Entgegensetzung eine Ebene höher manifestiert.
Das widerstrebige Verhältnis von Vollzug und Darstellung der eigenen Voraussetzungen findet sich auch zwischen den ersten beiden Strophen und der dritten. Werden die eigenen Ermöglichungsbedingungen am Anfang des Gedichts allgemein und nicht auf den aktualen Vollzug bezogen dargestellt,56 und gestaltet sich das Verhältnis von Vollzug und Darstellung als Vollzug des Vollzugs und der Darstellung, so ist in der dritten Strophe das Gegenteil der Fall. Denn dort werden die Voraussetzungen für die Entstehung von Dichtung als aktual sich vollziehend und auf das eigene, konkrete dichterische Sprechen bezogen herausgestellt: »Jezt aber tagts! Ich harrt und sah es kommen«.57 Das Verhältnis von Darstellung und Vollzug manifestiert sich somit als die Darstellung (1) (die offensichtliche Autoreferentialität) der Darstellung (2) (der eigenen Voraussetzungen) und des Vollzugs (in dem Sinne, dass sich die Voraussetzungen als dargestellte, jedoch nicht als der Vollzug der Voraussetzungen selbst vollziehen). Dadurch, dass das Sprechen unmittelbar als Darstellung der eigenen Voraussetzungen erscheint (Darstellung [1]), erscheint sowohl die Darstellung (2) (Darstellung der eigenen Voraussetzungen) als auch der Vollzug dieses Sprechens als Dargestelltes. Das gesamte Sprechen ist Darstellung, und selbst sein Vollzug tritt – aufgrund der Selbstreflexivität dieser Struktur – als solcher hervor, ist somit selbst Dargestelltes. Zugleich bleibt er jedoch auch Vollzug, denn 56
57
Das ist der Fall, auch wenn sie sich immanent vollziehen, vgl. den Beginn des Gedichts und den Vollzug der Vergleichsbewegung als dieser Beginn im zweifachen Sinne, als aktualer Vollzug des Beginns und als immanenter Verweis auf das Hervorgehen eines jeden Gedichts aus der Vergleichsbewegung, die auf die ›transzendentale Empfindung‹ in dem poetischen Prozess folgt. St. 3, V. 1, H. v. m.
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er ist der Vollzug des Sprechens und somit auch der Vollzug des Gesagten in diesem Sprechen. An dieser Stelle wird die gesamte innere Widerstrebigkeit von Darstellung und Vollzug hinsichtlich der Entstehungsbedingungen des Gedichts deutlich, wobei diese Verhältnisse in dem Gedicht – selbstreflexiv und -potenzierend – zugleich geschehen und ausdrücklich werden. Dabei verhalten sich diese nicht bloß in sich, sondern auch auf übergeordneter Ebene zueinander widerstrebig. Darüber hinaus ›stehen‹ diese Bewegungen zu Beginn des Gedichts mit dessen Vollzug in Widerspruch, und zwar dadurch, dass das Gedicht seine Voraussetzungen als aktual geschehende erst in der dritten Strophe darstellt. Tritt aufgrund der Komplexität der Eingangsstruktur sowohl der Vollzug als auch die Darstellung des Gedichts eigens hervor und befindet sich der Leser der ersten drei Strophen in diesen immanenten Widerstrebigkeiten des Gedichts, so zwingt ihn deren grundsätzliche Verfasstheit auf zwei Ebenen (als ›A [1] des A [2] und des Nicht-A‹) auf die jeweils umfassendere Ebene, so dass der Leser auf immer grundsätzlichere Ebenen der Reflexion des Gedichts als Gedicht gelangt. Dessen Unmittelbarkeit löst sich dabei aufgrund dieser Verfasstheit auf, das Gedicht zersetzt sich, und es formiert sich in dem Ausdrücklichwerden und dem Vollzug seiner grundsätzlichen Verfasstheit auf immer höheren Ebenen ›neu‹ und als Gedicht. Das Gedicht ist somit konstitutiv auf den Leser bezogen und dieser muss – wie der Dichter selbst – einen idealischen Prozess vollziehen, in dem sich das Anverwandelte, hier das Gedicht und mit ihm der Leser in seiner idealischsprachlichen Grundverfasstheit, sowohl zeigt als auch konstituiert. Dabei ist der idealische Akt, den der Leser vollzieht – wie in dem Anfang des Gedichts vollzogen und als Sich-Vollziehendes dargestellt – zu dem ursprünglichen poetischen Akt analog, denn der idealische Akt des Lesers ist diesem aufgrund und in der Verfasstheit des Gedichts zugleich ›vorgegeben‹ und er konstituiert sich allererst in der Wechselwirkung des Gedichts mit dem Geist des Lesers. Der ›Geist des Gedichts‹ – wie auch der des Lesers – reproduziert sich somit in dieser Wechselwirkung, und beide realisieren sich (in dem doppelten Sinn des ›Verwirklichens‹ und ›Erkennens‹) in dieser und werden ›sie selbst‹. Durch das und in dem Gedicht realisieren sich sowohl der Dichter als auch der Leser in dem höchsten, da grundsätzlichsten Sinn als Mensch, wobei für das Lesen wie für das Dichten die Prekarität des ›günstigen‹ Glückens gilt, die in dem Gedicht sowohl implizit als auch explizit zur Darstellung kommt. Die idealische Selbstreproduktion bleibt somit gerade als Idealisches (1) des Idealischen (2) und des Nicht-Idealischen konstitutiv auf das Nicht-Idealische bezogen, so dass das Idealische (1) nur gedacht werden kann als die Wechselwirkung von Idealischem (2) und Nicht-Idealischem, wobei es diese sowohl ›ist‹, vollzieht als auch darstellt. Somit müsste der konstitutive Gegensatz in der Struktur des ›Idealischen (1) des Idealischen (2) und des Nicht-Idealischen‹ 258
ausgeschrieben werden als der Gegensatz des ›Idealischen (1) des Idealischen (2) und des Nicht-Idealischen (1)‹ zu dem ›Nicht-Idealischen (1) des Nicht-Idealischen (2) und des Idealischen (1)‹, somit als das ›Idealische (1) des Idealischen (2) und des Nicht-Idealischen (1) des Nicht-Idealischen (2) und des Idealischen (1)‹.58 Darin wäre auf die in sich widerstrebig-zirkuläre Struktur des ›göttlichen Moments‹ ›transzendentaler Empfindung‹ verwiesen, die auch als die Dynamik der ›Identität der Identität und der Nicht-Identität‹ als die ›Nicht-Identität der Nicht-Identität und der Identität‹ angezeigt werden kann. Die scheinbaren Umkehrungen des Verhältnisses von Idealischem und NichtIdealischem, die in dem Gedicht dargestellt sind, werden von dem Vollzug – und dieser ist ein primär sprachlich-idealischer – des Gedichts wiederum gebrochen, und in dieser zweifachen Brechung kann sich das ›eigentlich‹ zugrunde liegende Verhältnis, der ›göttliche Moment‹ ›transzendentaler Empfindung‹ als der Umschlag von Identität und Differenz, somit als ›absolute Identität und absolute Differenz von Identität und Differenz‹, anzeigen.
2.
›Hälfte des Lebens‹
Nimmt das Fragment »Wie wenn am Feiertage …« innerhalb des Stuttgarter Foliobuchs als freirhythmischer Entwurf nach Pindarischem Vorbild formal eine Sonderstellung gegenüber den Oden ein, so ist sein experimenteller Charakter nicht zuletzt an dem Abbruch des Entwurfs sowie an der oftmals unentschiedenen Offenheit verschiedener erwogener Möglichkeiten zu erkennen. In unmittelbarer Nähe zu dem Entwurf der Schlussstrophe von »Wie wenn am Feiertage …« – nach der Zählung der FHA auf der Seite 6/34 des Stuttgarter Foliobuchs – entstehen unter einer früher anzusetzenden Überschrift »Die Schwäne«59 Zeilen,60 die in anderer Aufteilung die Verse fünf bis sieben der ersten Strophe von ›Hälfte des Lebens‹ bilden. Ebenso finden sich in topographischer Nähe »Wo nehm ich, wenn es Winter, ist« sowie »Weh mir!«,61 die unter geringen Abweichungen als erster Vers der zweiten Strophe sowie als Beginn des zweiten Verses in das endgültige Gedicht eingehen. Der Ausruf »Weh mir!« gehört dabei zunächst zu den Entwürfen der Schlussstrophe von »Wie wenn am Feiertage …«.62 Vermutlich entsteht ›Hälfte des Lebens‹ bei erneuter Durchsicht des Stuttgarter Foliobuchs.
58 59 60 61 62
Zu dieser Ausdrucksweise vgl. die Fußnote 19 der Einleitung sowie das Ende von Kapitel V.11. Nach der Einteilung der FHA als Σ 7, vgl. Bd. 7, S. 109. Σ 13 nach FHA, vgl. ebd. Σ 11 nach FHA, vgl. ebd. Vgl. ebd. sowie Bd. 8, S. 557, Z. 67b.
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Die Autoreflexivität des Gedichts ist – unter Einbezug der tradierten Bildlichkeit – in den ›Schwänen‹ als Dichtersymbol, ihrer enthusiastischen ›Trunkenheit‹ sowie dem Wasser als ›heilignüchternem‹ deutlich.63 Gerade das Ineinander der Trunkenheit und der Nüchternheit als Entgegengesetzte,64 hat Hölderlin bereits in der Frankfurter Zeit als Konstitutivum des Dichtens herausgestellt: Das ist das Maas Begeisterung, das jedem Einzelnen gegeben ist, daß der eine bei größerem, der andere nur bei schwächerem Feuer die Besinnung noch im nöthigen Grade behält. Da wo die Nüchternheit dich verläßt, da ist die Gränze deiner Begeisterung. Der große Dichter ist niemals von sich selbst verlassen, er mag sich so weit über sich selbst erheben wie er will. Man kann auch in die Höhe fallen, so wie in die Tiefe.65
Aus der Perspektive der ersten Strophe kann somit auch die zweite mit ihrem Bezug auf ein ›Ich‹ sowie auf die ›Sprachlosigkeit‹ der Mauern als selbstreflexiv gelten.66 Die erste Strophe erscheint aufgrund ihres Zusammenfallens mit dem ersten Satz als Einheit, die in sich relativ unwiderständig durch glatte Enjambements in Verse unterteilt scheint. Erst bei genauerer Lektüre erschließt sich – parallel zu »Wie wenn am Feiertage …« und wiederum auf syntaktischer Ebene – die ausgeprägte widerstrebige Gespanntheit sowie die weitere Gliederung der Strophe in sich.67 Denn ist die erste Strophe zwar orthographisch als nur ein Satz markiert, so besteht sie syntaktisch aus zwei Hauptsätzen, der einleitenden Descriptio der Naturerscheinungen in den Versen eins bis drei und einer an die Schwäne (»ihr«) adressierten Beschreibung ihres Tuns:
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67
Vgl. dazu Jochen Schmidt: »Sobria ebrietas. Hölderlins ›Hälfte des Lebens‹«. In: HJb 23 (1982/83), S. 182–190, hier S. 184–187, und ders.: »Kommentar zu Friedrich Hölderlin: Hälfte des Lebens«. In: Warum Klassiker? Ein Almanach zur Eröffnungsedition der Bibliothek deutscher Klassiker. Hrsg. v. Gottfried Honnefelder. Frankfurt/Main 1985, S. 104–106. Der Verweis, in »diesem Gedicht verwirklich[e] sich die Kunst des Gegensatzes und des Harmonisch-Entgegengesetzten« sowie die Feststellung, dass der »pointierte Gegensatz« »keine aufhebende Synthese« verlange, indem er als »›reiner‹ Gegensatz wirken« wolle (Rüdiger Görner: »Hölderlins Aber oder: Die Kunst des Gegensatzes«. In: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft 25, 2 [1994], S. 293–307, hier S. 307) reicht jedoch nicht hin. MA, Bd. 2, S. 58; FHA, Bd. 14, S. 69; StA, Bd. 4,1, S. 233. Zum Verhältnis von ›Nüchternheit‹ und ›Begeisterung‹ sowie den ›Affekten‹ vgl. auch Burkhard Meyer-Sickendieck: Affektpoetik. Eine Kulturgeschichte literarischer Emotionen. Würzburg 2005. Nach Bernd Schneider (Hölderlins Sprachdenken zwischen Poesie und Reflexion. Freiburg Diss. WS 2000/01, http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/462) ist die erste Strophe, »die Sprachlosigkeit der Dichtervögel Schwäne«, »in aller Gefährdung eine voller höchster Sprachund Welthaftigkeit. Doch ihre Liebe ist blicklos für den anderen geworden. Die höchste Fülle ist nicht mehr auf den anderen bezogen«. In der zweiten Strophe sei demgegenüber die »Armut eines begrifflichen Bewußtseins, das sich nicht mehr zu übersteigen vermag« (S. 201), dargestellt. Die erste Strophe evoziert somit keine Vollendung in dem Sinne eines »Zustand[es] jenseits aller Trennung, in dem jedes Gegenüber von Ich und Welt aufhört« (Jochen Schmidt: »Sobria ebrietas. Hölderlins ›Hälfte des Lebens‹«. In: HJb 23 [1982/83], S. 182–190, hier S. 184).
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Und trunken von Küssen Tunkt ihr das Haupt Ins heilignüchterne Wasser.68
Dazwischen befindet sich als zentraler Vers eine Apostrophe an die Schwäne, die gleichermaßen zu beiden Hauptsätzen gehört. Denn in der Chronologie des Gedichts scheint die Apostrophe an die Schwäne mit der Descriptio in den ersten drei Versen zusammenzugehören, aufgrund der Nennung des »ihr« in Vers sechs, das sich nur auf die »Schwäne« rückbeziehen kann, ist jedoch die Einheit mit den letzten drei Versen zwingend. Der mittige Vers vier gehört als einer somit irreduzibel zu beiden Teilen der Strophe. Zugleich ist diese Zugehörigkeit eine jeweils spannungsvolle und widerständige. Denn bildet der erste Teil der Strophe eine quasi neutrale Descriptio von Naturerscheinungen in ihrem Zusammenspiel (»Mit gelben Birnen hänget / Und voll mit wilden Rosen / Das Land in den See«), so stellt der vierte Vers als Apostrophe an die Schwäne eine gegensätzliche Sprechhaltung dar. Gehört dieser Vers jedoch konstitutiv zu dem ersten Hauptsatz,69 so schlägt dieser im Nachhinein, in dem vierten Vers, in die gegenteilige Sprechhaltung um. Zugleich bleiben die ersten drei Verse jedoch auch Descriptio, und zwar dadurch, dass sie dem vierten Vers stets vorausgehen. Es zeichnet sich innerhalb der ersten vier Verse somit eine in sich widerstrebige Einheitsstruktur ab, in der die Descriptio zum einen als sie selbst erhalten bleibt und zum anderen zugleich in ihren Gegensatz, in eine an die Schwäne gerichtete Rede, umschlägt. Aus der Perspektive der Einheit mit dem vierten Vers erscheint die Gesamtstruktur der ersten vier Verse somit als Apostrophe (der Gesamtzusammenhang der ersten vier Verse) der Apostrophe (Vers vier) und der Descriptio (als die ersten drei Verse isoliert und in dem Gesamtzusammenhang verbleibend). In dem Übergang von der Apostrophe in den zweiten Hauptsatz schlägt diese aus der Einheit mit den ersten drei Versen in die Einheit mit den letzten drei Versen um. Der Ort, der den Umschlag begründet und an dem er sich vollzieht (»ihr«70) bildet dabei die relative Mitte der letzten drei Verse. Doch auch die Zugehörigkeit der Apostrophe zu den letzten drei Versen ist in sich widerständig, und zwar gerade aufgrund des eigentlich verbindenden »Und«, mit dem der letzte Teil der Strophe beginnt. Denn beschreiben diese drei letzten Verse das Tun der Schwäne, so wäre die Einleitung mit »Und« nur dann sinnvoll, wenn bereits zuvor auf die Schwäne Bezug genommen worden wäre. Die Voraussetzungen, die der Anfang des letzten Teils somit impliziert, werden in dem Gedicht nicht erfüllt, so dass der Anschluss der letzten drei Verse an den vorausgehenden vierten Vers in sich widerständig ist. Aufgrund 68 69 70
St. 1, V. 5–7, MA, Bd. 1, S. 445; FHA, Bd. 8, S. 757; StA, Bd. 2,1, S. 117. St. 1, V. 1–3. St. 1, V. 6, vgl. oben.
261
dieses Widerstandes tritt jedoch die interne Untergliederung der Einheit der letzten vier Verse in die Apostrophe in Vers vier und die Beschreibung der Schwäne in den letzten drei Versen hervor und mit ihr die Widerstrebigkeit ihrer Verbindung. Auf dieselbe Weise verhalten sich die beiden Hauptsätze der Strophe. Die Verse eins bis drei sowie fünf bis sieben sind einerseits parallel gebaut und stellen Beschreibungen dar, andererseits sind sie einander semantisch entgegengesetzt. Denn beschreibt der erste Teil einen statischen Zustand der ›unbelebten Natur‹ (»Mit gelben Birnen hänget / Und voll mit wilden Rosen / Das Land in den See«), ist in sich reine Descriptio und schlägt erst im Zusammenhang mit dem vierten Vers in eine Apostrophe um, so beschreibt der zweite Teil eine Bewegung ›belebter Natur‹, der Schwäne, und deren Beschreibung ist immer schon an diese gerichtet. Die beiden Hauptteile der Strophe ›ent- und widersprechen‹ sich somit. In dem Zusammendenken der konstatierten Verhältnisse zeichnet sich für die erste Strophe eine Bogenstruktur ab, deren parallel gebauten, jedoch zugleich ›gegenstrebigen‹ Arme in der gemeinsamen Mitte verbunden sind. Diese gehört konstitutiv zu den beiden anderen Teilen, jedoch jeweils nur widerständig. Die Mitte fungiert somit zugleich als Spiegelachse wie auch als Umschlagspunkt zwischen den beiden Teilen des Bogens. Deren chiastischspannungsvolle Verschränkung manifestiert sich zudem in der Klangstruktur der Strophe. Dominieren in dem ersten Teil – jedoch nicht unter Ausschluss des anderen – ›helle‹ Vokale, so findet sich in der ersten Betonung in dem vierten Vers ein ›dunkler‹ Vokal in »holden«, während das vokalisch ›helle‹ Ende des vierten Verses in »Schwäne« vorwiegend ›dunklen‹ Vokalen in dem zweiten Teil der Strophe entgegensteht. Doch ist die erste Strophe nicht bloß strukturell auf verschiedenen Ebenen bogenförmig verfasst, sondern das Beschriebene selbst weist diese Struktur auf. So hängen die Äste der Birnbäume sowie der wilden Rosen unter der Last ihrer Früchte bzw. Blüten in den See. Dieses Hängen ist jedoch kein spannungsloses, sondern beruht auf einem Ausgleich von Kraft und Gegenkraft. Wachsen die Äste ohne ihre Früchte oder Blüten tendentiell vertikal in den Himmel,71 so werden sie von der Last der Früchte und Blüten in die Horizontale bzw. annähernd vertikal zur Erde hin gebogen. Das ist jedoch nur aufgrund der Elastizität der Äste möglich, die sich in ihrer Ausrichtung nach oben durch das Gewicht der Blüten und Früchte bogenförmig nach unten biegen und so in der Lage sind, in sich ein Gleichgewicht zwischen den vertikal nach unten ziehenden Früchten bzw. Blüten und dem eigenen vertikalen Streben nach oben herzustellen. Der Zustand der beschriebenen Bäume bzw. Sträucher ist – in
71
Dieser Umstand ist in dem Gedicht ›Die Eichbäume‹ ausgearbeitet.
262
genauer Analogie zum Bogen72 – somit ein ständiger Ausgleich von Kraft und Gegenkraft in den Ästen. Dass sich diese »in den See« biegen, deutet zum einen auf die fast übermäßige Fülle der Früchte und Blüten hin, zum anderen zeigen sich die Äste darin jedoch zugleich dazu fähig, dieses Höchstmaß zu tragen, die extreme Spannung in sich auszugleichen und somit im Maß zu halten. Der Zustand höchstmöglicher Spannung manifestiert sich darin, dass sich die bogenförmigen Äste annähernd zu einem Kreis schließen. Doch ist die Differenz zu der Kreisformation insofern bedeutsam, als mit dem Bogen keine Rückkehr der äußersten Enden der Äste zu den eigenen Wurzeln impliziert ist, sondern die Bogenformation zu einer Berührung der Äste mit einem zu der Erde gegensätzlichen Element, dem Wasser des Sees, führt. Die Umwendung der Äste stellt hier lediglich eine Rückkehr auf die Höhe der eigenen Wurzeln und somit eine ›Rückkehr‹ in der Differenz dar, wodurch jedoch die gegensätzlichen Elemente, die Erde (»Land«73) und das Wasser (»See«74) zugleich verbunden werden. Die strukturelle Betrachtung des in dem Gedicht beschriebenen Phänomens – auch und gerade in seinen ausgesparten Implikationen, seinen ›Leerstellen‹ – führt in genauer Entsprechung zu dem in dem Gedicht Explizierten zurück. Denn dort ist das Hängen der Äste metonymisch als die Vermittlung der Entgegengesetzten, als das ›Hängen des Lands‹ ›in den See‹, gesagt, wie auch die Vermittlung als solche sowie deren ›Medium‹ zu Beginn des Gedichts ausdrücklich werden: Mit gelben Birnen hänget Und voll mit wilden Rosen Das Land in den See, […].75
Dabei wird zugleich deutlich, dass diese Mittel, durch die und aufgrund derer sich die Verbindung vollzieht, das eigentliche Ziel im Sinne eines ›telos‹ der Birnbäume und der wilden Rosensträucher darstellen. In der Reife der Birnen (»Mit gelben Birnen«) und der Fülle der Blüten (»Und voll mit wilden Rosen«) manifestiert sich die ›Hoch-Zeit‹ im Jahreszyklus dieser Pflanzen, und es sind diese unmittelbaren Anzeichen, Zeugen bzw. Er-zeug-nisse der HochZeit, durch die und aufgrund derer sich die Vermittlung von Erde und Wasser vollzieht. ›Ziel‹ und ›Mittel‹ fallen hier somit – paradox-zirkuär – in eins zusammen.
72 73 74 75
Vgl. Kapitel II.2.1. St. 1, V. 3. Ebd. St. 1, V. 1–3, H. v. m.
263
Inwiefern diese Hoch-Zeit als ›telos‹ im Jahreszyklus (auch das eine in sich widerstrebige Fügung) zugleich auch als Hochzeit in dem Sinne der Vereinigung, somit als Liebesgeschehen, zu verstehen ist, wird in der Bestimmung der Blüten als »Rosen« deutlich. Dass diese zudem als »wilde« erscheinen, könnte als ein Gegensatz zu dem als Kulturpflanze aufgefassten Birnbaum verstanden werden, während die Wahl der Birne unter Umständen in dem botanischen Verhältnis der Birne und der Rose begründet liegt, die unmittelbar kaum Gemeinsamkeiten aufweisen, tatsächlich jedoch zu derselben Familie der Rosengewächse (Rosaceae76) gehören. Die Berührung von Land und See wäre somit von zwei Pflanzen in ihrem ›telos‹ vermittelt, die selbst wiederum in einem Verhältnis der Einheit und der Differenz stehen und deren unmittelbare Erscheinung sich von ihrem eigentlichen Bezug unterscheidet. Die Vermittlung selbst geschieht somit über und durch eine weitere Vermittlung.77 Zugleich werden die in dieser ›Hoch-Zeit‹ beteiligten und harmonisch entgegengesetzten Elemente in eminentem Maß als sie selbst erkennbar. Denn einerseits sind Pflanzen in keinem Zustand so eindeutig zu bestimmen, als wenn sie Früchte und Blüten tragen, und andererseits treten in der Formation der Pflanzen zugleich die Erde und das Wasser als solche und als harmonisch Entgegengesetzte hervor. Darüber hinaus wird, wie hier vollzogen, auch dieses Hervortreten selbst deutlich, so dass sich die ›Hoch-Zeit‹ als ›Extremzustand‹ der Darstellung, entsprechend den in früheren Kapiteln herausgearbeiteten Strukturen, darstellt. Die in den letzten drei Versen der Strophe beschriebene Bewegung der Schwäne folgt dabei denselben bogenförmig vermittelnden Verhältnissen, jedoch unter Betonung der Dynamik (»Tunkt«). Die bogenförmige Rückwendung des Kopfes aus der Luft in ein gegensätzliches Element, das Wasser, hinein, ist hier nicht nur als Vermittlungsbewegung, sondern auch als Akt des Ausgleichs dar76
77
Vgl. Artikel »Birne«. In: Der Große Brockhaus. 16., völlig neu bearbeitete Auflage in zwölf Bänden, Band 2. Wiesbaden 1953, S. 137. Die Frage nach der spezifischen Bedeutung der Birnen wird in der Forschung kaum gestellt. Dabei würde sich eine naheliegende Alternative, die der roten Äpfel, sehr gut in den Liebeskontext fügen. Ein mögliches Argument gegen diese Option wäre jedoch die Assoziation des Sündenfalls und damit verbunden eines biblischen Paradiesgartens. Rüdiger Görner (Hölderlins Mitte. Zur Ästhetik eines Ideals. München 1993) konstatiert zunächst, dass »die Vereinigung der beiden Elemente, Erde und Wasser, nur angedeutet, nicht vollzogen« ist. Das widerspricht jedoch seinen weiteren Ausführungen, dass der »Dichterschwan versucht, es den Elementen gleichzutun; auch er bemüht sich, in liebes-›trunkenem‹ Zustand, das heißt, ohne sein ›Tunken‹ zu überdenken, ins Elementarische einzutauchen« (S. 106). Aus der Unmöglichkeit eines länger anhaltenden Untertauchens des Schwanes versucht Görner, »den Stimmungsumschwung in der Mitte des Gedichts zusätzlich [zu] erklären« (ebd.). Thomas Thornton (»Hälfte des Lebens [aus dem Zusammenhang gerissen] Nahtstelle zum Übersetzen als Metapher«. In: Poetry, Poetics, Translation. Festschrift in Honor of Richard Exner. Hrsg. v. Ursula Mahlendorf u. a. Würzburg 1994, S. 217–223) deutet die Schwäne in derselben Weise (vgl. S. 220) und erklärt daraus die Notwendigkeit, »zur Sprache [zu] drängen und [zu] versuchen, die Fülle wieder herzustellen« (S. 221).
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gestellt, durch den der zunächst unvermittelte Gegensatz von Trunkenheit und Nüchternheit in ein Maß harmonischer Entgegensetzung gelangt. Als Grund des ekstatischen Rausches wird ein vorangegangenes Liebesgeschehen (»trunken von Küssen«) angegeben, das als solches das getrennte Ineinander der Liebenden voraussetzt.78 Um diese Trennung – und somit das Liebesgeschehen als konstitutives Ineinander von Einheit und Differenz – gegenüber der völligen Auflösung im Rausch zu erhalten, muss der Gegenpol der Trunkenheit, die Nüchternheit, mit einbezogen werden. Bedeutsamerweise ist hier nicht das ursprüngliche Liebesgeschehen selbst als heiliges apostrophiert, sondern das Element, vermittels dessen das Maß von Trunkenheit und Nüchternheit erreicht werden kann, das »heilignüchterne Wasser«. Stellt der vierte Vers als Apostrophe an die Schwäne sowohl die Mitte als auch den Umschlagspunkt innerhalb der Bogenformation der Strophe dar, so ist er zugleich der Ort, an dem die Selbstreflexivität des Gedichts (vgl. den ›Schwan‹ als Dichtersymbol) hervortritt. Aus dieser Perspektive erscheinen die drei Eingangsverse nachträglich als Schilderung der für das Dichten günstigen Voraussetzungen in der Natur (deren ›Hoch-Zeit‹), und die nachfolgenden drei Verse stellen sich als die Beschreibung des poetischen Aktes dar. Befindet sich der vierte Vers jeweils in spannungsreicher, jedoch unauflöslicher Einheit mit den beiden Hauptteilen der Strophe, so werden die in den ersten drei Versen geschilderten Voraussetzungen des Dichtens in der Apostrophe auf die Schwäne bzw. Dichter hin gesprochen. Die Selbstreflexivität des Gedichts gestaltet sich somit weder nur als allgemeine Reflexion auf die Voraussetzungen des Dichtens, noch als bloß auf das eigene, aktuale Dichten bezogene, sondern sie erfolgt im Medium einer Apostrophe, eines ›Zurufs‹ an andere, an die Schwäne, die sowohl Teil des ›Stoffes‹ als auch Zeichen für die Dichter sind. Die Selbstreflexivität erscheint hier – im Gegensatz zu einer expliziten Nennung der Dichter – somit selbst originär poetisch vermittelt. Sie wird als solche nur deutlich in einer Rezeption, die – parallel zu dem Akt des Dichters im poetischen Prozess – zum einen den Stoff als Stoff belässt und ihn ›zugleich und zum anderen‹ (auch das ein paradoxes Verhältnis) in das ›Zeichen‹ überträgt. Des Weiteren verweist diese Autoreflexivität den Rezipienten – wiederum entsprechend dem ›ursprünglichen‹ poetischen Prozess – auf die ihr inhärente ›Metaebene‹, so dass die paradoxe Verfasstheit des poetischen Sprechens, d. h. des ›Zeichens‹, als konstitutives Ineinander einerseits des Stoffes
78
Das ›Tunken‹ der Schwäne als narzisstischen Akt zu deuten (vgl. Karl Eibl: »Der Blick hinter den Spiegel. Sinnbild und gedankliche Bewegung in Hölderlins ›Hälfte des Lebens‹«. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 27 [1983], S. 222–234: »Die Schwäne sind trunken vom Küssen ihres eigenen Spiegelbildes, so sehr trunken, daß sie, um sich dem Geliebten ganz zu verbinden, den Kopf ins Wasser tauchen«, S. 228) scheint in sich nicht ganz konsequent, da das Küssen, das ›trunken‹ macht, ja bereits ein Eintauchen in das ›heilignüchterne‹ Wasser bedeuten und den Spiegel der Wasseroberfläche somit zerstören würde.
265
in seiner Übertragung und andererseits des Stoffes als (ursprünglicher) Stoff, thematisch wird. Der Umstand, dass das Gedicht in der einen sprachlichen Gestalt zugleich als sprachlich dynamisch erscheint und aufgrund seiner Autoreflexivität weitere idealische Prozesse auslöst, die sich zu dem ursprünglichen poetischen Akt analog verhalten, bildet eine immanente Übereinstimmung mit der Verfasstheit des Gedichts zwischen Statik und Dynamik, wie sie in Bezug auf »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« ausgeführt wurde. Die Selbstreflexivität des Gedichts ist hier somit nicht eine bloß dargestellte, sondern eine sich in der Rezeption eigens vollziehende, so dass sie als Vollzug des Vollzugs und der Darstellung erscheint. Die eigentlich außergewöhnliche Weise der Autoreflexivität besteht jedoch darin, dass sie in der Apostrophe an die Dichter-Schwäne geschieht und die – immanent auch eigenen – Voraussetzungen auf diese hin gesprochen werden. In dieser Apostrophe treten nicht nur die Angesprochenen explizit hervor, sondern implizit auch der Sprecher bzw. vermittelterweise der ›Dichter‹ des Gedichts sowie der Sprechvollzug als Mittleres und Vermittelndes selbst. Aufgrund dieser Implikationen der Apostrophe an die Dichter-Schwäne vollzieht sich weder die bloße Selbstreflexivität, noch tritt sie lediglich als solche hervor, sondern sie wird von ihren eigenen Voraussetzungen her deutlich. Denn setzt die Apostrophe stets ein Differentes zu dem Sprecher voraus, so zeigt sich in dieser Form des Ansprechens der Dichter-Schwäne durch den implizierten Sprecher/Dichter eine Bezugnahme auf ein Identisch-Differentes, das sich parallel zu Hölderlins Begründungsstruktur des Selbstbewusstseins in Abgrenzung zu Fichte79 verhält. Denn nach Hölderlin kann sich das Selbstbewusstsein und somit das Ich nicht allein dadurch begründen, dass es sich von sich selbst abspaltet, sich als Objekt setzt und sich zugleich als Umfassendes zu dem Subjekt und Objekt denkt, sondern das Ich benötigt ein tatsächlich anderes, das nicht ursächlich auf das Ich zurückgeht und das somit – auch in der Differenz – keine bloße Instanz des Ich bildet, und d. h. nicht von diesem konstituiert wird. Dieser konstitutive Bezug des Selbstbewusstseins auf eine Differenz, die keine bloße Funktion einer ursprünglichen, absoluten Identität ist und die somit auch in der Vermittlung irreduzibel bestehen bleibt, ist als Voraussetzung in der Autoreflexivität des Gedichts in der Apostrophe angezeigt. Denn würde sich die Selbstreflexivität auf die Darstellung oder den Vollzug beschränken, so kämen die in der Apostrophe implizierten Voraussetzungen ihrer selbst und somit der Selbstbezüglichkeit des Gedichts nicht zum Vorschein. Doch besteht gerade in dem Ansprechen eines anderen (der Dichter-Schwäne im Gegensatz zu dem Sprecher bzw. ›Dichter‹ des Gedichts) die Mitte und der eigentliche 79
Vgl. Kapitel I.4.2.
266
Ausgangspunkt der Selbstreflexivität des Gedichts, wobei diese ›anderen‹ als Dichter einerseits mit dem Sprecher übereinstimmen, in der Apostrophe andererseits jedoch als unaufhebbar und konstitutiv andere kenntlich werden.80 Nur in dieser Struktur ist die Selbstreflexivität im Vollzug und in der Darstellung möglich und genau in dieser Weise vollzieht sie sich und stellt sich in der ersten Strophe dar. Dieser Dynamik des Selbstbewusstseins, als die sich hier auch die Autoreflexivität des Gedichts und zugleich deren eigenen Ermöglichungsbedingungen bestimmen, entspricht die Struktur der ersten Strophe: angefangen mit dem Verhältnis der beiden Hauptteile in ihrer widerstrebigen Vermittlung in der Apostrophe, über den bogenförmigen Ausgleich entgegengesetzter Kräfte in den Ästen und Zweigen, bis hin zu der Struktur der Selbstreflexivität, die sich in der Rezeption analog zu dem ursprünglich poetischen Akt zugleich vollzieht und darstellt. Gerade die Selbstreflexivität des Gedichts zeigt sich hier – in sich entgegengesetzt – als konstitutiv Dialogisches, das auf ›das andere des Eigenen‹ zugesprochen ist und zugleich in diesem gründet. Dieses Dialogische der poetischen Selbstreflexivität findet seine Einlösung in der Rezeption, indem der genaue Vollzug des Gedichts in dem Wechselspiel mit dem Rezipienten einen idealischen Prozess darstellt, der sämtliche Ineinanderstaffelungen der Vollzugsund Darstellungsstruktur umfasst und somit analog zu dem ursprünglichen Einholungs- und Selbstreproduktionsprozess des poetischen Geistes verläuft, aus dem das Gedicht hervorgeht. Vollzieht sich in der Rezeption jedoch dieser Prozess, so zeigt sich das Gedicht – entsprechend den theoretischen Ausführungen – in seiner statisch-materiellen Erscheinung als in sich selbst den eigenen Hervorbringungsprozess sowohl vollziehend als auch darstellend. In der Folge realisiert der Rezipient einen Reflexionsprozess, in dem – entsprechend dem ursprünglichen poetischen Akt – sowohl der Rezipient als auch das Gedicht als sie selbst aufgefasst werden und ›zu sich‹ kommen. Diese dialogische Struktur der Selbstreflexivität ist in der zweiten Strophe als abwesende gestaltet.81 Tritt das Dichter-Ich in der ersten Strophe als Implikation
80
81
Rolf Selbmann (»›Zur Blindheit über-redete Augen‹. Hölderlins ›Hälfte des Lebens‹ mit Celans ›Tübingen, Jänner‹ als poetologisches Gedicht gelesen«. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 36 [1992], S. 219–228) leitet aus dieser Apostrophe an die Schwäne das ›Ich‹ der zweiten Strophe ab und sieht erst dort »Sprache im eigentlichen Sinne thematisiert, und zwar als Klage über das Nichtgelingen des Sprechens mangels rhetorischen Materials und Stoffes« (S. 224). Diese Strophe dann aber »als eigentliches Zentrum des Gedichts« anzusehen, »in dem menschliche und poetische Rede stattfindet« (ebd.), erscheint nicht konsequent. Nach Winfried Menninghaus (Hälfte des Lebens. Versuch über Hölderlins Poetik. Frankfurt/ Main 2005) lässt »›Hälfte des Lebens‹ die der Erfahrung des Schönen eingeschriebene Antinomie von Vollendungsglück und Verlusterfahrung szenische, beinahe dramatische Präsenz werden« (S. 63). Vgl. v. a. auch die eingängigen rhythmischen Bezüge in diesem Kontext (v. a. S. 19–32 sowie S. 68–85).
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der Apostrophe an das Identisch-Differente der Dichter-Schwäne und somit in dem Gesamtzusammenhang des Angesprochenen und des Sprechens hervor, so erscheint das Ich in der zweiten Strophe explizit und in völliger Isolation. Bereits die erste Nennung des ›Ich‹ erfolgt in Verkehrung der Sprechsituation der ersten Strophe, denn die Apostrophe »Weh mir« verbleibt in dem Ich als Angesprochenem, und dieses erscheint als Teil dieses Ausrufs als grundsätzlich tragisches, das im Gegensatz zu den beschriebenen Naturerscheinungen in der ersten Strophe steht. Auch die sich anschließende, in sich gedoppelte rhetorische Frage, […] wo nehm’ ich, wenn Es Winter ist, die Blumen, und wo Den Sonnenschein, Und Schatten der Erde?82
verbleibt aufgrund ihrer Einleitung mit »Weh mir« selbstreflexiv in dem fragenden Ich. Zugleich gestaltet sie die als wahrscheinlich vorausgesetzte Möglichkeit völliger Isolation aufgrund des Entzugs des wahrhaft anderen in der Natur, der »Blumen«, des »Sonnenschein[s]« und des »Schatten[s] der Erde«. Diese bange Vorwegnahme der Zukunft gründet einerseits in der Unabänderlichkeit des jahreszeitlichen Zyklus (»[…] wenn / Es Winter ist«83), andererseits werden dessen Folgen für das Ich beschrieben. Dabei wird die Isolation nicht bloß positiv dargestellt, sondern sie kommt gerade auch in der Weise des Vollzugs des Sprechens zum Vorschein.84 Dabei ist das Ich nicht nur formal zugleich Fragender und Befragter der (rhetorischen) Frage, sondern die Vereinigungsstruktur der ersten Strophe wird in genauer Analogie negiert. Denn es wird nicht lediglich die Absenz des wahrhaft anderen (›der Blumen‹, ›des Sonnenscheins‹, ›der Schatten der Erde‹) positiv beschrieben, sondern auch die Übertragungs- als Vermittlungsbewegung zwischen dem Ich und dem anderen wird negiert: »[…] wo nehm’ ich […]«.85 Diese Negation der Übertragung von einem anderen zu dem Ich, somit die Negation einer gerichteten Bewegung, wird auch auf der materiell sprachlichen Ebene vollzogen, und zwar dadurch, dass die Partikel der Gerichtetheit, ›Her‹, in der rhetorischen Frage ausgespart ist und diese Leerstelle eigens hervortritt. Wird das ›Her‹ – und darin besteht die alternative Betrachtungsweise – nicht als fehlendes aufgefasst, sondern die Formulierung wörtlich als Frage nach dem Ort ›des Nehmens‹ verstanden, so ändert sich die Interpretation nicht grundlegend, denn auch in diesem Fall erscheint der andere Ort als nicht existent.
82 83 84 85
St 2, V. 1–4. St. 2, V. 1f. Vgl. oben. St. 2, V. 1, H. v. m.
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Die ersten vier Verse der zweiten Strophe gestalten somit auf verschiedenen Ebenen den Entzug des jeweils anderen und infolgedessen die Absenz der Möglichkeit von Vermittlung und Vereinigung in der konstitutiven Differenz. Das Fehlen der Übertragung von einem anderen in die Sphäre des (Dichter-) Ich erscheint unter Einbezug der theoretischen Schriften sowie in Rückbezug auf die Selbstreflexivität der ersten Strophe auch als die Unmöglichkeit der Selbstauffassung und -reproduktion des Ich in dem poetischen Akt und somit als die Unmöglichkeit des Dichtens. Dieser Entzug des unaufhebbar anderen, das in dem Gedicht in der Natur verortet ist, zeigt sich in den letzten drei Versen negativ in der Anwesenheit von Artefakten, den ›Mauern‹ und den ›Fahnen‹. Diese sind weder untereinander – wie in der ersten Strophe das Land mit dem See – zu einer in sich widerstrebigen Einheit vermittelt, noch besteht die Möglichkeit ihrer Vermittlung mit dem Dichter-Ich. Denn erscheinen die Mauern in diesem Kontext als ›sprachlos und kalt‹, so ist darin die Abwesenheit der Möglichkeit von Vermittlung gesagt. Wird der Entzug jedoch eigens konstatiert, so ist darin zugleich die Möglichkeit der Vermittlung als Abwesendes mit anwesend. Mauern können nur in dem Sinne als ›sprachlos‹ bezeichnet werden, dass sie kein Echo zurückwerfen, wobei dieses auf der Fähigkeit beruht, sich von Lauten in Schwingung versetzen zu lassen und diese als veränderte, als deren Ineinander mit der Schwingung der Mauern auf den Sprecher zurückzuwerfen. Das Echo ist somit nicht bloß eine fragmentierte und in sich vervielfältigte Wiederholung des ursprünglich Gesprochenen, sondern als das konstitutive Ineinanderschwingen der Stimme des Sprechers und der ›Stimme‹ der Mauern zugleich ein mit dem ursprünglichen Sprechen Identisches als auch Differentes. ›Echo‹ wäre somit eine elementare Form des Dialogischen in der konstitutiv spannungsvollen Fügung der Einheit der Einheit und der Differenz. Dieselbe Struktur ergibt sich in Bezug auf die Kälte der Mauern, in der die Wärme und mit ihr die zugrunde liegende Korrespondenzstruktur als abwesende anwesend sind. Denn die Wärme der Mauern beruht auf deren Fähigkeit, die Sonneneinstrahlung über den aktualen Sonnenschein hinaus zu erhalten. Die Wärme der Sonne wird somit in die der Mauern umgewandelt und zugleich bleibt sie als jene kenntlich, so dass sich hier die in sich widerstrebige Vermittlungsstruktur der Einheit der Einheit und der Differenz zeigt. Diese Vermittlung ist in der zweiten Strophe hinsichtlich der Mauern als entzogene gesagt, und zwar sowohl in Bezug auf (originär) Menschliches (»Sprachlos«) als auch auf Himmlisches (die Wärme der Sonne). Die Kontrastierung mit der ersten Strophe setzt sich außerdem in dem ›Klirren der Fahnen‹ (»[…] im Winde / Klirren die Fahnen«86) fort, das in deren Deutung
86
St. 2, V. 6f.
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als Wetterfahnen87 und Stofffahnen auf einem gestörten Zusammenspiel mit dem Wind beruht.88 Doch zeigt sich darin nicht nur diese Störung, sondern auch die der Fahnen als solcher. Denn in beiden Ausdeutungen fungieren die Fahnen als Zeichen, entweder für die Windrichtung bzw. allgemein für die ›Witterung‹89 oder für ein Fest bzw. sein relatives Gegenteil, den Trauerfall. Beide Arten von Zeichen beruhen auf dem Zusammenspiel mit dem Wind, und als solche zeigen sie diesen sowie das Geschehen und die Weise der Vermittlung von Himmel und Erde an. Sind Fahnen in beiden Deutungsmöglichkeiten primär optische Zeichen, so ist in dem ›Klirren der Fahnen‹ ausdrücklich ihr defizienter Zustand gesagt. Unter Einbezug der Autoreflexivität der ersten Strophe sowie der Nennung des (Dichter-)Ichs und der Sprachlosigkeit in der zweiten Strophe sind die Selbstbezüglichkeit sowie der Bezug der defizienten Zeichen auf das Gedicht deutlich.90 Dies bestätigt sich auch im Hinblick auf die Erörterungen zu »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«, wonach das Gedicht konstitutiv auf dem ›göttlichen Moment‹ ›transzendentaler Empfindung‹ beruht, in dem sich der Dichter und seine Welt sowohl ›unendlich‹ durchdringen als auch
87
88
89 90
Fast ausschließlich werden die ›Fahnen‹ als ›Wetterfahnen‹ gedeutet. Dafür argumentiert Ludwig Strauss, der neben Hellingrath in der Regel als Gewährsmann für diese Deutung herangezogen wird. Doch fügt Strauss das Entscheidende an – und das wird in der Forschung nicht beachtet – nämlich, dass sich dadurch eine doppelte Bedeutung des Wortes ergibt: »Freilich wirkt im Wort unseres Gedichts die gewöhnliche Bedeutung des Wortes ›Fahnen‹ kontrastierend mit […]. Der innere Prozeß, den das zweideutige Wort auslöst, darf als ein Gestaltelement des Gedichts angesehen werden« (»Friedrich Hölderlin: Hälfte des Lebens«. In: Trivium 8 [1950], S. 100–127, hier S. 110f.). In beiden Fällen impliziert das ›Klirren‹ ein Herumgeworfenwerden der Fahnen, das sowohl auf der ungünstigen Verfasstheit des Windes, beispielsweise in Böen, aus schnell wechselnden Richtungen, in zu schwacher Ausprägung, als auch auf der Untauglichkeit der Fahnen beruhen kann. So erscheint das Klirren in dem Falle der Wetterfahnen als das Quietschen des Scharniers, bei den Stofffahnen als Schlagen ihrer Aufhängung gegen den Mast. In beiden Ausdeutungen spielen Wind und Fahne nicht ›harmonisch‹ zusammen. Hans-Jost Frey (»Hölderlin’s Marginalization of Language«. In: The solid letter. Readings of Friedrich Hölderlin. Ed. by Aris Fioretos. Stanford/California 1999, S. 356–374) sieht diese Kontrastierung in anderer Hinsicht, wenn er die Sprachlosigkeit bereits in der ersten Strophe ansetzt und das Verhältnis der Strophen als einen Perspektivenwechsel beschreibt: »In the first passage, then, the speechlessness is that of the god without man, in the second that of man without the god. Speechlessness is the condition in which the relation to the divine is broken off. If the god without man and man without the god are speechless, there is language only in their relation to each other. Language is this relation« (S. 370). Vgl. »Wie wenn am Feiertage …«. Es ist fraglich, ob ›defiziente‹ Zeichen lediglich auf sich selbst verweisen. Eric L. Santner (»Paratactic Composition in Hölderlin’s ›Hälfte des Lebens‹«. In: The German Quarterly 58 [1985], S. 165–172) weist darauf hin, dass Hölderlins Erfahrung mit »concrete particulars« für ihn die Gefahr bargen »that they might signify nothing, pointing only to themselves; walls, weathervanes; weathervanes, walls« (S. 171).
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›unendlich‹ getrennt sind und das Gedicht von dem poetischen Prozess ›zeugt‹, indem es diesen zugleich in sich vollzieht als auch darstellt. Ausgehend von der Autoreferentialität der zweiten Strophe sagt diese jedoch nicht ihre eigene Unmöglichkeit und ein notwendiges Enden des Gedichts im Verstummen, sondern vielmehr zeigt sich in der Betrachtung der Selbstreflexivität der konstitutive Gegensatz von Vollzug und Darstellung. Denn gerade die konsequent ausgedeutete Autoreferentialität lässt das Gedicht in seinem aktualen Vollzug und mit ihm das Ineinander von Vollzug und Darstellung hervortreten. Dieses gestaltet sich in der zweiten Strophe als der Gegensatz der Darstellung der Krisis des Dichtens zu dem aktualen Vollzug des Gedichts. Dabei tritt auch die Zeitlichkeit des Gedichts entsprechend dem Verhältnis von Vollzug und Darstellung hervor. Denn entspricht der stets aktuale Vollzug des Gedichts der in der ersten Strophe dargestellten, präsentischen Zeitlichkeit, so wird der Gegensatz von Vollzug und selbstreflexiver Darstellung in der zweiten Strophe von der Differenz des präsentischen Vollzugs zu der Darstellung des Zukünftigen begleitet. Doch wird der Gegensatz von Vollzug und Darstellung in der zweiten Strophe durch die Zukünftigkeit der dargestellten Krisis nicht negiert, denn die letzten drei Verse sagen diese als präsentische. Zugleich erscheint das Präsens in konstitutiver Doppeldeutigkeit von Gegenwart und Zukunft. Denn werden die Verse in Einheit mit den ersten vier Versen der Strophe gelesen, deren futurische Bedeutung in der Präsensform aufgrund des »[…] wenn / Es Winter ist […]«91 eindeutig ist, so erscheinen sie ebenfalls auf die Zukunft bezogen. Werden sie jedoch als eigenständige aufgefasst, so nehmen sie präsentische Bedeutung an. Gerade die letzte Möglichkeit tritt durch den Gegensatz der beiden Sprechweisen, der auf das (Dichter-)Ich bezogenen, verzweifelten Eingangsfrage und der quasi neutralen Descriptio am Ende der Strophe hervor. Die Sprechhaltung in den letzten drei Versen korrespondiert mit der in den ersten drei Versen des Gedichts. Die Analyse der Zeitverhältnisse verdeutlicht, dass sich das Gedicht als aus der ›Hoch-Zeit‹ heraus gesprochen darstellt, die in der ersten Strophe als präsentische beschrieben ist. Das Gedicht expliziert somit seine eigenen Entstehungsbedingungen, und diese sind in dem aktualen Lesen auch jeweils präsent. Die Absenz von Vermittlung, und damit einhergehend der Möglichkeit des Dichtens, wird in der präsentischen Hoch-Zeit und in dem Vollzug des Gedichts als das unausweichlich andere vorweggenommen, das sich bereits in der Hoch-Zeit ankündigen muss. Die Negativität – und unter Einbezug der Autoreflexivität des Gedichts auch seine eigene Unmöglichkeit – ist somit von dem Gedicht als solchem umschlossen, ohne dass darin die Negativität jedoch aufgehoben würde. Die zweite Strophe steht zunächst als das gänzlich andere und Getrennte der ersten gegenüber, und der tragische Ausruf des Ich sowie 91
St. 2, V. 1f.
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seine bange Vorwegnahme der Zukunft verliert nichts an Brisanz und Not, wie gerade die futurische Formulierung des totalen Entzugs die Unmöglichkeit seiner Aufhebung in der präsentischen Einheit verdeutlicht.92 Das Gesamtgedicht – und v. a. unter Einbezug des Verhältnisses von Vollzug und Darstellung – realisiert sich somit in der Struktur, die für alle Weisen von Darstellung herausgearbeitet wurde und die den Verhältnissen entspricht, die die erste Strophe insgesamt herausstellt. Die zweite Strophe bildet dazu den diametralen Gegensatz, und in dieser wird die dargestellte Negativität nicht aufgehoben, sondern sie gehört gerade darin konstitutiv zu dem Gedicht als Ganzem und zeigt sich somit – unter autoreflexiver Perspektive – als konstitutiv für das Dichten.93 Denn gerade die Hoch-Zeit zeigt sich in der Realisation der in sich widerstrebigen Vermittlung selbst, somit eine Ebene höher, als konstitutiv auf ihren Gegensatz, den Entzug von Vermittlung, bezogen. Der Wechsel der Jahreszeiten und mit ihm der Selbst- und Außenverhältnisse des Dichters sowie folglich seiner Fähigkeit und Möglichkeit zu dichten, dieser Wechsel zwischen den Gegensätzen, von Fülle und Entzug, zeigt sich hier als das unaufhebbare Konstitutivum der Frucht, des Gedichts und zugleich der Möglichkeit der an dem Wechselprozess Beteiligten, sich zu realisieren, und zwar in dem doppelten Sinn der ›Selbstauffassung‹ wie des ›Werdens zu sich selbst‹. Das Gesamtgedicht als die Darstellung der Bogenstruktur, somit als die Einheit (1 = Gedicht als Ganzes) der Einheit (2 = erste Strophe, die in sich wiederum dieses Verhältnis realisiert) und der Differenz (zweite Strophe), besteht aus zwei unaufhebbar Entgegengesetzten, die über den Umschlagspunkt der gegenstrebigen Fügung miteinander verbunden sind.94 Genau diese Mitte des Bogens, in der die Entgegengesetzten verbunden sind und aufgrund der sie
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Zugleich wird in der zweiten Strophe der Umschlag der Extreme von Einheit und Differenz ineinander dadurch deutlich, dass die in der zweiten Strophe dargestellte Negativität in der Abwesenheit eines anderen, somit in dem Entzug der Differenz besteht und sich die ›totale‹ Einheit folglich als ›totale‹ Negativität bzw. Differenz erweist. Die ›absolute‹, ›reine‹ Einheit ›jenseits‹ der Differenz ›zeigt‹ sich als ›identisch‹ mit der ›absoluten‹ Differenz bzw. Negativität, worin die Aporie der Verhältnisse in ihr Extrem gesteigert ist. Peter Szondi (»Der andere Pfeil. Zur Entstehungsgeschichte des hymnischen Spätstils«. In: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis. Frankfurt/Main 1970, S. 37–61) wird der inneren Struktur des Gedichts nicht gerecht, wenn er »die beiden Strophen« als Ausdruck der »Verfassung des Dichters« sieht, »der sie entstammen« und diese als »das Gefühl von Finsternis, von Götterferne, von Liebelosigkeit«, als »Erfahrung der Vereinzelung« im unvermittelten Gegensatz zur ersten Strophe, der »ersehnte[n] Vermittlung« »als ein Bild, fremde Wirklichkeit« (S. 56) betrachtet. Jane V. Curran (»Gegensatz und Ganzes. Zum Gedicht ›Hälfte des Lebens‹«. In: Castrum Peregrini 266/267 [54. Jahrgang 2005], S. 57–67) sieht in beiden Strophen Verwerfungen zwischen »Inhalt und Stil« (S. 60f.), und doch erscheint ihr gerade eine »Einheit« möglich, indem »man die hervorstechenden Unterschiede zwischen den beiden Strophen im Auge behält« (S. 67).
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widerstrebig gefügt sind, besteht in dem Gedicht in genauer Analogie in der Mitte, d. h. aber in der Lücke zwischen den Strophen.95 Diese für das Gesamtgedicht in seiner Bogenformation konstitutive Mitte ›bildet‹ als Aussetzen des Sprechens ein zu dem Gedicht als Positivem, Sprachlichem, Entgegengesetztes. Zugleich wird es jedoch von dem Gedicht als ganzem als dessen konstitutiver Teil umfasst, so dass sich auch in dieser Hinsicht die Vermittlungsstruktur abzeichnet. Denn zum einen erscheinen die beiden Strophen als positiv gesprochene im Gegensatz zu dem Aussetzen des Sprechens, zum anderen zeigen sich die beiden Entgegengesetzten lediglich aufgrund ihres und in ihrem Wechselverhältnis als sie selbst, und dieses gegenseitige Konstitutionsverhältnis tritt zudem eigens hervor. Als diese konstitutive Wechselbestimmung der Gegensätze gestaltet sich das Gedicht als ganzes. Zugleich erscheint die Lücke zwischen den Strophen aufgrund der zeitlichen Struktur des Gedichts als der Ort, aus dem heraus das Gedicht gesprochen wird. Denn zeigt sich in der präsentischen Beschreibung der Hoch-Zeit in der ersten Strophe bereits der Umschlag in den Gegensatz an, der in der zweiten Strophe als zukünftiger bzw. doppeldeutig als zukünftiger und präsentischer96 konstatiert wird, so kann das Sprechen des Gedichts gedichtintern nur aus diesem Umschlag heraus erfolgen. Dieser ›erscheint‹ als Aussetzen des Sprechens als äußerster Gegensatz zu dem Gedicht als Sprachlichem, und doch gehört er konstitutiv zu diesem hinzu und wird zudem als dasjenige markiert, aus dem heraus das Gedicht gesprochen wird, aus dem das Sprechen des Gedichts hervorgeht. Darin korreliert das Gedicht in seinem widerstrebigen Ineinander von Vollzug und Darstellung mit den zentralen Ausführungen in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«. Denn der ›transzendentale Moment‹ ›göttlicher Empfindung‹ ist als der ›äußerste‹ Gegensatz, als Moment des Umschlagens von Identität und Differenz ineinander, nicht darstellbar, und doch ist er der ›Ursprung‹ und die eigentliche Ermöglichungsbedingung des Gedichts. Nur aufgrund dieses nicht darstellbaren und augenblicklichen ›Extrems‹ des Umschlages ist die poetische Sprachfindung als konstitutiv paradoxe Vergleichsbewegung in der ›schöpferischen Reflexion‹ möglich. Diese wird in dem Gedicht in dem sprachlich verfassten Gegensatz der ersten und zweiten Strophe vollzogen und 95
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Wolfgang Binder weist dem Strophenübergang einen zentralen Stellenwert als »Umschlag in die Negativität« zu. Nach Binder bleibt das Gedicht jedoch »in der Antithese stecken« (Literatur als Denkschule. Eine Vorlesung, mit zwei Kapiteln von Klaus Weimar. Zürich u. a. 1972, S. 41). In einem früheren Aufsatz deutet er den Strophenübergang von der Zeit her: »In der Peripetie vom ewigen Sein zum toten Nichts [im Übergang von der ersten zur zweiten Strophe, M. H.], versinnbildlicht durch die Fuge der Strophen, erscheint für einen Augenblick die Mitte des Lebens und daher Leben als Mitte, die, selbst auf die Kürze eines Augenblicks reduziert, noch das volle Wesen der Zeit enthält« (»Hölderlin: ›Der Winkel von Hardt‹, ›Lebensalter‹, ›Hälfte des Lebens‹«. In: ders.: Hölderlin-Aufsätze. Frankfurt/Main 1970, S. 350–361, hier S. 359). Vgl. oben.
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dargestellt, und diese Wechsel- und Konstitutionsbewegung verweist auf den nicht darstellbaren Ursprung und ›Grund‹, der in der Lücke zwischen den Strophen bloß diskontinuierlich angezeigt werden kann. Die Mitte des Gedichts ›erscheint‹ hier – auch analog zu der Auslegung des ›Hyperion‹97 – als der Ursprung, der als Aussetzen des Sprechens zugleich die Negation dessen ist, was aus ihm entspringt und der sich somit nur in der konstitutiven Wechselwirkung mit dem Entsprungenen anzeigen kann. Zugleich ist er als der Umschlag zwischen den Strophen konstitutiver Bestandteil des aus ihm Entsprungenen. Die ›Darstellung‹ des Ursprungs zeigt sich als in sich paradox gekehrte, indem dieser sich einerseits nur in Wechselwirkung mit dem aus ihm Entsprungenen als seinem Entgegengesetzten zeigen kann, andererseits aber zugleich deutlich wird, dass das Sich-Zeigende nicht den Ursprung selbst ›darstellen‹ kann. Denn dieser muss dem aus ihm Entsprungenen vorgängig sein und sich zu diesem diskontinuierlich in dem Sinne verhalten, dass er nicht aus diesen als Ursachen abgeleitet werden kann und er als plötzlicher, augenblicklicher, keine zeitliche Ausdehnung hat.98 Das Wechselverhältnis zwischen dem Aussetzen des Sprechens in der Lücke zwischen den Strophen und deren Sprachlichkeit stellt im Gegensatz dazu jedoch ein Vermittlungsverhältnis dar, so dass sich der Ursprung des Gedichts in der Lücke zwischen den Strophen nicht positiv darstellen kann. Vielmehr ist die Lücke auch das stets unaufhebbar andere, das zum einen zwar konstitutiv zu der ›Darstellung‹/›Nicht-Darstellung‹ des Ursprungs gehört, sich andererseits jedoch als das unaufhebbar andere in dieser stets auch entziehen muss. Auf dieses andere ihrer selbst, auf dieses Sich-Entziehende, verweist die ›Darstellung‹ in sich als Zeichen,99 das jedoch als Aussetzen des Sprechens zugleich auch ›Nicht-Zeichen‹ ist. Die Lücke zwischen den Strophen erweist sich somit als selbst negativer Verweis auf das nicht Darstellbare, den diskontinuierlich erfolgenden Ursprung des Gedichts. Ist die Lücke zwischen den Strophen als dieser Verweis jedoch nur in dem Gesamtzusammenhang des Gedichts lesbar, so zeigt sich das gesamte Gedicht als zeichenhafter Verweis auf den eigenen, nicht darstellbaren Ursprung, und zwar indem es vermittels seiner selbst als Darstellung der Darstellung auf sein grundsätzlich anderes, auf den eigenen Ursprung als das konstitutiv nicht Darstellbare verweist. Das Gedicht wird somit im Ganzen zu einem Zeichen für seinen eigenen Ursprung, indem sein Aussetzen in der Mitte als konstitutiver Bestandteil zum Zeichen des Ursprungs wird. Dieses Verweisungsverhältnis auf das nicht Darstellbare, auf das Diskontinuierliche des Ursprungs, ist in dem 97 98 99
Vgl. Kapitel I.4.3 und I.4.5. Vgl. die Entsprechung zu dem Blitz in »Wie wenn am Feiertage …«. Dieses Verhältnis deckt sich mit der an »Wie wenn am Feiertage …« herausgearbeiteten bloßen Möglichkeit des Verweises auf die nächtliche ›ekstasis‹ in dem Gewitter, aus der das Gedicht hervorgeht und auf die es selbst als Zeichen verweist.
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Gedicht insofern konsequent durchgeführt, als dieses ›Zeichen‹ ein Aussetzen des Sprechens, ein ›Nicht‹ des Sprechens darstellt und somit in sich auf das nicht Darstellbare verweisen kann. Aufgrund der konstitutiven Selbstreflexivität des poetischen Sprechens als Darstellung (1) der Darstellung (2) und des (eigenen) Vollzugs als unaufhebbar anderes zu der Darstellung (2) ist das dichterische Sprechen in der Lage, über die Möglichkeiten des diskursiven Sprechens hinaus, auf nicht Darstellbares zu verweisen. Denn ist das Verhältnis von diskursivem Sprechen und seinem ›Bezeichneten‹ als nicht Darstellbares sowohl ein diskontinuierliches als auch arbiträres (beispielsweise in der bloßen Nennung des Wortes ›Ursprung‹ oder ›Umschlag‹) und tritt das Verhältnis darüber hinaus nicht eigens zutage, so werden die Darstellungs- und Vollzugsverhältnisse des poetischen Sprechens aufgrund seiner konstitutiven Selbstreflexivität thematisch. Dabei tritt gerade auch der konstitutive Bezug des Jeweiligen auf sein unaufhebbares anderes hervor. Werden diese internen Verhältnisse des poetischen Sprechens in ihr Extrem gesteigert und die Darstellungsstruktur somit in grundsätzlichster Weise auf sich selbst angewandt, so ergibt sich die Struktur der Darstellung der Darstellung und der Nicht-Darstellung. Darin zeigt sich die Darstellung jedoch zugleich als NichtDarstellung und somit in ihrer grundsätzlichen Möglichkeit, auf das nicht Darstellbare als das sich in der Darstellung stets entziehende ›andere‹ zu verweisen. Das Nicht-Darstellbare bleibt, entsprechend der Nicht-Aufhebung der Negativität, in der poetischen Darstellungsstruktur das nicht Darstellbare, doch kann dieses als das diskontinuierlich andere zu dem kontinuierlichen Vermittlungsverhältnis der Darstellung in – bzw. in diesem Extremfall: an – dieser hervortreten und die Darstellung somit zu einem Verweis auf dieses unaufhebbar andere werden. Die Verwandlung der Darstellung in den bloßen Verweis und somit das Hervortreten des nicht Darstellbaren an, nicht in, der Darstellung, ist die konsequente Folge der Grenze der Darstellung, die sich in dem Verweis einerseits als solche auflöst und andererseits zugleich auf diese Auflösung, und das heißt vermittelt, auf die Grenze der Darstellung verweist. Die poetische Darstellung vollzieht somit ihre eigene Grenze und verweist darin als Nicht-Darstellung, als Verweis, zugleich über diese hinaus und darin auf sie zurück. Nur in dem immanenten Überschreiten einer Grenze kann diese als Grenze überhaupt hervortreten, und das paradoxerweise nur darin, dass sie überschritten wird, d. h. sich als solche auflöst und zugleich Nicht-Grenze ist. Diese aporetische Wechselkonstitution von ›Grenze‹ ist das Paradigma von Darstellung, denn nur in der Begrenzung, in der Abgrenzung zu anderem, ›ist‹ etwas überhaupt, und zwar, indem es sich darstellt. In der extremsten Spannung der Darstellungsstruktur in ihrer äußersten Selbstreflexivität schlägt die Darstellung somit in die Nicht-Darstellung, den Verweis um, und zwar indem der Vollzug zu der ›Darstellung (1)‹ und diese zum Verweis wird, so dass sich die Struktur innerer Widerstrebigkeit der Dar275
stellung und somit aber die Darstellung als Darstellung aufhebt, und das heißt sich die Darstellung in ihrer Aufhebung eigens darstellt. Dieses konsequente Verweisen auf die eigene Grenze ist dem diskursiven Sprechen nicht möglich, da es als Darstellung nicht seinen eigenen Vollzug als das unaufhebbar andere zu sich selbst mit darstellt, somit nicht Darstellung (1) der Darstellung (2) und des (eigenen) Vollzugs als das unaufhebbar andere zu der Darstellung (2) ist. Folglich kann es aber auch nicht die Darstellung (1) der Darstellung (2) und des (eigenen) Vollzugs (1) als der Vollzug (1) des Vollzugs (2) und der Darstellung (1) sein.100 Durch die darin angezeigte Dynamik zeichnet sich jedoch das poetische Sprechen aus, und allein in und aufgrund dieser ›Struktur‹ ist der Verweis auf den eigenen Ursprung in dem ›göttlichen Moment‹ ›transzendentaler Empfindung‹ als die absolute Identität und absolute Differenz der Identität und der Differenz möglich, wovon die eben herausgearbeiteten Verhältnisse Varianten ›darstellen‹. Doch verweist der Titel des Gedichts mit ›Hälfte‹ nicht nur auf die eigene Mitte und diese im Gesamtzusammenhang auf den Ursprung des Gedichts als das Undarstellbare, sondern auf die »Hälfte des Lebens«. Darin zeigt sich an, dass auch auf dieser grundsätzlichsten Ebene der Darstellung, in der sie in ihr Gegenteil umschlägt und dieses ist, ›Darstellung‹ nicht in reiner Autoreferentialität gedacht werden kann, sondern sie – wie der dichterische Prozess und das Gedicht selbst – konstitutiv auf dem Bezug zu einem Entgegengesetzten, wahrhaft anderen, beruht und somit in sich stets auch von sich wegverweist auf ihr in dem poetischen Prozess anverwandeltes Identisch-Differentes, das ›Leben‹, und somit dessen Ursprung. Das Gedicht ist folglich nicht bloß Zeichen (und Nicht-Zeichen) seines eigenen Ursprungs, sondern – entsprechend der Wechselkonstitution des poetischen Geistes mit seinem Stoff in dem poetischen Prozess – auch Zeichen/Nicht-Zeichen für den Ursprung, und d. h. hier für die ›Hälfte‹, des ›Lebens‹.
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Zu dieser Ausdrucksweise vgl. die Fußnote 19 der Einleitung sowie das Ende von Kapitel V.11.
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VII. Ausblick und Schluss
Wurde an den Gedichten, und vor allem dem späteren, ›Hälfte des Lebens‹, die grundsätzliche Differenz von poetischem und diskursivem Sprechen aufgrund der veränderten Stellung der Negativität deutlich, sei es als Aussetzen des Sprechens in der Zäsur der Strophenmitte, sei es in dem Sprechvollzug im Gegensatz zur Darstellung, so bestätigen sich an den Gedichten die an den poetologischen Schriften sowie dem ›Hyperion‹ herausgearbeiteten Grundstrukturen der poetischen Darstellung.1 Gerade in der eminenten Stellung der Zäsur als Umschlag in ›Hälfte des Lebens‹ wird die Nähe zu den Ausführungen in den ›Sophokles-Anmerkungen‹ deutlich. Die Gedichtauswahl bildet zwar bewusst einen möglichen Vorverweis auf die späteren ›Gesänge‹, doch können die Bezüge hier nicht eigens ausgeführt werden. Dennoch findet in diesen keine radikale Wende statt, denn auch die späteren Gedichte halten sich in der Widerstrebigkeit von Vollzug und Darstellung ihrer eigenen Voraussetzungen, und zwar v. a. hinsichtlich des Bezuges zwischen dem ›Göttlichen‹ und dem Dichter.2 Auch ›Natur‹ verhält sich zu dem hervortretenden (idealischen) Sprechen weiterhin in gegenseitiger Verschränkung, wie sie in dem Exkurs zu dem Kapitel zur ›Feiertagshymne‹ herausgestellt wurde. Zudem nimmt der ›göttliche Moment‹ als diskontinuierlicher Augenblick des Ursprungs in den ›Gesängen‹ eine tragende Rolle ein,3 die mit Recht 1
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Für Hölderlins Poetik um 1800 trifft somit nicht mehr genau zu, was Manfred Frank für das Verhältnis von Dichtung und Philosophie in Bezug auf den frühen Hölderlin im Umkreis von 具Seyn, Urtheil, Modalität典 um 1795 ausarbeitet: »Die Arbeitsteilung zwischen Ästhetik und Philosophie kann man sich so verständlich machen: Der unausdeutbare Sinnreichtum des Schönen macht die Ungreifbarkeit des Absoluten für die Reflexion als solche sinnfällig – im Sinne des Novalis-Worts, die Kunst sei die ›Darstellung des Undarstellbaren‹ […]. Bleiben wir dagegen im Medium der Reflexion (treiben wir also Philosophie), so wird uns die Aufgabe, das Absolute in Gedanken zu erfassen, zu einer unvollendbaren« (»Hölderlins philosophische Grundlagen«. In: Hölderlin und die Moderne. Eine Bestandsaufnahme. Hrsg. v. Gerhard Kurz u. a. Tübingen 1995, S. 174–194, hier S. 192). Vgl. beispielsweise ›Friedensfeier‹, St. 7, V. 5–12 sowie St. 8, v. a. V. 10–12, MA, Bd. 1, S. 364; FHA, Bd. 8, S. 640; 具Der Ister典, St. 3, V. 10–14 und 18 sowie St. 4, V. 8f., MA, Bd. 1, S. 476f.; FHA, Bd. 8, S. 723 sowie 725f. und 728; StA, Bd. 2,1, S. 191; ›Der Rhein. An Isaak von Sinklair‹, St. 1, V. 1–3, St. 7, V. 8–St. 9, St. 13, V. 1–4, MA, Bd. 1, S. 342ff.; FHA, Bd. 8, S. 634 und 636f.; StA, Bd. 2,1, S. 142, 146ff. Vgl. ›Der Einzige 具Schluß einer zweiten Fassung典‹, V. 3–9, MA, Bd. 1, S. 458f.; FHA, Bd. 8, S. 786; StA, Bd. 2,2, S. 747f.; ›Der Rhein. An Isaak von Sinklair‹, St. 4, V. 1–8, St. 11, V. 9 und St. 14, V. 11, MA, Bd. 1, S. 343, 346 und 348; FHA, Bd. 8, S. 635 und 637; StA, Bd. 2,1, S. 143 und 147f. Vgl. dazu auch Rüdiger Görner: »›Schwer verläßt, / Was nahe dem Ursprung woh-
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als ›zeitlogisch‹4 bezeichnet werden können. Auch die direkte Darstellung der wechselseitigen Bezogenheit von Einheit und Differenz bzw. ›Positivem‹ und Negativität5 kommt zum Ausdruck und auf die radikale Vermitteltheit wurde bereits hingewiesen.6 Nicht zuletzt tritt der Rhythmus sowohl im metrischen als auch im ›höheren Sinne‹ als ›Rhythmus der Vorstellungen‹7 in den freirhythmischen ›Gesängen‹ eigens hervor. Zudem zeigen sich ›die Vorstellungen‹ aufgrund der oftmals inversiven Syntax als widerstrebig in sich, und in der ›harten Fügung‹ kommt die Spannung von Satz und Vers, d. h. das Verhältnis von logisch-semantischer und metrisch-rhythmischer Ebene in eminenter Weise zum Vorschein, so dass jedes (harte) Enjambement als die Spannung des Aussetzens des Sprechens als das Vorwärtsdrängen des Satzes eine Zäsur bildet und die in sich widerstrebige Fügung der poetischen Sprache sowohl vollzieht als auch zur Darstellung bringt. Steht die Auffassung des Gedichtes als ›Metapher‹ im Zentrum der Hölderlin’schen Poetik, so scheint sich deren Konzeption zunächst nicht mit dem gängigen und engeren Verständnis im Sinne einer punktuellen sprachlichen Figur bzw. eines Tropus zu decken.8 Doch kann an der Reflexion auf
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net, den Ort‹. Zur Mythopoetik des Anfangs bei Hölderlin und Novalis«. In: Euphorion 99 (2005), S. 511–526. Vgl. Johann Kreuzer: »Zeit, Sprache, Erinnerung: Die Zeitlogik der Dichtung«. In: Hölderlin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. v. J. K. Stuttgart 2002, S. 147–161. Vgl. auch Wolfgang Binder: Dichtung und Zeit in Hölderlins Werk. Mit einer Einleitung über die Zeit im Denken und Empfinden des 18. Jahrhunderts. Tübingen, Habil.-Schr. 1955. In einem weiteren Kontext vgl. auch Fabian Lampart: »Zeit, Gedächtnis, Erinnerung. Überlegungen zu einer Denkfigur bei Hölderlin, Leopardi und Keats«. In: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Hrsg. v. Steffen Martus. Bern u. a. 2005, S. 387–404. Vgl. beispielsweise »Des dunkeln Lichtes voll«, ›Andenken‹, St. 3, V. 2, MA, Bd. 1, S. 474; FHA, Bd. 8, S. 805; StA, Bd. 2,1, S. 188; ›Der Rhein. An Isaak von Sinklair‹, St. 6, V. 1–7, St. 15, V. 5–12, MA, Bd. 1, S. 344 und 348; FHA, Bd. 8, S. 635 und 638; StA, Bd. 2,1, S. 144 und 148. Vgl. auch ›Friedensfeier‹, St. 4, V. 7–12, St. 5, V. 1–6, MA, Bd. 1, S. 363; FHA, Bd. 8, S. 642f.; ›Patmos. Dem Landgrafen von Homburg 具Erste Fassung典‹, St. 7, V. 4–14, St. 8, V. 1–3 und V. 12–14 sowie St. 9–15, MA, Bd. 1, S. 449–453; FHA, Bd. 8, S. 688–691; StA, Bd. 2,1, S. 167f.; ›Der Rhein. An Isaak von Sinklair‹, St. 15, V. 1–5, MA, Bd. 1, S. 348; FHA, Bd. 8, S. 638; StA, Bd. 2,1, S. 148. Vgl. die ›Sophokles-Anmerkungen‹, Kapitel III.1. Dieser weite Gebrauch des Ausdrucks ›Metapher‹ weist Anknüpfungspunkte an Aristoteles’ Verwendung im Sinne der Gesamtheit ›uneigentlicher‹ Rede auf (vgl. Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übers. und hrsg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1994, v. a. 1457 b 6–33, 1459 a 5–8 und 1461 a 16–21, sowie ders.: Rhetorik. Übers. und hrsg. v. Gernot Krapinger. Stuttgart 1999, v. a. 1404 b 32–1405 b 20, 1406 b 20–26, 1407 a 11–18 und 1410 b 13–1413 a 23). Vgl. auch die noch weiter gefasste, wenn auch gegensätzliche Konzeption der ›Metapher‹ bei Nietzsche (Friedrich Nietzsche: »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn«. In: ders.: Werke in drei Bänden. Hrsg. v. Karl Schlechta, Bd. 3. München 1966, S. 309–322, v. a. S. 312 und 314–318), und bei Gadamer im Sinne einer »grundsätzliche[n] Metaphorik der Sprache selbst« (Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1960, S. 407).
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eine konkrete Metapher genau das Verhältnis hervortreten, das für Hölderlins Konzept der ›Übertragung‹ herausgearbeitet wurde. Zudem ist der Bezug der ›Metapher‹ zu der Vergleichsbewegung deutlich, aus der das Gedicht im poetischen Akt hervorgeht. Beide, ›Metapher‹ und ›Vergleich‹, realisieren die herausgearbeitete Darstellungsstruktur und somit eine dynamische Konzeption von ›Übertragung‹ und Wechselkonstitution. Es ist klar, dass die herausgearbeiteten Verhältnisse, gerade in Bezug auf die inhärente Selbstreflexivität des Poetischen, sich im engeren Sinne nicht auf ›habituelle‹ oder ›verblasste‹ Metaphern beziehen, sondern nur auf solche, die sich im poetischen Sprechen eigens als Metaphern darstellen. Die folgenden Erörterungen knüpfen an die Beobachtungen an, die am relativen Beginn der Arbeit an konkreten Metaphern im ›Hyperion‹ gemacht wurden, so dass die Arbeit in ihrem Schluss verschoben zum relativen Anfang zurückkehrt und zugleich die allgemein poetologische Bedeutung Hölderlins herausstellt. Die Metapher im engeren Sinne zeichnet sich im Kontext der Hölderlin’schen Darstellungskonzeption dadurch aus, dass sie in den Redefluss ein semantisch ›Fremdes‹ einbringt, das sich zunächst diskontinuierlich, ›sprunghaft‹,9 zu diesem verhält und somit als solches hervortritt.10 Zugleich ist die Metapher jedoch 9 10
Vgl. die Verbindung zu Heinrich Lausbergs ›Sprung-Tropen‹ (Elemente der literarischen Rhetorik. München 1963, § 175.1). Vgl. die Anknüpfungspunkte an verschiedene Metapherntheorien, zum Beispiel Aristoteles’ ›Übertragung eines fremden Nomens‹ (›onomatos allotriou epiphora‹) (Poetik. Griechisch/ Deutsch. Übers. und hrsg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1994, 1457 b 6). Hegel bestimmt die Metapher in der ›Ästhetik‹ nicht von ihrem diskursiven, syntagmatischen Kontext, sondern von dem Verhältnis der ›eigentlichen‹ und ›übertragenen Bedeutung‹ des ›metaphorischen Ausdrucks‹ her. So erscheint die Metapher als »gedoppelte[r] Ausdruck« und »das Metaphorische« als »in sich selbst diese Zweiheit«. Als »Sinn und Zweck der metaphorischen Diktion« gibt Hegel »das Bedürfnis und die Macht des Geistes und Gemüts« an, »die sich nicht mit dem Einfachen, Gewohnten, Schlichten befriedigen, sondern sich darüberstellen« und – das ist strukturell das Entscheidende –, »um zu Anderem fortzugehen, bei Verschiedenem zu verweilen und Zwiefaches in Eins zu fügen« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Bd. 13: Vorlesungen über die Ästhetik I. Frankfurt/Main 1970, S. 520f., H. v. m.). Betrachtet man die syntagmatische und die paradigmatische Achse in ihrem Zusammenspiel, so bedeutet die historisch verbreitete ›Substitutionstheorie‹, die sich auf die paradigmatische Ebene bezieht, gerade das ›Einbrechen‹ eines semantisch Fremden auf syntagmatischer Ebene. Die Ausdeutung einer konkreten Metapher sowie deren Theorie wird bei den verbreiteten Möglichkeiten, der Substitutions- wie der Interaktionstheorie, zwar unterschiedlich ausfallen, die Bestimmung einer konkreten Metapher als solche jedoch bei beiden Ansätzen annähernd gleich sein (zu dem Komplex ›Substitution‹ und ›Interaktion‹ vgl. auch Gerhard Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol. Göttingen 1982). Harald Weinrich definiert die Metapher – und das ist nach ihm »im Grunde die einzig mögliche Metapherndefinition« – als »ein Wort in einem Kontext, durch den es so determiniert wird, daß es etwas anderes meint, als es bedeutet« (»Semantik der kühnen Metapher«. In: DVjs 37 [1963], S. 325–344, hier S. 340; vgl. auch ders.: Sprache in Texten. Stuttgart 1976, v. a. S. 276–341, und ders.: »Metapher«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. v. Joachim Ritter u. a., Bd. 5. Basel u. a. 1980, Sp. 1179–1186). In Hinsicht auf das Zusammenspiel von syntagmatischer und paradigmatischer Achse werden auch Verbindungen zu neueren Metapherntheorien sinnfällig. So in Bezug auf Jakobsons Unterscheidung von Metapher und Metonymie, wobei die Erste durch die Substitution sprachlicher
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nichts anderes, als dieses ›Fremde‹ in das Sprechen aufzunehmen. Um eine Metapher als solche zu lesen, muss – entsprechend der Hölderlin’schen Darstellungstheorie – der Sprung als solcher, das heißt die Differenz, festgehalten werden, zugleich muss sie jedoch ›überbrückt‹ werden, um die Übertragung zu vollziehen. Die Metapher zeigt sich somit als in sich konstitutiv Paradoxes, als ›Einheit‹ ›der‹ Übertragungsbewegung, das heißt als ›die‹ ›Metapher‹, die in sich die Einheit und die Differenz der beiden ›ursprünglichen‹ semantischen Bereiche ›ist‹. Die Einheit, die Metapher, ist somit nichts als die dynamische Wechselkonstitution der beiden Verschiedenen, die als diese Bewegung in ihrer Bedeutung niemals abschließend ›festzustellen‹ ist. In die verschiedenen Faktoren und Momente ›diskursiv‹ ausdifferenziert bedeutet dies, dass die Übertragung nur dadurch und darin möglich ist, dass der Zusammenhang der beiden Verschiedenen, das eine und das einbrechende andere, in ›eines‹ zusammengesehen werden. Dies wiederum beruht – paradoxerweise –darauf, dass zugleich die Differenz beibehalten wird. Das Lesen einer Metapher als Metapher bedeutet somit den Vollzug des Zusammenbringens und des Trennens in einem, das Ineinander zweier entgegengesetzter Momente in einem Akt. Der Sprung muss vollzogen und zugleich als solcher im Bewusstsein, mit Hölderlin ›idealisch‹, festgehalten werden. Dieser Akt ist ›Vollzug‹ und ›Darstellung‹ in ›einem‹, somit Einheit und Differenz in sich und zu sich selbst. Erfordert das Lesen einer Metapher diesen in sich kontradiktorischen Akt, so erscheint und ist die Metapher selbst (›für uns‹) in dieser Weise verfasst. Sie erscheint in diesem Sinne als Einheit der Einheit und der Differenz. Das bedeutet jedoch zugleich, dass eine Metapher als solche grundsätzlich nicht in eine andere, ›diskursive‹ Sprechweise übertragbar ist. Es bleibt ein ständiger, im diskursiven Sprechen schlechthin und grundsätzlich nicht aufhebbarer ›Überschuss‹ (vgl. ›Hyperbel‹ in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«) der Metapher bestehen, die sich somit auch, nicht ausschließElemente gekennzeichnet ist, die entsprechend dem ›Äquivalenzprinzip‹ durch ›Similarität‹ oder ›Kontrast‹ auf der semantischen Ebene verbunden sind (vgl. Roman Jakobson: »Quest for the essence of language«. In: ders.: Selected writings, Bd. 2: Word and Language. The Hague u. a. 1971, S. 345–359, hier S. 355, und ders.: »Der Doppelcharakter der Sprache und die Polarität zwischen Metaphorik und Metonymik«. In: Theorie der Metapher. Hrsg. v. Anselm Haverkamp. Darmstadt 1983, S. 163–174). Lacan bestimmt die ›Substitution‹, auf der die Metapher beruht, als »un mot pour un autre« (Jacques Lacan: »L’instance de la lettre dans l’inconscient ou la raison depuis Freud«. In: ders.: Ecrits I. Paris 1966, S. 249–289, hier S. 265). Die herausgearbeitete Unabschließbarkeit des dynamischen Prozesses und die Verweigerung einer ›Rückübersetzung‹ der Metapher in eine ›eigentliche‹ Bedeutung lässt vor allem Anknüpfungspunkte an die poststrukturalistische und dekonstruktivistische Metapherntheorie zu (vgl. Roland Barthes: »Rhétorique de l’image«. In: Communications 4 [1964], S. 40–51; Paul de Man: Allegories of reading. New Haven u. a. 1979; ders.: »Epistemologie der Metapher«. In: Theorie der Metapher. Hrsg. v. Anselm Haverkamp. Darmstadt 1983, S. 414–437; Jacques Derrida: »Der Entzug der Metapher«. In: Theorie der Metapher. Hrsg. v. Anselm Haverkamp. 2. Aufl. Darmstadt 1996, S. 197–234; Die paradoxe Metapher. Hrsg. v. Anselm Haverkamp. Frankfurt/Main 1998).
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lich, als Abgründiges und Uneinholbares ›zeigt‹. In der Metapher ist folglich zum einen eine unaufhebbare Differenz zum diskursiven Sprechen gegeben, die durch potentiell unendliches Sprechen nicht eingeholt werden kann, zum anderen konstituiert sie sich auch darin, dass in den (diskursiven) Redefluss ein anderes, Fremdes, eintritt. Die Metapher beruht somit konstitutiv auf ihrem relativen, harmonischen Gegensatz zum diskursiven Sprechen, und zugleich ist sie ›sie selbst‹ als Sprachbewegung nur in dem und als das Wechselverhältnis und als die gegenseitige Konstitution des Kontextes mit dem darin fremd erscheinenden Wort. Die Metapher ist somit zweierlei, sie ist dieses Fremde zu ihrem Kontext, und sie ist das Wechselverhältnis zwischen dem Kontext und diesem Fremden. Die Metapher zeigt sich als konstitutiv auf zwei Ebenen angesiedelt, die in sich kehrig gefügt sind. Da die Übertragung nicht nur in eine Richtung und eindeutig verläuft, sondern sich die Metapher in dem und als das Wechselverhältnis der Verschiedenen konstituiert, muss diese Struktur widerstrebiger Gespanntheit als das ständige Umschlagen der Differenten, des diskursiven Kontexts und des darin fremd erscheinenden Worts oder Sachverhaltes ineinander, betrachtet werden. Erscheint dieser Umschlag jedoch notwendig als in jedem Augenblick erfolgender, so erklärt sich dadurch auch die Unaufhebbarkeit der Metapher in dem diskursiven Sprechen, denn dieses erfolgt wie das Denken stets in zeitlicher Erstreckung11 und kann somit zwar Momente der ständigen Bewegung festhalten und das als potentiell unendliches Sprechen auch unendlich tun, doch wird es die Bewegung als solche, die die Metapher ist (bzw. ständig wird, als Oxymoron) nicht übersetzen können. Denn alles Übersetzen in diskursives Sprechen bedeutet ein relatives ›Festhalten‹. Somit können Momente der Bewegung diskriminiert, und d. h. mögliche Bedeutungen der Metapher im wahrsten Sinne des Wortes ›festgestellt‹ werden, doch kann die ständige Umschlagsbewegung, die die Metapher ist, selbst nicht diskursiv dargestellt werden. Auch in dem hier erfolgenden Sprechen über die Metapher stellt sich die Metapher nicht dar, dieses Sprechen ist nicht die Metapher und kann diese nicht ersetzen, sondern es kann auf sie als die ständige Bewegung nur als das andere verweisen und die Aufmerksamkeit in Bezug auf konkrete Metaphern auf dieses lenken. Die Metapher ist somit kein schlechthin Inkommensurables, vielmehr bedarf sie, um sich als ständige Bewegung (als Oxymoron), d. h. sich in diesem dynamischen Sinne ›als sie selbst‹ zeigen zu können, der Darstellung ihrer Momente als angehaltene. Denn nur in der Diskrimination von Momenten aus der ständigen Wechselbewegung – und das heißt zugleich aus dem partiellen, bereits aus dem Ganzen der Dynamik diskriminierten Vollzug der Bewegung – kann sich sowohl das Ganze der Wechseldynamik als auch das Ständige im Sinne 11
Vgl. dazu auch Hölderlins Reflexionen in 具Seyn, Urtheil, Modalität典, Kapitel I.4.2.
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eines Geschehens in jedem Augenblick als das andere anzeigen. Das nicht in diskursives Sprechen und Denken Übersetzbare, das Ständige des Umschlags, das die Metapher ›ist‹, kann sich in dem Vollzug der partiellen Wechselbewegung, der als ein vom Denken begleiteter12 zugleich eine Darstellung ist – und nur von diesem her – als das andere anzeigen, d. h. sich zugleich zeigen und entziehen. Die Metapher als das ›als sie selbst‹ weder Vollzieh- noch Darstellbare bedarf somit dieses partiellen Vollzugs und dieser Darstellung, worin sie nicht als sie selbst vollzogen und dargestellt wird, um sich als sie selbst anzeigen zu können. Sie ist ein anderes zu dem zeitlich Darstell- und Vollziehbaren, das sich gerade darin anzeigt. Darstellbares und Nicht-Darstellbares müssen als gegenseitig sich zugleich Umfassende und Konstituierende ›gedacht‹ werden. Es ergibt sich somit eine Wechselstruktur von zweien, die eine vierfache in dem gegenseitigen Umgreifen und Begründen des jeweilig anderen ist. In Bezug auf das Verhältnis von Statik, ›Festgestelltem‹ und Dynamik ist die Verfasstheit der Metapher als ›ständiges Werden‹ somit genau genommen zu formulieren als ›Sein‹ des ›Seins‹ und des ›Werdens‹, das jedoch – und das ist die Zuspitzung gegenüber Hegel und trägt der grundsätzlich anderen Stellung der Negativität Rechnung – in sich zugleich das ›Werden‹ des ›Werdens‹ und des ›Seins‹ ist. Die Dynamik, wie sie sich hier anzeigt, wäre somit in allgemeinster Weise zu formulieren (und nicht zu formulieren) als die Identität der Identität und der Differenz, die ›nichts anderes‹ – und darin zugleich das ›konstitutiv andere‹ – ist als die Differenz der Differenz und der Identität.
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Die gänzliche Auflösung des Bewusstseins im Vollzug hätte die Unmöglichkeit sowohl der partiellen Darstellung als auch des Verweises zur Folge. Zudem ist dieser Zustand nach Hölderlin ein dem Menschen im Leben unmöglicher, da darin die konstitutive Gegenstrebigkeit, in der sich der Mensch hält (und mit ihm alles ›andere‹, was ihn umgibt), aufgehoben wäre. Die gänzliche Auflösung ist dem Menschen somit nur im Tod möglich, d. h. aber zugleich unmöglich. Vgl. dazu Hölderlins Adaption des Semele-Mythos in »Wie wenn am Feiertage …«, »Das untergehende Vaterland …« sowie die ›Anmerkungen zur Antigonä‹ in Bezug auf die »vaterländische Umkehr«. Diese folgt genau der hier herausgearbeiteten Struktur: »Die Art des Hergangs in der Antigonä ist die bei einem Aufruhr, wo es, so fern es vaterländische Sache ist, darauf ankommt, daß jedes, als von unendlicher Umkehr ergriffen, und erschüttert, in unendlicher Form sich fühlt, in der es erschüttert ist. Denn vaterländische Umkehr ist die Umkehr aller Vorstellungsarten und Formen. Eine gänzliche Umkehr in diesen ist aber, so wie überhaupt gänzliche Umkehr, ohne allen Halt, dem Menschen, als erkennendem Wesen unerlaubt« (MA, Bd. 2, S. 375; FHA, Bd. 16, S. 419f.; StA, Bd. 5, S. 271, H. v. m.). Hier wird deutlich, inwiefern die untersuchte Struktur mit dem ›Maß‹ zusammenhängt, denn nur in ihr kann es sich als immer dynamisches überhaupt konstituieren. Unmaß wäre somit alles, was sich jenseits dieser Dynamik bewegen bzw. versuchen würde, diese, und das heißt die ihr konstitutiv innewohnende Negativität, ihr anderes, aufzuheben. Als ›Unmaß‹ müsste somit alles ›Absolute‹, ›Reine‹, absolut ›eine‹ etc. bezeichnet werden. Hier wird ebenfalls deutlich, dass das, was ›Revolution‹ genannt werden kann, mit Hölderlin nicht ›Umsturz‹ im Sinne eines gänzlichen Neuansatzes bedeutet, sondern im wörtlichen Sinne ›Re-volution‹, ›Um-kehr‹, und somit nichts anderes als Veränderungen, die der hier erarbeiteten Dynamik folgen.
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Siglen und Abkürzungen
MA
Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. v. Michael Knaupp. München 1992.
FHA
Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Hist.-krit. Ausgabe. Hrsg. v. D. E. Sattler. Frankfurt/Main 1976ff.
StA
Hölderlin: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Friedrich Beißner. Stuttgart 1943ff.
HJb
Hölderlin-Jahrbuch
DVjs
Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte
MLN Modern Language Notes
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Zitierte Literatur
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