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German Pages 567 [579] Year 2004
Hans Joachim Iwand Nachgelassene Werke. Neue Folge Band 5
Hans Joachim Iwand
Nachgelassene Werke Neue Folge Herausgegeben von der Hans-Iwand-Stiftung
Band 5
Gütersloher Verlagshaus
Hans Joachim Iwand
Predigten und Predigtlehre Bearbeitet, kommentiert und mit Nachworten versehen von Albrecht Grözinger, Bertold Klappert, Rudolf Landau und Jürgen Seim
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Vorwort zur Neuen Folge der nachgelassenen Werke
Hans Joachim Iwand ist einer der bedeutendsten evangelischen Theologen des 20. Jahrhunderts. Zur Veröffentlichung seiner Arbeiten ist er selbst kaum gekommen. Erst nach seinem Tod haben einige seiner Freunde »Nachgelassene Werke« herausgegeben, die in sechs Bänden im Zeitraum zwischen 1962 und 1974 erschienen. Zwischen 1959 und 1980 kamen zwei Bände »Gesammelte Aufsätze« heraus, 1988 ein Band politisch-theologischer Beiträge. Wir freuen uns, diese Folge mit einem Band »Predigten und Predigtlehre« abschließen zu können. Leider müssen wir der Leserschaft mitteilen, dass der geplante Band mit Briefen Iwands nicht erscheinen wird. Wie schon bei der Planung der ersten Reihe nachgelassener Werke ergaben sich für die Veröffentlichung einer Auswahl von Briefen – um mehr hätte es sich ohnehin nicht gehandelt – unüberwindliche Schwierigkeiten. Wir danken nach mehreren Seiten: denen, die mit finanziellen Zuschüssen diese Edition ermöglicht haben, der St. Marien-Gemeinde in Dortmund, der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, der Evangelischen Kirche im Rheinland und der Evangelischen Landeskirche in Württemberg; den Erben Iwands für die Zustimmung zur Veröffentlichung; den Bearbeitern der Bände; sowie dem Verlag, besonders den Herren Hansjürgen Meurer und Diedrich Steen. Der Vorstand der Hans-Iwand-Stiftung
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Vorwort zu Band 5
Theologie äußert sich auf verschiedene Weise. Im Aufsatz lässt sie an der Forschung teilhaben, im Buch fasst sie Forschungsergebnisse zusammen, in der Vorlesung formuliert sie die Lehre in den unterschiedlichen Fächern. Eine ganz eigene Form der theologischen Äußerung ist die Predigt. Sie gibt die biblische Botschaft an die Gemeinde weiter. In der Predigt spricht sich die Theologie von ihren schulmäßigen Voraussetzungen frei und spricht den Menschen, die zuhören, Gottes Wort, seine Verheißung und sein Gebot, sein Urteil und seinen Trost zu. In diesem Sinn hat Hans Joachim Iwand gepredigt. Wir legen hier eine weitere Auswahl seiner Predigten vor. Ein erster Band erschien 1963 in der Reihe der Nachgelassenen Werke. In der Neuen Folge werden bisher unveröffentlichte Predigten zugänglich gemacht, im Anhang verstreut veröffentlichte, heute eher unzugängliche Texte. Den Gattungsbegriff »Predigt« legen wir dabei nicht eng aus, auch sogenannte Bibelarbeiten und Andachten sind in den Band aufgenommen, dazu das Fragment einer Homiletik-Vorlesung, die Iwand in einem Predigerseminar der Bekennenden Kirche hielt. Es gibt zum Band 3 der Nachgelassenen Werke eine einzige Überschneidung: die erste Predigt der Hiobreihe, die wir um der Vollständigkeit der Reihe willen nicht auslassen wollten. Über Einzelheiten der Predigtinhalte, der Textüberlieferung und der biografischen Einordnung geben die Nachworte Auskunft. Den Predigten sind die Predigttexte jeweils vorangestellt, Zitate daraus in der Predigt kursiv kenntlich gemacht. Die einzige Ausnahme sind die langen Hiobkapitel, die wir die Leserinnen und Leser in der Bibel nachzulesen bitten. In der Regel folgen die Bibeltexte der Revision der Lutherbibel von 1912, die Iwand benutzte; seltene Ausnahmen sind eigene Übersetzungen Iwands. Ostern 2004
Albrecht Grözinger Bertold Klappert Rudolf Landau Jürgen Seim
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Inhalt Vorwort zur Neuen Folge der Nachgelassenen Werke . . . . .
V
Vorwort zu Band 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Predigten 1. Hiobs Leiden (Hiob 1,1-2,10) . . . . . . . . . . . . . . . 2. Hiobs Klage (Hiob 2,11-3,26) . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eliphas, der erste Tröster (Hiob 4-7) . . . . . . . . . . . . 4. Bildad, der zweite Tröster (Hiob 8-10) . . . . . . . . . . . 5. Zophar, der dritte Tröster (Hiob 11-14) . . . . . . . . . . 6. Wieder: Eliphas (Hiob 15-17) . . . . . . . . . . . . . . . 7. Wieder: Bildad (Hiob 18-19) . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Und der Herr antwortete … (Hiob 38-42) . . . . . . . . . 9. Gott ist unsre Zuversicht und Stärke (Psalm 46) . . . . . 10. Cantate – Singt! (Psalm 98,1-3) . . . . . . . . . . . . . . 11. Dieses Totenfeld (Hesekiel 37) . . . . . . . . . . . . . . . 12. Wer auf Erden Richter ist (Amos 7,1-9) . . . . . . . . . . 13. Frieden machen (Matthäus 5,9) . . . . . . . . . . . . . . 14. Was möglich und was unmöglich ist (Matthäus 5,13-15) 15. Du sollst nicht töten (Matthäus 5,21-26) . . . . . . . . . 16. Geheiligt werde dein Name (Matthäus 6,9) . . . . . . . . 17. Ihr könnt nicht (Matthäus 6,24-34) . . . . . . . . . . . . 18. König in der Uniform des Elends (Matthäus 21,1-9) . . . 19. Freude und Umkehr (Lukas 1,5-25) . . . . . . . . . . . . 20. Lob der Treue Gottes (Lukas 1,57-80) . . . . . . . . . . . 21. Weihnachten (Lukas 1,78-79) . . . . . . . . . . . . . . . 22. Seid, was Gott ist (Lukas 6,36-38) . . . . . . . . . . . . . 23. Die Mauer um Jesus Christus (Lukas 9,18-27) . . . . . . 24. Es ist wie Weihnachten (Lukas 15,1-7) . . . . . . . . . . 25. Advent (Johannes 1,15-18) . . . . . . . . . . . . . . . . 26. Die Stimme eines Rufenden (Johannes 1,19-28) . . . . . 27. Nicht ich, Johannes (Johannes 1,19-34) . . . . . . . . . 28. Siehe (Johannes 1,29-51) . . . . . . . . . . . . . . . . . 29. Wiedergeburt (Johannes 3,1-16) . . . . . . . . . . . . . 30. Der Tröster (Johannes 15,26-27) . . . . . . . . . . . . .
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X
Inhalt
31. Das Evangelium Gottes (Römer 1,1-7) . . . . . . 32. Ein evangelischer Pharisäer (Römer 1,8-15) . . . 33. Das Evangelium geht die Welt an (Römer 1,16-17) 34. Unentschuldbar (Römer 2,1-10) . . . . . . . . . . 35. Das Messer des Geistes (Römer 2,12-29) . . . . . 36. Grundlos beschenkt (Römer 3,21-26) . . . . . . . 37. Allein aus Glauben (Römer 3,27-31) . . . . . . . 38. Der Lebensgrund (1 Korinther 3,11) . . . . . . . . 39. Es gibt kein Zurück (Galater 2,15-21) . . . . . . . 40. Wahr in der Liebe – hineinwachsen in das Haupt (Epheser 4,15-16) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Totengedenken 41. Der letzte Feind der aufgehoben wird, ist der Tod (1 Korinther 15,26) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42. Trauerfeier für Anneliese Bornkamm (Johannes 3,16) . . . . . . 43. Trauerfeier für Else Bernhard, geb. Benkhardt (Jeremia 29,11) . . 44. Trauerfeier für Egolf Heinrich Graf von Kanitz (Johannes 12,32) 45. Trauerfeier für Rudof Feuerbaum (Matthäus 10,32) . . . . . . . 46. Gott oder der Tod (1 Korinther 15,12-22) . . . . . . . . . . . . . 47. Gedenkrede zum Totensonntag 1945 (Psalm 90) . . . . . . . . . 48. Trauerfeier für Oscar Ehrhardt (2 Korinther 5,1) . . . . . . . . .
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Christliche Feste 49. Zum Christfest (Lukas 2,8-14) . . . . . . . . . . . 50. Das Wunder der Weihnacht . . . . . . . . . . . . 51. Wiedergeboren zu einer lebendigen Hoffnung. Okuli (Lukas 11,14-28) . . . . . . . . . . . . . . . 52. Gründonnerstag (Johannes 13,1-15) . . . . . . . 53. Karfreitag (2 Korinther 5,19-21) . . . . . . . . . . 54. Karsamstag (1 Korinther 15,3-5) . . . . . . . . . 55. Ostersonntag (1 Petrus 1,3) . . . . . . . . . . . . 56. Wie die Jünger froh wurden (Johannes 20,19-23) 57. Thomas, der erste Protestant (Johannes 20,24-29) 58. Die Erscheinung des Auferstandenen in Galiläa (Johannes 21,1-14) . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XI
Inhalt
59. Das Mahl des Auferstandenen (Johannes 21,10-23) . . . . . . . 339 60. Pfingsten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347
»Predige das Wort« 61. Jesus und die Kirche (Lukas 5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 62. Die Gegenwart des Kommenden (Lukas 12) . . . . . . . . . . . . 375 63. Gott und dein Bruder (1 Johannes 2,9-11) . . . . . . . . . . . . 412
Homiletik-Vorlesung Nachschrift aus dem illegalen Predigerseminar Bloestau . . . 417 Kapitel 1: Beauftragung zur Predigt . . . . . . . . Kapitel 2: Immer währende Verkündigung . . . . Kapitel 3: Verkündigung und Gemeinde . . . . . Kapitel 4: Erwählung und Anknüpfung . . . . . . Kapitel 5: Predigt als Kampf: Zeichen und Wunder Kapitel 6: Formen der Verkündigung . . . . . . .
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Nachworte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 Albrecht Grözinger Hans Joachim Iwand als Homiletiker und Prediger in seinem geistesgeschichtlichen Kontext und darüber hinaus . . . . . . . . . 511 Jürgen Seim Editorisches Nachwort, hauptsächlich zu zeitlichen Einordnung der Predigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 Bertold Klappert Hiob als ein Zeuge des gekreuzigten Christus. Einführung in die Hiob-Predigten H. J. Iwands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534 Rudolf Landau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Editorisches Nachwort zu Homiletik . . . . . . . . . . . . . . . . . 549
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XII
Inhalt
Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 Bibelstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 556 Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566
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Predigten
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1. Hiobs Leiden Hiob 1,1-2,10 3. Juni 1944
Das Buch Hiob behandelt die Geschichte eines Mannes, von dem es heißt, daß er fromm und gerecht, gottesfürchtig und dem Bösen feind war. Er war aber nicht nur ein frommer Mann, sondern Gott segnete ihn in seiner Hantierung und seinem Familienleben, in seinem Besitz und seinem Ansehen vor allem Volk. Alles was er tat, gelang ihm wohl. Aber sein Reichtum machte ihn doch nicht übermütig, im Gegenteil, er fürchtete Gott und waltete als Priester seines ganzen Hauses, auch für seine Söhne und Töchter vor Gott eintretend mit Fürbitte und Opfer. Das ist der kurze Auftakt des Buches, mehr eine Belehrung für den Leser, als schon zur Handlung gehörig. Die Handlung beginnt eigentlich erst damit, daß etwas im Himmel geschieht. Daß ein Streit anhebt um Hiob zwischen Gott und dem Satan, Hiob wird der Gegenstand eines Gespräches, das Gott mit dem Satan führt. Und zwar geht es in dem Gespräch darum, daß der Satan die Frömmigkeit Hiobs anzweifelt. Das Wesen Satans ist überhaupt der Zweifel. Er vertritt die Rolle des Staatsanwaltes vor Gott, er ist der Ankläger, der gerade die Frommen verdächtigt in ihrem Frommsein. Erst in Jesus Christus wird seine Macht gebrochen werden, wenn es heißen wird: »Nun ist das Heil und die Kraft und das Reich unseres Gottes geworden und die Macht seines Christus, weil der Verkläger unserer Brüder verworfen ist, der sie verklagt Tag und Nacht vor Gott«! (Apk 12,10). Der Verkläger unserer Brüder, das ist die Rolle, die der Satan vor Gott hat. Der Teufel stellt eine wichtige Frage. Er fragt: Ist Hiob denn umsonst so fromm? (1,9) Es ist nicht schwer fromm zu sein, meint der Teufel, wenn Gott so sichtbar das Leben und die Arbeit eines Menschen segnet. Führ aber einen Schlag und triff sein Hab und Gut, was gilt es, ins Gesicht hinein dankt er dir ab (1,11). Damit ist das Thema des Buches Hiob angegeben. Es ist die Frage nach einer Frömmigkeit, die ohne Eigennutz ist. Gibt es einen Menschen, so wird hier gefragt, der an Gott festhält, ohne daß er davon einen Nutzen hat. Es ist vielleicht die Frage nach dem Dasein Gottes überhaupt. Es ist die Frage nach dem Unterschied zwischen Gott und dem Götzen, denn jener Glaube an Gott, der seine Wurzel im Gedanken des Lohnes hat, macht aus Gott einen Götzen. Indem so der Satan Hiob verdächtigt, verdächtigt er zugleich Gott. Er tastet Gottes
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Hiob 1,1-2,10
Ehre an, als wollte er ihm sagen: die Menschen glauben doch nur alle solange an dich, als du sie segnest. Auch du bist für sie nur ein Götze. »Sie haben Gottes Wahrheit verwandelt in die Lüge und haben geehrt und gedient dem Geschöpfe mehr denn dem Schöpfer« (Röm 1,25). Nur solange Gott gibt, wird er verehrt. Das, so meint der Satan, ist der geheimste Kern aller Frömmigkeit. Gott kann die Probe selbst darauf machen, er soll einmal den reichen Mann verwandeln in einen armen Lazarus, er soll ihm nehmen, was er ihm gegeben hat, ihn herunterstürzen von der Höhe, auf der er wandelt, damit wird auch seine so gepriesene Frömmigkeit dahin sein. Es gibt eigentlich keine schlimmere teuflischere Verdächtigung des Glaubens an Gott als diese Behauptung, daß der Fromme Gott nicht umsonst dient, daß er dabei seinen eigenen Nutzen sucht, daß er sogar in Gott sich selber sucht. Und Gott ist dann nur noch ein Mittel zum Zweck und aller Glaube und alle Gottesfurcht, alles Gebet und aller Gottesdienst ist dann im Grunde genommen nichts anderes als der Versuch des Menschen, Gott zum Götzen zu machen, Gott in den Dienst seiner Zwecke zu stellen. Das sagt der Satan Gott ins Gesicht: du lebst nur solange in Achtung bei den Menschen, als du sie dementsprechend führst und segnest. Er hebt mit dieser Verdächtigung die Gottheit Gottes auf. Hätte der Teufel recht, dann sollten wir alle Altäre stürzen, alle Kirchen schließen, dann sollten wir aufhören Menschen für Gott zu werben; denn es wäre ja alles nur Trug. Alle Frömmigkeit hätte diesen Wurmfraß an sich, auf den der Teufel anspielt. Und weil Gottes Ehre angetastet ist, darum gibt Gott seinen Knecht Hiob dem Satan in die Hand. Er darf ihm alles nehmen, was er hat, es soll offenbar werden, ob er recht hat mit seiner Frage: Ist Hiob denn umsonst so fromm? So kommt das Unglück über Hiob. Es kommt so gewaltig, daß man meint, er müßte unter diesen Schicksalsschlägen zerbrechen. Von allen Seiten erreichen ihn Hiobsbotschaften. Nomaden aus Saba fallen ein und rauben Rinder und Eselinnen, die großen Schafherden mitsamt den Schäfern kommen im Steppenbrand um, die räuberischen Chaldäer führen seine Kamelherden weg und schließlich begräbt ein Sturmwind die im Hause ihres ältesten Bruders versammelten Kinder allesamt unter den Trümmern. Hiob, als diese Schicksalsschläge ihn treffen, wird zwar gebeugt von Trauer, zerrissen von Schmerz, aber er betet Gott an und bekennt seine Geschöpflichkeit: »Denn wir haben nichts in die Welt gebracht, darum offenbar ist, wir werden auch nichts hinausbringen« (1 Tim 6,7). So sagt auch Hiob hier: Ich bin nackt von meiner Mutter Leibe gekommen, nackt werde ich auch wieder dahinfahren. Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen, der Name des Herrn sei gelobt (1,21). Wunderbar, wenn ein
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Hiobs Leiden
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Mensch in den Fluten der Anfechtung seinen Fuß auf den rettenden Felsengrund solcher Erkenntnis setzt. Der Teufel hat verspielt. Er nahm ihm alles, womit ihn Gott reich gemacht hat, und siehe da, dieser alte, vom Leid und Schmerz gebeugte Hiob lobt dennoch Gott. Das hat ihm der Teufel nicht nehmen können. Gott ist gerechtfertigt im Lob des Hiob. Dieser sein Gott ist kein Götze. Sein Gott ist der Schöpfer. Wie sollte das Geschöpf mit seinem Schöpfer rechten: »Wehe dem, der mit seinem Schöpfer hadert, eine Scherbe wie andere irdene Scherben. Spricht auch der Ton zu seinem Töpfer: was machst du?« (Jes 45,9). An Gott den Schöpfer glauben hieße also darauf verzichten, daß wir einen Anspruch vor Gott haben. Hieße darauf verzichten, daß wir einen Anspruch haben auf alles, was wir besitzen, Haus und Hof, Weib und Kind, Ansehen und Ehre, alles ist Geschenk. Alles ist Gnade. Niemand hat ein Recht darauf, niemand kann Gott anklagen, wenn er ihm nimmt, was er ihm gab. Aber wer kann das? Daß es auch Hiob nicht so leicht konnte, wie es zunächst den Anschein hat, werden wir im Folgenden sehen. Es wird uns trösten. Es wäre ja unmenschlich, Hiob würde uns nicht so nahe stehen, er würde nicht ein leidendes, menschliches, aufbegehrend fühlendes Herz haben, wenn er in scheinbarer Gleichgültigkeit diese Worte so spräche, wie wohl ein Mensch sagt: Hin ist hin, verloren ist verloren. So ist es nicht gemeint, wenn wir die Worte lesen: Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen, der Name des Herrn sei gelobt. Sondern das ist das Ziel, der Halt seines Glaubens. Das ist die Rechtfertigung Gottes im Munde Hiobs, der verzichtet, mit seinem Schöpfer zu rechten. Aber der Weg dahin ist weit. Und wenn nun die anderen Menschen kommen und Hiob überfallen mit Reden und Verführungen, dann wird auch aus seinem Herzen die Klage brechen und wir werden erkennen, daß der Weg zu dieser Anbetung Gottes nicht so leicht ist, wie es zunächst scheint. Daß damit nur das Thema gegeben ist, aber die Durchführung dieses Themas in alle Tiefen und Abgründe des Leidens schauen läßt. So steht das Lob Gottes über dem Kreuz, das er Hiob auferlegt. Aber das Kreuz ist auch ein wirkliches Kreuz: »Voller Schmerz und Krankheit«. Es ist bezeichnend, daß die Standhaftigkeit Hiobs den Teufel nur von neuem reizt. Der Satan kann nicht anders, er bleibt ungläubig bis ans Ende. Er wäre ja nicht der, der er ist, der Verkläger der Frommen, wenn er je zugeben wollte, daß es einen Gerechten auf Erden gibt. Der Satan lebt davon, daß die Menschen von Gott abfallen, er lebt davon, Gott Abbruch zu tun unter denen, die sich zu ihm halten. So tritt er noch einmal vor den Herrn hin und verdächtigt auch dieses mitten im Leid emporsteigende Lob Gottes aus dem Munde Hiobs. Haut für Haut und alles, was ein Mann hat, läßt er für sein Leben (2,4). Wir werden sagen müssen, daß der Satan damit
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Hiob 1,1-2,10
nicht so unrecht hat, er kennt die Menschen, er weiß, wie abgründig der nackte Lebenswille des Menschen ist. Er weiß, wie viel ein Mensch überleben kann, wenn es ihn selbst noch nicht trifft. Solange steht er gleichsam immer noch außerhalb der Gefahrenzone. Er hat sich selbst gerettet. »Alle leben«, das steht auf unseren Hauswänden geschrieben. Solange das Leben nicht angetastet wird, ist die Hauptsache gerettet. Man kann noch arbeiten, man kann noch schaffen. So, meint der Satan, täuscht sich Gott über Hiob. Gottes Lob im Munde des Hiob ist nichts anderes als dieser unverwüstliche Lebenswille des Menschen. Wenn der angetastet wird, dann wird es anders aussehen. Taste sein Gebein und Fleisch an, was gilts, er wird dir ins Angesicht absagen (2,5). Und nun überläßt Gott Hiob zum zweiten Male dem Satan, der ihn mit seinen Fäusten schlägt. Nun sehen wir ihn vor uns als die Gestalt, wie die Maler ihn malten, voll böser Schwären, vom Fuß bis zum Kopf mit Aussatz bedeckt, er nahm eine Scherbe und schabte sich und saß in der Asche (2,8). In solchem Elend und Leid zerbricht auch das Band der Liebe und Treue, sein eigenes Weib wird von Verzweiflung ergriffen. Wie Eva im Paradies, so steht Hiobs Frau neben dem von Gott Geschlagenen. Hältst du noch fest an deiner Frömmigkeit? Sage Gott ab und stirb (2,9). Das Leben ist zu Ende. Frömmigkeit hat nur Sinn, solange der Mensch lebt. Hiob ist ein Todgeweihter. In seinem Elend zeichnet sich scheinbar ab, daß Gott ihn verlassen hat und Hiob noch an ihm festhält. Gott ist gegangen und Hiob wartet. Worauf wartet er eigentlich noch? Der Tod ist das einzige, was ihm gewiß ist. Die Schleier, die über der Gestalt Hiobs stehen, zerteilen sich. Wir schauen hindurch ans Kreuz. Wir schauen den, der der »Allerverachtetste und Unwerteste« war: »Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte«. »Wir hielten ihn für den, der von Gott geschlagen und gemartert wäre«. Jesus Christus hat die Hiobfrage durchgelebt, in Jesus Christus hat der Teufel sein Spiel verloren. Jesus Christus ist der Mensch, in dem Gott Recht bekommen hat. Jesus Christus ist der einzige, der bei uns steht, wenn wir selbst in solche Anfechtung geführt werden. Jesus Christus ist der Zeuge Gottes, daß das Unglück, welches den Menschen trifft, uns nicht von Gott scheiden, sondern zu ihm führen soll. Um Jesu Christi willen klingt es immer wieder auf im Neuen Testament: »Welchen der Herr lieb hat, den züchtigt er, und er stäupt einen jeglichen Sohn, den er aufnimmt« (Hebr 12,6). Das Kreuz ist einbezogen in die Wege Gottes, die er mit denen geht, die er lieb hat. Darum hat Hiob recht, wenn er seiner Frau entgegnet, daß wir alles aus Gottes Hand nehmen sollen, nicht nur das Gute, sondern auch das Böse (2,10). Denn erst dann, wenn wir alles von Gott nehmen, Gutes und Böses, Hohes und Tiefes, Leben und Tod, Gegenwärtiges und Zukünftiges, ist Gott alles in allem,
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Hiobs Leiden
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ist er der Ring, in dem wir laufen, ist er die Mitte, um die alles schwingt, erst dann kann uns nichts mehr trennen von Gott, erst dann hat der Satan sein Spiel verloren, muß er schweigen mit seiner bösen Frage: Ist Hiob denn umsonst so fromm? Denn diese Frage, die Teufelsfrage, muß da verstummen, wo der Lobgesang des Glaubens sich erhebt zu der Gewißheit: »Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Fährlichkeit oder Schwert? Aber in allem überwinden wir weit um deswillen, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes auch keine andere Kreatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm Herrn« (Röm 8,35-39).
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2. Hiobs Klage Hiob 2,11-3,26 10. Juni 1944
Hiob soll seinen Schmerz nicht allein tragen, Freunde machen sich auf, ihn zu besuchen in seiner Trübsal. Sie kennen ihn nicht mehr wieder, seine Gestalt ist verfallen, der Glanz von seinem Angesicht gewichen. Denn das Unglück verändert die Menschen auch äußerlich. Schweigend lassen sich die Freunde bei ihm nieder und sprechen kein Wort. Es gibt ein Unglück, welches so groß ist, daß es den Menschen verstummen macht. Wir merken erst in solcher Stunde, wie schwer es ist zu trösten. Wo ist die Freundschaft geblieben, jenes gute freundschaftliche Verstehen aus den Zeiten des Gelingens und des Glückes. Auch die Freundschaft wird in solchen Lebenslagen als etwas Unzulängliches bewiesen. Sie reicht nicht aus. Sie kann die Einsamkeit nicht beheben, in die hinein der Leidende stürzt. Sie, die Freunde, sagen alle noch Ja zum Leben, aber Hiob sagt nicht mehr Ja. Hiob hadert mit Gott, ihm ist das Leben zum Ekel geworden und der Tod zum Erlöser, auf den er wartet. So bricht es heraus aus seiner Seele nach dem langen Schweigen, ein Abgrund tut sich auf und alle Menschen, die nicht in solchem Leiden stehen, beben zurück vor dem Schrecklichen, das da offenbar wird. Das Gleiche erleben wir, wenn wir trösten wollen. Wir gleichen einem Menschen, der am Ufer steht und dem Ertrinkenden etwas zuruft. Aber der Ertrinkende kämpft mit den Wellen, die ihn hinunterspülen wollen, unter ihm klafft eine unendliche Tiefe. Die kennen die anderen Menschen nicht, die vom Ufer aus Rettungsaktionen unternehmen. So ist unser menschliches Trösten, es macht nur offenbar, daß wir einander nicht helfen können. Es macht die Einsamkeit noch größer, in der der Leidende steht. Der Spott der Feinde ist nicht so furchtbar wie das Unverstehen der Freunde, wie wenn man Wunden mit Salz rein macht, so entzünden die Freunde Hiobs seinen Schmerz zur höchsten Qual. Wie anders tröstet Gott. Er verläßt seinen Himmel und übernimmt das Leben des Menschen, dieses Leben voller Angst und Not, dies Preisgegebensein in den Tod. Er gibt auf was er ist und wird, was er nicht ist, er übernimmt an seinem eigenen Leib unsere Not und unsere Qual. »Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen«. Ihm schmeckt die Freude des Himmels nicht, sondern
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Hiobs Klage
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es erbarmt ihn der Jammer der Menschen: »Da er wohl hätte Freude haben mögen, wählte er das Kreuz und achtete der Schande nicht«. Das ist die göttliche Liebe, das ist der Trost Gottes. Wer sich so von ihm trösten läßt, der wird auch lernen, andere zu trösten. Andere darin zu trösten, daß wir ihr Leben zu unserem Leben, ihre Not zu unserer Not machen, daß wir nicht oben stehen bleiben am Ufer und glauben, mit Weisungen den Ertrinkenden retten zu können, sondern daß uns seine Not hineinzieht in dieselbe Flut, daß wir sein Unglück teilen und seine Nähe suchen. Das sind allerdings furchtbare Dinge, die hier aus der Seele Hiobs empor steigen. Gedanken einer absoluten Verzweiflung. Bei Licht besehen sind es Lästerungen, die aus seinem Herzen aufsteigen und sich über seine Lippen drängen. Alles woran wir sonst glauben, die Lebenswerte von denen wir reden, sind auf einmal durchgestrichen. Der Tag müsse verloren sein, darin ich geboren bin und die Nacht welche sprach, es ist ein Männlein empfangen worden (3,3). Wie weit muß doch ein Mensch gekommen sein, der so sein ganzes Leben verflucht. Wir feiern unsere Geburtstage, aber ob wir auch wissen, was wir damit tun? Wie viele Festtage mag Hiob gefeiert haben, aber heute geht ihm erst ein Licht auf, was er da gefeiert hat: Das Unglück seines Lebens. »Es ist Trauern besser als Lachen, denn durch Trauern wird das Herz gebessert.« Wenn Hiob den Tag verflucht, da er geboren war, dann will er damit sagen, daß alles, was ihm Gott gegeben hat, nichts ist gegenüber dem, was ihm Gott genommen hat. Er vom Standpunkt des Lebenden stellt das Glück aller Glücklichen infrage. Denn sie feiern ihr Leben. Sie sehen darin den höchsten Wert, sie finden darin ihr Glück. Aber Hiob hat den bitteren Kern des Lebens schmecken müssen, der verborgen ist in dieser süßen Frucht. Hiob hat erkennen müssen, daß alle Höhen des Lebens nur Gelegenheiten sind, um von Gott heruntergestürzt zu werden, von dem Gewaltigen, gegen den niemand ankann. Es ist unendlich trostreich, daß Hiob redet, daß seine Reden Aufnahme finden in der Bibel. Trostreich für alle, die ähnliches erleiden, trostreich für alle, weil wir an Hiob erkennen, daß wir unseren Mund auftun dürfen vor Gott. Daß kein Leidender hier hinausgestoßen wird, daß keinem der schreien möchte, verboten wird zu schreien. Die Freunde können das Wort Hiobs nicht hören, vielleicht ist es auch uns noch schwer, solches anzuhören. Wenn wir Menschen begegnen im Leben, die so reden, gehen wir ihnen am liebsten aus dem Weg. Uns schaudert vor der Tiefe des Elends, die da aufbricht. Daß ein Mensch sein ganzes Leben, sein Wirken und Schaffen verwirft, daß er aller Freuden nicht mehr gedenkt, die er hatte, daß der finstere Schatten der Nacht sich wie ein Verhängnis über seinen Geburtstag legt, das kann keiner der Glücklichen hören.
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Hiob 2,11-3,26
Aber Gott hört. Gott hört seinen Knecht Hiob, Gott weiß, daß solche Lästerungen keine Lästerungen sind, sondern Wellen der Anfechtung, die über eines Menschen Seele gehen, Gott erbarmt sich wes er will. Vielleicht muß Hiob so einsam werden, damit Gott allein ihn versteht, damit Gott allein sein Freund wird. Noch ein Zweites sagt Hiob in seiner Klage, er preist die Toten selig: Warum bin ich nicht gestorben von Mutterleibe an, warum bin ich nicht verschieden, da ich aus dem Leibe kam? So läge ich doch und wäre stille und schliefe und hätte Ruhe (3,11.13). Alles, was am Tode schrecklich schien, wird auf einmal für den Leidenden begehrenswert, im Tode und in seinem Reich hört das Hasten und Jagen auf nach den Dingen, die doch nichts nütze sind. Arm und reich, diese großen die Welt bewegenden Gegensätze, sind dort aufgelöst. Da werden die Könige still, die die Welt bewegen mit ihrem gewaltigen Arm, da sind die Fürsten arm, die Gold und Silber in ihren Häusern sammeln. Da müssen die Gottlosen schweigen, die jetzt toben wie das wilde Meer. Da gibt es nicht mehr das Elend der Gefangenen und nicht mehr die Unbarmherzigkeit ihrer Treiber, da ist der Herr wie der Knecht. Im Tod ist Frieden. Die Verzweiflung und der Tod sind Geschwister. Das wovor sonst alle Menschen fliehen, das Nichtstun, scheint dem Verzweifelnden auf einmal als die einzige Erlösung. Niemand, der nicht einmal so weit gekommen ist, kennt die wahre Tiefe der Verzweiflung. Aber auch niemand, der nicht diese Tiefe schmecken muß, kennt die Herrlichkeit der Gnade Gottes. Denn denen, die nichts mehr hoffen als den Tod, naht Gott und schenkt ihnen das Leben. Ein anderes Leben als das, was sie in der Stunde ihrer Geburt empfangen haben. So wie Jesus Christus dem Lazarus das Leben wiederschenkt, dem, der schon im Grabe lag, so und nicht anders geht die Ostersonne auf über dem Grab, nach dem wir verlangen. Wir meinen, es gibt nur eine Erlösung, den Tod, weil das Leben uns betrogen hat, aber Gott denkt anders. Er gibt uns die Erlösung in Jesus Christus. Denn in ihm war das Leben, das Leben war das Licht der Menschen. Immer wenn wir mit Hiob gehen, bis an die Grenze seiner Qual, leuchtet uns Jesus Christus auf, von der anderen Seite her, als das Licht, das da scheint in der Finsternis. Wer nicht im Schatten des Todes sitzen will, wie soll der die Verheißung des Lebens empfangen? »Denn wer sein Leben lieb hat, der wird es verlieren, wer es aber verliert, der wird es gewinnen in Ewigkeit.« Und nun noch das Dritte und Letzte, was Hiob sagt. Er denkt an alle Mühseligen auf Erden, an alle die, die auf den Tod warten und er kommt nicht. Ihm wird auf einmal die Solidarität aller Leidenden bewußt. Die gro-
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ße Warum-Frage steigt auf: Warum ist das Licht gegeben den Mühseligen und das Leben den betrübten Herzen? (3,20) Eine Warum-Frage, tiefer als wir sie gewöhnlich stellen. So fragten die Philosophen im Altertum: »Warum ist das Sein und nicht vielmehr das Nichtsein?« Warum Licht und Leben um so viel Mühsal und Kümmernis zu bescheinen, hebt sich nicht alles auf in einem letzten großen Widerspruch? Die Glücksphilosophen sind am Ende ihrer Kunst. Das Kreuz leuchtet auf. Das Kreuz ist die Bestimmung des Menschenlebens, die Störung seiner Ruhe, Gott tritt in sein Leben ein und sein Friede ist dahin. War ich nicht glückselig, war ich nicht fein stille, hatte ich nicht gute Ruhe? Und es kommt solche Unruhe (3,26). Nur er, von dem es kommt, kann darauf antworten, denn unser Herz ist unruhig, bis es ruhet in Gott. Gott zerbricht, denn er wird bauen. Darum wartet auf Gott, denn er ist meiner Seele Gott und mein Heil.
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3. Eliphas, der erste Tröster Hiob 4-7 17. Juni 1944
Es ist ein seltsames Bild, das Bild des leidenden Hiob inmitten seiner Freunde. Die Freude sind gekommen, um ihn zu trösten, aber ihr Trost ist kein Trost, weil ihr Jammer seht, fürchtet ihr euch, sagt Hiob (6,21). Alles, was die drei Freunde zu Hiob sagen, ist im Grunde genommen aus der Abwehr heraus gesprochen. Sie sichern sich gegen das Leid. Sie versuchen sein Leiden zu erklären, seine Unbegreiflichkeit begreiflich zu machen. Das Leid ihres Freundes steht vor ihrem Leben und ihrer Weltanschauung wie eine von Gott selbst aufgeworfene Frage. In allem was sie sagen, weichen sie der Frage aus. Sie übernehmen sein Leid nicht in ihr eigenes Leben, sie sind wie ein Trugbach, wie es deren viele in der Wüste gibt. Sie versiegen in der Zeit der Hitze und wenn die durstgeplagte Karawane sich ihnen zuwendet in der Hoffnung, dort Erquickung zu finden, sieht sie sich genarrt. Meine Brüder trügen wie ein Bach, wie Wasserströme, die vergehen (6,15). Hiob steht unter seinen Tröstern als der Trostlose, er schreit nach Barmherzigkeit, aber er findet sie bei den Menschen nicht. Denn die Menschen sichern sich alle gegen das Leid. Trösten aber kann nur der, der das Leid seines Bruders selbst in sein Leben übernimmt, der es mitleidet, der sich selbst von diesem Leiden nicht erschüttern läßt. Trösten kann nur der, der bereit ist, von Gott selbst zu lernen, was trösten heißt, im Aufblick zu dem, von dem es einmal heißt: »Wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte Mitleiden haben mit unseren Schwachheiten«. Mitleiden mit unseren Schwachheiten, das ist das Trösten Gottes, wie es am Kreuz geschieht, wie es darum geschieht, damit auch wir einander dasselbe tun. »Einer trage des anderen Last.« Aber hören wir nun ein paar Worte aus der Trostrede des Eliphas und wir werden gleich begreifen, warum das nicht tröstet, wir werden es vielleicht aber auch so begreifen, daß wir uns wie in einem Spiegel sehen. So trösten auch wir oft. Wir meinen, das sei Trost und begreifen gar nicht, daß wir damit die Trostlosigkeit der Leidenden nur noch größer machen. Eliphas erinnert zunächst Hiob daran, daß er selbst so viele lässige Hände gestärkt, so viele bebende Knie gekräftigt hat. Nun es an dich kommt wirst du weich (4,5). Andern hat er geholfen, aber sich selber kann er nicht helfen!
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Begreifen wir denn nicht, daß gerade der Helfende, der Andern alles ist, sich selbst nichts sein muß? Daß er ganz auf Gott angewiesen bleibt, daß der ihm hilft? Deine Unschuld und deine Gerechtigkeit, sagt Eliphas, müßten dein Trost sein. Gedenke doch, wo ist ein Unschuldiger umgekommen oder wo sind die Gerechten je vertilgt? (4,7) Es ist doch so, was ein Mensch sät, das muß er ernten. Wer Unglück sät, der wird auch Unglück ernten, wer Gutes tut, wird den Segen davon haben. Soll Hiob das trösten? Ist unsere Frömmigkeit etwas, worauf wir uns verlassen können? Ist es nicht gerade das, was der Teufel möchte, als er zu Gott sagte »Meinst Du, daß Hiob umsonst Gott fürchtet?« Wird nicht hier aus Frömmigkeit ein Geschäft gemacht, eine Rechnung mit Gott? Gewiß, Eliphas weiß, es hat ihn mit Schrecken überfallen wie ein Nachtgesicht: Kein Mensch kann vor Gott gerecht sein, nicht einmal seine Engel sind ohne Tadel, wieviel weniger die, die in Lehmhäusern wohnen und von Würmern gefressen werden (4,13-19). Eliphas weiß, wie wir das alle wissen, daß wir auf Gottes Gnade angewiesen sind. Aber er kann sich diese Gnade nicht anders denken als so, daß Gott die Seinen in wunderbarer Weise behütet. »Aus sechs Trübsalen wird er dich erretten, und in der siebenten wird dich kein Übel rühren. In der Teuerung wird er dich vom Tod erlösen und im Kriege von des Schwertes Hand. Er wird dich verbergen vor der Geißel der Zunge, daß du dich nicht fürchtest vor dem Verderben, wenn es kommt; im Verderben und Hunger wirst du lachen und dich vor den wilden Tieren im Lande nicht fürchten; sondern dein Bund wird sein mit dem Stein auf dem Felde, und die wilden Tiere werden Frieden mit dir halten; und wirst erfahren, daß deine Hütte Frieden hat, und du wirst deine Behausung versorgen und nichts vermissen; und du wirst erfahren, daß deines Samens viele werden und deine Nachkommen wie das Gras auf Erden; und wirst im Alter zu Grabe kommen, wie Garben eingeführt werden zu ihrer Zeit. Siehe, das haben wir erforscht und ist also, dem gehorche und merke dirs (5,19-27). Eliphas verteidigt damit seine Lebensauffassung, seinen religiösen Lebensoptimismus, es klingt wie Gottvertrauen, aber es ist Gottvertrauen abseits vom Kreuz gewonnen. Aus den Verheißungen Gottes werden Sicherheiten des Menschen gemacht. Wie muß das auf den Leidenden wirken, der doch gerade das Gegenteil von dem allen erfährt. Es klingt so wie in dem Lied: »Er läßt von den Schlechten nicht die Guten knechten« – aber ist das wahr? Sind die, denen es gut geht, auch die Guten? Nein, Hiob weiß es anders, der Zorn Gottes liegt über ihm: Die Pfeile des Allmächtigen stecken in mir: derselben Gift muß mein Geist trinken und die Schrecknisse Gottes sind auf mich gerichtet (6,4).
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Hiob 4-7
Der Mensch in der Trostlosigkeit und in der Anfechtung ringt mit Gott, wie Jakob mit seinem Engel im Morgengrauen. Gott ist ihm zu stark, er verrenkt sich seine Hüfte an Gott. Gott macht ihm sein Leben zur Qual, er bittet nur noch, daß Gott ihn ganz zerschlägt und all dem Leiden ein Ende macht. Ist doch meine Kraft nicht steinern und mein Fleisch nicht ehern (6,12). In seinem Leiden kommt ihm, dem einstmals so glücklichen und lebensfrohen Hiob nun erst ganz zu Gesicht, was der Mensch auf Erden ist, wie hinfällig seine Arbeit, wie kurz seine Tage sind. Wie ein Knecht sich sehnt nach Schatten und ein Tagelöhner, daß seine Arbeit aus sei (7,2). So und nicht anders sehnt sich Hiob nach seinem letzten Tag, er begehrt nicht mehr zu leben. Er findet des Nachts keinen Schlaf, es erschrecken ihn Träume der Angst, er hat keine Hoffnung mehr, daß er, der alte Mann, noch einmal Gutes sehen soll. Er weiß nicht, warum Gott mit ihm streitet, Gott und der Mensch, was ist das für ein Verhältnis. Der Mensch wie ein Nebel, der vergeht, wie ein Wind, der dahin fährt, ein Nichts vor Gott, warum sucht Gott sich denn den Menschen aus, um ihn zum ungleichen Streit zu fordern? Ist der Mensch Gott gewachsen, warum nimmt überhaupt Gott den Menschen so ernst? Bin ich denn ein Meer oder ein Meerungeheuer, daß du mich so verwahrst? (7,12) Was ist ein Mensch, daß du ihn groß achtest? (7,17) Habe ich gesündigt, was tue ich dir damit. o du Menschenhüter? Warum machst du mich zum Ziel deiner Anläufe, daß ich mir selbst eine Last bin (7,20). Es dämmert etwas auf in Hiob, jenseits von all dem, was seine törichten Freunde sagen und womit sie trösten. Ihr Trost ist eine falsche Rechnung, sie wissen nicht, wer Gott ist und nicht, wer der Mensch ist. Sie stellen beide unter einen Bogen, unter einen Begriff, unter eine Rechnung. Sie verstehen nichts von Gottes Gerechtigkeit, Lohn und Strafe. Strafe der Bösen, Belohnung der Guten, das ist das magere Resultat ihrer Frömmigkeit, und weil sie selbst aus diesem Zirkel nicht heraus können, darum können sie nicht trösten. Weil sie Gottes Gerechtigkeit ansehen wie die eines Gesetzgebers, eines höchsten Richters, vor den ein Mensch sein Recht bringt, darum können sie kein rechtes Wort reden. Warum vergibst du mir meine Missetat nicht und nimmst nicht weg meine Sünde (7,21). So endet Hiob. Er wendet sich an Gott, er begreift die große, göttliche Möglichkeit, die jenseits alles Verdienstes liegt. Auf Vergebung sind wir angewiesen. Gott vergibt, wem er will. Er vergibt nicht, weil wir fromm
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sind, er vergibt nicht, weil der Mensch etwas dazu tut, er hilft nicht, weil der Mensch dessen würdig wäre. Was ist überhaupt der Mensch vor Gott, daß irgendetwas von ihm auf der Waagschale Gottes Gewicht hätte? Warum vergibst du mir meine Missetat nicht, du Gott kannst wenn du willst. Gottes Vergebung ist unsere einzige Zuflucht, ist eine andere Gerechtigkeit, als die unserer menschlichen Begriffe, ist die göttliche Gerechtigkeit, die schenkt, ohne daß wir wissen, warum sie sich erbarmt, ohne Grund allein darum, weil Gott die Liebe ist, weil Gott das Erbarmen selbst ist, umsonst liebt Gott, umsonst will er auch geliebt sein. »Allein aus Gnade« vergibt er, wo er vergibt, allein aus Glauben will er gerufen sein, wo er angerufen wird. Vergebung Gottes, das wäre der einzige Trost, begreifen, daß wir kein Recht vor ihm haben um ihn anzuklagen, begreifen, daß nicht einmal unser eigenes Unrecht unser Leiden vor ihm begreiflich macht. Wir leiden nicht vor Gott, weil wir Unrecht getan haben, obschon wir es getan haben, und wir haben kein Recht uns über das Leid zu beschweren, weil wir weniger Unrecht getan haben als andere. Wir stehen nicht vor Gott wie in einem Gerichtshof, wo der Richter anklagt und der Angeklagte sich rechtfertigt. Wir klopfen an eine andere Tür, an die Tür, die sich auftut, wenn wir um Vergebung bitten, an die Tür, die Christus heißt, durch die wir eingehen und durch die Gott zu uns kommt. So steht Hiob vor Gott, trostlos, weil ihn niemand trösten kann und doch gerade darum dem großen Trost Gottes, seiner grundlosen Barmherzigkeit ganz nahe. Seine matte Hand findet die rechte Tür, die seine starken und sicheren Freunde nicht gefunden haben, »denn eine trostlose Seele, die nichts in sich findet, die ist Gott das liebste Opfer, zumal dann, wenn sie zu seiner Barmherzigkeit schreit, denn Gott hört nichts lieber, denn das Schreien nach seiner Liebe und Barmherzigkeit« (Luther).
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4. Bildad, der zweite Tröster Hiob 8-10 24. Juni 1944
Nachdem Hiob geendet hat, ergreift sein zweiter Freund das Wort, Bildad von Suah. Es ist ein seltsamer Trost, mit dem er ihn zu trösten versucht, aber es ist ein Trost, von dem die Menschen, zumal wenn sie selbst nicht in Leid und Gefahr sind, gern Gebrauch machen. Es ist der Glaube, daß alles, was geschieht, der Ausfluß einer höheren Gerechtigkeit ist und daß man also aus dem Leid die Schuld des Leidenden, aus dem Glück den Segen und das Wohlwollen des Allmächtigen ablesen kann. Meinst du, daß Gott unrecht richten könne und der Allmächtige das Recht verkehre? Haben deine Söhne vor ihm gesündigt, so hat er sie verstoßen um ihrer Missetat willen (8,3 f.). Es ist dies die Weltanschauung der menschlichen Sicherheit, handle gut, so denken diese Menschen, dann wird es dir auch gut gehen, wo es dir anders geht, hast du es auch verdient. Das ist der Standpunkt, den Hiobs Freund vertritt. Es ist der Standpunkt, mit dem er sich selbst das Leid Hiobs fernhält. Wer so denkt, den kann das Leid der Menschen gar nicht erreichen. Es ergreift ihn nicht an der Grenze des Faßbaren, sondern ehe es ihn noch trifft, ist es schon erklärt. Leid ist Schuld. Die Rechnung geht immer auf. Sie muß immer aufgehen, das ist nach Bildads Meinung der Sinn von Gottes Gerechtigkeit. Darum liegt alles nur am Menschen. Wenn sich der Mensch ändert, kann mit einem Schlage alles anders werden. Versöhnt er sich mit Gott, ruft er ihn an, dann wird auch Gott ihm wieder helfen. Es ließe sich wohl fragen, wie weit jeder Mensch von Natur aus dazu neigt, so zu denken, ob nicht weithin unsere sog. Frömmigkeit nichts anderes ist, als diese nüchterne Rechnung mit Gott als dem Partner, der Glück und Unglück in unserem Leben in der Hand hat. So wie man etwa mit einem mächtigen Herrn rechnet und sich hüten muß, seine Gunst zu verscherzen. Widerfährt einem dies, dann ist man allerdings geliefert. Wir müssen uns vielleicht auch fragen, ob nicht der oder jener gerade solch eine Predigt über Gott von der Kirche erwartet, ob nicht mancher Satz in der Bibel für sich genommen, auch so verstanden werden könnte, ob nicht das, was wir sagen, den Leuten vielmehr einginge, wenn wir es hier in den Worten Bildads von Suah sagten:
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Bildad, der zweite Tröster
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So du rein und fromm bist, so wird er aufwachen zu dir und wird wieder aufrichten deine Wohnung um deiner Gerechtigkeit willen (8,6). Hören wir recht! Nicht um seiner, sondern um deiner Gerechtigkeit willen. Du kannst dein Schicksal wenden, du kannst dich ändern, du kannst fromm werden, du kannst den Weltenlenker für dich gewinnen. Das befriedigt den Menschen, daß er das kann. Daß er eben nicht schlechthin abhängig ist von Gottes Gnade und Barmherzigkeit, daß er einen Anspruch stellen darf auf Lebensglück und Wohlergehen, freilich nur dann, wenn er selbst den Bedingungen genügt, die Gott dafür stellt. Aber denken wir jetzt an den Leidenden. Was bedeutet denn eine solche Einstellung für den Leidenden? Sie kann doch nur eins bedeuten, dasselbe, das von dem Gottesknecht Jes. 53 gesagt ist: »Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wurde.« Dieses Denken richtet gerade die Wand auf zwischen den Gerechten, den Sicheren, den Satten, den Glücklichen – und den Leidenden. Nicht genug, daß sie leiden müssen, nun kommen auch noch die Menschen ihres Weges daher und deuten ihr Leid als Schuld und Strafe. Und verstehen gar nicht, daß es ein ganz anderes Leiden ist, das Leiden derer, die Gott versuchen läßt, weil der Satan die Lauterkeit ihrer Gottesliebe infrage gestellt hat. Sie sehen gar nicht die ungeheure Spannung, in der die Seele des Leidenden sich befindet, dem Gott alles nimmt, was er ihm gab, damit er nun in solcher Leere und Beraubung ohne Trost von innen und außen doch die satanische Verdächtigung zunichte mache, als sei alle Frömmigkeit Selbstsucht und alle Gottesliebe Selbstliebe. Diese blinden Menschen sehen gar nicht, daß in solchem Leiden der Gerechte dem Gottlosen ganz ähnlich wird, und zwar dem Gottlosen gerade darin ähnlich, daß er die Strafe erleidet, daß er von Gott fallen gelassen wird, daß ihm niemand hilft und niemand ihn erhört. – Wer weiß, was uns im Leidenden begegnet, ob das Strafe ist oder Prüfung? Wer hat so scharfe Augen, das zu sehen? Worin unterscheidet sich das Leiden Hiobs und das Leiden eines Bösewichtes? Was für ein Unterschied ist äußerlich gesehen zwischen den Gestalten, die an den drei Kreuzen auf Golgatha hingen? Aber noch ein anderes Argument führt Bildad für sich ins Feld: die Weltgeschichte. »Die Weltgeschichte ist das Weltgericht!« Die Weltgeschichte zeigt, daß die Gottlosen vergehen. Unser Leben, sagt Bildad, ist ein Schatten auf Erden (8,9) wir sehen die Ereignisse aus der Perspektive der Eintagsfliege, aber die Weltgeschichte zeigt, daß alles, was sein Fundament nicht in Gott hat, vergeht und zuschanden wird.
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Hiob 8-10
So geht es allen denen, die Gott vergessen; und die Hoffnung der Heuchler wird verloren sein (8,13). Gewiß, das klingt sehr plausibel, das wird vielleicht auch weithin stimmen, aber der Leidende wird ein anderes Bild der Weltgeschichte entrollen, Hiob wird andere Tiefen aufdecken, wird unseren Blick auf größere Rätsel lenken, wird uns vor die Sphinx, Geschichte genannt, hinstellen und uns da allein lassen mit den Unbegreiflichkeiten, die da aufbrechen. Denn Hiob wird nur eines dagegen sagen, er wird das Fragezeichen hinter den Dingen sich nicht nehmen lassen. Hiob wird dagegen protestieren, daß das Leben so glatt aufgehen soll in diesem Schema der göttlich-menschlichen Gerechtigkeit. Er wird diese Dinge ein bißchen auseinandernehmen, die Gerechtigkeit Gottes und das, was wir Menschen unter Gerechtigkeit verstehen. Er wird die absolute Gerechtigkeit Gottes, von der Bildad redet, nun wirklich einmal als absolute zeigen, das heißt als eine solche, die keinem Maß und keinem Gesetz mehr unterliegt. Ich weiß gar wohl, daß es so ist, sagt Hiob, aber wenn es so ist, wenn Gott gerecht ist, wenn Gott immer recht hat mit dem, was er tut, was folgt dann daraus? Seid ihr Narren, daß ihr glauben könnt, aus diesem Gedanken der absoluten Gerechtigkeit Trost zu schöpfen? Dieser Brunnen ist zu tief, aus dem werdet ihr keinen Eimer Wasser heraufziehen. Absolute Gerechtigkeit, das heißt doch, daß, wenn er mit uns rechtet, der Mensch ihm auf tausend nichts eins antworten kann (9,3). Er tut große Dinge, die nicht zu erforschen sind und Wunder, deren keine Zahl ist. Siehe, wenn er hinreißt, wer will ihm wehren? Wer will zu ihm sagen: was machst Du? Er ist Gott; seinen Zorn kann niemand stillen (9,10.12 f.). Sage ich, daß ich gerecht bin, so verdammt er mich doch; bin ich unschuldig, so macht er mich doch zu Unrecht. Es ist eins, darum sage ich: Er bringt um beide, den Frommen und den Gottlosen (9,20.22). Das ist Gottes absolute, dunkle unbegreifliche Gerechtigkeit. Es ist eins. Gerade das, was wir Menschen unterscheiden, fromm sein und gottlos, wird hier zunichte. Der Zorn Gottes geht über beide, und Gott hat gegen beide recht. Aber, nicht wahr, wenn das so ist, was hat es dann noch für einen Sinn, fromm zu sein? Was für einen Nutzen hat dann der Fromme, von seinen Entbehrungen, von seinem Wandel unter der »Last« des Gesetzes, wie man damals sagte? Hiob geht gefährlich weit, gefährlich für alle Frömmigkeit, die vom Nutzen lebt. Sie zerbricht daran, daß sie sehen muß Es ist alles eins, der Unterschied zwischen fromm und gottlos ist belanglos für das Schicksal, das einer erleidet: Wenn er anhebt zu geißeln, so dringt er alsbald zum Tode und spottet der Anfechtung der Unschuldigen (9,23). Und was gar Weltgeschichte angeht, die Weltgeschichte, die wir so gern zu he-
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roisieren pflegen, die kann gerade hier durch die Tat eines Einzelnen schicksalhaft werden für Unzählige. Gewiß, Männer machen die Geschichte, aber wer macht die Männer? Das Land aber wird gegeben unter die Hand des Gottlosen und der Richter Antlitz verhüllt er. Wer anders sollte es tun? (9,24) Das liest Hiob heraus aus der Geschichte. Gewiß, Gott steht hinter allem. Aber gerade weil Gott hinter allem steht, wird das alles, dieser schaurige Knoten von Schicksal und Schuld und Leid noch viel unlösbarer, weil Gott dahintersteht, nehmen diese Rätsel des Daseins so unheimliche, gigantische Dimensionen an. Die Leute auf der Straße haben ganz recht, wenn sie behaupten: Was gehe ich Gott an? Was nützt es, wenn ich mich rein halte? Wenn ich mich gleich mit Schneewasser wüsche, so wirst du mich doch tauchen in Kot (9,30 f.). Die Leute auf der Straße haben ganz recht, wenn sie sagen, es ist alles eins, vor der absoluten Gerechtigkeit Gottes verschwimmt alles grau in grau, fromm und gottlos, gut und böse, rein und unrein – wenn die Geschichte der Schauplatz der göttlichen Gerechtigkeit wäre, dann wären wir alle nichts als Figuren, mit denen sein Zorn spielt. Es muß doch etwas anderes geben als diese furchtbare, vermeintlich so trostreiche, aber in Wirklichkeit so trostlose absolute Gerechtigkeit. Und davon, daß es noch etwas anderes gibt, daß es in Gott noch etwas anderes gibt, davon lebt Hiob. Daran hält er sich. Es muß ein Wort geben, das eine Brücke schlägt zwischen Gott und Mensch. Es muß dies geben, daß ich mich an Gott selbst wende, daß ich an diesen zornigen Richter, ungeachtet seines Zorns appelliere. Daß ich ihn daran erinnere, daß er in mir sein eigenes Werk zertritt. Es muß den Appell an das Erbarmen in Gott geben: Verdamme mich nicht! Laß mich wissen, warum du mit mir haderst. Laß mich wissen. Tu deinen Mund auf, Gott, offenbare dich mir und offenbare mir, was meine Schuld ist. Es muß dies geben, daß das Schweigen des Richtens und Vernichtens Gottes durchbrochen wird, daß er seinen Mund auftut, daß ich wissen darf, was zwischen ihm und mir steht. Deine Hände haben mich bereitet und gemacht alles, was ich um und um bin, und du wolltest mich verderben (10,8)? Es ist das Du Gottes, an das Hiob appelliert. Er versteht sich als Gottes Werk. Er will nicht sein eigenes Werk sein, er will sich selbst nicht sein Leben formen und gestalten, nicht als Gottloser, aber auch nicht als Frommer. Er will nichts sein als Gottes Werk. Und darum, weil er das ist, kann er nicht glauben, daß Gott ihn vernichtet. Ist das nicht auch wirklich unser eigener letzter Trost, daß wir uns ganz loslassen, ganz Gott übergeben, uns ganz in Gottes Hände befehlen und dann und so Gott anrufen dürfen, dann und so es wagen dürfen, seinem Zorn zu begegnen?
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Hiob 8-10
Nicht als Menschen, die auf ihren letzten Leistungen fußen, die von ihrer Gerechtigkeit reden, die den Lohn erwarten für ihre Taten, sondern als solche, die wissen, daß Gottes Hände uns bereitet haben, wirklich in allem, nicht nur darin, daß wir hier existieren, sondern auch darin, daß wir glauben, hoffend, auf Gott wartend »existieren«, nicht nur so, daß wir das von der Schöpfung des alten Menschen her verstehen, des Menschen der von Erde genommen, wieder zu Erde werden muß, sondern vor allem so, daß dieses vom Dasein des neuen Menschen gilt: »Aus Gnade seid ihr selig geworden durch den Glauben – und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es – denn wir sind sein Werk …«. Wir sind sein Werk, das steht über dem ersten und das steht auch gerade über dem zweiten Adam. Nur so, nur darum haben wir Zuversicht am Tage des Gerichtes. Gewißheit, die uns geleitet in den Nächten der Anfechtung und der Gottverlassenheit, daß wir das Gott sagen dürfen: Deine Hände haben mich bereitet. Und du wolltest mich verderben? Gott kann wohl dem Menschen widersprechen, aber er kann sich nicht widersprechen. Daß Gott mit sich selber einig ist, das ist seine Wahrheit, seine Treue, an die ich mich halte, er kann sein eigenes Werk nicht verdammen, er kann sich selbst nicht untreu werden. Das ist eine andere Gerechtigkeit, eine starke, trostreiche Gerechtigkeit, von der die Freunde Hiobs nichts wissen, von der niemand etwas weiß, der Gott nur mit seinen Begriffen von Recht und Unrecht faßbar zu machen sucht. Das ist eine Gerechtigkeit, die mich einschließt, mich in sich einschließt, wenn Gott gerecht ist, gerade dann bin ich gerettet. Dann kann ich, das Werk seiner Hände, nicht verloren sein. Aber die andere Gerechtigkeit, die absolute ist eine, die mich ausschließt. Hier ist Gott gerecht, ohne mich, wider mich, turmhoch über mir. Und zwischen beiden pendelt unser Leben. Wenn Hiob sich verführen läßt, die heimliche, geglaubte, gnadenvolle Gerechtigkeit Gottes preiszugeben, wenn er sich verleiten läßt, den scheinbar festen Boden der absoluten Gerechtigkeit zu betreten, dahin zu gehen, wo seine Freunde ihn hin haben möchten, dann ist er verloren. Es gibt nur eins was uns rettet: Der Appell an Gott selbst, der Appell an seine Barmherzigkeit, unsere Auslieferung an ihn selber, unsere Selbstpreisgabe an ihn. Darum wartet Hiob, er wartet bis Gott selbst seinen Mund öffnen wird, er wartet auf ein Wort von ihm, und die Worte über ihn können ihn nicht mehr satt machen. Er wartet auf Gott und wenn er auch bei diesem Warten all den Ungeheuern aus der Tiefe, die ihn in Fragen und Rätseln des Lebens anstarren, ins Angesicht schauen muß, wenn er fast vergeht vor Schrecken über alle dem, was nicht Gott ist, er weiß, hinter all den Bildern muß einmal Gott selber kommen, einmal muß Gott selber reden,
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Bildad, der zweite Tröster
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einmal muß die große Stille anbrechen, wo ich sagen darf: Herr rede, dein Knecht hört. Und Hiob weiß auch noch eins, daß dieser Tag nicht ins Jenseits verschoben werden darf, daß das rettende und erlösende Wort Gottes im Jetzt und Hier erklingen muß, ehe denn ich hingehe und komme nicht wieder (10,21). Hiob weiß, die Huld Gottes muß sich finden lassen, in dieser kurzen Spanne zwischen Geburt und Tod. Der Tod ragt gleichsam wie ein Mahnmal von der Grenze her in unser Dasein herein, um uns deutlich zu machen, daß alle Akzente auf dem Jetzt, auf dem Heute unseres Lebens liegen. Die Wendung Gottes muß geschehen, ehe denn ich hingehe. Jetzt muß sein Zorn ablassen und seine Huld sich darüber breiten. Denn nur dadurch, daß mein Heute lebenswert wird, nur dadurch unterscheidet es sich von dem Dasein, das mich im Tode anstarrt. Das Leben und der Tod unterscheidet sich nicht an sich selber; was sind das für Schwätzer, die den Tag immer vor dem Abend loben und gemeint haben, eine Philosophie des Lebens zu entwerfen, worin sie das Leben als höchsten Wert feiern. Nein, nur darum, weil seine Gnade, wenn sie leuchtet, immer so aufleuchtet, daß es heißt: Euch ist heute der Heiland geboren, weil also unser Leben dazu da ist, daß wir in ihm die Wendung Gottes erfahren, daß sein Zorn von uns abläßt, daß seine Gnade uns umfängt, darum ist es gut zu leben und nicht gut, tot zu sein. Aber abgesehen davon hat Hiobs Frage ganz recht: Ach daß ich wäre umgekommen und mich nie ein Auge gesehen hätte (10,18). Warum lebt Hiob noch, warum setzt er seinem Leben nicht selbst ein Ziel? Darum, weil er das von Gott hofft, weil er auf diese Gerechtigkeit Gottes wartet, die ihm das Leben erträglich macht, darum weil er weiß, daß er auf seinem mitternächtlichen Posten aushalten muß, bis der Morgen tagt und die Sonne des Heils aufgeht.
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5. Zophar, der dritte Tröster Hiob 11-14 1. Juli 1944
Das Wesentliche an dem, was Zophar von Naema sagt, liegt wohl darin beschlossen, daß er Hiob rät, Buße zu tun und sich so mit Gott zu versöhnen, damit er wieder Frieden finde mit Gott und sein Glück wiederkehre. Es ist im Grunde genommen der Stil und Grundriß einer Predigt, wie wir sie nicht ungern hören und vielleicht auch nicht ungern halten. Vielleicht wird manch einer denken, gerade dies müssen wir heute sagen, dies wäre die Hilfe, mit der wir der ungeheuren Not unserer Zeit und ihrem unaussprechlichen Leid zu begegnen hätten, daß wir solchen Ruf zur Einkehr und solche Hoffnung auf Gottes Hilfe unter den Menschen verbreiteten. »Wenn du dein Herz richtetest und deine Hände zu ihm ausbreitetest; wenn du die Untugend, die in deiner Hand ist, fern von dir tätest, daß in deiner Hütte kein Unrecht bliebe … (11,13 f.) dann würdest du der Mühsal vergessen und so wenig gedenken als des Wassers, das vorübergeht;und die Zeit deines Lebens würde aufgehen wie der Mittag, und das Finstere würde ein lichter Morgen werden; und dürftest dich dessen trösten, daß Hoffnung da sei; würdest ruhen und niemand würde dich aufschrecken und viele würden vor dir fliehen (11,16-19). Das heißt doch mit anderen Worten, wenn du Buße tust und Einkehr hältst zu Gott, dann wird er seine Strafe von dir nehmen. So wie die Menschen in den Zeiten der Not der Schuld gedenken, die sie auf sich geladen haben und meinen, sie könnten mit dem Bekenntnis der Schuld das Unheil weich machen, das über sie gekommen ist. Sie meinen, sie könnten gleichsam Gott damit bewegen, das Schicksal zu wenden. Es wäre nicht schwer, heute einer ganzen Menge von Menschen so zu predigen, wie es Zophar tut. Aber wenn nur einer darunter wäre, der wirklich so litte, wie Hiob leidet, nicht wie ein Gottloser, dessen Reue ja immer doch nur das eigene Glück und dessen Wiederherstellung im Auge hat, wenn nur einer darunter wäre, der so litte, daß Gott ihn selbst in dieses Leiden und in diese Anfechtung stößt, der könnte eben darum, weil er ein Freund Gottes ist, weil er etwas um Gott weiß, weil er weiß, daß man mit Gott nicht ein Geschäft machen kann und weil er weiß, daß es der schlimmste Verrat ist, wenn man mit seiner Frömmigkeit, mit seiner Reue
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und seiner Umkehr solch ein selbstisches Ziel im Auge hat und dies alles nur ein Mittel zum Zweck ist, zum Zweck dessen, daß es mir gut geht und ich Recht behalte und ich nicht zerbrochen werde, niemals solchen Rat annehmen, denn dieser Rat ist trotz aller scheinbaren Frömmigkeit ein böser Rat und ein schlechter Trost. Und Hiob hat ganz recht, wenn er spottet: Ja ihr seid die Leute, mit euch wird die Weisheit sterben (12,1). Der Gerechte und Fromme muß verlacht werden, und ist ein verachtet Lichtlein vor den Gedanken der Stolzen (12,4 f.). Was ihm seine Freunde sagen wollen, jene Rede von der absoluten Gerechtigkeit Gottes und ihre Meinung, daß darum alles Unglück auf Erden seinen Grund habe und Gott die Untugend sieht und straft, das weiß er besser als sie. Wenn man aber von dieser Gerechtigkeit redet, dann müßte man so von ihr reden, daß sie wirklich in ihrer ganzen Größe und unheimlichen Majestät, in ihrer Unbegreiflichkeit erkannt und begriffen wird. Jawohl, sagt Hiob, bei ihm ist Weisheit und Gewalt, Rat und Verstand (12,13). Aber was heißt denn das? Das heißt: Wenn er zerbricht, so hilft kein Bauen, wenn er jemand einschließt, so kann es niemand aufmachen … Er ist stark und führt es aus. Sein ist, der da irrt und der da verführt. Er führt die Klugen wie einen Raub und macht die Richter toll. Er löst auf der Könige Zwang und bindet mit einem Gurt ihre Lenden. … Er öffnet die finsteren Gründe und bringt heraus das Dunkle an das Licht (12,14-22). Solche Sätze und noch viel derartige Gedanken wagt Hiob hier herauszustellen. Seine Freunde haben ihn herausgefordert, er hat die Herausforderung angenommen. Jawohl, das ist die absolute Gerechtigkeit Gottes, da habt ihr, was ihr wollt, das ist der Sinn eurer Sätze, wonach Gott hinter allem steht, aber bitte, nun wirklich hinter allem. Gott ist ex lex. Gott steht jenseits aller Gesetze, dieser Gott, von dem ihr da redet, ist so, daß wir nur in Widersprüchen von ihm reden können, daß wir erschrecken – will er uns klarzumachen versuchen – daß er sogar der ist, der die Finsternis, das Böse, das Verbrechen, die Sünde heraufsteigen läßt aus den Abgründen, daß sie verwüstend und verheerend das Leben der Menschen zerstören. Und mit der Gerechtigkeit Gottes wollt ihr mich trösten? Das ist die Medizin, die ihr für meine Krankheit bereit habt? Ihr seid alle unnütze Ärzte, wollte Gott ihr schwieget, so wäret ihr weise (13,4 f.). Nein, Hiob hat eine andere Frage, darum geht es nicht, um jene absolute Gerechtigkeit Gottes, er hat längst darauf verzichtet, diese absolute Gerechtigkeit Gottes, an die kein Mensch heranreicht, in das jämmerliche System menschlicher Gerechtigkeit einbauen zu wollen. Er weiß, daß keiner mit Gott rechten kann, daß wir Gott nur bitten können. Und so wie Petrus
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Hiob 11-14
in jener großen Stunde seines Lebens, da ihm die Herrlichkeit Gottes erschien, nichts anderes sagen konnte, als eben dies: Gehe hinaus von mir, denn ich bin ein sündiger Mensch, so bittet auch Hiob hier: Laß deine Hand ferne von mir sein und dein Schrecken erschrecke mich nicht (13,21). Hiob weiß, daß es nicht geht, Gott und Mensch unter einen Bogen zu stellen, unter ein Recht zu spannen. Hiob will nur eines, er will wissen, wie Gottes Herz zu ihm steht. Warum verbirgst du dein Antlitz und hältst mich für deinen Feind? (13,24) Was soll er anders tun als Gott den unendlichen Unterschied vor Augen rücken, der zwischen Gott und Mensch besteht? Er singt vor Gott das Klagelied des Menschen von des Lebens Kürze. Der Mensch vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, geht auf wie eine Blume und fällt, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht (14,1 f.). Er appelliert an die Barmherzigkeit Gottes, er hält ihm vor Augen, daß des Menschen Dasein viel hoffnungsloser ist als alles Leben in der Natur: Ein Baum hat Hoffnung, wenn er schon abgehauen ist, daß er sich wieder erneuere, und seine Schößlinge hören nicht auf … Aber der Mensch stirbt und ist dahin, er verscheidet und wo ist er? (14,7.10). Warum muß Gott das kurze Dasein eines Menschen noch so beladen mit Leid und Unglück? Könnte er ihn nicht lassen? Ablassen von ihm? So demütig ist Hiob nicht, als ob er Freude hätte, ohne Gott zu leben, aber so, daß er nicht mehr von Gott zu erbitten wagt, als eine kurze Erquickung. Und so groß ist Gott, daß er des Menschen Gebet erfüllt, über alles Bitten und Verstehen, daß er sich zu ihm wendet, daß er ihn sucht und findet, daß er ihm nahekommt in der Gebrechlichkeit seiner Todeswelt und ihn an sich zieht, um ihn nie mehr zu lassen. »Als mir das Reich genommen, da Fried und Freude lacht, da bist du, mein Heil, kommen und hast mich froh gemacht.«
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6. Wieder: Eliphas Hiob 15-17 8. Juli 1944
Noch einmal beginnen die Freunde Hiobs in der bisherigen Reihenfolge mit ihm zu reden. Aber sie haben schon längst darauf verzichtet, ihn trösten zu wollen. Hiobs Reden, seine tiefe Verzweiflung, seine abgründigen Fragen haben sie aufgebracht. Sie reden mit ihm, aber sie vermehren seine Qual. So geht es uns oft, wenn wir den Weg zu dem Leidenden nicht finden, daß wir dann aufgebracht werden und anstatt zu trösten oder zu schweigen damit beginnen, ihn zurecht zu weisen. Es ist dies immer ein Zeichen unserer Schwäche, ein Zeichen dessen, daß das Leiden, welches wir vor uns sehen, uns selber stört, daß uns die Verzweiflung des Leidenden die Sicherheit unserer Anschauungen und Überzeugungen nimmt, darum muß dann unser Reden mit ihm sein Leid nur größer machen: Ihr seid allemal leidige Tröster (16,2), sagt Hiob. Er muß dem Leidenden nur deutlich machen, daß er in einer Einsamkeit lebt, in der es für ihn keinen Nächsten, keinen Freund, keinen Menschen gibt, der ihn versteht. Das große Leid vereinzelt den Menschen. Es ist, als ob er in eine Tiefe stürzte, in die keine Hand mehr hinunterreicht, in eine Finsternis, die nichts mehr durchbricht. Das ist das Schreckliche an den Reden der Freunde Hiobs, daß man an ihnen nur immer wieder die Wand sieht, die wir Menschen aufrichten, zwischen der Sicherheit und der Anfechtung, zwischen dem Glück und dem Leid. Das Bemerkenswerte an der Rede, die Eliphas von Theman hält, ist eine großartige Schilderung von der Unbeständigkeit der Gottlosen. Anders als etwa im 73. Psalm wird hier von vornherein kein Glück und kein Frieden zugebilligt: Der Gottlose bebt sein Leben lang, und dem Tyrannen ist die Zahl seiner Jahre verborgen. Was er hört, das schreckt ihn; und wenn es gleich Friede ist, fürchtet er sich, der Verderber komme, glaubt nicht, daß er möge dem Unglück entrinnen und versieht sich immer des Schwertes (15,20 ff.). Eliphas merkt gar nicht, daß die Dinge, die er damit sagt, mögen sie noch so richtig sein, Hiob furchtbar treffen müssen. Denn Hiob wird genau so behandelt von Gott und Hiob ist kein Gottloser. Das ist eben das furchtbare an der Anfechtung, daß Menschen, die Gott so preisgibt, wie hier den
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Hiob, zwischen ihrem eigenen Schicksal und dem der Gottlosen gar nicht mehr unterscheiden können. Es geht dann so, wie es von Christus heißt: »Er ist unter die Übeltäter gerechnet«. Für diese eigentliche Not Hiobs haben seine Freunde kein Verständnis, für dieses Gleichwerden den Verlorenen und Verdammten. Denn indem der Mensch alle Anhaltspunkte verliert, die ihm noch eine Unterscheidung ermöglichen zwischen seinem Schicksal und dem Schicksal der Verdammten, verliert er auch seinen Gott. Das ist das Furchtbare in dem Ringen Hiobs, daß er um Gott ringen muß. Gott erscheint ihm überhaupt nur noch unter der Maske des Teufels. Wenn der Teufel Gott wäre, könnte es ihm nicht schlimmer ergehen. Gott hat seine Hand von ihm gezogen, der Freund Gott ist zum Feind Gott geworden, Gott hat ihn verkauft. Gott hat mich übergeben dem Ungerechten und hat mich in der Gottlosen Hände kommen lassen. Ich war im Frieden, aber er hat mich zunichte gemacht; er hat mich beim Hals genommen und verstoßen und hat mich ihm zum Ziel aufgerichtet (16,11 f.). Es klingt ganz ähnlich, wie in den Klageliedern des Jeremias, wo es heißt: »Er hat seinen Bogen gespannt und mich dem Pfeil zum Ziel gesetzt.« Auch Jeremias sagt: »Meine Seele ist aus dem Frieden vertrieben.« Das meint Hiob, Gott hat ihm seinen Frieden genommen, wie ein Scharfschütze hat er ihn zum Ziel seines Mutwillens gemacht. Es gibt solche Situationen im Leben, und wir alle wissen nicht, wann und wo sie auch auf uns warten, in denen Gott als Feind des Menschen wirkt. Da ist alle Zuversicht zerbrochen, da gibt es nichts mehr, weder innen noch außen, worauf sich unser Vertrauen stützen könnte, da sieht es so aus, als ob Gott mit der Laune eines Tyrannen mit uns spielte. Dann wandelt der Mensch an den Abgründen des Unglaubens und die tiefe Nacht der Verzweiflung beginnt seiner mächtig zu werden. Es ist eigentlich ein unbegreifliches Rätsel: lebte der Glaube von dem was ein Mensch empfindet und fühlt und in sich selber hat, dann müßte er jetzt zerbrechen. Aber der Glaube lebt davon, daß er nicht glaubt, was der Mensch fühlt und sieht und als unerweislich empfindet. Der Glaube ist wie ein Rettungsseil, das dem mit den Fluten Ringenden zugeworfen wird, am anderen Ufer ist eine Hand, die hält den Ertrinkenden. Der Glaube hält uns, nicht halten wir ihn. Die Treue Gottes, das ist das Geheimnis, das im Glauben steckt. Die verborgene, unsichtbare, unfühlbare, allein im Glauben zu erfassende Treue Gottes. Mit geschlossenen Augen, mitten in der Finsternis und in der Nacht der Verzweiflung führt uns der Glaube zu Gott, mitten im Leiden lehrt uns der Glaube seine Hand fassen.
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Hinter der Maske des Feind-Gottes glaubt Hiob dennoch – und auf dieses »dennoch« müssen wir alle Betonung legen – den Freund Gott. Mein Zeuge ist im Himmel, und der mich kennt ist in der Höhe. Meine Freunde sind meine Spötter, aber mein Auge tränt zu Gott (16,19 f.). In der Nacht seiner Verzweiflung bricht Hiob durch zu seinem Gott. Die Menschen haben ihn verlassen, sein eigenes Fleisch ist voller Pein und Qual, seine Seele ist ein Abgrund voller Fragen, wenn er seinen Mund auftut, stürzt die Bitternis heraus, ohne daß er es hindern kann. Er ist wund von oben bis unten, von außen bis innen. Aber der Glaube hält ihn dennoch. Gott hält ihn dennoch. Mein Zeuge ist im Himmel, das heißt, alles was mich hier richten und verdammen will, alles was seinen Mund gegen mich aufsperrt und seinen Spott mit mir treibt, ist nichts. Ich stehe und falle mit Gott. Dessen Urteil allein wird gelten. Der mich jetzt so abgrundtief fallen läßt, er allein wird mich erretten. Er kennt mich, ich kenne mich nicht. Was weiß ich selbst von meinem Leben, von meinem Glück und Unglück, aber er kennt mich. Gott kennt mich. Und das ist das Wunder des Glaubens, daß ein Mensch sich und sein Leben ganz aus der Hand gibt, daß er vom Unglück bis an den Rand der Verzweiflung gedrängt, das Letzte was er hat, Gott in die Arme wirft. Sein Leben, den Sinn seines Lebens, das Auf und Ab, das Licht und die Finsternis, Gott kennt es allein. Darauf wartet Gott, das heißt Glauben, so Gott recht geben, daß wir aufhören, selbst unser Leben zu meistern. Daß wir anfangen auf Gott zu warten, daß wir auf Gott, auf seinen Spruch warten, auf Gott, auf sein Ja, auf seine Erfüllung. Wir könnten auch sagen, daß wir auf die Offenbarung Gottes in Jesus Christus warten, denn in ihm sind alle Verheißungen zum Ja geworden. In ihm ist Friede, in ihm ist die neue Gerechtigkeit, in ihm ist die lebendige Hoffnung eines Lebens, das den Tod überwunden hat, und weil dies alles in ihm ist, darum ist es nicht in uns, darum müssen wir an den Rand unserer selbst getrieben werden, damit wir über uns hinaus gelangen, damit wir verwandelt werden in das was wir nicht sind. Nun ist es aber nicht so, als ob damit aller Schmerz wiche. Nein, Hiob bleibt auf der Erde und sein Zeuge ist im Himmel. Das was auf Erden vor ihm steht, das Ziel seiner Tage ist der Tod: das Grab ist da (17,1). Es gehört zu den großen Dingen der Bibel, zumal des Alten Testaments, daß sie den Tod ernst nimmt. Wenn die Menschen, die die Bibel zeichnet, Menschen gewesen wären, die keine Freude am Diesseits hatten, die ganz im Jenseits lebten, in der zukünftigen Welt, dann wäre es ganz unver-
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ständlich, warum der Tod so groß und so endgültig und so erbarmungslos vor ihnen steht. In der Bibel wird über den Tod geklagt, so wie etwa in Volksliedern der Tod beklagt wird. So wie Menschen, die nur das Diesseits kennen, den Tod fürchten. Warum eigentlich? Warum begegnet uns der Tod in der Bibel viel realer, ungeschminkter als in den Büchern der Philosophen, die alle den Tod wegdisputieren, die ihn verharmlosen? Darum, weil der Gott, mit dem die Bibel rechnet, nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebendigen ist. Weil die Stätte der Gottesbegegnung die Erde ist und das Heute. Weil die Welt mit all ihren Geschöpfen Zeugnis gibt von Gott und weil der Tod die Grenze ist, an der alle Lebensfreude und darum alle Gottesnähe schwindet. »Gedenke an deinen Schöpfer«, sagt die Bibel, »in deiner Jugend, ehe denn die bösen Tage kommen und die Jahre herzutreten, da du wirst sagen, sie gefallen mir nicht.« Der Tod, als das letzte Schicksal des Menschen, bedeutet das Einmünden in die Hoffnungslosigkeit. Die Bibel hat die Spannung zwischen Gott und dem Tode ertragen, sie hat sie nicht abgemildert: »Das macht dein Zorn, daß wir so vergehen und dein Grimm, daß wir so garaus sind.« Der Tod steht vor dem Menschen als die letzte und schwerste Anfechtung unseres Lebens. Hiob, wenn er sich umsieht und sich fragte, was das Leben ihm noch bringen könnte, sieht nichts anderes vor sich, als diese Grenze: Das Grab ist da. Wenn ich gleich lange harre, so ist doch bei den Toten mein Haus, und in der Finsternis ist mein Bett gemacht. Die Verwesung heiße ich meinen Vater und die Würmer meine Mutter und meine Schwester; was soll ich denn harren und wer achtet mein Hoffen, hinunter zu den Toten wird es fahren und wird mit mir in dem Staub liegen (13,17-16). Hiob redet wie ein Mensch, wir sollten alle so reden. Es gibt ein mittelalterliches Gespräch eines Mönches mit seiner Seele, darin erinnert ihn die Seele, die Todverfallenheit seines Lebens nicht zu vergessen, sich als einen in den Tod Gegebenen alle Zeit zu schauen. Es ist so, als ob wir heute von Gott gezwungen würden, diese Grenze neu zu sehen, wirklich zu sehen, daß wir Erde sind, daß wir zu Staub werden müssen. Die Schranke zu sehen, die gezogen ist zwischen Zeit und Ewigkeit. Wir müssen erst wieder den Tod so als das Letzte sehen lernen, um neu zu begreifen, was es bedeutet, wenn dann von Gott her in der Auferstehung Jesu Christi hier, gerade hier, in der tiefsten Verzweiflung die große Hoffnung aufleuchtet, wenn das Unmögliche wirklich wird, daß der Tod in den Sieg verschlungen ist,
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daß Gott eben doch ein Gott der Lebenden bleibt, daß es doch eine Hoffnung gibt, über den Tod hinaus, eine Hoffnung da, wo nichts mehr zu hoffen ist, dann erst, aus der Tiefe der Nacht werden wir ganz dies helle Licht begreifen, das Ostern aufgeflammt ist. Einmal, aber ein für alle Mal werden wir mit jenen ersten Zeugen bekennen: »Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesu Christi, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung …«
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7. Wieder: Bildad Hiob 18-19 15. Juli 1944
Immer mehr wendet sich das Gespräch der Frage nach dem Schicksal der Gottlosen zu. Bildad, der jetzt wieder an die Reihe kommt, spricht von nichts Anderem. Er streitet mit Hiob um die Frage: Und doch wird das Licht der Gottlosen verlöschen und der Funke seines Feuers wird nicht leuchten (18,5). Dies und doch ist bezeichnend. Hiobs Freunde wüßten gar nicht, was es für einen Sinn haben sollte, fromm zu sein, wenn es anders wäre. Mag Hiob noch so viel dagegen sagen, sein Unglück, sein Elend, sein ganzes eigenes Schicksal rührt sie nicht. Sie leben davon, daß der Fromme am Ende doch besteht und der Gottlose schließlich doch fällt. Das ist das »Doch«, an dem sie hängen. Alles Unglück, was man sich nur denken kann, sehen sie über den Gottlosen kommen. Eines Tages fängt er sich in seiner eigenen Falle, sein eigener Anschlag kehrt sich gegen ihn, Furcht wird ihn ergreifen, ohne daß er weiß, wohin er noch fliehen soll. Er, der jetzt so üppig tafelt, wird die Pein des Hungers kennenlernen, der Aussatz, der Erstgeborene des Todes, wie er im Morgenland heißt, wird seinem Dasein alle Hoffnung nehmen, seine Hoffnung wird aus seiner Hütte ausgerottet werden und es wird ihn treiben zum König des Schreckens (18,10-14). In der Geschichte wird sein Name getilgt sein, als ein Gedächtnis des Schreckens wird er unter den Menschen lebendig bleiben. Das ist die Stätte des, der Gott nicht achtet (18,21). Was Bildad hier sagt, ist ja eigentlich nichts anderes, als was im Gedanken des Gerichtes Gottes beschlossen liegt. Es geht durchs ganze Alte Testament und Neue Testament, es ist der Unterschied der Menschen, die ihr Haus auf Sand bauen und die es auf einen Felsen bauen, wie das Jesus am Ende der Bergpredigt sagt. Es kann ja auch nicht anders sein, denn das, woran der Gottlose sein Herz hängt, ist ja nicht Gott, was aber nicht Gott ist, vergeht. Alles vergeht, Gott aber steht! Was ist denn so falsch an dem Gedanken, den die Freunde Hiobs immer wieder gegen Hiob verteidigen? Hiob selbst ist die Widerlegung ihrer Rede. Das Kreuz Jesu Christi ist die Widerlegung ihrer Rede. Der Gegensatz der Gottlosen und der Frommen ist nicht so greifbar, wie das dargestellt wird. Das Kreuz fehlt in allem, das Geheimnis des Kreuzes: Es fehlt
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das Wissen darum, daß Gott den Menschen prüft und anficht. Es ist eine Theorie über das wirkliche Leben, es ist nicht das Leben selbst. Das Leben selbst ist Hiob. Die Erwählung Gottes selbst ist Hiob so verborgen, ja dem Menschen selbst ist die Erwählung und Liebe Gottes verborgen. Verborgen, auch ihnen selbst verborgen, ist die Verwerfung Gottes. Nur vom Kreuz her gibt es eine Enthüllung dieses Geheimnisses, der Schlüssel dieses Lebens heißt Jesus Christus. Ohne ihn bleibt alles dunkel. Die Frömmigkeit der Freunde Hiobs ist auch ohne Christus perfekt. Sie ist nicht offen nach dem Kreuz hin. Sie endet nicht mit einer Frage, sie nimmt die Antwort Gottes vorweg. Hiob sitzt gleichsam als Gottesfrage seinen Freunden gegenüber. Sein Leib ist bis zum Gerippe abgezehrt, sein Schädel kaum noch von der Haut bedeckt, fast schon ein Totenkopf. Erbarmt euch mein, ihr meine Freunde, denn Gottes Hand hat mich gerührt (19,21). Alles Rufen ist umsonst, Gott hat seinen Weg verstellt (19,8), er kommt nicht weiter. Er hat mich zerbrochen um und um (19,10). Wie ein Krieg mit Gott erscheint ihm sein Leben. Alles Unglück, das ihn trifft, erscheint ihm als Gottes Kriegsscharen, die wider ihn anlaufen. Er, ist umlagert von Unglück, wie ein Wild, das vom Jäger gestellt ist. Alle seine Freunde sind von ihm gewichen, seine Hausgenossen achten ihn für fremd (19,12.15). Mein Odem ist zuwider meinem Weibe (19,17). Wenn das Unglück über einen Menschen kommt, dann gewinnt es solch eine beredte Sprache, daß alles, was geschieht, wie in einem Zusammenhang miteinander steht. Dann erscheint die ganze Welt wie eine feurige Glut, der Zorn Gottes brennt und der Mensch ist ihm ausgeliefert. Das ist das Kreuz, wie es über Christus gekommen ist, der Zorn Gottes, an den er ausgeliefert wurde. Hier in Christus ist die große Umkehrung anschaulich geworden, daß die Gottlosen leben und grünen und der Sohn Gottes, der Liebling Gottes, seinem Zorn preisgegeben ist. In Jesus Christus ist die Weltanschauung der Freunde Hiobs endgültig zunichte geworden, in seinem stellvertretenden Leiden, von dem sie alle nichts wissen. Und weil sie ihn alle nicht verstehen, weil Hiob weiß, daß niemand ihn versteht, darum möchte er, daß seine Worte in ein Buch geschrieben würden; zu ewigem Gedächtnis in Fels gehauen würden (19,23 f.). Damit ist gleichsam der Sinn des Buches Hiob im Kanon der heiligen Schrift angegeben. Die Schrift ist ein Dokument seiner Reden zur Unzeit. Niemand hat ihn verstanden und doch hatte er allein Recht. Als ein Zeuge Jesu Christi steht er da. Seine Schrift ist verschlossen bis jener andere kommt, der Hiob rechtfertigen wird, der Sohn der Maria, Jesus von Nazareth. Und nun, gleichsam über sich hinausgreifend, folgt sein großes Be-
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kenntnis: Ich weiß, daß mein Erlöser lebt. Zu allerletzt wird er sich über dem Staub erheben. Und nachdem meine Haut geschunden ist, werde ich ohne mein Fleisch Gott schauen. Ich – ihn – mir schauen, meine Augen sehen, nicht ein Fremder (19,25 ff.). Die Wendung ist eine ungeheure. Derselbe Hiob, der sich eben noch vom Zorn Gottes verfolgt, von der Hand Gottes zerschlagen wußte, bekennt diesen Gott als den, der ihn allein lösen kann. Gerade weil es Gott ist, an dem er leidet, ist es auch Gott der ihm hilft. Hiob kann nicht dabei stehen bleiben, daß Gott sein Feind ist, er kann nicht dabei stehen bleiben, daß er von Gott selbst an den Satan preisgegeben ist. Zu allerletzt wird es anders sein. Zu allerletzt wird der Sieg Gottes stehen, der Sieg Gottes über den Satan und die mit ihm verbundenen Gewalten. »Der letzte Feind, der aufgehoben wird, ist der Tod.« Und dieser Sieg Gottes soll und wird auch sein Sieg sein. Gerade in ihm, in dem angefochtenen, sterbenden, preisgegebenen Hiob wird Gott siegen. »Dieser, meiner Augen Licht, wird ihn meinen Heiland kennen, ich, ich selbst, kein Fremder nicht, werd in seiner Liebe brennen«. Am Ende aller Leiden, aller Anfechtungen., steht die Auferstehung als Sieg Gottes. Das ist Hiobs Zuflucht, das ist ein Trost, wie ihn keiner der Freunde Hiobs geben konnte. Das ist mehr als die Lehre von der absoluten Gerechtigkeit. Auch in der Auferstehung wird Gerechtigkeit Gottes offenbar. »Um unserer Gerechtigkeit willen auferweckt« ist Christus. Aber eben so, daß er unsere Gerechtigkeit ist, daß er als Hoherpriester vor Gott für uns eintritt, daß Gott selbst vor Gott für uns eintritt. Daß der Sieg, auf den wir setzen, auf den wir hoffen, in Gott selbst begründet ist, in Gottes Gottheit. Das nennt die Bibel Glauben, das ist Hoffnung, von der sie sagt, daß sie nicht beschämt werden soll. Das ist der Glaube, den Jesus zu suchen kam, der blinde Glaube, der hofft wider Hoffnung, der an Gott festhält mitten in aller Finsternis, der Gott nicht läßt, er segne ihn denn. Als Zeuge solchen Glaubens steht Hiob vor uns. Ob er ohne sein Leiden zu diesem wunderbaren Glauben an Gott hätte durchbrechen können? Ob wir es könnten? Ohne unser Leiden? Ob es nicht doch wahr ist, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge müssen zum besten dienen? Weil Hiob weiß, daß niemand ihn versteht, darum möchte er, daß seine Worte in ein Buch geschrieben würden, zu ewigem Gedächtnis in Fels gehauen (19,23 f.).
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8. Und der Herr antwortete … Hiob 38-42 2. September 1944
Und der Herr antwortete Hiob aus dem Wetter und sprach … So endet das Buch Hiob. Am Ende der Reden Hiobs und seiner Freunde, am Ende all der unzähligen nie zu Ende kommenden Reden der Menschen über ihr Leid und all der Versuche, Tröstungen herbei zu schaffen, redet Gott. Es ist das einzige Wort, das Hiob trifft. Gott redet endlich und führt die Wendung herbei, die der Mensch sich in seinem Leid nie selber geben kann, die ihm auch kein anderer geben kann. Denn wir Menschen sind alle zu sehr Partei, zu sehr mitbetroffen vom Leid. Wir wollen trösten und an Stelle dessen reißen wir die Wunden nur mehr auf, wir versuchen dem anderen zu helfen und in Wahrheit verteidigen wir nur unsere eigenen Grundsätze und Prinzipien. Wir versuchen mit Worten zu heilen, was nicht zu heilen ist, und am Ende all der Reden wird nur offenbar, wie wenig selbst der beste Freund den Freund versteht, wie einsam jeder in seinem Leid ist, in seinem Zweifel, in seiner Verzweiflung an Gott. Gottes Antwort ist ein großes Fragezeichen. Lauter Fragen an Hiob gerichtet, das ist Gottes Antwort. Hiob hatte auch gefragt nach dem Warum, nun fragt Gott. Hiob hatte die Ungerechtigkeit der Welt entrollt, hatte Gott zur Rechenschaft gefordert, hatte ihm all das Unrecht, das grundlose Leid, die Unbarmherzigkeit der Menschenschicksale vor die Füße geworfen, hatte das Band zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer bis zum Zerreißen gespannt. Nun antwortet Gott. Nun fragt Gott und stellt den Menschen in Frage. Immer fragt Gott: Du! Alles geht ganz direkt von Gott zum Menschen, wie ein Blitz, der trifft. Gott redet aus dem Wetter: Wo warst du, da ich die Erde gründete? Weißt du, wer ihr das Maß gesetzt hat? (38,4 f.) Hast du bei deiner Zeit dem Morgen geboten? (38,12) Bist du gewesen, da der Schnee herkommt? (38,22) Kannst du die Bande der sieben Sterne zusammenbinden? (38,31) So geht es unaufhörlich: Kannst du, weißt du, bist du … und so fort. Man weiß eigentlich gar nicht, warum das Hiob tröstet. Haben nicht ähnliche Dinge seine Freunde je und je gesagt, hat er es nicht längst mit seinen Ohren gehört? Ja, sagt Hiob, ich hatte von dir mit den Ohren gehört, aber nun hat mein Auge dich gesehen (42,5). Gott ist auf einmal da. Der
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tausendfach beredete, besprochene, vom Hörensagen her bekannte Gott ist da. Und er ist so da, wie er immer da ist, wenn in der Bibel, diesem seltsamen Buch, seine Gegenwart gezeichnet wird. Er ist da in seiner alles überragenden Majestät. Das Ich des Menschen wird ganz klein, in jeder Frage, die Gott stellt, wird das Ich des Menschen ausgestrichen und das Ich Gottes wächst und wächst über alle Maße hinaus; hinter den Sternen, hinter der Erde, über dem Meer, aus allen Tiefen, in allem wunderbaren Treiben, auf Bergen und Halden, bei den Tieren in der Luft, bei den Tieren des Feldes, überall, überall wächst Gott. Gottes Ich wird so groß, daß es in keinem Verhältnis mehr steht zum Ich des Menschen. »Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre und die Feste verkündigt seiner Hände Werk.« »Was ist der Mensch, daß du sein gedenkst, und des Menschen Kind, daß du dich seiner annimmst?« So wie in alten Bibeln das Wort Ich sinnbildlich mit großen Buchstaben geschrieben wird: ICH, wenn Gott in der ersten Person redet. Alles Mögliche und Unmögliche kommt in diesen Schlußreden des Hiobbuches im Munde Gottes vor, nur einer fehlt, der Mensch. Die Welt dreht sich um Gott und nicht um den Menschen. Gott ist das Maß aller Dinge und nicht der Mensch. Gott ist um seiner selbst willen da und nicht nur einer, der für den Menschen da ist. Alles was Gott geschaffen hat, hat er sich zu seiner Freude geschaffen: Himmel und Erde, Morgen und Abend, Morgensterne und Himmelswelten, Schnee und Hagel, Wetter und Wolken, Geborenwerden und Sterben, alles, alles ist Gottes Spiel und Gottes Freiheit und Gottes Wunder und Gottes Kraft. Und du, so fragt in allem Gott, du könntest dich mir vergleichen, du könntest mich vor Gericht ziehen, du könntest ein Gleichheitszeichen setzen zwischen Gott und Mensch? Man könnte vielleicht denken, ungetrösteter könnte keiner hervorgehen, als einer dem das gesagt wird. Man könnte vielleicht meinen, hier erst, in diesem Schweigen Gottes von alledem, was Hiob so bewegte, erreiche seine Not und sein Ungetröstetsein den Gipfel. Aber offenbar weiß Gott das besser. Offenbar ist das des Menschen Not, in all seinem Leid, daß er auch hier und gerade hier unentrinnbar, verhängnisvoll um sich selber kreist, daß sein Ich ihn nicht losläßt, daß hier der innerste Nerv, die innerste Wurzel seiner Krankheit liegt. Solange das Ich des Menschen befriedigt ist, solange Güter und Gaben, Glück und Frieden, Besitz und Dinge der Welt immer wieder seine Unersättlichkeit stillen, solange wird es uns selber nicht zur Last, sondern nur anderen. Aber wenn das dann fehlt, wenn das Ich des Menschen, das immer etwas haben und etwas sein muß, ausgezogen wird, nackt und bloß und leer, daß nichts anderes übrig
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bleibt als Jammer und Empörung und abgrundtiefe Bitterkeit, dann offenbart es sich als unser aller tiefstes, schwerstes Leid. So schreit es unerlöst, hungrig nach allen Schätzen der Welt, hungrig nach Leben, hungrig nach Glück, hungrig nach Gerechtigkeit, hungrig nach Gott, dann, wenn ihm alles fehlt. So schreit es in dem allen unbefriedigt, ungesättigt, nach sich selbst. Und darum, meine Freunde, wenn wir lesen, was Gott hier zu Hiob sagt, so können wir vielleicht doch verstehen, wie einer ganz stille werden könnte. Wie einer sich ganz vergessen könnte. Wie er Augen bekommen könnte für Gottes Größe. Daß es so ausginge, wie hier die Geschichte ausgeht zwischen Hiob und Gott, daß ein Mensch sich schuldig spricht und Buße tut in Staub und Asche. Hiob saß längst auf einem Aschenhaufen, seine Herrlichkeit war längst zu Staub geworden, aber das Gespenst seines Ichs, das hauste auf den Trümmern seiner einstigen Herrlichkeit, das schrie endlos, ruhelos zu Gott. Staub und Asche machen es nicht, Ruinen und Trümmer sind keine Umkehr zu Gott, aber Gottes Wort, Gottes Majestät, die aufgeht wie die strahlende Sonne über der zerbrochenen Menschenherrlichkeit, die machts, die hilft. Das ist die Gnade Gottes, die den Menschen heilt – von seinem Leiden an sich selbst. Gott ist ein weiser Arzt, ein Arzt, der nicht von meiner Krankheit redet, sondern von der Herrlichkeit seiner Kunst. Ihn sehen, seine Macht erkennen, von sich selber wegsehen, die Augen auftun auf dieses Licht, das da erscheint – hieße das nicht umkehren, sich demütigen, Buße tun in Staub und Asche, und gesund werden? Denn so sagt Gott: »Ich bin der Herr, dein Arzt.« Nun müssen wir aber noch ein wenig von dem hören, was Gott im einzelnen von seiner Majestät und Herrlichkeit hier zeichnet. Er baut die ganze Welt vor unseren Augen auf, daß wir einmal unsere Hiobsschicksale vergessen und einmal erkennen, daß es noch andere Offenbarungen Gottes gibt als die, die wir immer starren Blickes gerade in unserem Ergehen, in unserer Geschichte, in unserer Zeit suchen; eben, weil wir uns so wichtig nehmen. Wo warst du, da ich die Erde gründete? (38,4) So fragt Gott. Und über uns geht der ganze Zauber und die Herrlichkeit der Kosmogonie auf, der Jahrmillionen und Jahrmilliarden, vor denen unser eigenes Leben, ja das Leben aller Menschen auf der Erde, weniger als ein Atemzug ist. Da die Morgensterne jauchzten (38,7), da das ungezählte Heer, das am bestirnten Himmel nach ewigen Gesetzen läuft, den unermeßlichen Rat, die Allmacht seiner Schöpferweisheit bezeugte, da der Jubel durch die Welt lief, als Gott das Nichts verwandelte in das Sein und das Chaotische verwandelte in Ordnung und Gesetz. Da Gott das ungestüme Meer, das auch einst unseren
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Planeten wie eine wilde, ungebändigte Flut umspülte, in seine Ordnung rief, da er dem Grenzenlosen Grenzen setzte. Nur noch im Mythos können wir Menschen jener wunderbaren Taten gedenken, von denen wir alle leben. Keiner war dabei. Wer hat das getan? Wer hält die Erde bei ihrem Lauf durch den Raum, wer läßt die Welten umeinander kreisen? Doch leben wir alle davon; davon, daß Gott der Herr ist. Wir laufen im Ring, den er an seinem Finger hält und so weiter – das ist das Geheimnis des Lichtes und des Geheimnis der Finsternis (38,19), das ist das Wetter: Wind und Regen, Eis und Schnee, wer kennt die Kammern, aus denen Gott die Erde beschüttet, wer kann sie öffnen, wer kann sie schließen (38,8)? Und doch leben wir alle davon, daß er regnen und seine Sonne scheinen läßt über Gute und Böse, in seiner freien schenkenden Gnade. Merken wir nun, was uns die ganze Welt predigt, die Schöpfung, die er gemacht hast, für deren Stimme wir offenbar taub geworden sind? Daß Gott freie schenkende Gnade ist! Daß wir in keinem Vertragsverhältnis zu ihm stehen, als hätten wir ihm etwas zuvor gegeben, daß es uns wieder vergolten werde. Wenn wir die Welt geschaffen hätten, wie trostlos wäre wohl alles geworden – wenn der Mensch mit seinem Prinzip des Nutzens und der Zwecke wie ein darwinistischer Bauer (Vischer) daran ginge, die Welten zu gestalten. Nein, Gottes Welt wird am anschaulichsten gerade da, wo das freie Spiel des Lebens um seiner selbst willen sich entfalten kann, wo die Gemsen am Felshang ihren Weg nehmen, wo der Wildesel, der das Getümmel der Stadt verlacht (39,7), der ungebändigte, seiner Freiheit lebt. Oder versucht doch einmal, den Auerochsen einzuspannen, kannst du ihm dein Seil anknüpfen, die Furchen zu machen? (39,10) Nein, die Tierwelt ist nicht dazu da, daß der Mensch daraus sein Haustier züchte, den störrischen Esel und den traurigen Ochsen. Das ist deine Welt, des Menschen Welt, aber Gottes Welt ist da, wo der Strauß durch die Steppe jagt, schneller als Roß und Reiter, die Sonne muß seine Eier ausbrüten und er kümmert sich nicht um seine Jungen (39,13-16). Und doch sorgt Gott für sie alle, die jungen Löwen schreien zu ihm nach ihrem Raub und den Raben bereitet er die Speise (38,41), und das Roß, das dahinfliegt, wenn die Drommete tönt (39,19-25), und der Habicht und der Adler (39,26 f.) und alles, alles im Himmel und auf Erden und unter der Erde – alles verkündet nur eins: Wir sind das Werk seiner Hände, seiner Freiheit, seiner Gnade. Nicht Zweck und Nutzen regiert die Welt, sondern das Wohlgefallen, das Gott an seinem eigenen Werk hat. Im 40. und 41. Kapitel werden dann noch zwei neue Schilderungen gegeben, noch seltsamer als alles Bisherige, die Schilderung des Behemot
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und des Leviathan. Diese Worte sind inzwischen zum Symbol für die Ungeheuer der Tiefe geworden, für die großen Schrecken, die aus dem Abgrund empor steigen. Aber hier ist das nicht so. Für Gott sind das keine Schrecken, und wer an der Hand Gottes durch die Welt geht, dem könnte es so gehen wie einem Kind, das an der Hand seines Vaters eine Tierschau besucht, es fürchtet sich nicht. Gott hält auch diese Ungeheuer in seiner Hand. Vielleicht ist hier eine letzte Erinnerung aufgetaucht an Mammute und Saurier, die heute ausgestorben sind und deren riesenhaften Bau wir nur noch aus den wiedergefundenen Skeletten kennen. Und all dies, Grauen und Schrecken für den Menschen, ein Spielzeug Gottes. »Du lässest aus deinen Odem, so werden sie geschaffen, und du erneuerst die Gestalt der Erde. Die Ehre des Herrn ist ewig, der Herr hat Wohlgefallen an seinen Werken.« Und nun wird es auf einmal ganz stille in Hiob, und darum wird es auch stille in seinem Mund. Nicht jene Stille der großen Bitterkeit, da ein Mensch seinen Mund verschließt, weil die Verzweiflung seine Zunge lähmt, sondern jene Stille des großen Friedens. Siehe, ich bin zu leichtfertig gewesen, was soll ich antworten? Ich will meine Hand auf meinen Mund legen (40,4). Stille werden vor Gott, das ist das Ziel, das Hiob erreicht. Er hat seinen Lauf vollendet, er ist da angelangt, wo ihm der Feind nicht mehr schaden kann. Er ist mit dem Satan um die Wette gelaufen, aber Gott ist ihm entgegengekommen und hat ihn eingeschlossen in seinen Frieden. Nun ist er stille in Gott, der ihm hilft. So, meine Freunde, müssen wir uns alle zunächst von Gott helfen lassen. Ich meine nicht helfen lassen mit etwas, was nicht Gott ist, so wie Hiob später geholfen wird, als ihm Gott seine Söhne und Töchter wieder schenkte, seine Äcker und sein Vieh und seine Ehre, so daß es ihm wohl war wie ein böser Traum, aus dem er jetzt erwachte, und siehe alles war da, worum er gebeten hatte – nein, an diese Hilfe sollen wir noch nicht denken, das ist nur die Gabe Gottes. Erst sollen wir daran denken, wie Gott sich selber gibt und wie er selbst die Freude ist, in allem Leid. Das heißt stille werden, daß Gott selbst mir begegnet, daß das Leid und die Frage und die Anfechtung und die Not nicht mehr zur Wand wird zwischen Gott und mir, zur undurchdringlichen schalldichten Wand. Stille werden kann der Mensch überhaupt nur in Gott. Stille werden heißt Frieden haben. »Da wir gerecht geworden sind durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott.« Das ist der Weg Hiobs, er ist gerecht geworden durch den Glauben, er hat Gott und nicht sich selbst die Ehre gegeben. Darum, so bekennt er, bekenne ich, daß ich unweise geredet habe, was mir zu hoch ist und ich nicht verstehe (42,3), und ich spreche mich schuldig und tue Buße in Staub
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und Asche (42,6). Denn das heißt gerecht werden vor Gott, daß wir uns schuldig sprechen, schuldig dessen, daß wir den Unterschied zwischen Gott und uns aufgehoben haben; daß der Mensch meinte, beurteilen zu können, was hoch über ihm ist. Gottes Freiheit, Gottes Gnade, Gottes eigene Souveränität – das anerkennen, von daher sich selbst richten, von daher leben, das hieße glauben, das hieße aber auch, gerecht werden und Frieden haben. Das Ende der Geschichte Hiobs ist schnell erzählt. Der Herr redet nicht nur mit Hiob, sondern auch mit seinen Freunden. Hier aber sehr direkt und unmißverständlich: Mein Zorn ist ergrimmt über dich und deine zwei Freunde, denn ihr habt nicht recht von mir geredet, wie mein Knecht Hiob (42,7). Den Freunden gegenüber tritt Gott auf Hiobs Seite, der leidende, an Gott und vor Gott leidende Hiob versteht mehr von ihm als seine theologisch versierten Freunde. Sein Leben ist wirklich der Schrei nach Erlösung, seine Seele dürstet wirklich nach Gott, er hat falsch und doch recht, irrig und doch wahr von Gott geredet. So wie wir alle nur von Gott reden können in diesem seltsamen Widerspruch »als die Irrenden und doch wahrhaftig, als die Unbekannten und doch Bekannten, als die Sterbenden und siehe, wir leben, als die Gezüchtigten und doch nicht Ertöteten, als die Traurigen und doch allezeit Fröhlichen, als die Armen, die aber doch viele reich machen, als die nichts innehaben und doch alles haben.« Aber Hiob bittet für seine Freunde und die Freunde demütigen sich auch und opfern Gott Brandopfer zur Entsühnung ihrer Schuld. Und nun, wie schon gesagt, wendet der Herr das Gefängnis Hiobs (42,10), und wird wahr, was da gesagt ist von den Gefangenen Zions, wenn der Herr sie erlösen wird und ihr Mund voll Lachens und ihre Zunge voll Rühmens ist. Denn Gott nimmt nicht um zu nehmen, sondern er nimmt, um Raum zu schaffen, sich selbst zu offenbaren. Aber Hiob hat das Leben kennengelernt, und als ein Leidgeprüfter weiß er, daß wir alles nur haben, als hätten wir es nicht. Und als er alt wird, schmeckt ihm das Leben nicht mehr. Er starb alt und lebenssatt (42,17). Es ist wohl das Größte, was Gott einem Menschen schenkt an irdischen Gaben, daß er das Glück seiner Kinder sehen darf und doch satt wird vom Leben. Denn lebenssatt heißt, hungrig sein nach der Ewigkeit, lebenssatt heißt, daß wir uns nicht mehr betrügen lassen durch alles, was zeitlich ist, als wäre es ewig. Daß wir eins sind mit Gott, wenn er uns abruft aus der Kampfbahn, dahin, wo kein Leid und kein Geschrei und kein Schmerz mehr sein wird, dahin, wo das Rad von Geburt und Sterben aufhören wird sich zu drehen,
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wo dafür der uns leuchtet, bei dem kein Wechsel ist von Licht und Finsternis. Ach komm, ach komm, o Sonne, und hol uns allzumal zum ewgen Licht und Wonne in deinen Freudensaal.
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9. Gott ist unsre Zuversicht und Stärke Psalm 46 8. Mai 1943
Ein Lied der Kinder Korah, von der Jugend, vorzusingen. Gott ist unsre Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben. Darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt unterginge und die Berge mitten ins Meer sänken, wenngleich das Meer wütete und wallte und von seinem Ungestüm die Berge einfielen. Dennoch soll die Stadt Gottes fein lustig bleiben mit ihren Brünnlein, da die heiligen Wohnungen des Höchsten sind. Gott ist bei ihr drinnen, darum wird sie fest bleiben; Gott hilft ihr früh am Morgen. Die Heiden müssen verzagen und die Königreiche fallen; das Erdreich muß vergehen, wenn er sich hören läßt. Der Herr Zebaoth ist mit uns; der Gott Jakobs ist unser Schutz. Kommet her und schauet die Werke des Herrn, der auf Erden solch Zerstören anrichtet, der den Kriegen steuert in aller Welt, der Bogen zerbricht, Spieße zerschlägt und Wagen mit Feuer verbrennt. Seid stille und erkennt, daß ich Gott bin. Ich will Ehre einlegen unter den Heiden; ich will Ehre einlegen auf Erden. Der Herr Zebaoth ist mit uns; der Gott Jakobs ist unser Schutz. Wir unterbrechen 1 heute einmal unseren Plan, oder vielmehr, er ist uns unterbrochen durch das, was geschehen ist und darum soll – mitten in unserer Arbeit am Römerbrief – diese Abendfeier stehen, in der Gott in besonderer Weise mit uns und zu uns reden will. Denn Dinge, die wir ahnten und fürchteten, sind geschehen. Der Krieg hat seine Spuren nun auch in unsere Stadt eingedrückt 2 und den Kampf der Zerstörung und des Todes auf das Leben und das Lebenswerk der Menschen gedrückt. Wir kommen heute nicht zusammen wie sonst – hier sind Menschen, die in einer Nacht arm geworden sind, die heimatlos an fremden Tischen sitzen, weil alles redlich erarbeitete Gut dahin ist. Wir haben uns selbst neu kennengelernt, als der Atem des Todes an den Türen unserer 1. 2.
Unterbrechung einer Predigtreihe in den Wochenendgottesdiensten über den Römerbrief, die am 1. Mai begonnen hatte. Bombenangriff auf Dortmund am 5. Mai, schwere Beschädigungen der Marienkirche.
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Häuser rüttelte und durch die Keller wehte wie ein unheimlicher Geist. Aber das Schwerste: Es wird manch einer fehlen, der zu uns gehörte, wie jenes liebe junge Mädchen, das am Gründonnerstag bei unserer Abendmahlsfeier mit sang und nun mit ihren Eltern und anderen im Keller ein Grab gefunden hat. »Wen da dürstet, der komme und nehme das Wasser des Lebens umsonst.« Ihre Seele ist gerufen und hat sich geneigt zu trinken von dem Wasser des Lebens. Aber auch wir anderen, diesmal noch Bewahrten – wie unmittelbar haben wir es anschauen dürfen: Was sind des Lebens Güter? Eine Hand voller Sand, Kummer der Gemüter. Wie lernen wir jetzt – könnten wir jetzt lernen –, daß alles, was wir haben, Sinn und Farbe gewinnt, wenn es – der Liebe dienstbar gemacht – andere fröhlich und dankbar macht, wenn es dazu dient, den anderen zu sagen: Du bist nicht allein, hier sind Brüder und Sehwestern, die dich aufnehmen. Aber, meine Freunde, hinter und unter dem allen geht ein Fragen durch die Herzen, durch viele Herzen, kein gutes, vielleicht auch kein böses Fragen, aber es ist da und würgt heraus: Gott – so sagt es – Gott soll das zulassen? Tausende sagen so. Was mag ihr Gott sein, daß sie so gleichsam klagend und anklagend fragen? Sie fragen oft nur so, ohne die Antwort abzuwarten, sie halten die Antwort selbst schon in der Hand: Also es ist kein Gott! Wunderbar, wie der Unglaube ein großes zähes Leben hat. Er läßt sich nicht totschlagen, er erhebt sein Haupt aus den Trümmern und sieht uns mit demselben steinernen Antlitz an, mit dem er in den Tagen des Glücks unser Tischgast war. Er stirbt nicht. Wehe uns, wenn wir vor ihm sterben! Gott – so sagt ihr. Gott ist unsre Zuversicht und Stärke – hören wir hier von einem, der offenbar auch etwas erlebt hat von der Vergänglichkeit alles Irdischen. Ja, es kommen in der Tat Zeiten, da es über die Welt rauscht, wie die große Flut, da das Meer wütet und wallt; da kein Berg mehr sicher ist, keine der Höhen, auf denen wir uns ansiedelten. Das Geld, die Macht, der Besitz – wer wandelt nicht gern auf den Höhen der Menschheit. Aber wenn die Mächte der Tiefe aufschäumen, sinken alle diese Berge ins Meer. Wenngleich die Welt unterginge – manchmal merkt man das, wie wenig fest der Untergrund ist, auf dem wir leben. »Untergang des Abendlandes« rief ein Mann 1918 in die fortschrittsselige Masse. Wenngleich die Welt unterginge. Gott – jedenfalls Gott ist gerade die
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Zuflucht, die Stärke, die Grenze, über die hinweg die Flut uns nicht erreicht. Götter werden mit untergehen. Der Gottglaube, den sich der Mensch selbst zurechtmacht, wird genau so sterben wie all die anderen Bilder. Sie hängen ja alle an der stürzenden Wand. Aber der Gott, der hier angebetet wird, steht und fällt nicht mit der Welt. Der Gott, der Glück heißt; der Gott, der Erfolg heißt; der Gott, der das vergottete Ich des Menschen ist – der fällt mit der Welt. Aber der Gott, an den allein zu glauben sich lohnt, der steht, wenn alles fällt. »Wenn ich nur dich habe!« Jawohl, alle, die da fragen, haben Recht: Es geht um Gott. Hinter dem Zerbrechen und Zusammensinken steht Gott. Wenn das Sichtbare fällt, wird das Nichtsichtbare frei. Der Unglaube wird uns vorreden, daß wir ins Nichts schauen. Ich aber meine, daß das die Stunde ist, wo Gott alles in allem ist. Siehe, der Unendlichkeit Abgrund öffnet sich, der Nivellierung scharfe Sense läßt alle, jeden besonders, über die Klinge springen. Siehe, Gott mordet. So springe zu in Gottes Arme! Gott ist unsre Zuversicht und Stärke. Gott ist noch da, Gott ist wieder da. Merken wir nicht, daß wir dem Tode entgegen gehen, da wir wieder wahr, echt, gläubig sagen werden: Gott? Da der Name Gottes wieder wahr sein wird im Menschenmund, da wir ihn nicht mehr verwechseln werden mit der Welt. Da die Ewigkeit so hoch über uns stehen wird, daß wir wirklich begreifen: Da ist Gott, da ist Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben. Mitten in dieser vergehenden Welt wird es geschehen, daß Gottes Stadt bleibt. Es ist, als ob wir den Apostel hörten: »Freuet euch, und abermals sage ich: freuet euch!« Ja wirklich, es wird mitten in dieser sich in Qualen windenden Welt eine Burg des Friedens sein, nämlich da, wo Gott ist, wo man merkt: hier ist Gott. Hier stehen wir vor Gott, hier können wir wohnen. »Gott mit uns« – steht über den Toren dieser Stadt. Gott wider uns – ist der Fluch der Verdammten; Gott mit uns – das Loblied der Frommen. Gott mit uns – in aller Not, Gott selbst am Kreuz, Gott selbst seinen Sohn preisgebend, Gott selbst mitleidend – das ist unser Friede. Gott ist bei ihr drinnen. Solange das ist – und es ist ja immer Gnade – wird die Stadt fest bleiben. Die Festung in den Zeiten der Not. Die Kirche Gottes wird zur Richtungsangabe, wo wir erfahren: Eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben. Hier fließen Gottes Brünnlein, hier trinken wir Wasser ewigen Lebens. Hier ist Liebe und Erbarmen, Geduld und Sühne. Die Morgenstunde kommt, die Nacht rückt vor. Betet und wachet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet. Der Morgen tagt. Die Heiden müssen verzagen und die Königreiche fallen – alle natürliche Kraft kommt einmal an ihre Grenze. Dann ist es aus. Wie aber – wenn wir
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schwach sind, sind wir stark, da ist einer neben uns, der trägt uns mit seinen Armen durch die Lüfte. Laßt euch nicht mitreißen mit dem Strom des Verzagens, Verzagen ist am Ende des Unglaubens; der Mühlstein den er sich selbst schließlich um den Hals legt. Sie verzagen gerade, weil Gott anfängt zu reden, weil er nicht mehr schweigt. Das Erdreich muß vergehen, wenn er sich hören läßt. Ja, Gott erhört – aber was? Kommt und sehet die Werke des Herrn, der auf Erden solch Zerstören anrichtet, der den Kriegen steuert in aller Welt, der Bogen zerbricht und Wagen mit Feuer verbrennt. Denn das eben weiß die Bibel: Gott bedeutet Frieden! Achtet auf seine Zeichen. Wenn sich sein Name erhebt, dann ist das Ende all der Leiden gekommen. Wenn die Sonne aufgeht, muß die Nacht weichen. Gott wird richten unter den Heiden und strafen viele Sünder. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Das ist die Gottesherrschaft – sie ist nicht da, aber sie bricht herein, überall das, wo wir wieder Gott anrufen, wo wir ihm die Ehre geben: vor ihm stille werden, wie der Psalmist sagt.
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10. Cantate – Singt! Psalm 98,1-3
Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder. Er siegt mit seiner Rechten und mit seinem heiligen Arm. Der Herr läßt sein Heil verkündigen, vor den Völkern läßt er sein Heil offenbaren. Er gedenkt an seine Gnade und Wahrheit. Aller Welt Enden sehen das Heil unsers Gottes. Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder. Der Sonntag Cantate galt uns ehedem als der Singesonntag. Es wurde dann vom christlichen Lied gepredigt, wohl auch von der großen Bedeutung des Liedes für die Frömmigkeit, vielleicht auch von dem großen Schatz und dem reichen Trost, den uns unser kirchliches Liederbuch in seinen Gesängen aufbewahrt hat. Aber heute will es mir scheinen, als ob uns der Ruf des Psalmisten in eine andere Richtung wiese; als ob wir allen Grund hätten, ganz wörtlich zu nehmen, was da steht: Singet dem Herrn ein neues Lied! Sprecht nicht von dem, was andere Zeiten und andere Geschlechter zu Gottes Lobpreis gesungen haben; sondern tut selbst den Mund auf und bekennt frei und offen, was euch der Herr getan hat! Denn Singen bedeutet hier, wie Luther einmal sagt, »nicht nur das Tönen und laute Schreien, sondern auch jede Art von Predigt und öffentliches Bekenntnis, wodurch vor der Welt frei gerühmt wird Gottes Werk, Rat, Gnade, Hilfe, Trost, Sieg und Heil.« In diesem Sinne ist es uns heute aufgetragen: Singt! Bekennt frei und öffentlich, was Gott an euch, was er an der evangelischen Kirche Deutschlands getan hat. Es schien aus mit uns zu sein, aber Gott hat es nicht zugelassen. Sie schien tot zu sein, aber Gott hat die Kirche zu Leben und Kraft erweckt, sehr zum Schrecken für alle, die sie ausplündern und berauben wollten. Wo sind die Bischöfe hingekommen, die eben noch so mächtig und angesehen herrschten? Wo sind sie alle geblieben, die seine, des lebendigen Herrn Gemeinde fesseln und binden und dahingeben wollten? Ist uns nicht widerfahren, wie es im Liede heißt: »Was fragt ihr nach dem Dräuen der Feind und ihrer Tück, der Herr wird sie zerstreuen in einem Augenblick«? Ist uns das nicht von Gott her widerfahren? Aber nun müssen wir mit großem Schrecken wahrnehmen, daß uns zwar von Gott her eine solche wunderbare Errettung widerfahren ist, daß
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ihm aber von uns her das nicht widerfährt, worauf er nun Anspruch hat: jenes Singen und öffentlich freie Bekennen, zu dem wir hier aufgerufen werden. Es geht jetzt ein Gerede durch unsere Gemeinden, das lautet etwa so: Nun ist alles wieder gut, nun müßt ihr auch still sein und wieder an eure Arbeit gehen. Dem entgegen befiehlt uns Gott hier gerade: Singet, ruft es allerorten aus, macht es kund, daß meine Hand mit euch gewesen ist. Es ist etwas richtig an jenem Gerede. Es ist an der Zeit, daß es etwas stiller werden sollte bei uns mit dem Tuscheln und hoffärtigen Reden von den Schlechtigkeiten unserer Gegner. Aber davon sollten wir überhaupt als rechte Christenleute, die aus der Gnade Gottes leben, nicht so viel hermachen. Wer nur die Fehler seiner Gegner besingt, der singt schlechte Lieder. Aber wir sollen ja ein ganz anderes Lied anstimmen: ein Lied von der Macht und Gewalt unseres Gottes; ein Lied davon, daß wir hier auf Erden nicht allein und nicht vergessen sind; ein Lied davon, daß es besser und am Ende auch praktischer ist, sich auf Gottes Arm zu verlassen und seine Rechte zu fassen, als sich an irgend eines Menschen Arm zu hängen oder von solchem sterblichen, hinfälligen Fleisch seine Zuversicht und sein Vertrauen abhängig zu machen. Davon sollen wir singen. Ja, ich möchte fast sagen, heute hängt alles davon ab, ob wir den Mut haben, dieses neue Lied von Gottes Trost und Hilfe so laut und vernehmlich anzustimmen, daß alle Welt davon zu hören bekommt; nicht nur die, die solches Singen tröstet und fröhlich macht; sondern auch die, die es erbost, die finsteren Mächte, die es niemals gern haben, wenn Gott mit seiner Kraft und seinem Licht auf den Plan tritt; die es aber noch viel weniger gern haben, wenn dann die Geretteten und Geborgenen ein Siegeslied, ja wohl gar ein Spottlied anstimmen. Aber Gott hat das gern und ihm zu Ehren soll es darum gesagt und gesungen sein. Denn wenn wir jetzt schweigen würden – so schweigen, wie sehr, sehr viele unter unseren Freunden heute schweigen, und wie sie auch uns still zu sein und zu schweigen raten –, dann würden wir wohl vor aller Welt als die jämmerlichsten Wichte da stehen, die es gibt. In der Not schreien wir, beugen wir unsere Knie, rufen Gott um Hilfe, halten einen Bittgottesdienst nach dem anderen – aber wenn die Not weicht, weichen auch wir von unserem Gott; beginnen wieder zu tändeln und zu leben wie zuvor – und bedenken nicht, daß es sehr wenig ist, was Gott von uns verlangt; daß wir ihm aber das Wenige nicht vorenthalten sollen. Der Gott, der uns in unserer Not und Angst beigestanden hat – und es waren schon sehr bittere Nöte und furchtbare Schrecknisse, durch die Gott seine bekennenden Gemeinden hindurchgeleitet hat – Gott fragt uns heute, ob wir nun auch tun wollen, was er geboten hat. Denn so heißt es: »Rufe
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mich an in der Not, so will ich dich erretten, und du sollst mich preisen.« Mehr nicht! Das ist alles, was von uns verlangt wird. Dieses schlichte und billige Dankopfer – aber gerade das fällt uns anscheinend besonders schwer. Was bieten wir Gott alles an, wenn er uns dies Singen, dies »öffentliche Bekenntnis« seiner Wunder vor aller Welt erlassen möchte. Wir sagen: es kommt jetzt auf Kirchenzucht an, auf Bibellesen, auf christliche Bruderschaft, auf Schulung in christlicher Lehre, auf guten Wandel, auf Gemeindeaufbau. Das ist alles sehr gut und schön und richtig, und das wird auch alles einmal kommen. Aber heute kommt es auf etwas viel Einfacheres an: Heute kommt es wirklich aufs Singen an. Heute kommt es wirklich darauf an, daß die Bekennende Kirche nicht in die Stille geht und nicht zu einer stummen bekennenden Kirche wird – das ist ja doch nur noch ein Witz! –, sondern daß wir frei und offen sagen, wer uns beigestanden hat; an wem es liegt, daß sie uns weder mit List noch mit Gewalt beikommen werden; daß das allein an Gott liegt. Denn er siegt mit seiner Rechten und mit seinem heiligen Arm. Warum redet denn die Schrift so eigenartig von diesem Sieg Gottes? Warum sagt sie nicht einfach: Gott siegt, Gott setzt sich durch? Warum stoßen wir an solchen Stellen immer wieder auf Worte, wie wir sie hier auch finden: mit seiner Rechten, mit seinem heiligen Arm. Die Schrift redet darum so, weil die Menschen aller Zeiten meinen, Gott brauche unseren menschlichen Arm, um zu siegen. Gott sei an sich hilflos, wenn wir uns ihm nicht zur Verfügung stellen. Darum heißt es hier: Er siegt mit seiner Rechten und mit seinem Arm, Gott bedarf zu diesem Siege seiner Sache keiner Bundesgenossen. Er ist nicht darauf angewiesen, daß ihm irgendein Mächtiger der Erde seinen Arm leiht. Denn Gott führt selbst zum Ziele, was er sich vorgenommen hat. Hier scheidet sich der rechte Glaube von dem bloßen Scheinglauben. Der rechte Glaube weiß, daß Gott allein helfen kann, daß es keine größere Sicherheit und Zuversicht gibt als da, wo wir uns an nichts anderes mehr halten als an seine Rechte und seinen heiligen Arm. Darum ist es eine sehr törichte und aus dem Unglauben geborene Rede, wenn man meint, Gottes Sache würde dadurch gut stehen, wenn ihr irgend eine weltliche Macht ihren Arm leiht. Gerade da, wo Gott nicht mehr allein als Helfer und Förderer seiner Sache angerufen wird, ist diese Sache in schlimmster Gefahr. Denn Gott will entweder all unser Vertrauen haben oder ganz aus dem Spiele bleiben. Das ist darum jener schreckliche Scheinglaube, der weder auf Erden noch im Himmel angesehen ist, der sich bei Gott und bei den Menschen
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eines Rückhaltes versehen möchte, der nicht glauben kann, daß Gott allein der ganzen Welt gegenüber siegt, triumphiert, das Feld behauptet. Aber dieser falsche Glaube, der gern Gott und die Welt, Gott und die Menschen, Gott und den Mammon, Gott und den Zeitgeist für sich in Rechnung stellen möchte, hat einen tiefen und schrecklichen Grund. So muß nämlich jeder Mensch denken, der nicht wirklich verstanden hat, daß ihm nur dann geholfen werden kann, wenn Gott allein ihm hilft; ihm in seiner eigenen, großen, letzten Not. So muß darum jeder denken, der überhaupt noch nicht die wahre Hilfe des wahren Gottes erfahren hat. Denn wo es darum geht, aus einem sterblichen, sündigen, widerspenstigen, zweifelnden und verzweifelnden Menschen, aus solch einem Wesen, wie wir alle es sind, einen Menschen zu machen, der vor Gott bestehen kann, der vor seinem eigenen Gewissen bestehen kann, an dem der Tod und die Sünde und wohl auch der Teufel ihren Schrecken verloren haben, da kann kein Mensch einem anderen wirklich heraushelfen. Da ist die Macht der Mächtigsten erbärmlich gering und der Stolz der Höchsten ein nutzloses Ding, da muß in der Tat Gott mit seiner Rechten eingreifen und uns auf seinen Arm, auf seine Schulter nehmen. In solcher Not lehrt Gott die Menschen, ihn allein anzurufen, alles von ihm zu erwarten, nicht hierhin und dahin zu laufen, dem oder jenem ein Klagelied vorzusingen, das oder jenes Mittel zum Betäuben oder zum Vergessen anzuwenden, sondern die Rechte zu fassen, die Gott nach uns ausstreckt, und seine Hand zu ergreifen, mit der er uns herauszieht. Das heißt dann Glauben: Sehend werden für die Gebrechlichkeit und Ohnmacht aller, aber wirklich aller menschlichen Hilfe und eben darum Augen bekommen für den Sieg der göttlichen Hilfe. Wir wissen, wer zur Rechten Gottes sitzt. Wir wissen, wer das Werkzeug und der Arm ist, mit dem Gott die Welt, die verlorene, gottvergessene, tote Welt heimholte, an sich zieht, rettet und nicht läßt. Wir wissen, daß dieser Sieg Gottes in Jesus Christus beschlossen liegt, der uns errettet hat »von allen Sünden, vom Tode und von der Gewalt des Teufels«. Und darum ist das unser Triumph- und Lobgesang, daß wir aller Welt künden müssen, daß Gott in keinem anderen Wesen zu suchen und zu verehren ist als allein in ihm, in Jesus Christus, dem Gekreuzigten. Keine Frage, daß das die vielen Scheingötter der Welt nicht leiden wollen, daß sie nämlich als machtlos entlarvt und als ungefährlich hingestellt werden. Kein Wunder, daß jene Scheingläubigen meinen, wir nehmen ihnen das Heiligste, ihre Religion, ihren Glauben, weil wir sie nämlich von ihrem eingebildeten zu dem wahren lebendigen Gott weisen. Aber das gerade soll geschehen: die Götzen sollen entlarvt, der Scheinglaube soll beschämt
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werden; es soll offenbar werden, daß es keinen anderen Gott gibt und nie gegeben hat und nie geben wird als den Gott, der der Vater Jesu Christi ist. Christus, das ist seine Hand, mit der er uns hält; Christus ist Gottes Rechte, mit der er die Welt regiert; Christus ist Gottes Sieg, den er endgültig davongetragen hat über alle Mächte des Himmels und der Erde, da er ihn auferweckt hat von den Toten. Seither geht dieses Siegeslied Gottes durch die Welt, und wir kennen es alle, es ist das Evangelium. Das ist die Kunde vom Sieg Gottes. Und es ist die höchste und seligste Stunde im Leben eines Menschen, er sei wer er sei, wenn er diese Kunde hört und begreift und glaubt. Wem das widerfährt, der hat nicht umsonst gelebt, der kann Leben und Glück und alle Güter preisgeben, wenn es gilt dies eine zu bezeugen und festzuhalten: daß Gott gesiegt hat in Jesus Christus und wir durch Glauben daran teilhaben. Jetzt begreifen wir auch, warum diese Kunde in der Welt freie Bahn haben muß: Der Herr läßt sein Heil verkündigen, vor den Völkern läßt er sein Heil offenbaren.
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Und des Herrn Hand kam über mich, und er führte mich hinaus im Geist des Herrn und stellte mich auf ein weites Feld, das voller Totengebeine lag. Und er führte mich allenthalben dadurch. Und siehe, des Gebeins lag sehr viel auf dem Feld; und siehe, sie waren sehr verdorrt. Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, meinst du auch, daß diese Gebeine wieder lebendig werden? Und ich sprach: Herr Herr, das weißt du wohl. Und er sprach zu mir: Weissage von diesen Gebeinen und sprich zu ihnen: Ihr verdorrten Gebeine, höret des Herrn Wort! So spricht der Herr Herr von diesen Gebeinen: Siehe, ich will einen Odem in euch bringen, daß ihr sollt lebendig werden. Ich will euch Adern geben und Fleisch lassen über euch wachsen und euch mit Haut überziehen und will euch Odem geben, daß ihr wieder lebendig werdet, und ihr sollt erfahren, daß ich der Herr bin. Und ich weissagte, wie mir befohlen war; und siehe, da rauschte es, als ich weissagte, und siehe, es regte sich, und die Gebeine kamen wieder zusammen, ein jegliches zu seinem Gebein. Und ich sah, und siehe, es wuchsen Adern und Fleisch darauf, und sie wurden mit Haut überzogen; es war aber noch kein Odem in ihnen. Und er sprach zu mir: Weissage zum Winde; weissage, du Menschenkind, und sprich zum Wind: So spricht der Herr Herr: Wind, komm herzu aus den vier Winden und blase diese Getöteten an, daß sie wieder lebendig werden! Und ich weissagte, wie er mir befohlen hatte. Da kam Odem in sie, und sie wurden wieder lebendig und richteten sich auf ihre Füße. Und ihrer war ein sehr großes Heer. Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, diese Gebeine sind das ganze Haus Israel. Siehe, jetzt sprechen sie: Unsre Gebeine sind verdorrt, und unsre Hoffnung ist verloren, und es ist aus mit uns. Darum weissage und sprich zu ihnen: So spricht der Herr Herr: Siehe, ich will eure Gräber auftun und will euch, mein Volk, aus denselben herausholen und euch ins Land Israel bringen; und ihr sollt erfahren, daß ich der Herr bin, wenn ich eure Gräber geöffnet und euch, mein Volk, aus denselben gebracht habe. Und ich will meinen Geist in euch geben, daß ihr wieder leben sollt, und will euch in euer Land setzen, und sollt erfahren, daß ich der Herr bin. Ich rede es und tue es auch, spricht der Herr. Und des Herrn Wort geschah zu mir und sprach:Du Menschenkind, nimm dir ein Holz und schreibe darauf: Des Juda und der Kinder Israel, seiner Zugetanen. Und nimm noch ein
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Holz und schreibe darauf: Des Joseph, nämlich das Holz Ephraims, und des ganzen Hauses Israel, seiner Zugetanen. Und tue eines zum andern zusammen, daß es ein Holz werde in deiner Hand. So nun dein Volk zu dir wird sagen und sprechen: Willst du uns nicht zeigen, was du damit meinst? so sprich zu ihnen: So spricht der Herr Herr: Siehe, ich will das Holz Josephs, welches ist in Ephraims Hand, nehmen samt seiner Zugetanen, den Stämmen Israels, und will sie zu dem Holz Juda’s tun und ein Holz daraus machen, und sollen eins in meiner Hand sein. Und sollst also die Hölzer, darauf du geschrieben hast, in deiner Hand halten, daß sie zusehen, und sollst zu ihnen sagen: So spricht der Herr Herr: Siehe, ich will die Kinder Israel holen aus den Heiden, dahin sie gezogen sind, und will sie allenthalben sammeln und will sie wieder in ihr Land bringen und will ein Volk aus ihnen machen im Lande auf den Bergen Israels und sie sollen allesamt einen König haben und sollen nicht mehr zwei Völker noch in zwei Königreiche zerteilt sein; sollen sich auch nicht mehr verunreinigen mit ihren Götzen und Greueln und allerlei Sünden. Ich will ihnen heraushelfen aus allen Örtern, da sie gesündigt haben, und will sie reinigen; und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein. Und mein Knecht David soll ihr König und ihrer aller einiger Hirte sein. Und sie sollen wandeln in meinen Rechten und meine Gebote halten und danach tun. Und sie sollen wieder in dem Lande wohnen, das ich meinem Knecht Jakob gegeben habe, darin eure Väter gewohnt haben. Sie und ihre Kinder und Kindeskinder sollen darin wohnen ewiglich, und mein Knecht David soll ewiglich ihr Fürst sein. Und ich will mit ihnen einen Bund des Friedens machen, das soll ein ewiger Bund sein mit ihnen; und will sie erhalten und mehren, und mein Heiligtum soll unter ihnen sein ewiglich. Und ich will unter ihnen wohnen und will ihr Gott sein, und sie sollen mein Volk sein, daß auch die Heiden sollen erfahren, daß ich der Herr bin, der Israel heilig macht, wenn mein Heiligtum ewiglich unter ihnen sein wird. Wenn wir diesen Text hören, diese wunderbare Vision, die den Propheten Hesekiel überfällt, dann geht es uns ja allen irgendwie so, daß auch unsere Lage, unsere heutige Situation sich in dieses Bild hineindrängt, dadurch ihren Ernst bekommt, ihren furchtbaren Todesernst, aber zugleich auch ihre große, über alles Wünschen hinausgehende Hoffnung. Es fragt sich nur, ob wir ein Recht haben, das, was hier der Prophet von sich sagt und was er sieht und was ihm widerfährt, ohne weiteres auf uns zu übertragen, ob wir ein Recht haben, uns dabei zu beruhigen, uns daran wieder aufzurichten. Ich möchte also, daß wir erst einmal die Distanz sehen, den Unterschied gelten lassen, zwischen dem, was da ist, und dem, was heute ist.
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Die Lage war äußerlich in der Tat sehr ähnlich. Der Prophet selbst gehört zu den Deportierten, die der König von Babel mit nach Babylon genommen hatte, weil er ein Parteigänger des Königs Jojakim, des letzten Königs in Israel war. Die Hälfte des jüdischen Volkes war bereits deportiert, ein Teil war noch daheim. Und überall wurden nun Stimmen laut, daß die Zeit der Gefangenschaft dem Ende nahe sei, daß ein großes Unheil über dem Reich Babylon stehe, und daß darum in Kürze der Herr die Gefangenen zurückführen, das Volk wieder vereinigen werde. Und nun ist das Entscheidende, daß der Prophet hier diese Hoffnung nicht bestätigt, daß er in dieses Horn nicht mithineinstößt, sondern daß er das Volk auf eine ganz andere Ebene führt, in eine viel größere Nüchternheit, in eine viel größere Trostlosigkeit, aber darum auch in eine viel größere unwahrscheinliche, von Gott herkommende Hoffnung, daß er mit allen politischen Berechnungen, mit allen Hoffnungen, daß irgendwie etwas sich ändern werde im äußeren Bestand der Welt, daß er damit bricht und daß er das Volk zwingt, ganz radikal die Frage anzufassen: Von Gott her, da wird sich etwas ändern, da wird etwas geschehen. Das könnte man auch heute uns sagen, das wäre wohl gut, wenn man das einmal mit aller Deutlichkeit sagte, daß wir endlich einmal aufhören mit allen Berechnungen, daß irgendwie es sich bald ändern werde, daß irgendwie der Druck von der Kirche weichen müsse, daß die Hand, die auf uns lastet, durch irgendwelche äußeren Ereignisse zurückgestoßen werden müsse. Es kann ja so etwas geben, aber das sind nicht die Hoffnungen, auf denen der Glaube fußt und der Glaube gründet. Dieses ganze Spekulieren und Rechnen, das tun eben die falschen Propheten. Hier redet der rechte Prophet, und das ist nun die Frage, ob wir uns so von diesem Propheten auch heute anreden lassen. Das erste, was er hier erzählt, was ihm geschieht, diesem Propheten – die denken sich das ja nicht aus, denen widerfährt das, das kommt über sie wie eine Gewalt, wie ein Erlebnis, Gesicht, Traum – das ist die Entrückung. Es wird ja wohl wahr sein, daß man erst dann ein wirkliches rechtes Gesicht der Dinge gewinnt, wenn man einmal von Gottes Hand entrückt wird, wenn man einmal von Gottes Hand in eine Einsamkeit gestellt wird, wenn einmal in uns nichts anderes ist als Nacht, und einmal die Stimmen zu uns reden, die unbestechliche, wahre, überzeugende, letzte Stimmen sind, nicht das Stimmengewirr der Zeitungen und der Menschen um uns herum, der Masse, sondern die Stimme, die unbetrüglich sagt, was ist. Das ist nun die furchtbare Anfechtung des Propheten, daß er das, was da ist, zu sehen bekommt als ein Totenfeld. Die anderen Deuter der Zeit damals, die sagten: Ja, das Volk Israel ist zwar schwer getroffen, es ist zerstreut, es ist in seinem Bestande bedroht. Aber ein Totenfeld? Noch lebt ja die Hälfte in Je-
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rusalem, noch hält sich die deportierte Gemeinde in Babylon. Ein Totenfeld unsere Kirche heute? Noch regt sich doch überall der Glaube, noch regen sich doch überall die Prediger, noch wird in so und soviel tausend Kirchen Sonntag für Sonntag gepredigt, noch sammeln sich die Menschen. Ein Totenfeld? Bei dem Propheten jedenfalls erscheint die Lage seines Volkes in dieser grausigen Tiefe, als ob sie alle schon nichts anderes sind wie ein großes Toten- und Gräberfeld, das der Knochenmann zur Beute hat. Ich könnte ja sagen: der Prophet, der redet hier von dem geistlichen Tod; aber diese Unterscheidung von dem geistlichen Tod und von dem äußerlichen Tod, die ist nicht richtig, die ist auch nicht biblisch. Der Tod ist eine Macht, der trifft Leib und Seele, wenn der anfängt, mit seinen Heerscharen über die Welt einherzuziehen, dann trifft er Geist und Leib in gleicher Weise, dann ist ein Verschmachten der Seele und ein Umkommen des Leibes. Wenn der Tod mit seiner Sense anfängt, die Menschheit zu schneiden, dann trifft uns das nicht nur äußerlich, sondern das trifft uns auch in unserer Seele. Ich meine, das Abendland könnte heute etwas davon merken, von der grausamen Herrschaft des Todes, wie der anfängt mitten in unser Leben wieder hineinzuziehen, nicht der gewöhnliche Tod, daß der Mensch in seinem Alter verfällt, oder an einer Krankheit stirbt, sondern der Tod, der als eine Macht heraufzieht, der Tod der großen Kriege, der Tod der Revolutionen, der Tod, der Tausende als sein Opfer fordert und die Erde tränkt mit frischem lebendigen Blut. Glaubt ihr wohl, daß sonst die Müdigkeit der Menschen so groß wäre, zu glauben, wenn nicht der Tod seine Allgewalt einer übermütigen Menschheit Europas heute wieder deutlich machte, so deutlich, daß heute alle Völker zittern, daß in Kürze aufs Neue eine große Hekatombe für den Kriegsgott geopfert werden müßte? Darum verschmachtet unsere Seele, darum sind wir nur noch darauf aus: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Der Bann des Todes nimmt uns ganz mit Leib und Seele. Das sieht der Prophet. Ein Totenfeld. Eine Menschheit, ein Volk gezeichnet dadurch, daß der Tod anfängt, dieses Volk zu besitzen, dieses Volk zu beherrschen. Er muß wohl hindurchgehen durch dieses Totenfeld. Als Jungen fürchteten wir uns immer, über den Kirchhof zu gehen. Unser Pfarrhaus lag direkt an einem Kirchhof, wir mußten, wenn wir abends heimkamen, immer darüber. Das war sehr grausig für uns. Der Städter kennt so etwas meistens nicht mehr, aber da ist eine ganz echte Furcht dahinter, nämlich die Furcht alles Lebens vor dem Tode, die Furcht, von der Dante singt, wenn er durch die Hölle wandern muß. So muß der Seher hindurchgehen durch das Totenfeld, das sich ihm da auftut. Wer einmal mit den Augen Gottes heute durch unsere Großstädte ginge, durch die großen Industriestädte des We-
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stens, und einmal da nach dem Volke Gottes fragte, der würde vielleicht etwas Ähnliches mit Erschauern merken, wie das ein Gang ist, wie durch ein Totenfeld. Die Menschen merken das natürlich nicht: daß sie schon irgendwie gezeichnet sind von dieser Endlichkeit und Vergänglichkeit und der Lust und des Vergehens, aber wer mit den Augen Gottes das sieht, der könnte erschrecken: Wie leben wir noch? Wie sterben wir noch? Wie verbringen wir noch unsere Tage? Meine Brüder und Schwestern, da kann ja der Schrecken über uns kommen, als ob wir die Kirche begraben sähen in einem tiefen, tiefen Grab. Das ist es, was der Prophet sieht, da werden alle Illusionen zunichte. Und nun kommt seine eigentliche Anfechtung. Nun fragt ihn Gott: Glaubst du, daß diese Knochen lebendig werden, daß diese Getöteten leben? Das ist so, als ob Gott sagen wollte: »Wenn du mein Prophet sein willst, dann mußt du das glauben. So gewiß, als ich Gott bin, so gewiß wird dieser dein Glaube erprobt und geprüft an diesem Totenfeld, das ich dir jetzt zeige.« Ja, meine Brüder und Schwestern, wir sprechen ja hier in diesen Abenden immer von der Not der Kirche. Ja, wenn man dann Menschen hineinführen kann in eine lebendige Gemeinde, in ein vom Geist Gottes ergriffenes Volk, in eine solche Kirche oder in eine solche Gegend, wo alles singt und bekennt und lobt – es gibt auch solche Gegenden in Deutschland – dann ist das ja nicht schwer, an den lebendigen Gott zu glauben. Aber Gott führt seinen Propheten gerade in die entgegengesetzte Richtung und hier erprobt er seinen Glauben: Glaubst du, daß diese Getöteten lebendig werden? Das ist die Anfechtung. Das ist zunächst einmal die Anfechtung der Prediger, die Anfechtung aller derer, die heute verkündigen müssen. Ein Prediger, der vor dem Tatbestand dieser Welt heute kapitulierte, der ist kein Prediger. Ein Prediger, der davor kapituliert, daß alles tot ist und zerstreut und zerschlagen, der ist kein Prediger Gottes. Gott will von seinem Prediger dieses haben. Ja, was will er haben? Die Antwort, die hier der Prophet Gott gibt. Es ist nämlich ganz wunderbar, daß der Prophet nicht sagt: »Ja, ich glaube wohl, daß das möglich ist.« Sondern er sagt in einer merkwürdigen Bescheidenheit und Vorsicht: Herr, das weißt du allein. Er sieht also, daß auch dieses Totenfeld in Gottes Hand steht, er sieht es nicht in des Todes Hand. Er kapituliert nicht vor einem Schicksal und sagt: »Das ist nun einmal so«, er sagt nicht: »Mit diesem Volk und dieser Gegend ist nichts mehr zu machen.« Sondern er sagt: »Damit ist so viel zu machen, als du, Herr, damit machen willst!« Das ist eine ganz große Sache, meine Brüder und Schwestern; es gibt nämlich auch Prediger, die das vergessen, die solche Bescheidenheit nicht kennen, die da meinen: wo sie auftreten und wo sie predigen, da sammelt sich sofort das Volk um sie; sie hätten gleich-
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sam die Gewalt des Geistes Gottes in ihrem Mund, in ihren Reden, in ihrem Geist. Sie benehmen sich wie Zauberer, wie Verführer der Menschen, wie Propagandaredner. So tut der Prophet nicht, sondern in einer unendlichen Bescheidenheit und Demut sagt er: Herr, das weißt du allein! Es ist weder Pessimismus noch Optimismus, was hier aus ihm redet, sondern es ist Glaube, es ist Gehorsam. So sollte jeder Prediger vor Gott stehen, aus diesem Glaubensgehorsam heraus muß er reden. Es könnte auch sein, daß Gott ihn umsonst arbeiten läßt, es könnte auch sein, daß es von einer Stadt heißen müßte: Und ihr habt nicht gewollt! Es könnte auch sein, daß über einem Flecken in Deutschland das Wort Jesu stehen müßte: Wenn in Sodom und Gomorra so gepredigt worden wäre, wie bei euch, es hätten sich mehr bekehrt. Das also wissen wir nicht, aber das wissen wir: Wenn Gott will, wenn Gott handelt, wenn Gott sein Wort gibt, dann kann er das Tote lebendig machen. Mehr wissen wir als Prediger nicht. Wenn wir das wissen und das glauben und so handeln, dann bleiben wir in den Schranken als gehorsame Diener des Herrn. Und nun kommt da das Dritte. Als der Prophet in solcher Bescheidenheit sagt: Herr, das weißt du, da gibt ihm Gott den Auftrag. Er gibt ihm den Auftrag, zu predigen. Es ist ganz wunderbar, wie dieser Auftrag lautet. Voller Hoffnung für jeden, der zu predigen hat, eine der ermutigendsten Stellen, die wir überhaupt in der ganzen Bibel für den Predigtauftrag finden, denn es heißt so: Sprich zu ihnen: Ihr verdorrten Gebeine, höret des Herrn Wort! Das heißt Predigen. Das heißt also, da, wo das Wort Gottes verkündigt wird, da braucht der Prediger nicht eine lebendige, eine bewegte, eine vom Geist Gottes getragene und gesammelte Gemeinde vorauszusetzen, er kann das Wort Gottes mitten hineinsprechen in ein Totenfeld, in eine Menschheit, die abgefallen ist, die erstorben ist, die nichts mehr von Gott wissen will, und er soll erfahren, daß diese Menschheit es hören wird. Bei unserm Wort ist das anders. Wenn wir unser Wort sagen, da brauche ich einen Menschen, der das versteht, der das vernimmt, der ein Verständnis, einen Sinn, eine Schulung dafür hat, ich muß irgendwo anknüpfen bei dem, was der Mensch schon mitbringt. Gott knüpft bei nichts an, bei gar nichts, sondern Gott legt sein Wort mitten hinein in ein totes Herz, in ein totes Gewissen, und in dem Augenblick, wo er da sein Wort hineinlegt, ist da eitel Leben, eitel Freude, eitel Glaube, eitel Lobpreis Gottes. Die Menschen des Neuen Testaments, die da als Christen auftreten, sind alle einmal so geführt worden, daß ihr Herz tot war – »das Gesetz lebte auf, ich aber starb« – und niemand von ihnen kann sich erklären, wie es kam, daß sie nun leben. Nicht wahr, es ist ja nichts anderes als das große Wunder der
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Schöpfung selbst. Wie Gott aus dem Nichts das Leben schafft, so schafft er nun auch aus dem Tode das Leben, das ewig ist, das Leben des Glaubens. Wenn wir doch so, wenn unsere Kirche doch so das Trümmerfeld ansehen könnte, das heute vor uns liegt! Wenn man doch nicht nur das Klagen hörte, daß soviel verfallen, daß die Gottlosigkeit so groß ist, sondern auch diese Hoffnung hörte, diese Zuversicht: Aber, wenn Gott will … Wenn man doch auch mitten hinein in dieses Totenfeld dieses Wort spräche, so wie es hier geboten ist: Ihr getöteten Gebeine, höret des Herrn Wort. Nicht wahr, wo eine Erweckung geschieht, da ist es in der Tat so wie bei der Auferstehung selbst. Als vor hundert Jahren die große Erweckung hier in Westfalen war, und Volkening mit seiner Predigt die Bauern bekehrte, da waren das tote Dörfer und Menschen, die verkommen waren im Alkohol, in Arbeitslosigkeit, im Nichtstun. Da brach das Wort da mitten hinein, und bis heute lebt da eine lebendige, zusammengeschlossene, Gott lobende, Gott heute gemeinsam bekennende Gemeinde. Als ich neulich in einer solchen Gemeinde in Westfalen war, sagte mir der Pfarrer: »Heute nachmittag habe ich gerade Christenlehre gehalten für die konfirmierte Jugend, das waren junge Leute von 14-21 Jahren, da hatte ich dort 270 Jugendliche. Das Dorf hat 1800 Seelen.« Das ist der Segen des Wortes, das da vor 100 Jahren geschehen ist in Minden-Ravensburg, daß heute noch solches Leben da ist und blüht. Oder hat es nicht der alte Bodelschwingh ähnlich gemacht, als er mitten in dieses Leben der Elenden und Verkommenen hinein das Wort Gottes von der Liebe und dem Erbarmen verkündigte? Ist es nicht eine Quelle des Segens geworden für das ganze deutsche Volk? Was für eine Liebesbotschaft, was für ein Ruf zum Erbarmen ist von da ausgegangen! Das ist das große Wagnis, darum meine ich, daß wir in der hervorragendsten aller Zeiten leben, meine Brüder und Schwestern, nämlich dann in der hervorragendsten aller Zeiten, wenn Gott sein Wort wieder hineingibt in das Totenfeld, das wir heute vor uns haben. Einer der Prediger hier aus dem Westen, der Pfarrer Busch in Essen, hat neulich einmal das Wort gesagt: »Wenn das so weiter geht, bekommen wir die größte Erweckungsbewegung seit Jahrhunderten«. Wenn ein Mensch das je einmal erlebt hat, wie ein Wort Gottes zünden kann in einem toten, erstorbenen Herzen, und wie dann Menschen, jung oder alt, anfangen, mit ganz neuem Gesicht den Herrn Jesus Christus zu sehen, ihn zu bekennen, für den Glauben zu leiden, für den Glauben zu streiten, wer das einmal erfahren hat, der weiß: es ist buchstäblich wahr, was hier steht. Das ist unsere Hoffnung. Die Zeit der Tradition ist zu Ende, meine Brüder und Schwestern, Gott hat eine neue Zeit heraufgeführt, eine Zeit des Abfalls und des Unglaubens, aber darum zugleich eine Zeit der
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Verkündigung, der Umkehr, der Buße, der Erweckung, des neuen Glaubens und des neuen Zeugnisses. Wenn Gott redet, dann schafft er nämlich die Gemeinde. Es wird dem Propheten hier gesagt, daß in dem Augenblick, wo er das sagen wird, sich die Knochen mit Fleisch überziehen. Die Gemeinde Gottes lebt nicht im Himmel, sondern Gott gibt ihnen hier die Erde: Du wirst auf Erden eine Gemeinde haben aus Fleisch und Blut! Wir haben ja lange Zeit gar nicht mehr gewußt, was Gemeinde ist. Christen lebten verstreut hier und da, aber man machte in der Öffentlichkeit von seinem Christentum keinen Gebrauch. Wenn Gemeinde entsteht, dann kommen wieder Menschen zusammen aus Fleisch und Blut und geloben sich, treu zu bleiben dem Bekenntnis des Herrn, geloben sich treu zu bleiben dem Evangelium. Wo das Wort Gottes lebendig wird, da sammelt es lebendige Menschen, Menschen des 20. Jahrhunderts, da werden alle die Dinge Gegenwart, die wir sonst nur kennen aus den Geschichten, aus den Erzählungen, aus den Erinnerungen, aus den Kirchenliedern. So wie Gottes Wort Gegenwart wird, so wird auch Kirche Gegenwart. Bekennende Kirche ist gar nichts anderes, als daß Kirche Gegenwart wird, daß wir davon nicht reden, wie von einer alten Zeit, sondern daß wir sagen: »Siehe jetzt, jetzt ist die angenehme Zeit des Herrn! Heute geschiehts«. Das wird dem Propheten verheißen. Und nun das Letzte: Er selbst wird dabei sein als Werkzeug und als Zeuge, mehr nicht. Er predigt und dann tritt er ab, dann hat er nichts mehr zu tun, dann handelt Gott. Und ich sah, und siehe, es wuchsen Adern und Fleisch darauf, es war aber noch kein Odem in ihnen. Und dann ging es wieder weiter: Ich weissagte, wie er mir befohlen hatte, da kam Odem in sie. So geht es uns. Luther sagt einmal: »Wie das Wort Gottes in Deutschland die Kirche reformiert hat, habe ich mit Meister Philipp beim Bier gesessen.« Das ist sehr grob gesagt, er meinte folgendes: Das Wort, das ich verkündigen mußte, das lief, das tat seine Arbeit, und ich war dann von Gott beiseitegestellt, ich war noch Zeuge. Erst war ich Werkzeug, dann war ich nur noch Zeuge, da habe ich gar nichts getan. Das Wort läuft, das Wort gewinnt die Herzen, das Wort bekehrt die Menschen. Das wird dem Propheten gesagt. Jede echte Erneuerung der Kirche, die machen nicht wir Menschen, die machen auch nicht die Prediger, die machen wir nicht mit unserem Einsatz und Opfer, unserem Leiden und Zeugnis, sondern die macht Gott. Und es ist so, als ob das mit diesem Bild noch ganz deutlich gezeigt werden soll, denn nachdem diese Knochen Fleisch und Blut bekamen, und alles gleichsam zusammen ist, da fehlt noch etwas Letztes, da fehlt das Leben. Dazu braucht der Prophet einen besonderen Auftrag für
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das Leben, er muß dem Winde befehlen, daß er kommt. Das ist ein Gleichnis dafür, daß das Leben, das Letzte und Entscheidende bei dem, was geschehen kann, wenn die Kirche neu erstehen soll, daß das vom Geist Gottes kommt. Der Geist Gottes weht, wo er will. Der Wind ist ein Bild für den Geist Gottes. Das ist das Letzte, was wir bitten können: Veni, creator spiritus! Komm, Schöpfer Geist! Wenn der Geist Gottes nicht kommt und wenn er nicht anfängt zu wehen, dann ist unser ganzes Werk umsonst. Niemand von uns weiß, ob wir einer solchen Stunde entgegengehen, da der Geist Gottes wiederkommt und sein Volk anweht, daß sein Volk wieder bekennen kann: Ein Geist, ein Herr, ein Glaube. Daß wir alle, alle eins werden in dem Bekenntnis zu Jesus Christus, dem Herrn. Niemand weiß das. Aber das wissen wir alle, daß, wenn er kommen soll, es nur durch den Geist Gottes kommen und daß wir um den Geist Gottes bitten müssen, ja, mehr noch, daß, wenn es Gott gefällt, wir den Geist Gottes auch in der Tat predigen dürfen, wie es hier dem Propheten gesagt wird: Befiehl dem Winde! Daß einem Mann da geschenkt wird, den Geist Gottes wirklich hineinzutun in das Volk, in die Menschheit. Es gibt Zeiten, die sind geistarm, und es gibt Zeiten, die sind reich an Geist. Wie das aber auch immer laufen wird, meine Brüder und Schwestern, das eine sollen wir uns merken: Die Erweckung der Kirche, die Auferstehung neuen gläubigen Lebens, einer neuen Gemeinde, eines neuen Volkes Gottes, das ist ein Wunder wie die Auferstehung von den Toten selbst; und wer nicht an Wunder glaubt, der kann auch nicht hoffen, der kann auch nicht arbeiten, der wird verzweifeln, der wird selbst in diesem Gräberfeld sterben und umkommen. Und nicht wahr, wenn wir auf Jesus Christus sehen, dann wissen wir: das ist alles wahr. Dieser Prophet ist eigentlich nur ein Zeuge Jesu Christi. So wie seine Auferstehung geboren worden ist aus seinem Tod, so müssen wir alle auferstehen zu Gott, indem wir sterben nach unserm alten Menschen, damit wir bekennen können: Ob auch unser äußerer Mensch vernichtet wird, so wird doch der innere erneuert von Tag zu Tag. Und das gebe uns und dieser Gemeinde und unserer Kirche der gnädige Gott, daß wir dieses erfahren dürfen, damit wir auch bekennen können: Ihr sollt erfahren, daß ich der Herr bin.
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12. Wer auf Erden Richter ist Amos 7,1-9 17. Juli 1955
Der Herr Herr zeigte mir ein Gesicht, und siehe, da stand einer, der machte Heuschrecken im Anfang, da das Grummet aufging; und siehe, das Grummet stand, nachdem der König hatte mähen lassen. Als sie nun das Kraut im Lande gar abgefressen hatten, sprach ich: Ach Herr Herr, sei gnädig! Wer will Jakob wieder aufhelfen? denn er ist ja gering. Da reute es den Herrn, und er sprach: Wohlan, es soll nicht geschehen. Der Herr Herr zeigte mir ein Gesicht, und siehe, der Herr Herr rief dem Feuer, damit zu strafen; das verzehrte die große Tiefe und fraß das Ackerland. Da sprach ich: Ach Herr Herr, laß ab! Wer will Jakob wieder aufhelfen? denn er ist ja gering. Da reute den Herrn das auch, und der Herr Herr sprach: Es soll auch nicht geschehen. Er zeigte mir abermals ein Gesicht, und siehe, der Herr stand auf einer Mauer, mit einer Bleischnur gemessen; und er hatte die Bleischnur in seiner Hand. Und der Herr sprach zu mir: Was siehest du, Amos? Ich sprach: Eine Bleischnur. Da sprach der Herr zu mir: Siehe, ich will eine Bleischnur ziehen mitten durch mein Volk Israel und ihm nichts mehr übersehen. Sondern die Höhen Isaaks sollen verwüstet und die Heiligtümer Israels zerstört werden, und ich will mit dem Schwert mich über das Haus Jerobeam machen. Zwei Fragen können dem Menschen kommen, der einmal auf die Reden der Propheten im Alten Testament stößt. Einmal die Frage, wie ein sterblicher schwacher Mensch solche Gesichte aushalten konnte. Wie Gott es fertig bringt, einen Menschen an jenen Ort zu exponieren, wo das Ende aller Dinge zu sehen ist, auf das der Mensch hinzusehen hat wie bei einer Hinrichtung. Während die anderen Menschen arbeiten oder feiern, kaufen und verkaufen, heiraten und sich heiraten lassen, während all das ihr Leben ausfüllt, was sie nicht auf den Grund, nicht ans Ende, nicht in das Letzte sehen läßt, müssen hier ein paar Menschen hinter den Vorhang sehen. Es gibt einen Vorhang, der viel tiefer und verhängnisvoller ist, als jener eiserne Vorhang, von dem heute die Menschen so viel reden und der auf dem großen Welttheater nach Belieben von den Mächten heruntergelassen und hochgezogen werden kann: es gibt die Decke vor unseren
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Augen, daß wir nicht ins Ende sehen, nicht bis dahin, wo alles dunkel wird. Nicht bis dahin, wo der letzte Feind, wo der Tod sein unbewegliches, sein scheinbar unbewegliches, sein scheinbar ewiges Reich aufrichtet. Wo das Ende als Gericht unserer Verfehlungen sichtbar wird. Das ist der furchtbare Hintergrund für alles, was die Propheten sehen müssen: ein totales Ende, ein Ende ohne Neuanfang! Ein wirkliches Ende. Für sie geht die Weltgeschichte eben nicht weiter, sie scheitert an einer Grenze, die sie den Zorn Gottes nennen. »Es reute ihn, daß er die Menschen gemacht hatte«, das steht auf den ersten Seiten der Bibel. Der Neuanfang, von dem sie zuweilen reden, hebt ganz woanders an. Hier reißt der Faden endgültig ab, der Faden, an dem unser aller Leben hängt. Sie haben den Todesdraht berührt, den wir so gern mit allerlei Mitteln und Mittelchen – es gibt auch kirchliche Mittelchen dieser Art – isolieren und unwirksam machen, damit wir nicht ans Ende sehen. Damit wir nicht bedenken, »wie nahe mir mein Ende«. Propheten sind Menschen, aber ausgesonderte, von Gott für sich genommene Menschen – es gibt Forscher, die die Behauptung aufgestellt haben, daß sie so etwas nur in Israel gefunden hätten und sonst auf der Welt nichts Ähnliches ihnen an die Seite zu stellen sei – also solche Menschen sind die Propheten, die ihr Angesicht dem Entsetzlichen, das für die anderen noch verhüllt ist, zuwenden müssen. Sie müssen Gott hören, sie müssen seine Zeichen sehen, sie mußten stehen bleiben. Irgend etwas hat sie herumgerissen. Sie müssen stehen bleiben und Gott ins Angesicht sehen. Wir müssen nicht! Wir bewegen uns wie wir wollen. Wir sagen heute, was wir glauben, und morgen schweigen wir von dem, was wir glauben. Um zu leben! Wir wissen, was wir heruntergeschluckt haben, nur um zu leben. Aber Propheten leben davon, daß sie nicht schweigen können. Sie müssen reden. »Der Löwe brüllt, wer sollte sich nicht fürchten? Der Herr redet, wer sollte nicht prophezeien?« So, wie wenn der ohnmächtige Mensch in der Wüste den Löwen brüllen hört in dunkler Nacht, daß ihm alle Glieder im Leibe erzittern, so vernimmt der Prophet den Spruch, den er weiterzugeben hat. Er ist ein Berufener, gewiß, aber sein Beruf ist eine Sache eigener Art. Prophet sein ist nicht so ein Beruf wie man Monteur oder Chauffeur, wie man Physiker oder Chemiker wird, aber auch nicht ein Beruf, wie man Pfarrer in einer Landeskirche oder Geistlicher mit dem character indelebilis wird. Berufung von Gott her bedeutet ihnen etwas anderes: Einen Bruch, einen totalen Bruch in ihrem Leben. Diese Leute müssen alle Brücken hinter sich abbrechen. Sie müssen alles verkaufen, was sie haben! Sie müssen in sich sterben, um ganz Organ, Mund, Werkzeug in eines Höheren Hand zu sein. Es paßt uns vielleicht nicht, daß es solche
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einzelne, besondere, abgesonderte, solche Auserwählten gibt – aber wie wir auch die Sache in unserer Weltanschauung und in unserem kirchlichen Betrieb unterbringen, unser Prophet Amos war in dem kirchlichen Betrieb von Beth-El nicht unterzubringen. Ein Prophet wäre nicht das, was er ist, diese Stimme eines Schreienden in der Wüste unserer Welt, wenn es Gott nicht gäbe und wenn dieser Gott nicht eben ganz anders, viel mehr zu fürchten und viel mehr zu lieben wäre, als wir uns das denken können. Wenn Gott etwas allgemein Bekanntes, etwas allgemein Einsichtiges, etwas traditionell Festliegendes wäre, kirchlich approbiert, dann wären diese Propheten Narren, die man ins Kloster oder ins Irrenhaus steckt. Aber Propheten sind das Zeichen, daß Gottes Sein ein spezielles Sein ist, daß er wacht, wenn alles andere schläft, daß er richtet, wenn jeder meint, die alte Schuld sei vergessen, daß er nicht tot ist, sondern lebt! Darum geht es bei den Propheten. Sie stehen zwischen Gott und uns. Sie gehören in unsere Welt, aber sie sind nicht von unserer Welt, durch sie begegnet uns der wirkliche, der nicht ausgedachte, der in seiner Wirklichkeit lebendige, unheimliche Gott. So stehen sie mitten unter uns. Fremd, aber nur darum fremd, weil wir Gott entfremdet sind. Narren, aber nur darum Narren, weil wir Torheit zur Weisheit gemacht haben. Ausgesonderte, aber nur darum ausgesondert, weil wir uns gegen Gott immun gemacht haben. Sie aber hat Gott selbst daran erinnert, daß er lebt. Daß er Gott ist. Des zum Zeichen stehen sie unter uns. Aber wie und wodurch stehen sie denn als Sprecher Gottes mitten unter uns? Das ist die zweite Frage, die heute morgen unter uns aufgeworfen werden soll. Sie stehen unter uns, weil es ein Buch gibt, wo ihre Stimme nach ihrem Tode, ihrem Verkanntsein, ihrem Untergang – laut wird, von wo sie die Gemeinde Jesu erreicht. Dies Buch ist darum ein so einzigartiges Buch, weil in ihm der verloren gegangene und verworfene Ruf der Propheten neu zum Leben gekommen ist. Weil darin etwas kraft der Auferstehung von den Toten mächtig ist und darum das weiterlebt, was in seiner Zeit und zu seiner historischen Stunde keinen Raum in der Herberge fand. Hier ist Raum geschaffen, Raum, daß diese Stimme neu erklingt, Raum, in dem sie erklingt und erklingen wird bis zum jüngsten Tage. Zum Heil der Welt, damit Gottes Wort doch in ihr bleibe. Das ist die Bibel. Ein wunderbarer, ein von Gott selbst gefertigter Raum für sein Wort, damit die verworfenen, die im Jetzt und Heute ihres Lautwerdens von den Mitmenschen verworfenen Stimmen seiner Knechte nicht verloren wären. Kraft der Bibel bleibt die Stimme der Propheten mitten unter uns und in ihnen die Stimme und der Ruf unseres Gottes. Mögen wir sie verwerfen – sie sind längst verworfen – aber sie verstummen nicht mehr. Mögen wir diese Stimme stumm
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machen, wie Kain den Abel stumm machte, sie schreit umso lauter. Sie muß ja schreien. Denn wo Gott redet, hat der Tod und das Stumm-Sein seine Macht verloren. Darum müssen diese Stimmen leben, auch wenn wir uns vor ihnen die Ohren zu halten, wenn wir ihre Schrift ins Feuer werfen und ihr Zeugnis aus dem Bereich des Heiligtums verbannen. »Stimme eines Rufenden in der Wüste.« Diese Stimme reißt nicht ab, sie ist lauter, unausrottbarer als die Stimme des Gewissens. Sie pflanzt sich fort, von Verworfenwerden zu Verworfenwerden, von Scheitern zum Scheitern. Aber sie lebt! Sie ist die einzige, die die Katastrophe überleben wird. Die das Wort des Lebens bleibt, wenn Himmel und Erde vergehen. Wie ein Fluß aus vielen Rinnsalen wächst, wie er breiter und mächtiger wird, so schwillt die Stimme an in der Schrift. Wie ein Fluß zuweilen unterirdisch verdeckt fließt, geborgen in starrem Gestein, so lebt sie zuweilen fort als Gesetzesreligion, dann aber wieder ist sie da, alle Formen sprengend, neue Formationen schaffend, ein Strom, der das Land überflutet – so geht es mit dieser Stimme der Propheten; sie geht weiter, ihr Zeugnis reißt nicht ab, bis es einmündet in das Wort dessen, der mehr ist als ein Prophet. Einmündet in das Wort dessen, den sie alle meinten, von dem her sie alle leben. Die Bibel hat noch ein anderes, ein besseres Bild für diesen Fortgang, Markus 12,1-12: »Ein Mensch pflanzte einen Weinberg und führte einen Zaun darum und grub eine Kelter und baute einen Turm, und tat ihn aus den Weingärtnern und zog über Land. Und sandte einen Knecht, da die Zeit kam, zu den Weingärtnern, daß er von den Weingärtnern nähme von der Frucht des Weinbergs. Sie nahmen ihn aber und stäupten ihn und ließen ihn leer von sich. Abermals sandte er zu ihnen einen anderen Knecht; dem zerwarfen sie den Kopf mit Steinen und ließen ihn geschmäht von sich. Abermals sandte er einen anderen, den töteten sie; und viele andere, etliche stäupten sie, etliche töteten sie. Da hatte er noch einen einzigen Sohn, der war ihm lieb; den sandte er zum letzten auch zu ihnen und sprach: Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen. Aber die Weingärtner sprachen untereinander: Dies ist der Erbe, kommt, laßt uns ihn töten, so wird das Erbe unser sein! Und sie nahmen ihn und töteten ihn und warfen ihn hinaus vor den Weinberg. Was wird nun der Herr des Weinbergs tun? Er wird kommen und die Weingärtner umbringen und den Weinberg andern geben. Habt ihr nicht gelesen diese Schrift: ›Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden; von dem Herrn ist das geschehen und es ist wunderbarlich vor unseren Augen.‹ Und sie trachteten darnach, wie sie ihn griffen, und fürchteten sich doch vor dem Volk; denn sie verstanden, daß er auf sie dies Gleichnis geredet hatte; und sie ließen ihn und gingen davon.«
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Das ist die Bibel. Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist hier zum Eckstein geworden. Der neue Bau, den Gott baut, wo seine Wahl gegen unsere Wahl steht, sein Urteil über unser Urteil. Weil es Gottes Bau ist, den wir hier vor uns haben, darum reden die, denen man einst den Kopf abgeschlagen hat, und die, die ihn damals behielten, sind längst verstummt. Ihre Weisheit ist nicht Weisheit geblieben. Ihr König war nicht der unsterbliche, ihr Herr nicht der Herr des Lebens. Darum ist ihr Lohn dahin. Geblieben sind die Verworfenen, die Umgebrachten, die zu Boden Geworfenen! Geblieben ist das Soli Deo Gloria! So rein und so ihn, den Herrn allein bezeugend, daß wir immer wieder begreifen, hier wird vom andern Ufer her geredet, nicht vom Menschen sondern wirklich von Gott her. Es ist schon ein bißchen so, wie Conrad Ferdinand Meyer den Lobgesang der Stummen schildert: Wir singen ohne Kehlen wir sitzen ohne Schädel da wir singen mit den Seelen ein schallend Deo soli gloria! Und nun wollen wir hören, was der Prophet Amos gesehen hat. Wollen es hören, so daß alle anderen Stimmen um uns her einmal stille sein müssen. Wollen es hören am Vorabend des Tages, da sich in Genf die Männer versammeln, die man die Mächtigen nennt, und das Volk, das verschmachtet vor Angst der kommenden Dinge, zu diesen aufsieht, als könnten sie mehr als Menschen können. In dieser Stunde soll der Prophet Amos unser Mund sein und wir wollen Gott bitten, daß wir ihn nicht nur hören, wie ihn das Volk oder der Priester Amazja hörte, sondern so, daß wir durch ihn begreifen: die Torheit Gottes ist weiser als die Menschen sind und die Schwachheit Gottes ist stärker als die Menschen sind. Amos hören, das heißt aber: unsere Augen dorthin richten, wohin der Finger des Propheten weist. Nicht das sehen, was uns hier umgibt, das festliche Leben eines Feiertages, nicht die geschminkten Angesichter und das köstliche Geschmeide, nicht die Ringe und die Haarbänder, nicht die Feierkleider, die Mäntel und die Beutel, wir sollen unsere Augen nicht aufheben zu den hohen Zedern auf dem Libanon und auf die Eichen in Basan, denn es kommt der Tag, da »sich bücken muß alle Höhe der Menschen und sich demütigen müssen, die hohe Männer sind«, wie das ein anderer Prophet dem Amos gleich in Jerusalem gesagt hat. Wenn wir uns dorthin stellen, wo Amos steht, dann werden unsere Augen ein anderes Bild sehen. Sie werden sehen, daß über unserer ganzen Welt, über ihren
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Parlamenten und Börsen, über dem Treiben der Großen und dem Getriebensein der Kleinen eine dunkle Wolke steht, daß diese unsere Zeit einen bedrohlichen Horizont hat, daß die Welt nicht unendlich ist und ihre Tage richtbar sind. Wir werden sehen, daß die sich irrten, die meinten, wir lebten in unserer Welt wie in einem perpetuum mobile, einer ungeheuren Maschine, die einmal aufgezogen und richtig bedient unendlich läuft. Wir werden das Wunder des Lebens schauen und werden erkennen, daß der Baum des Lebens immer noch in Gottes Garten steht und nicht in unserem steht. Leben gibt uns das Wissen um Gut und Böse nicht, und das Leben ist immer noch mehr als die Speise. Wir werden sehen, daß allein eine Hand als die aufhaltende Hand dazwischen greift und wir werden diese Hand erkennen und werden sie ergreifen und nicht mehr lassen, wir werden uns an sie klammern und wissen, wenn wir diese Hand ergreifen, daß wir sicher gehen und nicht fallen werden. Und mehr noch: Wir werden sehen, daß es eigentlich nur ein Wunder gibt im Himmel und auf Erden, das Wunder von Gottes Barmherzigkeit! Das Wunder seines Gnadenbundes mit uns halsstarrigen unbußfertigen, bald so verzweifelten und bald so leichtsinnigen Menschen auf Erden. Das »es gereute Gott«. Und daß wir alle davon leben, daß Gott sich sorgt, daß Gott sich grämt, daß er seinen Gerichten noch keinen Raum gibt und er die Zeit, die wunderbare, alles Wachsen und Werden ermöglichende Zeit ausspart, damit – ja, damit wir eben erkennen, wer auf Erden Richter ist. Das erste Bild, das wir zu sehen bekommen, ist einer, der macht Heuschrecken. Er fabriziert sie. Und während er diese Heuschrecken macht, setzt gerade das Gras zum zweiten Keimen an, nachdem der erste Schnitt dem Könige eingebracht ist für sein Heer und seinen Hof. Der zweite Schnitt ist für das Volk. Von ihm hängt das Leben des Volkes ab. Und wie das der Prophet sieht, da erschrickt er bis ins Mark und fleht Gott an, denn Gott ist offenbar der, der dieses Unheil fabriziert: Habe doch Mitleid mit diesem kleinen Land, diesem Jakobsland, was soll denn übrig bleiben von diesem Rest, der gerade noch steht. So könnten wir lernen, wie man mit Gott umgeht. Amos hätte ja auch ganz anders reden können – und wahrscheinlich haben sie auf jenem Nationalfeiertage in Beth-E1 ganz anders geredet. Er hätte doch von der Berufung Israels reden können, von seinen großen Traditionen, vom König David und daß ja hier in Israel der Gottesdienst des einen, des lebendigen, wahren Gottes aufgerichtet ist. Es ist den Auslegern immer schon aufgefallen, daß Amos das nicht tut. Kein Wort von Israels Berufung. Sondern allein diese Gebetsruf: Herr Jahwe, vergib doch! Wie kann Jakob bestehen, da er so klein ist. Wenn wir das doch ler-
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nen könnten: uns ganz auf Gottes Barmherzigkeit, ganz auf dieses eine »Erbarme dich« zu verlassen. Die Heuschrecken sind das Sinnlose, Schreckliche, das dem Menschen aus der belebten Natur, aus der Tier- und Menschenwelt begegnen kann. Sie sind der Fluch, mit dem Ägypten geschlagen wird, und sie sind das Sinnbild der Horden, die die Kulturwelt bedrohen in den Bildern des letzten Buches der Bibel, Offenbarung 9,3-9: »Und aus dem Rauch kamen Heuschrecken auf die Erde; und ihnen ward Macht gegeben, wie die Skorpione auf Erden Macht haben. Und es ward ihnen gesagt, daß sie nicht beschädigten das Gras auf Erden noch ein Grünes noch einen Baum, sondern allein die Menschen, die nicht haben das Siegel Gottes an ihren Stirnen. Und es ward ihnen gegeben, daß sie sie nicht töteten, sondern sie quälten fünf Monate lang; und ihre Qual war wie eine Qual vom Skorpion, wenn er einen Menschen schlägt. Und in den Tagen werden die Menschen den Tod suchen, und nicht finden; werden begehren zu sterben, und der Tod wird vor ihnen fliehen. Und die Heuschrecken sind gleich den Rossen, die zum Kriege bereitet sind; und auf ihrem Haupt wie Kronen, dem Golde gleich, und ihr Antlitz gleich der Menschen Antlitz; und hatten Haare wie Weiberhaare, und ihre Zähne waren wie die der Löwen; und hatten Panzer wie eiserne Panzer, und das Rasseln ihrer Flügel wie das Rasseln an Wagen vieler Rosse, die in den Krieg laufen …« So ist dieses Wort der Inbegriff alles Schrecklichen geworden, das sich aus der belebten Natur gegen die Natur erhebt. Wir kennen diesen Aufstand von unten her, das Auftreten von Wesen, denen alles Menschliche fremd geworden ist, die Freude haben zu quälen und zu vernichten und die dem Menschen nicht einmal den Tod gönnen. Wir haben sie in unserer Mitte gehabt! Wir verstehen den Schrei des Amos: Ach Herr, laß ab! Und von derselben Hand weggenommen, die sie bildet, sind sie auf einmal nichts mehr und das Gras blüht und die Menschen können es haben und das Leben ist wieder schön geworden. Wir merken wohl, daß das zweite Bild dem ersten ähnlich ist, es ist aber noch viel schrecklicher. Es ist das Feuer, das jetzt der Erde droht. Das Feuer, das die Gründe austrocknen wird, aus denen das Wasser und die Quellen strömen, das Feuer als der Feind alles Lebens, das den Acker verdorren macht und alles Leben tilgt. Wir wissen ja heute, daß es so etwas gibt und werden nicht mehr so vornehm und blasiert über diese mythologischen Vorstellungen der Bibel und jener Menschen aus grauer Vorzeit lächeln. Wenn man die Menschen einmal gesehen hat, wie sie sich duckten und wie sie den ersten Menschen gleich zitterten, wenn Feuer vom Himmel fiel, wenn man die Starken und Uniformierten einmal unter diesem Feuer hat
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laufen sehen, einfach laufen um ihr Leben, wenn man sie hat verschmachten sehen im Durst und Brand, wo kein Wasser mehr da war, wenn man dies alles mit einem guten Gedächtnis und einem einigermaßen wachen Verstande hat sich in unserer Mitte, jawohl mitten im 20. Jahrhundert – sich ereignen sehen, dann wird man mit anderem Ernst an die Seite des Amos treten und begreifen, daß seine Augen gebannt sind von diesem furchtbaren Gesicht und sein Herz bewegt ist im Jammer um diese schöne Welt – die Welt am ersten Schöpfungstage, aber am letzten Tage wird das Licht des ersten Feuer sein und wir werden alle darin geprüft werden. Und wer je schon einmal die Anfechtungen dieses Lebens wirklich geschmeckt hat, wer je einmal die Schuld vor Gott und Menschen kostete, das Schuldig-geworden-sein an ihrem Leib oder auch an ihrer Seele, wer das je einmal begriffen hat, daß durch ihn ein anderer um die Freude des Lebens kam, um die Freude des Erkennens der Wahrheit, um die Freude des Glaubens an Gott, wer je einmal den Tod zu schmecken bekam und wohl gar ein Bündnis mit dem Tode machen mußte, einen »Vertrag mit dem Tode«, wie das die Bibel nennt, ein Staatsmann oder ein Parlamentarier, vielleicht auch ein leichtfertiger Redner oder ein waghalsiger Abenteurer, der hinterher sieht, was er angerichtet hat: der weiß, was das Feuer der Anfechtung bedeutet. »Denn meine Tage sind vergangen wie ein Rauch und meine Gebeine sind verbrannt wie ein Brand« (Ps 102,4). Dieses Feuer ist viel schrecklicher als alle jene Bilder von unheimlichen Tiergestalten. Das Feuer kann den Menschen von innen her ergreifen und zerstören. Das Feuer, das der reiche Mann am Orte der Qual zu erleiden hatte, und das Feuer, das dem droht, der zu seinem Bruder sagt: Du Gottloser! Aber auch hier greift jene Hand ein, die wir schon einmal am Werke sahen, das Feuer wird zurückgenommen an seinen Ort und die Welt darf leben. Der Mensch darf froh sein und leben. Denn Gott ist ein Liebhaber des Lebens. Nun aber kommt ein drittes Bild. Dasselbe Bild kommt zum dritten Male. Hier freilich fehlt das Aufhaltende. Das hat von jeher die Ausleger gewundert. Man kann es schwer erklären. Aber vielleicht ist es so: Was dort an großen, umfassenden Bildern geschah und gesichtet wurde, das wird nun an einer Stelle zum Ereignis. Jetzt wird auch das Königshaus genannt und das Gericht vollzogen. Hier sind alle Figuren deutlich zu erkennen: Hier steht der Herr mit einer Richtschnur oder einer Axt in der Hand und trägt die Mauer ab, die man aufgerichtet hat. Hier wird Gericht gehalten. Hier ist es nicht das Feuer und nicht die Kreatur, von der aus Gerichte drohen, hier ist der Herr selbst in seinem Haus zugegen und beginnt das Gericht am Hause Gottes selbst.
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Hier kein: Es gereute … Gericht an Jerobeam. Damit wir glauben! Mitten im Gericht festhalten an dem: Es gereute Gott. Wissen: unsere Zeit ist befristete, ist Gnadenzeit, Versöhnungzeit.
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13. Frieden machen Matthäus 5,9
Selig sind die Friedfertigen, denn sie sollen Gottes Kinder heißen.
I. Heil euch Das Wort, das wir eben gehört haben, stammt aus den Seligpreisungen, die am Anfang der Bergrede stehen. Das Wort »selig« trifft vielleicht nicht ganz den Ton dessen, was in diesen kurzen, aber unvergeßlichen Sätzen gemeint ist. Gemeint ist das, was wir mit dem Rufe Heil bezeichnen. Heil euch! Wohl euch! Gemeint ist, daß das Wohlgefallen Gottes über ganz bestimmten Menschen steht und diese Menschen werden hier aus der Masse besonders aufgerufen. Es ist, als ob mit diesem Rufe Jesu ein heller Lichtstrahl auf diese Menschen fiele, die nach unserer sonstigen Wertung und Gepflogenheiten, nach den Gesetzen, die in unserer Gesellschaft gelten, gar nicht in einem solchen hellen und strahlenden Licht stehen, sondern viel eher als Sonderlinge erscheinen, in die Ecke gedrängt sind, weil sie den anderen Menschen zu unpraktisch, zu seltsam, zu weltfremd erscheinen. Ihnen gerade gilt der Heil-Ruf. Heil euch! Und wenn wir uns von den Worten Jesu die Richtung weisen lassen, wer das eigentlich ist, die er damit anredet, die er als die anredet, die seine Sendung und seine Worte verstehen, dann treten Menschen heraus, von denen wir dann doch vielleicht sagen werden, daß sie die Umgebung Jesu ausmachen, daß er sich gerade mit ihnen umgibt und umgeben will. Da sind die Armen im Geist, eigentlich Bettler um den Geist, Menschen, die wissen, daß es auf den Geist ankommt, auf Gottes Geist, auf dieses eine und einzige, was wir uns unter keinen Umständen nehmen können – und ohne den wir doch auch in unserem besten Leben nichts sind. Und da sind die Leidtragenden, die das Leid nicht umgehen oder von sich abwerfen, sondern die es gezeichnet hat. Vielleicht ihr eigenes Leid, vielleicht aber auch das der anderen, der Fremden, der Verstoßenen und Entrechteten, der Kinder, der Schwachen. Ach, nicht wahr, es gibt so viel Leid in der Welt, aber es gibt sehr wenig Menschen, die es tragen. Und dann sind da die Sanftmütigen, die etwas davon wissen, daß Gewalt nichts behält, was sie sich errafft und erbeutet. Nein,
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sie, die Sanftmütigen, die die Wunden verbinden und das geknickte Rohr wieder aufrichten, sie werden das Erdreich besitzen. Hier reichen die Verheißungen Jesu auf einmal ganz tief herunter auf die Erde, dahin, wo wir unser Leben und Treiben haben, wo der Kampf der Mächtigen und der Rücksichtslosen um die Futtertröge ausgefochten wird. Dahinein kommt dieser Heilandsruf: Heil den Sanftmütigen! Und dann sind da die Barmherzigen. Die sich noch erbarmen können, die an dem unter die Räuber Gefallenen nicht einfach vorüber gehen, die noch ein Mitleiden kennen mit all denen, die da am Boden liegen. Und dann noch jene Menschen, die sich nicht abgefunden haben mit dem, wie es auf Erden aussieht, sondern die nach Gerechtigkeit hungert. Deren Gewissen nicht zur Ruhe kommt über dem, was nun einmal so ist, über dem, wie es die Menschen immer gehalten haben, sondern das fragt, wie es sein sollte; wie das Miteinander-Sein der Menschen von dem her gemeint ist, der sie füreinander geschaffen und ihnen diese Erde mit allen Schätzen und Herrlichkeiten gegeben hat. Es gibt solche Menschen. Gott sei Dank, daß es sie noch gibt, die nach Gerechtigkeit hungern. Die wissen, daß sie sonst nichts satt macht, daß sie sich nicht freuen können, solange der arme Lazarus draußen vor der Tür liegt. Gerechtigkeit! Das müßte zu finden sein, wenn die menschliche Gesellschaft wirklich leben und nicht nur vegetieren sollte.
II. In der großen Gemeinde Mitten unter diesen Menschen, die uns Jesus hier zeigt, die er gerufen, die er sich erwählt hat, stehen dann auch, als die letzten und vielleicht eben damit als die, in denen sich das noch einmal alles zusammenfaßt: die Friedfertigen. Und das muß man erst einmal sehen: Sie stehen nicht allein, sie stehen in einer großen, wunderbaren Gemeinde. Sie müssen aber auch darin bleiben, sie dürfen sich nicht aus dieser Schar ihrer Geistesverwandten entfernen. Sie dürfen nicht die Barmherzigen verachten oder die Sanftmütigen bespötteln oder die, die nach dem Geist verlangen, als weltfern verachten. Es ist eine Gemeinschaft, es ist ein Volk, und es sind die Menschen, in deren Mitte Jesus steht. Die er anspricht; denen er das Heil zuruft; über denen er das Licht aus der Höhe aufgehen läßt. Denn Jesus, das heißt die Nähe Gottes zu uns. Wir wissen ja ganz genau, daß wir es immer gern anders möchten. Wir vermuten Gott meistens anderswo. Aber Jesus sagt es eben mit diesen seinen Worten, daß hier das Heil ist und dort das Unheil. Daß Gott eben nicht dort ist, wo man ihn gern dabei haben
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möchte, bei unserer Weisheit und unserer Kraft, sondern daß Gott sich die Seinen ganz frei erwählt und daß es ganz bei ihm steht, wen er seine Kinder nennt und wem er das Himmelreich, die Gottesherrschaft verheißt. Das steht bei ihm und nicht bei uns. Das können wir auch nicht aus dem ablesen, was hier als Zeichen von Glück und Segen, von Tugend und Güte gilt. Wir können das eigentlich nur an Jesus ablesen. Jesus, das heißt aber immer der Gekreuzigte und Auferstandene! Als der Gekreuzigte, das heißt aber: in ihm hat Gott Gericht gehalten über alles Große und Gewaltige, über alles, was sich selbst erhebt und seine Weisheit und Kraft für etwas hält. Und eben damit ist das andere, das Demütige und Sanfte, das Barmherzige, das Suchende und Fragende, also all das, was in sich eigentlich gar nichts ist, was nur von sich selbst wegweist, auf etwas anderes, Größeres, Besseres und Gewaltigeres hinweist – das eben ist damit gerechtfertigt. Das bekommt von Gott her in Jesus Christus sein Ja. Heil euch! Ihr seid auf der rechten Bahn. Euer Leben ist nicht umsonst, nicht leer, nicht vertan an die Schätze, die die Motten und der Rost fressen, sondern euer Tun und Lassen – gerade auch euer Lassen, euer Nicht-mit-tun, eure dann und wann gebotene und ins Auge fallende Separation – sie sind gerechtfertigt.
III. Das Heil nicht selbst erwählt Wir werden das nicht so verstehen dürfen, als ob wir uns selbst das Heil sagen, als ob das einer dem anderen zusprechen könnte. Als ob es hier um bestimmte Tugenden und Leistungen ginge und Jesus käme nur, um uns dafür auszuzeichnen und zu prämieren. Nein, wir bedürfen jenes Heilsrufes. Wir können uns das nicht selbst sagen, auch nicht einer dem anderen. Wir wissen ja nicht, ob wir recht haben, ob unser Weg wirklich der rechte ist. Alle diese Menschen, von denen wir vorhin gehört haben, sind solche, die sich das Heil nicht selbst nehmen oder zuschreiben. Täten sie das, so wären sie schon nicht mehr die, zu denen Jesus kommt. Sie brauchten keinen, der sich ihrer erbarmt. Sie wären in sich so sicher, so befriedigt, so gefestigt, daß sie das Heil Gottes höchstens noch als Bestätigung ihres Selbstbewußtseins vernehmen würden. Es gibt so etwas. Es gibt solche Menschen, auch fromme, demütige, friedliebende Menschen, die aber nicht auf das Heil von Jesus her angewiesen sind, sondern es sich selbst längst zugesprochen haben. Und sie wissen gar nicht, daß sie sich damit um das Allerbeste gebracht haben. Sie haben dann wirklich ihren Lohn dahin. So müssen wir den Heilsruf verstehen: daß er über diese Menschen kommt, ohne daß sie ahnen und wissen, warum sie so ausgezeichnet, so
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hervorgehoben werden. Das ist Gnade! Und das ist Gott! Und das heißt in der Gotteswelt leben, daß uns Gott immer so unverdient gnädig, so wunderbar, so fern und dann doch wieder – in Jesus – so nahe ist. Wir werden dann auch eingestehen dürfen, daß wir dieses »Heil euch« nicht immer vernehmen, nicht immer verstehen, nicht immer glauben. Auch im Leben der Sanftmütigen, der Friedfertigen, der Barmherzigen wird es Stunden geben, in denen der Heilsruf Jesu uns ganz ferne gerückt erscheint. Da sind dann ganz andere Stimmen da. Da will es uns zuweilen erscheinen, als wäre jener Weg eben doch der Weg von Narren oder von Schwachen oder eben von Illusionisten. Darum brauchen wir es, daß uns von Jesus her dieser Ruf neu trifft, daß er durchbricht durch das ganze Stimmengewirr um uns her und uns sagt: Nein, Gott ist mit euch. Gott ist nicht neutral. Gott hat einen bestimmten Willen und für die Menschen einen bestimmten Weg. Es gibt bei Gott ein Nein und ein Ja, es gibt bei ihm Verwerfung und Erwählung. Es gibt Wehe und Heil. Laßt euch das Ziel nicht verrücken. Die, die Gott sich erwählt hat, denen er das »Heil euch« zuruft – in Jesus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen –, die kann kein Mensch und keine Zeit und keine Weltanschauung und kein Wandel der Zeit auswechseln. Es sind die Seinen. Es sind die, zu denen Jesus gesandt ist. Es wird wichtig sein, daß wir das gerade bei den Friedfertigen nicht vergessen. Sie stehen ja heute wieder einmal in einem auch für sie selbst nicht immer leicht zu ertragenden Zwielicht. Oft auch mitten im Kreise derer, die auch zu Jesus »Herr« sagen. Wer heute wirklich ernst macht mit dem Werk des Friedens, der wird sehr bald erfahren, wie nötig es ist, sich immer wieder das »Heil euch« deutlich zu machen, sich immer wieder daran zu halten und darauf auszurichten, daß ja dieser Ruf und diese Bestätigung von Jesus kommt. Wir brauchen diesen Zuspruch, diesen höchsten und letzten Trost, vielleicht haben viel zu viele unter denen, die mit Ernst den Frieden suchten, das unterschätzt. Vielleicht haben sie gemeint, das Werk als solches gebe uns die letzte Befriedigung; und wenn dann die Enttäuschungen kommen, wenn plötzlich die Großen in der Welt und in der Kirche ihre Sprache wechseln, wenn auf einmal die Friedfertigen nicht mehr die Anerkannten und Geehrten sind, sondern vielleicht die Verfolgten und Verdächtigten – dann schwindet dieser Trost. Wenn es Jesus nicht gäbe und seine Wahl, seine Entscheidung, dann hätten wir in solcher Stunde nichts.
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IV. Die Friedfertigen Wer aber sind denn diese so von Jesus Angeredeten? Wir dürfen uns nicht täuschen lassen durch die Sprache. Die lateinische Bibel hat hier das Wort: Pacifici. Das ist die genaue Übersetzung dessen, was wir im Griechischen finden. Gemeint sind also die, die den Frieden bringen, ihn zu Wege bringen, ihn schaffen. Friedfertig kann ja auch etwas ganz anderes bedeuten. An Menschen, die zwar friedlich sind, aber so friedlich, daß sie allem Kampf aus dem Wege gehen, hat Jesus bestimmt nicht gedacht. Denen gilt das andere Wort, daß er nicht gekommen sei, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Ach, es gibt genug solche ohnmächtig den Frieden liebenden und wünschenden Menschen, die aber nichts dazu tun, um ihn zu realisieren. Gemeint sind hier solche Menschen, die es sich angelegen sein lassen, für den Frieden zu sorgen, zu wirken, sich dafür einzusetzen. Die in diesem Kampf um den Frieden nicht abseits stehen. Die da, wo Kämpfe und Gegensätze aufbrechen, nicht um ihrer eigenen Ruhe willen einen großen Bogen um jenen Kampfplatz machen, sondern die mitten dazwischen treten, zwischen die beiden streitenden Parteien, zwischen die Fronten, die sich selbst zum Opfer bringen, indem sie in das Niemandsland hineintreten, wo sie ganz ohne Schutz sind. So ein Friedensverwirklicher, ein »Aktivist« in diesen Dingen des Friedens sein, das ist schon eine schwere und gefährliche Angelegenheit. Und doch steht jenes »Heil euch« aus dem Munde Jesu darüber. Als ob er sagen wollte – und er will das gewiß auch sagen und so haben sie ihn dann auch verstanden –, daß wir mit solchem Frieden-Stiften in seine Nachfolge eintreten. Daß es also dabei um dieses große und für uns alle immer wieder unmöglich erscheinende Werk der Nachfolge Jesu geht. Denn er hat wirklich Frieden gemacht. Nicht nur zwischen Gott und Menschen, zwischen dem Himmel und der Erde – wir ahnen ja noch kaum, was das bedeutet –, sondern auch zwischen den Nahen und den Fernen, zwischen denen, die Gottes Hausgenossen sind und denen, die es eben nicht sind. Er hat letzten Endes auch den Frieden gemacht, der zwischen Dir und Mir besteht, zwischen einem Menschen und seinem Bruder, er sei, wer er wolle. Wo immer echter, gegen alle Entzweiung gesicherter Friede ist, da haben wir Jesu Werk vor uns. So wie Jesus etwas gemacht, was so nicht war, so wie er mitten hineingetreten ist in den Unfrieden, in den Kampf und Gegensatz, so müssen das die rechten Friedensstifter auch tun. Sie müssen vor allem glauben, daß es geht. Sie dürfen die Endgültigkeit der Gegensätze nicht stehen lassen. Ich denke hier etwa an das, was uns einmal über solche Gegensätze der Rassen oder auch der Klassen gesagt ist. Wer sich damit abfindet, der hat bereits vor dem ent-
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scheidenden Schritt – dem Glauben, daß es eben keine letzten Gegensätze sind – kapituliert. Und nun wollen wir uns einmal ein paar solcher Gegensätze ansehen: Kalter Krieg Gut und Böse Ich und Du Dagegen: Neuer Geist – Pfingsten Schuld aller Mitmenschlichkeit Gottes Söhne! die sein Werk tun sein Werk: Frieden.
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14. Was möglich und was unmöglich ist Matthäus 5,13-15
Ihr seid das Salz der Erde. Wo nun das Salz dumm wird, womit soll man’s salzen? Es ist hinfort zu nichts nütze, denn daß man es hinausschütte und lasse es die Leute zertreten. Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein. Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter, so leuchtet es denn allen, die im Hause sind. Zuerst: was möglich ist. Es ist möglich, daß das Salz untauglich wird. Gerade das sagt Jesus seinen Jüngern. Auch die jüdischen Rabbinen kannten ein ähnlich lautendes Wort. Sie wollten damit sagen: So unersetzlich das Salz ist, so unersetzlich für die Welt sind wir. Jesus sagt der Gemeinde gerade das Gegenteil. Es kann das unmögliche möglich werden, das Salz kann untauglich werden. Dann ist es zu nichts mehr nütze denn zertreten zu werden. Salz der Erde zu sein und zertreten zu werden, das ist der entscheidende Unterschied. Ihr seid das Salz der Erde – heißt: die Menschen werden euch schmähen und verfolgen um meinetwillen. Die Erde wird mit meinem und eurem Kreuz gesalzen werden. Dann erst ist sie schmackhafte Speise für Gott. Die Leiden der Christen sind das Salz der Erde, das sie vor Fäulnis bewahrt. Aber eine Jüngerschar, die sich meiner und meines Namens schämt, ist so verloren, wie Salz, das nicht mehr salzt. Sie soll zertreten werden. Und dann: was unmöglich ist. Unmöglich ist, daß die Bergstadt verborgen bleibt. Die Stadt Gottes, die Kirche kann nicht – auch wenn sie wollte – verborgen bleiben. Gott hat seine Stadt nicht hinterm Wald oder im Tale angelegt, sondern auf dem Felsen. Da wohnt ihr alle. Darum, wo Kirche ist, da ist auch öffentliches Bekenntnis des Heils. Markus hat das Jesuswort vom Licht unterm Scheffel drastisch überliefert: Man zündet kein Licht an, um es unters Bett zu setzen. Nicht wahr, wir verstehen: der Bekenner unterm Bett! Das lumen internum! Das innere bei-der-Sache-sein! Jesus sagt zu all diesen Lichtkünstlern: Es ist unmöglich, was ihr versucht. Entweder die Kirche ist das Licht der Welt, dann wird sie auch keine Verdunkelungsübung vor dem Angriff schützen. Sie liegt am exponierten Punkt.
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Matthäus 5,13-15
Oder sie hat ihr Licht so verborgen, daß es niemand sieht; dann seid gewiß, da ist bereits alles erloschen. Dieses Licht ist nur ein Traum. Diese beiden Dinge sagt Jesus uns: Was ihr für unmöglich haltet, gerade das ist von Gott gesehen möglich – das Salz kann dumm werden. Die Kirche kann aufhören, Salz der Erde zu sein. Die echten Zweige können ausgebrochen werden. Gott ist nicht auf euch, sondern ihr seid auf Gott angewiesen. Er kann sich aus Steinen Kinder erwecken. Darum vertraut nicht allzusehr, nein, vertraut gar nicht auf die »Unersetzlichkeit« der Kirche. Und ebenso das Umgekehrte: Was ihr für möglich haltet, das ist von Gott her eine Unmöglichkeit. Ihr könnt euren Glauben nicht als innere Frömmigkeit, als persönliche Angelegenheit behandeln. Wer wirklich Glauben hat an Jesus Christus, der fällt auf, er wird erkannt. Die Kirche, die wahrhaft Kirche ist, kann sich nicht in die Zonen der »unsichtbaren Kirche« zurückziehen. Sorgt darum für das eine – daß es von euch nicht heißt: Um euretwillen wird der Name Gottes gelästert unter den Heiden; sondern daß sie an dem, was sie von euch sehen, euren Vater im Himmel loben lernen.
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15. Du sollst nicht töten Matthäus 5,21-26
Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist: »Du sollst nicht töten; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein.« Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnet, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Racha! der ist des Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr! der ist des höllischen Feuers schuldig. Darum, wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und wirst allda eingedenk, daß dein Bruder etwas wider dich habe, so laß allda vor dem Altar deine Gabe und gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und alsdann komm und opfere deine Gabe. Sei willfährig deinem Widersacher bald, dieweil du noch bei ihm auf dem Wege bist, auf daß dich der Widersacher nicht dermaleinst überantworte dem Richter, und der Richter überantworte dich dem Diener, und werdest in den Kerker geworfen. Ich sage dir wahrlich: Du wirst nicht von dannen herauskommen, bis du auch den letzten Heller bezahlest. Haben wir uns schon einmal Gedanken darüber gemacht, liebe Freunde, was das bedeutet, daß dieses Gebot: Du sollst nicht töten! über der Welt, über der Menschheit aufgerichtet ist, daß es gleichsam das Fundament ist, auf dem alle politische Ordnung ruht; daß alle Justiz, alle Staatsautorität an dieser Grenze gleichsam in Gottes Auftrage mit dem Schwerte Wache hält, damit der Mord nicht tiefer einreißt in alles menschliche Leben, gleichsam der letzte Halt und die letzte Hilfe, die Gott einem Menschengeschlecht mitgegeben hat, damit das Geschehen, was seinen Anfang damit genommen hat, daß ein Bruder den anderen erschlug, damit dieses Geschehen nicht weiter wachse, und alle Welt miteinander vernichte. Das ist ja doch das Große in der Geschichte von Kain und Abel, die wir heute vom Altar gehört haben, daß der Herr nun nicht sagt: Es soll hinfort folgen Rache und Mord, Mord und Rache! sondern daß er ein Halt setzt; daß er, als Kain zusammenbricht und bekennt: Meine Sünde ist so groß, daß sie mir nicht vergeben werden kann; es wird mich hinfort totschlagen, wer mich findet, der Herr sagt: Nein, wie eine furchtbare Flut eingedämmt wird, daß sie nicht das ganze Land überschwemme: Du sollst nicht töten! Auf der Autorität dieses Gebotes ruhen gleichsam unsichtbar alle Anordnungen der Justiz und des Staates; das ist die letzte
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Heiligkeit, eine von Gott her geliehene Heiligkeit, die der Staat mit seiner Ordnung und Gewalt und Zucht über der Menschheit ausübt. Jedes Gerichtsgebäude, jedes Schwert, das der Staat handhabt, jeder Richterspruch, der gefällt wird, stützt sich im Letzten auf die Autorität dieses »Du sollst«, stützt sich darauf, daß Gott der Herr das Leben, das er geschaffen hat, bewahren möchte vor dem Einbruch des Verderbens. Aber nicht wahr, das ist eben nun das Erschütternde, daß wir eine solche Welt sind, daß wir eine solche Menschheit sind, die nur leben kann, wenn dieses Gebot über ihr steht und wenn dieses Gebot mit Macht, mit Autorität, mit letzter Härte an ihr praktiziert wird. Der Mensch nicht in der Gewalt des Todes, sondern der Tod in der Gewalt des Menschen. Es muß ein furchtbares Erlebnis gewesen sein, dessen ganze Furchtbarkeit noch nachzittert auf den ersten Blättern der Heiligen Schrift, als zum ersten Mal ein Mensch seine Hand erhob wider seinen Bruder, beide aus Gottes Hand hervorgegangen, beide von einem Blut, von einem Geschlecht; und nun erhebt sich Mann gegen Mann. Der Mensch läßt den Tod heraus wie ein wildes Tier, das man aus dem Gitter läßt, läßt es anspringen auf seinen Bruder, und er kommt erst zur Besinnung, als nun dieser, sein Bruder, blutüberströmt auf der Erde liegt – und er flieht. Flieht vor dem, was er getan hat, denn der Tod, der herauszuckte aus dem Strahl seiner Hand, tat mehr, als er je erwartet hatte. Der Mensch in der Hand des Todes, das ist ein Verhängnis, aber der Tod in der Hand des Menschen, das ist die Schuld, das ist das, was nun sich eingedrängt hat zwischen Mensch und Mensch, das ist das, warum es keine Gemeinschaft gibt auf Erden ohne Staat, ohne Gericht, ohne Aufsicht, ohne Polizei. Das ist der Grund, warum alle die Träumer, die da meinten, man könne um dieses Gebot herumkommen, man könne einfach eine Gemeinschaft auf Erden aufbauen, zusammengeschlossen aus reiner Brüderlichkeit, zusammengeschlossen aus der Gemeinschaft einer Idee, einer Klasse, eines Blutes – warum alle diese Versuche des Menschen grausig geendet sind. Wir kennen ja alle die Parole einer solchen falschen Humanität. Nie wieder Krieg! und die Welt starrt in Waffen. Abschaffung der Todesstrafe! und das Verbrechen wächst ins Gigantische. Als Rousseau die Rückkehr zum Urstande, zum Naturstande predigte, da schuf er die Grundideen der französischen Revolution, des größten Blutbades, das es je gegeben hat. Und als Tolstoi in Rußland das nämliche tat, da rächte sich die Weltgeschichte in gleicher Weise. Alle die Versuche, eine Ordnung aufzubauen ohne dieses Gebot Gottes, in der reinen Verehrung des Lebens, im reinen Aufbau einer Idealgemeinschaft, sie zeigen schließlich, daß der Mensch sich in dieser Freiheit nicht bewegen kann. Aber das Entscheidende an dem Wort, was wir gehört haben, liegt darin,
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daß Jesus dieses Gebot: Du sollst nicht töten! nun auslegt und in seiner Auslegung darüber weit hinausgeht. Das ist eben das Entscheidende an der Botschaft Jesu Christi im Unterschied zu allen Reformern des menschlichen Lebens, daß er nicht sagt: Ich werde dieses Gebot aufheben. Es muß ein friedliches Zusammenleben der Menschen geben, eine Gemeinschaft der Menschen zueinander und durch einander, in der es keinen Mord und keinen Totschlag, keinen Haß und kein Widereinander mehr gibt. Daß er sich streng an das hält, was er selbst gesagt hat, daß er nicht gekommen ist, aufzulösen, sondern zu erfüllen; daß er nicht eine Revolution von unten her macht, nicht eine Auflösung macht, wohl aber doch sagt: Stehen bleiben könnt ihr dabei nicht! Wehe euch, wenn ihr euch dabei beruhigt, daß das nun einmal so ist! Wenn ihr euch dabei beruhigt, daß so ein Totschlag heute nur hier und da vorkommt! Ich aber sage euch – man muß das einmal hören, was das bedeutet – ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist! Das heißt soviel wie: Ihr habt gehört, daß in der Bibel steht! Ihr habt gehört, daß von Gott gesagt ist! Ich aber sage euch … Hier wird in der Tat die Offenbarung des Alten Testaments durch Jesus Christus neu ausgelegt, ja, er geht wirklich noch über das Gesetz hinaus, er geht den Weg der radikalen Auslegung des Gebotes Gottes, den kein Schriftgelehrter in Israel zu gehen wagte, den auch das Alte Testament nirgends zu gehen wagte; hier ist mehr als Mose. Was tut er denn? Es wird euch ja allen bekannt sein, dieses Wort: Wer aber zu seinem Bruder sagt: Racha! der ist des Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr! der ist des höllischen Feuers schuldig. Man sagt, Jesus verlegt hier die Forderung Gottes ins Herz, ins Gewissen, in die Innerlichkeit. Ich glaube nicht, daß man damit Jesus richtig versteht. Jesus sagt zunächst, wenn man das Wort so versteht, wie es da steht, etwas sehr Auffälliges. Ich will das noch einmal lesen, damit man das richtig versteht, man muß das mit dem vorigen zusammennehmen. Er sagt: Wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein. Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnet, der ist des Gerichts schuldig. Wer aber zu seinem Bruder sagt: Racha! der ist des Rats schuldig. Wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Narr! der ist des höllischen Feuers schuldig. Wenn wir das in unsere Sprache übersetzen würden heute, dann würde das etwa heißen: Ihr habt gehört, daß, wer da tötet, der kommt vor das Landgericht. Ich aber sage euch: Wer haßt, der muß vors Landgericht. Und wer zu seinem Bruder sagt: Racha! der muß vors Reichsgericht. Und wer zu seinem Bruder sagt: Du Narr! dem ist die ewige Verdammnis gewiß! Das will Jesus sagen. Jesus sagt: Wenn ihr wirklich recht richten wolltet, wenn ihr mit den Gerichten das Unheil heilen wolltet, das da in der menschlichen Gemeinschaft sitzt und das im Tode, im Totschlag seine letzte Verwirklichung erfährt, dann
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müßtet ihr schon den Haß richten! Das weiß auch jeder Richter, bei jedem Gerichtsurteil fragt der Richter nach den Motiven. Der Richter weiß ganz genau, daß der Mord nicht das Erste ist, sondern das Erste ist der Haß, der Wunsch, sich einen anderen Menschen aus den Augen zu schaffen. Immer wieder vollziehen sich diese Tragödien in unserm Leben, im Familienleben, im politischen Leben, im Leben der Volksgemeinschaft, daß irgendwo wie ein Funke in der Tiefe ein Haß ist, und wenn dann der Wind günstig steht, dann flammt dieser Haß zu einer Flamme auf und dann erhebt sich die Hand wider den Bruder, dann ist die Gelegenheit da, den Haß in die Tat umzusetzen. Jesus sagt: Ihr Richter, wenn ihr wirklich mit Gericht das Übel heilen wolltet, das die Gemeinschaft der Menschen befallen hat, dann müßtet ihr den Haß richten. Dann müßte schon der Haß unter das Verdikt fallen: Du bist schuldig! Dann müßte schon der Haß dazu genügen, daß ihr vor den Staatsanwalt kommt! Das sagt Jesus. Dann sagt er: Wer zu seinem Bruder sagt: Racha! das heißt: Du Tropf, du Idiot! Wer das Wort, meine Brüder und Schwestern, wer das Wort, das wunderbarste und höchste Geheimnis, das Gott uns in den Mund gelegt hat, damit wir miteinander anders als alle Lebewesen reden können, als Bruder zu Bruder, als Mensch zu Mensch, damit wir zueinander den Zugang finden in Vertrauen und Liebe und Treue – wer diese höchste Gabe des Reiches Gottes, das Wort, nun benutzt, um dahinein Gift und Galle zu legen, Spott und Verachtung, da sagt der Herr, der gehört vor das oberste Landgericht, das es bei euch gibt. – Der Hohe Rat heißt eigentlich das Synhedrion. Das Synhedrion ist das oberste Gericht, das es im israelitischen Volke gibt. Zwei Dinge, sagt der Herr, zwei Dinge machen euch schuldig: daß ihr haßt und daß ihr das Wort nicht zu dem macht, wozu es da ist, zu einer wunderbaren Brücke der Begegnung von Mensch zu Mensch, zu einem Wort des Trostes, zu einem Wort der Liebe, zu einem Wort der Zuversicht, der Ermahnung, der Freude, der Lindigkeit, des Friedens. Gott hat euch doch mit Sprache begabt, warum füllt ihr nicht seine Sprache mit seinem Geist? So sieht Jesus das Lebensrätsel der Menschheit, er sagt: Es geht ja nicht um die bloße Vitalität, um die Erhaltung des Lebens, sondern Leben heißt Liebe, und wo nicht das Leben in der Liebe wurzelt, da ist es kein menschliches Leben, sondern ein Vegetieren. Und Leben heißt Gemeinschaft, und wo nicht die Gemeinschaft wurzelt in dem Wort der Liebe und in dem Wort des Friedens und in dem Worte, das den Bruder sucht, da ist diese Gemeinschaft nur Zwang, da ist sie nur Organisation, aber nicht Leben, nicht Organismus, nicht Brüderlichkeit. Aber das Letzte ist vielleicht das Allererstaunlichste, man versteht nach der deutschen Übersetzung meistens gar nicht mehr, was Jesus
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hier sagt. Das nämlich, meine Brüder und Schwestern, das trifft uns alle heute hart, und war zwar gerade uns, die wir uns zur Kirche halten, gerade uns, die wir miteinander in der Zeit des Abfalls vom Glauben stehen, gerade uns trifft dieses Wort. Wir können nichts daran ändern, Jesus hat es so gesagt. Es heißt: Wer aber sagt: Du Narr, der ist des höllischen Feuers schuldig. Narr, das heißt in der griechischen Übersetzung: More, und das ist der Tor, der in seinem Herzen spricht: »Es ist kein Gott.« Das ist dasselbe Wort, wie wir es finden Psalm 14: »Die Toren sprechen in ihrem Herzen: Es ist kein Gott.« Wir müssen also das Wort in unsere Sprache übersetzen: Wer zu seinem Bruder sagt: Du Gottloser! du Abgefallener! der ist selbst des höllischen Feuers schuldig, der ist selber dessen schuldig, wessen er seinen Bruder beschuldigt. Meine Brüder und Schwestern, wer kann da noch bestehen? Nicht wahr, wenn Jesus Christus so über das Gebot Gottes kommt, wenn er so das Gebot auslegt: Du sollst nicht töten. Ja, es könnte sein, Jesus sieht doch einen Funken noch im Herzen meines Bruders, Gott sieht doch noch ein letztes Ringen im Herzen meines Bruders, wo ich schon sage: Der ist abgefallen, der verleugnet Gott, der verrät Christus. Wie oft sagen wir das! Wie oft haben wir das schon gesagt! Kein Mensch wird das vermeiden können, im Kampf immer wieder das sagen zu müssen; und doch sagt Jesus: Weißt du, was du damit tust? Du sprichst damit deinem Bruder die ewige Seligkeit ab. Weißt du denn nicht, daß Gott anders richtet als du? Könnte es nicht doch sein, daß da noch ein Fünkchen glimmt, das Gott wieder neu anfachen wird, daß das ein geknicktes Rohr ist, das Gott nicht zerbrechen wird! Glaubt ihr denn nicht? Hofft ihr denn nicht? Versteht ihr denn nicht, wenn ihr selbst solche Wege geführt würdet, wie euch das noch tiefer in den Abgrund ziehen würde, wenn die Anderen mit den Fingern auf euch zeigen und sagen: der hat seinen Gott verraten? Nicht wahr, das ist eine andere Sprache, als wir sie kennen aus dem Alten Testament, das ist ein Gericht über all unser Richten und eine Verdammung all unseres Verdammens, und da können wir alle eigentlich nur noch die Hände falten und sagen: »Aus tiefster Not schrei ich zu dir!« »Wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms, den wir vor Gott haben sollten.« »Hier ist keiner gerecht, auch nicht einer.« Meine Brüder und Schwestern, und wenn einmal das offenbar werden wird, was in dieser Zeit des Kampfes an Bitternis und Leid, an Richten und Verdammen angetan worden ist, was wir auch Anderen angetan haben in ihrem Herzen, dann wird keiner von uns mehr sagen können, daß er vor diesem Gebot bestehen kann; dann umschlingt uns dieses Gebot mit all denen, die heute wirklich der Richter verdammt, die heute wirklich der Richter richtet. Da ist keiner
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mehr, der durchkommt. Da ist das Netz so eng gesponnen und so eng gezogen, daß keiner, er mag sich gebärden, wie er will, durch diese Maschen entfliehen kann. So legt Jesus das Gebot aus: Ich aber sage euch. Es ist wirklich so, als ob Gott selbst richtet, als ob er sagt: Glaubt doch nicht, daß nach dieser menschlichen Gerechtigkeit, die ihr euch da aufbaut in Politik und Kirche, daß ihr nach dieser Gerechtigkeit vor Gott gerichtet werdet, sondern vor Gott werdet ihr ganz anders gerichtet. So werdet ihr gerichtet: nach eurem Herzen, nach euren Worten, nach eurem Richten. Denn wie ihr richtet, so sollt ihr gerichtet werden, und wie ihr die Sünden vergebt, so soll euch vergeben werden. Gott wird euch tun, was ihr getan habt. Und dann, ja, was können wir da tun? Immer wieder, wenn Jesus so redet, kommt es ja wie ein Schrecken über uns: Wie kann dann noch ein Mensch bestehen? Wie kann dann noch ein Mensch sagen: Ich bin ein Christ. Ich glaube. Ich tue den Willen Gottes. Wer kann das sagen? Wir können es nur tun, meine Brüder und Schwestern, als solche, die etwas wissen um die Schuld, die sie vor ihrem Bruder haben. Wir können es nur tun als solche, die alle irgendwie das Kainszeichen auf der Stirn tragen, da ist keiner ausgenommen. Aber nun – und das ist das Wunderbare an diesem Text – nun ruft der Herr alle die auf, die ihn verstanden haben, die sich beugen unter dieses Gericht, die ruft er nun auf, zu tun, was Gott geboten hat, und zwar zu tun in einem ganz praktischen Sinne. Noch ist es Zeit, sagt Jesus, noch habt ihr Zeit, noch steht euch der Weg offen. Verlaßt, verlaßt diese Versuche, durch das Recht dem zu wehren, was über euch gekommen ist an Haß und Mord und Neid, was euch gemein macht von innen her. Ich zeige euch einen neuen Weg: Wenn du zum Altar gehst, um zu opfern und dir wird offenbar, daß du etwas wider deinen Bruder hast, so gehe hin und bereinige das erst mit deinem Bruder und dann komm und opfere deine Gabe! Und wenn du etwas hast wider deinen Widersacher, versöhne dich mit ihm, solange du noch auf dem Wege bist! Damit will der Herr sagen: Gott fordert nicht Opfer von euch, Gott richtet euch nicht danach, ob ihr euch zu seinen Gottesdiensten gehalten habt, ob man euch in der Kirche gesehen hat, ob ihr eure Kirchensteuer bezahlt habt, danach richtet Gott nicht, sondern Gott wird dich fragen: Wo ist dein Bruder Abel? Der Gott, vor dem ihr hier steht, der Gott, den ich verkündige, der Gott fragt dich nicht: Was hast du mir getan? sondern: Was hast du deinem Bruder getan? Dieser Gott verbindet sich so mit deinem Bruder, daß der, dem du Unrecht tust, bei ihm seinen Schutz hat, zu ihm schreit. Das ist Gottes Wille, daß ihr euren Nächsten lieb habt. Es ist ja auch ganz wunderbar, wie gleich in der Geschichte der alten Christenheit die Opfer
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wegfallen, und wie an die Stelle der Opfer der Dienst an der Nächstenliebe tritt. Das Erste, was die Urgemeinde einrichtet, ist das Diakonenamt, damit den Witwen und Waisen geholfen wird und damit das in die Tat umgesetzt wird, daß die Kranken besucht werden, die Nackten gekleidet werden, die Gefangenen nicht verlassen werden. Der Opferkult, der versagt, der vergeht, weil ein neuer Gottesdienst einsetzt, der Dienst an den Nächsten, an den Ärmsten, an den Verlassensten, an den Verachteten. Und das Andere ist ebenso wunderbar. Versöhne dich, solange du noch Zeit hast! Das ist, schon rein menschlich gesprochen, immer wieder eine Regel der Klugheit. Laßt es doch nicht bis zum Prozeß kommen! Aber das meint Jesus natürlich hier nicht im Letzten, sondern im Letzten meint er etwas ganz anderes: Versöhne dich mit deinem Widersacher, damit dich nicht dein Widersacher vor den Richter bringe. Wer ist der Richter? Der Richter, der dich verdammen kann, der dich dahin verdammen kann, daß du nicht loskommst, bis du den letzten Heller bezahlst. Wer ist der Richter? Willst du, daß dein Verhältnis vor Gott so gehandhabt wird, daß es heißt: Auge um Auge, Zahn um Zahn? Wagst du es wirklich, mit deinem Widersacher vor Gott hinzutreten, und glaubst du nicht, daß er auch gegen dich etwas zu sagen hat? Fürchtest du nicht, daß es dir gehen könnte wie dem Schalksknecht, dem viel erlassen wurde und der dafür weniges nicht erlassen wollte? Kannst du mit irgendeinem deiner Gegner und deiner Feinde vor Gott so hintreten, daß du sagen könntest: Ich habe recht. Du, Gott, mußt mir recht gegeben! Das ist es. Jesus sagt: Aller Streit, alle Feindschaft treibt im letzten Gericht einem unbestechlichen Auge zu, und dieses Auge heißt Gott. Und darum, weil es dem zutreibt, ruft er in die Welt hinein: Versöhnt euch! Noch ist es Zeit, noch ist Versöhnungszeit. Ja, nicht nur: noch ist Versöhnungszeit, sondern: jetzt ist Versöhnungszeit, denn ich bin ja mitten unter euch. Im letzten Grunde, geheimnisvoll, ohne daß es die draußen erkennen, kann der Herr nur so reden von den Geboten Gottes, weil er selbst auf Erden ist, weil er, der Weltenrichter, mitten unter uns getreten ist, weil er gekommen ist, die Versöhnung zu verkündigen vor allem Volk: Ich, ich trage eure Sünden, ich werde euch die Kraft geben, den Weg hinzufinden zu eurem Widersacher. Ich will euch die Kraft geben, hinzugehen zu eurem Bruder und zu bitten, bis er euch vergibt. Ich will Frieden schaffen zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Volksgenosse und Volksgenosse. Ich, ich habe ja mit meinem Blute alle eure Sünde gesühnt. Ich mache das Unmögliche möglich, daß ihr wieder eine Bruderschaft werdet aus solchen, die widereinander sind, eine Gemeinschaft werdet aus solchen, die widereinander sind, eine Gemeinschaft aus
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solchen, die der Totschlag trennte. Ich mit meinem Blut und ihr nicht mit eurem Blut. Ich will versöhnen und verbinden, was ihr mit eurem Blut zerrissen und zerstört habt. Das verkündigt Jesus: Lebt als solche, zwischen denen Friede ist, ja, mehr noch, zwischen denen ich der Friede bin, zwischen denen ich Gemeinschaft stifte – so wie es heißt bei Johannes: »Denn das Blut Jesu Christi reinigt uns von aller Sünde. So wir im Lichte wandeln, wie er im Lichte ist, haben wir Gemeinschaft miteinander.« Wollen wir das sagen? Wollen wir daran gehen, nicht die peinlichen Punkte unseres Zusammenlebens mit Andern zu umgehen, sondern sie durchstoßen, sie ausräumen mit der Kraft Jesu Christi, solange es Zeit ist, nicht mit einer falschen heuchlerischen Frömmigkeit die Lieblosigkeit übertünchen, sondern die Wege zueinander zu suchen, so wie Jesus Christus den Weg zu uns gesucht hat! Du sollst nicht töten! Verstehen wir jetzt, daß hier mehr ist, als das, was alle Justiz, was das Schwert, was die Gewalt, was die Ordnung je leisten kann? Daß hier die Menschheit geheilt wird, daß der Tod Jesu Christi hier beginnt, das Leiden zu heilen, das durch den Tod, durch das Töten der Menschen über uns gekommen ist, daß wir eigentlich in einer neuen Gemeinschaft leben sollten, von der gilt, daß sie nicht mehr die Sonne untergehen läßt über ihrem Zorn? Das heißt Auslegung eines Gebotes. Jesus legt die Gebote so aus – das gilt auch vom sechsten Gebot, das gilt auch vom siebenten Gebot, das gilt auch vom Schwören, von alle dem, was er in der Bergpredigt sagt – er legt sie so aus, daß uns allen deutlich wird: Wir können es nicht tun, wir sind allesamt schuldig; und daß er uns dann sagt: Wenn ihr das erkennt, dann könnt ihr es tun, dann könnt ihr ein neues Leben anfangen in den kleinsten Dingen, dann könnt ihr vorsichtig sein mit euren Worten, dann könnt ihr den Haß zurückdrängen in eurem Herzen, ihn hintragen vor das Kreuz Jesu Christi und verwandeln lassen in Liebe. Dann werdet ihr vorsichtig sein, ehe ihr einen anderen Menschen richtet, dann werdet ihr glauben, wo nichts mehr zu glauben ist, hoffen, wo nichts mehr zu hoffen ist, dann werdet ihr Kinder des Höchsten sein. Meine Brüder und Schwestern, wenn es wenigstens anfinge mit dem Allerkleinsten, wir können ja nicht von heute auf morgen auf einmal Menschen werden, die von der Liebe erfüllt sind, von der Jesus Christus hier spricht. Ich glaube, es könnte vielleicht mit unserem Leben so sein, wie die Sonne aufgeht in den Bergen, und ihre Strahlen spiegeln sich in den Tautropfen im Tal, und man an dem Glitzern erkennt: es ist Morgen, es ist Sonnenaufgang. Wollen wir nicht so leben, dem Tag entgegen, dem Tage des Herrn Jesu Christi entgegen, streiten mit Waffen des Lichtes? Ist das nicht gemeint? Heißt das nicht: Lasset eure Lindigkeit kund werden allen Men-
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schen? Heißt das nicht: Ihr könnt zwar aus euch nicht von heute auf morgen einen total anderen Menschen machen, aber ihr könnt anfangen, ihr könnt euch bemühen! Sorgt dafür, daß im engsten Leben von Mann und Frau, im Leben der Freundschaft und der Volksgemeinschaft dieser Anfang da ist, daß etwas da hinein wirkt vom »Morgenglanz der Ewigkeit«, das könnt ihr! So wollen wir denn Gott bitten, daß er uns durch sein Gebot immer wieder die Kraft gibt, das zu können, wie es der Dichter singt: »Komm, o komm getreuer Hirt, daß die Nacht zum Tage werde! Ach, wie manches Schäflein irrt, fern von dir und deiner Herde. Kleine Herde, zage nicht! Jesus hält, was er verspricht. Sieh, das Heer der Nebel flieht vor des Morgenrotes Helle, und der Sohn der Wüste kniet dürstend an der Lebensquelle. Ihn umleuchtet Morgenlicht. Jesus hält, was er verspricht.«
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16. Geheiligt werde dein Name Matthäus 6,9
Als Jesus seinen Jüngern das Gebet gab, das heute die ganze Christenheit auf Erden betet und in dem sie trotz aller Zerrissenheit geeinigt ist, stellte er drei Bitten voran, die alle mit »Dein« beginnen. Dein Name, dein Wille, dein Reich. Jesus wollte offensichtlich nicht, daß wir mit dem Menschen und seiner Not beginnen, daß wir bei uns anfangen. Er sah tiefer, er wußte, daß unsere Not im Letzten und wohl auch im Schlimmsten darin beruht, daß wir nicht wissen und nicht glauben wollen, daß wir uns über sie erheben sollten, daß Gott und sein Reich unsere erste Sorge sein sollte. Es gibt in der Tat nicht nur Sattheit und innere Kälte, die uns am rechten Beten hindert, sondern es gibt auch das Überwältigtsein von eigener Not, innerer und äußerer, es gibt jenes Befangensein von der Bedrohtheit und Enge der eigenen Existenz, das sich in all unser Beten und in unseren Umgang mit Gott einschleicht, daß wir jenen Einsatz nicht gewinnen können, der uns hier von Jesus geboten ist. So begegnet uns diese erste Bitte als Gebot, als Frage und Erinnerung, ob und wieviel es in unserem Gebetsleben noch um Gottes Namen, um die Heiligung, das heißt doch wohl um die Ehre, die Glorie dieses Namens geht. Nicht nur im Tun, also im praktischen Leben. Calvin, der eine große und bedeutende Auslegung des Betens als »fidei exercitium« (Glaubensübung) in seinem dogmatischen Hauptwerk eingefügt hat, weist darauf hin, daß diese Heiligung sich im Lehren und im Tun vollzieht, so daß wir mit diesem unserem Gebet den theoretischen und den praktischen Teil unseres Lebens umfassen und überblicken. Vielleicht werden wir im Hinblick auf Römer 2,24: »Eurethalben wird Gottes Name gelästert unter den Heiden« und 2 Petrus 2,2 »um welcher willen wird der Weg der Wahrheit verlästert werden« – beide Male gebraucht der griechische Urtext das Wort »Blasphemie« – wie auch im Blick auf die alttestamentlichen Vorbilder jener Worte bei Hesekiel (36,20) und dem Zweiten Jesaja (52,5) geneigt sein, vornehmlich an das Tun zu denken, an den »Wandel«, und nicht so sehr an das Lehren; man könnte geradezu fragen, ob es nicht vielleicht eine Besonderheit der Reformation gewesen ist, hier zuerst an die Lehre zu denken. Aber ganz so dürfte es doch nicht sein. Haben wir doch erfahren, was es bedeutet, wenn eine gottlose, gottwidrige Denkweise vom Staat oder von
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denen, die den Staat eroberten und ihn zu diesen Zwecken mißbrauchten, für Unheil anrichten kann, wie sie das Gewissen einschläfert und den Mut zum rechten Handeln lähmt. Unsere Bitte: Geheiligt werde dein Name, wird darum zunächst einmal mit Bezug darauf verstanden werden dürfen: O daß doch da, wo von Gott die Rede ist, der wirkliche, lebendige, gerechte und barmherzige Gott angerufen und verkündigt würde! Was geht alles unter dem Namen Gottes einher und was ist unter ihm einhergegangen. Wohl kaum etwas Schreckliches und Furchtbares ist ohne Deckung seines Namens geschehen. Es scheint so leicht, seinen Namen an die Stelle seiner Person, seiner Wirklichkeit und seiner Heiligkeit zu setzen. Luther hat darum in seiner Auslegung unserer Bitte mit Recht an das zweite Gebot erinnert, an den Mißbrauch seines Namens. »In Gottes Namen fängt jedes Unglück an«, das ist eines seiner Worte, und Jesus selbst hat gesagt, als er von den kommenden Verfolgungen sprach, daß sie meinen werden, mit der Verfolgung der Boten und Zeugen seines Evangeliums Gott einen Dienst zu tun. Sind doch auch die Propheten des Alten Testaments, und ist doch Jesus selbst nicht im gottlosen Raum aufgestanden, also in einem faktisch entgötterten öffentlichen Leben, sondern alles war in diesem Volk und in dieser Epoche voll von Gottesdienst. Aber sie haben die Sonde an dieses Tun gelegt und gefragt, wieweit in ihm wirklich der Name Gottes geheiligt wurde, wieweit es hier um Gott ging und nicht vielmehr um das, was Jesus die Menschensatzungen nannte, die »paradoseis« (Überlieferungen), die das Wort Gottes ungültig machen (Markus 7,13). Jene Auseinandersetzung Jesu mit dem Traditions-verschworenen Geist des Pharisäismus ist ja nichts anderes als eben eine Auslegung und Anwendung des Jesajawortes: »Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, und ihr Herz ist ferne von mir.« Man kann das offenbar, man kann das Gebot Gottes ersetzen durch die »Aufsätze« der Menschen. Und was vom Gebot Gottes gilt, gilt schon längst von seiner Barmherzigkeit und Gnade. Man kann auch den Namen Gottes in dieser Hinsicht so leer, so abstoßend, so fern machen – man denke nur an die Entwicklung des Judentums bei Philo und weiter im Islam –, daß uns das Anrufen und der Glaube an seinen Namen ganz genommen wird, daß uns das Vertrauen auf seinen Namen schwindet. Sein Name aber ist ja gerade offenbar geworden in dem Namen und der Geschichte Jesu. Offenbar geworden als der, zu dem wir uns aller Dinge versehen dürfen, der nicht den Tod des Sünders will, sondern daß er umkehre und lebe. Sein Name ist letzte Zuflucht. Wenn keiner mehr von denen, die einen Namen haben, sich unser annimmt, dann will dieser Name uns leuchten.
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In meines Herzens Grunde dein Nam und Kreuz allein funkelt all Zeit und Stunde, drauf kann ich fröhlich sein. Hier bricht etwas ganz anderes auf: daß mit dem Namen die Sache, mit der Anrufung des Namens die Nähe der Person gegeben ist. Darum, wer uns den Namen Gottes verdunkelt, oder zwischen ihn und uns eine Wand setzen möchte, wer daraus einen Namenlosen macht – »wer darf ihn nennen, wer ihn bekennen« –, wer uns die certitudo fidei (die Glaubensgewißheit) nehmen will, die mit diesem Namen verbunden ist, der entheiligt ihn ebenso, wie jene, die seine Gebote nicht zu uns kommen und uns aufrichten und stärken lassen wollen. Wir bitten also in dieser Bitte, daß Gott sich offenbare, daß wir mit ihm selbst es zu tun bekommen, daß wir gewiß sein dürfen, ihn zu haben, ihn zu hören, ihn zu finden. Daß wir frei würden von dem »unbekannten Gott«, von dem Gott, über den wir reden und denken, durch den, der zu uns redet, wie er selbst ist. So wie es der Heidelberger 1 richtig sagt: »Gib uns erstlich, daß wir dich recht erkennen, und dich in allen deinen werken, in welchen leuchtet deine allmächtigkeit, weisheit, güte, gerechtigkeit, barmherzigkeit und wahrheit, heiligen, rühmen und preisen.« Und Luther sagt es sehr ähnlich, denn indem er fragt, wo das geschieht, antwortet er: wo das Wort lauter und rein gelehrt wird. Nicht wahr, wenn wir das alles hören, dann verstehen wir es erst recht, was hier erbeten ist. Hier schreit unsere Seele nach dem lebendigen Gott. Und wir wissen es ganz genau, daß, wenn er sich uns nicht zeigt und zu erkennen gibt, dann können wir ihn nicht fassen. Aber das ist nur die eine Seite. Luther wie die anderen reformatorischen Ausleger haben sogleich auch das andere betont, das: danach leben! Geheiligt werde dein Name – das ist auch gesagt im Blick auf unser Leben. Es ist schon im Alten Testament Gottes Satz: »Ich bin heilig und ihr sollt auch heilig sein.« Als solche, die zu seinem Volk gehören. Wenn wir doch diese unsere Heiligung als eine solche seines Namens sehen könnten! Hier kommt es auf das Tun an, auf den Kampf und auf den Dienst.
1.
Heidelberger Katechismus, Frage 122.
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17. Ihr könnt nicht Matthäus 6,24-34
Niemand kann zwei Herrn dienen: entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird dem einen anhangen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon. Darum sage ich euch: Sorget nicht für euer Leben, was ihr essen und trinken werdet, auch nicht für euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr denn die Speise? und der Leib mehr denn die Kleidung? Sehet die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater nähret sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie? Wer ist aber unter euch, der seiner Länge eine Elle zusetzen möge, ob er gleich darum sorget? Und warum sorget ihr für die Kleidung? Schauet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, daß auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht bekleidet gewesen ist wie derselben eins. So denn Gott das Gras auf dem Felde also kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: sollte er das nicht viel mehr euch tun, o ihr Kleingläubigen? Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen, was werden wir trinken, womit werden wir uns kleiden? Nach solchem allem trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, daß ihr des alles bedürfet. Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen. Darum sorget nicht für den andern Morgen; denn der morgende Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, daß ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe.
I. Der Herr ist Gott In dem Text, den wir soeben vernommen haben, in diesen Worten Jesu an die Massen, die sich am Berge versammelt hatten, steht ein Wort vornean, an dem kommen wir nicht vorbei. Das heißt: Ihr könnt nicht! Was können wir denn nicht, was kann denn niemand – wo wir doch immer meinen, wir könnten auch das Unmögliche möglich machen? Jesus sagt, es könne niemand zwei Herren haben, niemand ihnen beiden zugleich dienen. Jesus setzt auch hinzu, was er unter Herr und Diener versteht. Er meint nicht
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etwa dies, daß sich ein Mann seinen Erwerb sucht und sich dann, wie jener verlorene Sohn in der Hungersnot sich an einen der Besitzenden im Lande hängt; er meint auch nicht, daß man wohl oder übel unter einen Herrn zu stehen kommt und nun sehen muß, wie man mit ihm auskommt. Nein, wenn Jesus vom Herrn der Menschen spricht, dann meint er Gott. Er meint den wirklichen, echten, dem Menschen in all seinem Tun und Lassen, seinem Leben und Sterben gesetzten Herrn. Und er meint einen solchen Herrn, den man lieb haben, an dem man hängen kann, für den man alles andere aufgeben, verlassen, verachten kann, einen Herrn, bei dem zu sein besser ist als Leben. Das meint Jesus. Er meint jenes Anhänglichsein, das vom Innersten herkommt. Er meint jenes Letzte und Höchste, was ein Mensch Gott gegenüber nur sagen und empfinden kann: »Wenn ich nur dich habe, frage ich nichts nach Himmel und Erde.«
II. Die Wahrheit Von dort aus redet Jesus. Ihm geht es um die Wahrheit, um das Letzte, das Allerletzte. Darum hören ihn die Leute auch. Darum haben sie gesagt, er rede anders als die Schriftgelehrten. Er redet mit Vollmacht. Mit Vollmacht redet nur der, der so über Gott und den Menschen redet, daß wir sagen müssen: Ja, so ist es. Daß wir gar nicht mehr schwanken und hin und her überlegen, sondern daß wir einfach wissen, so ist es! So ist es und das haben uns die Menschen um uns her immer verborgen, das haben sie uns nie zu sagen gewagt. Aber so ist es. Wo die Wahrheit selbst auf dem Plan ist, da ist uns die Entscheidung abgenommen. Da entscheidet sie. Da können wir uns an ihr nur stoßen oder sie wie etwas längst Gesuchtes und Entbehrtes, etwas, was wir zum Leben brauchen, in uns aufnehmen. Da können wir ihr nur anhängen – und alle, die das Gegenteil sagen, verachten. Gründlich, tief, kompromißlos verachten. So ist es, wenn wir auf die Wahrheit stoßen, wenn die Wahrheit auf uns stößt. Wenn wir wissen, daß wir hier an das Ende des langen, bangen Weges gekommen sind, den wir das Suchen nach Wahrheit nennen. Einmal ist dieser Weg zuende. Einmal heißt es: Halt! Gefunden! Hier seid ihr am Ziel. Hier fällt die Entscheidung. Dort steht Jesus. Dort heißt es: Ihr könnt nicht zwei Herren dienen, ihr könnt nicht zwei Götter lieben, ihr könnt euch nicht einen Gott für diese und einen anderen für jene Welt anschaffen. Denn Götter, wer oder wo sie auch immer sind, sind Herren und ihr Menschen seid nun einmal so beschaffen, daß ihr unten seid und nicht oben, Beherrschte und nicht Herrschende, Getriebene und nicht Treibende. Ein-
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mal kommt es an den Punkt, wo es heißt: Entweder-Oder. Wo es nicht mehr weitergeht. Wo es kein Dahinter gibt. Wir möchten vielleicht einen neutralen Standpunkt suchen, um erst einmal die ganze Lage zu übersehen, um erst nach der sorgsamen Prüfung der Situation zu entscheiden. Aber der Punkt, an den Jesus uns versetzt, gestattet kein Ausweichen in das so bequeme und uns allen so geläufige Sowohl – als auch. Wenn Jesus von Gott redet, dann fallen alle Fesseln; dann weiß man, wohl gibt es zwei Wege, aber wer den einen betritt, muß den anderen verlassen.
III. Heute Nun wird die Entscheidung aber erst dadurch so schwierig, daß Jesus hier gar nicht bei den Dingen anfängt, wo wir gewöhnlich anfangen: bei unserer Weltanschauung, bei unserem Glauben, bei der Frage, ob wir Christen oder Atheisten sind, ob wir für das Individuum oder das Kollektiv stimmen, ob wir dem Menschen eine ewige Seele zubilligen oder eine materialistische Ansicht haben. Er packt einen ganz anderen Punkt heraus. Jesus spricht vom Essen und Trinken, Jesus spricht vom Leben. Jesus spricht von unserer Kleidung, von der Sorge um unsere Kleidung. Jesus spricht überhaupt ganz allgemein, ganz ins Große und Bleibende hinein von der Sorge. Jesus sagt etwas ganz Bedeutendes, er nimmt zu der Frage Stellung, die vielleicht heute für uns alle die brennende Frage unseres ganzen Lebens ist, für die Armen nicht weniger als für die Reichen. Er stellt das Heute als den Punkt heraus, wo wir stehen sollten. Er schlägt die Türe zu. Er sagt: Laßt doch einmal morgen morgen sein. Er fragt: Könnt ihr noch im Heute leben? Es gibt einen sehr bewegenden, für unsere Zeit bezeichnenden Roman, dessen Titel lautet »Vom Winde verweht«. 1 Ein junges Mädchen hat ihn geschrieben, aus alten Papieren heraus, die ihr Kunde gaben von den Wirrnissen und Schrecknissen, die die Menschen ihrer Landschaft im amerikanischen Bürgerkrieg erlebten. Im Mittelpunkt des Romans steht eine tapfere Frau, über die die Sorgen hereinbrechen wie Sturzwellen auf hoher See. Und dann tut diese Frau in einer besonders kritischen Stunde etwas ganz Großartiges. Sie sagt, was morgen ist, werde ich morgen erledigen. Jetzt kann ich nur an das denken, was mich heute angeht. So hat sie das Heute ergriffen. So hat sie wieder Boden unter den Füßen und kann stehen, kämpfen, durchhalten. Diese Frau tut genau das, was Jesus will: Es ist genug, daß ein jeglicher 1.
Margret Mitchell (1900-1949), amer. 1936, dt. 1937.
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Tag seine eigene Sorge habe. Es ist erstaunlich, daß das die Heiden zuweilen besser können als wir Christen und die Kinder besser als die Männer und die Männer wiederum oftmals besser als die Frauen. Wir möchten immer mit unserer Hand das Morgen an das Heute reihen, wir glauben nicht, wir sehen nicht, daß es ein anderer ist, der das Morgen auf das Heute folgen läßt. Unsere Zeit steht in seinen Händen. Sehen wir das nicht? Oder wollen wir nicht, daß sie in seinen Händen steht und meinen, es sei sicherer, besser, es lebe sich zuversichtlicher, wenn wir sie in unsere Hand nehmen? Das ist die Sorge, die uns das Heute über dem Morgen vergessen läßt, die uns von dem einzigen Platz verjagt, wo wir wirklich unter Gottes Treue und Schutz leben könnten – und sei es mitten in der Gefahr, mitten im größten Leid. Jesus will, daß wir im Heute bleiben. Man muß das Heute gewinnen. Man muß dorthin springen, wo die Lilien auf dem Felde und die Vögel unter dem Himmel auf uns – auf den Menschen – warten, daß er wieder seinen Platz einnehme, seinen Platz unter Gottes Augen, unter seinem Herrn.
IV. Mammon Warum können wir das nicht? Und wenn wir hören werden, warum wir das nicht können, dann wird es uns ganz seltsam gehen: es wird sein, als wären die vielberufenen 2000 Jahre mit ihrem verwandelten Gesicht nichts, gar nichts. Als wäre das gar nichts, daß heute die Leute mit ihren Autos und mit der Bahn zusammenkommen, um Jesus zu hören, und damals waren es ein paar Fischer und Bauern, die kaum lesen und schreiben konnten, an einem kleinen See, so weit weg von hier. Es ist, als ob sich alles, wirklich alles um uns herum verändert hätte, aber wir haben uns nicht verändert, dieses große Entweder-Oder hat sich nicht verschoben und nicht verschieben lassen; und wenn der Mensch vor die letzte Wahrheit zu stehen kommt, vor die Wahrheit, wen er zum Herrn hat, dann ist es so, als ob tausend Jahre nicht mehr wären wie der Tag, der gestern vergangen ist und wie eine Nachtwache. Jesus sagt: Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon. Das sagt er. Hier macht er die Gottesfrage fest. Hier – nicht dort, wo wir mit unseren theologischen und ethischen Fragen, mit unseren konfessionellen und politischen Entscheidungen sie fest machen. Nein, hier. Gott und der Mammon. Und auf einmal wissen wir, wer uns das Heute bringt. Und zugleich, wer dazwischen steht, daß wir die Sprache der Lilien auf dem Felde und der Vögel unter dem Himmel nicht mehr verstehen; wer die Sorge hineinläßt in die Sitzungen der Verwaltungsräte, der politischen Kabinette, der Zeitungsredaktionen, aber auch der großen und kleinen An-
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gestellten, der Männer des öffentlichen Lebens und der sogenannten Kirchenführer. Jawohl, auch da, gerade da. Jesus nennt diesen Gegengott, der uns an die Sorge ausliefert, der uns um die Freude bringt, um das Heute der Gnade Gottes, beim Namen. Er gibt ihm seinen Namen und setzt ihn neben Gott selbst: den Mammon. So hoch hinauf reicht seine Macht, bis an Gottes Thron. Offenbar eine furchtbare, eine kalte und böse Macht, das Geld. Wir können in dieser Stunde nicht all das nennen, was Jesus wohl im Blick gehabt hat, als er das sagte; als er den Schleier zurückzog vor diesem wohlgehüteten Geheimnis: Ihr könnt nicht! Ihr könnt nicht beiden dienen. Ja, ihr könnt nicht einmal neutral sein, wo es um dieses Entweder-Oder geht. Wer bei Gott steht, der wird diesen Gegengott verachten, er wird sehen, was Gott kann und was dieser Scheingott, dieser menschenmordende Götze eben nicht kann. Und umgekehrt, wer sich diesen Götzen zum Gott erkoren, wer hier sein wahres Heiligtum aufgebaut hat, der kann gar nicht anders: wo immer er dem Ruf der Gnade des lebendigen Gottes begegnet, da wird er nichts damit anzufangen wissen, denn hier hört alles Rechnen, alles Verdienen, alles Satt-Sein und Reich-Sein auf. Hier werden nur die selig gepriesen, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit. Hier kann man nur mit leeren Händen empfangen und nur mit Bitten erhört werden. Jesus sagt: Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon. Wir meinen, wir könnten! Wir versuchen das, weil wir meinen, wir müßten das können. Auch unsere Kirchen, die für deren Erhalt und Mehrung verantwortlichen Männer, versuchen das. Aber Jesus sagt: Es geht nicht. Hier gibt es keine Brücke. Hier steht ein abgrundtiefes Entweder-Oder dazwischen, daß, wer da wollte hinüber kommen, kann nicht, und kann auch niemand herüber kommen. Warum Jesus das wohl sagt? Doch wohl darum, weil er weiß, wer Gott ist und wozu ihn Gott selbst in die Welt gesandt hat. Wir alle, die wir immer noch meinen, wir könnten beides zugleich, wir ahnen ja gar nicht, wer Gott ist und was es heißt, ihn zum Herrn zu haben. Oder haben wir es doch vielleicht dann und wann einmal schon begriffen? Daß wir etwas sind, was man nicht mit Gold und Silber erlösen kann, loskaufen von den bösen und dunklen Mächten, die uns binden. Daß hier ein anderes Lösegeld bezahlt werden muß, als alle Güter und Schätze dieser Welt. Die ersten Christen haben schon gewußt, was sie taten, wenn sie bekannten: »Wisset, daß ihr nicht mit vergänglichem Gold oder Silber erlöst seid von eurem eitlen Wandel nach väterlicher Weise, sondern mit dem teuren Blut Christi als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes.« Wo es darum geht, den Menschen zu erlösen, also das zu tun, worauf alles ankommt, wonach wir uns alle sehnen, was wir alle im letzten Grunde doch als die wirkliche und
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echte Lösung aller Menschenfragen ansehen – da versagt dieser Gott Mammon. Und wo es gilt, dem Tode die Maske vom Gesicht zu nehmen und die Angst zu bannen, die von diesem unheimlichen Grenzwächter unseres Lebens ausgeht, da sehen wir diesen Gott selbst schwach und zittern. Denn er weiß ganz genau, hier wird seine ganze Nichtigkeit offenbar. Nur in dieser Welt hat er etwas zu sagen. Nein, sagt Jesus, wenn ihr wißt, was Gott vermag und wozu er mich gesandt hat, dann wird es euch wie Schuppen von den Augen fallen und ihr werdet selbst erkennen, was für ein ungleiches Gespann ihr da vor den Wagen eures Lebens gespannt habt. Darum kommt auch nichts voran. Wenn der eine nach vorn will, dann bremst der andere. Ihr müßt dem einen absagen, damit ihr dem anderen anhangen könnt. Und nun nimmt er uns mit, mit allen unseren Essens-, Kleider- und Lebenssorgen und geht mit uns hinaus, dorthin, wo es noch das Heute gibt, wo dieser Götze Mammon noch nichts zu sagen und zu bedeuten hat, und stellt uns, den Menschen, wieder dort hinein, wohin wir gehören, dort, wo die Welt einen Himmel über sich hat und nicht so trostlos sich selbst überlassen ist, wie unser Kleinglaube meint. Jesus nimmt uns mit dorthin, wo die Vögel unter dem Himmel ihr Lied anstimmen: kein Sorgenlied, sondern ein Lob- und Jubellied. Und Jesus stellt uns mitten hinein in den Schmuck und die Herrlichkeit der Blumen auf dem Felde und macht sie zu Predigern, die den Menschen fragen: Wie steht es mit dir, o Mensch – warum bist du uns so fremd geworden, warum bist du herausgefallen aus dem Ring, in dem wir laufen? Mitten im Jubelgesang der Schöpfung steht der Mensch – und sorgt. Es gibt eine Sage aus dem Altertum: Ein Riese hatte es auf sich genommen, das Weltall auf seine Schultern zu nehmen, aber kaum hatte er das getan, so war er wie gebannt durch die Last, die er auf sich genommen hatte. Das ist der Mensch. Seitdem er glaubt, daß Gott tot ist, seitdem er meint, er müsse die Last des ganzen Weltbestandes auf seine Schultern nehmen – seit diesem Tage ist er wie gefesselt, und ein anderer Gott ersteht vor ihm und verspricht ihm, dabei zu helfen, das ist der Mammon, das Geld. Aber Jesus sagt uns, daß wir doch nicht ganz heraus können aus dem, was die Vögel unter dem Himmel und die Lilien auf dem Felde uns offenbaren. Reich Gottes. Gottes Gegenwart unter uns. Zurück in Gottes Hand. »Ihn, ihn laß tun und walten …«
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18. König in der Uniform des Elends Matthäus 21,1-9
Da sie nun nahe an Jerusalem kamen, gen Bethphage an den Ölberg, sandte Jesus seiner Jünger zwei und sprach zu ihnen: Gehet hin in den Flecken, der vor euch liegt, und alsbald werdet ihr eine Eselin finden angebunden und ein Füllen bei ihr; löset sie auf und führet sie zu mir! Und so euch jemand etwas wird sagen, so sprechet: Der Herr bedarf ihrer; sobald wird er sie euch lassen. Das geschah aber alles, auf daß erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten, der da spricht: »Saget der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen der lastbaren Eselin.« Die Jünger gingen hin und taten, wie ihnen Jesus befohlen hatte, und brachten die Eselin und das Füllen und legten ihre Kleider darauf und setzten ihn darauf. Aber viel Volks breitete die Kleider auf den Weg; die andern hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg. Das Volk aber, das voranging und nachfolgte, schrie und sprach: Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe! Wir sammeln uns heute hier um das alte Evangelium vom Palmsonntag. Mit diesem Evangelium hat die christliche Kirche zu allen Zeiten, in Zeiten der Not und in Zeiten des Glückes, die Karwoche eingeleitet. Es ist dasselbe Evangelium, das über den Toren des Advent steht. Mit diesem Klang: Siehe, dein König kommt zu dir, wird Weihnachten und wird Ostern eingeläutet. Unter diesem Evangelium sind wir am Tage unserer Konfirmation an den Tisch des Herrn getreten, in jenen Zeiten, in denen alles noch friedlicher, gesegneter und gesammelter war. Heute sind unsere Kirchen zerstört, heute können viele unserer Kinder nicht mehr konfirmiert werden, heute sind Not und Hunger, Leid und Sorge so gewachsen, daß wir kaum noch ein Empfinden dafür haben, in die Karwoche einzutreten. Und doch, haben wir es heute nicht nötiger denn je, unsere Augen aufzuheben zu diesem Stern, der uns geleitet, und unsere Herzen bereit zu machen für die große Kunde: Siehe, dein König kommt zu dir, »ein König im Namen des Herrn«, wie es bei Lukas heißt? Es ist also doch nicht so, daß wir verlassen und hilflos sind, preisgegeben den Schrecken und Ängsten, die über uns kommen. Sondern wir können sehen, daß einer bei uns ist, der
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uns königlich über dies alles hinaushebt, weil er der Herr ist über Leben und Tod. Das irdische Jerusalem hat den Sinn seines Einzuges nicht verstanden und Jesus hat selbst geweint über die Stadt, die nicht begriffen hat, was zu ihrem Frieden diente. In ähnlicher Weise haben auch wir erlebt, wie die Menschen sich abwandten von der Königsherrschaft Gottes, die er im Namen Jesu aufgerichtet hat; in ähnlicher Weise erleben wir heute, wie die Verwerfung Jesu das Vorzeichen geworden ist für Gericht und Untergang. Und doch, in der Gemeinde Gottes, unter denen, denen Jesus Christus mit seinem Kreuz und Leiden das Herz abgewonnen hat, gilt es noch heute, daß er bei uns ist und bleiben wird, als der Herr aller Herren und der König aller Könige. Und es gilt darum auch heute noch, was der Dichter singt: »O wohl dem Land, o wohl der Stadt, so diesen König bei sich hat.« Die Geschichte vom Einzug Jesu nach Jerusalem wird uns so erzählt, daß dieser Spruch vom Königseinzug Gottes ihre eigentliche Mitte ist, der Schlüssel, um das seltsame Gebaren Jesu zu verstehen. Der Evangelist Johannes berichtet uns, daß selbst seine Jünger die Weisungen Jesu nicht begriffen hatten und daß ihnen erst nach seiner Auferstehung deutlich wurde, warum Jesus einen so seltsamen Königseinzug inszenierte. Erst nach seiner Auferstehung, das heißt doch wohl, erst nachdem die Hüllen seiner Knechtsgestalt hinweggenommen waren und seine königliche Größe durch den Sieg über den Tod offenbar geworden war. Erst da begriffen sie, daß Jesus seinen Einzug nach Jerusalem verstanden wissen wollte als Erfüllung eines Prophetenwortes, das der Prophet Sacharja, getrieben von Gottes Geist, kundgemacht hatte. Und wenn wir dies Prophetenwort aufschlagen, sehen wir, daß dieser Königseinzug Gottes Frieden bedeutet, es heißt da: »Ich will selbst um mein Haus ein Lager sein wider Kriegsvolk … ich will die Wagen abtun und der Streitbogen soll zerbrochen werden … So kehrt euch nun zur Festung, ihr, die ihr auf Hoffnung gefangen liegt.« So wollte Jesus seinen Einzug in die Stadt verstanden wissen, daß mit ihm der Friede einzieht und durch seine Macht die Mauer aufgerichtet werde, an der sich der Ansturm des Krieges und des Blutvergießens bricht. So wollte er und so will er kommen, daß deutlich wird, daß sein Gott, in dessen Namen er kommt, ein Gott des Friedens ist und nicht ein Gott des Krieges, ein Gott der Liebe und nicht des Hasses. Darum reitet er auf einem Esel ein, sanftmütig, wie unser Text sagt, denn er will herrschen über die Herzen und nicht über die Leiber, er will herrschen ohne Gewalt, er will herrschen, so, daß sich ihm die Herzen zuwenden, ohne Furcht und ohne Schrecken. Und es muß wohl auch so sein, daß Krieg und Frieden nicht nur äußere Vorgänge sind, sondern daß in alldem die Saat aufgeht, die in die Herzen
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der Menschen gesät ist. Der Mensch steht hinter beidem. Auf der einen Seite der Mensch, der keinen Frieden findet, der ruhelose, begehrliche, von Lust und Begierde hin- und hergerissene Mensch, der Mensch, der herrenlos geworden ist und der nun selbst darum den Herrn spielt, der sich frei nennt und doch preisgegeben ist allen Mächten und Gewalten, die nicht aus Gott sind. So wie es einmal in der Bibel heißt: »Die Gottlosen haben keinen Frieden«. Und auf der anderen Seite der Mensch, der in Jesus seinen Herrn findet, der durch den Glauben an ihn mit Gott versöhnte, in Gott zum Frieden gekommene Mensch. In seinem Herzen lebt ein neuer Geist, der auch ihn ergreift und durchwaltet. Und so sammelt sich um Jesus und das Evangelium von ihm eine neue Menschheit. Es kann gar nicht anders sein, wo er in der Mitte steht, da ist die Burg des Friedens und der Brüderlichkeit, da bricht sich das Kriegsgeschehen und der Haß, da wirkt Gott von innen her. Die Königsherrschaft Jesu bedeutet also, daß das Gesicht der Welt sich verändert, daß der Mensch frei wird, frei von den satanischen Gewalten, die ihn zum Werkzeug der Finsternis machen, frei zum Dienste Gottes, so, wie Gott den Menschen gemeint hat, da er ihn schuf. Aber es gehört zum Glauben dazu, in Jesus den König zu erkennen und anzuerkennen. Wir Menschen neigen alle dazu, uns dem zu beugen, der seine Macht und Autorität durch äußere Kennzeichen erweist. Wir neigen alle dazu, uns eher den Tyrannen zu beugen, als dem, der um unseren freien Gehorsam wirbt, wir neigen alle dazu, mehr auf Drohungen zu hören oder auf Versprechungen, und wir verstehen unter Herrschaft nur allzu leicht Gewalt und Macht. So ist es ja auch in der Welt und darum geht die Welt zugrunde. Jesus tut alle diese Kennzeichen von sich ab, bis heutigen Tages ist er der Niedrige, der Arme, der Sanftmütige, bis heutigen Tages weigert er sich, sich und seine Sendung einbeziehen zu lassen in das Treiben der Mächtigen und Gewaltigen auf Erden. Er gleicht dem Königssohn, der in der Uniform des Elends unter die Seinen tritt, damit sie ihn nicht lieben wegen des Glanzes und des Flitters, der nach außen hin scheint, sondern damit sie ihn lieben um der Liebe willen, die ihn selbst in Not und Tod führt. Und darum müssen wir, wenn wir in ihm den König erkennen wollen, unsere Augen schließen, müssen den Widerspruch ertragen, den seine irdische Erscheinung bietet. Das Kreuz ist in diese irdische Erscheinung tief eingesenkt, und wohl dem, der sich an diesem Kreuz nicht ärgert, wohl dem, der sich nicht schämt, den seinen König zu nennen, der so arm und gering über die Welt gegangen ist. Es gab offenbar damals Leute, die sich dessen nicht schämten. Der Evangelist Lukas sagt, daß es seine Jünger waren. Dabei haben wir weniger an die zwölf Jünger zu denken, als an das große Gefolge, das mit Jesus nach
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Jerusalem einzog. Und die erheben ihre Stimme und feiern ihn als ihren einzigen König. Sie huldigen ihm, sie schmücken die Straßen und breiten ihre Kleider auf den Weg. Das ist das Tun der Gemeinde im Angesicht der Welt. Das will Gott haben. Gott will, daß wir ihn nicht schweigend empfangen, er kommt zu uns, um die Burg des Friedens aufzurichten, er kommt zu uns, um uns frei zu machen. Aber wir sollen nicht schweigen. Wir können auch gar nicht schweigen. Wes das Herz so voll ist, des geht der Mund über. Und so erklingt der Ruf, der Freudenruf, mitten aus der Tiefe des Elends und der Not. Hosianna, ruft die Menge, Hosianna dem Sohne Davids, Hosianna in der Höh’. Bis heute singt die christliche Gemeinde diesen Lobgesang in ihrer Liturgie, er ist so gedacht, daß er unmittelbar vor dem Empfang des Abendmahls gesungen wird, denn im Sakrament ist der Herr gegenwärtig. Und es ist eine bleibende Erinnerung an jenen Tag und jene Zeit, daß das fremde Wort Hosianna in allen Zungen erklingt, es ist die Erinnerung daran, daß dieser Mann, dem wir huldigen, zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Lande über unsere Erde gegangen ist. Unser Glaube ist nicht bezogen auf einen Mythos, das heißt auf etwas, was sich menschliches Denken und menschliche Phantasie geschaffen hat, sondern es ist ein Mann von Fleisch und Blut, ein Prophet, wie es hier heißt, in dem die Königsherrschaft Gottes über uns kommt, Jesus, der Nazarener; an diesen Mann, an sein Leben hat Gott seine Herrschaft gebunden, hier scheiden sich die Geister. Denn dies will Gott, daß wir sein Kommen in diesem Jesus von Nazareth erkennen, in ihm und in keinem anderen, daß wir den Namen Jesu verherrlichen und ihn anerkennen als den, in dem die Königsherrschaft Gottes über alle Welt aufgerichtet ist. So wird die Geschichte vom Einzug Jesu nach Jerusalem zum Gleichnis für die Art und Weise, wie Gott seine Herrschaft und sein Reich in aller Welt aufbaut. Bis heute sind die Boten Gottes mit nichts anderem ausgerüstet als mit dem Evangelium von Jesus von Nazareth. Wir können ihn nicht anders verkündigen als wie er wirklich gewesen ist. Wir können keine Christusbilder von Macht und Herrlichkeit an die Stelle des Gottesknechtes setzen, der arm und sanftmütig in der Welt seinen Weg nimmt; wir können ihn nicht im Wettstreit sehen mit den Mächtigen dieser Welt, er bewegt sich auf einer anderen Ebene und darum ist sein Reich von ewiger Dauer. Er muß darauf warten, daß Gott ihn verherrlicht und ihn erweist als den König aller Könige. Seine Herrlichkeit ist Gottes Tat. Freilich, die ganze Heilige Schrift weiß davon, daß einmal der Tag kommen wird, da er wiederkommen wird, im Strahlenglanze seiner Macht. Bis dahin aber verherrlicht Gott ihn so, daß er in unseren eigenen Herzen das Hosianna er-
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weckt, daß dieser arme Jesus von Nazareth, der leidende Gottesknecht, aller Zeiten und aller Orten eine Gemeinde um sich hat, deren Mund sich auftut und die sehr zur Verwunderung der übrigen Welt den Nazarener anbetet und vor ihm in die Knie sinkt. Mit dieser ihrer Huldigung nimmt sie vorweg, was einmal alle Welt erfüllen wird, wenn sich alle Knie beugen werden und alle Zungen bekennen werden, daß Jesus der Herr sei. So steht die Gemeinde Gottes in der Welt, jetzt schon über diese Welt hinauslangend, jetzt schon geborgen und bewahrt durch den Lobgesang, an dem alle Welt erkennen kann, daß der Herr der Welt, der König aller Könige, hier seinen Thron aufgeschlagen hat.
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19. Freude und Umkehr Lukas 1,5-25 27. November 1943
Zu der Zeit des Herodes, des Königs in Judäa, war ein Priester von der Ordnung Abia, mit Namen Zacharias, und sein Weib war von den Töchtern Aarons, welche hieß Elisabeth. Sie waren aber alle beide fromm vor Gott und wandelten in allen Geboten und Satzungen des Herrn untadelig. Und sie hatten kein Kind; denn Elisabeth war unfruchtbar, und waren beide wohl betagt. Und es begab sich, da er des Priesteramts pflegte vor Gott zur Zeit seiner Ordnung, nach Gewohnheit des Priestertums, und an ihm war, daß er räuchern sollte, ging er in den Tempel des Herrn. Und die ganze Menge des Volks war draußen und betete unter der Stunde des Räucherns. Es erschien ihm aber der Engel des Herrn und stand zur rechten Hand am Räucheraltar. Und als Zacharias ihn sah, erschrak er, und es kam ihn eine Furcht an. Aber der Engel sprach zu ihm: Fürchte dich nicht, Zacharias! denn dein Gebet ist erhört, und dein Weib Elisabeth wird dir einen Sohn gebären, des Namen sollst du Johannes heißen. Und du wirst des Freude und Wonne haben, und viele werden sich seiner Geburt freuen. Denn er wird groß sein vor dem Herrn; Wein und starkes Getränk wird er nicht trinken und wird noch im Mutterleibe erfüllt werden mit dem heiligen Geist. Und er wird der Kinder von Israel viele zu Gott, ihrem Herrn, bekehren. Und er wird vor ihm her gehen im Geist und Kraft Elia’s, zu bekehren die Herzen der Väter zu den Kindern und die Ungläubigen zu der Klugheit der Gerechten, zuzurichten dem Herrn ein bereitet Volk. Und Zacharias sprach zu dem Engel: Wobei soll ich das erkennen? Denn ich bin alt, und mein Weib ist betagt. Der Engel antwortete und sprach zu ihm: Ich bin Gabriel, der vor Gott steht, und bin gesandt, mit dir zu reden, daß ich dir solches verkündigte. Und siehe, du wirst verstummen und nicht reden können bis auf den Tag, da dies geschehen wird, darum daß du meinen Worten nicht geglaubt hast, welche sollen erfüllt werden zu ihrer Zeit. Und das Volk wartete auf Zacharias und verwunderte sich, daß er so lange im Tempel verzog. Und da er herausging, konnte er nicht mit ihnen reden; und sie merkten, daß er ein Gesicht gesehen hatte im Tempel. Und er winkte ihnen und blieb stumm. Und es begab sich, daß die Zeit seines Amts aus war, ging er heim in sein Haus. Und nach den Tagen ward sein Weib Elisabeth
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schwanger und verbarg sich fünf Monate und sprach: Also hat mir der Herr getan in den Tagen, da er mich angesehen hat, daß er meine Schmach unter den Menschen von mir nähme. Ein Kranz von Ereignissen ist um das eine große Ereignis herum gelegt: um die Geburt des Herrn. Alle empfangen ihr Licht von dieser einen Mitte her; alle sind schon bewegt von jener »großen Freude, die aller Welt widerfahren soll«. Es ist, als ob die Evangelisten meinten, daß wir unsere Augen erst an das Wunder, an dieses »ewige Licht« und seinen »hellen Schein« gewöhnen müßten, und uns darum durch die Vorhallen der Verkündigungsgeschichten hindurchführten. Aber wo wir auch stehen mögen, ob hier mit Zacharias im Tempel oder da, wo Simeon stand und wartete, oder da, wo jener Stern den Magiern leuchtete – eins ist überall das gleiche: Wir stehen überall vor der Tatsache, daß Gott hier handelt, daß hier Dinge geschehen, die auf einer anderen Ebene liegen als das, was wir Geschichte nennen. Diese Adventsgeschichten haben die Aufgabe, uns mit der Geschichte vertraut zu machen, die in Jesus Christus Ereignis wird; einer Geschichte, die nicht wie unsere sonstige, menschliche Geschichte Gott verbirgt, in der uns Gott und sein Wille so rätselhaft und dunkel wird – sondern die uns Gott offenbart, die uns unmittelbar vor Gottes ewigen Plan und sein Wort stellt: Gott ist offenbart im Fleisch gerechtfertigt im Geist erschienen den Engeln verkündet den Hirten 1 geglaubt in der Welt aufgenommen in Herrlichkeit! Das heißt Advent – daß Gott sein Wort hält. Daß sein Wort geschieht; daß es – wirklich sehr wunderbar, sehr anders als sonst in der sogenannten Weltgeschichte – aber daß es geschieht, daß wir nicht nur unsere Wege gehen, sondern Gott auch die seinen geht. Und daß er gerade, weil er Gott ist, Wege gehen kann, die uns ganz und gar nicht nach Wegen der göttlichen Majestät aussehen. Wenn der von Erde genommene und wieder zu Erde werdende Mensch Geschichte macht, dann muß viel Glanz und Dramatik dabei sein. Wenn Gott handelt, dann genügt ihm ein Winkel der
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1 Tim 3,16: »gepredigt den Heiden«.
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Erde, ein elender Stall, eine arme Magd, ein Feld mit Hirten und ein armes, hochbetagtes frommes Ehepaar. So hebt unsere Geschichte an, die Verkündigung von der Geburt des Täufers. Nach außen ist die Zeit in Jerusalem gekennzeichnet durch den Edomiter Herodes, der auf dem Throne Davids sitzt. Kein Erbe der Verheißung. Ein Usurpator, der auch versuchte, Geschichte zu machen, aber eine schlimme, aus Widerspenstigkeit zu Gott geborene Geschichte. Immerhin, der Dienst im Tempel geht weiter. Es ist das das Bezeichnende an den Tempeln, daß der Dienst in ihnen immer weiter geht, mag es da draußen stehen, wie es will. »Die Choräle von Maria Laach werden weiter gesungen.« In diesem Dienst der Anbetung und des Opferns vor Gott ist Zacharias alt geworden, er weiß um die Verpflichtung, die ihm seine Herkunft aus einem der acht alten Priestergeschlechter auferlegt. Er wie seine Frau Elisabeth leben in einer Zeit, da auch in Jerusalem heidnische Sitte und römische Weltlichkeit einzog, nach der alten Ordnung der Väter. Sie sind beide gerecht vor Gott, sie stehen untadelig da, ihr Leben ist geregelt nach den Ordnungen und Verheißungen des Herrn. Irgendwie – das zeigt uns diese Geschichte – ist aber unser ganzer Dienst am Heiligtum, ist unser frommes, gottesfürchtiges Leben nur Vorbereitungszeit, Advent, Warten darauf, daß das geschieht, was wir nicht machen können, daß die Gegenwart Gottes geschieht, daß die Erlösung geschieht, daß das geschieht, was jenseits alles von uns her Denkbaren und Möglichen liegt. Und das ist das Adventliche an unserem Text, daß er uns den Zacharias gerade in diesem Augenblick zeigt, wo das geschieht. Wo dieses Geschehen von oben her eintritt in diesen Tempeldienst mit seinem fast zeitlosen Ablauf, in dieses fromme geregelte Leben, das darüber selbst doch zerbricht. Unser Text zeigt uns, wie Zacharias plötzlich vor Gottes Wort steht, ihm selbst zugesandt vom Throne Gottes her, und wie er auf einmal da steht, wo vor ihm schon einer gestanden hatte, dem auch hochbetagt die Verheißung zuteil wurde: Du sollst einen Sohn haben. Äußerlich ist alles wie immer, draußen wartet die Menge, er, der stellvertretend für sie das Rauchopfer darbringt, ist im Tempel. Die Menge betet, hier aber steigt das Opfer empor, das die Gebete nach oben trägt. Wie oft hat er schon so gedient. Aber da ist auf einmal etwas anderes da, etwas, das ihn anbeten läßt: Zur Rechten des Altars sieht er Gottes Engel stehen. Und der Engel bringt ihm eine Botschaft, sein Gebet ist erhört, er soll einen Sohn haben, und sein Name wird von Gott bestimmt: Johannes, der, dem Gott hold ist. Nicht genug damit: Schon jetzt, längst vor dem dieser Johannes gebo-
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ren, ist seine Sendung, die Aufgabe seines Lebens von Gott festgelegt. Er wird im Dienste der Erlösung stehen, die Gott im Sinn hat. Sein ganzes Leben wird nur im Dienste des Advents des Herrn stehen. Und nun erfahren wir alle, was Gott unter dieser Vorbereitung auf sein letztes welterlösendes Tun versteht. Dieser Johannes wird es widerspiegeln. Das erste Wort ist: Freude, und sein letztes: Umkehr. Zwischen Freude und Umkehr muß alles Leben sich bewegen, das dieser einen Mitte, diesem Licht in der Finsternis, nahe kommt. Freude, daß nun doch mehr da ist als Tempeldienst und fromme, ehrbare Lebensführung; Freude, daß das Ziel und die Sehnsucht aller Frömmigkeit, alles Kultes nahe gekommen ist. Freude, daß Gott die Tage des Elia wiederkommen läßt; daß es nicht mehr angeht, auf beiden Füßen zu hinken, daß man nicht mehr gleichzeitig dem Baal und dem Herrn Zebaoth dienen kann; Freude und Jubel darüber, daß die Gottesherrschaft nahe ist, daß die Zeit unter das Gewicht der Ewigkeit zu stehen kommt; daß einer gekommen ist, geboren ist, der es wagt, den Namen Gottes wieder groß zu machen, so groß, daß selbst ein Herodes daran nicht vorbei kann, daß selbst das üppige Jerusalem darüber erschrickt und den Ruf der Umkehr vernimmt. Denn Umkehr – Buße, das ist das andere, was mit dem Sohn des Zacharias Ereignis werden wird. Das, womit das Alte Testament ausklingt, das Eingangsgeläut zum Neuen: Er wird die Väter zu den Kindern bekehren. Vom Vaterland zum Kinderland! Er wird jenen kindlich großen Gehorsam lernen, die Neugeburt, die Taufe, das Sterben des alten und das Geborenwerden des neuen Menschen. Er wird zeigen, daß Gerechtigkeit Sinn hat und daß es Zeit ist, diese Gesinnung zu lernen, Zeit für alle die, welche ihr Leben im Ungehorsam vergeuden. So wird es sein, ein Volk, das jubeln wird: »Hosiannah dem Sohne Davids, gelobt sei, der da kommt, im Namen des Herrn!« Zacharias ist kein Abraham. Zacharias kanns nicht glauben. Die Wirklichkeit widerspricht dem allzusehr. Aus diesem alten erstorbenen Stamm soll das neue Reis aufgehen? Das glaube, wer will. Zacharias ist fromm, ist ein neuer Priester – aber nun, da Gott vor ihm steht, Gottes Wort, Gottes Erfüllung, Gottes eigener Advent, versagt er. Glauben ist mehr als fromm sein. Nun, da er dort oben wandern soll, wo Abraham und Jakob wanderten, ohne Zeichen, allein mit dem Talisman des Wortes, schwindelt ihn vor solcher Höhe. Woran werde ich das erkennen? sagt er. Er weiß nicht, daß Gott vor ihm steht, der das Nicht-Seiende ins Dasein ruft, von dem gilt: »So er spricht, so geschiehts.« Das aber ist der Schlüssel des Ganzen. Wenn wir hier schon mit Zacharias zweifeln, was werden wir da erst sagen, wenn derselbe Engel der Maria die Botschaft bringen wird: »Du wirst einen Sohn
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gebären, er wird Sohn des Höchsten heißen«? Was werden wir dann sagen, wenn dieser Sohn selbst zu uns sagen wird: »Stehe auf und wandle, deine Sünden sind dir vergeben«, wenn er den Tod ins Leben und unsere Schuld in die neue, vor Gott geltende Gerechtigkeit verwandeln wird? Der Engel bleibt bei dem, was er gesagt hat. Sein Wort ist Gottes Freudenbotschaft. Und Zacharias empfängt ein Zeichen: er verstummt. Wer nicht glaubt, der kann nicht reden. Der Sohn aber wird reden. Johannes wird seinen Vater rechtfertigen, in ihm wird sich die alte große, priesterliche Tradition erfüllen; in ihm, dem Rufer Gottes, der wie ein Herold vor seinem Thron herlaufen wird mit einem Schrei, der so noch nie erklang: »Das Himmelreich ist nahe! Jetzt tut Buße!« Jetzt ist der Tag, da die Welt gerichtet wird. Zacharias verstummt, das Volk erstaunt, es begreift, daß hier etwas geschah, was ungeheuerlich ist, und begreift doch nichts. Aber über Begreifen und Nichtbegreifen, über Staunen und Kleinglauben hinweg geht Gott seinen Weg. Elisabeth erfährt, daß Gott recht hat. Sie alle, das Volk, die Priester, seine Frau müssen nun warten. Aber der Tag kommt, da nichts, weder Herodes noch das Alter der Eltern noch der Unglaube des Zacharias verhindern können, daß der Tag Gottes, die Stunde der Erlösung anbricht – so daß wir im Rückblick auf das Ganze mit jener Anbetung schließen dürfen, die wir dem Apostel Paulus entnehmen: O du treuer Gott!
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20. Lob der Treue Gottes Lukas 1,57-80 18. Dezember 1943
Und Elisabeth kam ihre Zeit, daß sie gebären sollte; und sie gebar einen Sohn. Und ihre Nachbarn und Gefreunden hörten, daß der Herr große Barmherzigkeit an ihr getan hatte, und freuten sich mit ihr. Und es begab sich am achten Tage, da kamen sie, zu beschneiden das Kindlein, und hießen ihn nach seinem Vater Zacharias. Aber seine Mutter antwortete und sprach: Mitnichten, sondern er soll Johannes heißen. Und sie sprachen zu ihr: Ist doch niemand in deiner Freundschaft, der also heiße. Und sie winkten seinem Vater, wie er ihn wollte heißen lassen. Und er forderte ein Täfelein und schrieb also: Er heißt Johannes. Und sie verwunderten sich alle. Und alsbald ward sein Mund und seine Zunge aufgetan, und er redete und lobte Gott. Und es kam eine Furcht über alle Nachbarn; und diese ganze Geschichte ward ruchbar auf dem ganzen jüdischen Gebirge. Und alle, die es hörten, nahmen’s zu Herzen und sprachen: Was, meinst du, will aus dem Kindlein werden? Denn die Hand des Herrn war mit ihm. Und sein Vater Zacharias ward des heiligen Geistes voll, weissagte und sprach: Gelobet sei der Herr, der Gott Israels! denn er hat besucht und erlöst sein Volk und hat uns aufgerichtet ein Horn des Heils in dem Hause seines Dieners David, wie er vorzeiten geredet hat durch den Mund seiner heiligen Propheten: daß er uns errettete von unsern Feinden und von der Hand aller, die uns hassen, und Barmherzigkeit erzeigte unsern Vätern und gedächte an seinen heiligen Bund und an den Eid, den er geschworen hat unserm Vater Abraham, uns zu geben, daß wir, erlöst aus der Hand unserer Feinde, ihm dienten ohne Furcht unser Leben lang in Heiligkeit und Gerechtigkeit, die ihm gefällig ist. Und du, Kindlein, wirst ein Prophet des Höchsten heißen. Du wirst vor dem Herrn hergehen, daß du seinen Weg bereitest und Erkenntnis des Heils gebest seinem Volk, das da ist in Vergebung ihrer Sünden; durch die herzliche Barmherzigkeit unsers Gottes, durch welche uns besucht hat der Aufgang aus der Höhe, auf daß er erscheine denen, die da sitzen in Finsternis und Schatten des Todes, und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens. Und das Kindlein wuchs und ward stark im Geist; und er war in der Wüste, bis daß er sollte hervortreten vor das Volk Israel.
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Ehe wir an die Krippe von Bethlehem treten und unsere Knie dort beugen vor dem Wunder, »den aller Weltkreis nie beschloß«, führt uns der Evangelist an die Wiege eines anderen Kindes, des Vorläufers, des Kindes der Elisabeth. Wir treten hinein in jene frohbewegte Gemeinschaft der Eltern, Nachbarn und Verwandten, die alle zusammengekommen sind, um das große Ereignis zu begehen, daß Elisabeth, hochbetagt, frei geworden ist von dem Makel der Unfruchtbarkeit; daß ihr Gott einen Sohn geschenkt hat und daß nun Freude und Fortbestand in die Familie des Zacharias gekommen ist. Es ist ja so bei den vornehmen Geschlechtern, und die Familie des Zacharias stammte aus den vornehmsten Geschlechtern der israelitischen Priesterschaft, daß eine besondere Trauer darüber steht, wenn solch ein Geschlecht ausstirbt. Nun sind sie alle froh, daß Elisabeth einen Sohn geboren hat. Nun wird das Geschlecht nicht aussterben. Es ist sehr merkwürdig, indem uns der Evangelist an die Wiege des Täufers führt, wie da auf einmal ein innerer und ein äußerer Kreis da ist. Im innern, da steht der Vater und die Mutter, im äußeren stehen die Verwandten, von denen uns so auffällig viel erzählt wird. Es ist fast wie ein Kampf zwischen diesen beiden, den Eltern und den Verwandten. Die Verwandten sehen in dieser Geburt nichts anderes als die Fortpflanzung des Geschlechtes, eine Gabe für den irdischen Fortbestand des Namens. Darum wollen sie auch, daß das Kind den Namen des Vaters habe. Aber Elisabeth, von der wir sonst so wenig hören, Elisabeth wird hier an der Wiege des Kindes zum Zeugen und sagt: nein. Es wird ihr vielleicht nicht leicht gefallen sein gegenüber den Verwandten, wahrscheinlich denen ihres Mannes, den Namen ihres Mannes abzulehnen, zu sagen: nein, er soll Johannes heißen. Elisabeth weiß, dieses Kind verdanke ich nicht Fleisch und Blut; das wird geboren, weil es seinen Weg machen muß in dem Kommen des Reiches Gottes; dieses Kind gehört nicht mir, es ist wirklich nur ein Geschenk für mich unter dem Glanz und unter der Hilfe der göttlichen Barmherzigkeit. Und darum ist es so wunderbar an dieser Mutter, daß sie es an ihn abtritt. Ja, daß sie dessen ganz froh wird und ganz sicher, daß das eigentlich ihre große Freude ist. Wunderbar, wenn ein solches altes Priestergeschlecht darin enden darf, daß aus ihm der Mann kommt, von dem Jesus selber sagt, daß er größer ist als alle, die von Weibern geboren sind. Der Prediger in der Wüste, der selber so niedrig war, daß er von sich sagte, er wollte nur die Stimme sein, eine Stimme Gottes in der Wüste der Welt. Ist das nicht die Erfüllung alles Priestertums? Daß das geschieht, daß Gott so ein Werkzeug annimmt aus Menschenhand, welches nichts anderes ist als eine Stimme, als ein Ruf, ein Schrei in der Wüste: Kehrt um! Gottes Herrschaft ist nahe! Als ein Ruf zur Vergebung, als eine ausgereckte
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Hand, hinweisend auf den Aufgang aus der Höhe, auf das Morgenrot, das von Gott her leuchtet, damit sich die Herzen der Väter bekehren zu den Kindern und die der Kinder zu den Vätern. Eine wunderbare Erfüllung dessen, was in diesem Geschlecht angelegt war. Wer weiß noch etwas von den Geschlechtern von damals? Aber alle wissen etwas von Johannes, und wo immer der Advent gefeiert wird, steht er da. Dann steht bei ihm Elisabeth und sein Vater Zacharias, wirkliche priesterliche Menschen, die Gott das Beste geben, was sie haben – den erstgeborenen Sohn. Zacharias kann auf einmal wieder sprechen. Er ist durch eine tiefe Dunkelheit gegangen, der Unglaube hatte ihm seine Zunge gebunden. Und er konnte jetzt so reden, wie er bisher noch nie geredet hatte: Er wird der Kirche den Lobgesang singen, der über der Krippe von Bethlehem steht. Er wird den Herrn loben aus ganzem Herzen und ganzem Gemüt, der gekommen ist, um sein Volk Israel zu erlösen. Ach, meine Freunde, es ist oft so schwer, wenn das Lob Gottes, das wahre Lob Gottes geboren werden soll aus unseren Herzen, nicht wahr, das wissen wir alle. Wir müssen an so vielen Abgründen vorüber gehen, wir müssen so oft schweigen und verstummen, weil dieses Lob nicht heraus will aus unserem Herzen, daß es uns geht wie dem Zacharias. Wir Menschen sind so schwach im Glauben, daß wir meistens nicht für wahr halten können, was Gott sagt und verheißt, bis es geschieht. Das ist eine große Hilfe, die der alte Priester jetzt erfährt, als er das Kind vor sich sieht; daß ihm Gott nun wirklich zeigt, daß sein Wort, das Gesicht im Tempel, nicht nur ein Wort war, sondern daß es wirklich geschieht. Ich denke manchmal, das wahre Lob Gottes aus unserem Herzen, das wird wohl auch erst aufsteigen können zu Gott, wenn einmal der Tag kommen wird, da auch an uns geschieht, was Gott verheißen hat; da die Gotteskindschaft, die uns verheißen ist, nicht nur so sein wird, daß sie wie eine Verheißung über uns steht, sondern daß sie Wirklichkeit werden wird; da das Kind wahrhaft geboren wird, das wir sein sollen vor Gott in jener letzten Stunde, wo der alte Mensch seine Hülle abstreift und der neue Mensch hervorgehen wird in aller Gerechtigkeit und Heiligkeit, wie es hier im Lobgesang des Zacharias heißt. Wir wandern alle jener Stunde entgegen, wo wir nach langem Schweigen so Gott loben werden, der unsere Zunge lösen wird nach allen Schmerzen, nach allen Sünden, nach aller Verzweiflung, nach allen Sorgen. Es bewegt mich so, wenn ich heute durch das Volk gehe und mit den Menschen rede, daß sie im Grunde alle schweigen. Alles, was sie reden, ist im Grunde Schweigen, es ist kein Lob Gottes darunter; ja, es ist schlimmer als das Schweigen. Es ist ein Hadern mit Gott. Es ist so, daß sie alle weithin mit Gott hadern, wie er sie so führen kann, wie er das zulassen
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kann. Wir sind darum alle so fern vom Lob Gottes, wir müssen alle darauf warten, daß er uns wieder die Zunge löst, daß er an uns das tut, was uns frei macht, wirklich ihn zu loben, ihm die Ehre zu geben, wirklich da zu stehen, wo die Engel stehen, wenn sie singen: »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!« Alles hängt vom Glauben ab. Wenn wir dahin kommen werden, daß wir das, wenn auch nur anfänglich, wieder tun können: daß wir Gott loben können, auch mitten in den Wegen, die wir nicht verstehen, dann wird das Licht aus der Höhe, der Aufgang aus der Höhe uns ganz nahe. Und dann sind da die Verwandten. Sie verstehen von alledem nichts, sie sehen das Ganze an als ein Familienfest, als eine Fortpflanzung des Geschlechts, sie tragen das Kindlein zur Beschneidung. Sie meinen, nun sei das Geschlecht, die Sippe geadelt, fortgeführt, gerettet. Lukas zeigt uns eigentlich damit, daß da, wo ein Mensch so von Gott berufen wird, die Menschen zwar im äußerlichen Sinne nah sein können, aber im Innern ganz fern. Eine Furcht kommt sie an, etwas Unheimliches. Sie sind sicher fromme Leute, die ständig in die Kirche gehen, die einen großen Wert darauf legen, daß einer der Ihren der Priester Zacharias war. Aber daß das jetzt geschehen soll, daß es auf einmal heißt, daß Gott sich erweisen könnte in einem Menschen, das ist etwas Furchterregendes. Das erschüttert auf einmal die Selbstverständlichkeit ihres Lebens. Wer weiß, ob sie sich später nicht zurückgezogen haben von diesem Verwandten, als sein Haupt auf der blutigen Schüssel des Herodes lag; als er dahinsank als ein Staatsfeind – wo es darauf ankommt, Gottes Wege zu gehen und zu erkennen. Fleisch und Blut haben uns das nicht offenbart. Dahin kann uns nur bringen, was Gott selbst gibt, sein Heiliger Geist, sein Wort, seine Tat an unserem Herzen: »Die ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu heißen«, Menschen, die nach dem Willen des Geistes geboren werden, nicht nach dem Fleisch. Menschen, die aus dem Geist geboren sind. Und als ob wir nun etwas hören sollten von jener Geburt des Geistes, stimmt Zacharias diesen Lobgesang an. Damit endet der Advent. Nachdem der Lobgesang verklungen ist, treten Elisabeth und Zacharias zurück. Ihre Namen werden kaum noch genannt. Aber der Lobgesang, der geht mit, der steht gleichsam als ein menschliches Bekenntnis, als Bekenntnis der alttestamentlichen Gemeinde über dem Kinde, das jetzt geboren werden soll. Zwei Dinge sind der eigentliche Inhalt des Lobgesanges. Das erste ist das Lob der Treue Gottes. Meine Freunde, haben wir denn wirklich einmal auf Gott gewartet, daß Gott uns etwas gibt, daß er einen Wunsch erfüllt? Wir haben darauf gewartet, ob es geschehen sollte oder nicht. Aber haben wir schon so auf Gott gewartet, wie hier vom Warten auf Gott die Rede ist?
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Dieser Priester hat offenbar wirklich auf Gott gewartet, der sein Volk erlöst. Er hat auf Gott gewartet – nicht für sich und seine Brüder, sondern er hat das Leid des Volkes gesehen, er hat gesehen, wie diese Menschen von den Gottlosen verführt und in Bande geschlagen werden; er hat gesehen, wie alle gottfeindlichen Mächte, die Mächte der Sünde und des Irrtums und des Wahnes, über dieses Volk gehen; und seine Seele will verbluten über dem Leid seines Volkes. Gott hat so lange nicht mehr zu seinem Volk geredet. Und alles, was er tat, war nichts anderes, als daß noch einmal das Gesetz gesagt wird; daß das Volk in Bande geschlagen wurde. Meine Freunde, wer nicht jemals schon empfunden hat, daß Gott schweigt, der wird auch nie begreifen, daß er redet. Wer nie darüber fast zerbrochen ist, daß Gott sich von seinem Volk entfernt hat; wer nie darauf gewartet hat, daß ein Frühling einbrechen würde über dem Volk Gottes, dem wird auch nie der Tag kommen, da seine Zuge gelöst wird und er loben kann. Es ist eben nicht so, wie viele meinen, daß das Christentum da sei wie eine unveränderliche, sich nie wandelnde Idee; so wie eine Kirche aus Stein, die eben steht und darauf wartet, daß die Menschen sie füllen – so ist Gott nie da. Sondern Gott hat seine Zeiten, da er sein Volk besucht, da er uns besonders nahe ist – und da er schweigt. Er hat Zeiten, da seine Worte verfälscht werden und seine Wahrheit untergeht; da das ganze christliche Leben nichts anderes ist als ein leerer äußerer Betrieb. Und er hat Zeiten, da von den Enden der Welt her sein Licht aufblüht, da die Menschen, die in den Banden des Todes wandeln, etwas sehen von dem Aufgang aus der Höhe. Wir können gar nicht genug darum beten, danach schreien, darum ringen, daß Gott sich uns wieder zeigt; daß das Wort seines Evangeliums, der Geburt seines Sohnes, wieder anfängt zu laufen; daß wirklich etwas geschieht in unserem Volk, unter denen, die da sitzen in Finsternis und Schatten des Todes; daß wir selbst, die wir müde sind, auf einmal etwas spüren von der großen Verheißung: »Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft«; daß sich etwas zeigen möchte von dem Licht, das da leuchtet; daß etwas Unbegreifliches geschehen mag, daß auf einmal Menschen da sind, die mitten in der Nacht dieser Tage etwas begreifen von diesem Licht, das in die Welt gekommen ist und da vor uns hintritt, damit alle das Licht des Lebens haben. Meint ihr nicht, daß auch für unsere Zeit so etwas kommen muß, daß all unser Leid im letzten Grunde nur enden kann im Gebet: »O Heiland, reiß den Himmel auf«; daß einer allein uns befreien kann von den Mächten der Tiefe, unter denen unser ganzes Volk leidet – Gott. Calvin sagt: Die Reformation der Kirche ist so ein Gotteswerk, das kann kein Mensch, das ist so ein Wunder wie die Auferstehung der Toten. Wir können im Advent auch sagen: Das ist so ein großes Wun-
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der wie die Geburt des Herrn. Darauf müssen wir warten. Es nützt nichts, daß das einmal geschehen ist. Gottes Worte wollen immer neue Gegenwart sein, uns neu gesegnet und zu neuen Menschen machen. Was wird denn da geschehen, wo Jesus Christus wahrhaft erkannt und geglaubt wird? Das sagt Zacharias im zweiten Teil seines Lobgesanges, als er den Blick auf sein Kind richtet: Du wirst ein Diener des Höchsten heißen. Du wirst die Vergebung der Sünden verkündigen, und du wirst darin dem Volk die eine Botschaft bringen: daß alle die Vergebung der Sünden und die Barmherzigkeit Gottes haben. Ist denn das so etwas Großes, Vergebung der Sünden? Meine Freunde, wenn wir das eine begriffen, daß dazu Gott Mensch werden mußte; daß dazu dieser Mensch über die Erde gehen und sein Leben für uns hergeben mußte, daß die Welt die Vergebung der Sünden empfängt – dann würden wir wissen, daß das das Große ist. Weil sonst niemand die Sünden vergeben kann, darum kannst du nicht froh werden, darum ängstet dich der Tod, darum verzweifelst du – weil am Ende das eine übrig bleibt: meine eigene Schuld; weil zwischen Gott und uns, zwischen dem Kind und dem Vater die letzten Dinge nicht in Ordnung sind. Wir können viel tun, um darüber hinweg zu kommen. Wir können leichtsinnig sein oder tapfer; wir können leichtsinnig sein, indem wir unser Lebensschiff so flach bauen, daß es nicht anstößt an die Klippen und Felsen an der Oberfläche. Aber wir merken irgendwie, wir sind das alles nur darum, weil wir im Letzten getrieben sind von einer ungelösten Frage. Wir können versuchen, fromm zu sein, uns zwingen zu Gebet und Heiligkeit. Wir werden erleben, daß, je mehr wir das versuchen, wir desto stärker spüren, daß damit in unserem Leben etwas ist, das alle unsere Bemühungen verdirbt. Wir werden dann erkennen, daß uns nur der vergeben kann, vor dem wir schuldig sind; daß darum kein Mensch uns vergeben, uns Frieden schenken kann; daß Gott selber uns besuchen muß von seiner Höhe her; daß er selbst uns die Hand aufs Haupt legen muß; daß er selbst uns an sein Herz ziehen muß; daß er selbst uns, wie der großen Sünderin, das Wort der Vergebung zusprechen muß. So steht er mitten unter uns. So wird er geboren in Bethlehem. So kommt er zu uns im Evangelium. So sagt er zu uns allen: »Sei getrost, deine Sünden sind dir vergeben.« »Wo aber Vergebung der Sünden ist, da ist Leben und Seligkeit.« Gott gebe, daß wir dieses Leben, diese Seligkeit mitnehmen dürfen, daß wirklich der Aufgang aus der Höhe uns auch besuchen kann; daß wir begreifen möchten, daß die Vergebung der Sünde ein so großes Ding ist, daß Gott um dessentwillen geboren wird und sterben mußte, damit wir sie lebendig haben, damit sie uns je erreicht – das gebe euch und mir der ewige Gott.
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Durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes hat uns besucht der Aufgang aus der Höhe, auf daß er erscheine denen, die da sitzen in Finsternis und Schatten des Todes, und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.
I. Der Gegensatz der beiden Welten Die Welt Gottes und unsere Welt sind zwei Welten, die in Wahrheit gegeneinander stehen. Es ist vielleicht schon verkehrt, von einer Welt Gottes zu reden, die Bibel tut das nicht. Sie redet, wenn sie diese Sache ausdrücken möchte, von Gottes Reich. Das bedeutet eine Wirklichkeit, die durch und durch geprägt ist von dem Herr-Sein Gottes. Und so weit wird ja wohl noch unser Denken und Schließen reichen, daß wir uns sagen können: Wo Gott ganz und gar, ohne Widerspruch und Widerstand Herr wäre, wo es kein Nein gegen seinen Willen gäbe, keine Wesen, die ihre eigenen Wege gehen und ihren eigenen Willen unter allen Umständen durchsetzen wollen, da können wir zum mindesten sagen, was es dort nicht gibt: daß es dort den Tod nicht geben würde, jedenfalls nicht diesen Tod, wie wir ihn kennen; daß also in diesem Reiche niemand im Schatten des Todes sitzen müßte, weil es diesen Schatten gar nicht gibt, weil hier ein Licht leuchtet, das keinen Wechsel kennt und darum auch keinen Schatten. Ein Licht, dessen Aufgang keinen Niedergang einschließt. Und dabei sind wir freilich schon an der Grenze alles dessen angelangt, was menschlicher Verstand sich noch vorstellen kann. Wir können von dieser Welt Gottes nur in Negationen reden, nur so, daß wir immer wieder sagen: da muß es ganz anders sein, als es hier ist. Dort können diese Mächte und Gewalten, die wir in uns und um uns immer wieder so hemmend spüren, also etwa das, was wir den Mammon nennen oder die Gewalt, mit der die Herren die Reiche dieser Erde regieren, oder die Leidenschaften, die uns beseelen, oder auch der Unverstand und die Verfinsterung der Massen und des einzelnen, aus denen dann die anderen so gerne Kapital schlagen – alle diese Realitäten unserer Welt können dort nichts mehr sein und bedeuten. Dort würden wir
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wirklich etwas von dem zu schmecken bekommen, was Freiheit heißt und was echter, freier, nicht sklavischer Gehorsam heißt, was Leben heißt, das nicht bereits mit dem Tod gemischt ist, wie das, was aus unserem Fleisch und Blut mit unvermeidlicher Tragik geboren wird; wir würden dort – wenn diese Welt einmal unsere Welt würde – wir würden dort ohne Schuld und ohne Reue leben können, wir würden dort überhaupt erst wissen, was es heißt, einen anderen Menschen zu lieben und auch, was es heißt, einen anderen Menschen zu hassen. Das eine würde wohl so überwältigend und befreiend sein, daß das andere, wodurch aller Unfriede in die Welt kommt, gar keinen Eingang mehr in unsere Herzen fände. Aber das Schreckliche an dieser Erkenntnis ist eben dies, daß sie für uns nur um einen Preis zu haben ist: um den Preis des radikalen Nein zu dieser Welt, in der wir alle leben. Und wieder müssen wir sagen, daß etwas in uns dagegen rebelliert, diesen Preis zu zahlen. Denn so leer und sinnlos ist doch wohl unser Leben hier und diese unsere Welt, in der wir wachsen und wirken, in der wir arbeitend und denkend unseren Weg nach vorn bahnen, in der wir richten und predigen, um uns und um die anderen uns sorgen – so nichtig kann doch dies alles nicht sein; dann wäre es ja wohl das Beste, wir suchten aus dieser Welt zu entfliehen. Wir wissen, daß oft gerade die Menschen, die ganz und gar auf das Licht von drüben schauten, diesen Ausweg suchten. Aber wir wissen zugleich, daß ein solcher Schritt eben nicht in die Welt Gottes, sondern ins Leere führt. Das wissen wir und darum ahnen wir dunkel, daß die Sehnsucht nach der anderen Welt eine unendliche ist, die niemand von uns in die Tat umzusetzen vermag. Es geht uns, wie es den Gefangenen geht. Wir wissen zwar, daß es ein Draußen gibt, daß die dunkle und finstere Welt der Ketten und Verliese, in der sie leben, eine verkehrte Welt ist. Aber wir kommen nicht heraus. Das Wissen darum, daß es ein Draußen gibt, das Wissen darum, daß es eine Tiefe gibt und darum auch eine Höhe geben muß, macht uns nicht frei. Es bessert unsere Lage nicht. Es schmerzt umso tiefer, wenn man weiß, was mit uns Menschen los ist, und nun nicht mehr so stumpf und dumpf dahinvegetiert. Aber den Riegel zurück schieben, der uns hier einschließt, kann dieses Wissen nicht. Dazu ist es viel zu schwach. Wissen ist immer Gesetz und Gesetz ist immer Wissen. »Durch das Gesetz kommt Erkenntnis« – aber eben nur »Erkenntnis der Sünde,« jedenfalls für uns, wenn wir nichts anderes wissen als eben dies; wenn das unser ganzes, letztes, zwar durchaus wahres, aber ebenso tieftrauriges Wissen ist.
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II. Gottes Ja, das uns einschließt Denn damit sind wir ja wieder am Anfang angelangt, wir haben uns im Kreise gedreht, im Kreise um den dunklen, unbekannten Mittelpunkt des Menschenloses. Wir ahnen vielleicht, daß dieser Mittelpunkt, eben darum, weil wir uns so hoffnungslos um ihn drehen, nicht Gott ist. Wir ahnen, daß wir Menschen das Ja zur Welt Gottes und zu unserer Welt nicht als ein Ja, als ein Wort, als die eine große erlösende Wahrheit sprechen können. Wir können es einfach nicht, und wenn wir es könnten, dann würden wir heute nicht hier sein, dann würde die Geburt Jesu Christi für uns alle nichts bedeuten, dann würden die Menschen nicht an diesem Tage in aller Welt den Atem anhalten und die Arbeit ruhen lassen, und, wenn auch vielleicht mit viel Unverstand und viel Sentimentalität, doch an dem einen Punkte innehalten, der eben der Punkt ist, von dem aus alles neu und anders werden könnte und werden soll. Es geht hier darum, daß Gott geredet hat und daß in seinem Munde das Ja, das er in seinem Reiche und seiner Herrschaft gesprochen hat, unsere Welt und unser Leben einschließt. Gott sagt nicht Ja und Nein, Gott sagt Ja: Er ist dieses uns bejahende, uns und unsere Welt trotz allem was wir sind, bejahende Ja. Das ist der Gott, der der Vater Jesu Christi ist: in ihm ist das Ja und nicht das Nein. Und dieses Ja ist Weihnachten, dieses Ja liegt beschlossen und versiegelt in dem Satze: »Das Wort ward Fleisch.« Gott hat es vermocht, was wir nie und nimmer vermögen – auch unsere theologischen Künste helfen darüber nicht hinweg, denn schließlich sind wir ja auch nur Menschen und auch unser Denken und Trachten ist böse von Jugend auf – nein, wir können immer nur von uns wegweisen, wir können immer nur sagen: Nicht Ich, sondern Er. »Er muß wachsen.« Er muß zu Worte kommen. Und in ihm muß Gottes Ja wachsen und unser Nein, das Nein, das wir nun einmal sind und das auch in den frömmsten Sprüchen und unter den besten Verkleidungen unserer Welt hervorguckt – dieses Nein muß abnehmen. Wir sitzen fest, sitzen fest in diesem Nein, dieses Nein ist der dunkle Punkt, um den unser Leben kreist, ist die Quelle aller Finsternis; es vollendet sich ja nur im Tode, es liegt unser Leben lang über allem, was wir tun, wie ein Schatten. Gottes Ja ist kein Gedanke und kein Programm, wie man das einmal, in jenen Zeiten, die den Aufgang aus der Höhe mit dem Fortschritt auf Erden in eine allzu bedenkliche Nähe brachten, gemeint hat. Kein Programm, keine Weltanschauung, kein positives Christentum. Nicht etwas, von dem wir vielleicht etwas erleichtert sagen könnten: endlich einmal etwas Lebensbejahendes. Ach, meine Freunde, das Lebensbejahende, das wir von uns aus hervorbringen, hat die Vernei-
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nung immer in sich. Eines Tages werden wir sie schmecken. Eines Tages verlöschen die Lichter von Sanssouci, auch wenn der Sonnenkönig dort residiert. 1 Nein, das ist nicht das Ja Gottes, in dem wir – das Leben, der Mensch, ja gerade der Mensch in der Finsternis und im Todesschatten bejaht, von oben her, durch den Aufgang aus dieser Höhe her bejaht sind. Dieses Ja Gottes – das große mächtige Nein zu unserem Nein – sprengt alle Riegel, vertreibt alle Finsternis, muß ja doch seine eigene Gnade, sein freies, großes Erbarmen sein. So müssen wir es hören. So müssen wir die Botschaft von Weihnachten hören. Wir müssen das Ja darin hören. So, daß wir es nirgends sonst als einzig und allein hier, einzig und allein in diesem Aufgang aus der Höhe finden; daß wir wissen und lernen: dieser Aufgang aus der Höhe ist kein anderer als Jesus. Und so, daß etwas von oben her auf uns zu geschieht und geschehen ist, will die Weihnachtsgeschichte vernommen sein.
III. Wir sitzen fest Noch einmal sei es mit den Worten unseres Textes uns allen gesagt: Wir sitzen fest. In der Welt, die die Welt des Menschen ist, bewegt sich in Wahrheit nichts. Alles, was hier Bewegung heißt, ist Kreislauf. Kreislauf von Licht und Finsternis, Aufgang und Niedergang, Leben und Tod. Die Heiden wissen das oft besser als die Christen. Aber es wird uns nichts helfen, auch wenn wir eines Tages erkennen und bekennen müssen: »Was ist, das geschehen ist? Eben das hernach geschehen wird. Was ists, das man getan hat? Eben das, was man hernach wieder tun wird. Und geschieht nichts Neues unter der Sonne.« Alle Bewegungen, die wir wahrnehmen, gleichen der Ebbe und Flut, schließlich wird alles wieder still. »Alle Flüsse fließen ins Meer und doch wird das Meer nicht voller.« Nein, es ist nicht an dem, als ob die beiden Welten, unsere Zeit und Gottes Welt, aufeinander zukämen wie zwei Gestirne, die einander anziehen, als ob wir uns nur den Bestrebungen und Bewegungen hier unten zu überlassen brauchten, die uns nach vorn, nach oben zu tragen scheinen, um damit Gottes Reich und Gottes Wirklichkeit näher zu kommen. Unser Text sagt uns, so schmerzlich und enttäuschend das sein mag: Wir sitzen fest. Mitten in der Finsternis, die kein Ziel erkennen läßt, in der wir uns im Kreise um einen unbekannten, unheimlichen Mittelpunkt bewegen, 1.
Der preußische König Friedrich II. erbaute Sanssouci bei Potsdam und lebte zeitweilig dort; ähnlich Ludwig XIV. (Sonnenkönig) in Versailles bei Paris.
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wie um einen Marterpfahl, sitzen wir fest. Und vielleicht wäre das eine der wichtigsten und entscheidendsten Erkenntnisse, daß wir damit Ernst machten; Ernst damit machten in unserem persönlichen wie auch in unserem öffentlichen Leben; daß wir endlich aufhörten, die jeweiligen Aufgänge des Lichtes als Aufgänge von oben, als Wunder und Zeichen, anzusehen; daß wir die Ketten bemerkten, die Riegel sähen, hinter denen wir festsitzen. Aber in Gottes Welt ist das anders. Hier ist alles in Bewegung. Hier ist alles Akt, Handlung, Durchbrechen der Grenzen, die eigentlich in der Welt Gottes und mit der Welt Gottes gesetzt sind. Auf einmal wird deutlich, es wird eben in Jesus Christus, es wird durch das Wunder der Weihnacht ganz und gar deutlich, daß es für Gott, für unseren Gott, der im Himmel ist, der dich und mich erschaffen hat, der ewig ist und allmächtig und unsichtbar und allgegenwärtig – daß es für ihn keine Grenzen gibt. Das heißt: Uns hat besucht der Aufgang aus der Höhe. Und wenn nun noch jemand fragen sollte: wie ist das denn möglich, solch ein Besuch Gottes, ein Besichtigen und Gegenwärtigsein an den niedrigsten Orten der Erde, wie ist das möglich – dann antwortet unser Text mit dem einfachen Satz: Durch die Barmherzigkeit Gottes ist das geschehen. Der Grund für diese Möglichkeit liegt einzig und allein in ihm. Daß Gott Mensch wird, liegt in seiner Möglichkeit, in Gott selber. »Nichts, nichts hat ihn getrieben.« So daß wir einfach sagen müssen und eben dieses nun auch vor aller Welt bekennen müssen: Daß das geschehen ist, was hier geschah – was unter dem Kaiser Augustus in Bethlehem mit der Geburt des Kindes der Jungfrau Maria, Jesus, geschah –, das hat seinen grundlosen Grund allein in dem Erbarmen Gottes. So. Und darum steht unser Textwort unmittelbar vor der Geburtsgeschichte, wie ein Nadelöhr, durch das alle hindurch müssen, die mit anbeten wollen im Stalle von Bethlehem; als wollte uns dieses Leitwort eines Frommen aus dem Alten Bunde, in dem so viel Weissagung und Verheißung zusammengefaßt ist, das eine sagen: Was hier geschieht, dieses hier unter uns tretende Menschenleben, wird immer Aufgang aus der Höhe sein. Nur so kann es euch begegnen. Es kommt nicht von unten und steigt empor, wie das Leben der Großen dieser Welt, sondern es kommt von oben und steigt herab. Es entäußert sich selbst. Es wird arm, um uns reich zu machen. Aber es bleibt immer Aufgang aus der Höhe. Höhe bedeutet ja nichts anderes als eben Gottes Welt, Gottes Reich. Höhe heißt, wenn ihr ihm begegnet, müßt ihr wissen, ihr könnt euch ihm nur unterwerfen. Hütet euch, es einbeziehen zu wollen in die Niederungen, in denen ihr lebt. Eure Maßstäbe und euer Urteilen passen hier nicht hin. Gewiß, Gott wird Mensch, aber dieser Mensch bleibt immer der andere, der »mit uns«, der
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von oben kommt. Er bleibt immer der, welcher, auf Gott gesehen, sagen kann: »Ich aber kenne ihn.« Sein ganzes Leben ist und bleibt Aufgang. Und gerade so ist es Nähe zu allen, die in der Finsternis sitzen. In diesem Menschen sind die beiden Welten eins: Gottes Welt und unsere Welt.
IV. Jesus – Gottes Barmherzigkeit Das ist eigentlich der entscheidende Punkt, um den es geht, ob wir also auch so, wie hier der alte Zacharias, der es auch zuerst nicht ganz glauben wollte, dieses Licht von oben hineinleuchten sehen in die Finsternis. Ob wir uns angesichts dieser Gnade aller Scheinheiligkeit und alles Pharisäismus entschlagen wollen und uns zu dem Volke rechnen, das im Finstern sitzt. Ob wir bereit sind, Licht und Finsternis von diesem Punkte her zu scheiden, und nicht etwa so, daß wir die Menschheit in zwei Hälften aufteilen und die einen Kinder des Lichtes, die anderen aber Teufel und Kinder der Finsternis nennen. Hören wir wohl, was hier steht: daß es erscheine denen in der Finsternis. Denen also und nicht uns, wenn wir nicht bereit sind, ihre Finsternis auch als die unsere anzunehmen. Vor diesem Licht, vor diesem Aufgang aus der Höhe ist alles andere dunkelste Nacht. Und umgekehrt: in diesem Lichte ist alle Nacht heller Tag. Tag der großen Freude und des Erbarmens Gottes mit dem ganzen Menschengeschlecht. Denn das müssen wir uns doch wohl immer aufs Neue klar machen, warum denn die Menschwerdung Gottes die Tat seines innersten Erbarmens ist. Laßt es uns einmal ansehen vom Standpunkt dessen her, der dieses beides: die Geburt Jesu Christi und das Erbarmen Gottes – nicht in eins zu sehen vermag. Es gibt solche Menschen. Tausend und aber tausend solcher Menschen leben unter uns. Man muß nur einmal hören, wie sie reden. Sie haben sogar ihr Unvermögen, ich meine das Unvermögen: die Geschichte Jesu und das Erbarmen in eins zu setzen, in ein System, eine Art wissenschaftlicher Methode gebracht. Sie haben ihre Maßstäbe und Urteile geltend gemacht gegenüber diesem Aufgang aus der Höhe und haben ihn damit einzufangen versucht wie die Schildbürger mit ihren Säcken das Licht. Darunter leiden wir noch alle. Wir stehen nicht auf der hohen Stufe, auf der hier der Seher und Zeuge des Alten Bundes steht und von der er hinüberschaut in das neue Land, in die so nahe gekommene Welt Gottes. Und darum fällt es für uns auseinander: das Leben Jesu und das Erbarmen Gottes. Darum greifen wir an diesem Ja Gottes vorbei. Soll ich das einmal schildern, wie uns das dann geht? Wie es auf einmal wieder Nacht um uns wird und wir schlagartig wieder im Dunkel sitzen,
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wie der Fischer in seiner alten Hütte, nachdem er eben noch im Königspalast gethront hatte. Da ist vielleicht jemand, der ist irre geworden am Erbarmen Gottes, weil Gott ihm etwas genommen hat, ohne das er nicht zu leben vermag. Es gibt solche Führungen Gottes, die einen Menschen ganz hart an den Abgrund der Verzweiflung treiben. Wir brauchen gar nicht weit zu gehen. Es gibt noch immer Tausende von Menschen, die dieses Weihnachten als Gefangene, als Verbannte und Verschleppte feiern werden. Und wenn man dann sieht, daß einer nach dem anderen heimkehren kann, während an einem selbst das Los immer wieder vorübergeht – meint ihr nicht, daß es schwer ist, einem solchen Menschen vom Erbarmen Gottes zu reden? Oder ich denke an die, die ihre Heimat verloren haben, nicht nur an die Deutschen, die ihre Heimat verloren, sondern etwa auch, was wir so leicht vergessen, an die Juden, die ihre deutsche Heimat verloren. Es ist vielleicht noch schwerer, innerlich seine Heimat zu verlieren, als nur äußerlich vertrieben zu sein. Ich denke an Menschen, die in ihrer Jugend bereits durch den Krieg das Augenlicht, die Beweglichkeit ihrer Glieder, die Kraft des Körpers einbüßten. Was könnten wir hier nicht alles aufzählen. Und darum geht ja auch trotz aller Christlichkeit von außen ein dunkles, unheimliches Raunen der Empörung durch die Völker. Die offiziell Reichen ahnen davon sehr wenig. Die Zeitungen schweigen, aber die Flut wächst. Das ist kein Aufgang aus der Höhe, sondern eher ein Aufstand aus der Tiefe. Nein, sagen alle diese Menschen, laßt uns zufrieden mit Gottes Barmherzigkeit. Gäbe es einen barmherzigen Gott, dann würde mein Leben anders aussehen. An ihn mögen die Glücklichen glauben, solange sie oben sind. Eines Tages werden auch sie an dieser Vokabel irre werden. Und auf der anderen Seite die Geschichte Jesu. Eine Geschichte wie jede andere Geschichte. Von der man weiß, die einen aber nur so weit etwas angeht, als man mit ihr durch den Kulturkreis, durch ethische oder weltanschauliche Interessen verbunden ist. Dieses Christentum gehört nun einmal zum Abendland. Es zählt unter seine Werte. Darum und so lebt die Geschichte Jesu unter uns. Und darum und so lebt sie eben nicht! bringt sie uns kein Leben; vertreibt sie keine Finsternis; ist sie nicht die Nähe, die unter uns mächtig werdende Gegenwart von Gottes Reich! Darum und so sind wir eben immer noch ganz weit weg von der Wirklichkeit dieses Ereignisses. Aber eben indem wir das einsehen, begreifen wir vielleicht auch, was es heißt, mit unserem Text in der Geburt Jesu das innerste Erbarmen Gottes zu fassen. Das würde doch bedeuten, daß wir das Ja Gottes zu uns, zu unserem oft so zerbrochenen und zerschlagenen Leben nicht in unserem Geist, nicht in unserem armen und oft so leeren Herzen, sondern allein in
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diesem einen Menschen Jesus suchen. Daß wir begreifen, warum wir das Ja sonst nicht hören: weil wir es suchen, wo es nicht zu finden ist. Gewiß, wir sind zerbrochen und haben oft schon den Tod zu schmecken bekommen – aber Jesus ist Mensch geworden, er ist mein Bruder und mein Herr, und darum kann der Tod nichts ausrichten. Darum weiß ich, daß das Ja Gottes Sieg bedeutet; daß sich die Finsternis gefallen lassen mußte, daß mitten in ihr dieses Licht leuchtet, allen, allen, die in diesem Todeshause leben müssen. Nicht anders steht es mit der Schuld. Wir werden nicht rein, solange wir leben. Wir bleiben angewiesen auf die Vergebung, nur auf sie. Wir möchten aber so gerne, daß sich Gott unser in der Weise erbarmte, daß er Kräfte des Guten und des neuen Lebens in uns weckte, die den alten Sauerteig ganz ausfegen und uns sozusagen in ein neues Leben versetzen. Wie hart zerbricht Gott oft das beste Streben der redlichsten Menschen. Ist das noch seine Barmherzigkeit? Und wieder antwortet der Glaube: Nur weil ihr Jesus und Gottes Barmherzigkeit trennt; weil ihr aus Gottes großer Barmherzigkeit eine menschliche, euren Wünschen entsprechende kleine, niedrige Toleranz macht – geht ihr vorbei am Himmelreich. Gottes Ja liegt in Jesus, ein Ja gerade zu denen, die ihre Schuld nicht los werden, die wie ein glimmender Docht und ein zerknicktes Rohr mitten unter den Pharisäern und Sadduzäern ihrer Tage leben. Darum geht er zu den Sündern und läßt die Gerechten leer. Ihr bleibt immer unten, aber euer Unten-sein ist nicht mehr als ein verlassenes, vergessenes, hoffnungsloses Unten-sein, sondern gerade bei euch wird in Jesus ein Ja Gottes laut werden, ein Ja der Vergebung und des Erbarmens, das herrlicher ist als alle andere von euch selbst gewünschte und erdachte Bejahung. Und noch ein Letztes: Gesetz und Evangelium … Gesetz als Finsternis. Erkenntnis als Leben: Einheit von Gottes Welt und unserer Welt im Evangelium – Richten der Füße: Wir sitzen nicht mehr fest – wir wandeln. Richten – wir haben ein Ziel. Frieden – das Reich Gottes ist das Friedensreich. Das eine Ja Gottes umspannt beide Welten. »Nun schließt er wieder auf die Tür zum selgen Paradeis. Der Cherub steht nicht mehr dafür.«
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22. Seid, was Gott ist Lukas 6,36-38
Darum seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammet nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebet, so wird euch vergeben. Gebet, so wird euch gegeben. Ein voll, gedrückt, gerüttelt und überflüssig Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messet, wird man euch wieder messen. Wenn wir dieses Evangelium hören, dann könnte uns – nein, dann müßte uns ein grenzenloses Erstaunen ergreifen über dem, was hier dem Menschen zugedacht ist. Denn es heißt ja: Seid, was Gott ist. Das und nichts weniger sagt Jesus vom Menschen. Er hebt die Spannung zwischen Himmel und Erde auf. Er kennt in der Tat eine Ähnlichkeit zwischen Gott und dem Menschen. Er kennt einen Punkt, an dem sich beide berühren. An dem sie sich berühren über all die Abgründe und Gegensätze hinweg, die zwischen Gott und Mensch getreten sind. Denn die Ähnlichkeit, die Jesus hier verlangt, hebt ja die Unähnlichkeit und Verschiedenheit nicht auf, die sonst zwischen Gott und Mensch besteht. Es ist, um das Erstaunen noch größer zu machen, in der Tat eine Ähnlichkeit zwischen dem sündigen, verlorenen, sterblichen, irdischen Menschen und dem heiligen, ewigen, gerechten Gott, die hier gefordert wird. Denn Jesus sagt eben nicht, um Gott ähnlich zu sein, dazu müßt ihr erst gut, fromm, heilig, gerecht, unsterblich sein, er sagt nicht, zu dieser Forderung gehört ein neuer Himmel und eine neue Erde. Es sind keine Fabelwesen, an die sich hier das Evangelium wendet, wenn es sagt: Seid, was Gott selbst ist. Nein, es sind die Menschen dieser Welt, in ihrer Art, in ihrem Leben und Wirken, in ihrem Treiben und Treibenlassen, die hier angeredet sind. Sie gerade sind gerufen, zu sein, was Gott selbst ist. Wie gerne hört der Mensch, daß er göttlicher Art ist. Wie begierig glaubt er all denen, die ihm das versichern. Wie gerne träumt er von seiner göttlichen Natur. Ob er auch das Wort gerne hören wird, das ihm hier gesagt wird? Denn freilich, das, was man gewöhnlich darüber sagen hört, wird hier nicht gesagt. Es heißt nicht, sucht so weise zu sein, wie Gott weise ist, denn Gott hat in den Menschen das Licht der Vernunft gesetzt. Es heißt
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auch nicht, sucht so gut zu sein, so gerecht und so heilig, wie Gott heilig ist, denn Gott hat in euch gute Anlagen gepflanzt. Ja, es heißt auch nicht, glaubt daran, daß der Mensch unsterblich ist, wie Gott unsterblich ist, denn Gott hat ihm seine Natur vererbt. So redet man über Gott und Mensch in den Schulen der Weltweisheit und der Weltanschauungen. Dort, wo Menschen Meister der Menschen sind, so sie einander glauben, was sie sich selbst nicht glauben. Aber hier sind wir in einer anderen Schule, hier redet der Sohn Gottes von dem, worin Gott und Mensch einander gleich sein können, er, der selbst Mensch geworden ist. Und er bestimmt die Ähnlichkeit zwischen Gott und Mensch, die dem Menschen geboten ist, aufs genaueste: Seid barmherzig, sagt er, wie euer Vater barmherzig ist. Es ist, als ob uns gesagt würde: Ihr Menschenkinder, die ihr so gern von eurer göttlichen Natur redet und reden hört, wohlan, hier ist die Grenze zwischen Gott und Mensch durchbrochen, hier ist die Brücke, die von dort nach hier und darum auch von hier nach dort führt, das ist die Himmelsleiter, auf der Gott zu den Menschen herabgestiegen ist und auf der ihr darum zu ihm hinaufsteigen könnt; hier soll sein Wille auf Erden geschehen, wie er im Himmel geschehen ist. Dies eine, seine Barmherzigkeit, will Gott mit dem Menschen teilen, nicht seine Ehre, nicht seinen Ruhm, nicht seine Weisheit, nicht seine Gerechtigkeit; aber an seiner Barmherzigkeit, an seiner Vollkommenheit soll der Mensch Anteil haben, an dem Höchsten und Besten, was Gott hat. An dem, worin er ganz er selbst, worin er ganz wunderbar, ganz unbegreiflich, ganz überwindend, ganz herrlich ist. Und darum, weil Gott jetzt und heute, über euch und bei euch seine Barmherzigkeit walten läßt, könnt ihr auch barmherzig sein. Ja mehr, wer das glauben könnte, daß Gott die große, wahre, bleibende Barmherzigkeit ist, die Barmherzigkeit – und nicht nur die stumme Vorsehung, nicht nur das eherne Schicksal, nicht nur der Ordner und Erhalter der Welt – der könnte ja wohl gar nicht mehr anders als eben diesen Gott zu bezeugen. Wer in dieser Barmherzigkeit geborgen ist, der kann ja gar nicht mehr unbarmherzig sein. Oder er müßte verleugnen, was er glaubt, und das Lügen strafen, wovon er lebt. Es ist seltsam, alle anderen Forderungen machen den Menschen im Grunde unwahr, zum Heuchler, so wenn wir zum Menschen sagen: Werde gut, werde fromm, suche nach Tugenden, bete, faste, bekenne, glaube dies und glaube das – was für Unwahrheiten werden heute allein dadurch großgezogen, daß auf einmal alle möglichen Menschen bekenntnistreu sein möchten! – denn alle diese Gebote sind dem Menschen verderblich, wenn sie nicht zuvor in das eine Gebot gefaßt und darin beschlossen sind: Seid barmherzig. Wer dies Gebot versteht, der wird dadurch nicht unwahr, son-
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dern im Gegenteil, er wird wahr. Denn der barmherzige Mensch, das eben ist der Mensch, der Mensch bleibt, der nicht auf der Leiter seiner Tugenden in den Himmel steigt und von oben auf die böse Welt heruntersieht; sondern er neigt sich zu den Niedrigen, er hält Gemeinschaft mit den Irrenden und Verlorenen, er steigt von seinem Maultier und liest den Unglücklichen vom Wegrande auf, der unter die Räuber gefallen ist, er hebt nicht Steine auf, um zu steinigen, wenn einer einen Fehltritt begangen hat, er lädt sich selbst die Fehler der anderen auf seine Schulter, er deckt ihre Sünden und trägt ihre Lasten, er zerbricht lieber selbst, als daß er andere zerbricht, er steigt lieber selbst herunter als daß er andere herunter stößt – er ist nicht ein Mensch, der Gott werden möchte und zum Teufel wird, sondern er ist ein Mensch, der so herabsteigt, wie Gott zu ihm herabgestiegen ist, ein schwacher, armer, verspotteter, ja vielleicht auch seinen eigenen Sünden und Fehlern gegenüber gebrechlicher und schwacher – aber dennoch, dennoch ein wahrer Mensch. Darum kann sich auch niemand dem entziehen, wenn die Gebote der Barmherzigkeit an sein Ohr und Herz klingen. Es wird wohl keiner unter uns sein, der sagen wollte, er begreife nicht oder könne nicht, was ihm hier geboten ist. Ach, meine Freunde, ich kann es verstehen, wenn bei vielen, vielen Geboten Gottes die Klage aus dem Herzen eines Menschen hervorbricht: Wehe mir, ich bin ein sündiger Mensch. Wenn wir beim Hören der Gebote die Fesseln spüren, mit denen wir durch die Sünde an die Elemente der Welt, an Hab und Gut, an Leib und Blut, an Angst und Furcht gekettet sind; aber hier, bei dem Gebot der Barmherzigkeit, hat der größte Sünder den Vorrang. Ihm muß es doch am allerleichtesten fallen, nicht zu richten, nicht zu verdammen, nicht zu suchen, wo der Splitter im Auge des anderen sitzt und die Sonne Flecken hat, sondern sich zu richten, sich zu verdammen, den Balken zu spüren, der ihn blind macht – hier sind in der Tat die Letzten die Ersten, hier ist das einladende Gebot für die Mühseligen und Beladenen, für alle die, die sich mit ihrer Schuld und ihren Fehlern nicht mehr weiterschleppen und weiterbewegen können, hier ist das Tor, durch das die Niedrigen mühelos eingehen und die Großen und Gerechten und Stolzen nicht eingehen können. Hier verstehen wir, was es heißt, wenn Jesus sagt, er sei gekommen, die Sünder zur Buße zu rufen – was für ein Wunder: das, was uns scheinbar Gott so ferne rückt, unsere Sünde, das bringt uns auf einmal ihm so nahe, und was uns ihm scheinbar nahe bringt, unser Recht, unsere Tugend, unser Stolz, das bringt uns ihm unendlich fern. Denn sündige Menschen können doch wohl verstehen, mit welchem Recht ihnen gesagt wird: Richtet nicht, verdammt nicht, vergebt, gebt lieber als daß ihr nehmt, schenkt, schenkt ohne Maß, schenkt euch
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selbst dahin, spielt euch nicht als Führer zur Seligkeit und als Vorbilder auf, sondern bleibt Nachfolger, Jünger, Schüler – und wenn ein Mensch wagen sollte, hierzu zu sagen: das verstehe ich nicht, dann wissen wir, es fehlt ihm nicht an Verstand, das nicht zu verstehen, sondern er hat zuviel Gerechtigkeit und zu wenig Sünde, um zu verstehen, was hier gesagt ist. Die wahren und die heuchlerischen Menschen werden gesondert, wenn es heißt: Seid barmherzig, denn der Sünder weiß sofort, warum gerade ihm diese Forderung gilt. Aber der Heuchler fragt nach dem Grund. Vor einigen Tagen las ich zum soundsovielten Male neu abgedruckt die Forderung nach einem art- und zeitgemäßen Christentum, und der Reichskirchenausschuß hatte dieses Programm als rechtgläubig befürwortet, weil sehr viel orthodoxe Thesen darin vorkamen und vom Standpunkt des Bekenntnisses nichts dagegen zu sagen war. Aber wenn ich mir nun überlegen würde, wie ich art- und zeitgemäß das übersetzen sollte, was hier im Evangelium gesagt ist, dann komme ich in der Tat in die größte Verlegenheit. Denn ich finde, was hier gesagt ist, ist, obschon es vor fast 2000 Jahren gesagt ist, und obschon es zu Menschen einer anderen Rasse gesagt ist und obschon es unter ganz anderen wirtschaftlichen und technischen und sozialen Verhältnissen gesagt ist, so art- und zeitgemäß, daß unsere Art sich vor Scham verbergen und unsere Zeit sich fürchten muß, wenn sie unter dieses Gebot tritt: Seid barmherzig. Ist es nicht, als ob wir alle erkannt, durchschaut, bei unserm Tun und Treiben genannt wären, wenn es hier heißt: Richtet nicht, verdammt nicht, gebt einander frei aus der Schuld, gebt, was ihr habt – und mehr noch: wird nicht bereits das furchtbare Gegenspiel sichtbar, das der Herr hier andeutet. Was ernten wir denn aus dem gegenseitigen Richten – daß wir selbst den großen unheimlichen Schatten des kommenden Gerichtes über uns fühlen. Was ernten wir denn aus unserem Verdammen – daß wir selbst, da wir den Bösen in seine Schlupfwinkel verfolgen, von ihm in den Abgrund der Verdammnis gezogen werden. Die ganze Unwahrhaftigkeit eines Richtens der Gerichteten, eines Verdammens der Verdammten, erfüllt die Luft unserer Zeit, bis hinein in unsere Gottesdienste und in unsere Kirchen, eine Todesluft, ein Pestgeruch, an dem das ganze Land und Volk unterzugehen droht. Mit unerbittlicher Folge ist das beides aneinander gekoppelt, das Richten und das Gerichtetwerden, das Verdammen und das Verdammtwerden. Denn Richten ist Gottes Sache. Und nur weil es Gottes Sache ist, weil es die Sache des barmherzigen Vater ist, ist das Gericht nicht unser Ende, sondern unsere Reinigung und Läuterung. Das Verdammen ist Gottes Sache, und nur weil es die Sache und das Wunder seiner Barmherzigkeit ist,
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gibt es eine Rettung aus der Verdammnis. Wenn Menschen den Weltenrichter spielen wollen, stürzen sie selbst in das Schwert, das sie ergreifen, nach dem Wort des Herrn: Wer das Schwert ergreift, wird durchs Schwert umkommen. Darum wird hier Vergebung geboten. Es ist, als wollte Gott uns daran erinnern, wer wir sind. Denn wir brauchen ja doch alle Vergebung. Wir sind ja allesamt arme Schächer. Wir wissen ja allesamt, daß wenn alles bleibt, was wir getan, gedacht, gesagt und gewollt haben, es keine Rettung für uns gibt. Darum sagt Gott: Wie ihr es wollt, so soll es euch widerfahren. Wenn es euch gefällt, Richter zu spielen, dann werdet ihr auch mich als Richter kennen lernen; aber wenn ihr mich kennt und glaubt als den, der euch eure Schuld vergibt, dann bezeugt auch diese Wirklichkeit an den kleinen Schuldnern, die ihr in diesem Leben habt. Wenn ihr etwas davon wißt, was für ein Segen und eine Seligkeit in dem einen Wort Vergebung schlummert, dann gebt auch ihr den Menschen, die bei euch in Schuld geraten sind, etwas ab von dieser Freude und diesem Glanz. Denn in der Tat, die Barmherzigkeit ist nicht wie der Mammon, der im Säckel bleiben möchte; sondern sie ist wie ein Strom, der herausbricht, sie wird niemandem zuteil, damit er sie behalte, sondern sie kennzeichnet heute schon die Fußspuren derer, die vor Gott einst Gnade finden werden. Es gibt ja eine Art, die richtet nicht, verdammt nicht, sie hält sich vorsichtig, eisig zurück; aber sie vergibt auch nicht, sie verzeiht auch nicht, sie wartet sozusagen mit ihren Anklagen auf den Tag, da sie alles vor dem großen Richter ausbreiten wird. Nein, sagt Gott, gib heute schon deinen Schuldner frei, damit du einmal selbst frei kommst; schleppe nicht das Aktenstück der Schuld deines Feindes mit dir herum, damit dein eigener Schuldschein nicht etwa noch hervorkommt; sondern vernichte die Schuld deines Feindes und gib ihn los, denn du wirst selbst einmal nötig haben, durch Vergebung frei zu kommen.
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23. Die Mauer um Jesus Christus Lukas 9,18-27
Und es begab sich, da er allein war und betete und seine Jünger zu ihm traten, fragte er sie und sprach: Wer sagen die Leute, daß ich sei? Sie antworteten und sprachen: Sie sagen, du seist Johannes der Täufer; etliche aber, du seist Elia; etliche aber, es sei der alten Propheten einer auferstanden. Er aber sprach zu ihnen: Wer saget ihr aber, daß ich sei? Da antwortete Petrus und sprach: Du bist der Christus Gottes! Und er bedrohte sie und gebot, daß sie das niemand sagten, und sprach: Des Menschen Sohn muß noch viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten und getötet werden und am dritten Tage auferstehen. Da sprach er zu ihnen allen: Wer mir folgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich täglich und folge mir nach. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s erhalten. Und welchen Nutzen hätte der Mensch, ob er die ganze Welt gewönne, und verlöre sich selbst oder beschädigte sich selbst? Wer sich aber mein und meiner Worte schämt, des wird sich des Menschen Sohn auch schämen, wenn er kommen wird in seiner Herrlichkeit und seines Vaters und der heiligen Engel. Ich sage euch aber wahrlich, daß etliche sind von denen, die hier stehen, die den Tod nicht schmecken werden, bis daß sie das Reich Gottes sehen.
I. Der Text, den wir eben gehört haben, hat ein geheimes Thema, vielleicht, nein, ganz gewiß hat er dieses Thema mit vielen anderen Texten gemein, die wir sonntäglich hören. Wenn wir das Thema nennen, dann werden wir wissen, es gibt eigentlich keine Stelle in der ganzen Heiligen Schrift des Alten und Neuen Bundes, an der das Thema nicht mehr oder weniger deutlich, verhüllt oder offen und aller Welt kundgemacht anklänge. Ja, es ist nicht nur dort so. Hat man erst einmal Ohren bekommen für den besonderen Klang, der hier zu hören ist, dann kann man ihn verfolgen, wie er hindurchgeht auch durch das Dichten und Denken der Menschen; ja sogar in die Welt der Töne ist dieser Ton und dieser Klang hineingenommen, und
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der Mann, dessen wir heute gedenken, hat diesen einen Namen, diesen besonderen Klang so tief hineingenommen in die Welt der Töne, daß diese ganze wunderbare, jenseits alles Worthaften liegende Welt nun auch wie ein Echo wirkt auf diesen einen Ton, der von selbst erklingen muß, den wir nie erreichen können, weil er uns überall erreicht, wo wir auch sind – im Denken wie im Träumen, im Reden wie im Hören, in der wirklichen Welt, in der wir leben müssen, und in der unwirklichen, in der wir das Leben, was wir leben, erst wahrhaft in seinen Höhen und Tiefen durchleben. Es wird wohl jeder von uns wissen, welches das geheime Thema ist, das uns eben seit jenem Tage, da es zum ersten Mal ein Menschenmund kundgemacht, von allen Seiten umgibt, auf allen Höhen unserer wartet, in allen Tiefen uns erreicht, um uns herauszuholen und uns emporzuheben, das aus der Welt nicht mehr wegzubringen ist, was immer die Menschen tun, um das Geheimnis totzuschlagen, das dieser eine Petrus – einer mußte hier wohl der erste sein, der seinen Mund und sein Herz dazu hergab – das eben dieser Petrus herausließ, dies: Jesus Christus! Nicht weniger als dies berichtet uns dieser Text.
II. Er berichtet, wie diese beiden Worte zum ersten Mal im Mund eines Menschen ein Wort, ein Bekenntnis wurden. Ob der Mensch, der das sagte, eben dieser Petrus, der darum auch die große und bleibende Verheißung von der unüberwindlichen Kirche, der ecclesia in perpetuum mansura (der in Ewigkeit bleibenden Kirche), empfing – ob er wußte, was er damit tat? Darüber sagt unser Text nichts. Aber wir dürfen annehmen, daß er es nicht wußte. So wie wir im Grunde alle nicht wissen, was es bedeutet, was es schon für unser kleines begrenztes Erdendasein bedeutet, wenn uns dieses Bekenntnis Herz und Lippen auftut. Und wir haben so viele Menschen, die es vor uns getan, gewagt und erfahren haben, wir können schon einiges wissen von dem, was es jedenfalls in der für uns übersehbaren Zeitspanne dieser Welt bedeutet hat, daß dieser Name und dieser Titel laut geworden ist. Und hier werden wir an den Punkt geführt, wo einer das sagt, ohne daß ihm darin jemand vorangegangen ist. Du bist Christus! Damit ist es heraus, damit ist das geschehen, was nun in der Tat der ganzen Welt und unser aller Leben einen neuen Schein gibt, damit hat jener Blitz die Finsternis zerrissen, der wahrhaft vom Aufgang bis zum Niedergang unsere irre und wilde Welt wenigstens einen Moment wirklich ins Licht stellt: Jesus Christus! Ein Mensch auf dieser Erde, aus dem Stamme Davids, ein Mensch,
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lebend zu einer bestimmten Zeit und gekreuzigt unter einem uns wohl bekannten Imperator und an einer uns ebenso wohl bekannten, seit langem dafür bereiteten Stätte – dieser Mensch ist der Sohn des lebendigen Gottes. Man nennt dieses uns von allen drei Evangelisten berichtete Ereignis das Petrusbekenntnis, und immer wieder haben die Menschen, die an diese Stelle in der Geschichte Jesu gelangten, so etwas wie einen geheimen Schauder gespürt, so wie wenn man auf eine Höhe steigt, wo der Absturz ganz steil und absolut tödlich ist, und die Luft so dünn, daß einem der Atem schier ausgeht und das Herz zu flattern beginnt. Jesus Christus. Einmal hat ein Mensch das gesagt, und seitdem ist es immer von neuem gesagt worden, seitdem ist es das Ziel und Ende alles Denkens und Suchens geworden, der Punkt, wo wir Frieden, letzten Frieden finden, wo wir nichts mehr fragen, weil alles klar und alles wahr ist, der Felsen, auf den wir springen, wenn alles zu wanken und zu vergehen scheint, das Licht, das nicht verlöscht, wenn die letzte und tiefste Nacht kommen wird, in der keiner des anderen Hand mehr fühlt noch seines Bruders Stimme ihn erreicht: Jesus Christus. »Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir.« O, es ist schon etwas daran, daß es Apostel gibt, etwas Unwiederholbares, Grundlegendes, Fundamentales ist daran; ohne dieses Fundament gäbe es den ganzen Bau nicht, in den wir uns eingefügt wissen, Stein bei Stein, und wir heute so wie unsere Väter, aber alles das ruht doch auf dem einen, daß dieser Petrus es als erster sagte: Jesus Christus. Daß der Himmel, der ganze volle bunte Götterhimmel, den wir mit unseren Gedanken und Bildern ausgemalt und erfüllt hatten, einstürzte, und hier auf der Erde – nicht am Menschen vorbei, sondern in ihm Gott gegenwärtig bekannt, erkannt und anerkannt wurde. Wie der Blitz, der die Finsternis zerreißt. Es muß ein unfaßlicher Moment gewesen sein, und man begreift es nicht, daß es Augen gab, die ihn sahen, Ohren, die ihn vernahmen, Hände, die ihn faßten. O ja, es ist schon etwas daran an einem Apostel, und man sollte nicht versuchen, sich selbst an ihre Stelle zu versetzen. Es wird uns kaum gelingen.
III. Wenn wir nämlich genau hinsehen, gewahren wir etwas, das zum mindesten ebenso verwunderlich und unfaßbar ist wie eben diese beiden Worte sind: Jesus Christus. Dieser Jesus Christus ist wie von einer unsichtbaren, aber auch unübersteigbaren Mauer umgeben. Viele sind draußen, die kennen ihn auch. Aber er ist drinnen und bei ihm sind seine Jünger. Und er
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betet, er redet also nicht mit sich selbst, er redet, bevor er seine Jünger anredet, mit Gott. Und nun gewahren wir auf einmal, daß es nicht unbedingt »Jesus Christus« heißen muß. Es kann auch anders heißen. Die Leute, das sind die Menschen, die diesseits der unsichtbaren, aber unübersteigbaren Mauer leben, kennen ihn auch, diesen Jesus von Nazareth, und machen sich auch ihre guten und hohen Gedanken über ihn. Ihnen geht es so, daß sie etwas ganz Erhebendes und Wunderbares an ihm erleben: Es ist, als ob die Zeit der alten Propheten wiederkäme. Eine religiöse Bewegung sondergleichen, die von diesem Menschen ausgeht. Alle die Hemmungen, die rationalen und vielleicht auch gesellschaftlichen Hemmungen fallen weg, wenn dieser Jesus redet und wenn er handelt und wenn unter seinem Handeln Dinge geschehen, von denen sich unser endlicher Verstand nichts träumen läßt. Das ist wirklich, als ob jene Zeiten auf einmal Gegenwart würden, von denen man sonst nur durch die Sage weiß, die Elia-Zeiten und vielleicht sogar die Mose-Zeit, die Zeit, da die Götzen zu Spott wurden und die Zeit, da Gott der Herr selbst seine Gebote den Menschen zum Leben kundtat. Und immer ist es so und bleibt es so, Jesus geht mitten durch die Reihen der Spötter und Gottesleugner, aber wenn sie etwas spüren von jener prophetischen Kraft, die seine Gestalt umwittert, dann hebt auch unter ihnen das Fragen an, auf das dann gerade die höchsten und eindrucksvollsten Zeiten der religiösen Erhebung als Antwort genügen. Selbst Hauer, der unseligen Angedenkens die deutsche Religion verkündete und in der Rolle des falschen Propheten durch die aufgewühlten Leute streifte, hat ihn, diesen Jesus, gelten lassen; wollte ihn mit hinein nehmen in das Pantheon der großen religiösen Helden und universalen Geister. Und wir? Wer aber sagt ihr, daß ich sei?
IV. Da ist die Mauer. Die Leute draußen und wir drinnen. Die Leute, die über ihn reden, und wir, die jetzt da stehen, wo dieser eine Petrus stand – wo immer nur einer stehen kann, wo man nicht mehr reden, wo man nur noch bekennen kann; wo sie alle standen: Maria mit ihrem »Rabbuni« und Thomas mit seinem »Mein Herr und mein Gott« und vielleicht auch wir mit unserem »Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben«. Aber da ist die Mauer: wie von Gott selbst herumgezogen um diesen seinen Sohn. Das ist das Innen und das Außen. Das allein. Dort draußen reden sie über ihn, gut, fromm, ehrfürchtig, ergriffen und vielleicht auch ergreifend; aber alles, was die Leute über ihn reden, hilft uns nicht über die Mauer. Da ist kein
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Schlüssel, der zu dieser Pforte paßt. Alles, was die Leute reden, zeigt nur, daß sie nicht zu denen gehören, die von ihm selbst gefragt sind: Ihr aber … Diese Frage und diese Antwort ereignen sich im Innern, nicht draußen. Und wo sie sich ereignen, da weiß man, daß alles neu geworden, daß Geist und Herz und alles, was wir sind, davon betroffen ist: Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes. Denn wer Gott findet und wer sich von ihm gefunden weiß, der kann nicht weiter so leben, als wäre nichts geschehen. Hier und damit ist wirklich alles neu geworden. Alles, auch dies, daß er nun auf einmal drinnen ist und die anderen – die Leute – draußen.
V. Ach, diese Mauer zwischen denen drinnen und den Leuten draußen. Was ist um diese Mauer schon gekämpft worden. Nicht bloß von draußen haben sie sie zu stürmen versucht, denn wenn sie ihn haben wollen, dann müssen sie ja diese Mauer niederlegen; er teilt ja die Menschen. Er zerschneidet ja die geschöpflichen Ordnungen mit eben diesem seinem Jesus Christus. Er bringt das Schwert zwischen Vater und Sohn, Bruder und Bruder. Dieser gefährliche Schnitt muß weg. Kirche und Welt muß gleich sein. Die drinnen wie die draußen müssen das Gleiche denken. Es gibt nur eine Wahrheit. Und so haben sie versucht, die Mauer zu stürmen, die Gott um ihn gezogen hat, diese unsichtbare Mauer, die immer wieder ihre Angreifer zurückgeworfen hat. Und auch von innen haben sie dasselbe versucht. Wie kann mans auch ertragen, daß wir drinnen sind und die anderen draußen. Baut doch die Mauer ab, daß sie herüber springen können, machts ihnen nicht so schwer. Zieht sie herein, damit auch sie drinnen sind. Nicht wahr, wir kennen ja all diese Bemühungen, liebenswerte, mitleidsvolle, von missionarischem Wollen und wohl auch echtem Erbarmen getragene Bemühungen. Oder vielleicht auch darum, weil es immer schrecklich ist, drinnen zu sein, wenn andere draußen sind. Es ist unheimlich, nicht das zu sagen, zu denken, darin zu leben, was die Leute sagen. Im Unterschied zu den Leuten wirklich zu ihm zu gehören. So weitgehend, daß einen jede Magd im Hofe des Prokurators bloßstellen kann. Darum, wenn die Mauer weg wäre, wenn diese Unterscheidung zwischen den Leuten und den Ihr aber weg wäre, wenn alle dasselbe sagten, wäre das nicht das Richtige?
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VI. Es muß aber offenbar ein Innen geben und ein Außen, eben weil er Jesus Christus ist und weil niemand aus eigener Vernunft noch Kraft, wie wir es im Katechismus lesen, an ihn glauben oder zu ihm kommen kann. Es muß das Geheimnis, wie man von draußen herein kommt, sein und seines Vaters Geheimnis und Gnade bleiben. Dem Sagen dieses Geheimnisses muß noch etwas anderes vorausgehen, sonst kann es niemand von da draußen fassen: erst wenn das Kreuz aufgerichtet sein wird und er herausgestellt sein wird in seinem Leiden – seinem Leiden unter den Ältesten und Schriftgelehrten – er, der von den Frommen Ausgestoßene und Verfemte, der vor dem Lager leidet, stirbt und aufersteht – erst dann und so wird es geschehen, daß das Tor aufgeht zwischen uns und ihnen, zwischen den ersten Jüngern und der weiten, großen Heidenwelt. Wenn sie dann unter eben dies Kreuz treten werden und jetzt bekennen, was sie schon wußten: Jesus Christus, Jesus der Herr, dann wird es geschehen, daß der Zaun hinweggenommen wird, der allen Bemühungen zum Trotz nicht zu beseitigen schien; daß hier – angesichts des Gekreuzigten – kein Unterschied mehr ist, kein Drinnen und kein Draußen, keine Frommen und keine Gottlosen, sondern allesamt Sünder, allesamt bar jeden Wertes, den wir vor Gott haben sollten. Solange, sagt Jesus hier zu den Jüngern, müßt ihr warten. Dann und da wird die Stunde kommen, da es proklamiert werden muß vor aller Welt. Da ihr eben dieses Bekenntnis: Jesus Christus hinaustragen sollt in alle Welt, aber nun eben im Blick auf dies Geschehen. So wie es ja auch wirklich dann erfolgte, denn immer noch bekennen wir ihn ja unter dem Zusatz des »gelitten, gekreuzigt, gestorben und am dritten Tage auferstanden von den Toten«. Jesus meint doch wohl damit, was ihr sagt, wenn ihr mich den Christus nennt, das könnt ihr noch nicht wissen noch begreifen, solange mein Weg noch nicht an dieses Ziel gelangt ist. Erst hier ist nun die ganze, die volle Wahrheit eures Bekenntnisses sichtbar und aller Welt greifbar. Denn darum, weil ich leiden, sterben und auferstehen muß, darum bin ich der Christus, der Heiland, in dem allen die Erlösung zuteil wird. Ist es nicht seltsam: wir versuchen immer wieder, jenen Riß aufzuheben, der zwischen uns und den anderen klafft, die nun eben nicht Jesus Christus zu sagen vermögen. Wir möchten gern das Letzte und Äußerste, was sie sagen können, ehrlicherweise sagen können, daß er ein Bote, ein Sprecher Gottes und Träger seines Wortes war, so auslegen oder dehnen, daß wir nun auch das andere, daß er der Christus ist, darin unterbringen. Aber die Decke ist zu kurz. Niemand kann sagen: Jesus der Herr, ohne den Heiligen Geist. Das
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ist die Mauer, die Gott um das irdische Geheimnis dieses Jesus gelegt hat. Das ist das Band, in dem er alle zusammen hält, denen er dies Geheimnis offenbarte. Wollen wir das aufheben?
VII. Vier Dinge: 1. Sich selbst verleugnen (V. 23). Und nun stehen wir unter dem Kreuz und sehen, wohin uns diese ausgestreckte Hand weist: eben nach draußen. Eben in dieselbe Nachfolge, die im Sterben den Sieg erringt. Ihn bekennen heißt nun: sich selbst verleugnen. Heißt, daß unsere Zugehörigkeit zu ihm, zu diesem Jesus, unsere ganze Gerechtigkeit, Ruhm und Ehre wird. Sich selbst verleugnen ist wohl das Gegenteil von sich selbst behaupten. Sich selbst behaupten kann man noch und auch, wenn man »Jesus« sagt; wenn man so von ihm redet, wie die Leute von ihm reden. 2. Verlieren – gewinnen (V. 24). 3. Die ganze Welt (für Jesus) gewinnen und Schaden nehmen an sich (V. 25). 4. Nicht der Tod, sondern die Gottesherrschaft ist das Ende, auf das wir unser Auge richten (V. 27).
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24. Es ist wie Weihnachten Lukas 15,1-7
Es nahten aber zu ihm allerlei Zöllner und Sünder, daß sie ihn hörten. Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isset mit ihnen. Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, so er der eines verliert, der nicht lasse die neunundneunzig in der Wüste und hingehe nach dem verlorenen, bis daß er’s finde? Und wenn er’s gefunden hat, so legt er’s auf seine Achseln mit Freuden. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freuet euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. Ich sage euch: Also wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, vor neunundneunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen. Das Gleichnis, das wir eben gehört haben, ist so vollkommen, daß wir Furcht haben, da etwas hinzuzufügen oder noch irgendeine Deutung zu geben. Alles, was wir davon sagen könnten, reicht nicht heran an die Klarheit und Einfalt dessen, wie uns hier das Evangelium verkündet wird; und jedermann, der dies Gleichnis vom guten Hirten hört, weiß: Ja, das ist das Evangelium, das ist mein Glaube, das ist mein Trost und meine Zuversicht. Unvergleichlich, unerreichbar ist hier in solchen Worten die Fülle dessen gegeben und gespendet, was wir nur je sagen, kennen und erreichen können. Und jeder, der dies Gleichnis hört, weiß auch das andere: Der, von dem hier die Rede ist, das ist Jesus Christus. »Ich bin der gute Hirte«, dieser Klang geht durch alles hindurch, was Ohren hat. Ich bin es, der sich aufgemacht hat, das Verlorene zu suchen. Ich bin es, der das Lamm auf seine Schultern nimmt. Ich bin es, der es heimbringt mit Freuden. Ich bin der gute Hirte. Und du bist das verlorene Schaf! So sieht mich Jesus, so sucht dich Jesus, so möchte er, daß du einmal dein Leben sähest in diesem Elend und in dieser Freude, in diesem Ineinander von Verlorenheit und Gefundensein, von Einsamkeit und Gemeinschaft mit ihm, daß du es einmal so sähst, daß du nichts anderes mehr hast und nichts anderes mehr dir bleibt in der Wüste dieser Welt als ihn hören, der dich bei deinem Namen ruft, der dich reklamiert als sein Eigentum: »Du bist mein.« Nicht wahr, wer so die Geschichte hören könnte als die Geschichte seines Lebens, zugleich die
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Geschichte unseres Herrn und Heilandes, und so, daß sein Leben und mein Leben eine Geschichte wird, eine Geschichte des Verlorenseins und des Wiedergefundenwerdens, eine Geschichte der Tränen und der Freude, der könnte über dem allen nur noch seine Hände falten und bekennen: »Mein Herr und mein Gott!« Und doch, so wunderbar nahe uns das Bild unserer Erlösung gerückt ist in diesem Gleichnis vom guten Hirten, so sehe ich hier – ich weiß nicht, ob nicht ihr das mit mir sehen werdet – noch einen Graben. Es ist so, als ob wir das Bild nur von der Ferne her sehen, aber da ist noch zwischen uns und dem, was da aufleuchtet, ein Graben von abgründiger Tiefe. Wir wollen nicht zu schnell meinen, daß wir schon mitten drin sind in diesem Gleichnis, denn es ist ja nur ein Gleichnis, ein Gleichnis für etwas, was geschieht, was zumindest damals geschah; und gerade, wenn wir auf das sehen, was da geschah, da tut sich dieser Graben auf. Was geschah? Das geschah: Es nahten aber zu ihm allerlei Zöllner und Sünder, daß sie ihn hörten. Das geschah. Und das geschieht heute und das geschah auch damals nicht, solange als die Schriftgelehrten das Wort Gottes auslegten; und daß eben dieses geschah, das liegt allein daran, daß Jesus predigt, und alles das, was wir mit dem Wort Gottes treiben, das bleibt dahinter zurück in einer ganz unermeßlichen Ferne und Kälte und Leere. Was muß das für eine Zeit gewesen sein, als er predigte, als er die Schrift nahm und sie auslegte und auf einmal der Klang des Wortes Gottes weit hinaustrug in alle Tiefen, in alle Elendshöhlen, in allen Jammer und alle Verlorenheit, als da auf einmal das Wort Gottes frei wurde von den Wänden der Synagoge und von den Fesseln der Schriftgelehrsamkeit und der Geist Gottes über das Wort kam und das Volk sich um ihn sammelte und das Volk wieder Gottes Wort hörte, so wie es nie das Wort gehört hatte, alle, die da gezeichnet waren als die Verlorenen und Verirrten, die Aufgegebenen, die Gottlosen, die Unreinen und die Verfemten. Das ganze Neue Testament trägt noch etwas von dem Glanz und der Kraft und dem Licht dieses Ereignisses, daß das geschah, daß einer predigte und mit der Predigt allein alle die sammelte, die elend und verloren waren, daß da einmal das Volk erlebte und erfuhr, was für eine Kraft und eine Hilfe und ein Segen das Wort Gottes ist. Sie kamen – so heißt es in unserem Text – daß sie ihn hörten, sie, die Zöllner und Sünder. Das sind Leute, die reich geworden sind durch die Sünde, und Leute, die arm und elend geworden sind durch die Sünde, Leute, die ihre Volksgenossen ausgebeutet hatten in der Sucht nach dem Geld, und Menschen, die die Straße des Lasters geführt waren durch die niedrigste aller Sünden, die Außenseiter der Gesellschaft, die Menschen, von denen
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man nicht spricht, die Verkommenen und Verarmten, die Menschen, von denen wir es ja doch immer wieder denken und wohl auch sagen: »Gott, ich danke dir, daß ich nicht bin wie dieser Zöllner.« Sie kommen, ihn zu hören, sie nahen sich aus ihrem Elend, aus ihrem Schmutz, aus ihrer Gottverlassenheit. Wer hat das zu Wege gebracht? Bringst du das zu Wege? Bringen wir nicht etwas ganz anderes allein in unserer Verkündigung zu Wege, daß wir sie immer weiter wegtreiben, immer weiter hinein in die Wüste, in die Verlorenheit, daß all die Verirrten und Verlorenen sich vor unserer Stimme fürchten und verstecken, so wie sich Adam vor Gott versteckte, als der durch den Garten ging? Das ist die Not unserer Gemeinde, liebe Brüder und Schwestern, daß dieser Klang uns fehlt, daß es über unserem Predigen steht wie ein Gericht – und wenn ich mit Zungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Sonntag für Sonntag wird immer noch bei uns gepredigt, überall wird das Evangelium gerufen und ausgerufen, aber wo geschieht dies, was da geschah? Lastet das nicht wie eine Schuld und wie ein Gericht über uns, die wir Verkündiger sind? Aber nicht nur auf uns, meine Freunde, sondern auf jedem Christen, der je schon versucht hat, einen Bruder oder einen Freund oder einen lieben Menschen zu halten, der dann erfahren mußte, wie der Strom der Zeit und die Macht des Geldes und der schmutzige Schlamm unreiner Leidenschaften und Lüste sie alle dahintrieb und niemand, niemand kehrt zurück. Wir klagen gern die gottlose Welt an, die heute immer gottloser wird, aber es gibt auch eine Anklage gegen uns, die von daher aufsteigt, meine Brüder und Schwestern. Wo ist das Wort geblieben, das uns die Heimkehr möglich macht, das uns die Umkehr möglich macht? Steht wirklich heute diese Zeit im Zeichen jener Umkehr? Hier ist der Graben, von dem ich sprach, der abgründige, furchtbare Graben, und es liegen unendlich viele treue Prediger vor dieser Sperre, erleben das in ihrem Leben tagaus, tagein, daß alle unsere Kräfte nicht ausreichen, die Brücken zu schlagen, daß unsere Stimme nicht ausreicht, den Klang hinüberzutragen, daß die Verirrung zu groß, die Verlorenheit zu tief ist, daß wir gleichsam sagen möchten: Wir haben umsonst gearbeitet. Es ist mit all unserer Verkündigung nichts; denn es sind vielleicht noch neunundneunzig Gerechte da, aber was geht’s um die? Wo ist das eine verlorene Schaf, um dessentwillen der Herr Jesus Christus sich aufgemacht hat, es zu suchen? Meine Brüder und Schwestern, es ist das Letzte, was wir sagen können darüber. Es ist viel gewonnen, wenn wir das einmal sehen, wenn wir einmal sehen den unendlichen Unterschied zwischen dem, was Jesus predigt, und wenn wir predigen, wenn die Schriftgelehrten das Wort Gottes auslegen, und wenn er, auf dem der Geist Gottes ruht, mit seinem Glanz
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und mit seiner Kraft über das Wort seines Vaters kommt, wenn er redet, wenn er einlädt, wenn er ruft. Und es ergibt sich daraus nur das eine, die letzte Antwort darauf: »Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen.« Wenn wir ganz abnehmen werden mit unserer Weisheit und mit unserem Können und unserem Reden und wenn er wieder wachsen wird, hineinwachsen wird in unsere Verkündigung, hineinwachsen wird in unser Leben, hineinwachsen wird in unser Christentum, dann wird geschehen, was da geschah: Es nahten sich aber die Zöllner und Sünder, daß sie ihn hörten! Er muß wachsen. Wollen wir jetzt noch einmal das Gleichnis hören, gleichsam sehen, wie er hier herauswächst aus diesem Gleichnis, wie er Gestalt gewinnt. »Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und so er der eines verliert, der nicht lasse die neunundneunzig in der Wüste und hingehe nach dem verlorenen, bis daß ers finde?« Liebe Gemeinde, alles, was die Menschen Sünde nennen, und Gottlosigkeit und Gemeinheit und Laster und Schmutz und Hartherzigkeit, das nennt unser Herr Jesus Christus mit einem Wort: Verlorenheit. Und nicht einmal so, als ob er sagen wollte: Du bist verloren, sondern unendlich viel barmherziger und unendlich viel seliger; er sagt: Mein Vater hat dich verloren. Gott hat dich verloren, du bist sein Eigentum. So wie dies eine Schaf zum Eigentum des Hirten gehört und er sich darum aufmacht, das Verlorene zu suchen, so mache ich mich darum auf, dich zu suchen, weil du das Eigentum meines Vaters im Himmel bist. Nicht wahr, das ist das, was wir gar nicht glauben können, wenn wir da mitten in die Verlorenheit hinein dieses Eine hören, daß wir gesucht werden, weil wir das Eigentum Gottes sind, weil Gott nichts verloren gehen kann, was ihm gehört, weil gerade der Mensch, von dem wir glauben: er ist verloren – und in jedem von uns gibt es diesen Menschen, von dem wir fürchten, er könnte verloren sein –, daß Jesus Christus mitten unter uns erscheint des zum Zeichen: Du bist sein Sohn; was auch immer geschehen mag und was auch immer geschehen sein mag mit dir, wohin auch immer deine Wege dich geführt haben, du bist sein Eigentum, so gewiß, als ich dich suche. Nicht darum, weil du in dir nicht verloren wärst, weil du göttliche Kräfte in dir trägst, wie die Welt uns weismachen möchte, um uns immer tiefer in die Verlorenheit hineinzuführen, nicht darum bist du Gottes Eigentum; sondern darum, weil ich dich suche, weil ich dich reklamiere als den, der Gott gehört. Der Gott gehört und nicht dir selbst und nicht der Sünde und nicht deiner Verzweiflung und nicht deiner Überheblichkeit, sondern dem Vater im Himmel, weil du dem gehörst, darum bin ich in die Welt gekommen, dich zu suchen. Darum habe ich alles andere verlassen, darum habe ich mich aufgemacht,
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das Verlorene zu retten, damit der Triumph Gottes, der Sieg Gottes über den offenbar werde, der ihm sein Kind geraubt hat, den Verführer zum Bösen, damit an dir und deinem Leben offenbar werde, daß Gott dennoch Sieger ist. Meine Brüder und Schwestern, Jesus Christus, der uns nachgeht, ist mitten in unserer Verlorenheit der Erweis und der Beweis dessen, daß niemand verloren ist, der seine Stimme hört, daß hier der Mensch wieder zurückversetzt wird in seinen ursprünglichen Stand, daß er hier wie eine verloren gegangene Perle wieder zurückgekauft wird, nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem teuren Leiden und Sterben und seinem unschuldigen Blute, damit er rein wird, wie er war. »Und wenn er’s gefunden hat, so legt er’s auf seine Achseln mit Freuden.« Er legt das verirrte Schaf auf seine Achseln, auf seine Schultern, damit nun der Mensch heimfinde. Den Weg, den der Mensch geführt worden ist weg von Gott, diesen Weg muß er jetzt zurückgehen, das heißt Umkehr. Aber er muß ihn nicht zurückgehen mit seinen eigenen Füßen, sondern der gute Hirte geht deinen und meinen Weg mit seinen Füßen und mit dieser Last. Jeder hat seinen eigenen Weg, auf dem er von Gott wegkommt und fernkommt, der eine durch Zweifel und Irrtümer, der andere durch Unreinheit und Unzucht, ein dritter durch Geiz oder durch Ruhmsucht; ach, meine Brüder und Schwestern, es ist kein Mensch geboren und es ist kein Mund geschaffen, der all die Wege nennen könnte, auf denen ein Menschenherz verführt wird hinweg von dem lebendigen Gott, aber jeder wird seinen Weg zurückgetragen. Es ist ein Weg des Triumphs. Durch Zweifel und Irrtümer, die dich von Gott verführten, wird dich der gute Hirte zurücktragen, durch die Unreinheit, die dich befleckte, wird dich der gute Hirte zurücktragen, seine Füße werden durch all den Schmutz gehen, und seine Seele wird mit all den Anfechtungen ringen, und du wirst auf seinen Schultern liegen, hoch darüber. Unter dir liegt dies alles nur noch wie eine alte Erinnerung, die dich nicht berühren kann, weil dich der gute Hirte hoch darüber hinwegträgt. Er legt’s auf seine Schultern mit Freuden. Der Gang des Hirten, der das verirrte Lamm auf seiner Schulter trägt, ist nicht so freudig, wie es scheint, es ist ein schwerer müder Gang, ein Gang mitten durch die Welt der Sünde und des Todes, und seine Gestalt bricht zusammen unter der Last des Kreuzes, das ihm auferlegt ist, und sein Angesicht ist entstellt durch die Dornenkrone, die er um unsertwillen ins Gesicht gepreßt bekommt von dieser Welt. Und es ist wie mit letzter Kraft, daß er heimkommt zum Ziel, mit einem Todesseufzer nur kann er das Ziel erreichen und rufen: »Es ist vollbracht.« Und doch: Freude, und doch ist das Letzte, was diesen Hirten trägt und seinen Schritt beflügelt und seine Kraft ausmacht bei seinem Lauf, dies Eine: Freude. Das Schaf, das verloren
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war, das habe ich wiedergefunden. Meine Brüder und Schwestern, wir sind seine Freude, das ist alles. Daß er uns heimholt, uns, wie wir sind, daß wir auf seiner Schulter den Weg durch’s Leben zurückmachen, das ist seine Freude, das ist Gottes Sieg, das ist der Triumph, der durch das ganze Zeugnis des Neuen Testaments hindurchgeht: »Nun hat überwunden der Löwe aus dem Stamme Juda.« »Nun ist nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind.« »Vater, die du mir gegeben hast, die habe ich bewahrt, und es ist keiner von ihnen verloren gegangen.« Das ist die Freude, von der hier der gute Hirte redet, daß die, die er einmal auf seine Schulter gelegt hat, nicht mehr geraubt werden können aus der Hand des lebendigen Gottes; daß ich sein Eigentum bin. Das ist auch die Freude, die unsere Freude wird, wenn er sagt: »Meine Freude wird niemand von euch nehmen.« Die Freude des Herrn Jesus Christus, daß er nicht umsonst gesucht und nicht umsonst gelebt und nicht umsonst gepredigt hat, das ist die Freude, die keine Not der Welt, kein Gefängnis, kein Tod, keine Verachtung von uns nimmt. Und nun das Letzte: »Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freuet euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. Ich sage euch: Also wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, vor neunundneunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen.« Freude im Himmel und Freude auf der Erde, es ist wie Weihnachten. Es ist, als ob da plötzlich ein Engelschor oben am Himmelszelt wäre, der da sänge: »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!« Es ist, als ob es das Wunder aller Wunder wäre, daß eines Menschen Herz gewonnen wird durch den Gang des guten Hirten, durch die Stimme des guten Hirten. Es ist, als ob der Sinn aller Welt, der Sinn der Schöpfung, der Sinn des Himmels und der Erde in dem Einen beschlossen wäre, daß eines Menschen Herz sich bekehrt zu dem lebendigen Gott. Es ist wirklich so, wie der Dichter singt: »Wenn ich dies Wunder fassen will, dann steht mein Geist vor Ehrfurcht still. Er betet an und er ermißt, daß Gottes Lieb’ unendlich ist«. Es ist wirklich so, daß das Herz aller Dinge, daß das Herz Gottes hier vor uns liegt, offen, wie es beschlossen ist in dem einen Wort: Liebe, daß uns nichts trennen kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist. Darum haben sie ihn ans Kreuz gebracht, daß diese Predigt laut würde. Daß dies geschah, das hat die Kirchenfürsten in Jerusalem nicht ruhen lassen, die Pharisäer und die Schriftgelehrten, daß das Wort lebendig wurde, daß Gott sich wieder allem Volke zeigte als der, der er ist, der Erlöser, der Helfer, der Barmherzige, der Heilende. Das hat den Hirten nicht gefallen, die davon lebten, ihre Herde
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schlecht zu weiden, sich zu mästen von ihren Lämmern, sich zu kleiden von der Wolle ihrer Lämmer, die ihre Lämmer den wilden Tieren preisgegeben haben, denen hat es nicht gefallen, darum haben sie ihn ans Kreuz gebracht. Über dieser Tat der Liebe Gottes in Jesus Christus scheint schon hier in diesem Gleichnis wie von ferne das Zeichen des Kreuzes. Und so wird es sein und so ist es gewesen zu allen Zeiten: Wo diese Verkündigung aufbricht, wo das geschieht, wo das Wort Gottes die Herzen gewinnt, wo die Aussätzigen rein werden, wo die Blinden sehend werden und die Lahmen gehen, da wird die falsche Kirche ihre Kräfte mobil machen und ihren Bund mit dem Antichrist realisieren und in die Tat umsetzen und Leiden über Leiden, Verfolgung über Verfolgung, Schmach über Schmach über dies Evangelium häufen. Und wenn es ein Zeichen gibt in unserer Kirche, daß doch trotz allem Widerstreit solche Verkündigung wieder angefangen hat, mächtig zu werden, der Geist Gottes sich unserer Kirche erbarmt hat, dann dies, daß auch bereits wieder über uns diese Zeichen der Verfolgung offenbar geworden sind, daß auch bei uns die tote, die leere Kirche, die falschen Hirten erschrocken sind über das, was dank der Gnade Jesu Christi geschehen ist, und daß sie nun auch bei uns darauf sinnen, worauf sie gesonnen haben bei unserem Herrn und Meister, daß sie ihn umbrächten. So ist das Kreuz für alle Zeiten zum Zeichen geworden, daran sich die Geister scheiden, und wir sind alle gefragt, und wir werden alle gefragt werden, meine Brüder und Schwestern, wohin wir bei der Scheidung zu stehen kommen, ob zu den neunundneunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen, oder zu den Geretteten, die da mit Paulus bekennen: »Uns aber, die gerettet werden, ist das Wort vom Kreuz Gottes Kraft und Gottes Weisheit.« Daß wir alle zu den Geretteten gehören möchten, daß die Liebe Gottes in Jesus Christus uns stark machen möchte, alle Leiden zu tragen, damit das Heil unser bleibt, das gebe euch und mir der lebendige Gott!
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25. Advent Johannes 1,15-18
Johannes zeugte von ihm und schrie und sprach: Er war es, von dem ich sagte, der nach mir kommen wird, ist vor mir gewesen, denn er ist früher als ich, denn von seiner Fülle haben wir alle empfangen, und zwar Gnade um Gnade. Das Gesetz ist durch Mose gegeben, aber Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus wirklich geworden. Gott hat niemand gesehen. Der eingeborene Sohn, der im Schoße des Vaters war, der hat ihn kundgemacht. Die Adventszeit besteht für die Christenheit im wesentlichen darin, daß sie auf zwei Stimmen hört, eine Stimme von oben und eine Stimme von unten. Eine, die vom Himmel kommt, und eine andere, die mitten unter uns laut wird. Eine Stimme, die in der Stille ergeht, ein Wort der Ankündigung dessen, was kommen wird, durch den Engel Gabriel an Maria. Eine andere Stimme des Johannes, des Täufers, die vor allem Volk erklingt, die nichts anderes ist, als ein Schrei, der verlöscht und versinkt vor dem, was da kommt, als eine Geste, die kundmachen soll, wer der ist, der nun geboren ist, wer Jesus ist. Und so ist es geblieben und so wird es bleiben in der Christenheit jetzt und alle Zeit, daß beide Stimmen immer zugleich vernommen werden müssen: eine von oben und eine von unten, eine die Jesus bezeugt aus dem Wissen der Wahrheit seines Vaters, und eine andere, die ihn bezeugt im Munde des Predigers vor den Menschen hier auf Erden. Denn Johannes, das ist eigentlich die Gestalt des Predigers, der den bezeugt, der gekommen ist von Gott. Darum sagt auch dieser Johannes, er sei nichts anderes als die Stimme eines Rufenden in der Welt. Dieser Johannes lebt ganz und gar von dem her, was er sieht; von dem her, was kommt; er denkt nicht mehr an die Menschen um ihn her, nicht mehr an die Welt und ihren Bestand, er sieht vielmehr in der Welt und mitten unter den Menschen etwas, das ist ungeheuer, das löst in ihm diesen Schrei aus, das ist die Sache, um derentwillen Johannes ist. Und indem diese Sache zunimmt und wächst, indem sie heraustritt und sich selbst bezeugt, wird er entbehrlich und kann er abnehmen, wie ein Licht, das herunterbrennt, weil die Sonne aufgeht und der Morgen tagt. Das ist Johannes der Täufer, einer, der nicht seinesgleichen hat in der ganzen Geschichte der Menschheit, nicht deswegen, weil er etwas anderes ist, sondern wegen der besonderen
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Nähe, in der er zu dem Ereignis von Weihnachten steht. Das ist Johannes, der die Brücke ist vom Alten zum Neuen Bund, in dem sie alle noch einmal zum Reden kommen, die Väter und die Propheten, die Könige und die Beter der Psalmen, alle, die einmal in diese Richtung geschaut, die nach ihr gebangt haben, die auf diese Stunde gewartet haben, sie alle sind in diesem einen Schrei noch einmal gegenwärtig. Als ob es plötzlich hieße: Seht da, wir sind doch gerechtfertigt, wir haben nicht umsonst gesorgt, nicht umsonst die Kämpfe unseres Lebens bestanden für das große Tun Gottes, nach dem wir Ausschau gehalten haben. Das Wort ist Fleisch geworden. Was sonst nur in unserem Munde einmal war, im Munde sterblicher, fehlsamer Menschen, was wir hörten, aber doch nicht halten konnten, das ist nun mitten unter uns erschienen, das hat einen Namen und eine Geschichte bekommen, den Namen Jesu, den Namen seiner Geschichte, seines Sterbens und seines Auferstehens. Seht, das ist Johannes, dieser Schrei, in dem wir sie alle noch einmal hören: Abraham und Mose, Elia und Jesaja, David und alle, alle sind gerechtfertigt. Es ist so ähnlich wie bei einer Stafette, die weitergegeben wird von Hand zu Hand, bis das Ziel erreicht wird. Johannes, das ist der letzte Läufer, der die Fackel in die Hand bekommt und mit ihr durchs Ziel geht. Darum dieser Schrei, wie ein Sieger, der sagt: Jetzt ist der Lauf zuende, jetzt ist die Bewegung an ihr Ziel gekommen. Und eben das heißt Advent: Was von oben her, von Gott her angekündigt wird, von dem Engel Gabriel an Maria, das hat diese Bewegung auf Erden zur Folge, diesen Lauf des Wortes durch die Zeiten. Johannes ist für uns alle ein Zeichen dafür, was wir können und was wir nicht können, wenn wir von diesem großen Tage Gottes bei den Menschen zeugen. Wir können schreien und wir sollen schreien und auch in unserem Rufen soll etwas zu hören und zu vernehmen sein von jener Stimme der Apostel und Propheten, die hier gerechtfertigt sind. Aber Zeugnis ablegen, das heißt ja: von sich wegweisen. Wir sind als Zeugen, wenn anders Johannes der Täufer uns Vorbild und Beispiel ist, weniger als die Propheten. Wir sind gar nichts in uns selbst, wir sind nur eine solche Stimme, ein solcher Ruf, weil das, was wir bezeugen, oder besser gesagt, der, um den es sich in unserem Zeugnis handelt – weil der nahe ist. Predigt in dem Sinne, wie wir sie kennen, meine Freunde, Botschaft von Jesus Christus, gibt es nur im Advent. Wo immer diese Botschaft verkündigt wird, da ist Advent, da spüren wir etwas davon, daß wir vor einer Tür stehen, die aufgehen wird, und dann wird ER da sein, dann wird das geschehen sein, worum alles sich dreht: daß Gott unter uns ist. Advent kann darum und muß darum immer bedeuten, wo wir diesen Tag recht begehen, daß wir nicht zufrieden sind, bis er kommt. Nicht zufrieden mit unseren Gedanken und Vorstellungen von
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Gott, nicht zufrieden mit unserem Leben in seinen Geboten, nicht zufrieden damit, daß wir soviel von ihm wissen aus seiner Offenbarung, nicht zufrieden solange – bis er kommt. So wie man auf einen anderen Menschen wartet, von dem man viel weiß, den man gut kennt, den man sehr lieb hat, auf den man sich recht bereitet – und doch ist dieses alles nichts, wenn er da ist, dann erst ist alles erfüllt. Das ist Johannes, das sind wir alle, wenn wir von Jesus reden, daß wir nichts anderes sind als solch eine Sehnsucht danach, daß Gott kommt; als eine Unruhe des Herzens, die nur Gott stillen kann, mit seiner eigenen Gegenwart. So gesehen ist dann unser ganzes Leben ein solcher Advent, ein solches durch nichts zu befriedigendes Warten auf seinen Tag. Und wenn das nun so ist, wenn wir dieses beides verstehen, daß das Wort Gottes mitten unter uns ist und wir doch noch nicht mitten in ihm sind, daß es da ist und wir doch nicht da sind, wo er selbst ist, dann werden wir am besten verstehen, was wir jetzt aus dem Zeugnis Johannes vernehmen.
I. Da ist zunächst einmal der Satz, der uns viel Kopfzerbrechen machen wird: Der nach mir kommt, ist vor mir gewesen, denn er war früher als ich. Nicht wahr, das werden wir nicht sagen können von irgend einem sonst Geborenen. Entweder ist er vor uns gewesen, oder er kommt nach uns. Vergangenheit und Zukunft schließen sich nach unseren menschlichen Maßstäben streng gegeneinander aus. Hier herrscht ein unaufhebbares Entweder-Oder. Wir kennen ja alle den Satz: »Und ewig still steht die Vergangenheit«. Aber Johannes ist offenbar hier ganz anderer Meinung, hier steht die Vergangenheit nicht still, hier bewegt sich etwas von da her und kommt auf uns zu. Wenn wir Jesus Christus begegnen, so ist es in der Tat nichts anders, als wie Johannes es hier sagt. Er ist immer in einer doppelten Weise bei uns, er ist der, der in unserem Gestern steht und in unserem Morgen. Er ist in dem, von dem wir alle herkommen und dem wir alle entgegengehen. Auch wenn wir vor ihm fliehen, laufen wir doch in seine Arme – wie ein Mensch, der in einem Kreis läuft und nicht anders laufen kann, so ist es mit Jesus. Das ist das tiefe Geheimnis seiner Gestalt, mit dem wir alle nicht fertig werden. Wir können ihn nicht unterbringen in der Geschichte, wie wir sie sehen und wie wir sie erleben. Er ist nicht erst damit mein Herr und mein Gott, daß er geboren wird als der Mensch Jesus von Nazareth, er ist es ja schon von Ewigkeit her; und ich gehöre ihm nicht erst damit, daß ich mich zu ihm bekenne, denn indem ich mich zu ihm
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bekenne, entdecke ich, daß ich je und je schon zu ihm gehört habe. Das meint unser Evangelium: Das Wort, das beim Vater war, das wurde Fleisch. Gemeint ist das Wort, durch das alles gemacht ist, was ist, also die ganze Welt, wir alle, du und ich und wer wir auch sind, Gute und Böse, der Osten und der Westen, alles, was Odem hat und lebt, das ist von ihm gemacht. Und darum, wenn er jetzt kommt, so kann man wohl sagen: Er kommt in sein Eigentum, er darf wohl den Anspruch stellen, daß wir ihm gehören, denn wir sind alle von ihm. Wenn ich mich ihm ganz gebe, dann verliere ich mich nicht, sondern habe den Ursprung meines Lebens wiedergefunden. Ist das nicht eine wunderbare, herrliche Sache, daß uns von Jesus gesagt wird, es gibt einen Namen, eine Stelle, die mit diesem Kommen bezeichnet ist: Jesus. Wenn ihr den annehmt, den umfangt, euch an ihn haltet, dann, dann seid ihr, was ihr seid, dann ist die Fremdheit eures Lebens zuende, dann seid ihr geborgen in dem Ursprung eures Lebens. Es gibt so viele Dinge und Menschen, die uns besitzen möchten, so viele, die möchten, daß wir ihnen gehören, ihnen vertrauen, ihnen glauben. Aber niemand von allen denen kann sagen: Ehe denn du warst, war ich. Niemand kann darum sagen: Ich bin das Licht der Welt, ich bin das Brot des Lebens, ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.
II. Und das Zweite, was Johannes hinzusetzt, ist die Begründung dessen, was wir soeben gehört haben: Das Gesetz ist durch Mose geworden, die Wahrheit und die Gnade ist durch Jesus Wirklichkeit geworden. Von ihm haben wir alle empfangen Gnade um Gnade. Mose, das ist nämlich das Höchste und Größte, was in der Zeit wohl je geschehen ist; und wenn man sagen will, was hier in Jesus uns geschenkt wird, dann kann man nur noch Mose als Vergleich dazu nehmen. Mose, das ist der höchste Gipfel von allem, was je von Menschen erreicht ist. So nahe wie er hat keiner Gott gestanden, so Bedeutsames wie ihm hat Gott keinem anvertraut. Alle Welt lebt von dem, was Mose aus der Begegnung mit dem Herrn vom feurigen Berge mit herunter gebracht hat. Alle Welt lebt von den Zehn Geboten und ohne sie gibt es kein Leben. Mose, das ist gleichzeitig der, der in solchem Wissen die Verantwortung übernommen hat für sein Volk. Irgendwie lenkt der Stab des Mose bis heute die Völker auf Erden. Keine Kirche kann in einem Volk wirken und walten, ohne daß sie selbst sich ausrichtet nach dem erhobenen Stab, den Mose in seiner Hand hat. Mose ist nicht abgeschafft und nicht ungültig gemacht worden damit, daß das Wort Gottes Fleisch wird,
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daß Jesus geboren wird und unter uns getreten ist, nein – wie wir schon hörten – er ist gerechtfertigt, er ist Diener im Hause des Herrn, wie es ein neutestamentlicher Schriftsteller sagt. Aber, wie gesagt, mag auch Mose der Inbegriff des Höchsten und Besten sein, was es je auf Erden gegeben hat, des Besten von Sittlichkeit und Religion, besser als alles, was die Heiden kannten an Mystik und Gesetzen – das, was hier erscheint, was wir hier empfangen in der Begegnung mit dem, was Fleisch geworden ist, das läßt sich nicht vergleichen mit Mose. Von ihm haben wir alle genommen Gnade um Gnade. Das heißt doch wohl, die Gnade ist früher als das Gesetz. Wir können gar nicht Mose ertragen, wir können das Gesetz nicht fassen, wenn wir nicht alle schon von der Gnade her kommen und immer wieder von der Gnade getröstet würden über unser Versagen vor dem Gesetz. Gnade um Gnade sagt unser Text, als wollte er damit sagen, das ist wie ein Brunnen, der unerschöpflich ist, je mehr man davon nimmt, desto reichlicher quillt er. Das ist anders, als in der Welt des Mose, dort ist das Verzeihen und Vergeben eines Tages erschöpft. Da vergeben wir sechsmal und siebenmal und lassen uns auch vergeben; aber wenn es dann nicht besser wird, dann rufen wir doch nach dem Urteil, nach dem Gericht, dann ist die Gnade im besten Falle ein Erziehungsmittel, ein Versuch, noch einmal dies oder jenes an Fehlern und Mängeln von uns zu übersehen, aber dann muß es besser werden. Jesus Christus aber, Gottes große ewige Barmherzigkeit, kennt kein Ende, hier ist Gnade um Gnade. Eine Gnade, die so groß ist, so reich, so tief, daß man keine Schuld denken könnte, die nicht in ihr aufgehoben und geborgen wäre. Das heißt: Jesus Christus, und das ist der Grund, warum Johannes so laut schreien muß, warum er sagt: Das ist er, von dem ich euch gesagt habe; der unsere Augen weglenken möchte von den Höhen, auf denen Mose steht und nach denen wir immer schauen, in diese Tiefe, in der Jesus steht, in der Tiefe, wo wir stehen als verlorene, als hoffnungslose Sünder, als Menschen, die nur zu gut voneinander wissen, daß in den letzten Dingen Mose ihnen nicht helfen kann. Daß Mose keine Adventszeit bedeutet, sondern eine Gerichtszeit, keine Nähe der Erlösung und Hilfe, sondern eine Nähe der Abrechnung, wo aller falsche Schein aufgedeckt wird und alle Berge erniedrigt werden, wo den Bäumen die Axt an die Wurzel gelegt wird und die Spreu von dem Weizen gesondert wird. Nein, Adventszeit ist nicht Mosezeit, sondern Adventszeit ist Christuszeit. Adventszeit heißt, daß wir jetzt erst dem begegnen werden, der wahrhaft ganz und gar Gottes Wahrheit und Gottes Güte ist. Das, was wir mit dem Wort »ewig« meinen, daß wir in solchem Glauben die Berge unserer Schuld nehmen dürfen und versenken in dieser Nähe. Und nun sollen wir mit einmal den Mut haben, alle diese Berge zu nennen, die uns
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da den Weg nach vorn verbauen wollen, die uns wie ein unübersteigbares Gebirge den Weg in die Zukunft verschließen wollen. Da ist der Krieg und da sind die blutigen Hände, die wir alle mehr oder weniger aus diesem Geschäft noch haben; da ist die Hinterlist und die falsche Rede. Auch der Mißbrauch des Namens Gottes zu Dingen, die gar nicht seiner Ehre dienen. Da ist der Jammer um die Heimatlosigkeit, die heute wie eine einzige große Not über die ganze Erde geht. Da sind neben den großen schweren Dingen, die wir alle kennen und die alle beklagen und die doch niemand ändern kann, die kleinen Berge unseres eigenen Lebens, über die wir nicht hinwegkommen, die uns einkapseln in das tiefe Tal des Verlassenseins. Aber Johannes meint, indem er Gnade sagt, daß diese Berge jetzt erniedrigt werden, daß diese Täler jetzt erhöht werden, daß eine Bahn gemacht wird für die Gefangenen mitten in der Wüste dieser Welt, auf der sie wandeln, wie wenn es ein ganz ebenes, ein ganz friedvolles, ein neues Land wäre. Gnade ist eben nicht nur eine Sache, die man dann und wann einmal braucht, wie Menschen, die um Gnade bitten, wenn sie vor den Richter kommen, sondern Gnade ist Leben, die einzige Möglichkeit für uns, überhaupt noch zu leben, und es wäre falsch, wenn wir meinten, wir könnten anders als aus Gnade leben. Und dies eben, das wird jetzt statuiert, das wird statuiert durch Jesus Christus, wie wenn ein König kommt und ein Gesetz proklamiert für ein Volk – so proklamiert Gott das Lebensgesetz für alle Welt. Und das Kreuz, an das dieser Jesus Christus geschlagen wird, ist diese Gesetzes-Säule, die nun mitten drin steht in der Wirklichkeit unseres Lebens; und hier sind alle Dokumente und sind alle die Handschriften und Zeugnisse, die wider uns sind, ausgelöscht, hier gibt es nur noch ein Wort, das gilt, das Wort Gnade. Hier können wir wieder lernen, an Gott zu glauben, aus Gott zu leben. Das ist erst durch Jesus Wirklichkeit geworden, diese Wahrheit und Gnade.
III. Und nun folgt noch ein Drittes, welches mit einer gewissen Notwendigkeit zu den zwei Dingen gehört, die wir vernommen haben, also dazu, daß wir in Jesus Christus dem Herrn unseres eigenen Lebens begegnen, unserem Herrn von Ewigkeit her, und daß diese Begegnung mit ihm für uns Leben bedeutet, weil Leben Gnade ist und Gnade Leben. Aber nun kommt ein Drittes und schließt sozusagen diese ganze Betrachtung ab. Denn es könnte ja nun jemand fragen, woher wir das wissen. Wenn jemand wäre, der nicht davon überzeugt ist, daß es so ist; dem dieser Schrei des Johannes
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nicht ins Herz geht; dem das Wasser noch nicht bis an den Hals gestiegen ist und der immer noch meint, Leben – das könne er schaffen durch sich selbst, oder, wenn es nicht anders geht, durch Mose und durch das Gesetz und durch alle die großen und guten Ideen, die in diesem Gesetz enthalten sind; wenn also jetzt noch einer unter uns ist, der so fragt, ob das auch wahr ist, ob wir noch einen Garanten dafür haben, daß es so ist – so antwortet uns unser Text: Gott hat niemand je gesehen, nur der eingeborene Sohn, der im Schoße seines Vaters war, der hat das kundgetan. Und jetzt, meine Freunde, sind wir erst im Advent. Jetzt geht die Tür zu, die zunächst einmal so aufgetan war. Jetzt können wir doch nicht mehr heraus, hier wird nicht noch ein dritter Zeuge zugelassen, eine dritte Instanz, nach der wir Menschen dann immer laufen und rufen; nicht einmal die, die seit Mose die höchste ist, nicht einmal Mose wird hinzugelassen. Gott hat niemand gesehen, das heißt, alles, was ihr euch bisher von und über Gott gedacht habt, ist Illusion. Ihr habt einmal gehört, daß es Gott geben soll, und dann habt ihr angefangen, euch von ihm Bilder zu machen; dann hat dieser ganze Götzendienst begonnen, in dem wir dann immer wieder die Bilder zerbrachen, um sie neu zu machen. In Wirklichkeit kennt ihr ihn nicht. Gott ist die große Unbekannte unseres Lebens. Darum kann man ihn nicht widerlegen – man kann ihn nicht beweisen, noch kann man ihn widerlegen. Mit Gott geht es uns ja immer wieder so, wie mit einem Menschen, der allein in einem Zimmer ist und der dann plötzlich den Eindruck hat, daß er doch nicht allein ist. Aber er kann den anderen nicht finden, den er darin vermutet. Gott hat niemand je gesehen, das ist die Sache. Wenn wir ihn sehen können, dann können wir ihn auch abschaffen. Dann könnten wir dieses Gesicht von Gott zerstören, so wie wir alles zerstören, was Menschen uns von Gott erzählen, überliefern. Aber die Unsichtbarkeit Gottes ist seine ewige Überlegenheit. Er sieht uns, nur wir sehen ihn nicht. Er ist ganz Nähe, aber wir können ihn nicht greifen. Er ist, aber wir haben kein Bild und keine Denkform, um zu sagen, wie er ist. Und nun sagt unser Text, und damit schließt er uns ganz ein in den Advent, daß es nur einen gibt, der ihn gesehen hat, der von Gott redet als einer, der ihn geschaut hat, und daß es außer diesen Beiden, dem Vater und dem Sohn, nichts gibt, was als Zeuge für die Wahrheit dieser Gnade Gottes angeführt werden könnte. Daß wir also keine Möglichkeit haben, die Wissenschaft oder die Erfahrung oder vielleicht auch eine besondere Form der Wissenschaft, die Theologie oder die Stimme der Kirche hier geltend zu machen. Das sind alles Knechte, die vor der Tür stehen, die dann sinnlos sind, wenn hier im innersten Raum die Entscheidung gefallen ist. Hier im Allerinnersten redet auch Johannes nicht mehr, da redet nur noch die Stimme, die Maria hörte im Ad-
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vent, die Stimme von oben. Hier hört man nur noch dies: »Fürchte dich nicht.« Hier hört man nur noch jenen Geist, der die Einheit von Vater und Sohn selber ist. Der Heilige Geist, Gottes Geist, redet hier allein. Hier sind wir Menschen und ist unser Menschengeist immer ein Hörender, einer, der das Zeugnis empfängt, aber nicht einer, der das Zeugnis ausrichtet. Hier wird uns deutlich, daß der Vater im Himmel und dieser Mensch Jesus Christus auf Erden eines sind. Daß dieser Mensch niemals ist ohne seinen Vater und der Vater im Himmel niemals ist ohne seinen Sohn. Und es wird uns auch deutlich, wie er uns in dieser Gewißheit verschließt und verwahrt im ewigen Frieden. Kein Mosegesetz, kein Kirchengesetz, kein: das mußt du nun eben glauben, sondern ein Gesetz des Lebens, das heißt, ein Gesetz der letzten Gewißheit. Ich müßte aufhören zu leben, wirklich aus Glauben zu leben, wenn ich dieses Gesetz je brechen würde. Gott hat niemand gesehen – Gott sei Dank, müssen wir sagen – die wir von der langen Irrfahrt des Fragens nach Gott auftreten; Gott sei Dank, daß es das noch gibt, etwas, was uns noch offenbar werden kann, was wir noch nicht gesehen haben, etwas Verborgenes, Geheimnisvolles, Gott sei Dank, aber auch, daß Gott dieses Geheimnis bricht und gebrochen hat. Daß sich die Türe auftut; daß wir wissen dürfen, was er denkt und was er ist; daß der eingeborene Sohn den Himmel verlassen hat, daß er ihn vertauscht hat mit der Erde, mit der Stätte, wo niemand Gott kennt, damit wir, auch wir ihn kennen, wie die Engel im Himmel, wie die Mächte und Gewalten aller Welt ihn kennen. Auch wir – durch ihn. Und das, meine Freunde, ist nun das Allerletzte, was wir festhalten müssen, sozusagen das Stichwort, in dem wir uns erkennen, alle, die wir die Stimme des Johannes je gehört haben, die geheime Parole aller Adventsmenschen: Gott hat niemand gesehen. Und das andere: Der eingeborene Sohn hat ihn kundgemacht. Niemand als ER, ER allein. Advent heißt, daß wir alle bereit gemacht werden, zu glauben und zu erkennen und zu bezeugen: Jesus allein, der eingeborene Sohn, der im Schoße des Vaters war, der hat ihn kundgemacht.
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26. Die Stimme eines Rufenden Johannes 1,19-28 18. Dezember 1955
Und dies ist das Zeugnis des Johannes, da die Juden sandten von Jerusalem Priester und Leviten, daß sie ihn fragten: Wer bist du? Und er bekannte und leugnete nicht; und er bekannte: Ich bin nicht Christus. Und sie fragten ihn: Was denn? Bist du Elia? Er sprach: Ich bin’s nicht. – Bist du der Prophet? Und er antwortete: Nein! Da sprachen sie zu ihm: Was bist du denn? daß wir Antwort geben denen, die uns gesandt haben. Was sagst du von dir selbst? Er sprach: Ich bin eine Stimme eines Predigers in der Wüste: Richtet den Weg des Herrn! wie der Prophet Jesaja gesagt hat. Und die gesandt waren, die waren von den Pharisäern. Und sie fragten ihn und sprachen zu ihm: Warum taufst du denn, so du nicht Christus bist noch Elia noch der Prophet? Johannes antwortete ihnen und sprach: Ich taufe mit Wasser; aber er ist mitten unter euch getreten, den ihr nicht kennet. Der ist’s, der nach mir kommen wird, welcher vor mir gewesen ist, des ich nicht wert bin, daß ich seine Schuhriemen auflöse. Dies geschah zu Bethabara jenseits des Jordans, wo Johannes taufte. Was ist das Besondere an Johannes? Warum kann man denn nicht an Jesus Christus herantreten, ohne auf Johannes zu stoßen? Warum diese Nähe? Wie der Morgenstern, ohne den die Sonne nicht aufgeht? Warum diese seltsame Gestalt, die vom alten in den neuen Bund herüberreicht? Und warum gerade heute, warum an diesem vierten Advent, die Begegnung mit ihm, die Erinnerung noch einmal an ihn? Es ist vielleicht nicht allzu schwer darauf zu antworten. Johannes ist eingegangen in die Geschichte der Kirche, in die Geschichte ihres Zeugnisses, mit dem einen Satz: Ich bins nicht. Und das ist Johannes. Und darum steht er noch einmal hier, bevor die Türe aufgeht zum Geheimnis der heiligen Nacht; darum müssen wir noch einmal an ihm vorbei, wenn wir über die Schwelle treten, um das Christuskind anzubeten – um das von ihm zu hören, sein entschiedenes, entschlossenes: Ich bins nicht.
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I. Natürlich hatten sich das die Abgesandten aus Jerusalem anders gedacht. Natürlich hatten sie gemeint, dieser Johannes redet, lebt, zeugt und wirkt kraft einer eigenen Sendung, kraft eines Erlebens und eines Vollmachtsgefühls, das ihn herausgerufen hat aus dem Dahintreiben und Dahinleben dieser Stadt mit den verbundenen Augen und dem falschen Frieden. Natürlich hatte er gewirkt, er war einer der ganz Großen, die gegen den Strom schwimmen, einer, der es vermochte, selbst die Sicheren und Satten, die Hohen und Verwöhnten zu erschüttern. Was war denn sonst damals los? Es war wirklich gar nichts los. Stille ringsum. Natürlich viel Schriftgelehrsamkeit, viel Theologie und auch insofern ein Wissen, daß am Ende der Tage der Messias kommen wird, daß der Tag Gottes anbrechen wird; aber alles das so temperiert, so selbstverständlich kühl, so als abstruse Gelehrsamkeit aufgehoben und weitergegeben, daß weder die oben noch die unten, weder die Besatzungsmacht noch das besetzte Land davon tangiert wurde. Wohl war da ein reger und sorgfältig gepflegter Tempelkult. Der Tempel von Jerusalem war eine zentrale Angelegenheit für das in alle Welt zerstreute Judentum geworden. Was Rom für die Christenheit geworden ist, das war Jerusalem, der Tempel von Jerusalem für die Juden. Auch hier wartete man, auch der Kult bedeutet Warten und Erwartung, Gebet und Läuterung. Aber in seinem Gleichmaß, in seiner Ordnung erlischt schließlich auch die Sehnsucht, begnügt sich mit Symbolen, weil die Sache selbst ja doch nicht erscheint. Da kommt Johannes. Johannes sieht, daß der große Zeiger auf der Weltenuhr Gottes zum letzten Schlage ausholt. Johannes sieht die Zeichen der Zeit. Und Johannes schreit und bricht aus aus den gepflegten und wohltemperierten Formen des religiösen Lebens, Johannes liest die Schrift anders als die Schriftgelehrten, Johannes hört sie auf einmal alle wieder, die längst totgesagten Propheten und die großen Wartenden. Für Johannes leben sie. Johannes weiß, er steht just an dem Punkte, den die damals meinten, als sie aufstehen und reden mußten, an diesem gefährlichen, furchtbaren Punkte, da, wo Gottes Welt unsere Welt schneidet, wo zwei Welten aufeinander stoßen – da steht er. Nicht er allein. Wir alle, die wir in der Christenheit leben, stehen da, aber wir sehen nicht und fühlen nicht, aber er sieht, er weiß – er weiß um die Unmöglichkeit der Situation und darum bricht er aus, darum schreit er hinein in seine Zeit: Wißt ihr nicht, was eure vornehmste Sorge sein sollte? Bereitet dem Herrn den Weg! Darum tauft er, denn Sterben und Auferstehen, das heißt, an diesem Punkt existieren. Wenn man wenigstens die Symbole dieses neuen Lebens an sich trüge, wenn man wenigstens darin deutlich machte, wie es
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um den Menschen steht, wenn Gott nahe ist. Gott, den sie alle im Munde führen, weil sie meinen, daß er im Himmel ist und sie auf der Erde sind. Nein – Gott und Mensch, Mensch und Gott werden sich begegnen und Johannes ist der, der das sieht, in letzter Minute kommen sieht, wie wenn jemand ein ungeheures Unglück kommen sieht und zugleich sehen muß, wie alles ahnungslos dem entgegentreibt, wie eine lustige Gesellschaft in einem Zug, der der Katastrophe entgegenrast. Das ist Johannes.
II. Aber was ist Johannes? Was ist da mit ihm neu auf den Plan getreten? Man kann es schon begreifen, daß die Priesterschaft aus Jerusalem Boten zu ihm sendet und ihn fragt, wofür er sich denn eigentlich hält; wie er wohl selbst seine Sendung versteht. Sie haben gewiß gar nicht gemerkt, in welche Versuchung sie ihn damit führten. Er soll endlich einmal von sich reden. Er soll sich auslegen, von seiner Berufung reden. Es wird immer wieder so sein. Wo etwas aufflammt von der Kraft des Reiches Gottes, wo nicht nur Rauch ist, sondern wirklich Feuer; wo nicht nur Worte sind, sondern wirklich Tat und Leben, da halten wir uns an die Menschen, von denen dieses Feuer und dieses Leben ausgeht und fragen sie, wo denn ihr Geheimnis liege. Wir möchten sie verehren, hochstellen. Wir brauchen ja Führer, Menschen, die aus der Masse herausragen, an die wir uns in unserer ganzen Ratlosigkeit halten können. Und zudem dies Jerusalem von damals, dem die Zeichen des Untergangs auf die Stirn geschrieben waren. Kommt vielleicht mit diesem Johannes ein neuer Elias, eine neue große Zeit der Reinigung, der Wunder und Großtaten Gottes? Läßt wieder einmal einer Feuer vom Himmel fallen, damit die Baalspfaffen, die Krämer und Götzendiener, die Verräter am Heiligsten hinweggenommen werden? Oder, wenn auch nicht das, kommt wenigstens wieder einer wie die Propheten es waren? Wie Jesaja und Amos, von denen wir nun schon hunderte von Jahren nur hören, die aber verschwunden sind, wer weiß, warum? Kommt vielleicht wieder einmal einer, der das Große groß und das Kleine klein sein läßt? Der endlich, endlich die Dinge und Menschen mit den rechten Maßen mißt? So fragen die Menschen im Advent. Ich denke, so fragen auch heute bei uns alle, die sich noch nicht ganz und gar mit dem Bestehenden abgefunden haben. Kommt endlich wieder eine prophetische, eine erlösende, eine uns ganz und gar mit der Wahrheit konfrontierende Zeit? Wir wollen diese Zeit, auch wenn wir wissen, daß sie weh tut, daß sie ins Fleisch schneidet. Wir können es nicht mehr ertragen, wie das Leben fla-
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cher und flacher wird. Wie Gott und alles, was er ist, nivelliert wird, zu allem Scherz und Tand, zu Geschäft und Menschenzwecken gebraucht wird. Kommt endlich einer, der die Tenne fegt, der die Herzen frei macht, der uns herausholt aus der Tiefe, daß wir wieder frei atmen können? Bist du ein Prophet, fragen die Jerusalemer Priester.
III. Nicht wahr, wir verstehen das, daß es gerade die Priester sind, die so fragen. Priester, die sich recht verstehen, können ohne das Prophetische, das Irreguläre, das Gewaltsame und Mächtige nicht auskommen. Sie brauchen das Prophetische. Sie sind nur der lang hallende Ton, der von da ausgeht; der Schatten, den diese Gestalt wirft. Sie wissen genau, daß im Prophetischen Gott eigentlich handelt. Sollte so etwas wie eine neue Prophetenzeit angebrochen sein? Alle Priester, die wirklich Wartende, Hoffende, Glaubende sind, fragen so. Auch heute. Das ist das Gute, das Hoffnungsvolle und Adventliche in unseren Tagen, daß es unter den Priestern, unter denen, die das Amt der Lehre und Verkündigung verwalten, solch ein Fragen, eine Unruhe und ein Suchen gibt. »O Heiland, reiß den Himmel auf, herab, herab vom Himmel lauf.« Ob es da plötzlich aufbricht und die Priester den bürgerlichen Kreis zerbrechen, in den man sie einschließen will; zu den Arbeitern treten, als Arbeiter zu den Arbeitern; ob sie sich hineinbegeben in das Leiden der Menschen, in das seelische, tiefe, schmerzhafte Leiden, und so den Menschen suchen; ob sie sich hineinwagen mit ihrem Wort der Mahnung und des Trostes in das wilde und harte Ringen der Menschen um Krieg und Frieden, um deren Versuch, die Bestie des Krieges endlich wieder einzufangen? Überall diese Unruhe, dieses adventvolle Geschehen mitten unter uns, dieses Warten auf den Propheten.
IV. Aber Johannes ist kein Prophet. Johannes ist kein Elias. Johannes ist überhaupt nichts. Nichts von alledem, was wir aus ihm machen wollen. Johannes ist viel mehr und viel weniger. Johannes ist wirklich der letzte Bote, das letzte Wort Gottes vor dem, was kommt, ja mehr, was schon da ist. Johannes kann immer nur sagen: Ich bins nicht. Ich bin nicht der Heiland der Welt, nicht der Christus, nicht der neue Elia, nicht ein von Gott erweckter Prophet.
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So wird es immer sein, wenn wir wirklich an die letzten Dinge rühren – und Johannes gehört zu den letzten Dingen –: Es ist viel weniger als wir meinten, es ist alles nichts. Es muß alles erst einmal durchgestrichen werden, was wir da erwarteten. Nein, tausendmal nein – wenn ihr Johannes sehen und hören wollt, wirklich Johannes; wenn er euch wirklich hineinnehmen soll in die Bewegung, die ihr an ihm wahrnehmt – dann müßt ihr erst einmal enttäuscht werden. Die Sache ist viel weiter gediehen, als ihr meint: eure, die euch angehende und rettende Sache. Ihr seid viel näher dran; die Hilfe, die ihr sucht, steht wirklich bereits vor eurer Tür – darum taugen die Vorstellungen und Vergleiche nichts, mit denen ihr den Johannes messen wollt. Johannes ist mehr, Advent heißt mehr, mehr als Prophetenzeit und mehr als Reinigungszeit. Hier muß der Mensch ganz klein werden, abnehmen, verschwinden, und das andere, das Nahe und Kommende ganz groß werden, Gott muß wachsen, Gott will alles in allem sein, Gott will euch helfen und Gott allein kann euch helfen, und er wird euch göttlich, wird euch wunderbar und alle eure Erwartungen übertreffend helfen.
V. Und nun fragen wir mit den damals Fragenden: Was bist du dann? Was sagst du von dir selbst? Wir geben Johannes das Wort und er antwortet, so klar und so weithin hallend, daß sein Wort immer noch mitten unter uns ist, obschon sein Mund längst verstummte: Ich bin die Stimme eines Rufenden in der Wüste. Bereitet dem Herrn den Weg. Der Mann ohne Namen, der uns aus dem Buche des Jesaja bekannt ist, der schon einmal so rief, schon einmal das Wunder der Befreiung ankündigte – das will Johannes sein. Eine Stimme, ein Rufender, einer, der wartet, ob jemand hört. Einer, der erweckt, aufruft, schreit, mitten hinein in die Wüste. Also zwecklos? absichtslos? Das nicht, aber doch so, daß der Ruf alles in sich trägt; daß er dasein muß, laut werden muß, auch wenn nichts wie ein Totenfeld, eine Wüstenei rings herum ist. Der Schrei muß heraus. Welcher Schrei denn? Bereitet dem Herrn den Weg! Das ist alles – aber das ist auch wirklich alles. Wer diesen Ruf hört, kann der noch da bleiben, wo er ist? Kann er noch weiter träumen, weiter verderben, sterben, im Unglauben und in Trübsal dahinsiechen – wie bisher? Das heißt doch: Gott steht vor der Tür. Gott kommt zu euch. Ihr seid nicht so verlassen, preisgegeben an die wilden Tiere und Gestalten der Wüste, wie ihr meint. Gott, das heißt doch Leben, Freiheit, Sieg und Frieden. Gott heißt Vergebung der Sünde, Gott heißt, daß eine Freude bevorsteht, die alle Tränen trocknen, alles Leid
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hinwegnehmen wird. Gott wird aufhören, ein Gedanke, eine Erwartung, ein Phantasieprodukt zu sein, Gott wird da sein, mitten in allem, was sonst da ist, wird er da sein! Allen zur Enttäuschung, die meinten, Gott sei tot oder Gott sei fern oder Gott sei ohnmächtig und könne nicht helfen. Er wird mitten in der Wüste da sein – eben da, wo wir nicht mehr glauben können, daß wir noch in seiner Welt, in seiner Schöpfung leben. Wo sich diese Welt zurückverwandeln möchte in Wüstenei – da wird er da sein. Seht dorthin. Erwartet ihn von dort. An den Rändern der Welt. Da, wo sich der Abendschatten über die schöne Welt senkt. Da wird er kommen.
VI. Und mehr noch sagt Johannes: Ihr sollt dazu mithelfen. Ihr sollt ihm den Weg bereiten. Das kann ja nicht heißen, daß wir dem, der alle Berge erniedrigt und alle Täler erhöht, den Weg erst zu ebnen hätten. Der Kommende ist ja schon da. Er steht ja schon mitten unter uns. Aber eben weil er schon da ist, weil er mitten unter uns getreten ist, Gott selbst in unerkannter, unscheinbarer Gestalt, darum der Schrei: Bereitet dem Herrn den Weg, macht eine ebene Bahn. Es ist da noch in euch ein Hindernis. Ihr seht nicht, was da ist, ihr verstellt euch den Blick durch die Berge und Täler, die längst hinweggenommen sind. Ihr müßt auch etwas tun, damit er zu euch kommen kann. Denn die Berge von Schuld und die Täler der Not sind ja hinweggenommen, aber ihr baut sie neu auf. Ihr macht diese Sache so uneben, so schwierig. Ihr macht aus der Welt, in deren Mitte Gott getreten ist, eine Welt ohne Gott; ihr macht aus der Sünde, die vergeben ist, eine Schuld, die ihr erst abtragen wollt. Ihr macht aus der Tiefe der Not, in die das helle Licht von oben gefallen ist, wieder eine Dunkelkammer, in die ihr euch zurückzieht, um mit eurem Schmerz allein zu sein. Bereitet dem Herrn den Weg, das heißt: Tretet doch heraus aus dem, was ihr eure Welt nennt, und tretet doch hinein in Gottes neue, wunderbare Welt – das müßtet ihr doch glauben können, ihr Priester von Jerusalem und ihr Leviten, ihr Theologen und Kultdiener, das müßtet ihr sagen und verkündigen können. Dann wärt ihr nicht umsonst herausgepilgert zu dem Johannes am Jordan. Diese eure Fenster aufzutun, diesen Ruf laut werden zu lassen, aus Steinen dem Abraham Kinder zu erwecken – dazu ist Johannes da. Das heißt Advent. »Das ist der Tag, den der Herr macht.« Das ist der Tag, da die Nacht wirklich weicht und die Wüste sich verwandelt in Gottes Erde.
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VII. Und darum tauft Johannes. Er tauft die Juden. Er tauft die, die meinten, sie hätten eigentlich die Taufe nicht nötig. Er tauft mit Wasser, weil er mit dem Geist nicht taufen kann. Er deutet an, weil er über das, was er andeutet, nicht verfügt. Er hat das Zeichen des neuen Menschen, aber die Sache, den neuen Menschen selbst, hat er nicht. Und als sie ihn nun auch danach fragen, warum er tauft, da redet er noch einmal, noch geheimnisvoller von dem Großen und Gewaltigen, das in unsere Mitte, in unsere wüste Erdenmitte getreten ist – redet von dem »Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt« (V. 29), redet so von ihm, daß wir ahnen, welche Majestät in dieser Niedrigkeit mitten unter uns erschienen ist, »ein König aller Königreich, ein Herrscher aller Welt zugleich« – der ist da. Darum kann keiner, auch der Beste und Frömmste nicht, ihm entgegengehen ohne zu sterben; ohne ein neuer, ein aus der Tiefe neu aufsteigender, neu geborener Mensch zu sein. Das wird so lange währen als wir leben. Wir können ihm nur begegnen, indem wir in uns untergehen und unser Leben neu aus seiner Hand nehmen. Aus Jesu Hand. Denn das ist der, der vor mir war, der nach mir kommt. So hat ihn Johannes bezeugt. Als wollte er damit sagen: Er ist der Horizont, in dem alles läuft und kreist, »in ihm leben, weben und sind wir«. Er ist der Ursprung und das Ziel aller Dinge. Nicht wahr, jetzt erst wissen wir ganz, was wir mit Jesus, mit seiner Geburt und seiner Erscheinung vor uns haben: eben das, was wir immer suchen, wonach wir immer gefragt haben – das Woher und Wohin unseres Lebens, den verlorenen Ursprung und das verlorene Ziel. Das ist da. So sollen wir zu ihm eintreten. Dem sollen wir den Weg in uns bereiten. So sollen wir ihn anbeten: Jesus ist kommen, Grund ewiger Freude, A und O, Anfang und Ende steht da. Gottheit und Menschheit vereinen sich beide. Schöpfer, wie kommst du uns Menschen so nah. Himmel und Erde, erzählet’s den Heiden: Jesus ist kommen, Grund ewiger Freuden.
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27. Nicht ich, Johannes Johannes 1,19-34
Und dies ist das Zeugnis des Johannes, da die Juden sandten von Jerusalem Priester und Leviten, daß sie ihn fragten: Wer bist du? Und er bekannte und leugnete nicht; und er bekannte: Ich bin nicht Christus. Und sie fragten ihn: Was denn? Bist du Elia? Er sprach: Ich bin’s nicht. – Bist du der Prophet? Und er antwortete: Nein! Da sprachen sie zu ihm: Was bist du denn? daß wir Antwort geben denen, die uns gesandt haben. Was sagst du von dir selbst? Er sprach: Ich bin eine Stimme eines Predigers in der Wüste: Richtet den Weg des Herrn! wie der Prophet Jesaja gesagt hat. Und die gesandt waren, die waren von den Pharisäern. Und sie fragten ihn und sprachen zu ihm: Warum taufst du denn, so du nicht Christus bist noch Elia noch der Prophet? Johannes antwortete ihnen und sprach: Ich taufe mit Wasser; aber er ist mitten unter euch getreten, den ihr nicht kennet. Der ist’s, der nach mir kommen wird, welcher vor mir gewesen ist, des ich nicht wert bin, daß ich seine Schuhriemen auflöse. Dies geschah zu Bethabara jenseits des Jordans, wo Johannes taufte. Des andern Tages sieht Johannes Jesum zu ihm kommen und spricht: Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt! Dieser ist’s von dem ich gesagt habe: Nach mir kommt ein Mann, welcher vor mir gewesen ist; denn er war eher denn ich. Und ich kannte ihn nicht; sondern auf daß er offenbar würde in Israel, darum bin ich gekommen, zu taufen mit Wasser. Und Johannes zeugte und sprach: Ich sah, daß der Geist herabfuhr wie eine Taube vom Himmel und blieb auf ihm. Und ich kannte ihn nicht; aber der mich sandte, zu taufen mit Wasser, der sprach zu mir: Auf welchen du sehen wirst den Geist herabfahren und auf ihm bleiben, der ist’s, der mit dem heiligen Geist tauft. Und ich sah es und zeugte, daß dieser ist Gottes Sohn. Johannes sagt: Nicht ich. Und weil er das sagt, ist er Johannes, ist es für alle Zeit bis ans Ende der Welt. Weil er das ist und sagt, steht er vor uns als Frage und Mahnung, ob wir bereit sind, über ihn hinauszugehen auf das Jenseits zu, was hinter Johannes kommt. Denn Johannes ist eigentlich etwas Letztes. Johannes ist die eschatologisch vorhandene Existenz. Aber Johannes sagt: Nicht ich. Das heißt: ich bin nicht das Letzte. Ich bin nur ein Übergang, eine Stimme, ein über mich selbst hinausweisendes, euch
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alle von mir wegweisendes Zeichen. Ich bin die Aufhebung aller Möglichkeiten, stehen zu bleiben, halt zu machen. Ich muß darum immer wieder sagen: Nicht ich, damit ihr nun aus mir, aus dieser unmöglichen Möglichkeit, aus der Negation eine Position macht. Darum sage ich euch, wenn ihr mich fragt, wenn ihr aus meinem Protest wieder eine Gegebenheit, womöglich eine religiöse, eine kirchliche Gegebenheit, einen Heiligen, einen Elia redivivus machen wollt: Nein und abermals nein. Ich bin es nicht. Man muß einmal sehen, was das bedeutet, daß Johannes sagt: Nicht ich. Man muß sehen, wen und was er damit durchstreicht. Es wird nicht bald wieder so etwas geben in der Weltgeschichte wie Johannes und sein Wirken am Jordan. Nicht nur, daß über seiner Geburt bereits eine besondere Verheißung stand, anders und exzeptionell im Verhältnis zu der Erwählung, die über unser aller Geburt steht. Nicht nur, daß er schon in seinem Empfangensein in unlösbarer Beziehung steht zu dem anderen, der nach ihm geboren werden sollte und dem er zeitlich und räumlich am nächsten steht. Sondern Johannes, das heißt auch: leibhaft gewordener Protest gegen das üppige Jerusalem, grundsätzlicher Verzicht auf die Sicherheiten, mit denen man sich da behilft. Johannes, das heißt: einer hat den Mut, den Vorhang wegzuziehen und vor aller Augen deutlich zu machen, daß die Axt diesen Bäumen bereits an die Wurzel gelegt ist; daß es sicherer ist, in der Wüste von wildem Honig und Heuschrecken zu leben als da, wo der Tempel des Herrn steht; daß über dem scheinbar so korrekten und frommen Betrieb der Priester und Schriftgelehrten die Wetterwolke steht, aus der der Blitz herunterzucken wird. Und noch mehr: Johannes ist das Ohr, das hört, wie es klopft. Wie die harte Rinde unserer Welt, innerhalb deren wir uns so sicher fühlen, an einer Stelle bricht, wie es sich hier bewegt und klopft, weil der vor der Tür steht, der kommt. Und Johannes – das ist Kamelhaar und Ledergürtel, das ist Askese in ihrer höchsten, demonstrativen Potenz, das ist uralter jesajanischer Protest gegen den Luxus und die Verweichlichung, die sich wie Pestbeulen an den zum Untergang Bestimmten zeigen. Johannes – das ist noch etwas anderes als der gesellschaftlich tolerierte, kirchlich sogar beliebte und gefeierte Puritanismus der Pharisäer, der die Welt eben nicht verwandelt, sondern umgekehrt gerade erhalten möchte. Johannes – das ist echter, revolutionärer, prophetischer Protest gegen das Treiben und Reden der Großen und Kleinen in Staat und Kirche, die so tun, als ob die Welt ewig wäre; die die Handschrift nicht entziffern können, die an die Wand von Geisterhand geschrieben ist: »Gewogen und zu leicht befunden«; die nichts spüren von dem Riß, der bis ins Fundament geht; die vergessen haben, daß die Zeit eben Zeit und nicht Ewigkeit ist. Johannes – das ist das Erschrecken über dieser Einsicht, daß es ein Mor-
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gen gibt, vor dem das Heute zur Gerichtsverhandlung geladen sein wird. Ein Morgen, das sich nun eben nicht heiter oder langweilig oder fortschrittlich zeigen wird, oder aus dem Nexus von Schuld und Sühne heraus ergibt – sondern das von außen kommt, ein ganz freies, souveränes, großes und neues Morgen. Ein Tag, der diesen Namen schon darum verdient, weil es von ihm her tagen wird über allen Finsternissen und Dunkelheiten; weil wir von daher gefragt werden nach dem letzten Recht unseres Lebens oder unseres Gerechtseins, nach dem letzten Recht der Rolle, die wir – ob nun als König oder Kärrner, als Soldat oder Priester – auf der Bühne dieser Gesellschaft spielen; nach dem letzten Recht. Das ist Johannes: dieses an die dünne Wand dieser Welt gelegte Ohr und dieser in unser verlorenes Tun und Lassen hineinhallende Schrei. Nein, ich für meine Person bin nichts, ich bin nicht mehr als der Mund meiner Worte; ich bin nicht mehr als ein Schrei, der durch die Stille hallt, als ein Schrei aus tiefer, tiefster Not; als ein letzter Versuch, ob nicht doch noch ein Hörender da ist in dieser Wüste von Toten, die meinen, daß sie leben. Ich bin wie der Blitz, der durch die Nacht streicht und für einen Augenblick das Dunkel erhellt – ob vielleicht doch jemand aufsteht vom Schlaf; ob es vielleicht doch noch einmal in dieser verschlafenen träumenden Welt zum Advent kommt. Das ist Johannes. Johannes zerbricht sich darum nicht den Kopf über all dem, womit wir anderen uns den Kopf zerbrechen, mit dem, was morgen kommt. Was mit Deutschland wird oder Europa, mit der bürgerlichen Gesellschaft und mit ihren Ordnungen, was mit mir wird und mit meinen Kindern, mit meinem Alter, mit meinem Leben und Wirken. Wenn wir hinausgehen zu Johannes, dann geht es uns wie einem, der zum ersten Mal an die Front kommt. Die Stimmen, die ihn von der Heimat her begleiteten, werden immer schwächer; ein Rollen von der Ferne her wird vernehmbar wie das Rollen der aufgeregten See und erfüllt Herz und Gemüt, Ohr und Gedanke – das ist Johannes: eine fast grausame Ferne zu allem, was uns auf dieser Erde lieb ist, Kultur und Vaterland, Weib und Kind, Tempel und Gottesdienst – aber dafür eine Nähe zum Letzten, zu dem Tag, der kommt: zu Gott. Denn Gott, das eben ist der Sinn dieses Protestes – Gott ist nicht, sondern Gott kommt. Zeit und Ewigkeit liegen nicht übereinander wie zwei Schichten unseres Daseins, so daß man mal hier, mal dort sich ansiedeln könnte; sondern sie rasen aufeinander zu wie zwei Züge auf einem Gleis. Und einmal muß der Zusammenstoß erfolgen, einmal muß von der anderen Seite her dem Gefälle der Zeit Einhalt geboten werden – und sei es in einer Katastrophe. Gott kommt. Ihr meint, er ist, und darum könnte er nicht kommen. Ihr hättet ihn, eingefangen oder ausgesperrt, ganz gleich,
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aber ihr hättet ihn. Das eschatologische Rad sei zum Stillstand gekommen. Es drehe sich nicht mehr weiter. Ihr könntet nun das Eure besorgen in eurem Daseinsbereich, in Wirtschaft, Staat und Politik – und er mache das Seine in seinem unzugänglichen Bezirk. So habt ihr Himmel und Erde aufgeteilt: den Himmel ihm und die Erde euch. Aber Johannes reißt die Wände ein, die sie aufgerichtet haben zwischen oben und unten. Johannes sagt: Bereitet dem Herrn den Weg. Macht euch heute bereit zum Empfang für sein Morgen. Heute ist Advent, denn Gott kommt. Gott kommt zu uns, »die Erde ist des Herrn, der Erdboden und was darauf wohnt.« Das ist Johannes. Seit Johannes gibt es Adventsstimmung – aber sie ist etwas anderes als wir gewöhnlich meinen. Adventsstimmung im Geist und Sinn des Johannes, das heißt: Barths Römerbrief und Nietzsches Zarathustra, das heißt Spengler und Karl Marx, das heißt Hegel und Blumhardt. Da riecht man das ewige Feuer, das die Spreu verbrennen wird, und fühlt, daß ein Gewaltiger uns alle auf der Schaufel hat, um zu sichten, was Schale oder Kern ist. Und über dem allen muß das Nicht sichtbar werden, der Strich durchs Ganze. Wenn wir jetzt ihn – diesen Johannes, in den immer wiederholten Stößen und Bewegungen, die von ihm her kommen – zu etwas machen möchten, dann ist er selbst da und protestiert. Protestiert gegen alles und jedermann, der nun aus dieser Sache, aus Taufe und Bußpredigt, aus eschatologischer Haltung und prophetischer Askese – wieder etwas machen möchte. Etwas, woran die Erlösung, das Kommen Gottes, die messianische Welt greifbar, faßbar würde. Etwas Heiliges, Außerweltliches, Extraordinäres – gewiß, aber immerhin etwas. Wieder einmal eine Person, an die man sich halten kann. Eine geschichtlich gegebene Größe, einer, von dem man sagen kann: Du bist es, auf den wir gewartet haben. Dem gilt das Nein des Johannes. Er steht an der Stelle, wo dies »du bist es« immer wieder geboren werden möchte. Wo wir religiös, gläubig, hingebungsvoll, ergriffen, zur Umkehr bereit sind. Wo Bilder und Symbole neu heraufsteigen, aus dieser Tiefe unserer religiösen Sehnsucht. Da, genau da, steht Johannes und protestiert. Protestiert gegen diesen unseren Willen, den Advent zu vernichten. Aus dem Advent ein Dasein zu machen. Aus dem, was kommt, etwas, was gekommen ist. Aus dem Lauf eine Ruhe, aus der Erwartung eine Religion, aus dem Noch-nicht ein Hier-und-da werden zu lassen. Es geht nicht nur um die Verwechslung mit Christus – es geht ums Nein; es geht um den Protest gegen alles Vergleichbare und Faßbare; weder Christus noch Elia noch ein Prophet. Nein, das alles nicht. Nichts, worauf man mit Fingern zeigen könnte, nichts, was man als Wiedergeburt klassifizieren könnte – wenn man wenigstens sagen könnte:
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Nicht ich, Johannes
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Elia, denn wäre ja noch ein Anhalt gegeben, eine bekannte, irgendwie faßbare Analogie zu dem, was hier geschieht; dann würde uns das Wort nicht so unmittelbar, nicht so schrecklich und furchtbar überfallen, wie ein Schrei in der Wüste. Aber gerade das ist Johannes. Die Welt wie eine Wüste – und mitten darin eine Figur, von der ein Schrei ausgeht; und die eben damit, daß dieser Schrei von ihr ausgeht, den Zweck ihres Daseins erfüllt hat. Denn ihr dürft nicht dabei stehen bleiben. Dieser Protestantismus ist nichts Letztes, er ist etwas Vorletztes, aber als Vorletztes das Größte, was von Weibern geboren wurde. Das Letzte ist etwas ganz anderes, ist das Nächste und Gegenwärtige; das Letzte ist Mitte und Gegenwart: Er ist mitten unter euch getreten, den ihr nicht kennt. Darum dieses Hinwegnehmen aller Vorhänge und aller Schleier, aller Positionen, die keine letzten Positionen sind. Darum auch nur die Wassertaufe, als Hinweis und Vorbereitung auf ein anderes Untergehen und Neugeboren-werden, das wir aneinander eben nicht vollziehen können: Auf welchen du sehen wirst den Geist herabfahren und auf ihm bleiben, der ist’s, der mit dem heiligen Geist tauft. Nun verstehen wir vielleicht, warum Advent Abbau ist, Protest und Protestantismus, Schrei, Rede, Verkündigung, vor der diese ganze bunte und schöne, herrliche und reiche Welt sich in eine Wüste verwandelt; verstehen, warum auch mitten unter uns, unter den Frommen und Gerechten, Taufe als Symbol des Sterbens aufgerichtet werden muß – eben damit das Bild eingesetzt werden kann in den Rahmen; damit der eintreten kann in unsere Welt, der schon vor uns allen gewesen ist, aber jetzt kommt: Jesus; und damit er so eintreten kann, wie er eintreten muß, wenn er als Christus, als Retter und Erlöser unter uns wohnen soll. So gibt es immer wieder die beiden Tage, den Tag des Johannes, da es heißt: Nicht ich; und den Tag Jesu, da es heißt: Siehe! Wie wir es hier lesen: Des anderen Tages sieht Johannes Jesum zu ihm kommen und spricht: Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt. Dafür, daß wir alle ihn so sehen, wie er zu Johannes kommt, sich also zu diesem einen stellt, alles rechtfertigt, was dieser eben nicht ist – dafür stehen wir im Advent. Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!
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28. Siehe Johannes 1,29-51 1958
Des andern Tages sieht Johannes Jesum zu ihm kommen und spricht: Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt! Dieser ist’s von dem ich gesagt habe: Nach mir kommt ein Mann, welcher vor mir gewesen ist; denn er war eher denn ich. Und ich kannte ihn nicht; sondern auf daß er offenbar würde in Israel, darum bin ich gekommen, zu taufen mit Wasser. Und Johannes zeugte und sprach: Ich sah, daß der Geist herabfuhr wie eine Taube vom Himmel und blieb auf ihm. Und ich kannte ihn nicht; aber der mich sandte, zu taufen mit Wasser, der sprach zu mir: Auf welchen du sehen wirst den Geist herabfahren und auf ihm bleiben, der ist’s, der mit dem heiligen Geist tauft. Und ich sah es und zeugte, daß dieser ist Gottes Sohn. Des andern Tags stand abermals Johannes und zwei seiner Jünger. Und als er sah Jesum wandeln, sprach er: Siehe, das ist Gottes Lamm! Und die zwei Jünger hörten ihn reden und folgten Jesu nach. Jesus aber wandte sich um und sah sie nachfolgen und sprach zu ihnen: Was suchet ihr? Sie aber sprachen zu ihm: Rabbi (das ist verdolmetscht: Meister), wo bist zu zur Herberge? Er sprach zu ihnen: Kommt und sehet’s! Sie kamen und sahen’s und blieben den Tag bei ihm. Es war aber um die zehnte Stunde. Einer aus den zweien, die von Johannes hörten und Jesu nachfolgten, war Andreas, der Bruder des Simon Petrus. Der findet am ersten seinen Bruder Simon und spricht zu ihm: Wir haben den Messias gefunden (welches ist verdolmetscht: Der Gesalbte), und führte ihn zu Jesu. Da ihn Jesu sah, sprach er: Du bist Simon, Jona’s Sohn; du sollst Kephas heißen (das wird verdolmetscht: ein Fels). Des andern Tages wollte Jesus wieder nach Galiläa ziehen und findet Philippus und spricht zu ihm: Folge mir nach! Philippus aber war von Bethsaida, aus der Stadt des Andreas und Petrus. Philippus findet Nathanael und spricht zu ihm: Wir haben den gefunden, von welchem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, Jesum, Josephs Sohn von Nazareth. Und Nathanael sprach zu ihm: Was kann von Nazareth Gutes kommen? Philippus spricht zu ihm: Komm und sieh es! Jesus sah Nathanael zu sich kommen und spricht von ihm: Siehe ein rechter Israeliter, in welchem kein Falsch ist. Nathanael spricht zu ihm: Woher kennst du mich? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Ehe denn dich Phil-
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ippus rief, da du unter dem Feigenbaum warst, sah ich dich. Nathanael antwortete und spricht zu ihm: Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel! Jesus antwortete und sprach zu ihm: Du glaubst, weil ich dir gesagt habe, daß ich dich gesehen habe unter dem Feigenbaum; du wirst noch Größeres denn das sehen. Und spricht zu ihm: Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Von nun an werdet ihr den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf und herab fahren auf des Menschen Sohn.
I. Der Punkt Wir werden uns heute darum bemühen müssen, dieses eine große Wort des Täufers zu verstehen, es uns einzuprägen und unsere Augen auf den Punkt hin zu richten, auf den sein Finger weist: Siehe, das ist Gottes Lamm. Das andere, was unsere Geschichte uns berichtet, wie ein Jünger nach dem anderen dann den Weg hinfindet zu diesem Punkt, zu allerletzt ist der wakkere und ehrlich entrüstete Nathanael für uns ein Stück Geschichte, das wir zur Kenntnis nehmen, mit Interesse vielleicht oder gelangweilt und nicht sonderlich davon berührt. Es sind Beispiele, wie damals dies Siehe aufgenommen worden ist, von den ersten, den allerersten, denen die Augen dafür aufgingen; Beispiele, wie es aufgenommen sein will. Gewiß, Beispiele, die uns nicht zufällig erzählt und aufbewahrt worden sind, denn hier sehen wir etwas von dieser ersten Bewegung, die von dem Punkt ausgeht, auf den Johannes hinzeigt; von diesem magnetischen Punkt, der eine nahezu magische Anziehung auf diese Menschen ausübt. Sie lassen alles stehen und liegen, ihre alten Gemeinschaftsformen, ihren Beruf, ihre Familie, und bewegen sich auf ihn zu, sie sind unwiderstehlich angezogen. So ist das dann auch immer wieder gewesen und geblieben in der Geschichte. So ist es, wenn man dem Finger des Johannes folgt. Das geht durch bis in unsere Tage und wird weitergehen, was auch immer an Schrecklichem und Herrlichem, an Erschütterndem und Verlockendem in der Welt geschieht. Das wird weitergehen. Dieser eine Punkt, auf den Johannes zeigt, dieser eine Jesus, wird seine Anziehungskraft behalten, und immer wieder werden unsere erstaunten Augen konstatieren müssen, daß solche Männer wie Andreas oder Philippus oder Nathanael da sind, ob sie Augustin heißen oder Bernhard, oder Franz von Assisi oder Martin Luther oder Johannes Calvin oder Ignaz von Loyola oder Zinzendorf oder Bodelschwingh oder Wesley oder George Fox – es passiert immer wieder und wo immer es passiert, ist es eine große und bedeutsame Stunde. Aber wir werden das nie verstehen, wenn wir es nur von außen sehen; wenn wir nur
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sehen, wie diese Menschen auf den einen seltsamen Punkt zugehen, wie sie plötzlich ihre Augen aufreißen und dieses Siehe ganz groß vor ihnen wird: Wir müssen auch verstehen, was sie sehen. Wir müssen den Johannes verstehen. Der ist nicht umsonst mit seiner Stimme und seinem ausgereckten Finger neben dies ganze Geschehen gestellt. Und Luther hatte schon recht, wenn er sagte, man müßte diesen ausgereckten Finger des Johannes mit Gold und Smaragden schmücken, denn nie wieder hat der Finger eines Menschen auf so etwas Großes und Herrliches gezeigt, wie der Finger des Johannes.
II. Nathanaels Stimme Wir wissen aber auch, wie schwer es ist, ihm zu folgen. Es ist viel leichter, mit unseren Augen, vielleicht auch mit unseren Füßen den Menschen zu folgen, die hier in Bewegung geraten. Mitzulaufen, wohin sie laufen, mitzusprechen, was sie sprechen. Darum steht Nathanael hier mitten unter den anderen, der behält wenigstens einen klaren Kopf und läßt sich nicht so einfach von den anderen mitreißen und mitnehmen. Nathanael sagt das, was so manche von uns vielleicht auch denken: Was kann schon von den Juden Gutes kommen. Dein Finger, Johannes, zeigt ja nach Israel, zeigt nicht nach Hellas und nicht nach Rom, dein Finger zeigt nach Jerusalem. Was kann von da Gutes kommen? Wir kennen diese Stimme Nathanaels doch wohl auch in unserer eigenen Brust. Und wie vielstimmig ist sie geworden im Laufe der Zeit, im Laufe der Geschichte. Immer wieder kommt da die Stimme Nathanaels: Was kann aus dem Christentum Gutes kommen? Hoffentlich kommt sie heraus, wo sie da ist; hoffentlich hören wir sie. Wenn wir sie nicht hören, Einer hört sie – einer weist sie nicht ab. Einer denkt hier anders als alle die Apologeten des Christentums, die sich landauf landab bemühen, diese Stimme zum Schweigen zu bringen. Er sagt: Ein Israeliter, an dem kein Falsch ist. Seine Stimme zeigt eins: das Mitlaufen macht es nicht; die Sache, um die es hier geht, ist offensichtlich etwas ganz anderes als eine Massenbewegung und eine Parteiangelegenheit, wo man mitmachen kann. Wir Menschen machen immer wieder so etwas daraus, das ist ganz unvermeidlich und zuweilen sind hier unsere Laien hemmungsloser als die Theologen. Aber wir sollten wissen, daß niemand von außen her in jene Mitte gelangen kann, auf die Johannes hinzeigt. Daß es hier ein Mitlaufen gibt, aber dann auch wieder ein schreckliches Abfallen und Weglaufen. Nein, um den Punkt zu sehen, auf den der Finger des Johannes weist, muß man sich schon dorthin stellen, wo Johannes selber
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steht, muß man den Mann sehen, auf den er zeigt, und das Wort hören, das er verkündet. Und alles andere, die auf diesen Punkt zugehenden Menschen, auch die ersten, die Jünger, auch die besten, auch Petrus und Andreas und wer sie auch sind, auch und gerade die Apostel können uns hier keine Wegführer und keine Schrittmacher sein. Es ist niemand, von dem es nicht heißt: Bevor Philippus dich rief, sah ich dich. Diesen Sprung in die Mitte werden wir ganz allein tun müssen, den Sprung dorthin, wo Jesus steht; diesen Sprung mit allem, was wir sind; diesen Sprung aus allem heraus, wo wir sind und worin wir stecken. Der Sprung ist damals sicher nicht leichter gewesen als heute. Hier gilt es einen anderen Sprung als den über 2000 Jahre. 2000 Jahre, was ist das gegenüber dem Abgrund – Zeit und Ewigkeit –, über den es hier zu springen gilt – wenn man sich von dem Finger des Johannes dirigieren läßt.
III. Siehe Siehe, sagt dieser Johannes. Kommt und seht, sagt auch Jesus. Es geht wirklich um ein Sehen. Es geht darum, etwas Besonderes, etwas Unglaubliches zu sehen. Zu sehen, daß das Entscheidende da ist, daß es mitten unter uns ist: den Himmel offen sehen. Daß wir nicht mehr genötigt sind, uns Bilder und Vorstellungen, Meinungen und Hoffnungen von diesem Großen und Letzten zu machen, sondern im Gegenteil, alle diese Bilder und Vorstellungen zu verbrennen, alles derartige, was aus unserem Menschengeist und Hoffen stammt, radikal hinter uns zu lassen, weil die Zeit der Erwartungen hinter uns liegt, weil die Erfüllung, die Epiphanie da ist. »Jesus ist kommen, Grund ewiger Freude.« Mitten drin in allem, was wir hier und jetzt sehen, mitten in unserer Sorge und mitten in unserer Schuld, mitten in unserem Leichtsinn und mitten in unserem Verfallensein an den vergänglichen Glanz vergänglicher Werte, auch der höchsten – mitten darin das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt. Ich fürchte, dieses Siehe fällt uns allen immer wieder maßlos schwer. Manchmal ist es da. Das sind dann jene Augenblicke, in denen wir gewiß sind, »daß weder Tod noch Leben, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes uns trennen kann von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus ist.« Da weiß man dann auch, daß unsere Leistungen und Verdienste nichts, gar nichts sind, sondern daß wir alle davon leben, daß uns das Blut dieses Lammes rein gewaschen hat. Da weiß man auch, daß es dieses Lamm ist, das einmal das Buch mit den sieben Siegeln, das wir Geschichte nennen, öffnen wird; daß die Versöhnung, die Gott in ihm mit uns gemacht hat, das Geheimnis
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aller Geschichte, der ganzen großen und weiten Menschheitsgeschichte ist. Das wissen wir in solchen Augenblicken. Das sind dann jene Momente, in denen der Geist Gottes selbst die Bilder und Vorstellungen, die wir uns von ihm machen, wegbläst, wie der Wind auf den Bergen die Nebel zerteilt, damit die Sonne hell und rein leuchten kann. So ist es auch mit diesem Siehe, das wir hier hören. Und eigentlich müßte jeder Gottesdienst, jedesmal wenn wir uns sammeln, um Gott zu hören, solch ein Siehe sein, solch ein Wegblasen der Nebel und Phantasien, die unser Menschengeist sich macht, wenn er das große Geheimnis Gottes denkt und denken muß – siehe, da ist es. So nahe und doch so weit weg von dir. So verborgen, daß Gott selbst einen so mächtigen Mann wie den Johannes daneben stellen muß, der uns das Eine sagt, immer wieder das Eine, immer aufs Neue, in allen Kirchen, in der römischen, in der orthodoxen und der evangelischen, das Eine: Siehe, das ist Gottes Lamm.
IV. Die Gegenwart So schwer ist das, und so leicht. So breit ist der Graben, über den wir hier springen müssen, breiter als viele viele tausend Jahre. Aber es gibt einen Punkt, wenn man sich dorthin stellt, dann kann man über diesen Abgrund springen, so leicht, als würde man getragen. Man wird auch getragen. Man kann dann sagen: Ich bin gewiß. Man ist auf einmal ein Königskind und nicht mehr so ein auf der Zeitlinie hin und her sich bewegender Erdenwurm; ein geistlicher Mensch, wie das die Bibel nennt, ein Mensch, der die Gesetze seines Fleisches durchkreuzt und durchbricht, weil er in der Freiheit des Geistes handelt. Das meint dieses Siehe, so nahe ist es und doch so weit. Wir wollen erst über das Weit-sein, über den Abgrund sprechen, der sich hier vor uns auftut und der viel zu tief und viel zu gefährlich ist, als daß wir darüber springen könnten. Wir wollen von all dem sprechen, was unser Kleinglaube dagegen sagt. Denn das, was uns Johannes zumutet, heißt ja mitten aufs Meer treten und darüber wandeln; oder genauer gesagt, den sehen, der uns hier mitten auf dem Meer von Schuld und Sühne, in dem wir zu versinken drohen, entgegenkommt und der uns seine Hand gibt: »Sei getrost, mein Sohn, meine Tochter, deine Sünden sind dir vergeben.« Siehe, sagt Johannes, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt. Und was dasselbe ist, Andreas, einer von den Johannes-Jüngern, der den Johannes verlassen hat und zu Jesus gegangen ist, sagt: Wir haben den Messias gefunden. Denn im Alten Testament hat man das immer schon
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gewußt und immer schon bezeugt, daß einmal die Zeit einer großen Sühne, einer großen Versöhnung kommen würde. Und Jahr um Jahr bei ihrem Passafest1 wählten sie ein Schaf aus, auf das sie dann symbolisch alle Schuld und alle Vergehen luden und das sie ausstießen in die Wüste, wo es getötet wurde. Man wird wohl nie ergründen können, warum die Israeliten eine so tiefsinnige Handlung in ihrem größten Gottesdienst ausübten, rückwärts gesehen wirkt es jetzt wie Schattenspiel, in dem sich bereits das Zukünftige ankündigte. Aber trotzdem, als auf einmal der Vorhang zerriß und aus dem Schattenspiel ein Vorgang mitten hier auf Erden, mitten unter uns Menschen wurde, als es auf einmal aufhörte, nur ein Symbol und ein Spiel zu sein, als es blutiger Ernst wurde, und als dieses Lamm dann auch wirklich ausgestoßen und geschlachtet wurde, da tat sich ein Abgrund auf, der bis heute nicht zugeschüttet ist: das kann doch nicht der Messias, der verheißene Gottessohn und Gottestrost sein. Da waren auf einmal die Nebel da, daß die Priester und Schriftgelehrten nichts mehr sahen und bei diesem Schlachten und Richten über ihren eigenen Richter und Retter sogar mitmachten.
V. Das Schwerste – heute Denn das Schwerste für uns alle ist dieses Siehe. Dieses: da ist es, da steht er. Das Schwerste und Unausdenkliche für uns alle ist immer wieder dies, daß mit diesem Jesus von Nazareth Gott mitten unter uns ist. Daß hier die Stelle sein soll, wo die Jakobsleiter aufgerichtet ist und wir die Engel Gottes herauf- und heruntersteigen sehen, wo es Offenbarung gibt: Offenbarung des Letzten und Höchsten, Offenbarung dessen, was ist und was wahr ist. Wo alles auf einmal zusammen ist, Gott und Sein und Wahrheit und Leben. Seht, »das Leben ist erschienen.« Das meinte die alte Kirche, wenn sie von Epiphanie sprach, und ihr Epiphanienfest war ursprünglich das Weihnachtsfest. »Wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.« Weil das Himmelsziel so nahe ist, darum ist es so schwer, es zu sehen. Ja, es ist eigentlich ganz unmöglich, und die, die diese Unmöglichkeit nie begriffen haben, die aus dem Sehen, um das es hier geht – das Sehen der Offenbarung Gottes in dem Menschen Jesus –, einen einfachen, direkten Sehakt gemacht haben und sich dann noch auf diese ihre Orthodoxie etwas zugute taten gegenüber den anderen, die vor soviel Licht einfach blind wurden – die haben 1.
Der »Sündenbock« gehört zum Versöhnungsfest, Jom Kippur, 3. Mose 16.
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den Johannesruf am allerwenigsten verstanden. Denn Jesus ist wirklich unter uns, damit die Blinden sehend und die Sehenden blind werden. Wenn wir ihn so sehen könnten, wie wir sonst die großen Männer der Geschichte, die Künstler, die großen Philanthropen und Weisen sehen und ansehen, dann wäre hier kein Abgrund, höchstens der der 2000 Jahre, und über den würden wir schon mit unseren Mitteln und Forschungswerkzeugen hinwegkommen. Nein, das Schreckliche ist, daß wir das Allernächste, das Gegenwärtige, das was mitten unter uns ist, nicht sehen: daß wir nicht sehen, daß Gottes Heil und Hilfe mitten unter uns ist. Daß wir das nicht sehen können, nicht weil es von uns so weit weg ist, sondern weil wir von ihm so weit weg sind; weil wir uns eine Welt zurecht gemacht haben, in der Gott unmöglich Gegenwart sein kann, in der es nicht heißen kann: Siehe jetzt! Siehe hier! Kommet und sehet! Wir haben Gott in eine Traumwelt abgeschoben und haben uns die Wirklichkeit aufgeladen, wie sich der Riese Atlas die Erdkugel auflud, und heute stöhnen wir alle unter dieser Last – ob wir das die Last des weißen Mannes nennen, der das Kolonialzeitalter abzuwickeln hat; oder ob wir es die Sorge der bürgerlichen Welt nennen, die sich bis an die Zähne bewaffnet hat, weil sie die religiöse Welt gegen die atheistische verteidigen muß; oder die Sorge des sozialistischen Zukunftsstaates, der ebenso bis an die Zähne bewaffnet die Auferstehung des seiner Meinung nach endgültig Vergangenen fürchtet – wo wir auch hinkommen in der Welt, in die Kabinette und Parlamente, von denen aus wir regiert werden; wo wir hingucken, in die Zeitungen und Fernsehbilder; wo wir hinhören, in den Äther und in die Gespräche der Menschen miteinander: überall spürt man die Sorge des Menschen, der sich die Last der Welt aufgeladen hat und der niemanden weiß, der sie ihm abnimmt. Das ist der furchtbare Abgrund. Wir haben Gott aus seiner Welt hinausgetrieben, wir haben sein Reich ins Niemandsland der Fabel verlegt, wir haben die Theorie von den beiden Reichen geprägt, von denen das eine uns, das andere ihm gehört, und nun darf er nicht mehr mitten unter uns erscheinen. Was würde sonst aus unserer Verantwortung, aus unserer Moral, aus unseren Berechnungen und Abmachungen, aus allem, was wir Geschichte und Erfahrung nennen. Das darf nicht sein.
VI. Das Leichte Aber genau das ist! Das heißt: Siehe. Seht doch einmal auf, ihr Zersorgten und Geplagten. Seht doch einmal hin auf diesen Punkt, auf den der ausgereckte Finger des Johannes zeigt. Seht doch einmal auf, ihr, die ihr
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meint, die Welt vor dem Verderben bewahren zu müssen, die ihr Sorgen, die euch viel zu schwer sind, euch auf den Rücken ladet. Jesus macht euch die Last leicht. Die Sorge, die Angst, der Unglaube, das ist der Abgrund, der sich zwischen uns und Gott auftut, der verhindert, daß seine Nähe zu uns auch unsere Nähe zu ihm wird. Das ist das Lamm Gottes, sagt Johannes. Und wir dürfen gleich hinzusetzen: das der Welt Sünde trägt. Was sich der dumme, stolze, törichte, angeblich so verantwortliche Mensch selbst auflädt, das liegt hier auf Gottes Schulter, das ist seine Last. Seine Last ist leicht. Er kann tragen, was wir nie und nimmer tragen können, woran wir alle zerbrechen, was wir alle am falschen Ende anfassen: die Sünde. Wenn Gott mitten unter uns tritt, wenn er in mein, in dein, in unser aller Leben tritt, dann leuchtet eine Stelle auf, die wir sonst immer im Dunkel lassen: die Sünde. Aber sie leuchtet ganz anders auf, als wenn wir sie mit unseren eigenen Augen, an Gott vorbei ansehen. Sie leuchtet so auf, wie eine Gefahr, die hinter uns liegt. Eine Hand hält uns darüber und der Abgrund kann uns nicht mehr verschlingen. Wir sind, nein, die Welt mit uns ist geborgen, sie ist versöhnt. Wir suchen die Sünde zwar immer noch in der Welt und erklären sie aus der Welt und meinen, wenn wir die Welt ändern, dann müßte sie verschwinden, aus uns selbst, aus unserem Leben – aber Johannes sagt es anders: Siehe da, die Sünde liegt auf ihm. Das ist das Lamm Gottes. Eure Philosophen, eure Politiker, zuweilen auch eure Theologen und Prediger lehren euch immer wieder, die Sünde in der Welt zu sehen, als ob ihr damit fertig würdet. Johannes lehrt euch sie auf ihm zu sehen, auf Jesus. »All Sünd hast du getragen, sonst müßten wir verzagen, erbarm dich meiner, o Jesu!« Das ist der Sprung über den Abgrund. Wenn wir die Augen unseres Glaubens aufmachen, wenn wir glauben, was hier dieser Johannes sagt; wenn wir glauben, daß Jesus da ist, nicht um uns zu richten, sondern um zu retten, uns, unsere Feinde, alle Welt; wenn wir glauben, daß wir von Gott her durch Jesus schon gerettet sind, daß die Sünde auf ihm liegt und damit weg ist, nichts ist, wir frei sind, neu geboren, wieder-geboren – wenn wir das glauben, dann macht unser Herz einen Freudensprung und der Abgrund ist hinter uns. »Was kann uns trennen von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist.« Und wir hören auf einmal das Loblied der Schöpfung um uns her neu, wir sehen auf einmal, daß das, was zwischen uns armen, bösen, schwachen Menschen steht, was zwischen uns und dem anderen, zwischen uns und dem Feinde steht – daß dies alles auf Gott liegt. Daß Gott diese Last auf sich geladen hat in Jesus; in diesem Menschen, in dem er mitten unter uns ist. So leicht ist das. »Glaubstu dann hastu.« Das Neue in der Welt fängt mit Gott an, nicht beim Menschen. Alles, was hier
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anfangen könnte, wäre doch wieder das umgekrempelte Alte. Bei Gott fängt das Neue an und darum nennen wir das das Evangelium. Daß Gott mitten unter uns erschienen ist in Jesus und daß er die Sünde der Welt auf sich genommen hat, daß sie auf ihm liegt und nicht mehr auf uns, und daß, wer zu Jesus läuft, wer von Johannes zu Jesus geht, von dem Höchsten und Besten, was Menschen sind und können, zu dem, was Gott in Jesus kann und vermag, vom Gesetz zum Evangelium, vom Alten zum Neuen Bund – wer das tut, dem ist alles leicht. Das heißt Glauben. Glauben heißt aus der Mitte heraus leben, wo Jesus steht. Wo die Sünde von Gott getragen und aufgehoben ist; wo der Schattenriß unserer Gottesdienste dem Leben selbst weicht; wo wir können, was wir sollen und wo wir empfangen, was wir glauben; wo die alten Zaubersprüche von der bösen Welt und dem Jenseits des Gottesreiches ihre Macht über unser Herz verlieren; wo Kaiphas und Pilatus keine Stimme und keine Macht mehr haben – da sehen wir den Himmel offen. Das ist wirklich Weihnachten, Epiphanie. Nun schleußt er wieder auf die Tür zum seligen Paradeis. Der Cherub steht nicht mehr dafür. Gott sei Lob, Ehr und Preis.
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29. Wiedergeburt Johannes 3,1-16
Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus, ein oberster unter den Juden. Der kam zu Jesu bei der Nacht und sprach zu ihm: Meister, wir wissen, daß du bist ein Lehrer von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm. Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich ich sage dir: Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen. Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er auch wiederum in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden? Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich ich sage dir: Es sei denn, daß jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren wird, das ist Geist. Laß dich’s nicht wundern, daß ich dir gesagt habe: Ihr müsset von neuem geboren werden. Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. Also ist ein jeglicher, der aus dem Geist geboren ist. Nikodemus antwortete und sprach zu ihm: Wie mag solches zugehen? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Bist du ein Meister in Israel und weißt das nicht? Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wir reden, was wir wissen, und zeugen, was wir gesehen haben; und ihr nehmt unser Zeugnis nicht an. Glaubet ihr nicht, wenn ich euch von irdischen Dingen sage, wie würdet ihr glauben, wenn ich euch von himmlischen Dingen sagen würde? Und niemand fährt gen Himmel, denn der vom Himmel herniedergekommen ist, nämlich des Menschen Sohn, der im Himmel ist. Und wie Mose in der Wüste eine Schlange erhöht hat, also muß des Menschen Sohn erhöht werden, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben. Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Das Gespräch Jesu mit Nikodemus ist eigentlich gar kein richtiges Gespräch. Es ist eigentlich ein Gespräch nur von einer Seite her, von der Seite des Nikodemus her. Nikodemus will mit Jesus ein Gespräch über die Gottesfrage beginnen. Er ist selbst ein Theologe. Er hat selbst in der Schrift
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studiert und gesucht. Er ist ein Rabbi, ein Lehrer, der andere unterrichtet, aber er hat gemerkt, daß bei Jesus etwas da ist, was sonst nicht so zu finden ist. Er möchte sich darum einmal mit Jesus unterhalten, er hat begriffen, daß Jesus ein ungewöhnlicher Mann ist, der in einem besonderen Kontakt zu Gott steht. Und so geht er zu ihm, bei Nacht, wie es heißt, er möchte nicht gesehen werden. Es geht ihm so, wie es vielen Menschen geht, Jesus interessiert sie, die Frage nach Gott ist in ihnen irgendwie aufgebrochen, sie spüren, daß sie hier, bei Jesus von Nazareth, mehr als anderswo hören können. Aber es soll alles möglichst unverbindlich bleiben. Sie wollen sich mit ihm aussprechen, der breite Graben, der bei solchen Gesprächen immer zwischen uns liegt, darf nicht überschritten werden. Wir wollen auf dieser Seite bleiben, und Jesus soll auf der anderen Seite bleiben. Und wenn Jesus das getan hätte, wenn er so mit ihm gesprochen hätte, dann wäre es wohl auch ein Gespräch geblieben wie viele, viele Gespräche, die die Menschen untereinander und miteinander über Gott und die Ewigkeit führen. Ein Gespräch, das dann wahrscheinlich nicht verdient hätte, aufgezeichnet zu werden, jedenfalls nicht verdient hätte, in der Bibel aufgezeichnet zu werden. Aber Jesus tut ihm diesen Gefallen nicht. Jesus spricht nicht so par distance, so unverbindlich, so, wie eben Gelehrte und Theologen ihre Meinungen austauschen. Sondern mit einem Sprung steht Jesus neben ihm. Jesus geht sofort zum Angriff über. Nikodemus will von Gott reden, und Jesus sagt ihm unvermittelt und geradezu: Es kann überhaupt niemand von Gott reden. Wie soll das möglich sein? Du, Nikodemus, hast vergessen, wer du bist. Daß du Mensch bist – und da willst du mit mir von Gott reden: Du hast dich selbst vergessen. Das ist das Besondere, was Jesus uns allen zeigen will: diese Unmöglichkeit, ja, diese Vermessenheit, wenn wir meinen, über Gott etwas ausmachen zu können. Als ob wir über Gott so reden könnten, wie über die Welt, oder über das Schicksal, oder über den Krieg, oder über irgendein anderes Ding. Gott – das liegt doch auf einer anderen Ebene. Zwischen Gott und Mensch hat sich etwas ereignet, das steht nun zwischen dir und Gott. Ihr könnt nicht einfach so tun, als gäbe es das nicht. »Gott ist Geist«, und der Mensch, der auch die Möglichkeit hatte, vom Geist Gottes her zu leben, hat sich gegen den Geist entschieden. Der Mensch ist Fleisch, weil er Fleisch sein will. Der Mensch hat das Organ verloren, das auf Gott angelegt war. Alles, was er denkt, tut, fühlt, glaubt, hofft, erkennt, alles das kann er nur von seiner Welt her, von seiner menschlichen, todbegrenzten, fleischlich-ichhaften Welt denken, tun, fühlen, glauben und hoffen. Der Mensch sieht die Dinge nicht mehr so, wie sie in Wahrheit sind, sondern er sieht sie aus der Perspektive seiner fleischlichen Existenz. Fleisch und Geist sind so
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abgrundtiefe Gegensätze, daß zwischen diesen beiden keine Verständigung möglich ist. Darum muß alles falsch sein, was der Mensch von sich aus über Gott zu wissen und zu ahnen meint. Er ist ja blind. Er kann Gott gar nicht sehen. Er kann nur von ihm träumen, von ihm phantasieren, wie ein Blinder von der Farbe redet. Anders kann kein Mensch von Gott reden. Jesus sagt das nicht, um uns in Verzweiflung zu stürzen, aber er sagt es wohl, um uns daran zu erinnern, daß die Tür des Paradieses endgültig hinter uns zugeschlagen ist, und daß wir die Geschichte, die zwischen uns und Gott gespielt hat, nicht ungeschehen machen können. Was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch. Alles, was der Mensch von Natur aus mitbringt, es kann noch so viel sein, es kann Äußeres oder Inneres sein, das bringt ihn keinen Schritt Gott näher. Es gibt keine Brücke aus der Welt des Fleisches in die Welt des Geistes. Wir können suchen und suchen, wir finden keinen Übergang. Kennen wir nicht diese bittere, schwer zu ertragende Wahrheit dessen, was uns Jesus damit sagen will? Wie oft meint der Mensch, er hätte nun doch etwas von Gott begriffen, er glaube, seine Wege zu verstehen, er ahne etwas von seiner Vorsehung – aber auf einmal ist alles dunkel – finstere, ausweglose Nacht. Wir nennen diese Nacht mit verschiedenen Namen, im Grunde ist es immer dasselbe: Verzweiflung, Irrtum, Sünde, Tod. Alles ist nur ein Zeichen, daß wir merken, daß wir als Menschen eben nicht da stehen und nicht da leben, wo Gott steht und wo Gott lebt. Dann merken wir, nein, wir haben uns getäuscht, der Weg zu Gott, den wir glaubten, gefunden zu haben, hat sich als eine Sackgasse erwiesen. Gott ist im Himmel, und wir sind auf der Erde, Gott ist Geist, und wir sind Fleisch. Es gibt niemanden in der Welt, der so radikal den Schnitt zu machen wagt zwischen Gott und Mensch, wie Jesus. Wir wagen das alle nicht, obschon wir vielleicht auch solche Lehrer in Israel sind. Wir wagen alle nicht, wahr zu haben, daß die Tür des Paradieses endgültig zugeschlagen ist, wir unternehmen immer noch eine Ehrenrettung des Menschen, wir meinen, ein Teil des Menschen sei doch noch gut, es sei doch noch etwas Göttliches in ihm, dieser Rest sei nur verschüttet, er müsse wieder frei gemacht werden. Das schmeichelt uns Menschen. Dann ist die Lage doch nicht ganz hoffnungslos. Dann ist es doch nicht ganz dunkel, ganz Nacht um uns. Nun, hoffnungslos ist unsere Lage in den Augen Jesu auch nicht. Es fragt sich nur, ob wir für diese Hoffnung Jesu Verständnis haben, ob wir diese Hoffnung wirklich als Hoffnung aufnehmen und verstehen können. Jesus nennt uns den einzigen Weg der Rettung: Wiedergeburt. Ihr müßt von neuem geboren werden, vielleicht hat er auch gesagt, ihr müßt von oben geboren werden. Beides ist dasselbe. Jesus zündet auf einmal mitten
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in der tiefen, dunklen Nacht der Verzweiflung ein ganz helles Licht an und stellt uns da mitten hinein. Es ist alles aus, sagt Jesus, die Tür hinter euch ist ein für allemal ins Schloß gefallen, der Engel mit dem flammenden Schwert trifft jeden, der wagt, hier – gezeichnet von Sünde und Tod – Gott nahezukommen. Aber vorwärts führt euer Weg. Es gibt für den Menschen eine Hoffnung, es gibt eine Brücke aus dieser Welt in die Welt der Ewigkeit, und diese Brücke heißt: Wiedergeburt! Man merkt förmlich, wie Nikodemus der Atem wegbleibt. Er möchte sich das aber nicht merken lassen. Er möchte sich den Anschein geben, als wäre er immer noch der kühle, objektive Partner in diesem Gespräch. Aber, indem er versucht, etwas Kluges dazu zu sagen, merkt er sofort, daß er das Ganze eben nur wieder von der Perspektive seiner Fleischeswelt aus verstanden hat. Man kann doch nicht noch einmal geboren werden, denkt Nikodemus. Man kann doch nicht noch einmal Kind sein. Wir möchten das vielleicht manchmal. Wir möchten, daß wir unser ganzes Leben noch einmal beginnen könnten, wir möchten, daß ganze Perioden in unserem Leben ausgelöscht würden, vielleicht auch ganze Perioden im Leben der Völker, der Menschheit. Aber wir wissen nur zu genau, es geht nicht im Leben so zu, wie in der Schule. Man kann hier nicht von vorn anfangen, wenn eine Sache mißglückt ist. Nein, nein. Das Leben hat seine bestimmte Zeit, es gibt kein von neuem geboren werden. Wir müssen die alte Last immer weiter mit uns schleppen, wir werden uns selbst nicht los. Aber Jesus sagt: Ihr müßt! Dazu ist Jesus überhaupt in die Welt gekommen, dazu steht er mitten unter uns, um uns das zu sagen: Ihr müßt von neuem geboren werden. Es gibt die Möglichkeit des neuen Menschen, des neuen Anfangs. Das gerade ist das, was Jesus Evangelium nennt, die Freudenbotschaft, daß es das gibt. Daß mit ihm und durch ihn diese Gnade über uns alle gekommen ist, daß nun für alle Menschen dieser Weg der Rettung freigegeben wird, der neuen Geburt, des neuen Anfangs. Wir Menschen wollen immer verbessern, wir wollen wie bei einem sterbenden Baum das dürre Holz wegschneiden in der Hoffnung, daß der Baum dann neu grünen wird. Diese Hoffnung hat Jesus nicht. Jesus tritt nicht unter uns, um die Welt zu verbessern, sondern er steht unter uns, um alles neu zu machen. Alle Hoffnungen, die wir haben, sind nichts gegenüber der großen, göttlichen Verheißung, die Jesus uns bringt. Jesus sagt: Ihr müßt von neuem geboren werden. Der Mensch muß von Grund aus neu werden. Er muß sterben und auferstehen. er muß ganz verneint werden, damit er von Gott ganz bejaht werden kann. Darum das merkwürdige Bild von Wasser und Geist, das Jesus jetzt hinzufügt. Wasser ist das Zeichen des Untertauchens, aber auch der Reinigung, Geist ist das Zeichen der Auferstehung, im Geist ist
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der Tod überwunden. Solch ein Sterben und Auferstehen muß dem Menschen widerfahren, sonst kann er nicht ins Gottesreich gelangen. Das ist es, worauf Jesus gern unsere Blicke ausrichten möchte: auf den neuen Menschen. Das sollte auch unsere Hoffnung sein. Mensch ist mehr als nur Fleisch, der Mensch geht eben doch nicht darin auf, daß er Fleisch ist. Es gibt eine Wandlung dieses Menschen, eine neue Geburt, die muß kommen. Dazu ist Jesus selbst gekommen, um diese neue Geburt zu ermöglichen. Freilich, der neue Mensch ist nicht wie der alte. Den alten Menschen könnt ihr bestimmen nach seinem Woher und Wohin, nach seinen Anlagen und seiner Bestimmung. Dieser Mensch hat sein Schicksal in seiner Wiege mitbekommen. Er entfaltet sich wie des Grases Blume und verwelkt darum auch wie des Grases Blume. Aber der neue Mensch – von dem kann man nur sagen: er ist. Er ist da, mitten unter euch, er ist Kraft, Gegenwart, Leben, Licht. Wie der Sturmwind da ist, wie er dich trägt, einhüllt, mitreißt, bewegt, so ist dieser neue Mensch da, als Werk des Geistes, dessen Woher und Wohin du nicht erforschen kannst. Diese Rätselhaftigkeit, dieses Wunderbare ist das Kennzeichen des neuen Menschen: Also ist jeglicher, der aus dem Geist geboren ist. Wo der Geist Gottes weht, da gibt es nur ein Wort, um den Übergang zu erklären aus dem, was war, in das, was ist: Gnade. Gnade ist auch nur ein Wort für die Freiheit des Geistes, von der Jesus hier redet. Gott kann nehmen, wen er will. Hier bricht er plötzlich ein mitten unter die Feinde des Kreuzes und holt sich einen heraus, dort legt er in Kindermund den Lobgesang, dort wieder bewegt er das Herz der Sünderin, daß sie mit ihren Tränen des Herrn Füße wäscht. Warum gerade die eine und die andere nicht? Warum Saulus und Judas nicht? Warum Mose und Pharao nicht? Warum der Schächer zur Rechten und nicht der zur Linken? Siehst du, das ist die Freiheit der Gnade Gottes, das ist der Geist, du merkst, der weht hier durch ein Leben, der weckt hier einen Menschen aus seinem Todesschlaf, aber du weißt nicht, wer diesen Geist lenkt, wer ihn in der Hand hat. Er ist da, aber er ist unberechenbar, als Störung in eurer durch und durch berechenbaren irdisch-fleischlichen Welt. Er ist da in bestimmten Menschen, er ist da um bestimmter Menschen willen.
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30. Der Tröster Johannes 15,26-27 2. Juni 1957
Wenn aber der Tröster kommt, den ich euch sende vom Vater, der Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht, so wird jener für mich Zeugnis ablegen, daß ihr von Anbeginn an bei mir wart. Wenn der Tröster kommen wird. Ich denke, wir dürfen zuerst einmal, liebe Freunde, bei diesem ersten Satz und diesem ersten Wort stehenbleiben: der Tröster. Gemeint ist damit etwas, was von oben ist, von Gott. Was mit Gott zusammenhängt und mit Jesus Christus, den wir nicht mehr sehen, den auferstandenen Herrn, und der durch diese Gabe in unserer Mitte sein möchte. Gemeint ist etwas Drittes, etwas Letztes, etwas Abschließendes in der großen Offenbarung Gottes. Gemeint ist etwas, was uns hier angeht auf Erden, mitten in unserer Zeit, mitten in dieser Stadt, mitten in dem, was wir alles erfahren, erlebt haben, woran wir jetzt denken mögen; mitten in dem seltsamen Erdenwandel, den wir heute als Christen zu führen haben. Gemeint ist, daß die Geschichte Jesu damit, daß er auferstanden ist, nicht zuende ist; daß wir alle etwas teilhaben dürfen an der großen Osterfreude und dem Ostersieg über den Tod hinaus. Daß wir auf einen ganz hohen Berg gestellt werden, wo man die Ostersonne nicht mehr untergehen sieht, wo der Tod hinweggenommen ist, wo alle Tränen getrocknet sein werden und kein Leid und kein Geschrei mehr sein wird. Das ist der Tröster. Und das andere hängt damit eng zusammen, meine Freunde, daß wir Christen diesen Trost brauchen, weil uns oft bange ist. Es gehört zu der Sachlichkeit der Bibel – und ich glaube, es gibt kein Buch, das man damit vergleichen kann, und wir Prediger sind ja nicht immer so sachlich, wie die Bibel ist; und viele Schriften über das Christentum sind auch nicht so sachlich wie die Bibel –, daß sie uns sagt: Ihr werdet durch eueren Christenglauben auch nicht glücklicher werden. Es wird für euch dadurch das Leben nicht leichter, bequemer, sondern ihr werdet schwere Anfechtungen und Verzweiflung zu tragen haben. Ein Knecht ist nicht größer als sein Herr; haben sie mich verfolgt, so werden sie auch euch verfolgen. Es ist immer wieder versucht worden, aus dem Christentum das Kreuz zu entfernen. Aber es ist nie gelungen. Es ist immer wieder versucht worden,
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Jesus vom Kreuze abzunehmen, als ob er nur einer gewesen wäre, der gepredigt hätte, und der ein rechtes und gutes gottinniges Leben geführt hätte, aber es ist nie gelungen. Es ist nie vergessen worden, daß Jesus sein Leben damit endet, daß er rufen muß: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Und wenn wir einen solchen Heiland nicht hätten, ich glaube, meine Freunde, dann wäre uns und unserer eigenen Gottverlassenheit kein Trost geworden. Begonnen hat die Geschichte des Christentums mit einer großen Trauer. Begonnen hat sie damit, daß Jesus hinweggenommen wurde vom Angesichte seiner Jünger. Und dahin gehören unsere Worte, wie er ihnen sagt, daß die Zeit kommen wird, wo sie ihn brauchen und nicht finden werden. Begonnen hat es mit einer großen Sonnenfinsternis, daß die Jünger meinten, das Licht, das eben noch leuchtete, sei ganz erloschen, und sie sind zurückgelassen wie die Waisen in einer bösen Welt. Es geht offenbar nicht anders. Gott kann uns nicht anders selig machen. Wir müssen hindurch durch mancherlei Prüfung, die wir nicht verstehen. Gott kann es ganz und gar Nacht werden lassen um seine Kinder. Und diese dunklen Stunden möchten wir später oft am wenigsten missen. In jener Verlassenheit, da hat Gott uns heimgesucht, da hat er uns gefunden. Wenn das geschieht, dann erleben wir oftmals, wie die Welt triumphiert, so wie sie auch triumphiert hat am Kreuz, und sagt, es ist aus. Das Triumphgeschrei: es ist aus mit dem Christentum, ist uralt; es ist so alt wie das Christentum, es ist zweitausend Jahre alt. Bist du Gottes Sohn, dann steige herab vom Kreuz, das haben sie gerufen, vom Tage von Golgatha an bis in jene Zeiten, an die wir uns heute schamvoll erinnern. Das, sagt der Herr, wird euch widerfahren. Ihr werdet das große Hohngelächter hören, und dann werdet ihr sehen, wie ihr verlassen seid. Ihr werdet hören, wie sie alle sagen: Seht, so geht es den Menschen, die Gott ernst nehmen; die passen nicht mehr in die Welt; sie haben noch nicht begriffen, daß der große Traum von Gott zuende ist und daß es endlich Zeit wird, daß wir ihn abschaffen mitsamt allen Zeichen, die an ihn erinnern. Das weiß Jesus. Und dahinein sagt er: Aber der Tröster kommt. Jesus weiß, daß, wenn er aus der Welt geht und seine Christenheit ihn nicht mehr sehen wird, seine Jünger sich ganz verlassen fühlen werden, umgeben von allen möglichen schrecklichen Ereignissen und bösen Geistern, von herzlosen Menschen, von einer Welt, die nichts von Gott weiß. Jesus weiß um unsere Bangigkeit und unsere Verlassenheit, und er weiß um die Verlassenheit seiner Jünger. Denn sie haben einmal den Himmel offen gesehen über sich; sie haben einmal von ihm Worte gehört des Lebens, und haben Taten gesehen der Rettung und des Wunders und des
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Heils. Was werden sie jetzt tun? Wer wird die Wasser zum Schweigen bringen, wenn das Lebensschifflein seiner Jünger in den Sturm geraten wird und sie denken, sie werden sinken? Wer wird den Jünger wieder herausreißen aus den Fluten? Wer wird ihm die Hand reichen auf dem Wasser, wenn die Tiefe ihn herunterzieht? Wer wird jetzt noch die bösen Geister austreiben, wenn sie in die Menschen fahren, die Besessenheit, die den Menschen selbst verteufelt, und an der er selber leidet und andere leiden macht? Wer wird die edelste Schöpfung Gottes, den Menschen, frei halten? Wer wird noch sagen: Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht? Wer wird sich der Schwachen, der Armen, der Elenden, der Geschlagenen annehmen? Wer wird kommen und die Tempel reinigen, wenn die Menschen aus ihnen eine Mördergrube machen und die Tische der Wechsler und Händler darin aufstellen und den lebendigen Gott vertauschen mit dem Götzen Mammon und mit der Gnade Gottes ein Geschäft machen? Wer wird den Mut haben, die Tische der Geldmenschen umzustoßen und ihr Geld auf den Boden zu schütten, weil man mit Geld der Menschen Seele nicht erretten kann? In wem wird noch der Eifer um das Haus Gottes so brennen, wenn sein Sohn nicht mehr auf Erden ist? Wer wird noch dafür sorgen, daß die Pharisäer hintenan treten müssen, und die Sünder und Zöllner zuerst kommen, damit sie etwas hören von der Freude im Himmel über den verlorenen Sohn, der heimkommt? Jesus hat das alles gewußt, daß das so kommen wird, wenn er nicht mehr bei uns sein wird. Und darum redet er vom Tröster. Es ist nicht zuende. Es wird nicht nur einmal gewesen sein, sondern es wird geschehen, wenn der Tröster kommen wird. In all eure Not hinein wird es hineinfahren wie ein Geist von oben. Und es wird sein wie in den Tagen, da der Sohn Gottes mitten unter uns war. Von dem Meinen wird ers nehmen und für mich wird er zeugen. Er wird mitten hinein treten in all eure Not. Und er wird euch getrost machen, wie euch nichts, aber auch gar nichts aus dieser Welt je frei und getrost gemacht hat. Er wird mitten hineintreten in alle eure Not. Wer denkt an diesem Tage, da wir die Marienkirche wieder dem Dienst des Evangeliums weihen durften, nicht an unsere Not und Verlassenheit, wie wir sie in Deutschland seit Jahrhunderten nicht mehr erlebt und erfahren haben. Es wird an diesem Tage der Wiederherstellung dieser Kirche nicht möglich sein, davon zu schweigen. Es darf vielleicht unser aller Blick einmal zurückgehen in jene Zeiten der größten inneren und äußeren Not; erst der inneren, dann der äußeren. Erst der inneren Not, als wir jene übermütige und schamlose Abwendung erlebten von allem, was recht und wahr und edel war vor Gott und
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den Menschen; was durch alter Väter Sitte und Ordnung, durch Recht und staatliche Erziehung uns allen heilig war. Erst jener Abfall so vieler, die nur dem Namen nach noch Christen waren und längst in ihrem Herzen einem anderen Gotte gehörten. Erst die Trennung, die damals auch mitten durch unsere Reihen ging, durch die Reihen der Theologen und der Pastoren. Erst der Traum einer Besessenheit, die unser ganzes Volk ergriff, als ob man ihm eine Binde vor die Augen band, damit es nicht sah, in welchen Abgrund es geführt werden sollte. Und dann die äußere Not. Dann das, was kam. Dann das vom Himmel fallende Feuer, wie es noch nie geschehen war; in diesem stolzen, auf menschliche Kunst und Technik vertrauenden Industriegebiet. Dann jene Nächte, da reiche Menschen arm wurden und den Spöttern das Lachen im Halse stecken blieb, da die Erde bebte und die Grausamkeit der Menschen, an Menschen geübt, an Frauen und Kindern und Greisen, von uns allen geschmeckt werden mußte, von Guten und Bösen, von Hoch und Niedrig. Erst der Traum, dann die Wirklichkeit. Und beides war eins. Erst der Traum von Deutschlands maßloser Größe, und dann einen Tag nach Karfreitag im Jahr 1945 der Einzug der Sieger und die Erniedrigung eines freien, tief gestürzten Volkes. Meine Freunde, ich denke, es werden noch viele unter uns sein, die sich an jene Tage erinnern, als wir nur noch im Keller lebten und nicht mehr wagten, am Tage über die Straße zu gehen. Und die das unter uns noch nicht wissen sollten, alle unsere jungen Freunde, Jungen und Mädchen, die heute hier sind, sollten sich dessen bleibend erinnern, damit sie wissen, wie der Menschen Leben läuft; damit sie rechtzeitig lernen, standhaft zu sein im Leid und mißtrauisch und vorsichtig im Glück. Mißtrauisch da, wo uns falsche Geister die Bilder der Stärke und der Kraft vor Augen malen. Stark und unüberwindlich dort, wo die Nacht einbricht und andere sich dann vor Verzweiflung die Hände vor die Augen legen. Das ist, was der Tröster aus den Menschen macht. Wir werden in dieser Stunde auch an die denken dürfen, meine Freunde, die nicht mehr unter uns sind. Die Menschen, jung und alt, die in den Kellern und auf den Straßen im Rennen vor dem fliegenden Tod, gerade in jener Nacht am 6. Oktober, an dem diese Kirche zerstört wurde, abends um acht – die dahin gesunken sind, wahllos, ohne daß wir wissen, in welcher Qual ihr Leben in verschütteten Kellern und Zufluchtsstätten zugrunde ging. Wir kennen alle das tiefe Tal nicht, durch das wir dann wandern müssen, wo es dann oft so ist, daß kein Stecken und Stab uns tröstet, und wir sind wie Preisgegebene an die Unbarmherzigkeit der Menschen und der Elemente. Denn die Elemente hassen das Gebild von Menschenhand.
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Ich will zwei Geschichten erzählen, die mir unvergeßlich sind und die für viele andere hier stehen mögen, und die mit dieser Kirche und dieser Gemeinde zusammenhängen. Kurz bevor die schweren Angriffe auf Dortmund einsetzten, hatten wir uns hier gesammelt um die Offenbarung Johannis, im Winter 42 auf 43. Wir waren unter dem Segen dieses letzten Buches der heiligen Schrift zu einer Gemeinde zusammengewachsen und empfingen am letzten Sonnabend nach dem Ende dieser Lesung gemeinsam das heilige Abendmahl im Blick auf das erhöhte Jerusalem. Es sang ein schöner Chor. Im Chor sang ein Mädchen, dessen Vater dem Volke angehörte, aus dem unser Herr Christus geboren ist. Ein paar Tage darauf kam ein schrecklicher Angriff über den Norden unserer Stadt. Man hatte dem Manne verwehrt, einen Durchbruch zum Nachbarhaus zu machen. Die ganze Familie wurde verschüttet, und niemand konnte zu ihnen dringen, trotz aller Bemühungen. Ein und zwei Tage lang hörten wir noch die Klopfzeichen aus dem Keller. Dann wurde es ganz still. Das war die erste aus unserer Offenbarungs-Gemeinde, die aus dem irdischen in das hohe Jerusalem gerufen wurde. Und eine andere Geschichte noch (da)nach: Es war ein paar Wochen nach der Besetzung unserer Stadt. Es gab kaum etwas zu essen und zu trinken. Da kehrte ein junger Soldat zurück, den ich kannte, aus einem Lager, abgerissen und ausgemergelt, ein Junge noch, mitten in die Schrekken des Krieges geworfen. Ich traf ihn auf der Straße, als er nach seiner Mutter fragte. Ich mußte ihm sagen, daß sie mit seinen Geschwistern am 12. März 1945 oben in dem Hause des Elektrizitätswerkes im Keller zugrunde gegangen war. Niemand mehr lebte von allen, die er liebte. Und ich ging mit ihm in die Reste seiner elterlichen Wohnung. Da saß ein alter Mann im Zimmer. Er hatte ein wenig schwarzen Kaffee und ein Stückchen trockenes Brot, und er teilte es mit dem Jungen. Das war seine Heimkehr. Und wir saßen ganz still im Zimmer, und auf einmal sah ich, daß der junge Mensch nicht mehr weinen konnte. Es gibt einen Blick in das Elend und in den Jammer des Lebens, der keine Tränen mehr hat. Diesen Blick sah ich in seinen Augen. Das, meine Freunde, meint Jesus, wenn er sagt: Wenn aber der Tröster kommt. Gott erreicht mit seinem Trost alles Leid. Gott reicht in jede Nacht und jede Tiefe, und was wir nicht sehen, das tut er. Es werden so viele unter uns sein, die diese Bilder kennen, die jetzt an ihre Söhne und Töchter denken werden, an ihre Eltern und ihren Mann, an viele Freunde, die wir damals hier haben sterben sehen. Und jetzt wissen wir, warum Jesus davon redet, daß es noch nicht mit Ostern zuende ist, daß noch etwas Drittes,
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Großes, etwas Nachösterliches, etwas Pfingstliches groß und hochgemut an uns geschehen wird. Solange uns nicht um Trost bange ist, wissen wir das nicht. Solange niemand Hunger hat, weiß er nicht, wie Brot mundet. Solange wir gedankenlos leben und rasten und schaffen, brauchen wir keinen Tröster; dann braucht der Mensch keinen Tröster. Ich fürchte manchmal, der Tröster, von dem Jesus hier redet, geht schon wieder an vielen vorüber, weil sie sich selbst trösten. Aber an diese Menschen wollen wir jetzt nicht denken, sondern wir wollen an die denken, die ihn brauchen – wir sollen an uns denken, die wir da nun hier zusammen sind, weil wir das brauchen. Wir wollen an dieses neu erstandene Haus denken, das für alle dasein soll, die ihn brauchen, wie es durch Hunderte von Jahren in diesem Haus geschehen ist; die Gott brauchen, weil er allein unser innerster, unser gewaltiger Tröster ist. An alle in solcher Not und Verlassenheit bedrängte Menschen wollen wir denken. Wir wollen selber solche Menschen sein, weil wir wissen: der Tröster ist nah. Ich will ihn zu euch senden, heißt es hier. Und das ist der Trost, daß Jesus sagt: Ich und ihr – er unser Herr, der zur Rechten Gottes sitzt; und wir, wir Christenmenschen, die auf Erden wohnen, wir sind doch nicht ferne voneinander. Es geht ein Strahl vom Himmel auf die Erde, wenn auch dieser Strahl lediglich die Herzen der Menschen trifft und unser irdisches Auge ihn nicht sieht; aber er ist da. Jesus ist nicht aus der Welt gegangen, wie die Heiden meinen, um droben im Licht zu wandeln, während wir wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen, jahrlang ins Ungewisse herab treiben – nein, so ist es nicht. Sondern so wie Gott uns nicht vergessen hat und es darum Weihnachten werden ließ, so hat Jesus sein Volk nicht vergessen und möchte es darum Pfingsten werden lassen auf Erden, möchte den Geist des Trostes zu ihm senden; jenen Geist, der uns die Kraft gibt, unsere Augen empor zu richten: Trachtet nach dem, was droben ist. Es ist so, als ob eine Hand uns unter das Kinn griffe und unsere Augen emporrichtete, hinweg von alldem, was uns bange macht, und zeigt auf ihn und sagt: Der Tod ist verschlungen in den Sieg; und zeigt auf ihn und sagt: Er ist schon hindurch und ihr werdet auch alle hindurch dringen. Und darum heißt dieser Geist: der Geist der Wahrheit. Das ist die Wahrheit. Die Wahrheit ist dies: daß der Tod und die Sünde und die Macht und die Gewalt und das Böse und die Grausamkeit und der Schmerz nicht das Letzte sind, sondern daß das Letzte sein wird: das große Lob Gottes auf unseren Lippen. Er hat alles gut gemacht, wie am ersten Schöpfungstag. Dann wer-
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den wir sein wie die Träumenden und unser Mund wird voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein. Unser Text sagt hier ein merkwürdiges Wort, er sagt: Dieser Geist der Wahrheit wird zeugen von mir. Jesus sagt: Der Geist der Wahrheit zeugt von mir. Ihr müßt euch das so vorstellen: Da wird ein großer Gerichtstag sein, und da werden sie alle antreten, jene Gott feindlichen Mächte und Gewalten. Und da wird der Tod da sein und wird als Zeuge auftreten und sagen: Was wollt ihr noch, seht doch, was alles dahingesunken ist, ich bin der letzte Gott dieser Welt, lasset uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot. Da wird die Wissenschaft auftreten, und sie wird sagen: Durch mich laufen alle Räder und durch mich habt ihr alle Arbeit und alle Kunst und Herrlichkeit. Gott, das war ein alter König, der ist jetzt abgesetzt. Jetzt setzen wir den Menschen als König ein über die Welt. Und dann wird das Geld auftreten, und das Geld wird sagen: Ihr wißt doch, wie es war, als ich mal nichts mehr galt. Und ihr wißt doch, wie es heute ist, da ich doch wieder euer Gott geworden bin. Ihr müßt nicht Gott anbeten, sondern den Mammon. Und da ist die Masse, und die Masse wird sagen: Wir haben immer recht, die Mehrheit entscheidet, und die Mehrheit ist gegen die unsichtbare Welt. Und da ist vielleicht sogar die Kirche da; ich meine die Kirche des Kaiphas und der Hohenpriester; denn die Kirche hat zwei Seiten, und wir haben das selbst erfahren und erlebt in unserer eigenen Lebensgeschichte, wie die Kirche sozusagen über Jesus selbst zu Gericht saß. Und die Kirche wird sagen: Ich habe recht, aber nicht er. Und da ist der Staat da, und er wird sagen: Ich bin Gottes Stimme, was ich sage, ist göttliches Gebot, und wer sich dagegen wehrt, der ist ein verlorener Mann. Da sagt Jesus: Wenn aber der Tröster kommen wird, der wird von mir zeugen. Mitten in dieser großen Ratlosigkeit und Verlassenheit, wenn sie da alle aufmarschieren werden, da wird ein Zeuge auftreten, unmittelbar von Gott; ein Zeuge, gesandt vom Auferstandenen aus der Höhe. Ein Zeuge, der wird den Zeugen auf Erden die Zunge lösen. Ein Zeuge, der wird sie alle in die Schranken rufen und fragen: Und du, was kannst du tun? Sieh da, dieses Feld der Leichen; und höre mein ewiges Wort: Wer da glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe. Ein Zeuge, der wird fragen: Nun, kannst du, Geld, dem Menschen seine Seele erlösen? Seht, wie arm sind die Reichen. Ein Zeuge, der wird sagen: Einer hat euch erkauft mit seinem unschuldigen Leiden und Sterben, nicht mit Silber und Gold. Ein Zeuge, der wird sagen: Was, die Masse? Seht, wie die Massen irren. Denn der Weg ist breit und die Straße ist weit, die zum Verderben führt; aber der Weg ist schmal und die Straße eng, die zum ewigen Leben führt. Und die Kirche? Der Zeuge wird auftreten und sagen: Die Gott anbeten, sollen ihn im Geist und in
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der Wahrheit anbeten, und alles, was nicht aus diesem Geist geboren ist, das ist von unten und nicht von oben. Und der Staat? Und der Zeuge wird auftreten und sagen: Wo ist dieser Staat hingeraten? Heute muß Pontius Pilatus im Triumphzuge Jesu Christi durch die Welt ziehen; und wo der Name Jesu des Gekreuzigten genannt wird, da wird sein Name mit genannt, weil er gerichtet ist von dem, der der Richter ist der Lebendigen und Toten. Meine Freunde, das heißt: der Tröster kommt. Und ihr werdet und sollt ganz getrost sein. Die Geschichte Jesu Christi, des Gekreuzigten und Auferstandenen, ist nicht zuende. Sie ist unsere eigene Geschichte. Und sie ist unsere eigene Geschichte geworden, wunderbar. Wir haben die tiefste Anfechtung erlebt und wunderbarste Errettung. Darum heißt es hier am Ende: Und auch ihr sollt meine Zeugen sein. Damit will ich enden. Möchte dieses Gotteshaus dazu dienen, daß der Tröster, der Geist von Pfingsten, alle Herzen erfülle, die sich hier sammeln, um stark und getrost zu werden. Und möchte er aus uns allen treue Zeugen machen, damit jene falschen Zeugen des Todes und des Geldes und der Massen und der falschen Kirche und des ungerechten Staates zum Schweigen kommen; (damit) einmal wieder in unseren Landen, in Ost und West, das Lob Gottes gesungen wird, der für uns sein Leben gelassen hat, damit wir ewig leben sollen. So wollen wir enden, enden mit dem alten Gebet: Veni Creator Spiritus – Komm Schöpfer Geist. Amen.
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31. Das Evangelium Gottes Römer 1,1-7 1. Mai 1943
Paulus, ein Knecht Jesu Christi, berufen zum Apostel, ausgesondert, zu predigen das Evangelium Gottes, welches er zuvor verheißen hat durch seine Propheten in der heiligen Schrift, von seinem Sohn, der geboren ist von dem Samen Davids nach dem Fleisch und kräftig erwiesen als ein Sohn Gottes nach dem Geist, der da heiligt, seit der Zeit, da er auferstanden ist von den Toten, Jesus Christus, unser Herr, durch welchen wir haben empfangen Gnade und Apostelamt, unter allen Heiden den Gehorsam des Glaubens aufzurichten unter seinem Namen, unter welchen ihr auch seid, die da berufen sind von Jesu Christo – allen, die zu Rom sind, den Liebsten Gottes und berufenen Heiligen: Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus! Wenn wir uns jetzt dem Römerbrief zuwenden, so soll das nicht geschehen ohne ein Wort des Rückblicks und ein solches, das voraus läuft. Als wir die Offenbarung des Johannes zu lesen begannen, ist das meinerseits – und wohl auch seitens der Hörer – nicht ohne ein gewisses Bangen geschehen. Heute wartet das letzte Buch der Bibel förmlich auf uns, da der Aufruhr der Welt uns dahin treibt. Aber wir wissen alle und wußten alle, wie leicht Willkür und Schwärmerei sich in diesen dunkeln und schweren Lücken eingenistet haben. Nun am Ende dürfen wir etwas anderes bezeugen: Nicht, daß wir alles begriffen hätten – es wird manches dunkel bleiben –, aber eins ist geschehen: dies Buch hat uns getröstet. Wir hörten auf, uns zu wundern, daß die Welt so ist, wie sie ist. Wir erkannten, welche Dämonien und gottfeindlichen Mächte sich aus den Abgründen der Welt erhoben, und lernten das Ja zu den Gerichten Gottes mitsprechen, die dem Einhalt gebieten. Nicht die »satanische Trinität« 1 , sondern die Einheit des Vaters und des Sohnes und des die Gemeinde beseelenden heiligen Geistes standen am Ende. Gott siegt, und gerade die vom Aufruhr des Satans erregte und zerrissene Welt wird der Schauplatz seines Sieges sein. Das macht uns getrost. 1.
Heinrich Jung-Stilling über den Drachen und die zwei Tiere in Offbg 12 f.
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Das Evangelium Gottes
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Dann aber erkannten wir die Wahrheit des Herrenwortes von der nicht zu überwältigenden Gemeinde Gottes. Das himmlische Jerusalem ist das Gesicht der neuen Welt. Die Einheit der kämpfenden mit der triumphierenden Gemeinde wurde spürbar. Wie tauchten auf einmal die Ewigkeitsbilder unserer Kirche wieder auf! Sie waren für uns immer wieder eine Bestätigung des Gehörten. Mit dem Römerbrief wenden wir uns wieder einem anderen Thema zu. Hier geht es um die Lehre, oder, wie wir auch sagen können, um das Evangelium. In diesem Briefe kommt mit besonderer Klarheit heraus, warum das Christentum nicht eine Religion ist wie andere Religionen, sondern, wie es gleich am Anfang heißt, Evangelium Gottes. Gute, frohe, unerhört froh machende Botschaft von Gott. Um diese Botschaft geht es. Nicht nur, daß wir sie hören, sondern daß wir sie glauben. Besser gesagt: daß wir dem glauben, der hier zu uns redet – Gott. Daß wir in Gott froh werden, in ihm Frieden finden. »Da wir gerecht geworden sind durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott.« Aber – und darum geht es eben gerade im Römerbrief: das Evangelium muß wirklich als Evangelium der Welt begegnen. Die Botschaft muß wirklich Botschaft Gottes bleiben. Das gerade ist nicht selbstverständlich. Das Evangelium kann verloren gehen, verfinstert werden, es kann seine Weltmacht, seine Kraft verlieren. Offenbar bemüht sich Paulus darum, daß dies in Rom – und anderswo – nicht geschieht. Darum seine so diffizilen, zunächst gar nicht populär wirkenden Ausführungen. Die Menschen, die meinen, wir predigen zu hoch, sollten sich erst einmal an Paulus wenden, der sich als Schuldner aller Welt weiß, Gebildeten und Ungebildeten gegenüber. Was heißt zu hoch? was heißt zu gelehrt? Könnte es nicht auch so sein, daß wir, weil unser Mund zahnlos geworden ist, diese harte Speise nicht mehr vertragen? Ist wirklich das, was der Römerbrief sagt, nur für Theologen und besondere Auserwählte geschrieben? Gerade so klingt der Eingang unseres Briefes nicht. Luther sagt in seiner berühmt gewordenen Vorrede zum Römerbrief: »Diese Epistel ist das rechte Hauptstück des Neuen Testaments und das allerlauterste Evangelium, welche wohl würdig und wert ist, daß sie ein Christenmensch nicht allein von Wort zu Wort auswendig wisse, sondern täglich damit umgehe als mit täglichem Brot der Seelen, denn sie kann nimmer zu viel und zu recht gelesen und betrachtet werden; und je mehr sie gehandelt wird, je köstlicher sie wird und schmeckt.« Der Römerbrief hat eine eigene Geschichte. Seit dem 3. Jahrhundert eröffnet er die Reihe der Briefe. Als die Kirche die Paulusbriefe sammelte, hat sich bald die Gewohnheit herausgestellt, ihn voranzustellen. Wohl nicht
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Römer 1,1-7
nur, weil er der längste, sondern weil er der inhaltlich gewaltigste ist. Trotzdem tritt er zunächst sehr zurück. Er wird offenbar wenig gelesen. Nicht Paulus, sondern Johannes steht im Vordergrund der morgenländischen Theologie. Das wird anders mit Augustin. Er entdeckt in seinem Kampf mit Pelagius den Römerbrief. Der Kampf wird auf seinem Boden ausgetragen. Er bleibt seit Augustin der Brief, an dem die Kirche des Abendlandes nicht mehr vorbeikommt. Als Luther 1515/16 den Römerbrief entdeckt, beginnt die Reformation. Als Melanchthon den Evangelischen die erste Glaubenslehre schenkt, ist es eine Zusammenfassung des Römerbriefes. Die meisten Lieder unseres Gesangbuches aus reformatorischer Zeit leben vom Römerbrief. Wir werden das bestätigt finden. Er wird die Zitadelle der evangelischen Kirche, die innerste Position. Ist er es noch? Ist er uns – sind wir ihm nicht wieder ferne gerückt? Ist dieses nicht eine Not und Verheißung zugleich? Wie, wenn wir wieder vermöchten, diesen Brief zu lesen, wenn auch unsere Zeit wieder in seinem Zeichen stünde? Als am Ende des vorigen Krieges eine bald darauf berühmt gewordene Auslegung des Römerbriefes von einem bis dahin unbekannten Schweizer Pfarrer erschien, stand im Vorwort der Satz: »Das ist sicher, daß allen nach Gerechtigkeit hungernden und dürstenden Zeiten natürlicher war, sich sachlich beteiligt neben Paulus, statt im gelassenen Abstand des Zuschauers ihm gegenüber zu stellen. Vielleicht gehen wir jetzt in eine solche Zeit hinein.« Ist das nicht zugleich die Brücke zur Johannes-Offenbarung? Sind wir nicht hier als nach Gerechtigkeit hungernde und dürstende Zeit offenbar geworden? Wird nicht so manches aus dem Eingang des Römerbriefes uns vertraut vorkommen? Und so dürfen wir vielleicht wieder sagen: Unsere Zeit wartet auf den Römerbrief – nein, besser: er wartet auf uns, darauf, daß wir unseren Hunger nach Gerechtigkeit hier stillen. Das alles soll der Sinn dieses Versuches sein: Die Grenze aufzuheben, die sich zwischen uns und den Römerbrief zwischeneingeschaltet hat; ihn wirklich wieder als Evangelium zu lesen. Denn, wie Luther sagt, das Evangelium ist immer dasselbe, ob wir es bei Matthäus, Markus, Lukas, Johannes oder Paulus finden. Diese Einheit des Evangeliums gilt es herauszuhören. Wir wollen diesen Brief so lesen, daß wir hier lernen, was für frohe Botschaft er uns zu bringen hat.
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32. Ein evangelischer Pharisäer Römer 1,8-15 15. Mai 19431
Aufs erste danke ich meinem Gott durch Jesum Christum euer aller halben, daß man von eurem Glauben in aller Welt sagt. Denn Gott ist mein Zeuge, welchem ich diene in meinem Geist am Evangelium von seinem Sohn, daß ich ohne Unterlaß euer gedenke und allezeit in meinem Gebet flehe, ob sich’s einmal zutragen wollte, daß ich zu euch käme durch Gottes Willen. Denn mich verlangt, euch zu sehen, auf daß ich euch mitteile etwas geistlicher Gabe, euch zu stärken; das ist, daß ich samt euch getröstet würde durch euren und meinen Glauben, den wir untereinander haben. Ich will euch aber nicht verhalten, liebe Brüder, daß ich mir oft habe vorgesetzt, zu euch zu kommen, (bin aber verhindert bisher), daß ich auch unter euch Frucht schaffe gleichwie unter andern Heiden. Ich bin ein Schuldner der Griechen und der Ungriechen, der Weisen und der Unweisen. Darum, soviel an mir ist, bin ich geneigt, auch euch zu Rom das Evangelium zu predigen. »Paulus, Knecht Jesu Christi, ein berufener Apostel, ausgesondert zum Evangelium Gottes« (1,1). Der Mann, der hier redet, redet also nicht als ein in seinem Denken und Streben Freier, sondern er ist »Sklave« seines Herrn, des Messias Jesus, ein Sendbote, der an seinen Auftrag gebunden ist. Er war einmal frei – von diesem Christus Jesus, war einmal nicht sein Knecht, aber diese Freiheit war und ist schlimmste Knechtschaft und hat Früchte gebracht, deren auch er, Paulus, sich schämte. Als er aber aus dem scheinbar freien – nämlich den Herrschaftsanspruch dieses Messias Jesus sabotierenden Saulus, der im tiefsten gebundene, aber eben an diesen Jesus und sein Heil gebundene Paulus wurde, da trug er diesen Titel »Sklave« als Ehrentitel. Denn er erzählte ja nur davon, wem er gehörte; wer sein Herr ist; wer über ihn – und zu seinem Heil – triumphiert hat. »Welch ein Herr, welch ein Herr, ihm zu dienen, welch ein Stand!«
1.
In die Lücke zwischen dem 1. und dem 15. Mai gehört die Predigt über Psalm 46.
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Römer 1,8-15
An ihm ist wahr geworden, was dieser Herr den Juden, die auf ihre schlimme Freiheit so stolz waren, einmal sagte: »Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht. Wen der Sohn frei macht, der ist recht frei.« Knecht des Messias Jesus, das heißt nun eben – und das allein heißt –: nicht mehr der Sünde Knecht. Paulus erläutert dies Knechtsein durch einen Zusatz: »Berufener Apostel«. Nicht selbstgewählter, sondern vom Ruf Gottes getroffener Abgesandter dieses Herrn der Welt. Er läuft nicht aus freien Stücken, etwa weil er so begeistert ist, weil er andere zu seinem Standpunkt bekehren will, weil er das Werk der Weltmission des Christentums in Gang setzten will, diesen seinen Lauf. Nein, mit dem Rufe Gottes, der ihn traf – wie ein Pfeil ins Herz, wie eine Beschlagnahme seines ganzen kämpferischen gegen diesen Messias vom Kreuz ankämpfenden Wesens für die Sache – mit diesem Ruf bekam er seine Sendung. Anders als die anderen. Kompromittiert als Renegat. Glühend gehaßt von den Pharisäern; nie ganz geliebt bei den Säulen der Gemeinde in Jerusalem, wie eine »unzeitige Geburt«, ein Spätling unter den Augenzeugen stehend. Er, der einzige Apostel, der den Herrn nicht gesehen, wohl aber seinen Ruf: Ich bin Jesus, den du verfolgst, gehört hat. Ja wirklich, er nennt sich selbst einen Sonderling. Wenn wir das Wort ins Hebräische zurückübersetzen würden, würde es heißen: ein Pharisäer. Jawohl, er stand einmal auf der äußersten Linken; er gehörte zu den Radikalen, zu dem Orden, der Jesus ans Kreuz brachte. Er war keiner der Toleranten, Gleichgültigen, er war keine verschwommene Masse – er war und ist Pharisäer. Aber nun nicht »ausgesondert«, um besser, frömmer, eifriger, gesetzesstrenger zu sein als die anderen – diesen Ruhm hat er längst als Schande erkannt –, sondern »ausgesondert zum Evangelium Gottes«. Ein Widerspruch in sich selbst: ein evangelischer Pharisäer. Jawohl, mein Weg zum Evangelium ging durch den Pharisäismus, und erst so, in dieser Bezogenheit habt ihr den Sinn dieses Weges. So, wie ein anderer nach ihm durchs Kloster gehen wird, ein Mönch werden muß, monachus, ein einzelner, von Gott für sich genommen, für das Evangelium. Ja, das soll gleich voranstehen: Was für Seltsamkeiten das eine Wort »Paulus« bedeutet. Knecht, Apostel, Pharisäer. Mit seiner ganzen Existenz verdunkelt er den Ruhm dessen, der den Gottlosen gerecht macht. Das soll nicht vergessen werden. Die Personalien sind mächtig, nicht weil wir es hier mit einer großen christlichen Persönlichkeit zu tun haben, sondern weil ihr daran die Gebrochenheit der Person erkennen könntet – die zerbrechende und doch wieder aufbauende Hand Gottes in eurem Leben. »Ausgesondert zum Evangelium Gottes.« Jawohl, so wunderbar ist Gott
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Ein evangelischer Pharisäer
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in seinen Heiligen. Mit solchen Menschen trägt er seine Frohe Botschaft über den Erdkreis. Sklaven, aber nicht in Ketten, sondern Sklaven, weil sie freigekauft sind und somit ihre Lebensgeschichte nicht anders ist als die Geschichte des Evangeliums: »… und werden ohne Verdienst gerecht« (3,24). 2
2.
Diese Predigt greift auf den vorigen Text zurück und läßt den angegebenen unausgelegt. Es mag sein, daß die zweite Hälfte bei der Vervielfältigung ausgefallen ist; daß also 1,8-15 in der Fortsetzung doch noch zur Sprache kam.
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33. Das Evangelium geht die Welt an Römer 1,16-17 22. Mai 1943
Denn ich schäme mich des Evangeliums von Christo nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die da selig macht alle, die daran glauben, die Juden vornehmlich und auch die Griechen. Sintemal darin offenbart wird die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie denn geschrieben steht: »Der Gerechte wird seines Glaubens leben.« Ich schäme mich des Evangeliums von Christo nicht. Auch in Rom nicht. Das will doch wohl Paulus sagen. Das Evangelium, die Heilsbotschaft von Christus, soll und darf nicht im Winkel stehen. Man stellt das Licht nicht unter den Scheffel. Wenn ihr wüßtet, was Evangelium heißt, wie brennend wichtig das ist für alle Welt, für Jung und Alt, für Fromme und Unfromme, für Arm und Reich – dann würdet ihr aufhören, euch dessen zu schämen. Dies Evangelium ist keine Privatsache, Privatsache sind eure religiösen Meinungen, Privatsache sind all die vielen Religionen und Kulte, die aus Ost und West in der Metropole unterzukommen suchen. Das Evangelium geht die Welt an. Es ist Weltenwende, Anbruch der neuen Zeit. Darum bedarf es keiner Verteidigung, Entschuldigung, Modernisierung, Anpassung. Nein, die Welt wird sich an das Vorhandensein des Evangeliums gewöhnen müssen. Die Zeit muß sich nach der Ewigkeit, der Irrtum nach der Wahrheit richten. Es gäbe mancherlei, dessen wir uns zu schämen hätten. Nur dieses einen nicht: des Evangeliums von Jesus Christus nicht. Denn es ist Kraft Gottes zur Rettung aller, die daran glauben. Rom ist Welt und Welt ist Verlorenheit; Verlorenheit, von der noch im einzelnen die Rede sein wird; Verlorenheit, aus der es keine Rettung gibt. Alle Mittel, mit denen die Welt die sie mitreißende Katastrophe vermeiden, abwenden will, verschieben und vergrößern sie nur. Es wird in den nächsten Versen von dieser Katastrophe die Rede sein, und zwar so, daß wir erkennen, wo die Krankheit sitzt; daß wir, daß Rom, daß die Welt Gott ins Garn gelaufen ist. Jawohl, wir sind eben darum verloren, weil der Wind Gottes in unsere Segel geht; der treibt uns der Katastrophe entgegen. Nur wenn von daher eine Wendung, ein Umschwung, ein Neues kommt, gibt es Rettung. Paulus spricht uns alle, gleich wer wir sind, gleich, was wir denken, ob
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fromm oder gottlos, ob Atheist oder Skeptiker, ob Persönlichkeit oder Masse – er spricht uns alle darauf an, daß Gott unser Schicksal ist. Daß wir alle ihm verfallen sind, daß seine Hand über uns steht wie eine Drohung. Darum nur eben dies: Kraft Gottes zur Rettung. Rettung, das heißt also ewiges Heil. So will Paulus dieses Wort verstanden wissen. Nicht subjektiv – daß wir uns geborgen vorkommen; sondern objektiv – daß wir geborgen sind. Daß da eine Hand hineingreift und den, der sie faßt, wirklich herausreißt aus diesen Bindungen von Sünde, Schicksal, Tod und Satanie. Das heißt: Evangelium. Tat Gottes an der Welt. Proklamation Gottes in Jesus Christus: Mein ist der Mensch! Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein! Diese Kraft Gottes wird erkennbar, wo tatsächlich das Evangelium laut wird. Mit anderen Worten: Evangelium ist Ereignis. Und zwar Ereignis, das über unsere Kraft hinausweist. Hier und so wird der Stein von unseres Grabes Tür gewälzt. Hier und so werden Tote lebendig, werden unsere steinernen Herzen menschlich, wird da, wo das Fleisch wirksam ist, der Geist spürbar; mit einem Wort: die neue Schöpfung. Gott spricht und es geschieht. Sein Wort ergeht in Jesus Christus an die Welt, und siehe: Das Alte ist vergangen, Neues ist Wirklichkeit geworden. Aber wie Wirklichkeit? So, daß wir mit Fingern darauf zeigen könnten, daß wir sie konstatieren, vielleicht wie der europäisch-amerikanische Mensch dies sogar statistisch konstatieren könnten? Allen, die daran glauben, heißt es. Das ist die Antwort auf das Wie. Die Rettung, das Heil, das Neue ist jedenfalls in uns und an uns noch nicht zu schauen. Wir wandeln, wir sind noch nicht am Ziel, und »wir wandeln im Glauben, nicht im Schauen«. Das ist die Begrenzung: das alle – alle, die daran glauben, die also das Wort Gottes über sie gelten lassen – wir werden im 4. Kapitel eine Spezialuntersuchung über diese Anstrengung des Glaubens hören –, die es gelten lassen im Widerspruch zu allem, was wir sehen, hören, denken und empfinden. Glauben heißt: Ich bin bereit, für dieses Evangelium von Jesus Christus alles andere, unser Wissen und Verstand, in Frage stellen zu lassen. Gewiß, ich kann selbst noch nicht auf die andere Seite – ich lebe ja noch in dieser Welt –, aber ich habe etwas vernommen, es hat mich etwas getroffen, das läßt mich die Fragwürdigkeit, die Vergänglichkeit, die Unglaubwürdigkeit dieser Welt und ihrer sogenannten Wirklichkeit erkennen. Ich kann dem Ruf-Gott dieser Welt nicht mehr glauben, seitdem mir Gott mein Herz abgenommen hat. Ich zweifle, wo andere glauben, und glaube, wo andere zweifeln. Ich glaube – ihr, die ihr Nein sagt zu dieser allerdings und Gottseidank so verborgenen Wirklichkeit des Heils –: eure Götter sind Mensch und Staat und Geld und Technik
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und Politik und Wirtschaft und wie sie alle heißen, diese mysteriösen Gebilde, in deren Namen von euch Glauben verlangt – und gegeben wird. Wir werden nie miteinander in einer Richtung marschieren. Wenn in die Waagschale des Glaubens das Gewicht der Entscheidung fällt, dann wird der Wahn dagegen leer und leicht. Anders geht es nicht. Das Evangelium entscheidet unser Leben. Entweder der Glaube an das Wort wird der Leitstern unseres Lebens – dann verlieren notwendig die Größen dieser Welt an Gewicht. Oder wir sagen: diese Welt ist die ganze Welt und nur was ich fassen kann ist wahr – dann wird auch das Evangelium eben nicht in Kraft sein, sondern »leeres Gerede«, Mythos von einst, Märchen und Torheit und Ärgernis. Das also sollt ihr gleich eingangs wissen: Rettung aus Gott ist nur so und nur da faßbar, wo alles andere preisgegeben wird; wo die Größen fallen; wo wir grundsätzlich entschieden und bereit sind, niemandem und nichts mehr zu glauben als allein Gott und seinem Evangelium. Verkaufe was du hast, das ist der Preis, den die eine Perle kostet. Alles – oder nichts. Wie könnte es auch anders sein, wo es um das Heil, um das ewige Leben geht. Bei dem Wort alle macht Paulus noch einen Zusatz: Juden vornehmlich und auch die Griechen. Die Juden kommen ja schon von der Offenbarung her, also auch und gerade ihnen gilt es. Es sind die Menschen der frommen Überlieferung. Die Griechen sind Heiden. Und vielleicht werden immer wieder die Ersten die Letzten sein, das Evangelium zu glauben – die Berufenen sind noch nicht die Erwählten. Die Kirche ist auch nicht das Reich Gottes. Die Sicheren, Gewissen sind gerade die Blinden, Abweichenden, zum Staunen und Glauben nicht mehr Fähigen. Also wirklich: wenn das Evangelium erklingt, dann gibt es keinen Umweg. Höchstens den, daß die Kirche es besser wissen müßte als die Welt; daß die Kinder des Lichtes es besser wissen müßten als die Kinder der Welt, das, was allein vor Gott gilt. Nämlich die neue Gerechtigkeit. Evangelium ist Offenbarung dieser Gerechtigkeit. Sintemal darin geoffenbart wird die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben. Gott will in dieser Welt zu seinem Recht kommen und er kann nicht anders dazu kommen als so, daß wir ihm weichen, daß wir ihm Recht geben in seinem Gericht und seiner Gnade. Solange ich an meinem Recht, an meinem Werk, an meinem Gutsein festhalte, kann er mich nicht gut machen, kann Gott nicht in mir zu wirken beginnen. An Gott glauben heißt aber: Nun ist der Riegel weggeschoben, nun ist die Tür aufgetan, nun ist die Hand ausgestreckt, nun kann Gott sich erweisen als Gott, sich offenbaren in seiner Gerechtigkeit, in seinem wahren Sein.
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34. Unentschuldbar Römer 2,1-10 5. Juni 1943
Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen, wer du auch bist, der da richtet. Denn worin du einen anderen richtest, verdammest du dich selbst; sintemal du ebendasselbe tust, was du richtest. Denn wir wissen, daß Gottes Urteil ist recht über die, so solches tun. Denkst du aber, o Mensch, der du richtest die, die solches tun, und tust auch dasselbe, daß du dem Urteil Gottes entrinnen werdest? Oder verachtest du den Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmütigkeit? Weißt du nicht, daß dich Gottes Güte zur Buße leitet? Du aber nach deinem verstockten und unbußfertigen Herzen häufest dir selbst den Zorn auf den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichts Gottes, welcher geben wird einem jeglichen nach seinen Werken: Preis und Ehre und unvergängliches Wesen denen, die mit Geduld in guten Werken trachten nach dem ewigen Leben; aber denen, die da zänkisch sind und der Wahrheit nicht gehorchen, gehorchen aber der Ungerechtigkeit, Ungnade und Zorn; Trübsal und Angst über alle Seelen der Menschen, die da Böses tun, vornehmlich der Juden und auch der Griechen; Preis aber und Ehre und Friede allen denen, die da Gutes tun, vornehmlich den Juden und auch den Griechen. Darum bist du unentschuldbar – das eben steht auf der anderen Seite. Auf der einen Seite: die abgrundtiefe Macht des Heidentums, das unter dem Zorn Gottes liegt, 1 dies Hingegebensein der Menschen an die zerstörerische Gewalt ihrer Leidenschaften, ihr Weggeschwommenwerden von diesen Fluten der Ungesetzlichkeiten – aber auf der anderen Seite: keine Fluchtmöglichkeit. Keine Möglichkeit, doch etwas von der eigenen Gerechtigkeit zu retten, aber wieder nur zu richten, indem wir Nein sagen zu all diesen Sünden. Keine Hoffnung, die Menschen aufzuteilen in Gesetzlose einerseits und Prinzipienmenschen andererseits. Ihr werdet Gott nicht entkommen dadurch, daß ihr Richter spielt; dadurch, daß ihr zeigt, daß ihr Wissende, um Gut und Böse Wissende seid. Gewiß, ihr habt die Erkenntnis aus den Geboten Gottes, ihr seid keine Heiden, ihr wißt, was Gott 1.
Die Predigt über Römer 1,18-32, die am 29. Mai gehalten sein müßte, fehlt.
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Römer 2,1-10
haben will – aber ihr merkt nicht, wie ein Mal das Ganze durchzieht, das Tun. Das Gericht Gottes ergeht über die, die solches tun. Gott wird vergelten jedem nach seinen Taten. Drangsal und Enge jedem, der das Böse in die Tat umsetzt. Gerechtigkeit und Ehre und Frieden jedem, der das Gute verwirklicht. Gottes Gerechtigkeit sucht die Tat. Richtet den Menschen nach seinen Taten, vor ihm gilt kein Ansehen der Person, gelten nicht die Titel und Begriffe, mit denen wir Menschen uns untereinander auszeichnen und voneinander abgrenzen. Darum: unentschuldbar jeder, der richtet. Wenn du den anderen beurteilst, verurteilst du dich selbst. Wenn du Richter spielen willst, mit deinen Prinzipien, mit deinen Grundsätzen, deinen Urteilen – Mensch, bedenke doch, daß du mit dem Schuß, den du da abgibst, dich selber triffst. Jawohl, mit jedem Gebet, mit jedem sogenannten anständigen Grundsatz. Deine Tat verklagt dich. Du bist auch nur ein Mensch. Auch du wirst nicht ohne Erbleichen vor das Ideal der Wahrheit treten. Das Schwert, mit dem du hantierst, ist zweischneidig. Es trifft dich selbst. Also lies diese Offenbarungen über das Heidentum so, wie sie gelesen sein wollen: daß alle deine Dünke, deine sogenannte Gerechtigkeit, deine politische und bürgerliche Welt hier in Frage gestellt ist. Du tust ja dasselbe. Ereifere dich doch nicht so über die andere Seite, der Zöllner ist ja nur der Bruder des Pharisäers, beide sind aus einem Holz geschnitzt. So groß ist der Abstand gar nicht zwischen den anständigen und den jede Ordnung über Bord werfenden Menschen. Es geht darum, daß nicht du, sondern daß Gott Richter ist. Es geht darum, daß ihr Menschen endlich aufhört zu meinen, ihr wäret im Recht bei eurem Streit widereinander. Der Sohn, der daheim blieb, hatte kein Recht, den Bruder, der verloren ging und wiederkam, zu verdammen. Richter ist allein Gott. Gebt ihm die Gerechtigkeit zurück, die ihr euch angemaßt habt. Begreift, was eure Sache ist: eure Sache ist die Tat. Was nützen Gesinnungen, Grundsätze, Programme, Energien, wenn eure Taten euch selbst anklagen. Flüchtet euch doch nicht in diese Eigen-Gerechtigkeit. Meint ihr, damit dem Gericht Gottes entfliehen zu können? Wir hören den ganzen Chor dieser Gerechten: Sind wir nicht … ? haben wir nicht … ? Gott, ich danke dir, daß ich nicht bin … Begreift ihr denn nicht, daß Gott richtet? Daß wir vor ihm nie von Sein und Haben, von Nicht-Sein und Schuldlos-Sein reden können? Daß wir uns nie an der so beliebten Suche nach dem Schuldigen beteiligen können, weil eins uns festhält: mein Leben, meine Schuld, meine Tat? Weil nicht nur die anderen unter sein Gericht geraten, sondern auch ich. Nicht nur die Welt, sondern
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auch die Kirche; nicht nur das Heidentum, sondern auch das Christentum. Nein, Gott ist nicht dazu dein Gott, daß du Richter spielst. Sondern daß er immer noch dein Gott ist, das müßte, das sollte dich doch zur Umkehr, zur Buße, zur Freigabe bei Gott, zu Glauben und Liebe anleiten. Meinst du, es sei dein Vorrecht, daß du lebst, der andere aber ist tot; dein Haus steht, das andere aber ist vernichtet; dieses Gotteshaus steht, das andere ist dahin? Merkst du nicht, daß Gottes Güte dich zur Umkehr ruft? Rufst du nicht vielmehr, wieviel Gott tragen, zu wieviel er schweigen, wie lange er warten kann? Er wendet sich an die Kirche, an die Frommen, an die sogenannten Rechtgesinnten: Es wird Zeit, daß ihr umkehrt, daß ihr das Gericht Gottes über euer Tun erkennt. Umkehr – das ist der Sinn des neben dir zur Erde fahrenden Blitzes. Umkehr – als Offensein für das wirklich Neue, als Offensein für die neue Geburt, die neue Gerechtigkeit. Umkehr und Abkehr von allem Sein-Wollen und Haben-Wollen, von allem Richten und PrinzipienAufstellen, vom Dünkel des moralischen und des »guten« Menschen. Umkehr als Übernahme einer neuen Lebensweise: des Nicht-Habens und Nicht-Seins, des Wartens, Hoffens, Bittens, Werbens, Laufens, Verlangens, des Suchens, des Sich-Sehnens, und doch das Wissen: Wir stehen alle unter einem Gericht und haben nichts als Zorn verdient. Darauf wartet Gott – daß du ihn endlich allein Richter sein läßt und du der Gerichtete wirst. Sei gewiß, Gott ist unkorrigierbar, er geht seinen Weg. Er läßt sich nicht durch die Phraseologie verwirren, womit ihr die Menschen in Gute und Böse, Schuldige und Unschuldige, Gottgläubige und Gottlose, Lichte und Dunkle, Weiße und Schwarze einteilt – Gott nicht. Ihr zeigt mit diesen verderblichen Urteilen nur, daß ihr unbelehrbar und unbekehrbar seid, daß euer Herz nicht umkehren will. Aber wartet nur, damit sammelt ihr euch einen Schatz – welche Ironie –, den Gott am Tage seiner Entscheidung euch zur Last legen wird: ein ganzes Leben voller Dünkel, und darum voller Dunkel; nur träumend von eurer menschlichen Gerechtigkeit, auch nicht von ferne etwas ahnend von Gottes Gerechtigkeit. Gott sieht das Herz an. Darum ist vor ihm kein Ansehen der Person, der Rollen, die ihr voreinander spielt und aneinander anbetet. Wenn Gott kommt, dann heißt es: alle Masken ab. Denn hört das Versteckspielen auf, dann sind wir nicht mehr, was wir zu sein vorgeben, dann sind wir, was wir tun. Nackt und bloß werden wir unseren Taten ausgeliefert, sie mögen über uns richten. Wohl dem, der dann erfunden wird als ausdauernd am guten Werk, ihm winkt ewiges Leben. Wehe denen, die mit Streit und Unterdrükkung der Wahrheit ihr Dasein erfüllen, dem Zorn und Grimm Gottes gehen sie entgegen. Die Tat entscheidet. Gerechtigkeit Gottes, so sagte schon Jesus, sucht die Tat. Hier fällt die Entscheidung. Nicht was ihr redet, nicht
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Römer 2,1-10
eure Urteile, nicht eure Gesinnungen und Ideale – wenn Gott mit uns reden wird, wird es nur heißen: Was hast du getan? Der Mensch und seine Taten, das ist das Thema des Gerichtes, dem die Welt entgegengeht.
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35. Das Messer des Geistes Römer 2,12-29 12. Juni 1943
Welche ohne Gesetz gesündigt haben, die werden auch ohne Gesetz verloren werden; und welche unter dem Gesetz gesündigt haben, die werden durchs Gesetz verurteilt werden (sintemal vor Gott nicht, die das Gesetz hören, gerecht sind, sondern die das Gesetz tun, werden gerecht sein. Denn so die Heiden, die das Gesetz nicht haben, doch von Natur tun des Gesetzes Werk, sind dieselben, dieweil sie das Gesetz nicht haben, sich selbst ein Gesetz, als die da beweisen, des Gesetzes Werk sei geschrieben in ihrem Herzen, sintemal ihr Gewissen ihnen zeugt, dazu auch die Gedanken, die sich untereinander verklagen oder entschuldigen), auf den Tag, da Gott das Verborgene der Menschen durch Jesum Christum richten wird laut meines Evangeliums. Siehe aber zu: du heißest ein Jude und verlässest dich aufs Gesetz und rühmest dich Gottes und weißt seinen Willen; und weil du aus dem Gesetz unterrichtet bist, prüfest du, was das Beste zu tun sei, und vermissest dich, zu sein ein Leiter der Blinden, ein Licht derer, die in Finsternis sind, ein Züchtiger der Törichten, ein Lehrer der Einfältigen, hast die Form, was zu wissen und recht ist, im Gesetz. Nun lehrst du andre, und lehrst dich selber nicht; du predigst, man solle nicht stehlen, und du stiehlst; du sprichst, man solle nicht ehebrechen, und du brichst die Ehe; dir greuelt vor den Götzen, und du raubest Gott, was sein ist; du rühmest dich des Gesetzes, und schändest Gott durch Übertretung des Gesetzes; denn »eurethalben wird Gottes Name gelästert unter den Heiden«, wie geschrieben steht. Die Beschneidung ist wohl nütz, wenn du das Gesetz hältst; hältst du aber das Gesetz nicht, so bist du aus einem Beschnittenen schon ein Unbeschnittener geworden. So nun der Unbeschnittene das Recht im Gesetz hält, meinst du nicht, daß da der Unbeschnittene werde für einen Beschnittenen gerechnet? Und wird also, der von Natur unbeschnitten ist und das Gesetz vollbringt, dich richten, der du unter dem Buchstaben und der Beschneidung bist und das Gesetz übertrittst. Denn das ist nicht ein Jude, der auswendig ein Jude ist, auch ist das nicht eine Beschneidung, die auswendig am Fleisch geschieht; sondern das ist ein Jude, der’s inwendig verborgen ist, und die Beschneidung des Herzens ist eine Beschneidung, die im Geist und nicht im Buchstaben geschieht. Eines solchen Lob ist nicht aus Menschen, sondern aus Gott.
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Römer 2,12-29
Wir stehen heute abend vor den Toren von Pfingsten. Pfingsten – da alle Völker wieder die eine Sprache verstanden; da der Fluch, der seit dem Turmbau zu Babel über der Völkerwelt lastete und lastet, an einer Stelle aufgehoben, durchbrochen, gelichtet wurde; da an seiner Stelle eine Verheißung aufleuchtete: die Gabe des Geistes, der alle ergriff, Griechen und Barbaren, Parther, Meder und Elamiter – vor dem alle Unterschiede der Sprache und der Geschichte schwanken. Pfingsten – der Anbruch der einen Christenheit: »Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater unser aller.« Und wir: dem Turmbau zu Babel und seinem Fluch wahrhaftig näher als jenem wunderbaren Ereignis, das an den paar Männern, den Aposteln, in Jerusalem geschah. Und wir: doch wissend, daß nur so, nur von dort, nur von Pfingsten her Rettung kommen kann – in die babylonische Sprachund Geistesverwirrung, in deren Fluten wir ringen. Nur von da! Nur so, daß wir alle begreifen: Gott ist auf der anderen Seite, kein Volk ist ihm näher, keins ferner. Der Abstand zu Gott ist überall – unendlich. Aber nicht nur das. Das wäre noch nicht Pfingsten. Pfingsten heißt ja: Ich will meinen Geist ausgießen über alles Fleisch. Pfingsten als Aufhebung dieser Namen, als Machtgewinnen des Geistes Gottes auf Erden. Christus ist auferstanden, jawohl, aber wir haben mehr als nur sein leeres Grab. Er sendet den Geist, den Geist der Wahrheit, den Geist, der Leben schafft. So, von daher, von der Gabe der Realität dieses Geistes her ist das alles gesagt, was wir eben gehört haben: dieser Aufruf zur Beschneidung des Herzens im Geist, nicht im Buchstaben. Geist – das Messer, das ins Fleisch schneidet! Geist als Beschneidung und so, unser Herz treffend, tötend und lebendig machend – das ist Geist. Das ist jenes Feuer, das glühend vom Himmel fiel und sich auf die Zungen der werdenden Zeugen Gottes setzte; durchs Feuer geläutert. Das könnten die Heiden wissen – das müßten die Juden wissen. Das kann jeder wissen, der einmal auf die ungeschriebenen Gesetze des Herzens achtet. Merkt ihr nicht, wie in jener heimlichen Stille, die wir das Gewissen nennen, Anklagen aufsteigen, und Entschuldigungen, Gespenster der Nacht; und unsere ohnmächtigen Versuche, sie zu vertreiben. Das weiß jeder Heide. Tat, Tat, Tat, ruft es aus jener innersten Tiefe. Tat, nicht nur Wissen; Tat, nicht nur Planen. Und das eben ist die fürchterliche Nähe zum Geist Gottes, daß dieser Geist Taten verlangt, Taten wiegt; daß er nicht diskutiert, daß er richtet. Am Tag, da Gott richten wird das Verborgene im Menschen; da das Unwesentliche – das dir heute unwesentlich Erscheinende – das Entscheidende wird. Denn das Evangelium von Jesus Christus hat es mit diesem Geheimnis des Menschen zu tun; mit der kommenden zu
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Das Messer des Geistes
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fürchtenden, am Tage Gottes unvermeidlichen Aufdeckung des Geheimnisses, dieses allen anderen unzugänglichen Gemaches in deinem Innern, der unheimlichen Kammer, zu der du keinem den Schlüssel abgibst: Sei gewiß – und du weißt es nur zu gut –, es kommt der Tag, da du Gott aufschließen mußt, da es heißt: »Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an.« So nahe, so gefährlich nahe bist du – ist dir der Geist. Der Geist der Wahrheit – in Jesus will er der Geist des Lebens werden. Aber siehst du nicht auch dieses Schwert des Geistes aufblitzen, gerade da, wo Menschen in ihrem Starrsinn und ihrer Einbildung meinen, vor seinem Gericht sicher zu sein? Gerade da, wo Offenbarung ist, gerade da, wo Gottesbegegnungen, wo Erlebnisse und Erfahrungen mit Gott sind. »Der Tag Gottes wird finster und nicht licht sein.« Meinst du, du könntest dich dabei ausruhen, daß du nur die Offenbarung des Willens Gottes weißt? Ach, wie kommt es nur, daß da, wo Mose bis zu Tode erschrak, seine Nachfolger sicher und stolz wurden; daß, was den einen Anfechtung und Qual und Sterbensnot war, den anderen Verdienst und Ruhm und Selbstverherrlichung wurde? Daß ihr auf dem Gesetz meint euch ausruhen zu können? auf diesem Vulkan, der jeden Augenblick ausbrechen kann. Ist euch das nicht klar? Begreift ihr nicht, warum man eben nicht Pharisäer sein kann, warum dieser wahrlich gewaltige Versuch nicht gelingen kann? Gewiß, im Blick auf die anderen mag das gehen. Von sich absehen, Führer sein für andere, Lehrer sein für andere, Erzieher sein der Unerzogenen, Bildner sein der Ungebildeten – das geht. Wenn du nicht weiter gehst, oder besser: wenn du so weit gehst, dann stimmt die Sache, dann wird dich nichts in deiner Sicherheit erschüttern. Aber laß doch einmal den und die anderen weg. Sei doch einmal mit dir allein, du mit dir allein unter dem Gesetz. Das Gesetz ist eben falsch verstanden, wenn es nur immer von dir weg auf die anderen hin verstanden wird. Sei doch einmal allein mit ihm! laß doch einmal die Krypta deines Herzens von ihm erleuchten. Kannst du dann noch, was du eben konntest, daß dort Ruhe ist, daß du da Frieden findest? Dann geht die Melodie an, warum geht bei dir nicht, was bei anderen geht? Du, der du sagst, man soll nicht stehlen, und du stiehlst doch selbst. Man soll nicht ehebrechen und brichst doch selbst die Ehe. Der du den Götzendienst verabscheust, du räumst den Götzen selbst Platz ein. Du dachtest, man könnte von diesem sozusagen entfliehen, um seine Ruhe zu finden. Siehst du nicht ein, wie diese Gebote von Wasser umgeben sind? Wer zu seinem Bruder sagt, Racha, der ist ein Totschläger. Meine Freunde, das wollte Paulus hier sagen. Da wird das Gesetz Gottes unter Pfingsten gerückt, wo du einmal begreifst: ich selbst bin ja gemeint, das Gebot redet mich darauf an, daß ich weiß, wer ich bin; daß ich nichts vor Gott zu brin-
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Römer 2,12-29
gen habe; daß ich nicht besser bin als die anderen. Ihr sagt: Gebt Gott die Ehre, gewiß, aber merkt ihr nicht, wie euer Dasein, euer Nichtkönnen da draußen auffällt; wie alle sagen: das wollen Christen sein! Wie die Schwarzen, die Heiden sagen: das will die christliche, abendländische Welt sein! Das heißt Gesetz, das ist Pfingsten: daß wir einmal an diesem Punkt stehen, und zwar so stehen, daß wir keinen Schritt vor und zurück gehen; daß wir alles andere vergessen – aber dieser Punkt muß erst sauber sein, damit die Rebe wirklich gute Frucht bringt; nicht äußerlich, nicht so, daß ihr durch Generationen nachweisen könnt, Christen zu sein. Nein, das heißt nicht Pfingsten. Sondern: Gegenwart Gottes, Beschnittenheit des Herzens, getroffen sein im Herzen von diesem Wort Gottes, und zwar dahin getroffen, daß wir alle wissen: ich kann den anderen auch nichts bringen, das was den anderen fehlt, das fehlt auch mir. Meint ihr, daß Gott seinen heiligen Geist denen versagen wird, die darum bitten? Ich kann nur beten, daß Gott allein gerecht ist, daß wir unter seiner Gerechtigkeit allein miteinander einen Neuanfang des Lebens machen müssen. Meint ihr, daß wir so weit weg sind von Pfingsten, wenn wir das 2. Kapitel des Römerbriefs lesen? »Was sollen wir tun«, fragten die Menschen, die die Predigt des Petrus hörten. Sie waren am Ende, sie waren nicht mehr so gewiß, daß sie sagen konnten: das müssen wir tun. Sie hatten aufgehört, Gesetzesmenschen zu sein, sie waren an der Grenze angelangt, sie hatten wirklich den Geist begriffen. Und dann sagt Petrus: Tut Buße! Kehrt um! Und laßt euch rufen zur Vergebung der Sünden. Das ist Pfingsten, dieses Zerbrochensein eines Menschen. Diese Erfüllung der Verheißung: den gebrochenen Stab bricht er nicht. Das ist Pfingsten. So wandert heute die Kirche durch das Grauen des Krieges, als eine gebrochene, aber nicht zugrunde gerichtete, als die geschlagene, aber nicht vernichtete. So geht unser Zeugnis schon seit Jahren verfolgt, verlacht, verachtet über diese Erde. Es wird eben doch da gewisser, weil Gott seinen Geist immer wieder neu in unsere Herzen gibt, weil wir am Abend sagen müssen, es ist aus, und weil dann eben gerade da das Neue da ist, weil die Beschneidung des Herzens nicht dazu dient, unser Herz zu zerschneiden, sondern weil sie dazu da ist, daß wir neu leben, weil Gott mit seinem Geist Wunder wirkt in der Erneuerung unserer Herzen. So allein können wir Pfingsten feiern, als die Beschnittenen, nicht dem Buchstaben nach, als die Christen, nicht der äußeren Bezeichnung nach, sondern als die, denen Gott das Messer seines Geistes ans Herz gesetzt hat, um lebendig zu machen, um unsere Schuld zu tilgen, um uns zu neuen Menschen zu machen dank der Besinnung in Jesus Christus. Und so wollen wir uns vorbereiten für das große Fest, daß wir wissen, wo wir auch stehen, ganz gleich, der Herr kennt unsere Wege.
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36. Grundlos beschenkt Römer 3,21-26 26. Juni 1943
Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart und bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. Ich sage aber von solcher Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesum Christum zu allen und auf alle, die da glauben. Denn es ist hier kein Unterschied: Sie sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, so durch Christum Jesum geschehen ist, welchen Gott hat vorgestellt zu einem Gnadenstuhl durch den Glauben in seinem Blut, damit er die Gerechtigkeit, die vor ihm gilt, darbiete in dem, daß er Sünde vergibt, welche bisher geblieben war unter göttlicher Geduld; auf daß er zu diesen Zeiten darböte die Gerechtigkeit, die vor ihm gilt; auf daß er allein gerecht sei und gerecht mache den, der da ist des Glaubens an Jesum. Nun aber – Paulus kann alles, was er im vorangehenden gesagt hat, 1 nur sagen, kann das Gericht über unsere Menschengerechtigkeit nur in dieser Tiefe und Schärfe entfalten, weil er um dieses nun aber weiß. Es gibt ein Jetzt, ein Nun, ein Heute in der Geschichte Gottes mit den Menschen, da ist offenbar geworden, was Rettung ist. Nur weil es das gibt, ist Paulus Apostel, nur weil das geschehen ist, weil Gott ein Neues, unableitbares Neues gesagt hat, erklingt das Evangelium. Was hier offenbar wurde, liegt nicht auf der Straße des Gesetzes. Du wirst nie und nimmer dahin finden, wenn du in der Nacht des Heidentums am Leitfaden des Gesetzes dahin zu kommen suchst. Wunderbar, aber offenbar wahr: daß kein Weg, keine Brücke in jenes Heute der Offenbarung führt! Jenseits des Gesetzes liegt, was hier offenbar wurde. Es ist also nicht Krönung, Vollendung und Erfüllung des Bisherigen, einer natürlichen Religion, deines dir eingepflanzten Wissens um Gut und Böse. Nein, nein – das Evangelium wird anders entdeckt, gefunden, geglaubt – es ist Mitte, ist Ursprung, ist das Uralte, Verlorene, Wiedergefundene. Alles, was Gesetz und Propheten heißt, alle jene Figuren aus dem Alten 1.
Die Predigt über Römer 3,1-20, die am 19. Juni gehalten sein müßte, fehlt.
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Römer 3,21-26
Testament, sind Zeugen, daß diese Mitte da ist; sind Strahlen dieser – nun – aufgehenden Sonne, die ihrem Aufgang vorangehend über den Himmel laufen. Der Tag Gottes, die Stunde Jesu Christi ist die bewegende Mitte des Ganzen, ohne sie wäre Mose nicht Mose, Abraham nicht Abraham, Jesaja nicht Jesaja. Die ganze Weltgeschichte wartet auf diesen Tag, da es heißen wird: Siehe da, Gottes Gerechtigkeit ist offenbar geworden. Gottes Gerechtigkeit! Haben wir das nun begriffen, daß wir anhalten müssen, mit unserem Trachten nach Gerechtigkeit, bis wir Gott, bis Gott uns gefunden hat? Daß Gott und die Gerechtigkeit zwei Namen für ein und dieselbe Sache sind. Daß es nicht angeht, Gott anzubeten, ohne zu hungern und zu dürsten nach der Gerechtigkeit – das ist der fundamentale Irrtum der einen, derer, die Gott und sein Reich ganz in die Innerlichkeit bannen. Daß es aber noch weniger angeht, die Gerechtigkeit aufs Panier zu schreiben, ohne nach Gott zu fragen – das ist der Irrtum der anderen. Die einen vertagen Gott ins Jenseits und ins Inseits, die anderen streichen Gott und suchen ihre Gerechtigkeit. Ein weltfremder Gott – eine gottentfremdete Welt. Nein, Gottes Gerechtigkeit ist eins, so wie eben Jesus eins ist. Hier ist Gott unser Gott, hier ist die Welt in Gottes Hand – versöhnt, gehalten. Glauben heißt von dieser Gerechtigkeit her leben. Leben – angesichts der Tatsache, daß wir alle Sünder sind und keine Möglichkeit haben, vor Gott zu bestehen; das heißt: wir ermangeln des Ruhmes. Leben – nicht davon, daß wir das viele Böse, was der Mensch anrichtet, mit dem wenigen Guten ausgleichen, das hier und da geschieht; sondern leben, so daß auch unser Leben das Heute Gottes erfährt. »Heute ist euch der Heiland geboren.« Daß wir von daher wieder leben, neu geboren, neu geschaffen, nun nicht mehr tief in uns, sondern in Gott; nicht mehr gerecht, vollkommen in uns, sondern in Gott; nicht mehr stark in uns, sondern in Gott; umsonst gerecht gemacht durch die Gnade der in Jesus Christus geschaffenen Erlösung. Die Sünde des Menschen, sein Nein gegen Gott – und die Erlösung durch Jesus Christus, Gottes Ja zu uns ist die eigentliche Bewegung des Glaubens. Daß das Ja Gottes stärker ist als unser noch so lautes Nein, das ist der immer neu zu erkämpfende Sieg des Glaubens. Das heißt Gottes Gerechtigkeit, daß Erlösung geschehen ist, und daß – verstehen wir uns! – der Mensch wieder lernen muß, als grundlos Beschenkter zu leben. Menschen, die immer auf ihr Recht aus sind, können und wollen sich nichts schenken lassen. Wenn wir vor Gott und mit Gott leben wollen, müssen wir aus seiner Gnade leben. Als die Beschenkten, als die, die nie fassen werden und nie fassen können, warum und wie reich Gott den Menschen beschenkt hat. Womit denn? Eben mit Christus und zwar mit Christus als dem Opfer-
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Grundlos beschenkt
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lamm, dessen Blut vergossen ist, damit der Mensch nicht verloren werde. Die Menschheit hat zwei Bilder, zu denen sie aufschauen kann. Hier schaut uns die Sünde an, die unvergebene Schuld, nackt, Sühne fordernd. Da schreit das Blut Abels wider seinen Bruder. Da ist das Infernum aller menschlichen Ungerechtigkeit und Grausamkeit. Und gegenüber hat Gott seinen Altar errichtet, da steht über dem Portal das wunderbare Wort: Gerechtigkeit. Und wenn du hineingehst – denn so unanschaulich die Ungerechtigkeit der Menschen ist, so unanschaulich und nur dem Glauben zugänglich ist Gottes Gerechtigkeit – dann siehst du einen Geopferten. »Das Lamm, das der Welt Sünde trägt.« Dazwischen geht unser Weg, dazwischen fließt der Strom der Zeit. Seht ihr nicht, wie die Menschen angesichts ihrer eigenen Schuld die Hände vors Gesicht schlagen und ins Dunkel taumeln; wie sie versinken im Strom der Zeit, in die Tiefe gezogen von der Last der Schuld; sich windend unter der List der Schlangen, die sie umschlingen? Darum ist der Menschensohn erhöht. Darum jenes Heiligtum der rettenden, helfenden, quellenden Gerechtigkeit. Hier suchen die Menschen Leben und finden den Tod. Dort der Anblick eines Toten und siehe, wir leben. Es wird nutzlos sein, ergründen, begreifen, analysieren zu wollen, warum sein Tod unser Leben ist. Genug, daß er es ist. Unergründbar ist es ja auch, warum der Mensch an seiner Schuld zugrunde geht. Warum die Sünde solch eine Macht über unser Herz hat. Warum wir alle vor ihr erblassen. Warum das Wort Schuld eben kein Märchen und kein Kinderschreck ist, warum sie Menschen zerbricht. Wir stehen alle unter ihr, und darum steht die Erlösung auch über uns. Von oben her werden wir erlöst. Ein Geopferter, sein vergossenes Blut ist alles, was Gott der unvergeblichen Schuld entgegenzusetzen hat. Wollen wir nicht unser Angesicht dahin kehren? Ihn alleine sehen – hinter uns der Berg der Schuld, vor uns die Berge, von denen uns Hilfe kommt. So ist unser Heute – ein Gestern, das heißt Vergebung, ein Morgen, das heißt Erlösung. Wir wandern angesichts des Herrn Christus mitten in der Welt der Sünde – dennoch lebend.
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37. Allein aus Glauben Römer 3,27-31 3. Juli 1943
Wo bleibt nun der Ruhm? Er ist ausgeschlossen. Durch welches Gesetz? Durch der Werke Gesetz? Nicht also, sondern durch des Glaubens Gesetz. So halten wir nun dafür, daß der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben. Sintemal es ist ein einiger Gott, der da gerecht macht die Beschnittenen aus dem Glauben und die Unbeschnittenen durch den Glauben. Wie? Heben wir denn das Gesetz auf durch den Glauben? Das sei ferne! sondern wir richten das Gesetz auf. Wir hatten in unserer vorigen Betrachtung ein Bild gezeichnet, in dem die Tat Gottes, die »Erlösung in Jesus Christus« festgehalten werden sollte. Die Menschheit auf ihrer Wanderung, die endlosen Züge. Ihr zur Linken türmen sich die Berge der Schuld in unheimlich brennender Macht, hier und da brechen sie dann herunter, hier und da schlägt einer aus den Elendszügen die Hände vor sein Angesicht, weil seine Schuld ihm Hand und Herz lähmt. »Wo sollen wir fliehen hin, daß wir Gnad erlangen? Das bist du, Herr, alleine.« Aber zur anderen Seite, demgegenüber, hat Gott sein Heiligtum errichtet. Gott hat das Sühneopfer vor uns hingestellt, Gottes Geschichte, die er unserer, der sogenannten Weltgeschichte entgegensetzt; Gottes Gerechtigkeit, die er der Menschengerechtigkeit und dem, was sie angerichtet hat, entgegensetzt. Und Glauben heißt nichts anderes, als daß wir diesem Heiligtum Gottes, dem Gekreuzigten, unser Angesicht und der Schuld den Rücken zukehren; daß Jesus vor uns steht und darum, um dieser Wendung willen die Schuld hinter uns zu liegen kommt. Wenn du Glauben hättest, so würdest du sagen zu diesem Berge der Schuld: Hebe dich auf und wirf dich ins Meer, so wirds geschehen. Menschengerechtigkeit kann und muß eine Schuld auf die andere türmen, sie bringt die alte vergessene Schuld immer wieder zu neuem Leben. Sie gräbt sie aus und läßt sie nicht sterben. Unsere Schuld lebt davon, daß Menschen über Menschen Richter spielen. Gott aber, wenn er Gericht hält, wie er über alle Welt Gericht gehalten hat auf dem Hügel von Golgatha – richtet und rettet, deckt auf, wer wir sind und deckt zu, wer wir waren. In den Fluten seines Erbarmens sinken die Berge der Schuld
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Allein aus Glauben
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dahin. Er sagt Nein zur Sünde und Ja zum Sünder – »auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden«. Nicht verloren werden. Nur da und nur dann ist das, was in Jesus geschehen ist, nicht umsonst geschehen. Sein Tod – unsere Schuld! Was wiegt schwerer, was ruft lauter: das von uns vergossene oder das für uns vergossene Blut? Das bedeutet das Wort Blut im Neuen Testament. »Das Blut der Besprengung, das da besser redet als das Blut Abels.« »Nun aber«: Wenn wir da stehen, wenn wir zu den Geretteten gehören, zu denen, die »unverdient gerecht geworden sind« – gibt es da noch Grund zum Rühmen? Kann der Mensch hier noch sagen: Ich, das ist meine Entscheidung, mein Wort, meine Entwicklung? Ausgeschlossen, sagt Paulus. Aus Gnaden Gottes seid ihr, was ihr seid. Wo bleibt der Ruhm? Wo bleibt, wovon der alte Mensch lebt? Bitte nehmt ihn nicht mit an die Tafel Gottes, den Menschen, der kein hochzeitlich Kleid anhat; den Menschen, der nun auch dies, das neue Leben, zu seinem Verdienst, seinem Besitz, seinem Großtun machen möchte. Der vergißt, daß er von der Straße als Bettler in den Königssaal gerufen wurde. Der nicht sagt: Ich will mich meiner Schwachheit rühmen; sondern der nun schon wieder beginnt, freilich mit allen Klauseln christlicher Ausdrucksweise, von seiner Kraft, seinem neuen Leben, seinen – freilich im Glauben vollzogenen – Leistungen zu reden. Nein, wer sich rühmen will, der rühme sich des Herrn! Wer aber den Herrn rühmt, der muß sich selbst den Ruhm entziehen; muß aufhören, von sich zu reden, von seiner Leistung, seiner Tat. Ziehe die Schuhe deiner Ruhmsucht aus, mit denen du sonst deine Sichtspur in das Land deiner Erdenwanderung eingräbst – hier ist heiliges Land. Hier ist die Stätte, wo der Mensch wahr wird, wo das sich selbst aufblähende Rühmen des Menschen zur Unmöglichkeit wird. Denn hier ist eine Schranke gezogen, über die muß jeder hinweg, der ins Land des Glaubens eintritt, eine Ordnung. Und diese Ordnung lautet nicht: Tue dies und lasse das. So etwas steht nicht über dem Kreuz. Diese Inschrift, diese uns anklagende, in alle Ewigkeit anklagende Inschrift ist abgetan. Nicht als Täter kommt ihr hierher, sondern um zu hören, was Gott getan hat. Ihr seid! Ihr seid! Ihr sollt nicht erst werden! »Ihr seid abgewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerecht gemacht«, im Namen Gottes. Das wird hier proklamiert. Was kann ich dazu tun? Gar nichts. Mit dem Tun fängt das Rühmen an. Jene Lebensordnung des Tuns ist gerade nicht die Schranke, an der der Mensch das Rühmen erkennt. Gar nichts können wir dazu, dafür, dagegen tun: Es ist entschieden, Gottes Tat ist der Neuanfang unseres Lebens. Das ist die Lebens-Ordnung des Glaubens, wirklich eine Lebens-
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Ordnung, während ja das Gesetz, die Eigengerechtigkeit nur eine TodesOrdnung ist. Also eine unübersteigbare Grenze für alle noch so frommen, noch so strengen, noch so radikalen Aktivisten. Die Grenze für Pharisäismus und Mönchstum, die Grenze für alle, die Taten vermissen. Der Glaube lebt nicht vom Tun, sondern davon, daß Gott alles getan hat. Ihr seid! sagt Gott. Und ich schließe meine Augen und sehe nicht meine, eben sehr unvollkommenen Leistungen und meine sehr großen Fehler; ich sehe nicht auf diesen Menschen in diesem Leibe; sondern ich höre und glaube und weiß: »So er spricht, so geschiehts.« Wie am Schöpfungsmorgen steht der Mensch vor Gott, neu geboren. Gerecht geworden durch den Glauben. Darum dürfen wir nun folgenden Satz aufstellen: Wir ziehen den Schluß, daß ein Mensch gerecht wird durch den Glauben, ohne des Gesetzes Werke. »Allein« durch den Glauben, sagt Luther, und sagt das nach dem Vorangegangenen zu Recht. Keine katholische Bibel wagt dieses »allein« hinzusetzen. Erst der Glaube, gewiß, aber dann doch auch die Werke! Zu scharf, sagen die Kardinäle von einst und die Kirchenfürsten von heute. Wo bleibt denn das Tun, die Ethik, das Werk? Schüttet nicht das Kind mit dem Bade aus. Nein, sagen wir, das Messer, das ins Fleisch schneidet, mit dem die heilsame Operation zum neuen Leben vollzogen wird, kann gar nicht scharf genug sein. Darum wirklich: Glaube ohne des Gesetzes Werke. Nicht eine Hand leer, die andere voll, sondern beide Hände leer. »Selig sind die geistlich Armen«, die wirklich Armen. Ich meine, meine Freunde, solange wir leben, werden wir nicht reicher, wir können nichts vor Gott. Es bleibt dabei: allein aus Glauben. Wir können uns nur unserer Schwachheit rühmen. Wir wissen nicht, durch welche Anfechtung wir noch gehen. Martin Luther sagte am Ende seines Lebens: »Wir sind Bettler, das ist wahr.« Und wenn Paulus nach Korinth schreibt: Am liebsten rühme ich mich meiner Schwachheit, daß die Kraft Christi bei mir wohne … Warum rühmen wir uns denn immer unserer Stärke, warum rühmen wir uns einer Gerechtigkeit, die doch nicht unser ist? Und dann sagt Paulus, von daher müßt ihr doch begreifen: Der Gott, den wir verkündigen, ist ein Gott der ganzen Welt, das geht jeden an, draußen an der Straße und in der Kirche, das bezieht sich nicht nur auf die Frommen allein, sondern das ist die große Frage für jeden Menschen. Was sich hier entscheidet, das sprengt den Rahmen jeglicher Enge. So rechnen wir nun damit, daß der Mensch vor Gott gerecht wird allein durch den Glauben, ohne des Gesetzes Werke. Wenn wir anfangen zu begreifen, »wir sind allzumal Sünder …« Es steckt ja in jedem von uns ein Pharisäer. Dieser Gott, den ich verkündige, geht ja
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euch alle an, nicht nur uns, auch die Menschen da draußen. Es ist heute eine übliche Rede geworden: Ich danke dir, daß ich nicht so geworden bin wie der Zöllner. Alle reden von ihrem Stolz und ihrer Leistung, mögen sie auch noch so gering sein. Sie reden davon, daß sie ihre Pflicht tun. Das ist ihr Stolz, das, meinen sie, können sie vor Gott bringen. O nein, es wird kein Mensch gerecht vor Gott, hier gilt: allein durch den Glauben. Damit stürzen wir nicht eine Ordnung, damit richten wir sie erst auf. Das Gesetz Gottes fängt überhaupt erst an, zu uns zu reden, wenn wir begreifen: wir können das gar nicht tun. Und nun folgt dann im nächsten Kapitel ein Beispiel dessen, wie man in solchem Glauben lebt. Und der Mann, der in solchem Glauben lebt, ist Abraham. 1
1.
Hier deutet Iwand die Fortsetzung der Predigtreihe an, davon ist aber nichts erhalten; wahrscheinlich gab es keine Fortsetzung.
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38. Der Lebensgrund Predigt zur Konfirmation 1 Korinther 3,11 6. April 1941
Einen anderen Grund kann niemand legen, außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus. Das Wort, ihr lieben Konfirmanden, das als Gottes Wort über dieser Stunde steht, handelt von dem Lebensgrund, den Gott gelegt hat. Wie wichtig dieser Grund ist, wissen wir alle. Denn wenn der Grund, auf dem wir bauen, wankt, dann bekommt auch der Bau, den wir ausführen, Risse und bricht endlich ganz zusammen. Der Herr Jesus Christus hat selbst einmal ein Gleichnis von diesem guten und schlechten Lebensbau gegeben, mit dem alles gesagt ist: er sieht zwei Menschen vor sich, den einen nennt er weise, den anderen töricht. Denn beide Menschen bauen ein Haus, um darin zu leben. Vielleicht waren die beiden Häuser einander sehr ähnlich. Und solange die Sonne schien und das Wetter schön war, hätte niemand entdekken können, warum der Herr Jesus den einen Baumeister klug und den anderen töricht nannte. Aber dann kam es an den Tag: da kam der Sturm, das Unwetter, da fuhren die Winde an den Giebel des Hauses, die Gießbäche kamen herabgeströmt und unterwühlten die Erde – da zeigte sich, wer sein Haus recht gebaut hatte. Denn der kluge Mann hatte einen Felsengrund ausgewählt, der hielt, der leistete Wind und Wetter Widerstand. Nun konnte der kluge Baumeister lachen, mitten im Sturm und Wetter, denn er wußte: den Felsen kann kein Unwetter untergraben, im Gegenteil, an ihm müssen sich Wind und Wellen brechen. Aber der andere hatte auf Sand gebaut, das Wasser schwemmte den Grund davon und der Wind warf dann das Haus zusammen. Das Unwetter, die Gefahr hatte es offenbar gemacht, was vorher verborgen war: solange es dem Menschen im Leben gut geht, kann er das gar nicht hören, aber wenn der Sturm kommt, wenn wir schwachere Zeiten durchmachen müssen – dann zerbricht der Lebensbau, der keinen Felsengrund hat. Dann aber ist es zu spät, klug zu werden, dann gilt das Sprichwort: Vorgetan und nachbedacht hat manchem schon viel Leid gebracht. Denn in den guten Tagen muß man Vorsorge tragen, daß wir den rechten Grund legen, dann werden wir in den schweren Zeiten nicht
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Der Lebensgrund
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zuschanden werden, sondern bestehen. Möchten wir nicht alle solche klugen Menschen werden, die ihr Haus auf guten Grund bauen? Was ist das für eine Klugheit? Seht ihr, ihr lieben Konfirmanden, um so klug zu werden, muß man einen besonderen Lehrer haben, denn wir Menschen sind in dieser Sache alle töricht, wie klug wir auch in anderen Dingen sein mögen, und unser Leben lang bleiben wir darin lernend: »Einer aber ist euer Meister, Christus.« Diese Lebensklugheit lernen wir allein bei ihm. Und wir lernen sie darum allein bei ihm, weil er das Leben nicht so ansieht wie wir Menschen. Weil seine Sorge nicht die ist, wie wird ein Mensch reich oder mächtig, wie kommt er gut voran in dieser Welt, sondern: wie kann ein Mensch vor Gott bestehen? Wie kann er seine Seele bewahren? Wie kann er gerettet und selig werden? Und weil wir Menschen diese Frage nicht für so wichtig halten, darum sind wir Toren. Denn das Werk unseres Lebens entscheiden nicht wir, sondern Gott. Und oft sehen wir es mit unseren Augen, wie dann Gott Stürme kommen läßt, die die Leute umwerfen, nicht nur einzelne, sondern ganze Völker. Dann halten wir wohl den Atem an und erschrekken über Gottes Gerichte. Jesus aber lehrt uns klug zu werden, das heißt: mit Gott zu rechnen, im Lichte der Ewigkeit zu leben. Nach Gott sollen wir trachten und nach seiner Gerechtigkeit – dann wird Gott auch für uns sorgen. Das lehrt er, der Sohn Gottes. Aber Jesus, der Lehrer – das ist ja noch nicht alles. So fängt immer die Begegnung mit ihm an, aber sie endet ganz anders. So war es auch mit den Jüngern: Zuerst waren sie Schüler bei Jesus, aber am Ende wurden sie gläubig; am Ende merkten sie: Von Jesus kann man nicht nur viel Gutes lernen, sondern Jesus Christus selbst ist das höchste Gut, und er will sich selber verschenken, damit wir von ihm leben. Am Ende merkten sie, wenn der Herr Jesus von dem wahren Felsengrund sprach, dann meinte er damit sich selbst. Er meinte den Eckstein, auf dem alles andere ruht, und dieser Eckstein war er selbst. Und darum ist dieser Lehrer ein ganz anderer Lehrer als alle Menschen, auch die klügsten und besten, denn wir Menschen können nicht sagen: Halte dich an mich, dann wirst du niemals fallen. Aber dieser Eine kann sagen: »Folge mir nach!« »Ich bin das Licht der Welt! Wer mir nachfolgt, wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.« Wenn wir den Meister fragen: Herr Jesus, wo finden wir denn nun den Grund, auf den wir uns verlassen können – dann verwandelt sich auf einmal sein Gesicht, eine Krone von Dornen schimmert darüber, seine Hände breiten sich aus, als wollte er uns umfangen, seine Gestalt ist erhöht, aber ein Marterpfahl erscheint, ein Kreuz, an dem er schwebt. Und wir sind ganz erschrocken und möchten am liebsten fliehen,
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so schrecklich ist das. Aber da hören wir, wie er sagt: »Es ist vollbracht«, das heißt: Seht, dies mein Sterben, das ist der Grund für euer Leben. Das heißt: damit hat Gott der Welt einen neuen Grund gelegt, wer an den glaubt, der wird leben. Und wir merken: dieser Lehrer hat uns nicht bloß den Weg gezeigt, nicht nur das Gute gelehrt; nein, er ist auch selbst das Gute, er schenkt sich uns, wir brauchen ihn nur zu nehmen. Und auf einmal sind die Zeugen da, die stehen alle um sein Kreuz und bekennen es laut vor aller Welt: Das ist der Grund, von Gott gelegt. Die laden uns ein und bitten uns: »Laßt euch versöhnen mit Gott!« Werdet wieder Freund mit Gott, dann braucht ihr keinen Feind zu fürchten. Es ist so, als ob Jesus Christus uns mit dem Wort »Es ist vollbracht« sagen wollte: So seht, jetzt ist der Grund gelegt, das ist das Fundament, das ist das Beste, das ist das Einzige, was ich euch tun kann, mehr als alle Menschen, mehr als alle Götter dieser Welt euch tun können. Ich gebe mich euch, ich schenke mich euch, ich bin das große Geschenk der Liebe Gottes für euch. Ich leide Schmerzen, damit ihr Freude habt; ich leide Not, damit ihr frei werdet; ich lasse mich binden, damit ihr gelöst werdet. Ihr lieben Konfirmanden, der Weg von den Füßen unseres Meisters Jesus Christus bis zum Herrn am Kreuz, der füllt das ganze Leben. Wir sind in unserem Unterricht ein Stückchen dieses Weges gegangen. Man kann ja als Kind noch nicht die ganze Fülle und Schwere dieses Weges begreifen, aber wir haben unseren Blick gerichtet auf den Mann am Kreuz; wir haben gesehen, längs der Straße, die wir geführt werden, steht der Gekreuzigte, ihn sollen wir verstehen, an ihn sollen wir glauben, an ihn sollen wir uns halten, er ist das Heil und das Leben. Und rings um den Gekreuzigten stehen die Apostel und Zeugen, die hat Gott selber hingestellt, und sie weisen hin und sagen: Hier ist der Friede. Und da hinein gehören wir alle heute, eure Eltern, die Ältesten unserer Gemeinde und ich selbst, alle als Zeugen, die von sich weg weisen auf den Mann am Kreuz und sagen: Er hat uns noch nichts Böses getan, er ist unser Halt gewesen in allen Stunden unseres Lebens, der Trost in unserer Verzweiflung. Als ob wir alle euch sagen wollten: Wir bezeugen es euch mit unserem eigenen Leben, wir machen euch nichts vor; das ist das Beste, was ihr habt in Zeit und Ewigkeit; als ob wir alle einstimmten in das Zeugnis der Apostel: das ist der Gekreuzigte, das ist das Geschenk Gottes, das ist die Gnade Gottes, die euch widerfahren soll. Ach, was ist das für eine fröhliche Stunde, daß wir es euch bezeugen dürfen ohne Falsch und Arg. Seht, wenn wir euch sagen würden: Wir sind gut, wir haben versucht, das Gute zu tun und haben es geschafft, wir sind mit eigenen Künsten vorangekommen, wir sind nie gefallen – das würden
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wir lügen. Aber wir bezeugen euch etwas ganz anderes, das Gegenteil; euch, die ihr jetzt hereintretet in das Leben und die harten Jahre des Lebens – wir bezeugen euch, daß der Mensch oft den Grund verliert, daß er oft zerbricht, auch wenn er Christ ist. Aber wir bezeugen euch auch das andere, daß Gott ihm einen Stab gegeben hat, der ihn hält, eine Kraft, die nicht zerbricht, ein Licht, das nicht verlöscht. Dieses Licht heißt Jesus Christus, er ist das Licht der Welt, wer ihm nachfolgt, der wird nicht verloren gehen. Es ist die Stunde unserer Untreue und der Treue Gottes, unserer Schwachheit und der Kraft Gottes, unseres Müdewerdens und des Wachseins Gottes. Gott gebe, daß auch vor euch und neben euch dieses Licht einhergeht, unwandelbar, und daß ihr es in einem langen Leben lernt, daß Jesus Christus das Beste ist. Er wird uns nie enttäuschen, er, dessen Hand wir ergreifen und bekennen: du hast uns die Treue gehalten. Ihr lieben Kinder, auch menschlich gesehen ist es eine frohe Stunde, laßt es mich noch zum Schluß sagen. Zum ersten Mal werden wir seit Jahren unseren Pastor Heuner unter uns haben, er wird euch selbst das Abendmahl reichen. Das ist wohl eine Stunde, da nach vielen Sorgen und Nöten der Jubel durch unsere Seele zieht, daß unsere Gemeinde nun nicht enttäuscht ist, daß wir nicht umsonst gebetet haben, nicht umsonst gehofft, daß er das Zeugnis seines Glaubens nicht umsonst abgelegt hat. Möchte er euch ein Vorbild sein, daß das höchste alles irdischen Gutes das Manneswort eines Christen ist. So gedenken wir auch der beiden Pastoren, die euch unterwiesen haben, die heute draußen stehen, des Pastors Scheck und des Pastors Stratmann. Sie werden mit ihren Gedanken bei euch sein. Wir gedenken der Väter unserer Konfirmanden, die auch draußen stehen vor dem Feind, insbesondere derer, die heute nicht unter uns sein können, ihre Gedanken weilen hier. Wir gedenken unseres Volkes und Vaterlandes, das in diesem schweren Kampf steht, dessen Hoffnung und Zuversicht ihr seid. Und wir bitten Gott, er möge unser aller Schicksal in seine Hände nehmen und er möge uns so führen, daß wir ihn preisen müssen.
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39. Es gibt kein Zurück Galater 2,15-21 14. Februar 1954
Wir sind von Natur Juden und nicht Sünder aus den Heiden; doch weil wir wissen, daß der Mensch durch des Gesetzes Werke nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesum Christum, so glauben wir auch an Christum Jesum, auf daß wir gerecht werden durch den Glauben an Christum und nicht durch des Gesetzes Werke; denn durch des Gesetzes Werke wird kein Fleisch gerecht. Sollten wir aber, die da suchen, durch Christum gerecht zu werden, auch selbst als Sünder erfunden werden, so wäre Christus ein Sündendiener. Das sei ferne! Wenn ich aber das, was ich zerbrochen habe, wiederum baue, so mache ich mich selbst zu einem Übertreter. Ich bin aber durchs Gesetz dem Gesetz gestorben, auf daß ich Gott lebe; ich bin mit Christo gekreuzigt. Ich lebe aber; doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich in dem Glauben des Sohnes Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dargegeben. Ich werfe nicht weg die Gnade Gottes; denn so durch das Gesetz die Gerechtigkeit kommt, so ist Christus vergeblich gestorben. Lassen Sie uns den letzten Satz, den wir soeben gehört haben, gleich festhalten und voranstellen. Er ist offensichtlich das Ziel, dem die schwierige Beweisführung des Paulus zustrebt. Er ist der Punkt hinter dem Ganzen. Das große Entweder-Oder, unter dem alles, was uns der Apostel zu sagen hat, steht: Denn wenn durch das Gesetz Gerechtigkeit käme, dann wäre ja Christus umsonst gestorben. Wenn – dann, sagt der Apostel: Wenn ihr recht hättet, wenn es eben doch einen Weg gäbe, über das Gesetz hinweg die Gerechtigkeit zu erlangen, wenn die Werke, die Anstrengungen und Bemühungen, die wir unter dem Ansporn des Gesetzes vollbringen, uns der Gerechtigkeit Gottes doch näher brächten, wenn das wirklich der Weg wäre, um gut zu werden, gut vor Gott, gut, nicht nur in unseren Augen oder in denen unserer Mitmenschen, sondern wirklich gut, in den Augen dessen, der Herz und Nieren prüft – wenn das wirklich so wäre, dann stünde das Kreuz umsonst auf Golgatha. Dann wäre der Tod Jesu Christi nutzlos. Dann wäre alles leer und fade, was wir von ihm, von diesem dort geopferten Christus sagen. Wenn beides möglich wäre, der Weg des Gesetzes
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und der Weg des Glaubens, der Weg unserer Taten und dieser einen großen Tat Gottes – dann wäre all das umsonst geschehen, was wir heute als unseren letzten Trost und als Gewißheit unseres Lebens und Sterbens verkündigen. Das will der Apostel sagen. Er will uns darauf hinweisen, was für Konsequenzen es mit sich bringt, wenn wir sagen: Ich glaube an Jesus Christus. Er will uns darauf verweisen, daß wir mit dem Bekenntnis zu Jesus Christus ein Land betreten, aus dem es kein Zurück gibt. Kein Zurück von Golgatha zum Sinai, kein Zurück von Jesus Christus zu Mose, kein Zurück von Paulus zu Petrus, kein zurück von Luther zu Kant. Das will er sagen. In dieser Sache geht es ums Ganze. Es kann gar nicht anders sein. Gott ist ein eifriger Gott, er duldet keine anderen Götter neben sich. Paulus möchte uns ganz und gar mit hineinnehmen – nicht etwa in die logischen oder auch theologischen Konsequenzen seiner Denkweise, sondern in die Konsequenzen der Denkweise Gottes. Um Gottes Wege geht es hier. An Gott um Jesu willen glauben, mit Gott in Jesus Christus zu tun bekommen, heißt unter Konsequenzen geraten, die nicht so einfach nach Ort und Stunde aufzulösen sind. Da kann man eben nicht heute liberal sein, wenn es gewünscht wird, und morgen orthodox, wenn die strengen Gemeindekreise es anders wünschen. Dann kann man eben nicht heute mit den Heiden essen und morgen den Juden zuliebe wieder die Absonderung wählen. Dann kann man nicht mehr ein geschickter Diplomat im schwarzen Rock oder ein stets gefälliger Theologe im Wandel des Zeitgeistes sein – nein, Gottes Konsequenzen liegen fest. Wer unter sie gerät, der ist gleichfalls festgelegt. Jeder, der den Jordan überschreitet, muß sein Schiboleth sagen. Wenn dein Schiboleth Gesetz heißt, dann bist du eben auf der anderen Seite. Mag das Gesetz in dir sein oder außer dir, magst du es begründen mit der natürlichen Offenbarung deines Gewissens oder mit dem, was da auf den Tafeln am Sinai geschrieben worden ist, mag es das Gesetz der Natur sein, das dich hält, dem du dich verschreibst, oder das Gesetz der Personalität, die Autonomie der freien, wenigstens angeblich freien Persönlichkeit – damit bleibst du immer noch diesseits, hast noch nicht das gelobte Land betreten, wo Gottes Herrlichkeit, wo seine Gerechtigkeit und Ehre wohnt, wo sie auf dich wartet. Darauf will der Apostel hinaus: daß wir begreifen: In Jesus Christus ist ein Entweder-Oder gesetzt, kein Sowohl-als auch. Hier kann ich nicht ein bißchen mitnehmen von meinem eigenen Tun und meinen eigenen Bemühungen, um es dann in seiner Unvollständigkeit auffüllen zu lassen von dem, was Gott uns in Jesus Christus getan hat. Nein, entweder Saulus oder Paulus. Entweder Pharisäer oder Zöllner. Entweder: Gott, ich danke
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dir, daß ich nicht bin wie andere Leute, Räuber, Mörder, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner da – oder: Gott, sei mir Sünder gnädig! Entweder wirklich leere Hände, Bettlerhände, die sich nach oben strecken, um zu empfangen, was Gott für den Menschen bereit hält; oder freier Wille und Entschlossenheit, sich selbst mit seinem Tun die Grundlage der eigenen Existenz zu sichern – hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Aber nicht beides. Nicht solche Menschen, die sich schämen, wenn sie nichts anderes vorzubringen haben als eben dies eine: daß Gott für sie seinen Sohn in den Tod gegeben hat. Und daß dies genügt – für Zeit und Ewigkeit. Nicht solche Leute, die Gesetz, Sittlichkeit, Ethik sagen, soweit sie meinen, es selbst zu schaffen – auf der einen Seite; und dann Christus sagen, Gottes Gnade, Vergebung angeben, wenn sie merken, daß sie an das Ende und die Grenze ihres Vermögens gekommen sind. Nein, wer Jesus Christus sagt, wer aus dem Glauben an ihn wirklich leben will, der tritt ganz und gar unter das Gericht, als der Mensch mit seinen guten und seinen verfehlten Taten, mit seinen Tugenden und mit seinen Schwächen – der muß erkennen, daß es Gerechtigkeit nur so gibt. Anders gesagt: daß es Gerechtigkeit nur hier gibt, in Jesus Christus; nur durch das Gericht über alles, was wir sind. Indem wir uns der großen göttlichen seligen Konsequenz unterziehen, die mit dem Tode Jesu Christi offenbar geworden ist. Indem wir das Sowohlals auch aus dem Sprachschatz unserer hin und her schwankenden Christlichkeit streichen und wirklich alles hinter uns lassen, um das Eine zu gewinnen, was not tut. Wem es hier nicht um alles oder nichts geht – um das, was wir Menschen Sittlichkeit und Religion nennen – auf der einen Seite, um das was die Bibel Gnade und Vergebung nennt – auf der anderen Seite, dem ist Christus umsonst gestorben. Das meint Paulus, als er sich dem Sog entgegenstemmt, der die Gemeinde in Galatien ergriffen hat und die nun beides können möchten und die sich dabei leider noch auf Petrus berufen konnten. Die Gemeinde in Galatien möchte so gern beiden recht geben; für die Gemeinde ist es immer schmerzlich, wenn sie plötzlich in das theologische Sperrfeuer gerät. Bei der Bekehrung – ja, da war ihnen die Predigt des Paulus von der Gnade Gottes, von der Gerechtigkeit allein aus dem Glauben wie eine Erlösung, wie eine Stimme aus der oberen Welt, die das Herz frei machte und sie ins neue Leben führte. Aber jetzt – nachdem sie nun einmal gläubig geworden sind, müssen sie da nicht erkennen, daß es doch nicht ganz falsch war, was sie aus ihren jüdischen Traditionen und Gesittungen mitbrachten? Die alte und die neue Kirche. Das Mittelalter und die Reformation. Rom und Wittenberg. Unsere evangelische Kirche vor 1933 und nach 1933. Es wird immer dasselbe sein. Eines Tages merkt man doch, daß es sich besser lebte bei den Fleischtöpfen Ägyptens als in der Wüste.
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Eines Tages spürt man doch, daß es gar nicht so leicht ist, Christus ein und alles sein zu lassen, alles andere zu verkaufen und ihm zu folgen, eines Tages melden sich dann doch neben dem großen Tag der Offenbarung, der Gnade, der wunderbaren Versöhnung und Vergebung aller unserer Schuld die Überlieferungen, das Alte, die Gewohnheit, das Sowohl-als auch von Glaube und Werk. Gnade, jawohl, Tod Christi, jawohl, wer möchte ihn missen? Aber daneben nun eben doch auch ein wenig von dem was wir tun können und was wir leisten. Zumal, wenn man sich vergleicht mit den Gottlosen, den Sündern, den Ungerechten – es kann doch nicht alles Pharisäismus sein, was aus dem Gesetz, aus den Werken des Gesetzes lebt. Ist das Christentum nicht selbst die sittlich-religiöse Offenbarung? Und eben das, was wir hier gelesen haben, ist das unverfälschte, das glaubwürdige Dokument, daß Paulus dazu Nein sagt. Daß er hier keinen Fortschritt, keine Entwicklung kennt. Jesus Christus ist unsere ganze Gerechtigkeit. In seinem Tod liegt unser ganzes Heil. Aber erst muß sicher stehen, daß wir unsere Gerechtigkeit Gott verdanken, Gott allein, der seinen Sohn für uns in den Tod gegeben hat. Dann kann und darf auch vom Gesetz die Rede sein, wenn das Entweder-Oder klar ist: Wenn durch das Gesetz Gerechtigkeit käme, dann wäre Christus umsonst gestorben. Wenn wir das erst einmal ins Auge gefaßt haben, wenn wir etwas begriffen haben von dieser männlichen Kraft und Entschiedenheit des paulinischen Nein, seines echten, seines in die Entstehungsurkunde des Christentums eingesenkten Protestantismus – dann werden wir uns wohl auch von ihm den Weg dahin führen lassen, den er hier mit einigen klaren, scharfen und genau formulierten Sätzen gebahnt hat. Er mutet in dieser Lage so an wie ein Steuermann, der starr seine Augen auf das eine Ziel gerichtet hat und über das Auf und Ab der Wogen, die das Schiff aus dem Kurs bringen möchten, hinwegschaut. Und dies Ziel heißt eben: Christus ist nicht umsonst gestorben! Es darf nicht sein, daß wir das Kreuz Christi entleeren, daß wir es wertlos, nutzlos machen. Es darf nicht sein, daß die Gnade ungültig wird. Entweder-Oder: Entweder kommt die Gerechtigkeit aus den Werken des Gesetzes, oder Christus, der gekreuzigte, der für mich dahingegebene Christus ist meine Gerechtigkeit. Eins oder das andere – aber unter keinen Umständen beides. Das ist Paulus. Das ist es, was man in der Sprache der Theologie die Rechtfertigungslehre nennt. So einfach ist sie – aber offenbar doch auch ungemein schwierig, sie ein Leben lang festzuhalten. Wie oft hat sich das wiederholt, was hier in Galatien begonnen hatte, dieser Rückfall aus dem Glauben in die eigene Leistung. Der Rückfall aus dem, was Gott an uns getan hat, in das, was wir uns zutrauen. Wie oft vollzieht er sich, nicht nur im großen Gange der Kirchengeschichte, son-
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dern in jeder einzelnen Gemeinde, in jedes einzelnen Menschen Leben. Es kommt für jeden Menschen einmal der Tag, da scheint es ihm nicht mehr genug zu sein, allein aus der Gnade zu leben. Da möchte er über den Tod Jesu, über das Wort vom Kreuz hinauskommen. Gott sei Dank darum, daß wir Paulus haben. Daß er hier Posten steht, daß er uns hier mit seiner unwiderleglichen Argumentation den Übergang unmöglich macht. Was ihr Übergang nennt, so sagt er, ist Abfall. Die Gnade Gottes in Jesus Christus hat ihre Konsequenzen; keine menschlichen, keine logischen und auch keine bloß theologischen, sondern göttliche Konsequenzen. Glaubensgehorsam heißt: daß wir uns den Konsequenzen Gottes unterziehen müssen. Daß wir hier eben nicht auf beiden Füßen hinken, daß wir nicht Gott und Abgott zusammen nehmen dürfen. Weil uns in Jesus Christus Gott begegnet, Gott in seiner überlegenen Gerechtigkeit, darum mußt du schon die Schuhe ausziehen, wenn du dies Land betreten willst, mußt die Mittel abtun, mit denen du dich durchs Leben schlägst – deine Werke, deine Leistungen, mögen sie noch so gut sein. Hier mußt du bloß und frei hintreten. Und nun meine ich, das könnte uns doch vielleicht Mut machen, uns von ihm das sagen zu lassen, was er damals seiner wankend und weich gewordenen Gemeinde in Galatien geschrieben hat. Und was seitdem immer wieder, nicht zum wenigsten in der Reformation und in den Auslegungen Luthers und Calvins zu den Kernsätzen unseres Bekenntnisses gehört hat: Schon der erste Satz, den wir gelesen haben, enthält die Erinnerung an eine Sache, deren Größe wir kaum ermessen können. Ich würde das am liebsten das menschliche Wunder am Evangelium nennen. Daß es nämlich hier heißt: Wir, die wir von Natur Juden sind und nicht Sünder wie die Heiden. Es gibt so viele Dinge in der Bibel, die uns am Menschen verzweifeln lassen könnten. So etwa, wenn wir uns da abgebildet sehen, als reichen Mann und als armen Lazarus, warum geht denn der reiche Mann nicht hinaus und holt seinen Bruder Lazarus zu sich herein? Jedenfalls, er tut es nicht und er wird es nicht tun. Warum freut sich denn der Bruder, der immer im Hause seines Vaters blieb, nicht mit, als der verlorene Sohn heimkehrte und sein Vater so glücklich war? Jedenfalls, er tat es nicht und er wird es nicht tun, solange die Welt steht. Warum sagt der Pharisäer nicht: Gott, sei mir Sünder gnädig, sondern dankt Gott für lauter Dinge, die vor Gott greulich und garstig sind? Jedenfalls, er tut das nicht und er wird es nicht tun, solange er nicht von neuem geboren wird. Warum muß denn der Hohepriester Jesus Christus an die Römer ausliefern, warum opfert er den einen Zeugen der Wahrheit für das Volk? Jedenfalls, er tuts und gibt dadurch sein Volk gerade dem Verderben preis. Das ist der Mensch, der gute, der reiche, der priesterliche Mensch. Kann man da nicht verzweifeln?
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Aber dann kommt das, was wir eben gelesen haben: Wir, die wir von Natur Juden sind – wir sind zum Glauben gekommen an Jesus Christus, damit wir gerecht würden, durch den Glauben an Christus und nicht aus den Werken des Gesetzes. Und da lernt man erst, den Menschen wieder lieb zu haben. Wissen wir, was ein Jude ist? Menschlich gesehen, ethisch gesehen ist er sicher das Höchste, was die Völkergeschichte kennt. Darum treffen sich auch meist die menschlichen Ideale mit dem Judentum. Man könnte meinen, die Heiden außerhalb der Gesetzesfrömmigkeit wären vielleicht dem sola gratia, der Gerechtigkeit aus Glauben näher. Aber nein, hier redet ein Jude. Die, die das bekennen, die welche die Rechtfertigung allein aus Glauben gegen alle Werkerei vor der Welt proklamieren, die welche das Kreuz Christi wirklich begriffen haben, Gottes Gerechtigkeit hier und nirgend sonst gefunden haben – sie sagen: Wir sind von Natur Juden. Wir legen alles nieder was unseren Ruhm und unseren Vorzug bedeutet und verkündigen Jesus, und diesen als den Gekreuzigten. Das sind die Juden. So stehen sie in der Gottesgeschichte, die zugleich Weltgeschichte ist. Die wahren Juden. Und wenn wir fast verzweifeln wollen über den Menschen, über den Abgründen und Gegensätzen, die wir zwischen uns aufrichten, und wir stoßen dann auf solche Menschen, dann atmen wir auf. Das ist wirklich das Wunder des heiligen Geistes, das Wunder der Gnade Gottes an seinem Volk für die Heiden. Sie, die Juden haben uns die Türe aufgetan, damit wir Gottes Gnade finden. Sie, ausgerechnet die Juden, haben die Welt herausgehoben aus dem Gefängnis der Werkgerechtigkeit, sie haben – durch die Berufung und Gnade Gottes – der Welt das Heil gebracht. Und zwar behaupten sie etwas Bestimmtes zu wissen und etwas mit Gewißheit zu glauben. 1. Sie wissen etwas vom Menschen. Sie wissen es aus der heiligen Schrift des alten Testaments. »Vor dir ist kein Lebendiger gerecht!« Die Juden kennen Gottes Gerechtigkeit. »Das macht dein Zorn, daß wir so gar aus sind«, das wissen sie aus der Schrift. Und daß alles Fleisch wie Gras ist und seine Herrlichkeit wie des Grases Blume. Und darum sagt der Apostel hier als das Gewisseste und Selbstverständlichste, daß aus den Werken des Gesetzes kein Fleisch gerechtgesprochen wird. Sie wissen das und setzen darum auf diesen Menschen, der Fleisch ist, nicht mehr ihr Vertrauen, ihren Glauben und ihre Gewißheit. Wir sind gläubig geworden an Jesus Christus, sagt Paulus, damit wir aus dem Glauben an Christus gerecht erfunden würden. Sie haben die Konsequenzen gezogen, sie haben das Gebiet verlassen, über dem Gottes Gericht steht – den Menschen, der Fleisch ist – und haben sich an Jesus Christus gehalten, damit sie gerettet würden. Sie haben verstanden, wenn Gottes Gerechtigkeit ausholen wird zum Gericht, wird kei-
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ner ihr entgehen, der seine Lebenswurzeln in seinem eigenen Dasein und Menschsein hat. Sie haben den Schnitt gehört, der von Gott her durch das Gras und all seine Herrlichkeit hindurchgeht. »Es ist ein Schnitter, der heißt Tod, hat Gewalt vom lieben Gott.« Sie haben gesehen, wohin man treten, nein, wohin man springen muß, um diesem Gericht zu entgehen. Sie haben alles hinter sich gelassen, was Gott richten könnte – ihre eigenen, ihre besten Taten, ihr ganzes ernstes hingegebenes Leben – und haben sich an den geklammert, den er nicht richten kann – an Jesus. Sie sind mitten in das Gericht Gottes hineingetreten, weil sie erkannten, daß dies Gericht Rettung ist, Leben, volle, ewige Gerechtigkeit. Eben damit, daß Paulus das sagt, daß er uns auffordert, unseren Standort dort einzunehmen, wo wir nichts anderes haben als eben Jesus Christus, und auch ihn nicht etwa als einen siegreichen Gott, sondern als einen zum Tode verurteilten, gerichteten, für uns getroffenen Menschen – eben damit löst er eine Frage aus, die überall aufbricht, wo immer die Gnade Gottes verkündet wird. Die Frage lautet etwa so: Aber dann ist es ja ganz gleich, was wir tun; ob wir Gutes oder Böses tun – ist dann einerlei. Wenn alle Menschen doch verloren sind, wenn sogar die Juden nicht besser sind als die Heiden, wenn selbst dieser Unterschied aufgehoben ist, dann können wir ja im Namen Christi tun, was wir wollen. Christus – ein Freipaß für die Sünde. Das kommt dabei heraus. Bis heute ist das ja der Vorwurf, den die römisch-katholischen Theologen Luther machen. Wir wollen diese Sache nicht zu leicht nehmen. Es gibt in der Tat diesen Abweg. Es gibt nicht nur den Abweg zur Rechten, es gibt auch einen zur Linken. Vielen Menschen ist in der Tat der Protestantismus die Form des christlichen Ethos, die uns die Gnade billig macht. Aber dabei haben wir Paulus nicht im Bunde. O nein, sagt Paulus. Wenn ihr mich so versteht, wenn das bei eurer Art des Glaubens herauskommt, dann kann ich nur sagen: mitnichten! Mitnichten machen wir Christus zu einem Handlanger des Bösen, der Laxheit, der Sünde. Wenn ich das, was ich eben aufgelöst habe, wieder aufbaue, dann erwiese ich mich ja als im Widerspruch mit mir selbst befindlich. Sünde ist ja genau das, was uns hindert, daß wir Gott gefallen, auch in unserem besten Leben. Auch da, wo wir das Gesetz erfüllen nach seinem Tatbestande, aber im Innersten eben doch Rebellen bleiben – Rebellen, die an die Kette gelegt sind, aber eben doch nicht Kinder, nicht solche, die das Gute in der Freiheit tun, nicht solche, die Gott wirklich suchen und seine Ehre. Nicht solche, die mit allen ihren Gesetzesbefolgungen, mit ihrer bürgerlichen oder auch ihrer antibürgerlichen Moral Gott meinen – sondern ihre eigene Gerechtigkeit. Dieses ganze System, das von seiner nomistischen wie von seiner antinomistischen, seiner bürgerlichen wie seiner re-
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volutionären Seite gottlos ist – das wollte ich aufheben. Das gerade ist ja hier von Gott gerichtet. Mit seinen Guten wie mit seinen Bösen. Mit seinen Tugenden wie mit seinen Lastern. Ich werde doch nicht etwa anfangen, die Sache nun von der anderen Seite wieder aufzubauen, die ich eben von meiner, von der positiven, von der scheinbar guten Seite her eingerissen habe. Wenn wir als Juden offenbar sind: als Sünder, als Verlorene, so bedeutet das etwas ganz anderes als was ihr nach eurem Verständnis außerhalb von Christus, ferne vom Kreuz darunter versteht. Es ist ein helles Licht von draußen über uns alle gefallen und in diesem Lichte haben wir gesehen, daß wir alle gleich sind, Gute und Böse, Juden und Heiden. Daß diese Unterschiede unter uns Bedeutung haben mögen, für die menschliche Gerichtsbarkeit, aber nicht für die göttliche Gerechtigkeit. Wo die erscheint – und sie ist eben erschienen in Jesus Christus – da gibt es keinen Unterschied. Da sind wir allzumal Sünder. Da zeigt sich, daß wir alle vor Gott nicht eins bringen können. Und nun geht Paulus noch einen Schritt weiter und sagt es so hart, wie sonst selten wieder: Ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben. Ich bin mit Christus gekreuzigt. Es gibt im Christentum einen Punkt, da kann man nicht mehr objektiv reden, da muß man – gerade um der Sache willen – subjektiv reden. Da muß man sagen, wie es um uns steht. Und indem Paulus das so sagt, da gibt es ein Echo bei uns allen, da, wo bei uns jene geheimnisvolle Größe sitzt, die wir Ich nennen. Es ist nicht leicht, verständlich zu machen, was Paulus damit sagt. Luther hat es einmal sehr schön deutlich zu machen gewußt: Wenn das Gesetz kommt, so sagt er, um den Schuldigen zu suchen – und er denkt dabei an jene schweren Stunden, in denen etwa ein Mensch über sein verfehltes Leben nachdenkt oder über eine Schuld, die er an anderen Menschen auf sich geladen hat oder gar so, daß das Gesetz mich trifft als Gottes Ruf, als seine unerbittliche Abrechnung – dann werde ich sagen: NN ist nicht hier. NN ist tot. Hier, in der Mitte meiner selbst, wo du mein Ich vermutest, da lebt Christus. Setze dich mit ihm auseinander. Er deckt mich. Wie es im Psalm heißt: Unter dem Schatten deiner Flügel habe ich Zuflucht. 2. Und jetzt erst wird es dem Apostel geschenkt, einmal vom Glauben, von diesem unserem Christenstande so zu sprechen, daß es in den nach ihm kommenden Jahrhunderten niemand besser sagen noch beschreiben konnte, was es heißt, ein Christ zu sein: Nun aber lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir. Man könnte es vielleicht übersetzen: das Lebenszentrum ist nicht mehr mein Ich, wie das bei aller meiner noch so bewunderungswürdigen sittlichen Leistung der Fall war; sondern da ist eine andere Mitte – Christus lebt in mir. Man hat versucht, den Apostel Paulus hier mystisch zu verstehen, aber ich glaube, es ist richtiger, wenn sich die
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Mystik von Paulus her verstünde als wenn wir Paulus aus der Mystik verstehen. Paulus will von Christus her verstanden sein. Er will uns sagen, daß wo immer wir auf ihn treffen, da geht es um Tod und Leben. Da endet meine Geschichte, die die Geschichte des Menschen ist und bleiben wird, der sich selbst sucht. Des Reichen, der den armen Lazarus nicht sieht; des Pharisäers, der nicht beten kann wie der Zöllner, dem das Bekenntnis seiner Schuld nicht aus des Herzens Tiefe kommt; des Priesters, der über den Herrn der Kirche zu Gericht sitzt, anstatt ihm zu Füßen zu fallen und mit ihm ins Leiden zu gehen. Dieses Ich, dieses stolze, gute, auf sich selbst gegründete, dieses im Gesetz so sichere, seiner selbst sichere Ich muß sterben. Ihm ist in Jesus Christus die Axt an die Wurzel gelegt. Vor seinem Kreuz kann dieses Ich nicht leben. Hier wird es offenbar in seiner ganzen schäbigen und innerlich leeren Tugendhaftigkeit. Es muß eine andere Mitte meines Lebens gesetzt werden. Genau da, wo dieses Ich bisher stand, wo es alles verkehrt gehen ließ, was die Hand oder der Mund, was Gedanke und Tat versuchten – genau an diese Stelle will Jesus Christus treten, als dein besseres, dein neues Ich. Jesus als die große Barmherzigkeit Gottes will die neue Mitte unseres Lebens werden. Jesus will nichts Äußerliches, nichts Geschichtliches, nichts Historisches sein, er will seine Wohnstatt in der Mitte meines Lebens einnehmen. Dort soll ich seinen Namen tragen, wie einen Fingerring; dort soll sein Reich sein, so will er mich behüten, mich behüten vor mir selbst in meiner eigensten innersten Mitte. Seine Geschichte ist meine Geschichte geworden; wenn ich ihn sehe, wenn ich von seinem Leiden und seiner Auferstehung höre, dann höre ich die Geschichte von Gottes großer, mich für Zeit und Ewigkeit in sich einschließender Gerechtigkeit. Hier in seinem Reiche, im Reiche dieses Königs, der die Dornenkrone trägt, gibt es keine Macht der Sünde mehr und keine Grausamkeit des Todes. Hier hat die Hölle ihre Macht verloren. Hier ist nichts als Gott und seine Gnade, seine dem sündhaften, dem verlorenen Menschen zugedachte Gnade. Aber gewiß, ich muß ja noch in dieser Welt, in der Zeit in diesem Leben leben. Wie das zugeht? Auch das beantwortet Paulus. Und daran, wie er das beantwortet, sieht man, daß er eben kein Mystiker ist. Jetzt darf eben doch von meinem Ich die Rede sein: Was ich aber lebe, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und der sich für mich dahingegeben hat. Es gibt ein Leben – auch hier, auch jetzt; ein Leben, das den Tod im Rükken hat; ein neues, ein freies, ein nun wirklich zu allem Großen und Tüchtigen entschlossenes Leben. Christ sein heißt nicht etwa als ein Sterbender durch die Welt gehen; genau das nicht. Sondern als einer, der am Tode gelernt hat zu leben. Eben nicht mehr aus sich, wohl aber aus dem Glauben
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an den, der uns geliebt hat, Jesus Christus. Aber noch mehr: Hier darf es nicht nur, hier muß es jetzt heißen: ich glaube. Nicht »es lebt in mir«, nicht »ich fühle«, nicht »ich empfinde und erfahre ein neues Leben«. Das Neue ist der Glaube; er ganz allein. Aber: Ich glaube. Der Glaube hat einen Mund bekommen, der ihn bekennt; einen Geist, der ihn begreift; ein Herz, in dem er aufs neue Fleisch wird, Mensch wird; das heißt der im Ringen mit all unserer Schwachheit und Unkraft neu sich erhebt als Sieger und als Ruf der großen Freude hinein in unsere so tief betrübte, so verzagte, so unter die falsche heuchlerische Gesetzesfrömmigkeit geknechtete Welt. Ich mache die Gnade Gottes nicht zuschanden. Eigentlich sollte man sagen: Diese Setzung Gottes, die er mit Jesus Christus, mit seinem Tod und seiner Auferstehung getroffen hat, hebe ich nicht auf. Was haben wir daraus gemacht? Wir haben Gottes Gerechtigkeit mit unseren sehr brüchigen, sehr wenig guten und beständigen Taten identifiziert. Wir haben der Welt vorreden wollen, das – dieses unser sogenanntes frommes Leben – sei die Erscheinung von Gottes Gerechtigkeit; und sie, die Welt, liege in der Ungerechtigkeit. Das war unsere Schuld. Gottes Gerechtigkeit ist in Jesus Christus, in seinem Kreuz und in seiner Auferstehung aufgegangen über aller Welt. Das ist Gottes Setzung, Gottes Thesis. Die hebe ich nicht wieder auf. Denn wenn die Gerechtigkeit aus dem Gesetz käme, dann wäre Christus umsonst gestorben. Nun aber ist am Tage, daß Christus nicht umsonst gestorben ist. Die Welt ist wirklich erlöst, die Sünde ist wirklich gerichtet und der Tod ist wirklich seiner Macht entkleidet. Die Frage, die bleibt, die Bitte, die offen bleibt, ist die: Daß uns – jedem für sich – daß er für ihn nicht umsonst gestorben sei! Daß wir uns alle dem großen Entweder-Oder Gottes, dem sola gratia und dem sola fide unterstellen sollten. Daß der Tod Christi auch für uns den Tod bedeuten sollte, den Tod jener Welt; und jenes Lebens, das aus den Werken des Gesetzes gerecht sein wollte und darum den Namen Leben nicht verdient.
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40. Wahr in der Liebe – hineinwachsen in das Haupt Epheser 4,15-16 30. Mai 1954
Lasset uns aber rechtschaffen sein in der Liebe und wachsen in allen Stükken an dem, der das Haupt ist, Christus, von welchem aus der ganze Leib zusammengefügt ist und ein Glied am andern hanget durch alle Gelenke, dadurch eins dem andern Handreichung tut nach dem Werk eines jeglichen Gliedes in seinem Maße und macht, daß der Leib wächst zu seiner selbst Besserung, und das alles in der Liebe.
I. Es geht uns immer wieder seltsam mit der Heiligen Schrift und den vielerlei Sprüchen, die in ihr zusammengetragen und aufbewahrt sind. Sie bedeuten uns nicht zu allen Zeiten dasselbe. Die meisten Worte und Sätze in ihr liegen lange, lange Zeit im Dunkel, als ob gar nichts Besonderes an ihnen wäre, und die Menschen, auch die, die sich auskennen in der Heiligen Schrift, auch die Theologen und Prediger, gehen über sie hinweg, ohne darauf zu achten, was sie vielleicht sein können. Sie machen immer neue Versuche, diese Sprüche zu erklären, sie zu verstehen und sie aus dem Zusammenhang des Ganzen auszulegen. Das ist auch alles ganz in der Ordnung. Bis auf einmal der Tag kommt, da ein Spruch unter vielen anderen aufleuchtet, bis der Tag kommt, von dem man sagen könnte, das ist sein Tag, für diesen Tag und die in ihm zu treffende Entscheidung ist er hier geschrieben. Dann steht er auf einmal in einem ganz neuen Glanz, den wir vorher nie bemerkt haben. Es ist dann so, als ob Gottes ganze Wahrheit in diesem Spruch zusammengefaßt würde, im Unterschied zu allem, was daneben steht, hinweist und uns zeigt, daß wir uns daran halten sollen. Wir wissen dann auf einmal, daß er Gottes Weisung und Befehl in einer ausgezeichneten Weise in sich birgt. Wir werden ihn dann hören und lesen wie nie zuvor. Wir wissen dann, daß Heil und Unheil, der rechte und der falsche Weg, Finsternis und Licht, sich an diesem Spruch scheiden. Ein
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solches Gotteswort wird dann für uns wie ein Anker, an dem wir uns halten dürfen. Mitten in der stürmischen See ein Anker, der in einer unergründlichen Tiefe ganz fest ruht, so daß ihn niemand und nichts von dort losreißen kann. Der Spruch, den wir heute miteinander gehört haben, hat diese Bedeutung im Leben unserer Kirche gewonnen. Wir selbst sind sozusagen die Mitlebenden, die Zeugen, die das mit ihren Augen gesehen und mit ihren Ohren gehört haben, wie hier auf einmal ein Wort Gottes heraustritt, das uns getroffen hat wie ein Befehl, das uns nüchtern und wach macht, das uns zeigt, daß die Nebel zerrissen sind, in denen damals das Schiff unserer Kirche trieb. Man muß dieses Wort in seinem Zusammenhang einmal hören, dann wird man es viel leichter verstehen. Da heißt es so: »… daß wir nicht Kinder wären, hin und her geworfen von jedem Wind der Lehre, nach der Lenkung der Menschen in Arglist, wie es da geschieht, wo der Irrtum die Methode abgibt« (v.14), sondern laßt uns wahr bleiben in der Liebe und wachsen an ihm, in allen Dingen, der das Haupt ist, Christus, von dem der ganze Leib zusammengehalten wird. Nicht wahr, wenn wir diese beiden Sätze gegeneinander halten, die Gefahr, vor der wir gewarnt werden, und der rechte Weg, zu dem wir gerufen werden, dann verstehen wir schon, warum sich damals dieser Spruch den Herzen der bedrängten und angefochtenen Theologen und Christenmenschen einprägte, die sich vor 20 Jahren hier in Barmen zusammenfanden, weil sie die feste Gewißheit hatten, daß unsere Kirche drauf und dran war, den rechten Weg zu verlieren. Genau das eben war es, daß eine neue Lehre, eine neue Weltanschauung, wie man damals sagte, in unserem Volk aufbrach, daß sie mit Sturmesgewalt um sich griff, die Herzen und Köpfe der Menschen erfüllte, bezauberte, und daß nun auch das Schiff der Kirche mit hineingerissen wurde in diesen Strudel und in dieses Auf- und Abgewoge der neuen Lehre, womit die Menschen glaubten, ihr Schicksal steuern zu können, und daß doch viele unter uns ahnten und empfanden, daß hinter dieser ganzen Sache nichts war, daß man wirklich von dem Ganzen sagen konnte: ist es gleich Irrtum hat es doch Methode. Daß hier eine Allgeschäftlichkeit und Arglist der Menschen am Zuge war, unter Benutzung der modernen Technik der Massenführung, der Presse, des Rundfunks und des neu aufkommenden liturgischen Stils in den politischen Versammlungen und in der politischen Meinungsbildung, wie wir ihn so in Deutschland noch nicht erlebt hatten, und dies alles nun einbrechend über das Schifflein der Kirche Jesu Christi in Deutschland, die Steuerleute standen auf und meinten, es sei so das Beste, mit dem Strom zu fahren, es sei etwas Neues und Großes geschehen, man müsse sich jetzt dem Wind der Zeit überlassen, es sei unmöglich, da-
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gegen anzugehen – und jedesmal, wenn irgendwo ein treuer Hirte seiner Gemeinde sonntags die Kanzel bestieg, wenn er das alte Buch der Heiligen Schrift aufschlug, und das Wort des Lebens, das darin aufgezeichnet ist, ihm Auftrag und Verkündigung wurde, dann brach dies alles zusammen, was da an Gewoge und Begeisterung über die Köpfe der deutschen Menschen hinweg stürmte, und enthüllte sich als nichtig und leer und als Lüge und Verführung. Was sollten wir da tun? Wohin sollten wir da gehen? Es war so, als ob die meisten Menschen meinten, eine neue messianische Zeit sei angebrochen, Jesus von Nazareth sei nicht mehr der, dessen Kreuz und dessen Auferstehung, dessen Wort und dessen Befehl das Ganze unseres Lebens trüge, ein neuer Messias sei unter uns aufgestanden, der unmittelbar, artgemäß zum Herzen unseres Volkes redete, ein Gesandter Gottes, der uns jetzt führen würde, so ähnlich wie Mose das Volk Gottes einmal geführt hatte, mitten hindurch durch das Rote Meer in das Land der Verheißung. Es hat damals angesehene Theologen, Professoren und Pfarrer, Gemeinschaftsprediger und schlichte Christenmenschen aus unseren Gemeinden gegeben, die so etwas dachten und empfanden, die der Meinung waren, daß die Kirche sich ja doch diesem großen Strom der Ereignisse nicht entziehen dürfe, sie müßte sich jetzt auf das Gesetz und das Gebot der Stunde besinnen, die über das deutsche Volk hereingebrochen sei, sie müßte sich neu ordnen und gestalten, das erst würde die Einheit und die Kraft einer neuen Nationalkirche ausmachen, ein Volk, ein Reich, ein Führer, ein Glaube. Und eben das war die Stunde, in der tiefen Anfechtung, da das Wort, das wir eben gehört haben, heraustrat aus der Reihe, da es zu leuchten anfing, wie es noch nie geleuchtet hatte, da wir wußten, das ist Weisung und Befehl des lebendigen Gottes. Und so ist dann dieses Wort herausgetreten und hat uns getrost gemacht und gewiß in dem Nein gegenüber den verführerischen Stimmen, die da meinten, wir würden auf der Hochflut jener Tage einer großen und bedeutsamen Zukunft entgegen gehen, auch einer großen und bedeutsamen Zukunft unserer Kirche.
II. Denn die erste Frage, die dieses Wort an uns stellt, war die Frage nach der Wahrheit: »Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich für die Wahrheit zeuge; wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme.« Die ursprüngliche Übersetzung unseres Textes stellt dieses Wort der Wahrheit
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ganz an den Anfang. Seid rechtschaffen in der Liebe bedeutet soviel wie: es kommt alles darauf an, daß ihr da, wo ihr liebt, wahr seid. Wenn ihr glaubt, ihr könntet der Kirche oder dem Vaterland mit einer Lüge, einer List, vielleicht einer sehr großartigen Methode der Massenverführung helfen, dann seid sicher, daß ihr damit den Weg verlassen habt, den euch Jesus Christus mit seinem Zeugnis und seinem Bekenntnis vor Pontius Pilatus gewiesen hat. Liebe, die die Prüfung der Wahrheit zu fürchten hat, ist keine Liebe, dient nicht dem Nächsten, hilft ihm nicht in seiner Not, ist vielleicht ein Pflaster auf seine Wunden, so daß er den Schmerz nicht so fühlt, aber es ist nicht eine echte Heilung der Krankheit des Lebens. Als Gott kam, um uns seine Liebe zu erweisen, hat er sie uns erwiesen ganz anders, als wir es uns dachten, in seinem harten Gericht über die Sünde, in einem Erweis und Aufdecken der tiefen Wahrheit, daß unsere Werke nichts sind, daß wir alle nichts denn Zorn verdient haben, und daß in seinen Augen die Frommen nicht besser sind als die Zöllner und Gottlosen. Die Liebe Gottes, die uns in Jesus Christus begegnet, zwingt uns, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, der Wahrheit über uns Menschen, über uns arme, verlorene, sündhafte und schwache Menschen. Freilich, es ist immer wieder so gewesen, daß wir meinten, die Liebe Gottes müßten wir etwas liebenswürdiger, toleranter, humaner, etwas freundlicher den Menschen darstellen. Aber alle Abstriche, die wir dann bei der Wahrheit gemacht haben, nur um den Menschen zu gefallen, um nicht gar so weltverneinend, so negativ dazustehen, alle diese Abstriche erwiesen sich als die Aufhebung der Liebe Gottes selbst. Die Wahrheit und die Liebe Gottes können nicht voneinander getrennt werden, wer das eine will muß das andere auf sich nehmen. Wir müssen schon unser eigenes Kreuz auf uns nehmen, wenn wir den Weg der Liebe Gottes gehen wollen und ihr nachgehen wollen. Und eben das ist das Erste und heute, rückwärts gesehen, das tief Überzeugende an der Entscheidung, die uns damals zuteil wurde. Das Wort Gottes hat recht behalten, das Wort aus dem Epheserbrief, das wir so bis dahin nicht erlebt und in dieser Tiefe nicht erfahren hatten. Was ist nun mit all der anderen Liebe geworden, auf die man sich damals berief, mit der Liebe, die, wie man meinte, man dem eigenen Volk schuldete, mit der Liebe, aus der heraus so viele damals die Wahrheitsfrage hintenan stellten, um erst einmal die Botschaft des Evangeliums, wie sie meinten, in die Reihen der neuen Volksbewegung hineintragen zu können, mit der Liebe, mit der sie glaubten sich opfern zu müssen, ihre Überzeugung, alles das, was sie einmal als wahr erkannt und gelernt hatten, opfern zu müssen, um das Neue aufzunehmen. Was ist aus der Liebe geworden? Sie ist nichts anderes gewesen als die schwache, menschliche Liebe, die nachgibt, mitgeht, die
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nicht den Mut und die Kraft findet, Nein zu sagen um der Wahrheit willen. Nicht wahr, jetzt verstehen wir es leichter und besser, was dieses harte Wort meint, und wir haben ja in der schrecklichen Schule, die wir aus Gottes Erziehung hinter uns haben, genug Grund, seinem Wort recht zu geben. Es geschieht nicht oft in der Weltgeschichte, daß Gott so schnell die Zeichen auf sein Wort folgen läßt: ein geschlagenes Land, eine ausgelöschte tausendjährige Geschichte, eine innerlich bis auf den heutigen Tag zerrissene Kirche, eine auf der Walstatt des Krieges verblutende junge Mannschaft, eine Ratlosigkeit auf der ganzen Welt, die nun zurückfinden soll in Frieden und Gerechtigkeit. Das ist die Frucht dessen, daß wir damals nicht in der Klarheit und in der Breite es begriffen und getan haben, was hier steht: Seid rechtschaffen in der Liebe, gebt nicht die Wahrheit preis, wenn es um die Liebe geht; die Liebe, die nicht aus der Wahrheit ist, ist keine Liebe, und die Bewegung, die sich das Leben vortäuscht, die nicht aus der Wahrheit ist, ist kein Wachstum, sondern ist Untergang und Auflösung. Sondern, so lesen wir weiter, laßt uns wachsen in allen Stücken an dem, der das Haupt ist, Christus. Eigentlich heißt es, laßt uns in ihn hineinwachsen. Die Bewegung und das Wachstum der Kirche ist also wohl nicht dadurch bestimmt, daß dieser oder jener Wind der Zeiten über die Gefilde unseres Lebens streicht, weder der Westwind noch der Ostwind, weder der Aufbruch des nordischen Menschen, noch die Stunde des Proletariats. Sie verheißen uns immer wieder Wachstum, diese Winde, aber in Wirklichkeit trocknen sie uns aus, in Wirklichkeit erstarren wir unter ihrem eisigen Hauch. Die Kirche kann nur wachsen in ihr Haupt hinein. Sie kann nur gleichgestaltet werden dem, der als ihr Haupt die wahre Gestalt, die vollkommene Gestalt ihres Lebens darstellt. Man könnte vielleicht sogar sagen, es gibt keinen größeren Wahn, als wenn jemand der Christenheit einreden möchte, daß sie über ihr Haupt hinauswachsen sollte. O, es gibt solche Einreden, und es hat sie ganz gewiß auch damals schon gegeben, als der lebendige Herr unter den Seinen, mitten unter seinen Jüngern lebte. Darum sagt er ja doch auch zu seinen Jüngern, »der Knecht ist nicht größer als sein Herr«. Das will doch heißen, die Knechte sollen sich nicht einbilden, daß sie es fertigbringen werden, das Wachstum des Reiches Gottes in dieser Welt besser und vollkommener einzurichten und zu organisieren, als es ihrem Herrn gegeben war. Es mußt dies eine uralte Versuchung sein und fast in jedem Brief, den dann später die Apostel an ihre Gemeinden schrieben, müssen sie diesen Übermut und diesen Optimismus ihrer jungen Gemeinden dämpfen. Man denke nur einmal daran, was Paulus mit seiner Gemeinde in Korinth erlebt hat, als diese plötzlich entdeckt haben wollte,
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daß man das Christentum in der damaligen Welt griechischer Bildung viel besser an den Mann bringen könne, wenn das Ärgernis des Kreuzes nicht so in den Mittelpunkt gestellt würde, und aus Jesus Christus lieber einen großen Weisen machte, der vollkommene Weisheit und Erkenntnis brächte, als die Menschen dadurch abzuschrecken, daß man sie unvermittelt vor den Gekreuzigten stellt. Schon damals hat man sich das Wachstum der Kirche über das Haupt hinaus gedacht. Schon damals hat man gemeint, Jesus sei vielleicht der Anfänger, aber sicher nicht der Vollender unseres Glaubens. Schon damals hatte man vergessen, daß der Körper, also der Leib, sein Leben vom Haupt her hat, sein Wachstum vom Haupt her empfängt, daß er nichts ist ohne das Haupt, und daß der, der das Haupt ist, nun eben wirklich der ist, der das Leben aus dem Tode empfängt, und die Gnade aus dem Gericht und die Heimkehr zum Vater aus dem Exil, und das Licht daraus, daß er sich nicht gescheut hat, den Weg des Gehorsams zu gehen bis in die Nacht der Gottverlassenheit hinein. Man könnte auch sagen, was hier heißt Wachstum in das Haupt hinein, das kann mit einer sehr einfachen Sache umschrieben werden, das heißt nämlich, daß wir uns in den besonderen und entscheidenden Stunden des Evangeliums von Jesus Christus nicht schämen. Daß wir die Behauptung nicht preisgeben, die mit diesem Evangelium von Gott her erfolgt ist und die wir nicht ändern können, die Behauptung, daß Jesus Christus, der den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit ist, als der Gekreuzigte für uns Gottes Kraft und Gottes Weisheit ist. Das ist vielleicht der große Unterschied zwischen der Zeit von damals und der von heute, der Zeit von Barmen 1934 und der Welt von heute, wo wir in der gleichen Stadt das Gedächtnis von Barmen begehen. Wir meinen, es gäbe einen solchen Friedensschluß zwischen dem Christentum und der Welt, bei dem dann noch die Reiche dieser Welt mithelfen, und währenddessen haben wir das Ärgernis, haben wir das Gericht und die Gnade Gottes über den Sünder, haben wir den, der das Haupt ist, eben dieses mit der Dornenkrone gekrönte Haupt hinweggetan und behaupten uns selbst an dessen Stelle, behaupten uns selbst als Christenmenschen im Unterschied zu allen anderen Menschen, behaupten uns selbst als christliches Abendland im Unterschied zum Christus-fremden Osten, wie wir sagen, behaupten uns selbst mit allerlei christlichen Prädikaten, nur das eine fehlt, das Haupt, das Gott gesetzt hat, das eine Prädikat fehlt, in dem wir Gott gefallen: »Er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir würden die Gerechtigkeit Gottes in ihm.« Das »in ihm« fehlt heute, anstelle dessen heißt es immer: er in uns. 1934 in Barmen, da haben wir wirklich nichts mehr von uns gehalten, da haben wir uns nur an
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das Haupt gehalten, da waren wir nichts als Glieder, da hatten wir in dieser Stunde der Not und Bedrängnis alle Gemeinden aufgerufen, sich in allen Stücken an das Haupt zu halten, auch in politischen, weltanschaulichen, und an diesem Haupt alles andere zu prüfen. Heute möchte man manchmal meinen, es hätte sich alles umgekehrt, das Haupt müsse sich an den Leib halten und der Leib wäre zu der Überzeugung gekommen, daß ohne ihn, ohne den Leib, ohne diese konkrete, sichtbare Darstellung der Herrschaft Jesu Christi auf Erden das Haupt gar nichts wäre, gar nichts könnte, gar nichts bedeutete. Darum ist uns dieser Spruch heute vielleicht nützlicher, hilfreicher, als er es uns je war, als wollte er uns sagen: Habt ihr damals nicht die letzte, größte Wahrheit Gottes gefunden, warum kehrt ihr heute alles um? Das Haupt, das unsichtbare Haupt, das Haupt, das im Himmel ist, das regiert den Leib, und der Leib ist nichts ohne das Haupt. Ihr aber seid heute nahe daran, zu meinen, das Haupt sei nichts ohne den Leib und darum müßtet ihr die Kirche pflegen und sie zum Gegenstand des Glaubens machen – Glaube an die Kirche, aber nicht mehr Glaube an Jesus Christus, der ihr Haupt ist. Darum auch kein Wachsen in das Haupt hinein, sondern, so schrecklich das auch ist, ein Wachsen über das Haupt hinaus. Die Zeit, da er auf Erden wandelte, die Zeit, da sich Zwei oder Drei in seinem Namen versammelten, die Zeit, da sie seine Schwachheit trugen und gezeichnet waren mit dem Zeichen des Kreuzes – sie liegt nun weit hinter uns, wir sind reich geworden, wir sind weise geworden, wir sind nahe daran, die Gottesherrschaft und die Weltherrschaft in eins zu setzen.
III. Wo das Haupt aber nicht mehr das Haupt ist, da muß der Zerfall eintreten, da muß ein Glied wider das andere sein, da muß sich jedes Stück am Leibe schließlich selbst als die Hauptsache fühlen. Und so kommt es denn zum großen Zerfall, zur Zersplitterung der Christenheit, trotz aller Bemühungen um die Einheit, so kommt es dahin, daß nun menschliche Namen und Häupter zur Parole werden, um die man sich sammelt, ob das Luther ist oder Calvin, ob es Wesley ist oder Zinzendorf, ob es Rom ist oder Canterbury, Namen von Menschen und Namen von Reichen oder Städten – sie alle sind nicht der eine Name des einen Hauptes. Wir haben auch das erlebt, meine Freunde. Kaum war die Bedrängnis vorüber, da hörten wir auf, eins zu sein, im Glauben, in der Liebe und in der Hoffnung. Wir hörten auf, eins zu sein als Brüder und Glieder des Auferstandenen. Wir hörten auf, uns als Bürger jenes Reiches zu wissen, das der Tod nicht überwinden
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kann. Vergaßen unsere himmlische Bürgerschaft, um zunächst einmal wieder den Standort zu suchen, in unserer irdischen Heimat, insbesondere, wie man so sagte, in unserer irdisch-kirchlichen Heimat. Und nun fingen wir an zu überlegen, wie man wohl aus vielen Konfessionen eine Kirche schaffen könne, was man wegtun und was man hinzutun könnte, nicht mehr das eine Haupt, sondern die eine Lehre trat an die Stelle, von der aus die Kirche als Einheit zusammengehalten werden sollte, aber jede der verschiedenen Kirchen meinte, ihre Lehre an diese Stelle setzen zu müssen. Hier aber lesen wir es ganz deutlich geschrieben, daß der ganze Leib zusammengehalten wird, daß der ganze Leib sein Wachstum und seine Ordnung bis in die einzelnen Glieder darin hat, daß das eine Haupt da ist und daß man nicht an die Stelle des einen unsichtbaren Hauptes andere sichtbare, stellvertretende Häupter oder Behauptungen stellen kann. So allein wird es möglich sein, wird es auch möglich sein im Hinblick auf jene große Zusammenkunft, die die Christenheit in diesem Jahre im Hinblick auf die christliche Hoffnung vollziehen wird, zu sagen und zu bekennen: ein Name und ein Haupt, »wie wir auch berufen sind zu einerlei Hoffnung unserer Berufung, ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater unser aller, der da ist auch über euch allen und durch euch alle und in euch allen« (v.4-6). Alles dies wird uns gegeben und geschenkt werden, wenn wir begreifen, daß das Wachstum und die Einheit des Leibes nicht eine Funktion des Leibes ist, sondern des Hauptes, das über dem Leib steht, von dem der Leib her lebt und ist und nachgezogen wird, dahin, wo das Haupt bereits regiert und lebt in Ewigkeit.
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41. Der letzte Feind, der aufgehoben wird, ist der Tod 1 Korinther 15,26
Die Schrift nennt den Tod einen Feind. Allen denen zum Trotz, die gerade das nicht wahrhaben wollen, die alle Beredsamkeit aufwenden, um aus ihm einen Freund und Erlöser zu machen. Wie gern glaubt der Mensch solcher Rede! Wie eifrig und findig ist er bei ihrer Begründung! Wie leicht gleitet auch die christliche Rede über den Tod dahin ab! Und doch macht die Schrift durch alle diese Umdeutungen und Beschönigungen des Todes einen Strich. Nein, sagt die Schrift, laßt euch nicht irre machen, es ist etwas Richtiges daran, wenn alles Leben vor dieser Macht, genannt Tod, erschrickt und zittert. In der Gestalt des Todes naht dem Leben der Feind, der größte, der mächtigste, furchtbarste, den es auf Erden gibt. Es ist nicht wahr, was man euch einreden will, daß Tod und Leben im Grunde eins seien, daß alles Sterben nur ein Übergang, ein Wechsel, ein Gestaltwandel sei, daß es lediglich darauf ankomme, die Todesfurcht dem Menschen zu nehmen, und daß es gleich sei, ob man sich dazu dem verwegenen Leichtsinn oder der stoischen Gelassenheit in die Arme wirft. Wahr ist vielmehr, daß der Mensch erst einmal dazu erzogen werden muß, der Todesfurcht standzuhalten und nicht in irgendwelche Verharmlosungen und Umdeutungen des Todes auszuweichen. Wahr ist vielmehr, daß die Schleier hinweggenommen werden müssen, die menschliche Deutekunst und Schönfärberei über den Tod gebreitet haben, damit wir ihn so zu sehen bekommen, wie er ist, damit wir einmal dahinterkommen, wer der ist, der mit geschlossenem Visier durch die Lande reitet. Wahr ist vielmehr, daß der Tod erst einmal mit dem rechten Namen genannt werden muß, damit ein jeder erkenne, wer sich in dieser Rüstung verbirgt: Kein Freund, kein Erlöser, kein Retter, kein Tröster, sondern der Feind, der letzte und ernsteste Feind, der dem Menschen entgegentritt. Denn die eigentliche Macht des Todes liegt in seiner Verborgenheit. Wenn er offenbar wird, wenn er sein Visier aufklappt und wir seiner ansichtig werden, sind wir ihm längst verfallen. Wir merken es gar nicht, wenn wir uns ihm verschreiben. Wir spüren es nicht, wenn er über uns Macht gewinnt. Wir wissen nur, wenn er ruft, gibt es keine Widerrede; gegen das Sterben ist kein Kraut gewachsen. Alle, die nur je auf dieser Welt
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die Lust des Lebens gekostet, die die Freude am Dasein genossen haben, gehören ihm. Das Reich, das wir Leben nennen, ist sein Reich, und der Eintritt ins Leben ist der erste Schritt über die Schwelle des Todes. »Ein Mensch, sobald er geboren, ist er alt genug zum Sterben.« Das ist die Täuschung, mit der der Tod den Menschen fängt. Und noch niemand ist es gelungen, rechtzeitig davor zu warnen. Wenn sie uns aufgeht, sind wir ihr schon erlegen. Denn der Tod bezaubert uns in der Gestalt des Lebens. Es ist so gefügt, daß die Erkenntnis, die dem Tod seine Macht nehmen könnte, immer zu spät kommt, so spät wie die Reue, die der Übertretung auf dem Fuß folgt. Zu spät kommende Erkenntnis verschärft aber nur die Not und Verzweiflung. Oder was nützt es dem Menschen, wenn er erkennen muß, daß es seine Schuld ist, die ihn hier bindet? Die Erkenntnis des Todes, auch die tiefste und gründlichste Erkenntnis seines Wesens, macht uns nicht frei, sondern steht selber unter dem Todeszeichen. Ja, wenn wir leben könnten, ohne uns ans Leben zu klammern, wenn wir so leben könnten, wie uns Sehnsucht und Reue noch eine Ahnung, noch einen Schimmer dieses wahren Lebens geben können –, wenn Gottes Wort uns das Leben wäre, wenn wir eher das Leben ließen als seinem Worte mißtrauen, wenn wir über unser Tagewerk schreiben könnten, was einer, der anders lebte als wir, darüber gesetzt hat: »Meine Speise ist die, daß ich tue den Willen des, der mich gesandt hat«, wenn wir nicht allesamt so gebaut wären, daß wir die Übertretung des Willens Gottes überleben, den Verrat an seinem Wort spurlos überleben könnten, wenn wir nicht alle die seltsame Feststellung an uns machen würden: wir sterben, wenn wir kein Brot haben, aber wir sterben nicht, wenn wir Sünde tun, im Gegenteil, dann leben wir scheinbar erst recht auf – wenn Gottes Wort uns das Leben und das Leben der Gehorsam gegen sein Wort wäre, dann, ja dann hätte der Tod keine Macht über uns. Denn dann hätte Gott Macht über uns. Aber wer kann das von sich sagen? Wem ist der Gehorsam gegen Gottes Wort seine letzte, innerste Lebensnotwendigkeit? Wer lebte nicht bald im Gehorsam und bald wieder im Ungehorsam, bald so, bald so und darum eben doch immer in einem letzten Ungehorsam gegen Gott? Wer klammert sich nicht mit aller Kraft an das Leben, auch wenn er Gottes Wort darüber aus den Augen verliert? Aber gerade da fängt uns der Tod. Die Kraft, mit der sich der Mensch ans Leben klammert, ist der Sieg des Todes über ihn, wie es im Wort des Herrn heißt: »Wer sein Leben lieb hat, der wirds verlieren.« Wir glauben dann wohl, wir hätten das Leben an uns gerissen, aber wenn wir es aufbrechen, springt der Tod aus der hohlen Schale. Für diese Liebe zum Leben, die das Leben mehr liebt als Gott, den Schöpfer des Lebens, tauscht der Mensch den Tod ein. Darum ist’s ein »elend, jämmerlich
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Ding um aller Menschen Leben von Mutterleib an bis sie in die Erde begraben werden, die unser aller Mutter ist. Da ist immer Sorge, Furcht, Hoffnung und zuletzt der Tod. Sowohl bei dem, der in hohen Ehren sitzt, als bei dem Geringen auf Erden; sowohl bei dem, der Purpur und Krone trägt, als bei dem, der einen groben Kittel anhat.« Und doch: Die Herrschaft des Todes ist nicht von Ewigkeit zu Ewigkeit. Er ist ein Feind, gewiß, ja mehr noch, der letzte, der gewaltigste – aber doch der letzte, der aufgehoben wird! Denn der Tod ist nicht nur der Feind des Menschen, sondern er ist auch Gottes Feind! Wenn wir das glauben könnten, daß Gott und wir denselben Feind haben, daß der Tod nicht nur mit Menschen, sondern mit Gott im Kampfe liegt, daß wir hier mit Gott in einer Front stehen! Gerade das will die Schrift uns sagen. Es wäre nur die halbe Wahrheit, wollten wir uns von ihr die Herrschaft und Größe des Todes vor Augen malen lassen, dann aber den Blick abwenden, wenn sie uns gerade daran die Herrschaft und Größe Gottes dartun möchte. Der Tod muß auch weichen, wenn der Tag der Gottesherrschaft hereinbricht. Er ist ein fremder Herrscher, der davon muß, wenn der rechte König kommt, seine Zeit ist eine bemessene Zeit, er wird der letzte sein, der das Feld räumt, gewiß, aber der letzte, der weichen muß. Das steht fest. So wie es feststeht, daß wir alle dem Tod verfallen sind, so steht auch das andere fest, daß der Tod dem verfallen ist, den wir anbeten, Jesus Christus, den Gott auferweckt hat von den Toten. »Er ist aufgefahren in die Höhe und hat das Gefängnis gefangen geführt.« So gewiß, als wir dem Tod gehören, gehört der Tod dem, der ihn besiegt hat. So gewiß, als wir alle des Todes Beute werden, ist der Tod die Beute dessen, der ihm nichts gelassen hat als ein leeres Grab und ein paar Tüchlein. Das hat Gott getan. Er »schaut von seiner heiligen Höhe und sieht vom Himmel auf die Erde, daß er das Seufzen der Gefangenen erhöre und losmache die Kinder des Todes«. Darum nennt die Schrift Gott auch den Auferwecker und mahnt uns da, was Gott Christus getan hat, auch für uns zu glauben. Denn die Auferweckung der Toten – das ist der Machtbeweis Gottes, der am Ende der Tage steht. Jeder von uns weiß, daß wir erschrecken, wenn wir eine solche Behauptung aussprechen. Wir erschrecken vor uns selbst. Es bedarf nicht erst der Einrede unserer Gegner, es bedarf nicht des überlegenen Lächelns unserer aufgeklärten Zeitgenossen, es bedarf nicht der verständnislosen Blicke von Theologen und Kirchenmännern, wir wissen selbst, daß wir damit etwas sagen, was unseren Sinnen und unserer Vernunft nie, nie eingehen wird. Das sprengt einfach alle Begriffe von Welt und Wirklichkeit, mit denen wir uns im Dunkel dieses Äons notdürftig zu orientieren suchen. Aber wie sollte es anders sein? Wie sollten unsere Sinne und Be-
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griffe noch gelten, wenn die ganze Wirklichkeit, in der wir jetzt leben, die Todeswirklichkeit, aufgehoben wird? Wenn wir den Schritt vollziehen werden, den wir hier auf Erden nie vollziehen dürfen, den Schritt vom Glauben zum Schauen? Meinen wir, man könne die neue Wirklichkeit, die dann aufbrechen wird, mit den Maßstäben und Begriffen fassen und messen, die aus dieser Welt genommen sind? Da heißt es alles loslassen und sich allein dem Wort überlassen, das uns hinüberträgt, das uns blendet und erleuchtet, so daß wir blind werden für das, was wir sehen, und sehend für das, was uns verborgen ist. Beides zugleich erfassen, diese Welt, die Todeswelt, und die kommende Welt, die Welt des siegreichen Lebens – kann kein Geschaffener. Wer zurückschaut, erstarrt zur Salzsäule. So bleibt allein das Wort: Der letzte Feind, der aufgehoben wird, ist der Tod. Was für ein Wunder, daß dies Wort heute schon laut geworden ist, was für ein Wunder, daß es jetzt schon durch all die müden und zerbrochenen Herzen läuft und dem Tode seine Macht streitig macht, was für ein Wunder, daß heute schon im geheimen anbricht, was einmal hervorbrechen wird, um allen kund zu sein! Denn wer Jesus Christus sagt, der sagt es nur recht, wenn er zugleich das andere sagt: Auferstanden von den Toten. Und wer das von ihm sagt, der sagt es nur recht, wenn er es zugleich vor aller Welt und über alle Welt sagt. Und wer es über alle Welt sagt, der sagt es nur recht, wenn er auch seinen Tod dahinein fassen läßt, also daß es überall hineinschallt, in die Gräber der Toten und in die gestorbenen Herzen der Todgeweihten: »Christ ist erstanden von der Marter all, des solln wir alle froh sein; Christ will unser Trost sein.« Der Tod ist der letzte Feind – aber der Sieg Gottes steht über ihm.
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42. Trauerfeier für Anneliese Bornkamm Johannes 3,16 3. Juni 1936
Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Dies Wort aus dem Evangelium des Johannes von Gottes rettender Liebe und Kraft ist das Geleitwort der edlen und liebenswerten Frau gewesen, die der Tod uns entrissen hat. Gott hat sie wohl mit diesem Wort früh und stark zu sich gezogen; Gott hat sie darin bewahrt bis auf den Tag, da er sie ganz in sein Erbarmen und in die Kraft seiner Auferstehung bergen wollte. Darum möge es in dieser ernsten Stunde über uns stehen, über unseren erschrockenen, geängstigten, trostsuchenden Herzen und Sinnen, damit wir angesichts der Vergänglichkeit an das gemahnt werden, was immer bleibt, was immer wahr bleibt und worin wir immer bleiben dürfen auch dann, wenn die Welt für uns so leer und öde zu werden droht, daß wir Gott am liebsten bitten möchten, er möge auch unserer Fremdlingschaft ein Ende setzen, er möge auch unsere Gefangenschaft wenden. Denn daß Gottes Liebe das Bleibende ist, das bei uns Bleibende, das müssen wir schon zu sagen und zu glauben wagen, gerade da und gerade dann, wenn der Tod uns die Augen dafür öffnet, wie weit und tief, tief bis in die innersten und edelsten Güter und Erlebnisse hinein, die Vergänglichkeit reicht, daß da alles seine Zeit hat, daß allein Glaube, Liebe, Hoffnung bleiben, wenn das Stückhafte vergeht und das Vollkommene Ereignis wird. Solange der Tod sich im Verborgenen hält, nennen wir ja gern und leicht die Dinge, an denen unser Herz hängt, ewig, aber der Tod achtet der Namen nicht, die wir den Dingen geben, er nimmt, was ihm gehört, wenns ihm gefällt, seine Hände sind so stark, ihm gehört, was er anfaßt, sie greifen so unsichtbar ins Leben, daß wir ins Leere stoßen, wenn wir ihm wehren wollen, sein Ruf ist so herrisch, daß jeder, den er ruft, folgen muß und lassen muß, was er lieb hat, er löst so schaurig leicht die Bande, die wir meinen fürs Leben knüpfen zu können, er sieht uns plötzlich an aus den Augen des liebsten Freundes, des nächsten Menschen, der liebsten Frau, und dann wissen wir, wem das alles gehört, was uns zu gehören schien,
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dann wissen wir, was wir sonst gar nicht glauben können, daß sein Reich alles Fleisch umschließt, das Gras auf dem Felde nicht minder als des Menschen Herrlichkeit, Geist, Leben und Schönheit, dann wissen wir: Nichts ist ewig als der Tod und die Schuldverhaftung, durch die wir alle, alle von Kindesbeinen an ihm verfallen sind. Vor solcher Anfechtung und Not schützt uns auch unser Christentum nicht, ja vielleicht ist da, wo einer Gott kennt und glaubt, all das noch viel schwerer, furchtbarer, abgründiger als da, wo der Mensch in den Tag hinein lebt und sich von Zeit und Welt und Dingen treiben läßt, als wäre alles nur Tand und Spiel und Sinnlosigkeit – denn wenn wir alle Gaben aus Gottes Hand nehmen, wenn wir etwas davon ahnen, daß diese Gaben rein und gut und liebreich sind und wir gar nicht verdienen, damit beschenkt und damit gesegnet zu sein, wenn da ein Mensch wäre, der solchen Schatz gehalten hätte in dem tiefen, demütigen Wissen um den unbegreiflichen Reichtum und das wunderbare Glück des Lebens, mit dem er tagtäglich von neuem beschenkt wurde, wenn er wirklich in Erkenntnis seiner Schwachheit, Sünde und Not solche Gabe Gottes bewahrt hätte – und auf einmal ist da die Macht des Todes, wo eben noch Gottes Güte spürbar war, eben da, auf einmal ist da Dunkel, wo eben noch solch ein helles, hilfreiches Licht auf seinem Wege stand – muß nicht der Mensch dann glauben, daß der Tod stärker ist als der Gott, der seine Gabe nicht bewahren kann? Muß ihm dies nicht schlimmer sein, als wenn er nie, nie die Freude und Schönheit und den Zauber des Lebens geschmeckt hätte? Kommt nicht von daher jene Leere und Eitelkeit der Tage, daß wir mit vielen, vielen, die in diesen Anfechtungen gestanden haben, klagen müssen: Ich begehre nicht mehr zu leben, denn meine Tage sind eitel! Dann verstehen wir erst, daß in aller Süße Bitterkeit, in allem Licht Dunkelheit, in aller Freude Tränen, in allem Leben Tod und Todesmacht eingebettet ist und wir mit dem einen das andere bereits auf- und angenommen haben. Und doch – die Liebe Gottes gilt dennoch dieser Welt, ja und gerade dieser im Grunde bitteren, todesschwangeren, tränenreichen, leidverhafteten Welt, nur dürfen wir sie nicht da suchen, wo sie für uns nicht zu finden ist, wo sie einen Anfang in der Zeit und darum auch ein Ende in der Zeit hat, wo sie uns umspielt durch die Kreaturen, im Licht und im Leben und in dem Zauber des Du und der Gemeinschaft; wir dürfen uns nicht an den Abglanz halten, der über aller Schöpfung liegt, sondern müssen nach der Quelle suchen, wo diese Liebe entspringt, wo sie quillt und strömt und durch nichts verdeckt und verdunkelt werden kann, wo sie wahrhaft und wirklich als Gottes eigene, große, unbeirrbare Liebe die Welt umfängt, die Welt »mit ihren tausend Plagen und großen Jammerlast«.
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Trauerfeier für Anneliese Bornkamm
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Denn in dieser wahren, bleibenden Liebe Gottes ist gerade der eingeschlossen, der uns heute und hier so bange macht, der Tod! Nicht so, daß Gott seine Geschöpfe an ihn preisgibt, sondern so, daß er sich seinen edlen, lieben einzigen Sohn vom Herzen reißt und ihn dahingibt in den Tod! Gott kennt den Schmerz des Todes, auch ihm nahm der Tod seine Freude, seinen Augenspiegel, sein Kind, seine einzige Liebe – was ist unser Schmerz und unsere Trauer vor dem Tage, da der Tod hinaufreichen durfte mit seiner Macht bis in den Himmel, da er zwischen Gott und seinen Sohn treten durfte! Müssen wir nicht stille werden, wenn wir das ermessen – verstehen wir nicht, daß es eine solche geheime Zwiesprache gibt zwischen unserem Herzen, das vom Tode getroffen ist, und Gottes Herzen, dem der Tod seinen Sohn nahm – ja, mehr, der seinen Sohn in den Tod gab, damit die Welt nicht verloren werde, sondern das ewige Leben hätte! So hat Gott die Welt geliebt – bis in die Preisgabe des liebsten, besten, des unvergleichlich hohen Gutes, so tief sich hinabgebeugt, so tief sich verwunden lassen, obschon er dem Tode wehren konnte – obschon er uns alle strafen, richten, zerschlagen, dem Tode ganz und gar überlassen konnte – ach, wer einmal dem Tode geben mußte, was ihm das Liebste war, der kann es ahnen, was in dem einen Wort beschlossen liegt: So hat Gott die Welt geliebt! Und so will ich denn noch eins sagen, wenn es nicht zu kühn und frei ist – wem so der Tod nimmt, was ihm lieb und teuer war, dem tut er nicht anders als er Gott getan hat, und wer das je gespürt hat, der ahnt es, so wie nun eben ein Mensch diese großen und letzten Geheimnisse ahnen kann, in welchem Schmerz und welcher Einsamkeit die Erlösung der Welt Wirklichkeit geworden ist, der versteht, daß uns die Liebe Gottes aus einem dornenzerstochenen, schmerzensreichen Angesicht anblickt, der weiß, daß die Macht dieser Liebe erst da beginnt, wo sie sich stärker erweist als der Tod, wo der Tod dazu dienen muß, alle Welt, alle Zweifelnden und Verzweifelten, alle, die es nicht mehr glauben und nicht mehr bekennen wollen, von dem Sieg der Liebe Gottes zu überführen! Darum bleibt der Tod in der Welt – denn wenn es den Tod nicht gäbe, wer könnte die Tiefe und den Reichtum und die Fülle der göttlichen Barmherzigkeit verstehen, die uns in Jesus Christus zuteil geworden ist! Nicht daß wir an ihn glauben, aber daß wir an den glauben, der dem Tode die Macht genommen hat! Damit alle, die an ihn glauben … Mitten im Totenreich – und die Welt ist ja der Eingang in das Totenreich – steht der Baum des Lebens, mitten unter denen, die sich winden unter dem Todesbiß der Schlange, ist die eherne Schlange errichtet, damit, wer sie ansieht, nicht sterbe, sondern das Leben,
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das ewige Leben habe. Da, an der Schwelle vom Leben zum Tode, ja mehr, vom Himmel zur Hölle, vom Heil zur Verdammnis steht der Gekreuzigte, der alles wandelt, den Tod in das Leben, die Sünde in Gerechtigkeit, das Totenreich in das Himmelreich, der die Nackten kleidet mit den weißen Kleidern der Gerechtigkeit und die Demütigen krönt mit Gnade und Barmherzigkeit. – Und nicht wahr, nun wissen wir auch auf einmal, was Glauben heißt: Diesen Eingang vom Tode zum Leben in ihm suchen, diesen Umschwung von Sünde zu Gerechtigkeit in ihm empfangen, diese Höllenfahrt an seiner Hand tun und die Hand dessen nicht lassen, der auch mich nicht aus seinen Händen gleiten ließ. Alle, die an ihn glauben. Was für eine große Verheißung hat Gott an diesen seinen Sohn gehängt – wie weit sind die Türen aufgetan, damit jeder komme – wie wird hier so gar nicht nach dem gefragt: Wer bist du? Was hast du getan? Wie wird hier so gar nicht von den großen und guten Taten geredet, wie wir das tun, zumal in der Sterbestunde. – Hier dürfen wir einmal das ganz sein, was wir ja in Wahrheit alle sind, nichts anderes als eine Hand, die nach Gottes Erbarmen greift, nichts anderes als ein unruhiges und umhergetriebenes Herz, das in Gottes Vergeben und Vergessen Ruhe, Frieden, ewigen Frieden findet. Der Glaube an Jesus Christus ist ja eigentlich das wahre Sterben – von ihm her wird der Unterschied zwischen den Lebenden und den Toten sehr gering, eine Frage der Zeit, eine zeitlich-geringe Trübsal, die wenig bedeutet gegenüber der Herrlichkeit, die an uns allen, Lebenden wie Toten, offenbar werden wird! Von ihm her werden alle die Gegensätze und Unterschiede, an denen wir uns zerreiben und zerteilen, ganz und gar hinfällig. Alle, die an ihn glauben, sind eben damit eins in Jesus Christus! Gewiß, auch im Todesernst des menschlichen Sterbens schweigt mancher Zwist und manches Zerwürfnis – vielleicht auch im Todesernst dieses Sterbens – aber dann brichts von neuem auf, dann sind wir wieder Diebe, Mörder und Ehebrecher. Aber sein Tod, eben weil er Gottes Liebe ist, scheidet und eint endgültig, ohne Wandel in Zeit und Ewigkeit! Damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden – nicht wahr, es ist, als ob Gott uns hier ein Wort der Angst abnähme: verloren werden! Das ist ja die Frage, die vom Ende her in jedes Leben hineinfragt, die Frage nach dem Wozu, Wohin, Wofür. Dahinter steht das bange Wissen um das, was Gott »verlorengehen« nennt. Solange noch ein Morgen bleibt, kann der Mensch der Frage immer noch aus dem Wege gehen, aber einmal ist der Tag da, an dem alle anderen Fragen und Sorgen ganz nichtig werden und nur die eine Frage bleibt, ob dies einmal gelebte Leben umsonst gelebt wurde – oder es wahrhaft das Leben geschmeckt hat. Wir wollen nichts weiter dazu sagen. Wohl dem, dessen Leben einst in
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diesem Worte beschließt, daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben, wohl uns, wenn uns das bis zum Ende unserer Tage fest bliebe, wohl allen, die in diesem Ring der Liebe Gottes gehalten werden, daß sie nichts daraus reißen kann, weder Tod noch Leben, weder das was heute ist, noch das, was morgen sein kann. Wohl dem Leben, das der Herr in seiner Liebe nicht läßt um seines Sohnes Jesu Christi willen! Aber noch eins muß in das Licht unserer Gedanken treten, wenn anders wir nicht vergessen, daß wir nun weiter – und nun allein den Weg in die Welt machen müssen: Da müssen wir den bitteren, schmerzensreichen Tod unserer Lieben in der süßen, starken Hand unseres Herrn fassen, damit wir weiter in der Welt bestehen können; denn in der Tat, diese Welt, die arge, leichtlebige und doch schwer zu tragende, glatte und doch so zerrissene Welt ist der Liebe Gottes teilhaft geworden. Meint ihr nicht, daß es das Vermächtnis aller derer ist, die in solcher Liebe in den Tod gebettet werden, daß wir die Zeit auskaufen, die uns noch gelassen ist, um diesen Trost Gottes kundzutun mit Worten und Werken – als Gäste und Fremdlinge, so wie unser Herr ein Gast und Fremdling war, aber vielleicht darum doch als solche, die die Welt besser kennen als die an sie Gebundenen, an sie Glaubenden, in ihr noch Heimischen. Die Frau, von der wir hier Abschied nehmen, hat manchem eine solche Heimstatt bereitet, ist manchem ein solch starker und großer Trost und innige Freude gewesen; etwas von der Wirklichkeit eines Lebens, das in der Welt und doch nicht von der Welt ist, begegnete uns da, etwas von der hohen Kunst der Christen fröhlich zu sein mit den Fröhlichen und traurig mit den Traurigen, etwas von jener seltsam reinen Freude, die die Welt trägt, weil sie um ihr Ende und ihr Gehaltensein in Jesus Christus weiß. Ihre Frau, lieber Bruder Bornkamm, ist manchem unter uns solch ein Trost und solch eine Freude gewesen, auch mir in schwerer und bedrängter Zeit. Darum sind wir so tief davon getroffen, daß Gott sie uns genommen hat. Und doch – ich bitte euch, gerade auch die, für die der Verlust am schwersten ist, weil sie am reichsten mit dem Leben, das hier ans Ziel kam, beschenkt wurden, wir wollen das Danken nicht vergessen. Das Danken ist ja die einzige Möglichkeit den Schmerz tragbar zu machen, den der Tod dieser lieben Frau uns bereitet. Es wird heute aus vielen Herzen ein solches Dankopfer zu Gott emporsteigen, durch mancherlei Tränen und Traurigkeit, aber doch ein Dankopfer für alles, was Gott uns gegeben und genommen hat. Und auch das sei uns gewiß, daß die Lebenden und die Toten in einer Gemeinschaft der Heiligen stehen, wir in der ecclesia militans (der kämp-
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fenden Kirche), sie in der ecclesia triumphans (der siegreichen Kirche), sie nun erst recht unser Beistand und Mahnung ihnen nachzugehen zum vorgesteckten Ziel. Wohl dem Leben, das ein solch klares Zeugnis hinterläßt wie dies – wohl uns, wenn auch wir ausharren bis ans Ende. Denn wir müssen die Hoffnung festhalten bis ans Ende, damit wir nicht träge werden, sondern Nachfolger derer, die durch Glauben und Geduld Erben der Verheißung geworden sind.
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43. Trauerfeier für Else Bernhard, geb. Benkhardt Jeremia 29,11 13. August 1940
Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der Herr, nämlich Gedanken des Friedens und nicht des Leides, daß ich euch gebe das Ende, des ihr wartet. Wie verschieden kommt doch der Tod über die Menschen. Bald kommt er als Erlöser aus großem Leiden, so daß wir kaum vor ihm erschrecken. Er kommt wie ein lange Ersehnter, fast wie ein Freund. Das Leiden hat sein Kommen vorbereitet. Oder er kommt, um einen Menschen abzuberufen, der sein Lebenswerk vollendet hat; er hat am Leben keine Freude mehr, darum hat er auch keine Furcht vor dem Tode. So wie es bei Hiob heißt: Er starb alt und lebenssatt. Wo ein Mensch satt geworden ist am Leben, braucht der Tod nicht mehr viel Bande zu zerschneiden, denn solch einen Menschen hält hier nur noch wenig. Und doch, wir kennen ihn auch anders, den Tod. Wenn er sich seine Beute aus der Jugend holt, wenn er die Blüten zerbricht in ihrem schönsten Glanz. Wie mancher wird gerade heute so seine Beute. Und doch mildert da der Gedanke den Schmerz, daß der Tod dieser Jugend ein fruchthaltiges Opfer ist, für uns, für die Zukunft des Volkes. Wie aber, wenn er alle Masken abwirft, wenn er mitten hineinbricht ins Leben, wie ein Raubtier in die Hürde springt, wenn er Glück wandelt in Trauer, Freude in Unfrieden, Hoffnung in Trostlosigkeit. Wenn er unerwartet einbricht. Wir erwarten die Steigerung und Entfaltung des Lebens und auf einmal tritt hinter dem Vorhang der Tod hervor in seiner kalten Majestät und fordert seine Beute. Und wir können sein Herz nicht erweichen, denn er hat kein Herz! Wir können mit keiner Kraft noch List halten, was er gezeichnet hat. Er reißt dann das junge, volle Leben heraus, das seine Wurzeln im Leben der anderen hat, so daß wir spüren, wie tief es uns traf. Dann kann der Tod Wunden reißen, an denen die Lebenden fast verbluten. Wir wissen, warum wir das sagen. Hier hat der Tod so eingegriffen. Hier hat er sein wahres, grausames Gesicht enthüllt. Hier hat er das Kind ge-
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nommen und die Mutter, und in der Mutter wieder das Kind, das einzige, geliebte Kind der nun einsamen Eltern. Hier hat er offenbart, daß er der Feind des Lebens und des Glückes und des Friedens ist. Denn es war eine Welt des Glückes, der Liebe und des Friedens, in die er einbrach. Er nahm dem Gatten die liebgewonnene Gefährtin, vor kaum einem Jahr ihm anvertraut unter dem Segen Gottes. Hier war wirklich das Glück zu Hause, und es sollte ja wachsen, wachsen in dem neuen Hausstand, in dem Kind, das geboren wurde, in dem Beruf des Mannes, in der Freundschaft, die alle miteinander verband, die Eltern und Geschwister des Mannes, die Eltern und Verwandten der Frau. Es lag ein neidlos geschenktes, ein immer neu in Dankbarkeit empfangenes Glück über dem Ganzen. In ein paar Tagen hat der Tod alles zerrissen, was in Jahrzehnten der Arbeit und Liebe gewachsen war. Nie gekannte Trauer ist in euer Haus eingezogen, die ganze Welt ist wie verwandelt. Dem Gatten ist mit der Frau und dem Kind die Freude seiner Arbeit und der Sinn seines Strebens bedroht, den Eltern das Glück ihres Alters genommen. Eine Lücke ist gerissen, die auch die Zeit nicht schließen kann. Und wir? Wir merken dann erst, wie ohnmächtig wir sind. Das, was euch wahrhaft trösten könnte, können wir euch ja nicht geben. So tun wir das einzige, was wir tun können, wir zeigen euch, daß auch wir die Frühvollendete geliebt, sehr geliebt haben, daß wir euch nicht allein lassen in eurem Schmerz, so wie auch ihr manchen von uns nicht alleine gelassen habt in seiner Not. Wir können nicht mehr tun, als mit einem Meer von Blumen die Härte dieses Schicksals überdecken als letzten Gruß und letztes Zeichen dankbaren Erinnerns. Wir können nicht mehr tun als euch das Geleit zu geben bei dem letzten, schwersten Gang. Die wir fröhlich waren mit euch, wir tragen nun auch mit an eurem Leid. Mehr wissen wir nicht. Aber da, wo wir Menschen am Ende sind und stille werden, da hebt Gott an. Gott kann anders trösten. Gott kann das Licht anzünden, das auch hineinleuchtet in das Dunkel des Todes. Gott sagt das Wort, auf das wir warten: Frieden! Ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, Gedanken des Friedens und nicht des Leides. Wie viele Gebete sind zu Gott emporgestiegen in den Tagen der Krankheit, scheint es nicht so, als ob er stumm wäre? Als ob es den nicht gäbe, der um unseren Schmerz weiß, als ob es nur den Tod gäbe – und sonst nichts? Und doch: Gedanken des Friedens und nicht des Leidens! Ja, wenn Gottes Gedanken unsere Gedanken wären, dann wäre das nicht faßbar. Aber seine Gedanken sind höher als unsere Gedanken. Dieser Gott, der so redet, ist mehr als der herzlose Tod, mehr als ein Schicksal, das gefühllos seinen Weg geht. Gott nimmt uns an der Hand und zeigt uns, daß auch er um den Schmerz des Todes weiß.
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Auch so ein Vater, der sein eigenes Kind preisgab, auch er mußte es leiden und sterben sehen, auch er hörte sein Seufzen und durfte ihm nicht helfen. Das ist Gott! Warum das? Weil dieses sein Kind dieselbe Bahn schreiten mußte, die alle vom Weibe Geborenen gehen müssen, weil er hindurchschreiten mußte durch des Todes Tod, damit wir auch hindurchfinden. Das sind Gottes Gedanken: daß wir nicht allein sterben, allein leiden müssen, daß vielmehr der Gekreuzigte und Auferstandene diesen Weg mit uns gehe, daß er uns heimgeleite zum Vater. Daß er dem Tode die Beute nehme, daß er den Tod verwandle in den Schlaf bis zu dem Tage der Auferstehung. Darum, damit wir Menschenkinder nicht dem Tode verfallen, mußte Gott sein Kind in den Tod geben; Jesus Christus hat den Weg gebahnt durch das dunkle Tal – als der Lebensfürst steht er an den Gräbern und ergreift die, die wir dahinein betten, mit seiner Hand, die stärker ist als der Tod. Er predigt Frieden – in und über allem Leiden. Er trägt Gottes Gedanken hinein in den Unfrieden unserer Gedanken. Er sagt uns, daß wir Kinder sind seines Vaters und daß diesem Vater kein Tod seine Kinder nehmen kann. Er, der an sich selbst des Todes Spuren trägt, ist der Garant des Lebens, das keinen Tod mehr kennt, des neuen Lebens, dessen wir warten, in dessen Hoffnung wir aufeinander warten. Er, Jesus Christus, der tot war und doch lebt, er will uns Frieden bringen und kann uns Frieden bringen. An ihm können wir erkennen, daß Gott doch alles zum Besten wendet. Menschlich gesehen ist das Leben dieser lieben Frau zerbrochen, in der Reife geknickt, im Augenblick des Mutterglücks zerstört. Wir sehen es, wie es aufging von Anbeginn, wie die Mutter ihre ganze Liebe hineinsenken konnte in dieses Kind, wie der Vater in Fürsorge und Freude dafür und davon lebte, zumal wenn nach der Arbeit das Glück des Heims sich euch erschloß, wie es vielen, vielen half, diente, zur Freude war, wie es neu auflebte im Glück der Ehe, im nie getrübten Vertrauen des heißgeliebten Gatten. Da, mitten hinein trifft der tödliche Schlag. Aber – könnte es nicht sein, daß, was uns Bruchstück erscheint, vor Gott Vollendung und Reife ist – daß, was uns Leid ist, vor Gott Frieden und Verklärung ist? Könnte es nicht sein, daß der Friede, die Klarheit auf dem Gesicht der Sterbenden ein Zeichen ist ihrer Vollendung in Gott? Daß ich euch gebe das Ende, des ihr wartet. Ist unser Leben in Gott nicht dieses Ende? Das einzige Ziel, das sich lohnt? Müssen wir nicht stille werden, wenn wir daran denken, wie mitten durch die Maske des zeitlichen Todes das ewige Leben hindurchleuchtet? Gedanken des Friedens, die auch unser Herz voller Frieden machen. Der Konfirmationsspruch der Verstorbenen war: »Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.« Das reine Herz ist wie ein
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Spiegel, in dem nichts ist, als das Bild, das in ihm sich spiegelt. Selig ist der Mensch dann, wenn das Bild, das in unserem Herzen leuchtet, das Bild Gottes ist, das alle anderen Bilder, das Bild des Todes und des Leidens und der Welt daraus verbannt. So Gott schauen, das heißt: Frieden haben, verklärt sein von dem Frieden, der von oben ist. Wollen wir diesen Frieden stören? Wollen wir nicht vielmehr auch für uns selbst darum bitten? Uns auch danach sehnen? Denn in diesem Frieden sind wir eins miteinander, die im Himmel sind und die noch auf der Erdenwanderung begriffen sind, eins in dem einen Herrn und in der Liebe und dem Glauben und dem Hoffen. In diesem Frieden wird der Geist der Ewigkeit mächtig über uns, der Geist jener anderen Welt, die keinen Tod und keine Tränen mehr kennt. Dieser Friede ist das Ende, das uns Gottes Wort verheißen hat. Indem wir zu ihm aufblicken, wird wahr an uns, was der Dichter singt: Ewigkeit, in die Zeit leuchte hell hinein, daß uns werde klein das Kleine und das Große groß erscheine, selge Ewigkeit.
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44. Trauerfeier für Egolf Heinrich Graf von Kanitz Johannes 12,32 17. November 1943
Und ich, wenn ich erhöht sein werde von der Erde, werde alle zu mir ziehen. Kaum eine Woche ist vergangen, daß uns die bittere Kunde vom Heldentod des Grafen Egolf Heinrich von Kanitz traf. Es ist darüber manchem das Auge feucht und das Herz schwer geworden, denn wir sahen ihn alle vor uns, in seiner knabenhaften Jugend und seiner so gewinnenden Güte und Heiterkeit, und vielerlei Bilder und Erinnerungen stiegen in uns auf – von den Tagen an, da er als ein Kind hier heranwuchs, umhegt und umsorgt von elterlicher Liebe, geliebt und gern gesehen von der ganzen Gemeinde, über die Zeit hinweg, da er nur noch in den Ferien hier sein konnte, aber dies umso mehr genoß, sein geliebtes Cappenberg, und nun mit seiner hellen Heiterkeit und seinem Frohsinn Haus und Hof erfüllte, bis zu jenem letzen Mal, da er aus Rußland heimkam, um Abschied zu nehmen, wie wir heute wissen, wie er selbst es vielleicht fast ahnte. Und all diese Bilder sind auf einmal wieder da, ja es fällt so manches Zufällige und Unwesentliche von ihnen ab, sie wandeln sich in uns selbst zu Klarheit und Leben und stehen nun in dieser Stunde so hell und zeitentrückt vor unserer Seele, da wir seiner vor Gott gedenken. Vor Gott! Wo sonst sollten wir auch mit all unserem Schmerz hingehen, vor wem die vielen, schweren Fragen niederlegen, die uns das Herz bewegen. Wer anders kann denn hier, mitten im Todesdunkel, mitten in soviel zerbrochener Liebe und Hoffnung, unser armes Herz in seine Hand nehmen und uns trösten, wenn nicht der, vor dem die Toten sind wie die Lebenden und vor dem die Lebenden noch stehen als die, die die letzte Prüfung ihres Wesens und Weges noch vor sich haben. Von Gott her stehen die Toten über uns, als ob sie auf uns schauten mit ihrem allem Schein und aller Eitelkeit entrückten Auge, als die, die überwunden haben und nun die Gnade Gottes wirklich empfangen dürfen, das neue Leben, die Gotteskindschaft, all das, was hier und für uns Verheißung ist und dort und für sie Erfüllung sein wird. Und vor demselben Gott dürfen und müssen wir euch, den Eltern und Geschwistern, dies sagen, daß wir
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alle hierher gekommen sind, um dies Eine euch zu zeigen, wie lieb er uns war, wie sehr er für uns zu dem ganzen Haus gehörte, zu dessen Seele sozusagen, wie gern wir ihn zu uns kommen sahen, in unsere Häuser und zu unserer Arbeit, wie gern wir ihn durch Feld und Wald streifen sahen und sein Lachen und seinen Frohsinn liebten. Wir wissen allesamt kein anderes Wort, womit wir einander trösten können über die Lücke, die da der Tod gerissen, als Gottes ewiges, lebenschaffendes, all unsere Tränen dermaleinst trocknendes Wort, wissen auch kein anderes Mittel, um die Wunde zu verbinden, damit sich unser Herz nicht verblutet, als das Band der Liebe, der Liebe, mit der wir einst selbst von Gott im Tode seines Sohnes geliebt wurden, damit wir einander in solcher todüberwindenden Liebe nahe blieben. Und das ist allein der Sinn unserer Feier, unserer Gemeinschaft, und unserer Gebete, daß wir so alle vor Gott stille würden, stille in jener wahren letzten Ergebenheit in seinen Willen, die wir heute unter Kreuz und Leid lernen müssen, stille aber doch, um schließlich zu Gott und seinen Wegen Ja zu sagen: »Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen, der Name des Herrn sei gelobt in Ewigkeit.« Das Lob Gottes steht am Ende, es ist Lösung und Erlösung zugleich, und es wird umso reiner und wunderbarer klingen, je tiefer die Not und je größer die Anfechtung war, aus der es geboren wurde. Egolf Heinrich Graf von Kanitz wurde geboren am 28. Juli 1923 in Danzig, seiner elterlichen Heimat. Bei Danzig liegt das Gut seines Großvaters väterlicherseits, des Grafen Alexander von Kanitz; in Danzig hatte der Vater seiner Mutter, der Oberst Karl von Borcke als letzter Kommandeur der schwarzen Husaren gestanden. Aber schon sehr bald siedelte der Knabe mit seinen Eltern nach Westfalen über, um hier, in dem Schloß von Cappenberg, welches mit dem Namen des Freiherrn vom Stein und jener großen deutschen Zeit so innig verbunden ist, seine Kindheit und Jugend zu verleben. Hier lebte er sich ein in den ganzen Zauber der Natur, für die er mit solch tiefem Sinn begabt war, hier empfing er seinen ersten Unterricht und schloß seine ersten Freundschaften. Später besuchte er dann das Gymnasium zu Neubeuron und nach dessen Auflösung das Gymnasium in Templin. Er hat hier nicht nur Tage schöner Freundschaft und jugendlicher Unbeschwertheit erlebt, er hat hier auch den Geist der echten, humanistischen Bildung in sich aufgenommen und von da die Richtung seines Denkens und Urteilens empfangen. Die Geschichte des Geistes der Menschheit hat ihr eigenes Maß und die Denkmäler der Vergangenheit mahnen die Gegenwart, nicht zu vergessen, daß auch sie nur Glied in einer Kette ist, das sich nicht ohne Schaden daraus isolieren kann. Denn was wir sind, das sind wir anderen schuldig! In Neubeuron emp-
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fing er auch seinen Konfirmanden-Unterricht, und hier reiften wohl auch jene bleibenden Eindrücke des Glaubens an den Herrn, der als guter Hirte in Not und Schuld bei uns steht und von dessen Liebe uns nichts scheiden kann, weder Tod noch Leben, weder das, was ist, noch das, was kommt. Wir wissen aus seinen Briefen, wie dies dann sein einziger, aber auch unzerbrechlicher Halt werden sollte, als er aus dem wohlbehüteten Zuhause, aus dem Kindheitsparadies von Cappenberg, plötzlich und fast noch zu unbewehrt in den Krieg und seine ganze Härte hinaus mußte. Es wurde da in seinem Leben etwas wahr von jenem schönen Wort der westfälischen Dichterin: »Uns allen ward der Kompaß eingedrückt, noch keiner hat ihn aus der Brust gerissen, die Ehre nennt ihn, wer zur Erde blickt, und wer zum Himmel, nennt ihn das Gewissen.« Immer, wenn wir Menschen mit diesem Leitwort ganz ernst machen, wenn wir diese Ehre suchen, die in einer letzten Harmonie steht mit dem, was vor Gott bestehen kann, werden wir spüren, daß wir mit uns selbst den schwersten und härtesten Kampf zu führen haben. Keinem, den Gott wahrhaft lieb hat, erspart er diesen Weg durch die enge Pforte. Keinem aber auch versagt er sich, wenn er ernsthaft da gesucht wird. Er kleidet seine Helden mit der Waffenrüstung des Geistes, wappnet ihr Herz mit allem, um die Anläufe des Bösen zu bestehen. Am Konfirmationsaltar wurde Graf Egolf dieser Spruch mitgegeben, den seine Mutter für ihn bestimmt hatte, niemand wußte, daß er sich so früh und so voll und wie wir zu Gottes Gnade hoffen, so siegreich an ihm erfüllen würde. Im März 1942 trat er in das Reiterregiment 15 in Paderborn ein, nach der Heimatausbildung kam er nach Rußland, wo er über ein Jahr war. Nach dem erfolgreich bestandenen Kursus für Kriegsoffiziersanwärter sollte er in Kürze zu einem weiteren Kursus in die Heimat kommen. Dazwischen lag der Fronteinsatz. Bei seinem zweiten Einsatz hat er sein Leben lassen müssen. Sein Abteilungskommandeur schreibt dazu: »Die Schwadron befand sich im Angriff …, als Ihr Sohn durch einen Granateinschlag in unmittelbarer Nähe am Kopf so schwer verwundet wurde, daß der Tod auf der Stelle eintrat. Gleich darauf muß die Schwadron, durch einen einsetzenden feindlichen Gegenangriff hart bedrängt, das eben gewonnene Gelände wieder aufgeben, so daß es nicht mehr möglich war, Ihren Sohn zurückzutragen und zu bestatten.« Und dann heißt es weiter: »Ihr Sohn Egolf Heinrich hat sich durch sein tapferes und hervorragendes Verhalten im
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Kampf das Vertrauen und die Achtung seiner Vorgesetzten und Kameraden erworben. Er verstand es trotz seiner Jugend auch unter harten Bedingungen zu kämpfen und seine Pflicht auf dem Platz, auf den er gestellt wurde, bis zum Letzten zu erfüllen.« Ähnliches bezeugt der Brief eines Leutnants, der uns zufällig bekannt wurde. Mehr wissen wir über dies letzte Gefecht noch nicht. Sein eigener Schwadronschef ist gleichfalls im Kampf geblieben. Aber das eine dürfen wir vielleicht aus diesen wenigen Worten ahnen, daß ihm im Tode zuteil wurde, wonach er im Leben gestrebt hat: einer zu sein, der seine Pflicht bis zum Letzten erfüllte und sein Leben nicht lieb hatte bis in den Tod. Sterbend umfing ihn die große Tradition seines Geschlechtes, die ihm im tiefsten Sinne allzeit Leitstern und Mahnung war. Wir aber, die Freunde, empfangen unser Vaterland und unser eigenes, noch unvollendetes Geschick neu und unter dieser großen, von jenseits des Todes her verkündeten Verpflichtung aus den Händen all der Frühvollendeten, sie verweisen uns an jenen Punkt des Lebens, wo die Ewigkeit groß wird über der Zeit und Gottes Wege groß werden über unseren Wegen. Eingangs hörten wir das Wort unseres Herrn, mit dem er seinen eigenen Weg deutete: Wenn ich erhöht sein werde von der Erde, werde ich alle zu mir ziehen. Die Erhöhung, von der er redet, ist sein Kreuz und seine Erhöhung zugleich, sein Sterben und sein Auferstehen, beides gefaßt in ein Zeichen. So steht er, der in Leiden vollendete Herr Christus, über dem Todesacker dieser Welt. Als ob alle Wege bei ihm mündeten, alle Hände nach ihm griffen, damit er sie hinaushebe aus diesem Erdenleid mit seinem Kampf und seiner Schuld – zum Sieg, den niemand mehr ihnen nehmen kann, und sie hineinzöge in das mit Gott versöhnte, ewige Leben. Wollen wir nicht den Tod, der uns trifft, in seinem Tode sehen lernen, wo er nicht Ende ist, sondern Anfang, nicht Versinken ins Nichts, sondern Hinaufgenommen-Sein, Erhöht-Sein ins Leben, in die Auferstehung, in den »lieben Jüngsten Tag«? Wollen wir sie nicht so sehen, die, um die wir Leid tragen, die im Glauben an ihn in den Tod gegangen sind, ihrer Pflicht getreu, als die in seinem Frieden Geborgenen, von seiner todüberwindenden Kraft Getragenen? Denn er, Jesus Christus, ist das Licht mitten in der Finsternis, ist das Leben mitten in allem Todesgrauen, ist die Nähe Gottes zu uns mitten in der Gottesferne dieser Todeswelt und ihrer wilden Gewalten. Und je mehr Leid und Not, je mehr Schuld und Bosheit sich auf Erden häufen, umso mehr muß dies ihn erhöhen. Unsere Todumfangenheit wandelt sich so zum Advent des Herrn. Wie in unsere Zeit hinein erklingen jene großen Worte der Verheißung: »Denn siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker. Aber über dir geht auf der Herr, und seine Herrlichkeit erscheint über dir.«
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Ja, es bleibt nicht beim Advent, seine Erscheinung leuchtet im hellen Licht der Heiligen Nacht auf über der friedlosen Welt um uns her, »er ist unser Friede«, und wir sehen ihn, den Osterfürsten über all den Gräbern, die ihren Raub nicht behalten, die sich ihm öffnen müssen. Ich werde sie alle zu mir ziehen. Oder, wie es an einer anderen Stelle heißt: »Ich habe die Schlüssel der Hölle und des Todes.« Ihm muß der Hades seine Tore öffnen, er bringt als Erstgeborener von den Toten die Brüder heim aus vielen Leiden dahin, wo niemand ihre Freude von ihnen nehmen wird. Und haben bisher Eltern ihre Kinder so gut sie es vermochten getragen und umsorgt, behütet und geleitet, nun liegen sie ganz und gar in seiner Hand, bis der Tag kommen wird, da auch uns diese Hand aus unserem letzten Kampf herausreißen wird in sein und seines Vaters Reich. »Wär er nicht erstanden, so wär die Welt vergangen. Nun da er erstanden ist, so loben wir den Herren Jesum Christ.« Noch ein Letztes laßt mich sagen: Vielleicht, daß unsere Gedanken in dieser Stunde hinausgehen aus dieser stillen Kirche hinüber nach dem Osten hin, dahin, wo der, den wir so lieb hatten, seinen letzten Schlaf hält. Wir kennen die Stätte nicht, wo er ruht. Wir werden nie an seinem Grabhügel stehen können. Wie vielen geht es so heute. Mag sein, daß mancher Mutter und mancher Frau das Herz darüber voll großer Trauer ist. Darum laßt mich schließen mit einem Wort, das ein Bischof einer Mutter schrieb, die das Grab ihres Sohnes nicht finden konnte: »Sei nicht traurig, liebe Mutter«, heißt es da, »die große Trauer ist zuende. Gottes ist die Erde und alles, was auf ihr ist. Wo auch das Grab deines Sohnes sein mag, immer ist es auf Gottes Erde. Wenn du die Erde vor der Schwelle deines Hauses berührst, berührst du das Grab deines Sohnes. Und das alles sehende Auge Gottes sieht, wenn er auf die Erde blickt, die Toten und die Lebenden. Wenn dein Sohn vor dir verborgen ist, so ist er vor Gott nicht verborgen. Der Herr ist selbst vor dir verborgen, damit durch die Kümmernis dein Herz fest würde. Du wirst eine unerwartete Freude des Wiedersehens mit deinem Sohn vor Seinem Antlitz erfahren. Bekannt sind die Orte vieler Gräber von großen und heiligen Leuten. Wir ehren ihr Gedächtnis, in ihrem Namen erbauen wir Kirchen. Aber ihre Gräber kennen wir nicht. Bekümmere dich darum nicht, daß nun das Grab deines Sohnes nur dem alles sehenden Auge bekannt ist, wie auch die Gräber so vieler Heiliger.« Und so sagt es auch die Schrift: »Wir wissen aber, so unser irdisch Haus
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dieser Hütte zerbrochen wird, daß wir einen Bau haben, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist, im Himmel« (2 Kor 5,1). Jesus selber aber sagt: »Vater, ich will, daß, wo ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast, daß sie meine Herrlichkeit sehen, die du mir gegeben hat; denn du hast mich geliebt, ehe denn die Welt gegründet ward« (Joh 17,24). »So darf ich glauben und vertrauen Auf meiner Seele Herrlichkeit! So darf ich auf zum Himmel schauen In meines Gottes Ähnlichkeit! Ich soll mich freun an diesem Tage: Ich freue mich, mein Jesu Christ! Und wenn im Aug ich Trägen trage, Du weißt doch, daß es Freude ist.« (Droste-Hülshoff)
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45. Trauerfeier für Rudolf Feuerbaum Matthäus 10,32 3. Mai 1944
Wer nun mich bekennt vor den Menschen, den will ich bekennen vor meinem himmlischen Vater. Wie der Bogen des Friedens sich über der Flut erhob, die über diese Welt einhergegangen war als ein furchtbares Gericht der Majestät Gottes, so möchte über all dem Dunkel, dem Leid und Weh, das uns jetzt und hier bewegt, unser Wort sein helles vielfarbiges Licht erstrahlen lassen. Es möchte mit seinem Licht ein Zeichen der Gnade Gottes sein, die dennoch bleibt; es möchte hineinstrahlen in die Nacht, die aus den Tiefen hinauflangt nach unseren Herzen, es möchte ein Zeichen sein dessen, daß der Friedensbund Gottes ewig bleibt und alles, was die Zeit bringt und was die Zeit nimmt, daran vorüberziehen muß wie Wolkendunkel vor den unbesiegbaren Strahlen des Lichtes. Ein Bogen spannt sich hier über das, was uns sonst gänzlich getrennt erscheint, über Zeit und Ewigkeit, über Leben und Tod, über das, was hier unsere Augen sehen und über das Geheimnis, das jenseits des Todes liegt. Eine Brücke ist gebaut über den Abgrund des Todes, den keines Menschen Denken schließen kann, und auf dieser Brücke begegnet Christus den Seinen, auf dieser Brücke findet eine doppelte Bewegung statt, eine Bewegung des Menschenherzens auf das Licht der Welt hin, ein Offenbarwerden des großen Geheimnisses, daß wir Christus gehören, dem gekreuzigten und auferstandenen, und auf ihn bezogen sind im Lauf und Ablauf unseres Lebens. Und zugleich, und das eben ist das Wunderbare und Verheißungsvolle, eine Bewegung von der anderen Seite her: Den will ich bekennen vor meinem himmlischen Vater. Von der anderen Seite her erscheint der Lebensfürst, und alles was uns ängstet und mit Sorgen erfüllt, der Schmerz und der Tod, die Schuld und die Einsamkeit, liegt unter seinen Füßen; er sagt: Bruder Mensch, er bekennt sich zu denen, die durch Leid und Tod hindurch den Lauf zu ihm gemacht haben, er nimmt sie in seine Arme, er wird ihr Schmuck und Ehrenkleid, in dem sie erscheinen dürfen vor dem Angesichte des Vaters im Himmel. So ist also doch unser Leben, mag es auch vor den Augen der Menschen abgebrochen, in seinen besten Zielen gescheitert, frühzeitig zerstört erscheinen, kein Torso,
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nicht ein Blatt, das der Wind verweht, nicht ein Hauch, der in Nichts sich auflöst, sondern Wer mich bekennt vor den Menschen, der wird erfahren, daß dieses so gelebte Leben sich erfüllt in meinem Bekenntnis vor dem Vater. Wer nach mir die Hand ausstreckt, den werde ich nicht fallen lassen, wer meinen Namen im Herzen trägt, dessen Name soll auch eingeschrieben sein im Buch des Lebens. Das Leben, über dem diese große Verheißung Gottes erklingt, war das Leben eines Knaben, den Gott frühzeitig heimgerufen hat, der in den Augen Gottes ein Vollendeter war. Wir sehen ihn vor uns in seiner ganzen Jugendlichkeit und Frische, seiner echten, aus der Tiefe kommenden Liebenswürdigkeit. Wir sehen ihn vor uns als Schüler und als jungen Soldaten, wir sehen ihn in schweren Monaten seines Leidens, in der fast allzu schweren Gewißheit, daß dieses Leiden die Kraft seines Lebens auszehren würde. Wieviel Bilder stehen da vor unserer Seele: Bilder, die längst schon das Auge vergeblich sucht, die aber umso geprägter und leuchtender von den Kräften der Seele gehalten werden, das friedliche und schöne Heim, in dem der Knabe aufwächst, umhegt und getragen von einem Elternhaus, in dem ein Geist waltet, der nicht von der Welt ist, in dem wir etwas atmen dürfen von den Kräften der zukünftigen Welt, die weit, weit hinausreichen über alles, was vergänglich ist, und dessen Vergänglichkeit jetzt schon Ereignis wurde. Hier empfing Rudolf Feuerbaum auch jene tiefen Eindrücke, die ihn als Knaben schon in die Nachfolge Jesu stellten, nicht wie ein Gesetz, sondern als Geist und Leben, als Maß aller Fröhlichkeit und als Widerhall in allem Leid. Hier waren die Tage der schönen Feste, die Zeiten ungetrübter Freude. Er gehörte zu jenen jungen Gymnasiasten, die unabhängig von dem, was die Zeit proklamierte, sich des Evangeliums nicht schämten, die hier ihren Freundeskreis, hier auch ihren Dienst in der Gemeinde fanden. Wir sehen ihn noch vor uns, wie er im Weihnachtsspiel vor der zahllos versammelten Gemeinde das Weihnachts-Evangelium verkündete, in der Kirche, die seinen Vätern lieb und teuer war. Wir sehen ihn vor uns, wie er am Konfirmationstage den Spruch empfing: »Wer glaubt, flieht nicht«, den Spruch, den er wahr machte in mancher Anfechtung, die er bestand. Aber wir sehen ihn auch heranwachsen, bewegt und mitgerissen von dem Kampf seines Vaterlandes, froh, daß er endlich selbst darin gebraucht wird. Er verläßt das Gymnasium und wird mit seinen Kameraden eingesetzt zur Verteidigung seiner Heimatstadt. Daß er kämpfen darf, ist wie ein Ausgleich für all die schwere Last, die das Schicksal des Krieges über sein Elternhaus bringt. Und doch, all die vielfältigen Bewegungen und Entfaltungen seines jugendfrischen Lebens hatten dies Eine zur Mitte, diese Gewißheit, daß er seinem Heiland treu bleiben mußte, daß die große
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Trauerfeier für Rudolf Feuerbaum
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Bewegung zu Gott hin, die durch Jesus Christus in seinem Leben zur Gewißheit wurde, das innerste Gesetz seines Handelns und seiner Entwicklung war. Und als nun das Leid kam und die Tatenlosigkeit, als Gott alles andere von ihm abstreifte, was einen Menschen mit der Welt verknüpft, da entfaltete sich dieser innerste Kern in solcher Unbedingtheit und überschnellen Reife, daß nichts anders ihn mehr erfüllte als die Ausrichtung auf Gott und die innigste Liebe zu den Seinen. Er sah hindurch durch allen Schein und alle Phrase dieses Lebens, er wußte, daß wir einen brauchen, der unsere Schuld trägt und daß keiner rein ist vor Gott, auch nicht einer. Wer mich bekennt vor den Menschen, d. h. doch wohl, wer sich nicht schämt zu bekennen, daß er die Vergebung braucht, wer sich nicht schämt zu bekennen, daß der Mensch verloren und Ich sein Retter bin! Ob es ein höheres Ziel gibt, das der Mensch erreichen kann, als dieses eine? Gottes bedürfen ist des Menschen größte Vollkommenheit! Gottes Wege und unsere Wege, solange sie einander parallel laufen, ist der Glaube leicht. Aber wenn Gottes Wege anders werden als unsere Wege, wenn wir ihn nicht mehr verstehen und eine Wand zwischen ihm und uns sich aufbaut, dann Ja sagen zu Gott, dann dennoch bei ihm bleiben, dann Gott recht geben und sich aufgeben – wer kann das? Es ist immer wieder Gottes Gnade, der den Menschen in solcher tiefsten Anfechtung das Ja auf die Lippen legt: »Ja, Vater, ja, von Herzensgrund, leg auf, ich will dirs tragen«. In solcher Schwachheit reißt der Geist Gottes den Menschen hoch und lehrt ihn das Abba rufen, das zu Gottes Thron empor dringt. »Gottes Wege sind wunderbar«, das war das Letzte, was sein sterbender Mund und sein siegender Geist uns sagte. Es war das Ja zu Gott, das heilig und gebietend vor uns steht. Gott hat ihn euch gegeben, Gott hat ihn von euch zu sich genommen, der Name des Herrn sei gelobt in Ewigkeit. Denn eben dies leuchtet nun ganz hell auf, überstrahlt in der sieghaften Kraft von Ostern alle Ungewißheiten und Zweifel, daß wir nicht allein sind mit unserem Glauben, daß wir nicht verlassen sind mit unserem Gebet, daß wir als die Sterbenden leben, daß Christus da ist, der Erstgeborene von den Toten. Den will ich bekennen vor meinem himmlischen Vater, haben wir nicht darin die Gewißheit, in wessen Händen der ruht, den wir so lieb hatten? »Alles was mir der Vater gegeben hat, ist mein«, sagt der Herr, »und niemand soll es aus meiner Hand reißen.« Die Hand Gottes ist da, die nicht läßt, was sie ergriffen hat, der Mund Gottes ist da, der nicht schweigt, wenn das Schweigen des Todes uns Menschen überkommt. Hier seid ihr meine Zeugen, sagt Jesus, meine Zeugen in einer Welt, die mich kreuzigt, meine Zeugen in einer Welt, die nichts wissen will von Liebe und Erbarmen, die nicht glaubt, daß Gott die Liebe ist. Aber dort werde ich euer Zeuge sein
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und mein Wort wird gelten in Ewigkeit, und wen ich rechtfertige, der ist gerecht gesprochen, wider alle Schuld, wider alle Mächte des Bösen, die nach ihm greifen; zu wem ich mich bekenne, der ist hineingerufen ins ewige Leben, in die Schar der Erlösten. So steht Jesus da, so spricht er sein Wort hinein in jene Welt, von der wir sonst nichts haben als Ungewißheit und Dunkel, aber er öffnet das dunkle Tor, er ist auch hier der Einladende, er wandelt die Welt des Todes in Leben, und er tröstet uns, wie er die Schwester des Lazarus tröstete, da er sprach: Dein Bruder soll auferstehen. Und wenn wir nun Euren lieben Sohn und Bruder, der uns allen lieb und teuer war, Euren Freund und Kameraden, der Euch Vorbild und Helfer war, wenn wir ihm, dem jungen tapferen Christen, das Geleit zur letzten Ruhe geben, sollten wir unsere Augen empor richten zu dem Osterfürst, der nicht ferne ist und in dessen Frieden unsere Herzen Ruhe finden. Gott will nicht, daß wir traurig sind wie die Anderen, die keine Hoffnung haben. Denn so wir glauben, daß Jesus gestorben und auferstanden ist, also wird Gott auch, die da entschlafen sind, durch Jesum mit ihm führen. (1 Thess. 4,13 f.) Dein letztes Wort laß sein mein Licht, wenn mir der Tod das Herze bricht. Dein Kreuz laß sein mein Wanderstab, mein Ruh und Rast dein heilig Grab.
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46. Gott oder der Tod 1 Korinther 15,12-22 26. November 1944
Zum erstenmal seit jener Nacht, in der nun auch die Marienkirche ein Raub der Flammen wurde, treten wir heute, am Totensonntag, hier zusammen als die Schar derer, die noch übrig geblieben ist, um uns zu stärken an der Gemeinschaft mit Gott und miteinander. Alles, was an äußerem Besitz unsere Gemeinde kennzeichnete, das Gotteshaus, die beiden Gemeindehäuser und die beiden Pfarrhäuser sind zerstört. Lange durften wir durch Gottes Gnade noch mitten in der Zerstörung unsere Gottesdienste halten. Nun ist auch uns die Grenze gesetzt, und wir beugen uns unter Gottes gewaltige Hand. Er wird auch die richten, die solches verschuldet haben. Aber es ist viel mehr noch geschehen, eine grausame und unbarmherzige Zerstörung hat unsere ganze Gemeinde verwüstet und das Bild unserer Stadt bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Der Schmerz und die Klage um unendlich viele geliebte Menschen wird heute neu aufbrechen, Mütter und Kinder, Greise und wehrlose Frauen sind die Beute des Todes geworden. Wer die Nacht miterlebt hat, wird etwas zu sagen wissen, von dieser furchtbaren, satanischen Entfesselung aller zerstörenden Kräfte und Elemente, die da über uns hereinbrachen. Und wer sie überstanden hat, wird etwas zu sagen wissen, von der Gnade Gottes, die uns noch eine neue Frist gesetzt hat, eine Frist der Umkehr zu ihm, die uns das Leben geschenkt hat, damit wir es erfüllen in Glaube und Liebe, in Standhaftigkeit und Treue zu ihm. Es gäbe viel Einzelnes zu sagen und zu berichten, die Namen der Toten, an die wir heute besonders denken, werde ich am Schluß des Gottesdienstes verlesen, wesentlich scheint mir dies, daß wir alle begreifen lernen, daß Gott, wenn man uns auch die Kirchen zerschlägt, dennoch nicht heimatlos ist, denn er wohnt nicht in Tempeln von Menschenhänden erbaut, sondern Gott ist da, wo seine Gemeinde ist. Ihr seid der Tempel des lebendigen Gottes. So aber Christus gepredigt wird, daß er sei von den Toten auferstanden, wie sagen denn etliche unter euch, die Auferstehung der Toten sei nichts? Ist aber die Auferstehung der Toten nichts, so ist auch Christus nicht auferstanden. Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsre Predigt vergeblich, so ist auch unser Glaube vergeblich. Wir würden aber auch erfunden
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als falsche Zeugen Gottes, daß wir wider Gott gezeugt hätten, er hätte Christum auferweckt, den er nicht auferweckt hätte, wenn doch die Toten nicht auferstehen. Denn so die Toten nicht auferstehen, so ist Christus auch nicht auferstanden. Ist Christus aber nicht auferstanden, so ist euer Glaube eitel, so seid ihr noch in euren Sünden. So sind auch die, so in Christo entschlafen sind, verloren. Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christum, so sind wir die elendesten unter allen Menschen. Nun aber ist Christus auferstanden von den Toten und der Erstling geworden unter denen, die da schlafen. Sintemal durch einen Menschen der Tod und durch einen Menschen die Auferstehung der Toten kommt. Denn gleichwie sie in Adam alle sterben, also werden sie in Christo alle lebendig gemacht werden. Am Ende unseres Textes steht ein Wort, das wirkt wie ein Spiegel. Es könnte sein, daß wir von daher die ganze Not und die Schwachheit unseres Christentums von heute begriffen. Eines Christentums, das nicht mehr von der Auferstehung her lebt, eines Christentums, das darum gegenüber der furchtbaren und grausamen Macht des Todes, gegenüber seinen tausend Rätseln, mit denen er uns heute allerorten umgibt, gegenüber seinen tausend Ängsten, mit denen er heute die Menschheit sich versklavt und sie von einem Schrecken zum anderen treibt, nichts mehr zu sagen weiß. Wenn wir allein in diesem Leben unsere Hoffnung auf Christus setzen, sagt Paulus, und kennzeichnet damit die Unmöglichkeit dieses Christentums, die Unmöglichkeit einer solchen christlichen Existenz. Wenn dieses Leben, das ganz und gar in den Händen des Todes ruht, bei dem der Tod wirklich das letzte Wort hat, wenn dieses Leben das ganze Leben wäre, wenn dieses Gefängnis keine offene Tür hätte, wenn diese Welt, die Welt zwischen Geburt und Tod alles wäre, wenn es kein anderes Fortleben gäbe, als das Fortleben im eigenen Volk, im eigenen Geschlecht, dann wären die Christen wirklich fehl am Platze. Dann hätten die Leute recht, die sich ganz und gar einstellen auf diese Todeswelt, die endgültig gebrochen haben mit allen Illusionen und falschen Hoffnungen, dann wäre der krasseste Materialismus immer noch mehr, als solch ein Christentum, das nicht Fisch noch Fleisch ist, das sich begrenzt weiß in dieser Spanne zwischen Geburt und Tod. Und vielleicht haben darum die Menschen der Welt ganz recht, wenn sie mit diesem unseren Christentum nichts anzufangen wissen, weil wir eben vor dem entscheidenden Punkt genau so kapitulieren, wie sie auch, weil wir uns genau so im Kreise, im Todeskreise drehen wie sie auch. Wenn das nämlich wahr ist, daß es keine Auferstehung gibt, daß das, was Ostern geschehen ist, nun eben doch nicht Geschichte und Geschehnis sein soll, wenn die Mitte, um die die Menschengeschichte schwingt, immer noch
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Adam heißt und Tod heißt und Vergänglichkeit heißt, dann ist in der Tat alles andere, was wir auch sagen mögen, von christlicher Moral und christlicher Weltanschauung, nichts anderes, als eine jämmerliche Halbheit. Vielleicht glauben wir, daß Christus auferstanden ist, daß ihn der Tod nicht behalten konnte – aber wir glauben es nur von ihm und nicht von uns. Und darum glauben wir in Wirklichkeit doch nicht an das, was Ostern geschehen ist. Wir glauben vielleicht, daß sein Grab leer war, aber unsere Gräber, die Gräber, in die wir das Liebste, was wir haben, legen mußten, die bleiben unter der Herrschaft des Todes. Hier hält der Tod die Wache. Hier hat er den Schlüssel. Hier waltet er als Fürst der Welt, gegen den niemand ankam. Und das, sagt der Apostel, das ist die Unmöglichkeit unseres Christentums, wenn ihr das annehmt, dann habt ihr noch niemals wirklich unter der Verkündigung der Auferstehung gestanden, dann hat der Blitz, der da die Finsternis zerrissen hat, noch niemals euer Leben, euer Auge, eure Welt getroffen. Erst an eurem Tod und an euren Toten wird euer Osterglaube auf seine Echtheit geprüft, der Tod, der da besiegt wurde, das war euer Tod, das war der Tod, der als eine ungeteilte, universal herrschende Macht über allen Menschen steht. Wir sind alle in dem selben Gefängnis, darum, wenn hier eine Bresche gebrochen wird, so bedeutet diese Bresche für alle die Freiheit. Wir sind alle in derselben Finsternis, darum, wenn von einer Stelle aus, wenn in einem Menschen hier das Licht des Lebens aufleuchtet, dann bedeutet das für alle Hoffnung und Licht und Leben. Es geht also nicht an, daß ihr als Christen an die Auferstehung Jesu Christi glaubt und dann so weiterlebt, als bliebe nun alles in der Welt beim alten, als wäre da nicht ein Riß durch dies ganze Gemäuer gegangen, als hätte hier nicht der Tod seine Grenze, die Grenze seiner Macht von Gott her empfangen. Und darüber sollte sich jeder klar sein, daß es hier ums Ganze geht, um das Ganze unseres Glaubens, um das Ganze unserer Verkündigung, um das Ganze der Kirche, um die Sinnhaftigkeit dessen, was wir meinen, wenn wir überhaupt das Wort Gott in den Mund nehmen. Denn Totenauferstehung und Ostern und unser Predigtamt und euer Glaube und die Gottheit Gottes, das sind alles Glieder an einer Kette, löst ihr ein Glied heraus, dann stürzt das Ganze, dann gibt’s keine Hoffnung für die Entschlafenen, dann gibt es aber auch keine Hoffnung für die noch Lebenden, denn so wie jene dann die Beute des Todes sind, so seid ihr, die Lebenden, die Beute der Sünde. Denn der Gott, den wir verkünden, ist ja der, der sich gerade hier in Christus, gerade da, als er ihn dem Tode entriß, als Gott offenbart hat. Nicht das Schweigen des Todes sondern das Wort des lebendigen Gottes bestimmt das Ende aller Dinge. Und wenn wir die Vergebung
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der Sünden predigen, dann eben darum, weil Christus auferstanden ist und vor Gott für uns eintritt und weil auch diese unsere durch die Sünde geprägte und gezeichnete Existenz einmal der Existenz ähnlich werden soll, die uns in dem Auferstandenen erstmalig und vorbildlich vor Augen gestellt worden ist. Ja, die Tatsache überhaupt, daß gepredigt wird, daß wir als Zeugen und Boten Jesu Christi das Evangelium vom Reiche Gottes verkündigen, ist nichts anderes, als die radikale Kampfansage an die Todeswelt, in der wir leben. Die Tatsache, daß das Evangelium erklingt, ist der Protest gegen das eherne Gesetz des Todes, dem sich alles Fleisch beugen muß. Wenn ihr nun, so will der Apostel sagen, auf einmal an der Frage der Totenauferstehung ausbrecht, wenn ihr hier kapituliert, wenn ihr hier auf einmal den Tod größer macht als Gott, dann wird unser ganzer Glaube, unser ganzes Christentum sinnlos. Gott oder der Tod, das ist die Entscheidung, die mit der Auferstehung Jesu entschieden worden ist, und zwar entschieden worden ist einmal und ein- für allemal. So können wir wohl spüren, daß wir heute, am Totensonntag, auf unsern Osterglauben geprüft werden. Daß heute, da unsere Gedanken zu den nahen oder fernen Gräbern wandern, der Apostel nicht zufällig neben uns steht und uns fragt, ob wir es wohl wagen, hier, an der Grenze aller Vernunft, hier in der tiefsten Finsternis, hier, wo alles uns sagt, es ist aus, es ist für immer aus, ob wir hier den Ostertag gelten lassen. Denn es kommt darauf an, ob wir ihn hier gelten lassen, hier, wo der Tod unser Leben berührt, wo wir an uns seine Macht spüren, wo er uns alles nehmen möchte – ob wir hier zu glauben vermögen, daß Christus Sieger ist. Der Tod und Gott und wir in der Mitte! Merken wir nicht, wie beide, Gott und der Tod, immer näher auf uns zu rücken, daß wir gar keinen Raum mehr haben, dem auszuweichen, daß dies über uns kommt, wie eine große, letzte Entscheidung. Ja, wenn die Entscheidung in uns fiele, dann würde der Tod gewinnen und Gott verlieren. Denn er ist nicht umsonst der Sünde Sold. Aber die Entscheidung fällt nicht in uns, sondern sie fällt in Christus, sie ist in ihm gefallen, sie ist da gefallen für alle Menschen, die durch diesen Engpaß gehen müssen. Und diese Entscheidung, die hier in Christus gefallen ist, die hat den Tod weggefegt und den Weg zu Gott freigemacht. Der Tod ist ein Schlaf geworden, eine Schwelle, ein Übergang, der Tod ist der Augenblick der großen Verwandlung, wie sollte es auch anders sein? Es muß ja doch einmal das Vergängliche abfallen und die Unvergänglichkeit an seine Stelle treten, es muß ja doch einmal das Leben wieder das werden, was es ohne den Tod war, ewig, göttlich, wahrhaftig und immer bleibend. Das ist der Tod, wenn wir ihn in Christus ansehen, wenn wir ihn ansehen unter der Perspektive, daß Gott Sieger ist. Nun muß der Tod uns Gott näher bringen
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und kann uns nicht mehr von Gott trennen, so wie es im Liede heißt: Christus lebt, nun ist der Tod mir der Eingang in das Leben! Denn die Menschheit mit all ihren Schicksalen, im Großen und im Kleinen, schwingt um zwei Pole, der eine Pol heißt Adam, aber der andere heißt Christus. Wehe uns, wenn wir vergessen, daß diese Beiden nicht in einer Linie stehen, daß mit Christus etwas Neues angebrochen ist, etwas ganz Radikales, ganz Anderes. Freilich so, daß wir das ganz Andere nur faßbar machen können in der Aufhebung dessen, was ist. Diese beiden Linien, in unser aller Leben, die adamitische und die Christus-Linie, überschneiden sich noch, sie überdecken sich gleichsam. Und so erfahren wir die Kraft des Christus-Geistes zunächst und zumeist in der Negation alles dessen, was mit der adamitischen Welt als scheinbar endgültig und unabänderlich gesetzt ist. Christus ist die Grenze in der Grenzenlosigkeit des Todes. Hier heißt es Halt, hier ist das Land, dem unser Nachen zutreibt, hier ist der Tod des Todes Wirklichkeit geworden. Und so, wie der Tod über uns alle gekommen ist, nicht aus unserer Wahl und unserer Tat heraus, sondern so, daß wir an ihn gebunden sind vom ersten Tage an da wir atmen, genau so ist das Leben über uns gekommen von Christus her, nicht aufgrund unserer Entscheidung oder unseres Verdienstes, sondern aufgrund dessen, daß diese Entscheidung in Christus für uns gefallen ist, daß das, was da geschehen ist, für alle gilt, daß Gott die Geschichte, deren Gesamtnenner Adam heißt, nämlich Mensch, irdischer, vergänglicher, von Gott abgefallener, dem Tode preisgegebener Mensch, daß er diese Geschichte aufgehoben hat, daß er mit uns allen ein Neues begonnen hat und daß der Anfang dieses Neuen Christus heißt. So steht er da, so wird er verkündigt, so wird er geglaubt, als der Erste in der Reihe, der hindurch ist. Der erste Mensch, in dem die Auferstehung von den Toten Ereignis geworden ist. Einst kommt der Tag, da das über alle kommt, da auch wir mit hinein gerissen werden in den Prozeß jener großen Verwandlung, wenn Gott das Nichtseiende ins Dasein rufen wird. Wissen wir nun, woraufhin wir leben sollen? Wissen wir nun, welche Hoffnung über den Gräbern steht? Wissen wir nun, welches Lied wir dem Todeslied entgegensetzen können, das heute so allgewaltig und bezwingend über die ganze Welt geht? Es kann doch nur dies Lied sein, das von dem Sieg Gottes handelt, das Lied, das von Ostern her erklingt, die einzige, wahre, letzte Hoffnung, die uns geblieben ist. Aber eine Hoffnung, die wirklich diesen Namen verdient, das Rechnen mit der neuen Welt Gottes, die in dem Sieg Jesu Christi unter uns Wirklichkeit geworden ist. Christ ist erstanden, von der Marter alle.
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47. Gedenkrede zum Totensonntag 1945 (Psalm 90) 24. November 1945
Meine Freunde, ich meine, daß wir hierher gekommen sind, um der Toten zu gedenken. Das müßte eine ganz entschlossene und tapfere Sache sein. Nicht nur eine Sache der Pietät, daß man der Toten gedenkt in Ehrfurcht und Dankbarkeit, sondern es müßte heute sehr viel mehr sein, es müßte der Ausdruck des Mutes und der Entschlossenheit sein, daß wir vor Gott die Wirklichkeit sehen, wie sie gezeichnet ist durch den Tod. Wir, die wir durch irgend ein Wunder, die wir unbegreiflicherweise übrig geblieben sind. Es werden wohl Viele unter uns sein, die nicht wissen, warum sie nicht zu denen gehören, die da betrauert werden. Es werden doch Viele unter uns sein, die der Tod draußen oder drinnen irgendwann oder irgendwie gestreift hat. Warum sind wir denn übrig geblieben und wozu sind wir denn übrig geblieben? Können wir uns denn lösen von denen, die uns vorangegangen sind? Können wir so tun, als gäbe es sie nicht? Können wir ihnen einfach den Rücken kehren? Ich meine, das geht nicht. Wir gedenken der Toten. Wenn wir auf das Totenfeld Europas treten, auf diesen mit Jung und Alt, Hoch und Niedrig gedüngten Acker dieser Welt, umfängt uns eine heilige Stille. Hier schlagen Menschen kein Tribunal mehr auf, hier wird nicht mehr gerichtet, hier wird kein Urteilsspruch mehr verlesen. Wir wissen, hier waltet ein ganz Anderer. Der, der Kronen des Lebens verteilt und der verdammen kann ins ewige Feuer. Hier waltet der, der die Gräber auftut, daß heraustreten zum Gericht die, die Gutes getan haben und die, die Böses getan haben. Hier sind wir alle die Gerichteten, Gesichteten und Geprüften. Hier ist die Sache in Ordnung, hier sind wir Menschen alle auf der einen Seite und Gott auf der anderen Seite, hier richtet der, der Herz und Nieren prüft. Wann werden wir Ihn hören, wann wird die Decke der Völker abgetan werden? Es soll eine tapfere Sache sein, wenn wir heute der Toten gedenken vor Gott, das heißt wir wollen ganz ernst nehmen, was da geschehen ist. Wir wollen nicht daran vorbei leben wie die Gleichgültigen oder die Hartherzigen. Wir sind heute alle in der Gefahr, abgestumpft zu werden durch das, was wir erlebt haben, denn wir sind über Leichenfelder geschritten und hinweggerissen wie ein Feuerbrand, wie ein Stumpf, wie ein Rest aus einer
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großen Katastrophe. Wir sind alle in Gefahr, daß die Verwesung uns selbst ergreift und zersetzt, oder daß wir uns mit Versteinerung wappnen gegen das Grauenhafte, Unerträgliche, das sich da vor uns auftut. Ein steinernes Herz: Laßt uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot. Ich meine, meine Freunde, daß wir hier zusammen sind, ist der Ausdruck der Entschlossenheit: den Weg gehen wir nicht. Wir wollen das Vermächtnis unserer Toten antreten, unserer Toten! Und nun laßt uns einmal heraustreten und sehen, was das heißt: Unsere Toten. Unsere Soldaten. Die Blüte unseres Volkes, die dahingegeben ist zum zweiten Mal auf den Schlachtfeldern Europas, die da gestorben sind in einem Heldentum, das durch keine Niederlage seine Klarheit und seine Echtheit verlieren wird. Aber wir gedenken auch der Anderen, die mit ihnen Grab an Grab gebettet sind, der Blüte der anderen Völker. Da werden auch Mütter weinen, Bräute vergeblich warten, da werden auch arme alte Eltern ohne Stütze sein. Das haben wir uns angetan, wir uns gegenseitig angetan! Und wie wird es sein? Was wird von ihren Gräbern ausgehen? Werden wir es noch einmal erleben, daß Menschen kommen, die die Gräber öffnen und die Rachegeister herauslassen, über unseren Häuptern zu streiten, daß wir uns selbst noch einmal in eine letzte und endgültige Vernichtung treiben, daß wir hingehen und graben alle Schande und Schuld aus, immer bei den Anderen, und lassen sie nicht ruhen? Haben wir das nicht getan? Oder wollen wir den Anderen über die Gräberfelder gehen lassen, der die Gräber öffnet und der da spricht: Ich bin die Auferstehung und das Leben? Soll Jesus Christus nun endlich wirklich einmal der Herr sein, der auch zu diesen Dingen redet, der nicht in Erbpacht genommen wird für die Kirche und für kleine fromme Kreise, sondern der der Welt gehört, dieser Todeswelt, die so verloren ist? Wollen wir hören, daß Er da steht und sagt: Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen; daß es da heißen wird: Friede auf Erden. Auf Erden! Frieden! Unsere Toten! Ihr habt es erlebt hier in Bielefeld, ich habe es erlebt in Dortmund, in den großen Städten, wie sie da gesät waren, begraben wurden, Kinder, Frauen, Greise, unbarmherzig zermalmt, zerschlagen. Vor einiger Zeit kam ich in ein zerstörtes Haus in meiner Gemeinde in Dortmund, ein Haus, von dem 15 Einwohner getötet waren. Eben war ein junger Soldat heimgekehrt. In den Ruinen wohnte auch ein alter Mann, er hatte die Aufgabe, dem Soldaten zu sagen, daß er seine Mutter nicht wieder fände. Sie hatten noch ein bißchen schwarzen Kaffee. Sie hatten damals kein Brot. Der Soldat war im Lager schwer erkrankt. Da haben wir drei zusammen gesessen. Das war seine Heimkehr. Der alte Mann weinte, aber der Soldat konnte nicht mehr weinen. Er sah mit seinen Augen starr gerade
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aus, irgendwie ins Unendliche, als wenn für immer irgendwas zerbrochen wäre in seinem Leben. So war es 1918 nicht. So ist die Jugend diesmal heimgekehrt. Unsere Toten! Aber wir müssen noch weiter gehen. Wir müssen noch viel tapferer sein, müssen auch noch mitkommen dahin, wo die schauerlichsten Dinge geschehen. Wie sie da gestorben sind in den Lagern. Martin Niemöller erzählte mir, daß man aus einem Zug von 2000 Menschen, die da eingeschlossen waren, 600 gerade noch lebend geborgen habe. Wie mag so ein Sterben im verschlossenen Waggon gewesen sein? Das sind auch Helden. Einer unserer Pfarrer ist im Januar dieses Jahres im Konzentrationslager Dachau gestorben, Pastor Ludwig Steil aus Wanne-Eickel. Er lag neu eingeliefert unter lauter Fremdarbeitern, und als ihn ein Freund besuchte, sagte er ihm, mitten unter Geschändeten und Entehrten: Ich bin ganz im Frieden. – Mir ist die Geschichte einer jüdischen Frau berichtet, die zu den gelehrtesten Frauen gehörte, die wir damals hatten. Sie war eine Philosophin. Unter dem, was 1933 geschah, fand sie heim zu dem Heiland und Erlöser ihres Volkes, Jesus Christus. Sie ging dann ins Kloster nach Holland. Als die Deutschen nach Holland kamen, hätte sie sich verbergen können. Aber sie ging den Weg des Leidens ihres Volkes, denn sie hatte ihren Heiland gefunden. Mehr wissen wir nicht von ihr. Unsere Toten! Sind wir bereit, auch da zu sagen: Unsere Toten. Das ist unsere Frage vor Gott, sind wir bereit, auch derer zu gedenken, an denen wir schuldig geworden sind? Wir wollen noch weiter gehen. Es könnte leicht so scheinen, als wäre der Kreis des Sterbens jetzt begrenzt und abgeschlossen. Während wir hier sitzen, ringen im Osten die letzten Deutschen um ihr Leben. Hinter dem Reiter auf dem weißen Pferd kommt der Reiter auf dem schwarzen Pferd, der die Waage in der Hand hält, der Hunger. In einem der letzten Berichte, die wir von da bekommen haben, heißt es, daß dort alles schlafen geht, was noch nicht deportiert ist nach Sibirien, oder sonst umgekommen ist, daß alles schlafen geht, die letzten Helden, die dort in der Wüste, die geschaffen ist, aushalten. Wir haben vor ein paar Wochen einen Zettel eines Pfarrers aus Königsberg bekommen, darauf stand geschrieben: Sage den Kindern, wenn ich es nicht mehr sagen kann, daß Gott lebt und daß es darauf ankommt, im Glauben an Ihn zu leben und im Glauben an Ihn zu sterben. – Zwei unserer Pastoren, die entgegen dem Befehl der Gestapo, weil sie sich ihren Gemeinden verpflichtet wußten, in Königsberg geblieben waren, sind bereits gestorben. Zwölf sind dort geblieben. Sie alle kämpfen mit dem Hungertod, ebenso die Ärzte. In Königsberg sind etwa noch Fünfzigtausend Menschen. In der Stadt wüten Seuchen, Typhus und Ruhr vor
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Gedenkrede zum Totensonntag 1945
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allem, und Hunger und Kälte und Finsternis. In einem Krankenhaus liegen 13-1400 Menschen, zu einem großen Teil auf dem Fußboden, die Schwestern, in Decken gehüllt, fast alle geschändet, dienen mit letzter Kraft den Sterbenden. Und das müssen wir wissen, diese Ärzte, diese Pfarrer, sind freiwillig, nicht nur freiwillig, sondern im Widerspruch gegen die damals herrschende Gewalt dort geblieben, Hirten ihrer Gemeinden. – So, wie wenn ein Schiff sinkt, und einer nochmal die Summe seines Lebens zusammenfaßt, die Summe seines Lebens und Kämpfens und Sterbens in einem Ruf zusammenfaßt, so dringt der Ruf unseres Bruders herüber: Sage es meinen Kindern, daß Gott lebt und daß es darauf ankommt, im Glauben an Ihn zu leben und im Glauben an Ihn zu sterben. – Ist das nicht eine große Sache, wenn das über das Totenfeld der Welt hinweggeht: Sage es, daß Gott lebt! Nehmen wir den Ruf auf, sind wir bereit, ihn weiter zu geben? Sind wir bereit, auch so zu stehen? Das ist die Frage. Es ist noch nicht zu Ende. Die große Prüfung ist noch nicht vorüber. Täusche sich niemand, die Welle des Todes, die über Europa braust, ist noch nicht gestoppt, wird auch nicht von selber abebben, sondern es wird darauf ankommen, ob wir bereit sind, anzutreten zum Kampf gegen den Tod, zum Kampf mit den Mächten der Tiefe, die da ihren Mund geöffnet haben. Der Würger geht um in Europa. Einer hat ihn herausgelassen aus dem Käfig. Aber der fängt das Raubtier wieder ein. Meine Freunde, dazu sind wir hier, um uns dafür zu entscheiden, ob wir wissen, was wir zu tun haben. Wir wollen miteinander ein Gebet sprechen, ein altes Gebet, Ihr werdet es kennen. Dann werden wir wissen, was wir zu tun haben: Herr Gott, Du bist unsere Zuflucht für und für. Ehe denn die Berge wurden, und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist Du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit. – Das gibt es also, es gibt eine feste Burg, eine Stätte, wohin wir fliehen können. Es gibt eine Zuflucht, die allein geboten ist: Der Gott, der sich nicht wandelt, der Gott, der derselbe bleibt von Ewigkeit zu Ewigkeit, der Gott, dessen wir uns geschämt haben, der Gott, der schon der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs war, der Gott, der seine Engel sandte, sie standen über dem Stall von Betlehem, der Gott, der den Rat des Kaiphas zerbrach und die Mächtigen leer ausgehen ließ, der Gott, der Ostern zu Ostern gemacht hat, der Gott, dem unsere Väter Tempel gebaut haben, Lieder gedichtet haben, die wir gesungen haben als Kinder, als Männer, der Gott, an den wir uns gewandt haben in Not und Tod. Er, der Eine Gott, der sich nicht wandelt. – Wir haben ja weithin gemeint, es käme auch für die Götter die Zeit, da sie sich ändern müßten. Wir haben gemeint, wir müßten diesen Gott zeitgemäß verkündigen, wir haben gemeint, Gott müsse teilnehmen an dem Drehen des Rades der Zeit, er müsse mitgehen
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(Psalm 90)
mit uns, mit uns ins Verderben. Wo sind jetzt diese Götter, wo der Himmel, den wir uns malten? Es wird Zeit, daß die Ewigkeit frei und ungeschminkt und unbemalt über uns aufleuchtet und groß werde. Ehe denn die Berge wurden, und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist Du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Das ist die Frage, ob wir den Gott meinen, ob wir den Gott anrufen! Ob das Wort Gottes, uns allen wunderbar in den Mund gelegt, wirklich durchbricht durch Zeit und Raum und dahin steigt, wo es ein Ohr findet und ein Herz findet, das uns hört in unserer Not. Wie sollten wir noch zu einem Gott beten können, der ganz ist wie wir, der unsere Farbe hat und unsere Art. Darum ist unser ganzes Volk stumm geworden. Darum stiegen unsere Gebete nicht empor, darum war es nutzlos, wenn wir beteten, umsonst, ein Geschwätz. Wir stellten uns ja nicht mehr der Ewigkeit, wir wagten es nicht mehr, zu dem zu reden, der da war und der da ist und der da kommt. Der Du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder! Denn tausend Jahre sind vor Dir wie der Tag, der gestern vergangen ist und wie eine Nachtwache. Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom, sie sind wie ein Schlaf, gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird, das da frühe blüht und bald welk wird und des Abends abgehauen wird und verdorret. Das ist es! Wir sind vor Ihm nichts. Tausend Jahre schrumpfen zusammen auf einen Tag, auf einen Stundenschlag in der Ewigkeit. Ach, wenn doch für uns alle einmal die Zeit klein würde, wirklich Zeit würde, damit die Ewigkeit wieder Ewigkeit würde. Warum nehmen wir die Zeit so wichtig? Haben wir nicht begriffen, daß wir leben zwischen Zeit und Ewigkeit? Daß die Ewigkeit unser Schicksal ist und nicht die Zeit. Was ist die Zeit? Ein Schlaf, ein Traum, aus dem es ein schreckliches Erwachen gibt. Warum habt ihr Euch an die Zeit verkauft? Wollt Ihr nicht wieder einmal klein werden vor Gott? Das macht Dein Zorn, daß wir so vergehen, und Dein Grimm, daß wir so plötzlich dahin müssen. Denn unsere Missetaten stellst Du vor Dich und unsere unerkannte Sünde ins Licht vor deinem Angesicht. Darum fahren alle unsere Tage dahin durch Deinen Zorn. Wir bringen unsere Jahre zu wie ein Geschwätz. Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenns hoch kommt, so sind es achtzig Jahre, und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen, denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon. Da ist noch etwas hinter dem Sterben, etwas unheimlich Letztes. Das ist nichts Natürliches, nicht so wie das Blühen und Abgemähtwerden einer Blume, da ist noch etwas Anderes dahinter. Da stimmt etwas nicht mit Gott, das bricht auf einmal auf: unsere Schuld!
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Meine Freunde, ich will es euch schlicht und offen sagen: ich kann an unsere hingemähte Jugend nicht denken, ohne daran zu denken, daß wir alle an unserer Jugend schuldig geworden sind, selbst schuldig geworden sind. Haben wir sie wirklich den rechten Weg geführt? War es nicht Sache der Jugend, mit Begeisterung sich zu opfern? Wir Älteren, Erfahrenen, was haben wir getan? Ich bin in manches Haus getreten als Pfarrer, wo die Trauernachricht gekommen war, und wo den Eltern die Augen aufgegangen waren: Was haben wir getan?! Wir wollen uns über den Gräbern unserer Toten die Hand reichen für die Verpflichtung hin: Nie wieder! Nie wieder unsere Jugend zu opfern für ein Ideal, das nicht vor Gott bestehen kann. Wir wollen den Rest unseres Lebens dafür einsetzen, daß wir unserer Jugend einen neuen Weg weisen, nicht den Weg des Hasses, des Mordes, der Vergeltung, sondern den Weg, den unser Herr Jesus Christus meint: Selig sind die, die den Frieden wirken, den Aufbau vom Herzen her, von der Gerechtigkeit Gottes her. Es muß eine Umkehr geben. Wenn nicht das beginnt, daß die Völker des Abendlandes heute das begreifen – wir können nicht darauf warten, bis die Anderen es begriffen haben, wir müssen es selbst begreifen – wenn sie nicht das begreifen, was hier steht: Unsere Missetaten stellst Du vor Dich und unsere unerkannte Sünde ins Licht vor Deinem Angesicht, dann ist alles verloren. Das heißt klug werden, das heißt letzte Tapferkeit. Nicht noch einmal feige sein. Wir sind nun endgültig genug feige gewesen. Jawohl, dieser Krieg ist nicht nur ein Schicksal, und die Toten liegen nicht nur da wie ein Verhängnis, sondern sie sind die Dokumente unserer Schuld, unserer Unfähigkeit, ein echtes Staatswesen aufzubauen, echte Gemeinschaft anzubahnen. Und sie fragen uns, ob diese Hekatomben des Todes nicht genügen, damit wir klug werden. – Wir bringen unsere Jahre zu wie ein Geschwätz. Was die Zeitungen vor 20 Jahren geschrieben haben und vor 10 Jahren und was sie wieder in 10 Jahren schreiben werden, das ist nicht mehr Geist, sondern Geistlosigkeit. In der Gemeinde Jesu Christi soll es anders sein. Hier muß Inhalt hinein, Geist und Wahrheit. Wir wollen einander das sagen. Wir wollen unser ganzes Leben mit solchen Zielen erfüllen, die bleiben. Wir müssen eine Schar von Menschen werden, die entschlossen sind, abzutreten von dem Verfall des Lebens. Und nun noch ein Letztes, meine Freunde. Haben wir es gelernt, vor Gott klein zu werden und vielleicht klug zu sein, so wird uns Gott auch noch lehren, vor Gott froh zu sein. Herr, kehre dich doch wieder zu uns und sei Deinen Knechten gnädig! Fülle uns frühe mit Deiner Gnade, so wollen wir rühmen und fröhlich sein unser Leben lang. Erfreue uns wieder, nachdem Du uns so lange plagtest, nachdem wir so lange Unglück leiden. – Es kann
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(Psalm 90)
das geben, wir dürfen darum bitten, und ich meine, wir sollten dem Teufel ins Angesicht, dem Tode zum Trotz, dastehen mit dieser Bitte. Wir sollten glauben, daß Gott uns noch einmal freundlich sein kann. Wir sollten nicht glauben an Menschen, wir haben lange genug an Menschen geglaubt, wir sollten nicht glauben an Menschen, ob in England, Amerika oder Rußland. Es müßte zu Ende sein damit, von Menschen etwas zu erwarten. Alle Menschen sollten vielmehr das erwarten, daß Gott uns freundlich werde, daß Er uns sein Angesicht leuchten lasse. Wir müssen anfangen! In der Gemeinde Jesu Christi muß es anfangen. Wir müssen das glauben. Mit dieser Zuversicht, mit diesem allein begründeten Optimismus müssen wir durchbrechen durch alle Not und Verzweiflung. Kehre Dich wieder zu uns und sei uns gnädig. Wir wollen einmal damit anfangen, daß Gott uns gnädig ist. Wir wollen davon ausgehen, daß Weihnachten noch Weihnachten ist, daß Friede auf Erden ist in Jesus Christus. Daß Ostern Ostern ist, daß der Tod überwunden wird. Fangt doch einmal an, so zu leben, so frei, so groß, so klar, so bewußt, und alle Dämonen werden weichen. Ihr werdet euch nicht mehr fürchten. Ihr werdet auf Schlangen treten und sie werden euch nicht stechen, ihr Gift wird euch nicht schaden. Ihr werdet es dann sagen und bekennen, daß euch nicht Schwert, nicht Blöße, nicht Hunger, nicht Fährlichkeit mehr scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist. Ihr werdet etwas schmecken von jenem Heldentum, daß die Liebe stark ist wie der Tod und ihr Eifer fest wie die Hölle. Ihr werdet mit Gott wagen, dem Satan ins Angesicht, den Neubau aufzunehmen, als die von Gott Begnadeten. Wir sind nicht zufällig übrig geblieben, wir sollen nicht übrig bleiben, um den Verwesungsprozeß zu vergrößern, sondern daß wir uns retten lassen aus einem verkehrten Geschlecht zu einem neuen Leben. Wir sollen damit rechnen, daß Gott da ist. Herr Gott, Du bist unsere Zuflucht für und für. So wollen wir heimgehen, ganz getrost, ganz froh. Entschlossen, nun doch zu handeln, zu arbeiten, allen Verfallserscheinungen zum Trotz uns dem entgegen zu werfen. So wie es hier heißt: Und der Herr unser Gott sei uns freundlich und fördere das Werk unserer Hände bei uns, ja, das Werk unserer Hände wolle er fördern. Wir wollen ihm das eine geloben: wenn es gelingt, wenn noch einmal unser Werk gefördert wird, wenn wir nicht umsonst arbeiten am Neubau unseres Lebens innen und außen, dann soll Er die Ehre haben, dann soll es Sein Werk sein, nicht unser, Herr, Dir allein sei die Ehre. »Rufe mich an in der Not, so will ich Dich erretten, so sollst Du mich preisen.« Meine Freunde, unsere Toten haben ein Loch gerissen in die Welt, in der wir leben. Durch dieses Loch ist der Himmel frei geworden, ist das Jenseits
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ganz nahe herangekommen. Merkt ihr denn nicht, wie ihr alle schon mit euren Gedanken viel näher der Ewigkeit seid, weil Gott die zu sich genommen hat, die ihr liebt, merkt ihr nicht, daß ihr Wanderer seid zwischen Himmel und Erde, daß ihr auf den rechten Weg gekommen seid? Das ist das Vermächtnis der Toten, daß sich alles umkehrt. Sie sind vorangegangen, wir folgen hinterher. Wir sind auf dem Wege, sie sind am Ziel. Sie sind die Kirche, die gesiegt hat, wir sind noch im Kampfe. Am Sonntag werdet ihr euch sammeln unter dem Wort zum Abendmahl, denkt daran, daß ihr nie so nahe seid denen, die das Leben empfangen haben als da, wo ihr das Mahl empfangt. So sei dieser Abend eine Rüstzeit, eine Sammlung einer neuen Gemeinde des Herrn, auf daß wir rüstig werden, wie der Ritter zwischen Tod und Teufel hindurchzudringen und den Sieg zu behalten.
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48. Trauerfeier für Oscar Ehrhardt 2 Korinther 5,1 31. Januar 1950
Wir wissen aber, so unser irdisches Haus dieser Hütte zerbrochen wird, daß wir einen Bau haben, von Gott erbaut, ein Haus, das nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel. Das, was uns in der Stunde des Abschiedes am meisten bedrängt, ist freilich etwas ganz anderes. Nicht, daß wir etwas wissen, sondern daß wir nichts wissen und daß Gott es immer wieder ganz, ganz anders macht als wir es erwarten, hoffen und wünschen. Gerade im Hinblick auf das reiche, vielbewegte, durch Höhen und Tiefen besonderer Art geführte Leben des Mannes, von dessen irdischer Hülle wir hier Abschied nehmen, können wir mit Händen greifen, wie anders Gott uns immer wieder führt. Kaum ein Wort der Schrift hat in diesen Zeiten und unseren durch sie geprägten Lebensläufen mehr Wahrheit erlangt, als jenes, daß der Mensch sich seinen Weg erdenkt und Gott gibt, daß er fortgehe. Und wir werden sofort hinzufügen müssen: auch Gott allein weiß, wie er fortgeht. Er allein kennt die Leiden, die verborgen unter den frohgemuten Tagen unseres Lebens auf die warten, die er lieb hat, er allein mischt beides zusammen, Weinen und Lachen, Pflanzen und Ausrotten, was gepflanzt ist, Herzen und ferne sein von Herzen. Wir meinen so oft, wir könnten den Ring unseres Lebens zusammenfügen, wir könnten ein Ganzes daraus machen, aber in Wahrheit bleibt doch alles Stückwerk und am Ende aller unserer Sorgen und Pläne müssen wir erkennen, daß es genug ist, daß ein jeder Tag seine eigene Plage habe. Unter den wenigen Zetteln, die unser Vater in seiner Brieftasche trug als Erinnerung an die letzten Jahre in Königsberg, fanden wir einen, darauf war ein Satz das Philosophen Bacon geschrieben: Causarum finalium inquisitio sterilis est et tanquam virgo Deo consecrata nihil parit. »Das Trachten, die letzten Ursachen ausfindig zu machen, ist unfruchtbar und gebiert nichts wie die Jungfrau, die Gott geweiht ist.« Und daneben stand das Wort des Propheten Jesaja: »Durch Stillesein und Hoffen werdet ihr stark sein.« Es ist Gottes Gnade, wenn ein Mensch dies Stillesein lernt, während tausend und abertausend Warums in der Seele aufstehen und wir angesichts der Wirrnis um uns her, angesichts des Ganz-Anderen Seiner
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Wege begreifen, wer der Herr unseres Lebens ist, wer die großen Dinge tut und doch nicht erkannt wird. Und doch – wer kann es wehren, daß unsere Gedanken noch einmal zurückgehen auf den alten, vertrauten Wegen? Daß wir in dieser Stunde noch einmal an das denken, was war und wie anders eigentlich alles hätte sein können? Wie anders hätten wir uns vor ein paar Jahren noch diese Stunde des Abschiedsnehmens gedacht, diese zwar sehr unwesentliche, aber doch immer wieder menschlich-schöne und tröstliche Gelegenheit, noch einmal ein Zeichen des Dankes, der Liebe, der Verehrung für die aufzurichten, die uns im Leben viel geworden sind. Und der Mann, von dem wir jetzt scheiden müssen, ist vielen viel gewesen, den Freunden ein treuer, durch gute und böse Zeiten gleichbleibender Freund, den Kranken und Leidenden ein Helfender, der den Kampf mit Krankheit und Tod unzählige Male aufgenommen und siegreich bestanden hat, ein Arzt, in dessen Obhut sich die Menschen gern begaben, weil von ihm immer ein Gefühl der Sicherheit und der großen Ruhe ausging, und uns, seinen Kindern und nächsten Angehörigen ein Vater und Helfer, der uns bis in den letzten Tag seines Erdenwandelns hinein mit nimmer ermüdender Geduld und Liebe getragen, ertragen und zu eben dieser Güte hingezogen hat. Viele von denen, die das erfahren haben, sind heute weit, weit von hier, zerstört ist die Stätte seines Wirkens, verwüstet das Land, das er so lieb hatte und in dem er dem Geiste nach immer wieder lebte; in die Ferne verschlagen und zerstreut so viele, die seinem Herzen nahe standen, gestorben, umgekommen in schweren Schicksalen seine Freunde und Mitarbeiter. Es war nur noch ein kleiner, enger Kreis, in dem dies einst so weit gespannte Leben seine letzten Schläge tat – aber wir, die wir das noch haben durften, wir haben es bei uns gehabt als das Schönste und Beste, was wir nach den Schrecken der letzten Jahre behalten hatten, Abendleuchten, das noch einmal klar und friedlich über der verwüsteten Landschaft steht, ein fast gefährliches Nahesein einer längst versunkenen Schönheit und eines uns grausam genommenen Glücks. Er war bei uns die beiden letzten Jahre, wie wenn noch einmal etwas wiederkehrte von jener Zeit, da wir mit ihm und er mit uns in der Stadt am Pregel lebte und wir meinten, es müßte immer so bleiben. Und da es nun alles versunken ist, all das Glück und die heimatliche Wärme, die ihn umgab und mit der er alles erfüllte, wohin er kam und wo er wirkte – darf ich nicht doch noch ein paar Bilder entstehen lassen von jenen Stätten, da sich die reifsten und erfolgreichsten Jahre seines Lebens erfüllten? Da ist das rote Haus in der Ziegelstraße, »sein Krankenhaus«, das Haus der Schwestern der heiligen Elisabeth, mit den blitzblanken Fluren, den allzeit so fröhlichen Schwestern, den Krankenzimmern, wo soviel Leid
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in Freude sich wandelte, der stillen und schönen Kapelle, wo in Anbetung und Stille die Kraft zu Dienst und Opfer empfangen wurde. Es herrschte in diesem Haus etwas vom Hochgefühl überlegener Freude, als ob hier jedermann wüßte, daß Jesus Sieger ist und daß alle, die hier hilfesuchend anklopfen, etwas erfahren werden von der Kraft seiner Auferstehung und seiner den Kranken und Elenden dienenden Liebe. Und da ist ein anderes Haus, das Haus mit dem weißen Zaun am Oberteich, mit der Aeolsharfe auf dem mit Schiefer gedeckten Dache, die man weithin singen hörte. Wer hätte je in den Tagen, da ein reiches Leben der Freundschaft und Geselligkeit die schönen Räume dieses Hauses erfüllte, geahnt, wie schwer das Schicksal sein würde, das einmal darüber kam – und doch: Kein noch so schweres Geschick hat das Geheimnis des Lebens zerbrechen können, das hier gelebt wurde, kein Sturm die Flamme gelöscht, die allen, die dies Haus betraten, allen, die darin lebten und groß wurden, so warm und hell leuchtete, »denn die Liebe ist stark wie der Tod und ihr Eifer fest wie die Hölle, daß auch viele Wasser die Liebe nicht mögen auslöschen noch die Ströme sie ertränken.« Und die Wasser kamen und die Ströme blieben nicht aus, die alle jene schönen Gaben und Dinge versinken ließen, aber die Liebe, die hier zwei Menschen in frühester Jugendzeit aneinander gebunden hatte, haben sie nicht angetastet. Sie blieben beide zusammen und ihrer beiden Augen sahen das Haus dieser Hütte in Flammen aufgehen, sie sahen noch viel mehr untergehen, eine ganze Stadt mit großen Traditionen, ein ganzes Land mit stolzer Geschichte, das in den Staub versank, nachdem erst einmal statt das Kreuzes dort das Hakenkreuz aufgerichtet war – das alles sahen sie, durch dies alles gingen sie hindurch und als sie beide, unsere Eltern, vor zwei Jahren von da herauskamen, waren sie so arm und so reich wie einst, da sie ihren gemeinsamen Weg begonnen hatten. Und noch ein letztes Haus muß ich nennen: das Haus in Neuhäuser, wo wir unsere schönsten und glücklichsten Stunden hatten, denn Neuhäuser hieß: die See, und es hieß jene helle, brennende Sonne, die den weichen Strand ganz heiß machte, und hieß den Nachtgesang des Meeres in den Sturmzeiten, der uns kaum schlafen ließ, und hieß Wolken am Himmel, so rein und unmittelbar aufsteigend aus der See, wie man es hier zu Lande nicht kennt. Wer mag heute auf diesen so oft beschrittenen Wegen gehen? Was mag geworden sein aus jenem Haus, in dem die Eltern und auch wir, sie mit ihren und wir mit unseren Freunden unvergeßliche Zeiten der Erholung hatten? Wer hat damals die dunklen Wolken aufziehen sehen, die das Sturmgericht Gottes brachten? Wer von uns hat es auch nur von Ferne geahnt, daß wir Zeugen werden würden eines von den meisten unter uns
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noch längst nicht begriffenen Untergangs? Das Haus dieser Hütte ist doch ein wenig mehr als nur der Leib, der zur Erde wird, das Sterben ist leicht, wenn so vieles bestehen zu bleiben scheint, was wir lieb haben auf Erden, aber die Augen dessen, der vor uns liegt, haben mehr versinken sehen, sein Herz hat viel, wenn nicht alles hergeben müssen, was er lieb hatte. Und er hat darüber nur das eine gesetzt: Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen, der Name des Herrn sei gelobt in Ewigkeit. Ich erinnere mich noch genau, wie er nach Jahren der Ungewißheit über sein Schicksal zu uns kam. Er war nicht gewichen, als so viele ihr Heil in der Flucht suchten. Er blieb bei seinen Kranken und seine Frau blieb bei ihm. Er blieb mit all den anderen tapferen Ärzten, Pfarrern, Schwestern, die aushielten »bis zum bitteren Ende«. Aber als er zu uns kam, war er allein, er hatte das Letzte, was er noch aus den Stätten des Grauens herausgerettet hatte, hergeben müssen. So kam er zu uns, aber das Leben schmeckte ihm nicht mehr, Gott hatte ihm die andere, die neue, die bleibende Welt ganz nahe gerückt, und die vergängliche, in der wir alle leben, leiden, lieben und hassen, hoffen und kämpfen, schien ihm schon ganz ferne zu sein. Sogar die Bücher, die er so sehr geliebt, die er – der »letzte Humanist«, wie Erich Seeberg ihn einmal nannte – von Jugend auf gesammelt, schienen ihren Glanz verloren zu haben vor dem Einen Buch, dem Buch aller Bücher, das nun seine Lektüre wurde am Tage und in der oft langen Nacht. Einmal fragte er mich, warum wir so wenig über die Propheten predigten, er meinte, sie hätten uns heute doch so viel zu sagen. Er ahnte etwas von einem großen Wandel des Bestehenden und fand so vieles hier schal und leer, weil man offenbar noch nichts begriffen hatte vom schwankenden Grunde, auf dem unser irdisches Haus dieser Hütte steht. Er meinte, daß hier – im Westen – die Menschen noch viel von dem zu wissen meinen, wovon sie doch so wenig wissen können, und so wenig zugleich von dem – ja nun von dem einzigen, was gewiß ist. Nur die Welt der Kinder, die er immer geliebt hatte, wurde seine ganze Freude, und vielleicht wird es in dieser Stadt noch ein paar Kinderherzen geben, die den alten Herrn nicht vergessen mögen, der sie so ernst nahm und wie ein Kavalier mit ihnen umzugehen wußte. Und dann kam plötzlich der Tag, da Gott seinen Wunsch erfüllte, da er alt und lebenssatt von uns genommen wurde, gerade als wir meinten, er würde nun noch eine Weile die stille Freude und der ruhende Pol unseres Hauses sein, gerade da er sich noch meinte aufrechterhalten zu müssen, um seinen jüngsten Sohn, den er seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte, noch einmal in die Arme zu schließen, gerade da er in neu erstandener Kraft seine Erinnerungen wie-
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der zu schreiben begonnen hatte. Auch hier hatte es Gottes Plan anders beschlossen – und uns allen, die wir ihn so geliebt hatten, bleibt nun nichts als das, was Matthias Claudius vom Tode sagte, daß er das Herz zur Nüchternheit und das Auge zu Tränen aufschließt. Wirklich nicht mehr? Ich denke doch ein wenig, nein, sehr viel mehr. Denn wenn wir nur etwas hören könnten von dem, was der Apostel uns zu sagen weiß, wenn wir nur einmal hintreten würden, gerade in unserem Schmerz und unserer Verlassenheit, in dem Brechen und Zerbrechen all dieser schönen und geliebten Dinge, wenn wir nur hintreten könnten dahin, wo man sagen kann: Wir wissen aber! Wenn wir nur einmal hinwegschauen könnten über die Gräber und den Untergang, über all die Feigheit und Sünde, über all das Unbegreifliche und Erschütternde – ein wenig höher den Blick und ein wenig die Herzen – wir würden mit den Augen des Glaubens ein anderes Bild vor uns sehen als das, was unsere irdischfleischlichen Sinne wahrnehmen, wenn das Zelt dieser Hütte zerbrochen wird – wir würden sehen, daß da eine Barke ans Land gestoßen ist, daß eine Hand zugreift und den Schwergeprüften, der durch all die Stürme hindurch doch das Steuer nicht aus den Händen ließ, ans Ufer zieht, wir würden die Stadt leuchten sehen, in der wir um Jesu willen unser Bürgerrecht haben, wir würden die Ostersonne aufgehen sehen, die nicht nur sein, sondern unser aller Grab, eben um seinetwillen unser aller Grab zu öffnen und unser aller Tod zu besiegen weiß. Wir würden etwas davon ahnen, daß die, die mit Tränen säen, dort die Ernte finden werden, und daß erst dort – nicht hier – die Ehrenkrone auf den wartet, der einen guten Kampf gekämpft hat, daß dort, wo der Schein nicht mehr trügen kann, wo der Richter, der kein Ansehen der Person kennt, daß dort, wo es heißen wird: ich bin nackend gewesen und du hast mich gekleidet, ich bin hungrig gewesen, und du hast mich gespeist, daß dort unser Haus ist, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel. Unser Vater hat nichts mitgenommen in sein Grab als ein Kreuz. Dasselbe, das er immer bei sich hatte – das Kreuz unseres Herrn Jesus Christus. Und auch wir sollten begreifen, daß wir den Weg in jene Stadt nur finden werden, wenn wir nichts wissen als allein Jesum den Gekreuzigten. Darum sei dies unser Bekenntnis und Gebet, unser Dank und unsere Hoffnung, mit der wir von ihm scheiden, bis wir selbst in jener Stadt anlangen werden: In meines Herzens Grunde, dein Nam und Kreuz allein funkelt all Zeit und Stunde, drauf kann ich fröhlich sein.
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Trauerfeier für Oscar Ehrhardt
Erschein mir in dem Bilde zu Trost in meiner Not, wie du, Herr Christ, so milde dich hast geblutet zu Tod.
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Christliche Feste
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49. Zum Christfest 1 Lukas 2,8-14 1939
Es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde, bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und siehe, des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht; ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und alsbald war bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen. Gebet: Ich sehe dich mit Freuden an und kann nicht satt mich sehen, und weil ich nun nichts weiter kann, bleib ich anbetend stehen. O, daß mein Sinn ein Abgrund wär’ und meine Seel ein weites Meer, daß ich dich möchte fassen. Paul Gerhardt. Wer das Wunder der Heiligen Nacht, die Geburt des Herrn Christus, recht fassen will, der muß die Verborgenheit gelten lassen, in der Gott mit uns handelt. Denn nachdem die Welt die Erkenntnis Gottes verloren hat, begegnet uns Gott in einer fremden, verborgenen Gestalt. Darum gehen so viele blind an ihm vorüber und erkennen das Heil nicht, das er aller Welt in dieser Nacht bereitet hat. Denn Gott will nicht von denen erkannt sein, die ihn nicht lieben und die Sehnsucht nach der großen, göttlichen Erlösung nicht in sich tragen. Gott will sich allein denen kundmachen, an denen er 1.
Die nachfolgenden Predigten 49-63 sind bereits an anderer Stelle veröffentlicht worden.
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Lukas 2,8-14
Wohlgefallen hat. Ihnen allein gilt das Wunder der Heiligen Nacht, es gilt den Menschen, die mit den Augen des Glaubens sehen und ihren Geist leiten lassen von Gottes Geist. Darum offenbart sich Gott in Niedrigkeit und Knechtsgestalt, darum wird der Christus geboren in Bethlehem, am Rande der Welt, darum ist eine Krippe sein Bett und ein Stall seine Herberge. Darum läßt Gott hier sein Licht aufgehen, sein helles, strahlendes, gnadenreiches Licht, nicht im Tempel zu Jerusalem, nicht im herodianischen Palast, nicht in den Weisheitsschulen der Griechen – nein, arme, müde Hirten sind es, die ihre Herde weiden am Rande der Wüste – sie sind von Gott auserwählt, das Geheimnis der Heiligen Nacht zu vernehmen und kundzutun. Es heißt in unserm Text: Die Herrlichkeit des Herrn umstrahlte sie. Die Herrlichkeit des Herrn – das ist die Gegenwart Gottes selbst. Darum, weil Gottes Nähe und Gottes Glanz sie aus ihrem Schlaf reißt, heißt es von ihnen: sie fürchteten sich sehr. Denn alle demütigen Menschen weichen zurück vor Gottes Licht und Herrlichkeit. Alle demütigen Menschen wissen, daß ihr Leben, wenn es durchleuchtet wird von diesem allesdurchdringenden göttlichen Licht, enthüllt wird bis auf den Grund und daß da nichts ist, was vor Gott bestehen kann. Darum erschrecken diese Menschen, wenn sie sich plötzlich umfangen und erkannt wissen von Gott. Gerade darum hat Gott an ihnen Wohlgefallen. Wer von dieser Furcht nichts weiß, wer meint, er habe ein Anrecht auf Gott, wie das die Stolzen und Selbstgerechten tun, der geht leer aus. Darum bleibt es dunkel über Jerusalem und wird helle über Bethlehem, denn mit dem Herrn Christus geht es so, wie Maria singt: »Er stößt die Gewaltigen vom Stuhl und erhebt die Niedrigen, die Hungrigen füllt er mit Gütern und läßt die Reichen leer.« Nun seht, so wie der Glanz Gottes die Hirten in dieser Wundernacht umfing, so umfängt er jeden, dem das Heil widerfährt: als unbegreifliche, überwältigende, unbegründete Gnade. Darum fürchten wir uns – aber Gott sagt: Fürchtet euch nicht! Warum denn nicht? Darum nicht, und zwar einzig und allein darum nicht, weil der Heiland geboren ist, der Retter, der Erlöser der Welt. Die Gegenwart Gottes, die uns umfängt, heißt Vergebung, Erlösung, heißt Freundlichkeit und Menschlichkeit. Das Licht, das die Nacht in den Tag wandelt, ist der helle Schein der großen Barmherzigkeit Gottes, der mitten hineinleuchtet in das Dunkel der Welt. Das allein hilft, das hören und das glauben; denn alles andere, was wir oder andere uns sagen, um unser erschrockenes Herz zu beschwichtigen, hilft da nicht. Wir haben Grund genug, uns zu fürchten, wenn wir auf einmal in die Gegenwart Gottes gestellt werden. Es gibt nur eines, den Menschen dann frei zu machen von der Furcht, sein Herz und Gewissen froh zu machen, das ist
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Zum Christfest
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diese Kunde: Der Heiland ist geboren. Darum, willst du Gott finden, suche ihn nicht in dir, mache dich auf und suche das Kind, denn in ihm sucht dich die Liebe Gottes selbst. Er, Gott selber, legt seinen eingeborenen Sohn in die armselige Hütte der Welt, damit wir in ihm das allzeit gültige Pfand seiner Liebe hätten. Wenn das geschieht, wenn die Gnade Gottes größer wird als die Furcht, wenn uns dies Kind lehrt, wieder zu Gott Vater zu sagen – dann, ja dann ist das Wunder der Heiligen Nacht auch bei uns und an uns geschehen. Es ist seltsam: was die Hirten lernten in dieser einzigen Nacht, lernt mancher sein Leben lang nicht. Er lernt es nicht, trotz Kirchengehen und Bibellesen. Es muß nämlich noch mehr hinzukommen, damit wir das lernen. Es muß mit der Geburt des Kindes auch in uns der Mensch geboren werden, der wieder glauben, hoffen und anbeten kann. Wie geschieht das? Wenn wir hören, wie die Hirten hörten, und glauben, was die Hirten glaubten: Euch ist heute der Heiland geboren! Auf das Heute kommt es an und auf das Euch kommt es an. Wie es an einer anderen Stelle heißt: »Heute, wenn ihr seine Stimme höret, verstocket eure Herzen nicht.« Heute – das heißt: So, wie du bist, so hat dich Gott lieb. Mitten in deine Lage, mitten in deine Not, mitten in deine Bedrängnis sendet er dir den Christus, den Erlöser. Wie mag unser Heute aussehen – das Heute des Kriegsjahres 1939? Gott allein weiß, wie vielfältig sein Gesicht ist. Aber seine Herrlichkeit ist nicht gebunden an Raum und Stätte. Er legt sein Kind in die Hände derer, die heute an unsren Grenzen die Wacht halten, er läßt das »Stille Nacht, Heilige Nacht« erklingen mitten im Kriegsgetümmel, er eint die Herzen derer, die heute getrennt sind, in dieser Freude und in dieser Gewißheit: Uns ist heute der Heiland geboren. Vom Himmel her kam die Botschaft der Heiligen Nacht; so weit der Himmel reicht, läuft sie auch heute durch die weite, wüste Welt: Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volke widerfahren soll. Denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus der Herr … Im Griechischen heißt das: Ich bringe euch das Evangelium der großen Freude. Daran erkennen wir: Das Evangelium von Jesus Christus ist eine Himmelsbotschaft. So wie der Glanz dieser Nacht, der die Hirten umfing, von oben kam, so auch die Botschaft, die sie hörten. Gott redet. Wer sie nicht so hört, wer hier nicht Gott selbst zu sich reden hört, der hört das »Heute« nicht, der glaubt das »Euch« nicht. Im Evangelium von Jesus, dem Heiland der Welt, spricht Gott mit uns und der spricht so freundlich, so gütig, so lieb mit uns wie kein Mensch mit uns reden kann. Gott
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Lukas 2,8-14
schweigt heute nicht – Gott redet. Und wenn du auch schon lange, lange Gott nicht mehr gehört hast, höre ihn heute – höre, daß dir, gerade dir der Heiland geboren ist. So haben ihn alle gehört, die je gläubig wurden, denen das Evangelium der großen Freude den Frieden der Ewigkeit brachte. Einer, der es so erfahren hat, hat es dann auch so besungen: »Ich lag in tiefer Todesnacht, du wurdest meine Sonne, die Sonne, die mir zugebracht Licht, Leben, Fried und Wonne. O Sonne, die das werte Licht des Glaubens in mir zugericht’t, wie schön sind deine Strahlen!« Es heißt, daß der Engel, der das Evangelium auf die Erde brachte, nicht allein blieb, daß das himmlische Heer, das ganze Firmament einfiel in diesen Jubelruf und der Lobpreis Gottes die Schöpfung erfüllte: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen! Seht, das ist die Ehre Gottes, daß er diese große, wunderbare Erlösung der Welt bereitet. Dies Kind in der Krippe wird die Ehre Gottes wiederherstellen, die wir Menschen zerstört haben, es wird sie wiederherstellen in uns – wer dies Kind anbetet, der ehrt Gott. Und wer ihm treu bleibt bis zum Kreuz, der ehrt Gott. Und wer sich von ihm hinaufziehen läßt, heraus aus der Welt des Todes und der Sünde, hinein in das Reich des Lebens und des Geistes, der ehrt Gott. Und der Friede, von dem das Himmelsheer singt, das ist der Gottesfriede. So wie der Herr es den Seinen sagte: Meinen Frieden gebe ich euch. Es ist der Friede, der das Herz stark und gewiß macht, der Friede, der mitten im Unfrieden der Welt wirkt und leuchtet; es ist der Friede mit Gott, den das Kind in der Krippe uns bringt und der Mann am Kreuze besiegelt. Daran, daß dieser Friede mit uns zieht, wird erkennbar, daß wir von Gott nicht verlassen sind. Gottesehre und Gottesfriede – das zeichnet die Menschen aus, auf denen das Wohlgefallen Gottes ruht. Sie leben hier schon in seinem Licht, sie sind neue, wiedergeborene Menschen. Es wird uns berichtet, daß die Hirten hingingen, weil sie dem Evangelium glaubten, und das Kind fanden, es anbeteten, dann wieder umkehrten und die frohe Kunde verbreiteten im ganzen Land. So wurden sie zu Zeugen der großen Barmherzigkeit Gottes, die ihnen selbst widerfahren war und die sie nun auch weitertrugen zu allen, die sie hören wollten. Das Licht, das ihnen erschien, hörte nicht mehr auf, zu scheinen und zu leuchten. Es dringt seit jenem Tage durch die ganze Welt. Darin haben wir ein Gleichnis des rechten Hirtendienstes, der Gott wohlgefällig ist. So wie es heißt: Ich will euch Hirten geben nach meinem Herzen, die euch weiden sollen nach Lehre und Weisheit. Denn jeder, der diese Himmelsbotschaft hinausträgt in die Welt und die
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Zum Christfest
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Menschen heimholt zu dem Kind, das in der Krippe liegt, der wird ein Hirte sein nach dem Herzen Gottes. Er wird das Volk Gottes in der Welt sammeln, erbauen und hüten mit der Botschaft der großen Freude: Euch ist heute der Heiland geboren!
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50. Das Wunder der Weihnacht 1950
Viele Menschen haben sich gewundert, daß Weihnachten – im Unterschied zu den anderen großen christlichen Festen – eine so breite Ausstrahlung unter den Menschen unserer Tage hat. Viele haben sich gewundert und gefreut. Gewundert darum, weil man sich kaum denken kann, daß all die Menschen, die auf dieses Fest in irgendeiner Weise reagieren, das glauben und begreifen, worum es sich bei diesem Fest eigentlich handelt, das Wunder der Weihnacht. Und doch müssen wir uns freuen in dem Gedanken, daß dies ja nun ein Zeichen ist für die unzerstörbare, bis in unsere Tage hinein wirkende Kraft dieses zentralen christlichen Geheimnisses von der Menschwerdung Gottes. Alle, die in diesen Tagen einmal innehalten und stille werden, die irgendwie und irgendwo miteinstimmen in den alle Sphären umspannenden Lobgesang, stehen wie vor einer geschlossenen Tür und warten. Sie warten vor der Tür Gottes wie die Kinder am Festabend daheim vor der Tür der Gaben und der Geschenke, des Lichtes und der Freude warten, die wir ihnen bereiten. So stehen wir Menschen heute wieder vor dem Wunder der heiligen Nacht und warten darauf, daß uns die Tür dahinein aufgetan wird. Wir stehen alle im Advent – denn einmal, vielleicht schon sehr bald, wird diese Tür von neuem aufgetan, und wir werden im Lichte, das hier leuchtet, stehen. Hier und da ist schon eine Bewegung dahin feststellbar, kündigt sich neue Erfüllung an, neues Ergreifen und Ergriffenwerden von dem, was mit diesem Fest gemeint ist. Offenbar wissen das auch die anderen, die gerade auf diesen Punkt ihren Angriff richten. Ist es nicht seltsam, daß die großen europäischen Revolutionen gerade Weihnachten den Menschen aus den Händen winden wollen? Dort scheint man es besser zu wissen, als unter den Christen, daß hier die entscheidende Bastion liegt. Ist sie erobert, dann fällt das Ganze. Darum der unablässige Versuch der Feinde des Menschengeschlechts, dem Volk einen anderen Inhalt unter dem Schein des Festes anzubieten, es zu säkularisieren oder ins Heidnische umzuformen. Als ob jemand zu diesen Wartenden, Suchenden, Hoffenden spräche: Was steht ihr hier! Hinter dieser Tür ist nichts. Ihr habt lange genug gewartet. Der Himmel tut sich für euch nicht mehr auf. Seid endlich nüchtern, rechnet endlich damit, daß der Mensch aus Gemeinem gemacht und den Gesetzen seiner Herkunft unterworfen ist. Das Licht, das ihr erwartet, ist längst erloschen. Wir – eine ganz
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andere Generation freier Geister – haben es ausgeblasen. Wir haben euch andere Lichter angezündet, die das Dunkel vor euren Füßen erhellen werden. Das Wunder, von dem ihr redet, haben wir aufgebrochen. Ihr redet von der Nähe des Menschen zu Gott. Wir haben eine andere Nähe entdeckt: die Nähe zum Tier. Aber nun tritt das Erstaunliche zutage: die Ohnmacht solcher Reden und infolgedessen die Nutzlosigkeit der ihnen zugeordneten Aktionen. Es gehört zu den hoffnungsvollsten Zeichen der Zeit, wie hohl und leer dieser Spott geworden ist; nur noch mühsam hält er sich auf dem Throne einer fahl gewordenen Aufklärung. Er wirkt das Gegenteil dessen, was er möchte. Die Menschen, seitdem sie das vernommen haben, halten das Fest der Weihnacht nur noch zäher, mit einer geradezu verzweifelten Entschlossenheit in ihren Händen, wie ein letztes Gut, das sie nicht hergeben. Sie ahnen, daß hier die Entscheidung fallen wird, nicht nur in Kirche und Theologie, sondern durch Kirche und Theologie auch für die Welt, die Gesellschaft, den Staat und unser Leben auf Erden. Denn das Wunder der Weihnacht ereignet sich auf der Erde und für die Erde, es ereignet sich mit dem Menschen und für ihn, nicht für seine Idee, sondern für seine verzweifelte Wirklichkeit. »Welt ging verloren, Christ ist geboren, freue dich, o Christenheit.« Wenn manche Idealisten aber träumten, die Nähe des Menschen zu Gott sei etwas von Natur Gegebenes, etwas in uns Liegendes, so wissen wir, daß dieser Traum zuende geht. Wohl uns, dies zu wissen, damit das Wunder der Gnade neu erwartet und begriffen werden kann: die Nähe Gottes zu den Menschen in einem Menschen! Wenn man es recht sagen wollte, dann müßte man es zweimal sagen: einmal so, daß man das Wort Mensch betont. Der Gottwerdung des Menschen, seiner Selbsterhöhung, setzt Gott die Menschwerdung entgegen. Er übernimmt des Menschen, von diesem selbst negierte, übersprungene Wirklichkeit. Er wird wahrer Mensch, und gerade darum wird er mit uns und so für uns leiden und sterben müssen. Aber dann müßte man es noch einmal sagen und jetzt müßte man betonen, daß dies in e i ne m einzigen Menschen geschah. E i n Mensch, der Sohn der Jungfrau Maria, ist Gottes Nähe zu uns. So heißt es in der Ankündigung des Engels: »des Name sollst du Jesus heißen«. Das Wunder der Weihnacht liegt in diesem Namen beschlossen. In ihm liegt das Geheimnis des ganzen Menschengeschlechts; seine Geburt gibt erst allem, was ist, den bleibenden und wahren Sinn seines Daseins. Unsere Geburt ist Geburt zum Tode, seine Geburt ist Erscheinung unbesieglichen Lebens mitten in unserer Todeswelt. Mögen sich die Spötter rühmen, sie hätten das Geheimnis des Menschen aufgebrochen, es sei nichts mit der
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Nähe des Menschen zu Gott. Das Geheimnis, das im Wunder der Weihnacht kund wird, nimmt den Spott auf, aber wandelt ihn um in das Wunder der Gnade. Wenn nicht Nähe zu Gott, dann doch Nähe Gottes zu uns und darum auch eine durch nichts in Frage zu stellende Nähe des Menschen, gerade des gottfernen Menschen, zu Gott. Das Wunder der Weihnacht heißt: Gott selbst hat aller Gottesferne ein Ende gemacht. Darum nennen die Verheißungen den Gottessohn Immanuel, das heißt: Gott ist mit uns. Man kann nicht hinfort an Gott glauben, ohne an die Menschen, an den Menschen im Menschen zu glauben. Wir verlieren unseren Glauben an Gott durch die Menschen, vielleicht am stärksten durch den Menschen, der uns am nächsten und – leider – am bekanntesten ist. Aber wir gewinnen unseren Glauben an die Menschen wieder durch Gott, durch sein wunderbares Ja zur Menschheit, das er in der Menschwerdung seines Sohnes gesprochen hat. Man kann nicht an der Krippe stehen und anbeten, um hernach herauszugehen und sein altes, böses, menschenfeindliches Urteil wieder aufzunehmen. Tritt man dahin, wo dies Wunder leuchtet, so ist die Welt verwandelt. »Das Alte ist vergangen, es ist alles neu geworden.« Darum steht über dieser einen Stelle der Menschheitsgeschichte der Lobgesang himmlischer Heerscharen: Gloria in altissimis Deo et in terra pax hominibus bonae voluntatis. Was an dieser lateinischen (Vulgata) Übersetzung so schön ist, ist dies: sie hält das Gegenüber des Urtextes, der nicht drei-, sondern zweigegliedert ist: Im Himmel das Lob zur Ehre Gottes, auf Erden die Friedensbotschaft den Menschen, über denen Gottes Wohlgefallen steht. Das ist die Wendung um 180 Grad, die im Wunder der Heiligen Nacht beschlossen liegt. Der Abgrund zwischen Gott und Mensch ist geschlossen. Gott, sein Leben, seine Wahrheit und Gerechtigkeit, sind mitten unter uns getreten. Die Bestimmung des Menschen ist etwas, das jenseits des Todes liegt. Der Mensch und der Tod, dieses Ineinander und Beieinander, ist das tiefste Dunkel unserer Existenz. Denn der Mensch und das Leben gehören zusammen, und zwar das ewige, das todgefeite, das Gottes ewige Gedanken denkende und liebende Leben. Das Wunder der Weihnacht ist dies: Das, was für den natürlichen Menschen jenseits des Todes liegt, ist in dem Gottmenschen diesseits der Todesgrenze, ist mitten in dieser Todeswelt erschienen und hat eben damit diese gesprengt und aufgehoben. Das ist die Wendung, die mit der Geburt des Sohnes Gottes in Betlehem Ereignis geworden ist: Alles, was wir Menschen als Wirklichkeit anzusprechen uns gewöhnt haben, ist nun in Frage gestellt, und alles, was wir verloren zu haben schienen, ist Gegenwart geworden. »Heut schleußt er wieder auf die Tür zum schönen Paradies, der Cherub steht nicht mehr dafür, Gott sei Lob, Ehr
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und Preis!« Wie es der Prolog des Johannes-Evangeliums sagt, diese an Tiefe und Kraft unerreichte Ouvertüre für die Worte und Werke des Gottessohnes auf Erden: In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen …
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51. Wiedergeboren zu einer lebendigen Hoffnung Okuli Lukas 11,14-28 12. März 1950
Und er trieb einen Teufel aus, der war stumm. Und es geschah, da der Teufel ausfuhr, da redete der Stumme. Und das Volk verwunderte sich. Etliche aber unter diesen sprachen: Er treibt die Teufel aus durch Beelzebub, den Obersten der Teufel. Die anderen aber versuchten ihn und begehrten ein Zeichen von ihm vom Himmel. Er aber erkannte ihre Gedanken und sprach zu ihnen: Ein jeglich Reich, so es mit sich selbst uneins wird, das wird wüst; und ein Haus fällt über das andere. Ist denn der Satanas auch mit sich selbst uneins, wie will sein Reich bestehen? dieweil ihr sagt, ich treibe die Teufel aus durch Beelzebub. So aber ich die Teufel durch Beelzebub austreibe, durch wen treiben sie eure Kinder aus? Darum werden sie eure Richter sein. So ich aber durch Gottes Finger die Teufel austreibe, so kommt ja das Reich Gottes zu euch. Wenn ein starker Gewappneter seinen Palast bewahrt, so bleibt das Seine mit Frieden. Wenn aber ein Stärkerer über ihn kommt und überwindet ihn, so nimmt er ihm seinen Harnisch, darauf er sich verließ, und teilt den Raub aus. Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich; und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut. Wenn der unsaubere Geist von dem Menschen ausfährt, so durchwandelt er dürre Stätten, sucht Ruhe und findet sie nicht; so spricht er: Ich will wieder umkehren in mein Haus, daraus ich gegangen bin. Dann geht er hin und nimmt sieben Geister zu sich, die ärger sind denn er selbst; und wenn sie hineinkommen, wohnen sie da, und es wird hernach mit dem selben Menschen ärger denn zuvor. Und es begab sich, da er solches redete, erhob ein Weib im Volk die Stimme und sprach zu ihm: Selig ist der Leib, der dich getragen hat, und die Brüste, die du gesogen hast. Er aber sprach: Ja, selig sind, die das Wort Gottes hören und bewahren. Stummsein ist vielleicht nicht die schlimmste von allen Teufeleien, die den Menschen befallen können, aber eins ist sicher: daß wir aufs tiefste erschrecken, wenn wir bemerken müssen, daß ein Mensch nicht mehr redet,
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vielleicht weil er nicht kann oder auch weil er nicht will. Wir erschrecken, weil uns auf einmal bewußt wird, daß zwei Dinge zusammengehören, das Wort und der Mensch, oder ich könnte auch sagen, das Wort und das Leben. Ein stummer Mensch ist wie ein Toter inmitten Lebender, wie ein leeres, verfallenes Haus – man weiß, dieses Haus war ganz anders gemeint, eigentlich sollte hier Lachen und Weinen, Frohsinn und Trauer spielen, eigentlich die Strahlen der Sonne hier auf fröhliche Augen und wache Herzen treffen. Aber nun hört man keinen Laut mehr, nun erinnert nur alles, was wir sehen, an eine vergangene Herrlichkeit, erinnert daran, wie vergänglich, ja vielleicht auch wie nichtig all das ist, was wir treiben, sagen, hoffen, denken. Genau so ist es, wenn das Stummsein einen Menschen befällt. Dann spüren wir: hier ist das Menschliche, das Lebendige, das, was uns fröhlich sein läßt mit den Fröhlichen und weinen mit den Weinenden, im Herzen, in der Wurzel getroffen. Hier sind alle Türen zugeschlagen, und wer weiß, wer dahinter haust. Wer weiß, ob dieses Stummsein nicht nur das Vorspiel ist eines furchtbaren, menschenfeindlichen Ausbruchs, eines Vorstoßes, der aus der Tiefe vorbereitet und unternommen wird. Vielleicht hat hier ein Mensch lange über seiner Rache gebrütet oder über seinem Schmerz geweint, oder er ist einsam geworden über dem, daß andere so viel besser, so viel glücklicher, so viel geliebter und beliebter leben als er. Was kann sich alles hinter den geschlossenen Läden des Stummseins vorbereiten! Wir wissen, daß es dies auch im Großen gibt. Wir brauchen nur an die Realität zu denken, die heute eiserner Vorhang heißt – oder an jenes Stummsein, das vor 100 Jahren ein Franzose silence aux pauvres, das den Armen auferlegte Schweigen nannte, aus dem schon soviel Schreckliches hervorgegangen ist und immer von neuem hervorgehen muß. Es ist etwas Satanisches, wenn plötzlich mitten in der menschlichen Gesellschaft solche Zonen des Schweigens entstehen, und kein Wunder, daß wir alle davor zittern, als ob die Hölle, das Totenreich mitten ins Leben hineinreicht. Und es ist nicht dies allein. Es gibt auch ein Stummsein anderer Art, das nicht so auffällt, nicht düster und dämonisch wirkt, ein Stummsein unter allerlei Art von Geschwätz und Gerede, so, wenn wir den Menschen begegnen in unsern Geschäften und gesellschaftlichen Verpflichtungen, vermummt und verkleidet unter allerlei Titeln und Würden und Funktionen, »jeder treibt sich an dem andern rasch und fremd vorüber und fraget nicht nach seinem Schmerz«. Das ist ein nicht weniger beängstigendes, nicht weniger bedauernswertes Stummsein mitten in dem Leben, das wir alle miteinander führen. Je höher einer steigt, desto mehr spürt er, daß es mehr und mehr unmenschlich um ihn her wird, weil er keinen Nebenmann mehr
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hat, mit dem er noch als Mensch zum Menschen, als Bruder zum Bruder sprechen kann. Man kann verstehen, daß Napoleon glücklich war, als er Goethe in Weimar begegnete, man kann verstehen, was er meinte, wenn er ausrief: Siehe da, ein Mensch! Es gibt Regionen, in denen nur geredet wird um zu verbergen, in denen das Wort seiner eigentlichen Bestimmung entkleidet – nicht mehr offenbaren sondern verhüllen, verbergen, verdekken muß. Es ist, als ob der Mensch fürchte, daß ihm in allem Gefahr droht, und Wachen aufstellt, die die andern auf falsche Fährte locken sollen, damit sie nicht bemerken, daß hinter all den Vorzimmern und Vorhängen ein stummer, ein unerlöster Mensch sitzt, der um sein Vertrauen und seinen Glauben an die andern Menschen gebracht ist, damit sie nicht merken, daß es sich bei diesem Maskenspiel, was die Menschen miteinander treiben, um einen Totentanz handelt. Was würde es denn heißen, wenn der Bann des Stummseins von uns genommen würde, wenn das Wort uns so begegnete, daß es diesem stumm gewordenen Menschen in uns die Zunge löste, wenn wir diesen stummen Teufel loswürden und frei würden durch das Wort und für das Wort? Man wird vielleicht sagen dürfen, daß noch heute die Menschen sich gerade von Jesus versprechen, daß er sie frei macht von dem Fluch des Stummseins, von dem Schein und der Lüge, die damit in ihr Leben kommt; vielleicht ist noch so etwas da wie stille Hoffnung, es könnte gerade das sich ereignen in unseren Gottesdiensten, wo von Jesus die Rede ist. Denn Jesus ist ja Gottes Wort, Gottes in unser verborgenes und verschlossenes Leben hineingesprochenes offenes und unzweideutiges Wort. Jesus ist ja der Mensch, wie Gott ihn meint, und nun nicht etwa so, daß wir, wenn wir ihm begegnen, erbleichen müßten, weil er so viel besser, so viel reiner, so viel tapferer und frömmer wäre als wir. Nein, Jesus ist kein Komparativ zu uns Menschen. Die Komparative sind die Pharisäer, die von einst wie die von heute. Jesus aber ist der Indikativ, nicht der Mensch, der besser ist, sondern der Mensch schlechthin, der Mensch, wie Gott ihn meint. Wenn wir ihm begegnen, erbleichen wir nicht, sondern es kommt etwas über uns von der großen Freude, von der Möglichkeit, daß alles bei uns ganz anders sein könnte, daß wir gar nicht im Banne der dunklen und bösen Mächte, der stummen Götzen und Teufel – mögen sie nun Partei, Gesellschaft, Staat oder Stand, Kirche oder Wissenschaft heißen – bleiben müssen, daß die Rede von den undurchbrechlichen Mauern des Gefängnisses, von dem »Es ist nun einmal so«, mit dem die Zwingherren der Menschheit ihre Sklaven in Schach halten, nicht wahr ist, daß einer da ist, der die Mauern zerbricht und keine Ruh noch Rast kennt, bis er auch den letzten und größten Feind bezwungen hat. Das ist Jesus und darum steht er mitten in der Men-
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schenwelt und der Menschengeschichte, wo die Achse durch unser aller Leben und Streben geht, so in der Mitte, daß wir ihm alle gleich nahe und gleich fern sind. Denn was wir Menschen Geschichte nennen, ist ja nichts anderes als dieser Rundlauf in dem Gefängnis der Sünde und des Todes. Wir meinen zuweilen, wir kämen einmal aus dem Labyrinth heraus, denn wir haben uns daran gewöhnt, die Geschichte wie einen gradlinigen Zug nach vorn zu betrachten, dem Wanderer in der Wüste gleich, der meint, er käme bei den vielen Schritten, die er macht, voran. Aber je mehr Schritte und Wege neben uns auftauchen, je mehr wir merken, daß es nichts Neues unter der Sonne gibt, desto einsilbiger werden wir, desto stummer und verzweifelter wird der Zug der Menschheit; wir beginnen zu ahnen, daß hinter der Höhe eine neue Tiefe wartet und hinter jeder neuen Wegbiegung sich die Bahn weiter ins Endlose dehnt. Wir beginnen zu ahnen, daß unser Leben wirklich nichts anderes ist als das Gras auf dem Felde, das früh blühet und des Abends abgehauen wird und verdorret, wenn dies Ereignis in der Mitte nicht wäre, dies ganz unvergleichliche Ereignis, das in dem Namen und der Geschichte Jesu beschlossen ist. Denn Jesus, das heißt, daß Gott selbst in dieser Mitte erschienen ist und daß in ihm das zu finden ist, was wir alle auf unserem heillosen Kreislauf suchen: das Leben und die Wahrheit und die Liebe und das Wort. Das ist Jesus: die Gewalt des Wortes, der keine Macht auf Erden gewachsen ist. Jesus gebraucht hier ein schönes unvergeßliches Bild, um diese seine Sendung, um den Triumph seiner Erscheinung mitten unter uns deutlich zu machen. Er sieht die ganze Welt wie einen großen, weiträumigen Palast an, in dem wir alle leben, wir mögen die Freiheit haben, von Gemach zu Gemach zu schreiten, es mag da Aufseher und Sklaven geben, solche die Hammer und solche die Amboß sind, aber die Gewalt über das ganze Haus hat ein Starker, der in finsterer Abgeschlossenheit und Unnahbarkeit herrscht, ein Tyrann, vor dem alles erzittert, wenn er seine Stimme hören läßt. Und darum – so meint Jesus – ist der stumme Mensch ein Zeichen dafür, wie es in diesem Palast zugeht, denn der Schrei nach Freiheit, nach Erlösung ist verboten. Er gilt als Revolution. Alle, die sich hier bewegen, tragen Ketten an sich, und wenn sie versuchen, die Bewegung nach draußen zu machen, wenn sie versuchen frei zu sein, dann schneiden die Ketten in ihr Fleisch. Und so scheint alles in diesem großen Weltenhaus trotz der gegenseitigen Zwistigkeiten und Kämpfe letztlich ganz friedlich zu sein, denn die Rüstung des Zwingherrn ist zu gewaltig, als daß die Menschen ihre Gefangenschaft brechen könnten. Wenn wir einmal hineinhorchen in die echte Tiefe unseres Lebens, dann spüren wir etwas von dieser Totenstille, die hinter dem Kriegslärm und den Revolutionen, hinter allen gro-
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ßen und bösen Worten steht. Die Mauern sind zu dick, die Wachen sind zu scharf, die Ketten sind zu fest geschmiedet – es gibt kein Entrinnen. Man könnte fortfahren, das Bild von diesem Palast, in dem wir alle leben, auszumalen und auszuschmücken mit dem, was wir in unseren Lebensbereichen und zu unseren Lebzeiten erfahren haben. Man könnte daran erinnern, wie wir uns selbst wundgerieben haben, wie unser Hoffen und Sehnen müde geworden ist, wie und wo wir die kalte Grausamkeit dieses Starken zu spüren bekamen. Aber Jesus fährt fort: Während die Gefangenen jeder für sich herausmöchten, während sie jeder für sich und auf Kosten ihrer Mitgefangenen sich ihr Los ein wenig besser und angenehmer zu gestalten suchen, während wir alle nur auf uns sehen, auf unser Los, unsere Fesseln, unsere Chancen, hat Gott etwas anderes im Sinne: Gott hebt das ganze Gefängnis in einem einzigen Akt auf. Es genügt, daß der Finger Gottes in diesem finsteren Raubritterschloß spürbar wird – und die ganze Herrlichkeit stürzt zusammen. Auf einmal sind alle frei. Auf einmal ist dieser Friede, der den Menschen die Freiheit kostete, zuende. Auf einmal ist ein Stärkerer gekommen und nimmt ihm seinen Harnisch, worauf er sich verließ. Wir wissen alle, was Jesus meint, wir wissen – wenn anders wir eine Weile in dieser Welt gelebt haben –, worauf sich die verlassen, die den Menschen hier um sein Menschsein bringen. Wir wissen, daß sie sich auf den Tod und auf die Schuld verlassen können, darauf, daß wir alle nicht mehr glauben können, daß uns Gott tot zu sein scheint und seine Verheißungen unwirklich geworden sind und die Wirklichkeit um uns und in uns das unabänderliche Gesetz des Lebens zu sein beansprucht. Jesus zerbricht diesen Mythos, mit dem die Finsternis uns alle umsponnen hat. Jesus kennt keine Unabänderlichkeit unseres Lebens, sondern er kennt und bringt gerade das Gegenteil: den Sieg über das, was ist. Wir könnten neue Menschen sein! Wir könnten in seinem Dienst und auf seine Kraft vertrauend die Teufel austreiben und unseren Fuß auf die Nattern setzen, wir könnten den Kranken und Schwachen um uns her die Hand reichen und sie würden sich im Namen Jesu erheben und mit uns ins Freie treten. Wir könnten die Ketten abstreifen und könnten die Gespenster der Nacht vertreiben, indem wir Ihn zu uns rufen, damit er unser Licht sei und die Ketten unserer Schuld löse. Das ist Jesu eigene Deutung seines Kommens: So ich durch den Finger Gottes die Teufel austreibe, so kommt ja das Reich Gottes – das ist die Herrschaft Gottes, des Vaters – zu euch. Wir Menschen haben es nicht mehr gewußt und darum können wir es auch immer wieder nicht glauben, daß einer mit unserem Dasein hier auf Erden, mit dieser Zwingung des Gesetzes und des Todes, nicht zufrieden war. Wir sahen immer nur, daß sich
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schließlich alle darein ergaben, wir hörten die Alten spotten, wenn die Jungen sich erhoben und einen Aufstand planten, wir sahen sie da liegen, die Besten unter uns, die gescheitert waren bei ihrem Versuch, den Kerker zu sprengen. Wir sahen Sonne und Mond, das ganze Firmament kalt und ungerührt über den Stätten des Jammers und des Sterbens sich weiterdrehen, als ginge sie unsere Qual und Not so wenig an wie das Gewimmel in einem Ameisenhaufen. Aber einer hat sich nicht damit abgefunden, einer hat diese Welt nicht abgeschrieben – Gott hat uns nicht dem Bösen überlassen! Darum geht dieser Jubel und diese Zuversicht von Jesus aus, denn Jesus heißt: Gott hat den Menschen nicht vergessen, Gott wird nicht müde noch matt, Gott lebt – und darum sollen alle Teufel zittern. Was würde es bedeuten, wenn wir einmal von dieser Mitte her – von dem Sieg Jesu her – die Geschichte unseres Lebens und die große, dunkle und von allen möglichen Teufeleien wimmelnde Menschengeschichte ansehen würden? Würde es uns nicht gehen wie Sklaven, die plötzlich sehen, daß hinter ihrem gefürchteten Peiniger der Sieger auftaucht, der eingebrochen ist in den Palast, um alle frei zu machen? Wir singen im Kirchenlied: »Wir sind seine Siegesbeute!« Eben das sind wir. Darum können wir aber auch das was uns hier umgibt, dieses dunkle, große Weltgefängnis, nicht mehr ganz ernst nehmen. Wir sehen sozusagen das offene Loch in der Wand, durch das Licht von oben hereinbricht, wir hören die Hammerschläge von draußen, unter denen diese Bastion erzittert, wir spüren, wie unsere Wärter und Wächter erbleichen und merken, daß ihre – und darum auch unsere Stunde gekommen ist. Und zwar so, daß wir uns nicht zu fragen brauchen: Werde ich der Erwählte und Bevorzugte sein, dem es gelingt, oder wirst du es sein? daß wir nicht, wenn wir vortreten, die anderen dabei in den Hintergrund drängen müßten. Nein, das ganze Gefängnis ist gesprengt, alle Gefangenen sind frei. Wirklich alle? Gute und böse? Was soll denn dabei herauskommen? Wie wird es in der Welt zugehen, wenn Jesus das macht, wenn er sie alle, alle freispricht? Hat noch niemand gesehen, was die Freilassung von Gefangenen anrichtet – ist das nicht schlimmer, als das, was wir vorher hatten? Fragt doch die Menschen, die die Welt regieren, was sie für Erfahrungen mit der Freiheit gemacht haben! Fragt die Kirchenmänner, was sie von dieser Freisprechung aller halten! Ob sie dann nicht doch lieber für die alte Ordnung sein werden, als für die neue Unordnung? Es wäre nicht das erste Mal, daß Jesus gefürchtet und geschmäht wird. In unserem Text steht ein bezeichnendes Wort. Jesus sagt: Wenn ein starker Gewappneter seinen Palast bewahrt, so bleibt das Seine mit Frieden! Eben diesen Frieden bricht Jesus. In Gottes Reich geht es anders zu als im
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Totenreich. Darum weichen so viele davor zurück. Darum sagen sie, daß Jesus im Dienste Beelzebubs, des Obersten der Teufel, stehe. Darum dieses Erschrecken und Beben, das durch die Paläste des Herodes und des Kaiphas läuft, wenn es Ernst wird mit Jesus Christus. Wir brauchen heute nur die Augen aufzumachen und hinzuhören auf das, was gerade in den letzten Wochen wieder durch den Nordwestdeutschen und Süddeutschen Rundfunk gegangen ist, was sie alle gerufen haben von Tübingen bis nach Hamburg, natürlich nicht gegen Jesus, nicht gegen die historische Person, nicht gegen den Stifter des Christentums. Aber als sein Finger spürbar wurde und einer der Teufel, der unser Volk stumm gemacht hatte, ausfuhr, als in der Stimme des Menschen die ganze Not und Verzweiflung unseres Volkes und zugleich auch die Ratlosigkeit der einem neuen Krieg entgegentreibenden Menschheit offenbar wurde, da schrie es von allen Ecken und Enden: das ist der Satan! In Wahrheit aber ist Jesus das Ende jeder Teufelsherrschaft. Es bliebt dabei, Jesus kommt, um das ganze Gefängnis mit der Botschaft der Freiheit, der frohen Kunde der nahen Erlösung zu erfüllen. Er kommt nicht und ist nicht unter uns, um nur die Frommen zu retten und die Gottlosen dem Teufel zu überlassen. Darum zerstört er unsere Grenzen und Ordnungen, darum bricht er durch bis in die tiefsten und finstersten Verließe, wo die einen Gefangenen die anderen in Ketten gelegt haben, darum muß der stumme Mensch in allen Menschen erlöst werden, nicht nur der Mensch, der den Namen Gottes nicht mehr zu nennen wagt, der ihn vielleicht sogar höhnt und verachtet, sondern auch der andere, der ihn mit den Lippen verehrt und meint, damit würde es sich Gott genügen lassen. Sie sind alle gerufen vom Aufgang bis zum Untergang, wenn Jesus kommt, um uns frei zu machen. Die Freien, damit sie erkennen, daß sie nicht so frei sind, wie sie meinen, und die Gebundenen, damit sie wissen, daß es hier um eine neue, bessere und größere Freiheit geht als die, welche ihnen ihre Menschenbrüder anpreisen. Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich – also gerade mit dem Jesus, der den Stummen reden macht, der sich nicht zurückzieht vor diesen Vorhängen und Wachen, sondern den Menschen sieht, der dort gefangen ist. Jesus ist immer in einer bestimmten Bewegung, er ist im Angriff, und wir sollten nicht hinter ihm zurückbleiben. Er ist im Angriff gerade dahin, wo die Not der Menschen am größten ist. Wer da zurückbleibt, der ist wider ihn. Und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut –. Mit allen anderen Parolen werdet ihr die Spaltung der Menschen nur vergrößern. Alle anderen Worte müssen schließlich dahin führen, daß einer den anderen nicht mehr
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versteht, daß es zwischen Mensch und Mensch stumm wird, ganz stumm und totenstill. Denken wir noch einmal an den Anfang unserer Geschichte: es geschah, da der Teufel ausfuhr, da redete der Stumme. Es geschah, damit wir glauben, daß es geschieht und geschehen muß, wo immer Jesus wirklich der Herr sein darf, wo wir ihn so bezeugen, daß er das Wort ist und ihn bitten, daß er uns frei macht von diesem Dämon der Finsternis.
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52. Gründonnerstag Johannes 13,1-15 6. April 1950
Vor dem Fest aber der Ostern, da Jesus erkannte, daß seine Zeit gekommen war, daß er aus dieser Welt ginge zum Vater, wie er hatte geliebt die Seinen, die in der Welt waren, so liebte er sie bis ans Ende. Und bei dem Abendessen, da der Teufel hatte dem Judas, Simons Sohn, dem Ischariot, ins Herz gegeben, daß er ihn verriete, und Jesus wußte, daß ihm der Vater hatte alles in seine Hände gegeben und daß er von Gott gekommen war und zu Gott ging: stand er vom Abendmahl auf, legte seine Kleider ab und nahm einen Schurz und umgürtete sich. Darnach goß er Wasser in ein Becken, hob an, den Jüngern die Füße zu waschen, und trocknete sie mit dem Schurz, damit er umgürtet war. Da kam er zu Simon Petrus; und der sprach zu ihm: Herr, solltest du mir meine Füße waschen? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Was ich tue, das weißt du jetzt nicht; du wirst es aber hernach erfahren. Da sprach Petrus zu ihm: Nimmermehr sollst du mir die Füße waschen! Jesus antwortete ihm: Werde ich dich nicht waschen, so hast du keinen Teil mit mir. Spricht zu ihm Simon Petrus: Herr, nicht die Füße allein, sondern auch die Hände und das Haupt! Spricht Jesus zu ihm: Wer gewaschen ist, der bedarf nichts denn die Füße waschen, sondern er ist ganz rein. Und ihr seid rein, aber nicht alle. (Denn er wußte seinen Verräter wohl; darum sprach er: Ihr seid nicht alle rein.) Da er nun ihre Füße gewaschen hatte, nahm er seine Kleider und setzte sich nieder und sprach abermals zu ihnen: Wisset ihr, was ich euch getan habe? Ihr heißet mich Meister und Herr und saget recht daran, denn ich bin es auch. So nun ich, euer Meister, euch die Füße gewaschen habe, so sollt auch ihr euch untereinander die Füße waschen. Ein Beispiel habe ich euch gegeben, daß ihr tut, wie ich euch getan habe. Wenn jemand aus dieser Welt scheidet, macht er sein Testament oder er gibt den Menschen, die er lieb hat und die er nun verlassen muß, ein letztes Wort, eine zeichenhafte Handlung und meist ist das dann sehr überlegt und als bleibende Mahnung gedacht. Genau so ist es hier bei dem Abschied Jesu von den Seinen. Jesus möchte uns noch einmal seine ganz unveränderte Liebe kundtun. Er möchte, daß wir an diesem Zeichen immer
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wieder neu begreifen könnten, wie er uns geliebt hat und daß er nicht aus der Welt gegangen ist, um uns allein zu lassen, wir in einer schrecklichen Welt und er in einem lichtvollen, seligen Himmel, wir gezwungen, weiter zu wandern, allein auf den gefährlichen, staubigen Straßen der Welt, er daheim beim Vater, frei von aller Not und aller Erdenschwere. Wir denken uns vielleicht das Verhältnis zwischen ihm und uns in dieser Weise: Jesus hat zwar in der Welt eine gute und schöne Bewegung angefangen, aber nun ist er nicht mehr unter uns, nun muß diese nach ihren eigenen Gesetzen weiterleben, wie alles, was in der Welt ist und nach ihren harten und umwandelbaren Gesetzen verläuft. Vielleicht hat Jesus diese unsere Gedanken schon geahnt, als er hier den Jüngern das letzte Zeichen gab. Er hat vielleicht gewußt – und unser Text sagt ja, daß er bereits alles wußte – was in der Jüngergemeinde geschehen wird, wenn er nicht mehr da sein würde. Vielleicht hat er damals einen langen, schweren, traurigen Blick tun müssen in die Geschichte, die nun auf Erden unter seinen allein gelassenen Jüngern anfing und die wir Kirchengeschichte nennen. Jesus hat offenbar schon gewußt, was die größte Gefahr dieser Geschichte sein würde: Sie werden ihn sehr bald zu etwas machen, was er gar nicht war und werden sich damit sehr weit und gefährlich von ihm entfernen, sie werden ihn zu einem Herrn machen, wie es andere Herren dieser Welt sind, zu einem, dem man zu dienen hat. Vielleicht wird man ihn sogar zum Herrn aller Herren machen, zum allerobersten und allerhöchsten Herrscher unter allen Herrschern auf Erden. Und Jesus ist ja auch der Herr. Dieser Jesus, der hier von seinen Jüngern scheidet, wird erwiesen werden als der Herr der Welt, jetzt an Ostern und am Ende der Tage. Aber es ist offenbar ein großer Unterschied, ob ihn seine Anhänger und Diener zu einem Herrn machen, oder ob er dazu gemacht und gesetzt ist, wie es eben Jesus geschehen soll und wird: durch Gott, als Gottestat und als Erweis von Gottes Macht und Gnade. Wenn Gott Jesus zum Herrn macht, dann könnte das sehr beschämend wirken und ein großes Gericht sein für alle Herren dieser Welt und auch für alle Nachfolger Jesu, die sich seine Herrschaft nach dem Bilde und Gleichnis irdischer Herren denken. Darum das Beispiel in letzter Stunde, als eine Warnung an die Seinen vor ihrer größten und schwersten Verirrung. Nein, diese Art zu herrschen und zu regieren, wie wir sie von der Welt her kennen, will Jesus unter keinen Umständen bekräftigen oder gar noch überhöhen. Darum sagt er betont: Ein Beispiel habe ich euch gegeben. Ich – Euch! Dazwischen müßte man eigentlich eine lange nachdenkliche Pause machen. Da steht auf der einen Seite Jesus. Dieser Jesus drückt eine Bewegung aus, wie er sein Kleid ablegt, sich gürtet wie ein Diener, wie er niederkniet und seinen Jüngern die Füße wäscht. Er ist in diesem Augen-
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blick der allerniedrigste und allerunterste. Er nimmt einen Platz unter ihnen ein, der unbestritten ist. Da, wohin er zeigt, wohin er mit seiner Bewegung weist, ist kein Kampf, dieser Platz wird nicht umstritten und umneidet. Das ist und bleibt ja immer wieder das Auffällige und Merkwürdige an Jesus, daß er so durch die Welt gegangen ist, daß er keinen Neid auslöste, wie sonst die Großen dieser Welt, die von Neid und Machtkämpfen umgeben und bedrängt sind. Da, wo Jesus steht, gibt es das nicht. Er steht an einem ganz freien, an einem ihm von niemandem beneideten Ort. So ist es mit seinem ganzen Leben, von den ersten Tagen seines Wirkens an bis zu seinem letzten Atemzug in der Welt. Das eben nennt unser Evangelist die vollkommene Liebe. Die vollkommene Liebe, die Liebe, die bis ans Ende währt, ist nicht eine einmalige Tat oder eine eindrucksvolle Geste, auch nicht dies oder jenes Opfer, sondern sie ist eine bestimmte, sich immer gleichbleibende Bewegung, die Bewegung von oben nach unten, vom Himmel zur Erde, von den obersten Plätzen zu den untersten, dahin, wo es schließlich keinen Kampf um diesen Platz mehr gibt, wo keiner ihn beneidet, wo alle zu Empfangenden werden, wo sich die große erlösende Umkehr vollziehen könnte unter uns, die Umkehr jenes Strebens nach den höchsten, besten und machtvollsten Sitzen. Ich – Euch sagt Jesus. Das ist Sein Weg, der Weg von oben nach unten, die Entäußerung alles dessen, was er ist und sein könnte, und die Übernahme dessen, was er nicht ist und doch, um der Seinen willen, sein will. Und wir? Wir nicht nur, solange wir da draußen mitmachen, bei dem unbedingten, rücksichtslosen, verzweifelten Nach-Oben-Kommen-Wollen der Menschen, bei diesem bedenkenlosen Kampf um den obersten Platz, den Platz an der Sonne, wie wir Menschen meinen – sondern wir auch und gerade um Jesus herum, wir als Glieder seiner Gemeinde, wir die wir hier zusammen sind in diesem Kreis von Menschen, die so Schweres erlitten und soviel vom Zusammenbruch aller menschlichen Herrlichkeit gesehen haben – haben wir das begriffen, daß der Weg Jesu der Weg ist, um in seiner Gemeinde Frieden zu schaffen? Haben wir begriffen, daß Jesus hier eine Umkehrung aller Ordnung vollzieht, aber die Umkehrung, die nun wirklich Liebe und Gemeinschaft und Frieden bedeutet. Die dahin führt, daß wir einer dem anderen dienen lernen, daß der oberste Platz in der Gemeinde – sehr zum Unterschied der Welt – ein nicht umkämpfter, nicht beneideter Platz ist. Wenn das wäre? Kann das denn überhaupt sein? Und das ist das Andere an dem, was Jesus ein Beispiel nennt, daß sein Weg auch uns allezeit offen steht. Ein Beispiel bedeutet, daß wir das tun können, was ein anderer tut, daß sich hier Möglichkeiten auftun, die auch unsere Möglichkeiten sind, Wege offenstehen, die auch wir gehen können. Freilich, die Beispiele, die wir an anderen su-
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chen und einander geben, sind leider nicht von dieser Offenheit und Leichtigkeit. Denn wir verstehen meist unter einem christlichen Beispiel doch wieder den Weg nach oben. Wir verstehen unter einem beispielhaften Leben etwas Hohes, die Übrigen Überragendes. Darum ist auch das Beispiel, das wir geben, oft so abschreckend, oft so entmutigend, sodaß die anderen Menschen sich sagen, daß sie auf diese vermeintliche Höhe nie gelangen werden. Das Beispiel Jesu ist einfach, es zeigt den Weg nach unten. Gerade darum ist uns Jesus immer wieder so fremd und zwar dieser Jesus, der nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen, und der doch ein Herr ist. Wenn wir ihn lieb gewonnen haben, wenn er uns Eindruck gemacht hat mit seinen Worten und Taten, wollen wir ihm dienen. Er soll uns unter keinen Umständen die Füße waschen – das wäre ja die Umkehrung aller Ordnung –, denn damit würde das unterste zuoberst gekehrt, die Herren würden Diener sein und die Knechte Herren. Ganz unten, wo niemand stehen will, würde der Herr aller Herren stehen, und ganz oben, wo niemand hinzukommen glaubte, da würden die Jünger und die Knechte stehen. Gott so tief unten, daß keiner von uns da sein möchte, wo er ist, und der Mensch so hoch oben, daß keiner sich getraut, das auch nur zu denken. Aber gerade das ist es, was Jesus Liebe nennt. Dazu kommt er in die Welt, dazu geht er ans Kreuz. Dazu wird er von Gott in Gegensatz gesetzt zu allen irdischen Herren und darin sind alle irdischen Herrschaften durch Jesus zur Ordnung gerufen und gerichtet. Aber merkwürdig, gerade das wollen wir nicht. Petrus ist auch hier wieder so liebenswert, weil er den Mut hat, das auszusprechen. Petrus und Judas stehen dabei in einem offenbaren Kontrast. Judas wird sich die Niedrigkeit dieses Herrn zunutze machen, wird ihn verraten, er wird als erster den Schritt nach draußen tun in die Finsternis, um diesen Jesus, der nicht König sein will, wie er es von ihm erhoffte und erträumte, in der Menschen Hände zu übergeben. Er wird das tun, was immer wieder die an Jesus sich ärgernden, an seiner Niedrigkeit irre gewordenen Nachfolger und Jünger getan haben, sie haben ihn verraten. Wenn Judas recht behält, wenn er zum Zuge kommt, dann bekommt Jesus einen Purpurmantel umgehängt und eine Krone wird ihm aufgesetzt. Aber nur um ihn zu verhöhnen, und nur, um ihn zu quälen. Wie oft ist das geschehen in der Geschichte der Kirche. Wie oft hat man den Judenkönig preisgegeben an die Mächtigen und Gewaltigen dieser Welt, daß sie mit ihm ihr Spiel trieben. Wieviel Glauben ist damit zerstört, wieviel Hoffnung vernichtet. Aber merkwürdig, eines hat man nicht zerstören können, eines hat auch Judas nicht erreicht: er hat das Beispiel nicht zerstören können, das Jesus gegeben hat. Das Beispiel des dienenden Herrn wird durch den Verrat des Judas immer klarer,
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immer eindringlicher, einleuchtender. Auch in seiner Passion, auch unter dem Höhnen der Soldateska, auch vor Kaiphas und Pilatus, auch und vornehmlich am Kreuz bleibt Jesus der, der sich niederbeugt, um uns zu dienen. Ja, jetzt wird überhaupt erst klar, was Jesus mit seiner beispielhaften Tat gemeint hat, jetzt wird klar, wozu wir alle geladen und gerufen sind, daß wir uns nämlich von diesem Herrn dienen lassen. Niemand kann ihm dienen, dem er nicht zuvor gedient hat. Niemand kann ihn einen Herrn heißen, dem er nicht zuvor die Füße gewaschen hat, die staubigen, schmutzigen Füße, an denen die Spuren der mühseligen Erdenwanderung sichtbar sind. Das ist das Wunderbare an dem Bild, das Jesus den Seinen läßt, daß es nie verblaßt, sondern in Not und Verfolgung umso klarer und deutlicher vor unserer Seele steht, sodaß wir allezeit wissen können, was hier den Petrus so blitzartig überfällt, was ihn so entwaffnet hat: daß es unser Heil ist, wenn er uns dient. Ehe wir ihm dienen, muß eine Stunde kommen, da er uns dient und nicht wir ihm: »ohne mich könnt ihr nichts tun«. Das ist das Heil des Menschen, daß Gott sein Diener wird und der Mensch sich gefallen läßt, daß er sein neues Leben, seine Gerechtigkeit, seine Heiligkeit und Reinheit, das Gotteswerk gelten läßt und alles ihm aus Gnade zuteil wird. Darum sitzt nicht nur der stumme Judas mit seinen finsteren und bösen Gedanken unter der Schar der Jünger, sondern auch Petrus sitzt hier, Petrus, der zuerst Nein sagt und dann Ja. Ein natürliches Nein und ein übernatürliches Ja. Petrus begreift, daß hier etwas Unerhörtes geschieht, etwas, was dem Denken aller Menschen, auch der frommen Menschen zuwiderläuft. Darum sagt Petrus Nein. In alle Ewigkeit nicht sollst du mir die Füße waschen. Aber dann begreift er auf einmal, daß er sich mit diesem Protest um das Heil seines Lebens bringt, und nun sagt er Ja. Offenbar hat unser Evangelist diesen Petrus sehr lieb gehabt, sonst würde er uns dies nicht so ausführlich berichtet haben. Die Bibel liebt die Nein-Sager, die dann doch zum Ja hinfinden. Die Bibel weiß, daß ein solches leidenschaftliches, offenes, menschliches Nein schon der Anfang ist vom Ja, sie weiß, daß wir alle, wenn wir auf Jesus stoßen, zunächst gar nicht anders können als Nein sagen. Nein aus dem ganzen Herzen dessen, was wir nun einmal fühlen und denken, wie wir urteilen und glauben. Solange wir noch nicht auf Jesus stoßen, schlummert dieses Nein. Da denken wir uns Gott und seine Herrschaft und sein Reich analog zu dem, was wir sonst glauben und hoffen. Aber wenn uns dann Gott in Jesus ganz nahe kommt, wenn auf einmal in den leeren Rahmen, den das Wort Gott für uns bedeutet, sein eigenes Bild tritt, wenn er nun doch – und gerade in Jesus – tut und sagt, was göttlich und eben nicht menschlich ist, dann wacht es auf, dies Nein in uns, das
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große, schwere Ärgernis, das sich wie ein Klotz an unser Bein hängt und uns hemmt in der Nachfolge dieses Jesus von Nazareth. Aber unser Nein muß zum Ja werden. Nicht weil wir darin schon das Ja meinten, sondern weil wir dieses Nein nicht mehr ins Leere, in uns selbst hineinsprechen. Jesus läßt unser Nein oft nicht gelten, Jesus macht aus dem Nein ein Ja, gerade dieser uns dienende, sich vor uns niederbeugende Jesus. Er öffnet uns die Augen, daß wir uns mit dem Nein selbst im Wege zu unserem Heil stehen. Er läßt uns begreifen – und an diesem Begreifen, an diesem Schritt vom Nein zum Ja hängt eigentlich unser aller Leben, also daran, daß das Ja größer wird und das Nein kleiner, daß das Ja wächst, ganz groß, ganz überwältigend groß, das Ja, sich dienen zu lassen von diesem Jesus, und das Nein immer schwächer und stiller wird, unsere Verwunderung über das ganz andere an diesem Jesus und seinem Tun, unser Sträuben dagegen, daß er – der Herr Jesus Christus – uns die Füße wäscht. Freilich, man kann auch dann wiederum, wenn man durch die Gnade Jesu herausgezogen ist aus dem Nein in das Ja, über das Ziel hinausschießen und aus dem Ja, das Jesus in uns erweckt, ein menschliches und darum wieder irrendes, falsches, über das Ziel hinausschießendes Ja machen. Nicht nur die Füße, sondern auch die Hände und das Haupt. Das ist wieder unser Ja. So möchten wir nun diesen Dienst haben. Hat denn Petrus mit dieser Bitte nicht recht? Was klebt alles an unseren Händen? Was wohnt alles im Kopf eines Menschen? Was kann sich ein Mensch ausdenken an Bösem, Teuflischem, ihn und andere unrein Machenden? Aus dem Inneren des Menschen kommt ja alles Unreine. Wenn schon Jesus uns die Reinheit schenkt, dann müßte sie etwas Ganzes, etwas vom Scheitel bis zur Sohle den Menschen Wandelndes, Erneuerndes sein. Das meint Petrus. Unter dieser Bedingung sagt er Ja. Petrus ist so großartig, weil er sich jetzt nicht scheut zu bekennen, wie tief und wurzelhaft die Unreinheit ist, die in uns sitzt. Und Petrus ist darin gerade wieder unser Trost, daß auch wir dies alles Jesus sagen dürfen, die Tiefe der Anfechtung vor ihm enthüllen dürfen, die uns ergreift, wenn gesagt wird, ihr sollt rein sein. Aber Jesus wäre nicht Jesus, wenn nicht Petrus und in Petrus wir alle auch auf diese Bitte hin noch eine Antwort bekämen: Wer gewaschen ist, der bedarf nichts, denn die Füße waschen, er ist ganz rein. Es wird noch viel Unreinheit an uns bleiben, gewiß, von uns her gesehen könnten wir so oft verzagen, wenn wir unsere Hände ansehen und an die geheimen Gedanken unseres Herzens denken. Bei uns ist alles nur ein Anfang, ein Werden, kein Ganzes und Vollkommenes. Und doch ist von Jesus her das, was er tut, immer etwas Ganzes, Endgültiges und Vollkommenes. Die Reinheit, die der Mensch von ihm empfängt, indem er Ihn seinen Diener sein läßt, ist nichts
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Stückhaftes, sondern etwas Totales, Vollkommenes, das darf Petrus noch hören und das darf jeder von uns wissen und hören in dieser Stunde. Wenn wir das wirklich begriffen hätten, dann, so meint Jesus wohl, würden wir können, was er uns in seinem Beispiel gesagt hat: auch wir würden einander dienen, wie er uns gedient hat. Denn wir hätten begriffen, in welche Höhe uns der Dienst Jesu hebt, eine Höhe, über die hinaus kein Schritt mehr führt. Wir wären auf einmal oben, ganz oben, da, wo das letzte Ziel und die letzte Bestimmung des Menschen ist. Man kann gar nicht auf dieser Höhe der reinen Gnade Gottes stehen, ohne daß es uns herunterzieht zu allen, die uns brauchen, in jene gleiche Bewegung hinein, die mit Jesus begonnen hat. Dann erst, auf dieser Höhe ist Jesu Beispiel leicht, dann erst wird sein Weg der einzige Weg, den es für uns gibt, denn erst hier begreifen wir, daß es nicht darauf ankommt, selbst etwas zu sein im Unterschied und im Gegensatz zu anderen und so sich zu erheben, sondern sich dessen zu entäußern, was wir sind, um denen nahe zu sein, die uns brauchen. So müßte es sein in jeder echten Gemeinde, wo der Herr in der Mitte steht, wo der lebendig mitten unter uns ist, mit seinem Beispiel, mit seinem ernsten: Ich – Euch, daß wir einander nahe kämen, in demselben Dienst und in derselben Bereitschaft der Hilfe, wie er uns nahe ist. Darum, wenn wir jetzt miteinander zum Abendmahl gehen, dann werden wir wissen, warum unser Evangelist diese Geschichte erzählt, im Unterschied zu den anderen Evangelisten, die uns den Bericht vom Abendmahl geben. Denn auch in dieser Geschichte ist das Abendmahl verborgen, und der geht recht zum Tisch des Herrn, der aus den Worten der Einsetzung das eine heraushört: Ein Beispiel habe ich euch gegeben, daß ihr tut, wie ich euch getan habe.
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53. Karfreitag 2 Korinther 5,19-21 7. April 1950
Denn Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. So sind wir nun Botschafter an Christi Statt, denn Gott vermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi Statt: Lasset euch versöhnen mit Gott! Denn er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir würden in ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Der Karfreitag gehört mitten hinein in die Welt, denn es geht ja hier nicht um die Erlösung der Erlösten oder um die Versöhnung der Versöhnten, es geht auch nicht etwa darum, daß den Menschen nur bewußt werden soll, daß sie immer schon als Geschöpfe Gottes in der Hand ihres Vaters sind, so daß es vielleicht darauf ankäme, daß wir nur begreifen müßten, daß die Welt und wir alle in ihr immer schon in Gottes Hand gewesen wären. Nein, es handelt sich wirklich um eine Tat Gottes, nicht bloß darum, daß wir etwas begreifen, sondern darum, daß wir etwas glauben. Es geht darum, daß Gott gerade da, wo wir gemeinhin den Glauben an ihn verlieren, in der Welt, das Zeichen seiner Gegenwart, seiner Barmherzigkeit, seiner richtenden und rettenden Überlegenheit aufrichtet. Wir alle müssen uns schon zu dieser verlorenen, gottfeindlichen, im Aufstand gegen Gott lebenden Welt rechnen, wenn uns der Karfreitag etwas bedeuten soll. Gerade als Glieder dieser Welt, wie sie heute ist, wie wir alle sie kennengelernt haben in kurzen oder langen Abläufen unseres Lebens, sollen wir es hören und glauben, daß heute der große Versöhnungstag ist, der Versöhnungstag Gottes mit dieser Welt. Hören wir es so, dann werden die Türen der Kirchen heute ganz weit aufgehen, dann darf alles hineinfluten, was draußen vor sich geht, dieses dunkle und schreckliche, dieses grausame Menschen- und Weltenlos, dann dürfen wir hinschauen auf die Brandstellen des eben vergangenen Krieges, dürfen etwas riechen von der geistigen Atmosphäre des Hasses, der Verhetzung, der Propaganda, in der sich schon wieder neues Unheil zusammenbraut, werden sie verstehen, die erbarmungsvolle Oberflächlichkeit der Menschen, die nicht mehr wagen, in die Tiefe zu gehen,
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weil sie ganz genau wissen, was dort auf die wartet, die nun wohl oder übel leben müssen ohne Vergangenheit und Zukunft in dem flüchtigen Moment des Genusses oder der Arbeit, oder des eben wieder modern gewordenen Tanzes um das goldene Kalb. Dies alles müßte heute zu spüren sein, wenn wir die Botschaft von der Versöhnungstat Gottes in Christus Jesus hören. Diese Welt hat sich eingezeichnet in die Gestalt des Gekreuzigten. Sie hat hier ihren letzten, ungeheuerlichen Versuch gemacht, Gott, als er mitten unter uns trat, zu beseitigen. Als sich auf einmal alles verwandelte, als verschlossene Quellen neu aufbrachen, als sich die Augen der Blinden öffneten, als die Aussätzigen rein wurden und die Armen aufhörten, Gott zu fluchen und anfingen, Gott, den Gott, der in Jesus zu ihnen trat, zu lieben, da hat diese Welt ihren letzten Versuch gemacht, Gott los zu werden, und das Kreuz ist das Denkmal dieses letzten, aber gerade darin endgültig gescheiterten Versuchs. Um des Kreuzes willen darf es nun wirklich heißen: »Aller Welt Enden sehen das Heil unseres Gottes.« Es sind zwei Worte, die sich am Anfang unseres Textes besonders auffällig und deutlich herausheben: Gott und Welt. Im Griechischen ist es fast noch schärfer ausgedrückt als in dem verlesenen Text, da heißt es: dementsprechend, daß es Gott war, der in Christus die Welt mit sich versöhnte. Gott ist also nicht etwas hinter dem Ganzen, das Geschehen, um das es geht, wenn wir die Karfreitagsgeschichte hören, ist nicht ein Drama, das sich vor unseren Augen abspielt und hinter dem dann irgendein Gott als Regisseur steht oder von uns dazu zu denken wäre, so wie man sonst das Drama eines Lebens auf die Bühne bringt. Da ist kein Vorhang zwischen dem Kreuz und Gott. Der Vorhang ist zerrissen, Gott ist herausgetreten aus seiner unendlichen Verborgenheit und Tiefe und hat mitten in dieser Welt, in der wir alle leben, und für diese Welt, die so verloren ist und so seufzt und stöhnt und ächzt unter ihrer eigenen Gottesferne, gehandelt und er hat das Tor zu sich wieder aufgetan und den großen Versöhnungstag heraufgeführt, auf den sie alle so sehnsüchtig warteten, die Propheten und die Frommen des Alten Testaments, genau so wie wir. Alle warteten darauf und müssen warten, wenn anders uns je einmal deutlich wurde, was Sünde und Schuld und Verfehlung bedeutet. Gott muß mitten unter uns treten. Gott ist es, der in Christus handelt. Gott gehört zu Christus und Christus gehört zu Gott, und es ist eben nicht so, als ob sich in Christus eine besondere Tiefe von Welt offenbarte, die Welt in ihrer edelsten und besten Möglichkeit, die Welt als die Welt des Menschen und seiner Größe, als ob wir also hier nur etwas sehen und hören könnten, was aus der Welt und ihren eigenen Möglichkeiten heraus denkbar ist. Nein, nicht unsere, sondern Gottes Möglichkeiten werden hier greifbar. Gott greift in Jesus Christus
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selber ein, er will uns überzeugen, daß er Gedanken des Friedens mit uns hat und nicht des Leides, daß er uns sucht, auch wenn wir nichts mehr von ihm wissen wollen, daß er den Weg weiß, auch wenn wir ihn längst verloren, schon längst alle Hoffnung begraben haben, je wieder zurückzufinden. Und ebenso gilt das nach der anderen Seite hin, nach der Seite der Welt hin, man könnte ja meinen, diese Tat Gottes in Jesus Christus habe mit der Welt nichts mehr zu tun, die gelte nur für den Frommen, den Guten und Gerechten, man könnte meinen, und viele glauben das ja, daß nur religiös angelegte Naturen verstehen, worum es in Jesus Christus geht. Aber auch diesen Gedanken müssen wir fahren lassen, wenn wir hören und verstehen wollen, was unser Text uns sagt. Heute geschieht nämlich wirklich, was Jesus Christus in seinen Gleichnissen immer wieder angedeutet hatte: daß die Türen des königlichen Saales weit offen sind und die Boten ausgesandt werden, alle zu holen, Gute und Böse, die Krüppel und die Lahmen, die Ausgestoßenen und die Entfremdeten, nicht bloß die Idealisten, sondern auch die Materialisten, nicht bloß den Sohn, der im Hause blieb, nein, gerade auch den verlorenen Sohn, der sein Vermögen vertan und sein Leben verwüstet hat, heute sind alle gerufen ohne Unterschied, heute sind alle geladen zu hören, was hier kundgemacht wird. Das ist Jesus Christus, die offene Tür, durch die wir alle wieder einen Zugang haben von hier nach dort, weil Gott durch diese Tür eingetreten ist, von dort nach hier. Gott und Welt, diese beiden abgrundtiefen Gegensätze begegnen sich hier und sie begegnen sich so, daß die Welt mit Gott versöhnt ist. Das ist das Große, was der Karfreitag bezeugt, und wir alle sind immer wieder neu gefragt, ob wir das glauben. Denn es ist so leicht, an Gott zu glauben, wenn man die Augen schließt und die Welt nicht sehen will, die Welt um uns und die Welt in uns, und darum geschieht es dann so oft, daß wir den Glauben verlieren, wenn wir irgendwie genötigt werden, die Augen aufzutun und zu sehen, was Welt heißt und bedeutet. Aber dieser weltabgewandte Glaube ist in Wahrheit nicht der Glaube an den Gott in Christus, es ist nur der Glaube an einen gedachten, eingebildeten, selbst gemachten Menschengott, der Glaube an den Gott der Guten, der Gerechten, der Frommen, aber nicht der Glaube, der erst hier geboren wird, hier, wo Gott in Christus mitten unter uns steht, um uns zu vergeben. Denn das ist nun das Zweite und wieder so Wunderbare an diesem Versöhnungstage Gottes, daß wir gar nichts Positives über die Art sagen können, wie Gott und Welt in Jesus Christus versöhnt sind. Denn das Einzige, was wir sagen können und das Einzige, was hier und überall in der ganzen Bibel gesagt wird, wenn die Rede auf das Kreuz Christi kommt, ist etwas Negatives: er rechnet ihnen die Sünden nicht an! Mehr ist es nicht. Weil wir
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aber alle immer wieder darauf aus sind, wissen zu wollen, was Gott uns gibt, weil wir Gott immer als den gebenden Gott im Auge haben, können wir den vergebenden Gott nicht fassen. Das wird in dem Augenblick anders, wenn wir einmal begriffen haben, was Verfehlungen bedeuten. Ich meine, gerade wir könnten etwas darum wissen: Wir können etwas darum wissen, daß es Zeiten und Situationen im Leben gibt, in denen ein Mensch sich wundstößt an der Tatsache, daß er das Geschehene nicht ungeschehen machen kann, in denen er alles dafür geben würde, wenn das möglich wäre. »Ewig still steht die Vergangenheit«, sagt der Dichter, und er hat, menschlich gesehen, abgesehen von der großen, wunderbaren Karfreitagsbotschaft wohl recht damit. Das Vergangene ist wie ein Felsblock, den wir nicht wegwälzen können, es sieht uns an und klagt uns an, denn in dem, was wir Vergangenheit nennen, sind ja unsere Taten irgendwie versteinert, irreparabel fixiert, sie stehen da als etwas Unabänderliches, das uns im Wege liegt und uns den Weg nach vorn versperrt. Es gibt Ereignisse in der Welt, die so schwer sind, daß sie uns alle mit sich selbst in die Tiefe ziehen, daß aller Mut zum Leben erlischt, alle Freude, alle Zuversicht, daß wir uns immer umdrehen müssen, immer wieder hinschauen auf dieses versunkene Sodom und Gomorra, über das der Aschenregen heruntergegangen ist. Es nützt uns dann gar nichts, daß wir übrig geblieben und mit dem Leben davongekommen sind, denn wir sind gebannt an die Vergangenheit, die uns nicht losläßt, uns zerquält und zerfrißt mit der einen großen Frage: Warum? Warum? Wir hören die heimlichen Anklagen aus dem Abgrund emporsteigen. Wir merken die Gewichte, die sich an uns hängen, die unabänderlichen Taten und Ereignisse, die wir selbst heraufbeschworen haben und die schwerer und schwerer werden. Dann erst, wenn man das Leben einmal von dieser Seite aus sieht, wenn man von dieser Seite aus begreift, warum die Menschen so gleichgültig, so freud- und hoffnungslos sich dahinschleppen, kann man verstehen, was für eine große Sache es ist um dieses Nicht-Anrechnen. Dann erst, wenn wir einmal einen Blick darauf werfen, wie genau unter den Menschen selbst gerechnet wird, wie jeder bei dem andern seine Schuld eintreibt, nicht nur die Einzelnen, auch die Völker, dann erst, wenn man dieses grausame Spiel begriffen, den Menschen einmal gesehen hat, wie er über andere Menschen zu Gericht sitzt und ihm anrechnet, was anzurechnen ist, kann man ermessen, was es heißt: Gott rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu. Dann kann man wirklich begreifen, daß Gottes Gnade mitten unter uns ist, wo alles Rechnen aufhört, wo uns nichts anderes begegnet, nichts anderes gesagt wird, als dies eine Wort: Er rechnet nicht! Das ist es eben, was wir nicht glauben können. Darum suchen wir immer
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wieder nach einem Dahinter, nach einem nach Menschenart rechnenden, vergeltenden, die Schuld eintreibenden Gott. Dieser Wahn müßte heute endgültig fallen, wenn es auch für uns Karfreitag werden sollte, heute müßten wir begreifen, warum Gott uns in Jesus nahe ist, warum das, dieses Sein Gottes in Christo, das allernächste und vertrauteste ist in unserem Leben, näher als alles Gewesene und Kommende, näher als alle Höhen und als alle Tiefen, näher als die Dämonen, und zwar die guten wie die bösen, so daß wir einmal nichts anderes sehen und nichts anderes hören, als eben das eine, was hier gesehen und hier vernommen werden kann: er rechnet ihre Vergehen nicht zu! Das heißt also: daß alle Seile zerrissen werden, mit denen die Last der Vergangenheit unser Schiff in die Tiefe ziehen möchte, daß ein Schlußstrich gesetzt wird unter alle Verschuldung, damit wir neu anfangen können, so neu, als finge unser Leben erst mit dem heutigen Tage an. Aber auch das ist noch viel zu wenig, denn wahrscheinlich würden wir ja wieder die alten Fehler machen, und wenn nicht die gleichen, dann andere, die ebenso schwer sind, und es bliebe immer noch die Angst vor den Abgründen, das Wissen um die Schwächen, die nun einmal dem Menschen angeboren sind. Da ist schon wieder das Schielen nach dem Positiven, und alles Positive ist in diesem Falle weniger als das Negative, alles Sein ist weniger als das Nicht-Sein, alles Haben weniger als das Nicht-Haben, denn der Karfreitag sagt nun in der Tat nicht mehr, und weil er nicht mehr sagt, ist er so einzigartig, ist er wirklich Gottes Tag. Er sagt nur dies Eine: Gott rechnet nicht an. Und dann mag einer einsetzen, was er will, dann mag unter das Kapitel Vergebung zu stehen kommen, was jeden drückt, es mögen Berge von Schuld oder Abgründe von Versuchungen sein, es mag all das sein, was die vom Zweifel Angefochtenen immer wieder aufzählen, die Ungerechtigkeiten in der Welt, wie sie sich uns darstellen in den Leiden der Kinder oder der Frauen, der Opfer dieses Krieges, der Hartherzigkeit der Geldmenschen, alles das wird hier gestrichen. Wenn wir Menschen das täten, wo kämen wir dann hin, wo bliebe das Recht und die Gesellschaft, wo bliebe der Staat und wo bliebe die Polizei? Hin und wieder möchten wir es ja so haben, hin und wieder versuchen wir es und machen Ansätze dazu, aber wir scheitern, wir müssen erkennen, daß wir die Ordnung untergraben, von der wir alle leben, denn die Welt lebt davon, daß die Rechnung beglichen wird, aber Gott ist eben darum Gott, und der Himmel ist eben darum nicht die Erde, und der Karfreitag ist eben darum nicht ein Tag wie alle Tage, weil hier nichts anderes gilt als Gnade, freie, bedingungslose Gnade. Und darum, weil das Geheimnis des Karfreitags so unbegreiflich tief ist, weil es das Geheimnis Gottes selber ist, darum muß Gott jemand haben, der das offenbar macht, der das
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sagt. Er braucht einen Dienst, der nun diese neue Linie, diese himmlische, göttliche, gnadenvolle Linie vertritt und unbeirrbar verfolgt in der und für die verlorene Welt. Daraus ergibt sich das Dritte, was unser Text uns sagt, daß Gott nicht nur nicht anrechnet, sondern daß er einen Botendienst einrichtet von dieser Stätte des großen Versöhnungstages her, der in alle Welt hinausgeht und überall hin die Freudenbotschaft bringt. Ein alter Meister unter den Theologen hat ein eindrückliches Bild für dies Geschehen geprägt. Er vergleicht Gott mit einem König und die Welt vergleicht er mit einem Volk, das sich gegen diesen König empört hat. Durch diese Empörung, so sagt er, seien alle Glieder des Volkes schuldig geworden, denn sie haben sich aufgelehnt gegen ihren angestammten Herrn; aber dieser König setzt einen Gerichtstag fest in seinem Palast und unterzeichnet eine Urkunde, durch die ihnen alles vergeben wird, was sie getan haben. Damit aber jedermann in diesem ganzen Reiche wissen kann, daß er nun unter der Vergebung lebt, sendet er Boten aus bis in die fernsten Winkel und Enden seines Landes, die jedermann die Botschaft überbringen sollen, daß der König einen Versöhnungstag gemacht hat. Und wenn wir uns die ersten Christen ansehen und wissen wollen, was eigentlich ein Apostel ist, wie hier der Apostel Paulus, der zu uns redet, dann werden wir bemerken, daß dieser Apostel sich nicht anders fühlt als solch ein Bote, und die ersten Christen sich nicht anders verstehen als solche Menschen, denen diese Botschaft gebracht worden ist. Als Botschafter an Christi Statt möchte der Apostel angesehen werden, und so sollten sich alle ansehen, die zu den Menschen von Gott reden, denn alles andere Reden von Gott ist nutzlos und leer geworden. Sie sollen die Botschaft Gottes hinaustragen bis in die letzten Hütten und Dörfer, bis in die Winkel seines großen, weiten Königreiches, zu allen, die sich fürchten, die Angst haben, die zusammenschrecken, wenn der Name des Königs genannt wird. Eigentlich müßte, wenn wir den Apostel recht verstehen, der Karfreitag der große Freudentag der Welt sein, wir dürften uns gar nicht versammeln hinter verschlossenen Türen, sondern müßten selbst hinausgehen und alle hereinholen, damit sie es auch hören und vernehmen, daß heute Friede ist, Friede in Gottes großem, weitem Königreich. Friede auf der ganzen Erde. Friede gerade im Zeichen und Angesicht des einen Menschen, des Menschen Jesus Christus, der da am Kreuz hängt. Überall sonst ist der Tod etwas Schreckliches und überall, wo das Leben auf den Tod stößt, flieht es, denn es merkt, daß es selbst bedroht ist. Es riecht nach Sterben, nach Untergang und Ende. Aber der Tod von Jesus von Nazareth riecht nach Leben und er hat gar nichts Abstoßendes und gar nichts Schreckliches. Denn jeder Mensch, der sein Auge dahin erhebt und der
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diese Botschaft annimmt, hört hier, daß alle gerettet sind. Der Tod ist hier zu einem Mittel geworden in der Hand Gottes, um uns alle froh und gewiß zu machen. Es ist schon so wie damals, als sie in der Wüste die eherne Schlange errichteten. Jedermann, der seine Augen dahin erhob, war gerettet, das Gift der Schlange schadete ihm nicht mehr, der Tod konnte ihm nichts mehr anhaben. Aber eines muß man freilich bei dieser Sache beachten, und darauf legt der Apostel größten Wert: diese Boten dürfen, weil sie Boten Gottes sind, nicht befehlen, sie dürfen nur bitten, so, als ob Jesus Christus, der hingeopferte Königssohn, selbst bäte: sonst wären sie nicht Boten des Gnadenreiches, und sonst könnten die Menschen nicht glauben, und sie könnten sich nicht aus der Kraft eines neuen Geistes für die Gnadenbotschaft entscheiden. Laßt mich hier noch etwas Besonderes sagen: Es war kurz nach Ende dieses letzten Krieges. Zum erstenmal waren wir in einer zerstörten, mitteldeutschen Stadt wieder zusammen, viele Freunde und Brüder der Bekennenden Kirche, viele von ihnen, die nicht mehr geglaubt hatten, daß sie sich jemals wiedersehen würden. Da war Martin Niemöller, der solange im KZ von uns getrennt war, da waren Brüder, die aus den Gefängnissen Berlins kamen, in denen sie hart am Tode vorbeigingen, da war auch der Mann unter uns, der durch die Absperrung Deutschlands solange von uns getrennt war, Karl Barth, dessen Wort uns in den Jahren der Entscheidung viel bedeutet hatte. Und als wir dann zum Abendmahl gingen, zum ersten Abendmahl nach all den Jahren der Trennung und des Grauens, stand dieses Wort aus dem 2. Korinther-Brief über uns, und wir haben uns gelobt, unser Dienst soll von nun an nichts anderes sein, als dieses Bitten: So bitten wir euch nun an Christi Statt, lasset euch versöhnen mit Gott! Es ist nämlich schrecklich, wenn die Kirche mehr sein möchte, wenn sie glaubt, die Menschen zum Glauben zwingen zu können, wenn sie meint, mit Institutionen und Gesetzen den Menschen zu dem Letzen und Höchsten helfen zu können. Mit solchen Mitteln, die die Staaten und vielleicht auch die Gesellschaft und vielleicht auch die Parteien brauchen, um ihre Untertanen und Anhänger zusammenzuhalten, gewinnt man nur die Leiber, aber niemals die Herzen. Die Herzen gewinnen überhaupt nie wir, sondern die Herzen gewinnt nur Christus selbst. Wir müssen abnehmen und er muß wachsen. Er, der für uns Dahingegebene, muß mitten unter unserem Bitten so groß werden, daß durch ihn geschieht, was an diesem Tage geschehen soll und kann. Sonst wäre ja dieser Versöhnungstag Gottes eben doch nicht der Tag aller Tage, sonst wäre er nicht der Tag der großen Freiheit, sonst würden die Menschen sich ja doch wieder nur auf Menschen verlassen. Bitten heißt ja, darauf angewiesen sein, daß der, den wir
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bitten, es tut. Haben wir es nicht erfahren in den Zeiten, da unsere ganze kirchliche und geistige Herrlichkeit zusammenbrach, daß viele Menschen, die sich Christen nannten, eben doch nicht Christus gehörten, daß sie sich noch niemals freiwillig, noch niemals aus freien Stücken Gott ganz übergeben hatten. Es gehört Glaube dazu, Glaube an Gott und Glaube an das, was er an den Menschen tun kann, wenn man diese Grenze innehält. Ein Glaube, der viel mehr verlangt als etwa nur, daß wir an das Gute im Menschen glauben sollen, nein, wir können und dürfen und sollen glauben, daß der Mensch sich bekehrt, wenn Gott ihn bittet, daß er sich in innerer Freiheit versöhnen läßt, einfach darum, weil es ihm von Gott her aufgeht, daß die Feindschaft zu Ende ist, daß Gott gut ist. Nicht an das Gute im Menschen müssen wir glauben, wenn wir der Botschaft des Apostels glauben, sondern an das Gute in Gott, an seine Versöhnungstat in Jesus Christus. Und damit kommen wir auf das Letzte zu sprechen, was unser Text uns sagt. Was heißt denn das, daß Gott gut ist? Eben diese seine göttliche Güte hat Gott niedergelegt in dem Gesetz, in dem Grundgesetz des Versöhnungstages, in der magna charta des Christentums: Was hier steht, ist der Inbegriff alles dessen, was wir Gnade nennen. Wir wollen dieses Grundgesetz noch einmal hören, damit wir es uns einprägen: Denn Gott hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir würden in ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Das ist ein schwerer Satz, aber auch ein inhaltsreicher Satz und immer wieder aufs neue haben sich die Theologen darüber den Kopf zerbrochen, was mit diesem Satz gemeint sein könnte. Es muß ja wohl auch bei einer magna charta so sein, das kann nichts Landläufiges, nichts Einfaches und Banales sein, was Menschen erdenken und begreifen können. Das muß doch wohl das Grundgesetz des himmlischen Reiches sein, das sich unterscheidet von allem, was wir sonst als Menschen denken, tun und urteilen. Gott hat Jesus Christus, den Menschen, der von keiner Sünde wußte, so behandelt, als wäre er die Sünde selbst! Nicht, als ob er auch ein Sünder wäre, wie wir Sünder sind, denn Sünder können sich bekehren und gerettet werden, aber dieser eine ist von Gott gerichtet nach den Maßstäben und Gesetzen, unter die die Sünde selbst fällt, ist der einzige Verdammte unter allen Menschen geworden. Weil er die Verdammnis selbst auf sich genommen hat, darum kann man nun von keinem anderen Menschen sagen, daß er verdammt ist. Darum gibt es von dieser Mitte her gesehen keine Gottlosen mehr, keinen, der ohne Hoffnung wäre, keinen, dem die Bitte nicht gelten könnte: Laß dich versöhnen mit Gott. Denn wir gehören ja nun auf die andere Seite. Auf ihm, auf diesem einen
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Karfreitag
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Jesus Christus, liegt die ganze Nacht – und auf uns, auf alle, die nicht Jesus Christus sind, fällt ein neues, wunderbares, bis dahin in der Welt nicht gekanntes Licht. »Durch seine Wunden sind wir geheilt.« Wir sind – oder wir könnten jedenfalls sein – Gottes Gerechtigkeit! Also gerade das, was wir bisher nie sein konnten. Denn bisher konnten wir ja nur unsere eigene, fatale, abstoßende, Heuchler und Pharisäer zeitigende Gerechtigkeit sein. Bisher waren wir im besten Falle so gerecht, daß immer wieder ein fataler Geruch von dieser Gerechtigkeit ausging, der jene Grenzen und Gräben schuf, die uns alle gegeneinander mit dem tiefen Mißtrauen erfüllen. Gottes Gerechtigkeit ist eben diese uns unsere Sünden nicht anrechnende Gerechtigkeit, ist jene souveräne Tat – durch die aus dem größten Elend die größte Freude, aus dem, was etwas Unabänderliches zu sein scheint, ein Nichts wird. Das große, göttliche Nichts – das nun auch uns zugemutet wird, das Geheimnis der himmlischen Gerechtigkeit, die zunichte macht, was etwas ist, um das zu wählen, zu lieben und zu rechtfertigen, was nichts ist. Wenn nicht alles täuscht, scheint diese neue, himmlische Gerechtigkeit, die am großen Versöhnungstage in aller Welt proklamiert werden sollte, ganz ins Hintertreffen geraten zu sein vor unseren so bedenklichen Eigengerechtigkeiten, mit denen wir nun doch nicht bestehen können – denn sie sind ja gerade in Jesus Christus gerichtet. Gebe Gott, daß wir uns seiner großen Barmherzigkeit nicht schämen, damit er sich nicht auch unserer schäme und jener Gerechtigkeit ausliefere, die die Schuldigen zu finden weiß.
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54. Karsamstag 1 Korinther 15,3-5 7. April 1950
Denn ich habe euch zuvörderst gegeben, was ich auch empfangen habe: daß Christus gestorben sei für unsere Sünden nach der Schrift, und daß er begraben sei, und daß er auferstanden sei am dritten Tage nach der Schrift, und daß er gesehen worden ist von Kephas, darnach von den Zwölfen. Aus diesem Text möchte ich heute am Abend des stillen Sonnabend nur ein Wort herausnehmen und euch bitten, es zu bedenken, das eine Wort: begraben. Denn wir sind gerade heute aufgerufen, daran zu denken, daß Jesus Christus ins Grab gelegt wurde, daß zwischen seinem Tod und seiner Auferstehung eine Pause liegt, die durch nichts Geringeres angegeben ist als durch das Wort: begraben. So wie auch zwischen unserm Tod und unserer Auferstehung dieselbe Pause liegt, dies schreckliche Ausgezogenwerden, ohne daß wir etwas sehen oder spüren könnten von dem neuen Leben, das uns anstelle des alten aufnimmt und erfüllt. Man könnte sich ja auch denken, und zuweilen ist das in der christlichen Kirche gelehrt und gedacht worden, daß der Tod und die Auferstehung Jesu so nahe aneinandergerückt wären, daß das Ganze nichts ist als ein pausenloser Übergang, ein Verschlungenwerden des Sterblichen von dem Unsterblichen, als ein Abwerfen dieser leiblichen Hülle, um sofort umkleidet und umstrahlt zu sein von der Herrlichkeit des siegreichen, himmlischen Lebens. Für Menschen, die so denken, gibt es kein Grab Jesu, weder das Grab, in das er gelegt wurde, noch das Grab, das ihn am Ostermorgen hergeben mußte; für sie gibt es darum auch keine Osterbotschaft, denn wer nicht zum Grab Jesu geht, der wird nichts vernehmen von der Botschaft, die vom Himmel ist: er ist auferstanden! Und darum gibt es schließlich und letztlich für diese Menschen keine Hoffnung, die all dem Schrecklichen gewachsen wäre, was ein Grab bedeutet. Sie müssen ihre Augen abwenden von der peinlichen Tatsache, daß wir von Erde genommen sind und wieder zu Erde werden. Sie müssen sich den Übergang in das neue Leben vorstellen wie jener griechische Philosoph, der das höchste menschlich Denkbare erreicht und doch hinter dem einfachsten Göttlichen zurückbleibt, für den unser Leib so etwas ist wie ein Kerker, den der Tod aufschließt und dadurch die
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Seele freimacht. Wenn es so wäre, dann würde in der Tat nicht der Mensch begraben, sondern begraben würde nur die äußere Hülle, und all unsere Tränen, die wir vergießen, wenn wir einen lieben Menschen der Erde zurückgeben, aller Schrecken, der uns von daher anhaucht, der Schrecken der Verwesung, der Vergänglichkeit, jener Schrecken des Totenschädels mit seinen hohlen Augen und seinem zerfallenen Geist, wie ihn nachdenkliche Menschen immer wieder erlebt und erfahren haben, wäre unbegreiflich. Darum, meine Freude, heißt es: begraben. So und nicht anders, als das Äußerste dessen, was der Tod leistet, steht das Grab in Jesu Leben und in unserem Leben. Die Philosophen machen es sich zu leicht, und die, die an solchen Gräbern weinen, haben mehr recht als die anderen, die sich, weil sie keine Antwort wissen, abwenden und nicht wahr haben wollen, daß der ganze Mensch ins Grab gelegt wird mit allem, was wir an ihm lieb haben, was schön ist an ihm, mit allem, was wir Geist und Seele nennen. Darum ist auch das Wort begraben hineingenommen worden in das Bekenntnis des Glaubens, das wir sonntäglich sprechen: gekreuzigt, gestorben und begraben. Darum wird mit solcher Eindrücklichkeit in der ganzen Heiligen Schrift von den drei Tagen geredet, die zwischen dem Tod und der Auferstehung liegen. »Er wurde begraben, das ist die unzweideutige banale historische Tatsache, aber gerade darum das an Christus, was so zweidutig ist, wie alles menschliche Irdische überhaupt. Hoffnung und Furcht, Glaube und Skepsis ist gleich möglich angesichts dieses Grabes … Das Grab, das beweisbare, steht in der Mitte wie eine Alphütte im tiefen Tal zwischen zwei Viertausend-Meter-Bergen, fast mit einer gewissen Ironie, möchte man sagen, dahin gesetzt, wenn die Sache nicht so unbedingt ernst wäre, als Kontrast zu dem, was hier zur Linken und zur Rechten unbeweisbar, nein sich selber beweisend, bezeugt wird und zu glauben ist.« Dies tiefe Wort über Jesu Grab schrieb vor nunmehr 25 Jahren Karl Barth. Es ist ein unvergeßliches Bild. Was steht denn zur Rechten und zur Linken? Zur Linken steht, daß er gestorben ist für unsere Sünden, also die Botschaft von der Vergebung, die wir gestern vernommen haben, und zur Rechten steht das Zeugnis, daß er auferstanden ist, zur Rechten steht das Zeugnis der Zeugen, die ihn gesehen haben. Beides Tatsachen, die unbegreiflich sind. Beides Tatsachen, die unserm Wissen und unserer Vernunft zu hoch sind. Beide so hoch, daß schon eine Hand von oben nach uns greifen muß, wenn wir diese Höhe erreichen, ja wenn wir sie überhaupt in den Blick bekommen sollen. Und dazwischen das Grab, als ob es uns daran mahnen sollte, wo wir stehen, wo von Natur jeder Mensch steht. Dazwischen das Grab, als Erinnerung daran, daß der Tod der Sünde Sold ist und jeder Mensch, sobald er geboren ist, alt
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genug ist um zu sterben. Dazwischen das Grab, um von uns her gesehen die große Frage zu stellen, was es denn auf sich hat, wenn uns sterblichen, elenden, vergänglichen Menschen die Botschaft zuteil wird von der Vergebung der Sünden. Was nützt sie uns? Wären wir nur in diesem Leben Hoffende, so wären wir die armseligsten aller Menschen. Was wäre die Botschaft von der Vergebung, wenn das Grab das Letzte wäre, wenn nicht auch auf der andern Seite ein Gegenüber zu dem Felsen stünde, auf dem das Kreuz errichtet wurde, ein anderer hoher Gipfel, über dem das Licht des Ostermorgens liegt? Das ist Jesu Grab. Nur sein Grab ist Brücke und Weg, ein tiefes Tal, aber doch eine Brücke von hier nach dort, vom Kreuz zur Auferstehung. Das Grab an sich ist und bleibt die ungeheure Realität des Todes, der sein Recht bekommt und bekommen muß. Aber mitten in diesem Grab und mitten hindurch wird die Spur Jesu zu finden sein, und wenn unsere Augen nichts mehr sehen und unsere Hände nichts mehr fühlen, wenn keiner mehr da sein wird, der mit uns geht, dann wird es diese Spur Jesu sein, die wir sehen und die wir fühlen und an die wir uns halten. Mit ihm begraben in den Tod, so heißt es im Taufbekenntnis unserer Kirche, also auch da, wo wir sonst ganz allein sein würden, nicht allein, auch da, wo uns keine Stimme mehr erreicht und keine Hand mehr hält, gehalten und gerufen von dem, dessen Wort auch im Totenreich ein Wort des Lebens bleibt. Das Grab ist in der Tat zweideutig: es ist das Ende aller menschlichen Herrlichkeit, es ist die Stätte, die Könige und Bettler gleichmacht. Es könnte die Erniedrigung der Reichen und die Hoffnung der Armen sein; es könnte uns ein wenig zufriedener machen mit den Tagen, da die Sonne uns noch scheinst und Sorge und Freude uns noch bewegen. Es könnte die Gottlosen ernüchtern in ihrem Wahn und die Gerechten zuversichtlich machen, wenn sie bedenken, wie alle menschliche Vermessenheit ihre Grenze findet. Von uns aus gesehen ist das Grab wirklich das Ende. Es sagt uns, daß wir das Leben, das neue Leben, auf das wir hoffen, dem wir entgegen gehen, das uns verheißen ist, nicht in der Hand haben, daß es nicht automatisch auf das Sterben folgt, daß alle diese falschen, menschlichen, irdischen Hoffnungen zu Staub und Asche werden müssen, damit Gott und zwar Gott allein unsere Hoffnung bleibt, gerade der Gott, der Jesus von den Toten auferweckt hat, der eine Bresche geschlagen hat in das eherne Gesetz des Todes, das über dem Menschen aufgerichtet worden ist. Einen Gott haben, an ihn glauben, das heißt: Gott Recht geben auch im Blick auf das Grab, dem wir entgegengehen. Das heißt über dem Tale unseres eigenen Grabes die Bergeshöhe erstrahlen sehen, auf der das Siegeszeichen des Auferstandenen leuchtet! Das heißt wissen, daß wir erst dort am Ziel sind, und daß wir darum so tief herunter müssen, damit wir so
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hoch erhoben werden. Die Menschen haben sich viel Gedanken gemacht über das, was Christus im Totenreich getan hat, was also hinter diesem verschlossenen Grab geschehen ist, als er, der Fürst des Lebens, eintrat in das Totenreich. Sie haben gemeint, daß Jesus Christus gerade dadurch allen, die vor ihm und ohne ihn zu kennen gelebt haben und gestorben sind, sichtbar geworden ist als der Sieger. Eines dürfte daran richtig und wichtig sein: daß Jesus Christus auch hier, auch in seinem Begrabenwerden Sieger ist, daß etwas mit und in dem Totenreich geschieht, daß er, Jesus, begraben wird, daß die Furcht vor dem Ungewissen und vor dem Schrecklichen, das sich hinter dieser Tür verbirgt, genommen ist und alles, auch der Tod und von ihm her jede Stunde dieses unseres Lebens einbezogen ist in den Sieg Gottes in Jesus Christus.
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55. Ostersonntag 1 Petrus 1,3 9. April 1950
Gelobt sei Gott und der Vater unseres Herrn Jesu Christi, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten. Immer wenn wir einen Blick hineintun in die Welt der Bibel, d. h. in die Welt der Menschen, die hier reden, bekennen und zeugen, leben und sterben, kämpfen, siegen oder auch unterliegen, bemerken wir eins: Überall ist ein geheimnisvolles Licht, oft mitten im tiefsten Dunkel, oft so schwach schimmernd, daß man begreift, die Quelle dieses Lichtes muß weit, weit weg sein, oder die Menschen, denen es so schwach leuchtet, müssen sich sehr weit von der ursprünglichen Quelle des Lichtes entfernt haben. Aber ein Leuchten ist immer da. Freilich manchmal wie ein glimmender Docht, der zu erlöschen scheint, manchmal wie ein schwelendes Feuer, das nicht zur hellen, reinen Flamme werden kann, manchmal wie eine Morgendämmerung, die ihre ersten Strahlen aussendet, während in den Niederungen noch die tiefen Schatten der Nacht liegen. Aber etwas Siegendes, Leuchtendes, von der Ferne sich Ankündigendes ist in aller Gegenwart. Sonst wäre ja auch die Bibel nicht die Bibel, wenn dies Licht nicht wäre und die Bewegung der Menschen auf dieses Licht hin. Und das ist weiter das Wunderbare an diesem Leuchten, das durch die Jahrhunderte und Jahrtausende der Menschheit geht, daß es offenbar immer der Widerschein ein- und desselben Lichtes ist. Die Menschen können kommen und gehen, die Zeiten verändern sich, Völker verlassen den Schauplatz der Geschichte, andere treten für sie auf, das Licht bleibt dasselbe. Manchmal denkt man, die Menschen seien schon ganz nahe daran, dann macht ihr Zug eine unerwartete Bewegung, es kommt eine Wendung ihres Weges, und wir müssen erkennen, daß es noch weit, unendlich weit ist bis zu der Stelle, von der das Licht herkommt, daß die Stadt, in der es ganz hell ist, immer noch nicht erreicht ist. Kein Wunder, daß die Menschen oftmals darüber müde geworden sind, so müde und matt, daß sie die Hoffnung aufgegeben haben, jemals dahin zu gelangen, wo nur Licht ist und keine Finsternis. Nicht wahr, wir alle kennen das; auch in unserem Leben hat es das gegeben: die Bewe-
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gung auf das Licht hin und dann die niederdrückende Entdeckung, daß es immer weiter weg zu rücken scheint, je näher wir herankommen. Es geht uns wie dem Wanderer, der der Sonne entgegengeht, der Horizont liegt immer vor ihm, aber alle Schritte, die er macht, bringen ihn seinem Ziel nicht näher; je mehr er ausschreitet, je mehr entdeckt er, wie groß die Ferne ist, die ihn vom Aufgang des Lichtes trennt und daß er sich mit seinem ganzen Wollen und Laufen immer nur um die kugelrunde, dunkle, ihn so fest an sich bindende Erde bewegt. Und nicht wahr, wir wissen auch das Andere: Wir wissen, was das für ein Licht ist, das hindurchleuchtet und hindurchschimmert durch den ganzen, weiten Weg, den die Bibel ihre Menschen wandern läßt und dem sie dann und wann ihr Angesicht so sehnsuchtsvoll entgegenwenden. Dies Licht ist nichts anderes als das, was unser Text die große Barmherzigkeit Gottes nennt. Freilich zuweilen scheint es gar keine Barmherzigkeit zu geben, dann sieht es so aus, als ob unser ganzes Leben gnadenlos geworden sei; selbst der Himmel über uns scheint verschlossen zu sein. Aber auf einmal ist sie wieder da, Gottes Barmherzigkeit, wie die Sonne, die durch die Wolken bricht, und dann werden wir traurigen und verzweifelten und hoffnungslosen Menschen auf einmal wieder durch ihren Glanz und Schein ganz und gar erleuchtet und verwandelt. Ja, es ist schon so, als würden wir von neuem geboren, wenn dieser Glanz der Barmherzigkeit sich über so ein verfehltes, »hoffnungsloses« Leben legt. Ein Leuchten und eine Kraft kommt damit über uns, wirkt hinein in unser Zusammenleben, in die dunklen und bösen Dinge, die wir sonst miteinander treiben und durch die wir uns verfeinden und über denen wir vergessen, daß wir alle von einem gemeinsamen Stammvater herkommen und eigentlich Brüder sein müßten. Immer wenn dieses Licht aufleuchtet, ist es, als ob wir wieder etwas wüßten davon, daß der andere Mensch, der mir entgegensteht, nicht mein Feind, sondern mein Bruder ist. Die Bibel hat viele Worte für dieses lebenweckende und helle Licht von oben, für Gottes große Barmherzigkeit: Oft sagt sie Gnade, oft auch Friede, oft sagt sie Liebe, manchmal auch Freude oder auch Vergebung, manchmal Langmut und Geduld, manchmal spricht sie von Freundlichkeit und Lindigkeit, oder sie sagt, daß diese Barmherzigkeit Gottes das große Wunder fertig bringt, uns das steinerne Herz aus der Brust zu nehmen und uns ein fleischernes Herz zu geben, d. h. ein Herz, das sich mitfreuen und mitweinen kann und das nicht gefühllos, als wären wir Tote, alle die erhebenden und traurigen Dinge um uns herum über sich ergehen läßt. Das sind die vielerlei Schattierungen, in denen das reine, helle Licht der großen Barmherzigkeit Gottes sich in unsern Menschenaugen und -worten spiegelt. Wie wenn sich das
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weiße Licht der Sonne in einen schönen, farbigen Regenbogen zerlegt und in allen Farben am Firmament erglänzt, so zerlegt auch die Bibel das reine Licht, das aus Gott selber stammt, in ein buntes, wunderbares Leuchten, und wir könnten wissen, daß alles Gute und Beglückende im Leben, ja selbst die Tatsache, daß wir überhaupt leben, daß die Welt um uns her lebt, nur ein Abglanz ist der einen großen, himmlischen Barmherzigkeit. Bis hierhin werden wir wohl miteinander einig gehen, es wird uns das alles ganz schön und richtig scheinen; wir hören gern, daß es so etwas gibt wie Barmherzigkeit, daß nicht alles im Leben so hart und feindselig und rechnerisch zugeht, wie es leider nur zu oft der Fall ist. Aber nun verlangt unser Text etwas von uns, das weit, weit über alles bisher Gesagte und Zugestandene hinausreicht. Es ist so, als ob er alle, die jemals etwas gespürt haben von diesem fernen Leuchten, herausholt aus der Distanz, aus der großen Ferne, und auf einmal wird es ernst, auf einmal kommt eine andere Bewegung in das Licht, das immer von uns weg zu wandern schien, es kommt jetzt auf uns zu und kommt uns ganz nahe, so nahe, daß man meint, man könnte es gar nicht ertragen, daß uns der Atem ausgeht und wir die Augen schließen möchten, weil es so hell leuchtet, als ob Gott selbst unter uns träte. Auf einmal heißt es: jetzt und hier und heute. Jetzt und hier und heute wird die große Barmherzigkeit Gottes mitten unter uns Wirklichkeit! Das ist Ostern, das war jedenfalls Ostern in jenem Garten des Josef von Arimathia, wo das Grab Jesu lag und die Frauen hinausgingen, um dem toten Jesus ein letztes Zeichen ihrer Liebe zu erweisen. Auf einmal hieß es da: Jetzt und hier, und das Licht wurde so hell, daß sich alle davor fürchteten. Jetzt und hier ist nämlich das Rätsel gelöst, das die Menschen der Bibel quälte, das auch uns so beunruhigt und bewegt und das sie und uns immer wieder neu in Marsch setzte. Jetzt ist das Rätsel gelöst, woher das Licht kommt, woher das seltsame Leuchten stammt, das wir dann und wann in unserm Leben gespürt haben. Das ist das Geheimnis von Ostern. Hier und heute steht das Licht still. Hier wandert es nicht mehr weg von uns, hier stoßen wir auf die Zentralsonne, von der alle anderen ihr Licht empfangen. Hier über dem leeren Grab des Jesus von Nazareth macht Gott das letzte und tiefste Geheimnis seines großen Erbarmens kund, und ein paar Menschen, die diesem Geheimnis ganz nahe gekommen sind, fassen das Unfaßliche und geben es weiter. Und andere, die es so empfingen und nun auch von dieser Mitte her lebten, faßten es in die Worte: Gott sei Dank, der uns wiedergeboren hat nach seiner großen Barmherzigkeit durch die Auferstehung Jesu Christi zu einer lebendigen Hoffnung. Damit ist es heraus, ein für alle mal heraus, was das Ziel unseres Lebens ist, was Gott in Jesus Christus und durch seine Auferstehung uns allen
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getan hat. Es ist heraus, daß Gottes Barmherzigkeit sich erfüllt in der Auferstehung Jesu Christi von den Toten. Es kommt freilich damit zugleich etwas sehr Bitteres heraus, und darum ist es auch gar nicht wunderbar, daß so viele Menschen ihr Angesicht wegwenden, wenn dieses Licht ihnen nahekommt. Es kommt nämlich heraus, daß wir alle Menschen ohne Hoffnung sind, soweit wir nichts anderes sind und haben als das, was wir von Natur mit uns bringen. Es fällt von der Auferstehung Jesu Christi ein Licht auf alles, was wir tun und treiben, und dies Licht ist so hell und unerbittlich wie jene Strahlen, die das Innere des Menschen durchleuchten und auf einen Schirm bringen, so daß der Arzt sehen kann, wo der Kern der Krankheit sitzt. Wir sehen im Lichte der Auferstehung den Todeskeim, der in uns liegt. Der Mensch ist ohne Hoffnung und auch in dieser Erkenntnis liegt etwas von Gottes Barmherzigkeit. Denn Gott liebt uns ja nicht, um uns zu täuschen, sondern um uns wahrhaft zu retten und zu helfen. Alles, was wir Hoffnung nennen, ist keine lebendige Hoffnung; das ist das Erste, was wir uns sagen lassen müssen, wenn wir die Worte des Apostels recht hören. Alles, was wir Hoffnung nennen, trägt den Todeskeim in sich. Da ist z. B., um nur ein paar Dinge zu nennen, die Macht. Je größer die Angst der Menschen wird, ihre Lebensangst, je erbitterter die Kämpfe um die Futterplätze der Welt geführt werden, je unausweichlicher wir uns vor die Frage gestellt sehen: was werden wir essen, was werden wir trinken, desto stärker hoffen wir auf die Macht. Wir meinen, nicht die Gnade, sondern die Macht sichert uns die Existenz. Gewiß, wir könnten es besser wissen, denn wozu treiben wir sonst Geschichte; so manche große Weltmacht, die sich ewig dünkte, ist zusammengestürzt. Wir sind ja selbst Augenzeugen geworden einer oder mehrerer solcher großer Katastrophen und haben gesehen, wie die Kolosse auf den tönernen Füßen zusammenbrechen, auf die Menschen eben noch in Furcht und Hoffnung starrten! Aber trotzdem hoffen sie weiter auf die Macht. Oder was würden wohl die Leute hier sagen, wenn einmal in den Zeitungen stünde, unsere lebendige Hoffnung, d. h. die Hoffnung, die nicht todesschwanger ist, ist die Auferstehung – und auch Auferstehung ist ja Macht, ist Erweis der Macht Gottes, ist Erweis des Sieges, durch den alle anderen unbarmherzigen Todesmächte geschlagen und zusammengebrochen sind – aber wir meinen, diese Macht habe nichts zu tun mit der Realität unseres Lebens, und darum setzen wir auch nicht unsere Hoffnung auf sie. So etwas mag in einer Kirchenzeitung stehen, da weiß man, die Leute müssen so reden, aber wenn es einmal in eine andere Zeitung einfließt wie aus Versehen oder weil die Leute, die eine solche Zeitung machen, auch etwas gespürt haben von dem großen Weltbeben der Oster-
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nacht, dann steht schon auf der nächsten Seite oder in der nächsten Nummer wieder etwas von dem, was wir Menschen die realen Hoffnungen nennen, und die heißen: Waffen, oder Flugzeuge, oder Bomben, oder Geld. Die Todesmächte, und das sind die Hoffnungen des Menschen, an die er von Natur glaubt, erfüllen wieder Geist und Herz, und wenn wir uns auch dann und wann einmal erheben und es so scheint, als wollten wir uns dem Licht zuwenden, dann gibt man uns ein neues Narkotikum, damit wir weiter unsere wüsten, bösen, hoffnungslosen Träume träumen. Oder laßt mich noch ein Zweites nennen: Da ist die Wissenschaft. Es sind jetzt etwa 200 Jahre her, da fing es an, daß eine große, leuchtende Hoffnung durch die Menschheit ging, die man Aufklärung nannte. Man wählte als Bild dieser neuen Zeit die Sonne, die über einer dunklen Welt aufging. Diese Sonne war die Vernunft. Wir heute im Abendland und im alten, so tief zerstörten Europa können uns gar nicht mehr denken, was das Wort Vernunft einmal für die Menschen bedeutete. Welche Hoffnungen haben sie damit verbunden! Wenn wir heute die Technik bewundern, diese große Kunst, sich die Welt dienstbar zu machen und das Leben menschenwürdig zu gestalten, dann spüren wir noch etwas von jener großen Hoffnung, die einmal die ganze moderne Welt in Aufregung versetzte und die heute sehr zu unserem Schrecken – warum eigentlich? – die Völker im Osten ergreift wie eine neue Religion, wie die Neugeburt ihres eigenen Lebens. Eine andere große Hoffnung der Menschheit, über die heute das Licht von Ostern fällt und die sich auch hier prüfen und richten lassen muß, ist die Gemeinschaft. Man könnte sagen, es ist eigentlich unsere Hoffnung, die Hoffnung der Besten unserer Zeit. Wir haben das Gefühl, daß die Zeit des Ich, des einsamen, um sich selbst kreisenden Ich zu Ende ist und die Zeit des Wir, die Zeit der Gemeinschaft, der Gesellschaft begonnen hat. Nicht Ich sondern Ich und Du, nicht Freiheit sondern Verantwortung und Dienst, nicht Individualismus, sondern Sozialismus. Nicht wahr, das ist eine große und bewegende Hoffnung, und wen von uns hätte sie noch nicht angerührt? Aber im Licht der Barmherzigkeit Gottes sehen wir hier etwas Schreckliches: Wir sehen Ströme von Blut, die für diese Hoffnung fließen, wir sehen Haß und Leidenschaft, die nicht mehr zwischen Ich und Du, wohl aber zwischen den großen Menschengruppen und Weltreichen wie riesige Stichflammen emporschießen und alles in Brand stecken. Wir sehen, daß diese Hoffnung in Gefahr ist, sich in leeren, großen Worten, in bloßen Programmen zu verflüchtigen, während die Wirklichkeit widerhallt von dem Schrei verzweifelter, sterbender, ihrer Heimat und ihrer Freiheit beraubter Menschen.
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Noch eine letzte Hoffnung bleibt, der sich der Mensch immer wieder zuwendet, wenn die anderen Hoffnungen scheitern: das ist er, der Mensch selbst. Wir alle haben den Eindruck, daß wir hier der Wahrheit am nächsten sind, daß wir hier die Grenze erreicht haben, die ganz nahe an der wahren, lebendigen Hoffnung entlang führt. Der Mensch kann nicht so gemeint sein, daß er aus Gemeinem gemacht ist und die Gewohnheit seine Amme nennt. Nein, das ist nicht der Mensch. Ein Wort aus dem Talmud sagt, daß alle Dinge von Gott fertig geschaffen sind, nur der Mensch ist auf ein Ziel hin geschaffen, er hat eine Bestimmung. Der Mensch und die Hoffnung sind eins. Wenn es keine Hoffnung mehr gibt, kann der Mensch nicht seiner Bestimmung inne werden, und die Menschen, die keine Hoffnung mehr haben, hören auf, Menschen zu sein. Der Mensch selbst ist die Hoffnung alles dessen, was geschaffen ist. Alles wartet, so sagt die Bibel, auf diesen Menschen der Hoffnung. Wir kommen damit dem Geheimnis von Ostern sehr nahe, denn die Schöpfung und Ostern, das Licht vom ersten Tage und das Licht von diesem letzten Tage, vom Auferstehungstage, haben ganz gewiß etwas miteinander zu tun. Vielleicht ist die ganze Welt auf dieses österliche Heute und Jetzt geschaffen, auf den Menschen der Hoffnung. Alles wartet auf ihn. Er könnte das große, wunderbare Licht sein mitten im Dunkel aller Dinge. Er könnte wie eine lebendige Hoffnung in der Todeswelt stehen. Dann würde die Macht nicht mehr so hoffnungslos und das Wissen nicht mehr so kalt und leer und die Gesellschaft nicht mehr so unpersönlich und brutal sein. Der Mensch wäre wirklich das Maß aller Dinge, sofern er in der Hoffnung die Wurzeln seines Lebens hätte, das heißt in dem, was er sein wird, nicht in dem, was er ist, in dem, was Gott an ihm tun kann, nicht in dem, was er selber tun kann, in dem, was man nicht sieht und doch glaubt und nicht im Sichtbaren, über das wir immer nur unseren Namen und unseren Ruhm schreiben. Ist es nicht so, als hätten wir in diesen großen und bewegten Zeiten der Menschheit, durch die wir augenblicklich schreiten, auf einmal die Wahrheit der Auferstehung ganz nahe vor uns? Denn die Wahrheit der Auferstehung ist die Frage an uns, ob wir eine lebendige Hoffnung haben, ob wir begriffen haben, daß die Hoffnung das eigentlich Menschliche, das Besondere unter allen Dingen ist. Wir sind gefragt, ob wir in dieser Welt als solche stehen, die zu einer lebendigen Hoffnung wiedergeboren sind. Warum sind denn alle unsere Hoffnungen so leer und eitel? Warum ist der Rand und das Ende aller Dinge, die wir aufgeklärt und erforscht haben, immer noch so dunkel? Warum enden alle unsere Hoffnungen in einer so tiefen, schweren Hoffnungslosigkeit, die über uns kommt, wie das Dunkel der Nacht? Warum fallen die Knaben und werden die Jünglinge matt?
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Warum sind unsere Hoffnungen, gerade wenn wir ihren Weg zu Ende gehen, unser eigenes Verderben? Es ist schon eine große Sache und ist der Anfang der Begegnung mit dem Auferstandenen, wenn wir den Mut haben, nach einer lebendigen Hoffnung zu fragen, wenn wir erkennen, daß wir Menschen ohne Hoffnung sind, wenn wir anfangen zu begreifen, daß es eine Hoffnung gibt, die nicht zu schanden wird, also eine Hoffnung, die den Menschen wirklich zum Ziel seiner Bestimmung bringt. Ja, wenn wir erst einmal dahin gekommen sind, daß wir unterscheiden lernen zwischen toter und lebendiger Hoffnung, dann haben wir etwas Entscheidendes verstanden von der Osterbotschaft, dann stehen wir dort, wo die Osterzeugen stehen, Maria von Magdala, und Thomas mit all seinen Zweifeln, und Saulus von Tarsus. Ganz nahe sind wir dann der großen, göttlichen Barmherzigkeit oder besser gesagt: sie ist uns ganz nahe; ganz nahe sind wir an Ostern, ganz nahe an Damaskus, ganz nahe an dem hellen, reinen Licht, das uns erst blind machen muß, damit wir alle Dinge mit neuen Augen sehen lernen. Denn das Hoffnungslose an all jenen Hoffnungen, die aus uns, d. h. eben nicht aus Gott stammen, ist dies, daß wir mit ihnen wie Gefangene im Lager leben, daß wir den dunklen Rand aller Dinge vermeiden, wie Gefangene den geladenen Draht. Wir wissen um die tödliche Grenze dieses Lebens, und wir respektieren diese Realität in all unseren sogenannten Hoffnungen, wir bleiben innerhalb dieses furchtbaren, von einer gewaltigen Hand um unser Dasein gezogenen Kreises. Wir lassen dem Tod also doch das letzte Wort, er ist das Geheimnis aller Gewalt, er ist das Letzte, was wir wissen, er ist die geheime Macht aller Gemeinschaft. Wir meinen, weil ihm der erste Mensch gehörte, darum müsse ihm auch der letzte gehören. Das Erbärmliche unserer Hoffnung ist – das sehen wir jetzt, wenn wir von der Auferstehung Jesu Christi zurückschauen auf diesen nutzlosen Kreislauf unseres Lebens – daß wir dem Tod alles überlassen. Nun erst können wir die volle, die große Barmherzigkeit Gottes begreifen. Gott weiß, daß wir Hoffnungslose sind und daß wir dies bleiben müssen, solange nicht die Todesgrenze für uns aufgehoben wird. Er weiß, daß wir ihm nicht gehören können, solange wir nicht frei sind von der Furcht Gottes. Er weiß, daß wir nicht seine Kinder sein können, solange unser Erbe nicht das Ewige ist, ein unwandelbares, ein unbeflecktes und unverwelkliches Erbe. Er weiß, daß wir uns heimisch fühlen müssen in dieser Todeswelt, solange wir kein Bürgerrecht haben in jener Stadt, von der das Leuchten ausgeht, das uns getroffen hat. Darum ist die Barmherzigkeit Gottes nicht an ihrem Ziel bis auf Erden mitten unter uns durch einen Menschen wie wir diese Grenze durchbrochen wird. Es darf nicht nur im Himmel das Leben siegreich sein, der Ruhm Gottes muß auch auf der Erde
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in Erscheinung treten, die Hoffnung des Menschen muß sich hier erfüllen. Die Gefangenen müssen hier, gerade hier spüren, daß das Gefängnis gefangen genommen ist. Es muß durch alle diese dunklen Zellen der Jubelruf gehen: Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg? Das ist Ostern, das ist Jesus Christus der Auferstandene, mit dem wir selbst alle auferstanden sind aus dem Grab unserer leeren Hoffnungen, das ist Gottes großes Erbarmen mit uns hoffnungslosen Menschen, das ist, wenn anders wir uns ganz und gar diesem Erbarmen überlassen, der Geburtstag eines neuen, ganz und gar in Gott und seiner Macht liegenden Lebens.
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56. Wie die Jünger froh wurden Johannes 20,19-23 30. Mai 1950
Am Abend aber desselben ersten Tages der Woche, da die Jünger versammelt und die Türen verschlossen waren aus Furcht vor den Juden, kam Jesus und trat mitten ein und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch! Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und seine Seite. Da wurden die Jünger froh, daß sie den Herrn sahen.Da sprach Jesus abermals zu ihnen: Friede sei mit euch! Gleichwie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Und da er das gesagt hatte, blies er sie an und spricht zu ihnen: Nehmet hin den heiligen Geist! Welchen ihr die Sünden erlasset, denen sind sie erlassen; und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten. Am selben Abend erscheint Jesus den Jüngern, den furchtsamen Jüngern. O, wir kennen solche Furcht. Wir kennen das Sitzen hinter verschlossenen Türen. Darum können wir auch ermessen, was es bedeutet haben muß, wenn Er plötzlich unter sie tritt. Es muß beschämend gewesen sein wie damals, als die Jünger meinten, das Boot, in dem sie saßen, werde den Sturm nicht überdauern. Auch damals erhob Er sich und schon dieses Erwachen war Zeichen und Vorspiel kommender Auferstehung. Sie bleibt für alle kommenden Zeiten Zurechtweisung und Tadel an alle, die nicht mehr mit ihm als dem Lebendigen rechnen. Darum seine Frage: »Warum seid ihr so feige, ihr Geringgläubigen?« (Matth. 8,26). Weil Jesu Auferstehung Sieg ist, darum gehört die Furcht im Neuen Testament zu den Hindernissen, die einem das Reich Gottes verschließen. Sie ist Sünde wie Götzendienst und Unzucht. Wer Mitleid haben würde mit diesen sich fürchtenden Jüngern, der würde gerade kein Mitleid mit ihnen haben dürfen. Denn das Reich Gottes ist in Bewegung geraten, es geht voran, wir dürfen nicht stillstehen oder gar weichen. In diesem Kampf werden Feldflüchtige erschlagen und nur die Sieger sind Erben der Verheißung. Leider ist uns nichts darüber berichtet, was die Jünger an jenem so bedenklichen, so verzweifelten ersten Osterfest miteinander gesprochen haben mögen. Was für erregende Tage müssen das überhaupt für sie gewesen sein. Immerhin, aus der Tatsache, daß die Erscheinung des Auferstandenen in ihrer Mitte eine solche Sensation bedeutet – bis heute ist sie es für uns
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geblieben – kann man einiges schließen. Wenn sie Glauben gehabt hätten, wäre seine Erscheinung gar nicht nötig gewesen. Aber sie hatten eben keinen Glauben. Wir können uns eine solche Versammlung kirchlicher Führer nur allzu gut vorstellen. Wie oft hat sich das noch später in der Kirchengemeinde wiederholt: eine kleine Schar verantwortlicher Männer, beratend wie die Sache weitergehen soll, verlassen und verängstet, betend vielleicht und redend, aber eben doch zutiefst sich fürchtend! Wenn ein Maler dieses Bild einmal malen würde, müßte er es machen wie Rembrandt. Er müßte die Jünger ins Heute rücken, ihnen unsere Gesichter und Kleider geben. Er müßte sie malen als Bischöfe und Professoren, als Kirchenjuristen und Laienprediger. Er müßte sie malen wie sie auf ihren Konzilien und Synoden zusammentreten, im katholischen Bunt und im protestantischen Schwarz, die Führer der Großkirchen und die Bruderräte der Sekten, um zu beraten, wie die Sache Jesu, die ihnen zu treuen Händen übergeben zu sein scheint, weitergehen soll. Wie man sie – angesichts der feindlichen Massen und der kleinen, verlassenen Herde – ins Morgen hinüberretten soll, bis der Herr kommt! Diese verlassenen Jünger beraten offenbar ohne die Gegenwart des Auferstandenen. Sie wissen um Jesus, sie kennen seine Werke und Taten, sie halten sich an die Überlieferung, die sie nun zu bewahren haben – und sie glauben, daß Er wiederkommen wird, am Ende der Tage. Aber das Interim, die Zeit zwischen dem ersten und dem zweiten Advent ist ein Vakuum – scheint ihnen zu gefallen, ihrer Leistung und damit auch ihrem möglichen Versagen; ihrer Verantwortung und darum auch ihrer Sorge. Die Sache ist zu gewaltig und die eigene Kraft zu gering – darum die verschlossenen Türen. Darum der Rückzug ins Konventikel. Darum die Lehre von den beiden Reichen: die Welt draußen und das Reich Gottes drinnen! Darum der Versuch der nun das Kommando übernehmenden Unterführer, sich vom Feinde »abzusetzen« und mit der Welt einen Vertrag gegenseitiger Duldung abzuschließen. Nicht der Glaube, sondern die Sorge sitzt mit ihnen am Tisch, die Sorge um den Fortgang der Sache Jesu, und mit der Sorge nun doch wieder die Welt, die sie zu bannen meinten. Es ist seit dem 18. Jahrhundert die Neugier der Gelehrten gewesen, zu enträtseln, was wohl in jenen Ostertagen hinter diesen verschlossenen Türen vor sich gegangen sein mag. Man hat sich lange damit geholfen, daß man zwischen einem Jesus vor und einem Jesus nach der Auferstehung unterschied. Einem, der sich selbst zeigte und einem, wie er den Jüngern erschien und im Gemeindeglauben bekannt wurde. Es soll heute noch Neutestamentler geben, die sich durch eine derartige – die Zwei-ReicheTheorie heraufbeschwörende! – Trennung ein neutrales historisches Untersuchungsfeld zu sichern trachten. Adolf von Harnacks Unterscheidung
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zwischen dem Evangelium Jesu und dem Evangelium von Jesus gab das Stichwort für dieses historisch-liberale Denken. Alle diese Leute hätten recht, wenn die Jünger damals recht gehabt hätten – daß es jetzt auf sie, auf die Gemeinde, auf sie als die Überlebenden nach der Katastrophe von Golgatha ankäme. Wenn die Gemeinde die Klammer wäre zwischen dem irdischen und dem auferstandenen Jesus, dann hätten unsere Historiker recht, die auf dieser Brücke aus der Zeit vor der Auferstehung in die Zeit nach der Auferstehung gelangen möchten! Aber sie irren sich, auf dieser Brücke steht der Auferstandene selbst, steht da als Grenze und Anfang zugleich. Ende der Alten und Beginn der Neuen Zeit! Nicht nur im Gestern und im Morgen, im Heute begegnet er den Seinen. Denn Jesus Christus ist das Heute der Gnade Gottes mitten unter uns, das ewige Heute! So werden wir es verstehen müssen, wenn wir hören, daß Jesus Christus selbst unter die Jünger tritt. Als ob er damit den Kardinalfehler aufdecken wollte, den sie in ihrer Ratlosigkeit begingen. Mit seiner Gegenwart will Jesus doch wohl sagen: Ihr könnt meine Sache nicht wie ein Erbe verwalten, auch nicht in irgendeinem Interim, denn so gewiß, als ich alle Tage bei Euch bin, gibt es kein Interim. Der Platz, den ich gerade durch meine Auferstehung einnehme, muß für mich frei bleiben. Von mir und meiner Sache darf niemand sprechen, als wäre das die Hinterlassenschaft eines Toten. Vielmehr »Ich lebe« und darum sollt ihr – die Todgeweihten – auch leben. Kehrt diese Regel nicht um, haltet nicht etwa euch für die Lebenden und mich für einen Toten! Und vielleicht kann man noch ein weiteres dazu sagen (wir denken hierbei immer noch an die geschlossenen Türen): Die Christenheit ist keine Verschwörung, die wie eine Krankheit der Gesellschaft im Dunkel schleicht. Wäre der Herr nicht erschienen, dann könnte das unter Umständen passiert sein. Dann könnte Nietzsche im Recht sein mit seiner Feindschaft gegen das Kreuz und seinem Vorwurf: »Das Kreuz ist das Erkennungszeichen der unterirdischsten Verschwörung, die es je gegeben hat.« Er wollte diese alte heidnische Anklage »an alle Wände schreiben, wo es nur Wände gibt« (Antichrist), und wir wissen ja auch, daß man damit die Straße gegen die Christen mobil machen kann. Das ist die Stimmung, die bei den staatlichen Organen herrscht, welche zur Unterdrückung der Kirche eingesetzt werden! Wir seien eine geheime Verschwörung! Sie hätten recht, wenn den Jüngern die Flucht ins Ghetto gestattet worden wäre. Die Erscheinung des Auferstandenen heißt: Ihr sollt Kinder des Lichts sein. Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten – fürchtet den, der tötet und wieder lebendig macht! So fallen die Riegel der Furcht, die Türen gehen auf und die Botschaft des Evangeliums läuft um den Erdkreis! Jesus
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duldet nicht, daß sich die Kirche und ihre Führung unversehens an Seine – und das heißt eben an diese Stelle schiebt. Seine Gegenwart erinnert die Jünger, daß ihr Erbe nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft liegt. Denn das Erbe, das Jesus Christus brachte, ist das ewige Leben. Ist Verheißung und bleibt Verheißung bis ans Ende der Tage! Sein Gruß heißt Friede. So grüßt der Sieger die, für die er siegte. So macht er sie selbst zu Herolden des Friedens (das sind »Evangelisten« Jes. 52,7). In ihm sollen sie Frieden haben, das hatte er scheidend verheißen (Joh. 16,33) – und das erfüllt sich nun an den tief Traurigen. Denn die Zeichen des Friedens sind an dem Auferstandenen offenbar: die Seitenwunde und die Nägelmale. Mag sein, daß der Graf von Zinzendorf des Guten manchmal zuviel getan hat in seiner Blut- und Wundentheologie, aber hatte er nicht sachlich recht gegenüber einem rationalistischen, optimistischen, paganistischen Christentum, das einen Christus ohne Blut und Wunden haben wollte. Er hatte schon recht, wenn er im Kreuz die Glorie des Sieges sah und es nicht als etwas bloß Irdisch-Vergängliches verstanden und damit verachtet sehen wollte. »Wir deuten das Deo Gloria in exelsis auf Gott am Kreuz und wissen, daß die höchste Sache, das summum bonum aller Seelen, seine Wunden sind«. So steht Jesus Christus unter den Göttern der Heiden, an seinen Wunden erkennbar. Erfunden als ewiger Hoherpriester. Seine Wunden sind das signum sacerdotale, das er trägt, indem er uns trägt. Weil das, was er gelitten hat, vor Gott gilt, darum ist Friede. Vielleicht ist das der Hintergrund jener knappen Notiz, die hier steht: Da wurden die Jünger froh, daß sie den Herrn sahen. Ob es uns wohl dereinst auch so gehen wird, wenn wir aus der Welt des Glaubens in die des Schauens treten werden? Ob wir auch unseren Gott erkennen werden an seinen für uns erlittenen Wunden? Ob uns auch von hier aus die große Freude erfüllen wird, die alle Tränen trocknet? Aber wer kann froh sein, zu sehen, was er zuvor nie geglaubt hat? Glauben wir aber wirklich, daß alles andere Leiden nichts ist im Vergleich zu dem Kreuz des Herrn? Das Kreuz Jesu ist kein leerer Wahn, sondern ein Anschauungsunterricht unseres künftigen Heils. So haben alle Erscheinungen des Auferstandenen etwas vom Morgenglanz der Ewigkeit an sich, es ist, als ob für einen Moment – für jene einzigartigen 40 Tage – der Schleier hinweggenommen war, der gemeinhin unsere Todeswelt trennt von der Gegenwart ewigen Lebens. Was hier den Augenzeugen geschieht, das wird einmal allen zuteil werden, die aus Glauben leben. Wir werden beim Namen gerufen werden wie Maria, wir werden seiner Erscheinung froh werden wie die Jünger, werden endgültig und fraglos gewiß werden wie Thomas.
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Von dieser Höhe her erfolgt nun auch die Berufung der Jünger zur Mission. Der Gesandte Gottes wird nun selbst der Sendende und bläst sie an mit seinem Heiligen Geist, wie Tote, um sie zum Leben zu erwecken. An dieser Stelle könnte es einem doch sehr fraglich werden, ob die Ostkirche recht daran getan hat, sich zu sträuben gegen jene abendländische Lehre, daß der Geist vom Vater und vom Sohne ausgeht. Was hier geschieht, geschieht nicht, um Pfingsten überflüssig zu machen, sondern um die Vollmacht des Auferstandenen, der damit seinem Vater gleichgeordnet ist, zu bezeugen. Ich sende, sagt der durch Kreuz und Auferstehung ausgewiesene Herr – und seine Sendung wird ebenso unwidersprechlich sein wie es die Sendung war, die von seinem Vater ausging und sich in seinem Lebenswerk vollendete. Aber auch inhaltlich soll alles auf demselben Wege bleiben, wie es von ihm – dem zuerst Gesandten – auf Erden begonnen wurde. Der Sinn seiner Sendung ist die Vollmacht, Sünde zu vergeben. Also das zu tun, was niemand tun kann denn Gott selbst! Das soll der Machterweis des Auferstandenen sein, der seine Boten auf ihrem Weg nunmehr umwehen wird. Nur wenn sie in diesem Auftrage verharren, wird der Geist Jesu an ihnen spürbar werden. Und sie werden nur vergeben können, wenn sie zugleich den Mut und die Kraft geben können, wenn sie zugleich den Mut und die Kraft haben, Sünde zu behalten. Luther nannte das magnificare peccatum, das heißt: der von uns immer wieder gering geachteten Sünde ihr wahres Gewicht zu geben. Ein Gewicht, das so schwer ist, daß niemand es bewegen kann und alles, was wir sonst dem freien Willen und der menschlichen Natur zutrauen, daran zuschanden wird. Wer unter seinen Boten nicht mehr den Mut aufbringt, zu bezeugen, daß die Sünde stärker ist als der Mensch und wir darum alle von Natur unter dem Fluch stehen, der wird das Wort von der Vergebung zu einem unkräftigen, einem leeren und die Christen mehr einschläfernden, als erweckenden Worte machen. Darum gehört beides zusammen: das Vergeben und das Behalten. Vergebung bleibt – so wie zu Lebzeiten Jesu – Machtwort, bleibt Entscheidung, die immer den tiefen und schweren Schatten des Sünde-Behaltens bei sich hat. Denn die Rechtfertigung des Sünders ist immer zugleich das Gericht über die Gerechten (trotz Schlatter!). »Er stößt die Gewaltigen vom Stuhl und erhöht die Niedrigen.« Das ist Jesus – und um deswillen wurden die Armen und Elenden froh, wenn er sich ihnen nahte. Es dürfte eines der Geheimnisse für die so beklagenswerte Unkräftigkeit unserer Botschaft heute sein, daß wir meinen, wir könnten pflanzen und bauen, ohne zugleich auszureißen, zu zerbrechen und zu zerstören. Denn wir haben aus dem Evangelium ein Wort gemacht, das restaurativ ist – Wiederherstellung der Schöpfung, wie man
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heute sagt – aber Gottes Wort tötet und macht lebendig. Das ist etwas toto coelo anderes. Das Wort von der Vergebung der Sünden ist letztes Wort, so wie Jesus selbst das letzte Wort Gottes war. Es gibt nichts darüber hinaus. Wer noch etwas darüber hinaus von Jesus und seinen Boten erwartet, der hat es noch nie vernommen.
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57. Thomas, der erste Protestant Johannes 20,24-29 31. Mai 1950
Thomas aber, der Zwölf einer, der da heißt Zwilling, war nicht bei ihnen, da Jesus kam. Da sagten die andern Jünger zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er aber sprach zu ihnen: Es sei denn, daß ich in seinen Händen sehe die Nägelmale und lege meine Finger in die Nägelmale und lege die Hand in seine Seite, will ich’s nicht glauben.Und über acht Tage waren abermals seine Jünger drinnen und Thomas mit ihnen. Kommt Jesus, da die Türen verschlossen waren, und tritt mitten ein und spricht: Friede sei mit euch! Darnach spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und siehe meine Hände, und reiche deine Hand und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott! Spricht Jesus zu ihm: Dieweil du mich gesehen hast, Thomas, so glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!
Vorbemerkung Lassen Sie mich zuerst etwas über den Zweifel sagen. Es gibt, soweit ich sehe, drei entscheidende Epochen des Zweifels. Die eine ist jene erste und eigentlich abgründigste, als dem Menschen von außen her – gemeint ist vom Satan her – die Frage gelehrt wurde: Sollte Gott gesagt haben? Als er anfing, nach einem Maßstab zu fragen, um zu bestimmen, was Gottes Wort sein könnte und was nicht. Dazu kam ein Zweites, vielleicht im Zusammenhang damit. Der Mensch, der sich nun nicht mehr an Gott, sondern an die Wirklichkeit hielt, begann auch an dieser zu zweifeln. Er begann zu unterscheiden zwischen Schein und Wahrheit. Die Welt, in der wir leben, ist Schein, die wahre Welt ist die »umgekehrte« Welt, die Welt, die wir kennen, wenn wir uns umdrehen, uns von den Schatten der Sinne zu den Ideen der reinen Erkenntnis wenden. Das lehrte Plato das Abendland und Nietzsche sagt nicht mit Unrecht, daß die Welt seit Plato einen Knax bekommen habe. Denn seither glaubt niemand mehr der Sinnenwelt. Jeder versucht, dahinter zu kommen. Aus diesem Zweifel an der Sinnenwelt ist
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die Wissenschaft geboren. Und nun kommt das Dritte: und dies Dritte ist der Zweifel des Thomas. So neu das ist, was die Jünger erfahren, so neu und noch nie dagewesen ist das, was Thomas sagt: Es sei denn, daß ich in seinen Händen sehe die Nägelmale und lege meinen Finger in die Nägelmale und lege meine Hand in seine Seite, will ichs nicht glauben! Er sagt also nicht: ich kann nicht, sondern er sagt: ich will nicht. Er bezweifelt nicht das Faktum, daß die anderen den Herrn gesehen haben, nur für ihn bedeutet das nichts. Ehe er nicht selbst seine Hand in die Seitenwunde gelegt, ehe er nicht selbst den Herrn erlebt hat, will er nicht glauben. Das ist der dritte Zweifel: ehe ich nicht selbst – persönlich – erfahre, vorher will ichs nicht glauben. Und es ist zu fragen, ob man ein Christ sein, von Christus hören kann – so wie Thomas von ihm hört – ohne diese Frage zu stellen, ohne diesen Protest anzumelden! Es geht merkwürdig mit Thomas in unserem Evangelium. Er kommt dreimal zu Wort. Jedesmal enthält sein Wort eine halbe Wahrheit. In ihm meldet sich die Frage innerhalb der Gemeinde; hier brennt ein Feuer, das echt ist. Dieser Zweifler hat ein Anliegen, das von Jesus gehört wird. Ja, man könnte vielleicht sogar sagen: hier sitzt jener Zweifel, der zur theologischen Erkenntnis führt. Einmal redet er, als Jesus seine Jünger auffordert, mit ihm zu Lazarus zu ziehen. Da sagt er: »Laßt uns mitziehen, daß wir mit ihm sterben.« Er irrt sich zwar im Faktischen, aber er weiß offenbar, daß die Auferweckung des Lazarus Jesus das Leben kosten wird! Er gibt uns ein Rätsel auf, nachzudenken über den Zusammenhang, der zwischen der Tat Jesu an Lazarus, an dem »Freund«, und seinem Gang zum Kreuz besteht. Ein zweites Mal redet er, als Jesus sagt: »Wo ich hingehe, wißt ihr« und fragt nach dem »Weg«. Und Jesus antwortet ihm »Ich bin der Weg«. Der Weg ist also nicht ein Etwas, das ihr an ihm vorbei finden könntet, eine Methode, ein Programm, ein Prinzip. Jesus kam nicht, um einen neuen Gedanken zu bringen, etwa, daß Gott die Liebe ist; etwa, daß wir aus Gnaden selig werden; etwa, daß der Tod vom Leben verschlungen wird – nein – Er ist der Weg! All dies ist nur wahr in ihm, nicht »an sich«. Es gibt keine »An-sich-Wahrheiten« in der Offenbarung Gottes, denn vor allem, was Weg, Wahrheit und Leben ist, steht Jesu Zeugnis: »Ich bins«. Er ist der Weg Gottes in Person. Und nun – zum dritten und letzten Mal fragt Thomas, indem er statuiert: Ich will nicht glauben, solange ich die Vergebung der Sünden nicht ganz persönlich an mir erfahre! Daß der Auferstandene den anderen erschienen ist und sie seine Seitenwunde und Nägelmale sahen, was nützt es mir! Das ist seine letzte Frage, seine beste und persönlichste. Er ist wie der Mund eines Hörers, der all dies vernimmt, aber nun ein Anliegen dagegen geltend macht: sich selbst!
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Thomas, der erste Protestant Die Erscheinung Jesu vor Thomas, dem Zweifler, und die Geschichte von Jesu Anhauch an die Jünger und Übertragung seiner Vollmacht an sie – diese beiden Geschichten hängen vielleicht miteinander zusammen. Zunächst ist das ja insofern klar, als Thomas bei der Erscheinung Jesu im Jüngerkreis nicht dabei ist und darum seine Einwendung erhebt. Aber vielleicht ist der Zusammenhang tiefer. Wir wollen uns darum noch einmal erinnern an jene Übertragung, die Jesus mit seiner Mission an die Jünger vornimmt. Was hatte er da gesagt? »Welchen ihr die Sünden erlasset, denen sind sie erlassen; und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.« Dies ist inhaltlich genau dasselbe, was Jesus Matthäus 16 zu Petrus sagt: »Ich will dir des Himmelreichs Schlüssel geben. Alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein; und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel los sein«. Wir wissen, daß auf diesen Vers im Besonderen sich die Lehre vom Schlüsselamt und vom Bann gründet. Die meisten von uns meinen freilich, diese Rede sei katholisch. Sie wissen nicht, daß wir auch in unseren Bekenntnisschriften, bis hin zum Katechismus, ein Lehrstück haben vom Amt der Schlüssel. Ohne dies Amt, ohne diese Vollmacht wäre Kirche gar nicht denkbar. Predigt und Sakrament sind nur unter diesem Vermächtnis Jesu sinnvoll, denn wie könnte sonst etwas geschehen? Sonst würde das Reich Gottes wirklich nur in Worten bestehen, es wäre eine »rhetorische« Angelegenheit, aber keine »dynamische« = wirkliche! Vielleicht müssen wir, um das zu begreifen, zwei Dinge klären: einmal, daß »Sündenvergeben« nun wirklich kein Menschenwerk und Menschentun ist! Wir meinen so oft, das könnten Menschen. Wir könnten es, wir wollten nur nicht! Aber wie, wenn es umgekehrt wäre? Wenn die Juden recht hätten, als sie gegenüber Jesus einwenden: »Wer kann Sünden vergeben denn allein Gott?« (Mk. 2,7). Sünde – es ist merkwürdig, dies Wort kann man durch kein anderes ersetzen, es wird seinen theologischen Geruch behalten und zwar mit Recht für immer behalten: Sünde hat immer etwas mit Gott zu tun. Wenn der Mensch aufhören würde, Sünde zu tun, dann würde er mit Gott nichts mehr zu tun haben, aber solange diese Kette ins Fleisch schneidet, können wir ihm nicht entlaufen. Wenn nun ein Mensch kommt und den Gebundenen frei macht, haben dann die Juden nicht recht, wenn sie sagen: das sei Blasphemie! Das könne nur Gott. Das müsse der Ewigkeit vorbehalten bleiben! Sie hätten recht, wenn nicht Jesus mehr recht hätte, indem Er Sünde vergibt, und er vergibt sie, indem er für uns in den Tod geht. Er erweist sich
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als der, den Gott zu diesem Tun in die Welt gesandt hat! »Damit ihr seht, daß des Menschen Sohn Macht hat, Sünde zu vergeben …«. Das heißt also, was die Juden (wie übrigens alle Menschen) erst als die Tat Gottes am Menschen nach dem Tode erwarten, das vollzieht Jesus jetzt. Darum heißt es Heute. Darum schließt dies Heute ein seltsam gnädiges Ultimatum Gottes in sich. »Jetzt ist die angenehme Zeit des Herrn«. Jesus rückt also etwas, was erst jenseits der Zeit Ereignis werden sollte, in das Heute hinein. Er nimmt etwas Zukünftiges voraus. Ihm glauben, hieße, sich auf diese Tat verlassen in alle Ewigkeit. Wo also immer Sünde vergeben wird, wird in Gottes Rechte eingegriffen. Das darf kein Mensch tun. Aber nun – und das ist das Zweite – indem Jesus seine Vollmacht den Jüngern überträgt (das macht ihre apostolische Autorität aus), überträgt er ihnen zugleich die andere, Sünden zu behalten. Was ist das? Und wie kann beides zusammengehen? Sind die Apostel etwa damit in der Lage, wem sie wollen, zu vergeben, und wen sie wollen, in den Bann zu tun? Sind sie damit juristisch (also kirchenrechtlich) legitimiert? Zu Beidem gehört offenbar der Heilige Geist. Eins muß geschehen in der Güte, das andere im Zorn Gottes. Es gibt einen heiligen Zorn; wir haben keinen apostolischen Brief im Neuen Testament, der nicht auch etwas von diesem Zorn in sich hätte. Genau so ist es mit den Reden Jesu. Da ist immer das Ja und zugleich das Nein. Das Ja Gottes zu den Sündern kann gar nicht vollzogen werden, ohne das Nein zu den Gerechten! Die Sünde behalten, heißt also: die Realität von Sünde da in Erscheinung treten zu lassen, wo sie versteckt ist. Sie denen wieder aufladen, die sie leichtsinnig oder heuchlerisch abgeworfen haben. Man bezeichnet das in der Theologensprache mit dem Amt des Gesetzes. Aber – wie gesagt – auch dazu gehört Jesu Vollmacht, auch dazu gehört der Heilige Geist. Das bedeutet, auch die Sünde behalten ist ein lebensschaffendes Werk! Wenn auch so, daß es den selbstgerechten Menschen tötet. Es tötet aber nicht, um zu töten, sondern um ihn zu befreien von seiner tiefsten Gottlosigkeit. Lassen Sie mich ein paar Beispiele dafür nennen: Die Radikalisierung der Gebote in der Bergpredigt. Oder Worte aus der Pharisäerrede Matthäus 23: »Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr das Himmelreich zuschließt vor den Menschen! Ihr kommt nicht hinein und die hinein wollen, laßt ihr nicht hineingehen«. Oder das Gleichnis vom Schalksknecht. Oder denken wir an die Strafhandlung des Petrus an Ananias und Saphira! Sünde behalten heißt immer: aus dem kleinen, winzigen Blätterchen, das sich auf der Haut zeigt, jene »Krankheit zum Tode« werden zu lassen, die Sünde heißt! Das soll nun offenbar das Amt der Apostel sein – dasselbe, das Jesus begonnen hat! Sie haben den Menschen un-
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ter einem seltsamen Aspekt anzusehen: unter dem der Sünde! Und wahrscheinlich wird es damit zusammenhängen, wenn sich Jesus ihnen mit der Seitenwunde und den Nägelmalen zeigt. So weit – bis vor Gottes Thron! – reicht die Macht der Sünde, und von dort her allein muß sie aufgehoben werden. Nun erst wird der Zweifel des Thomas begreiflich. Thomas – ich möchte das doch wagen zu behaupten – protestiert gegen diese Autorität der Apostel. Thomas ist der erste Protestant. Er enthüllt uns Recht und Grenze des Protestantismus! Was nützt es mir, so sagt er, daß andere ihn erlebt haben, wenn ich ihn nicht erlebe? Zumal den, der Sünde vergibt! Zumal den, in dem die Vergebungsgewißheit mir als ewige geschenkt wird. Und das ist nun das ungeheuer Trostreiche dieser Geschichte, daß dieser Zweifel (der Zweifel an der kirchlichen Autorität!) geheilt, daß er als ein echter Ruf nach Gott, nach Gewißheit verstanden wird. Jesus ist viel barmherziger als wir! Jesus läßt den so fragenden, so zweifelnden Thomas nicht in seinen Zweifeln stecken. Er bringt ihn zur Gewißheit des Heils. Das ist der Sinn seiner dritten Erscheinung. Es geht also hier, wenn man so sagen darf, um den Zusammenhang von Glaube und Erfahrung. Es geht um jene »Weihe des Zweiflers«, der der junge Tholuk – selbst durch die Hölle der Selbsterkenntnis gegangen – einen so geistesmächtigen Ausdruck gegeben hat. Der Zweifler sollte um des Thomas willen immer seinen Platz in der Gemeinde behalten dürfen. Er fragt ja – gerade in seinem Zweifel – nach dem persönlichen Verhältnis zu Jesus. Zu dem Jesus, in dessen Seitenwunde er seine Hand legen könnte! Wer müßte nicht so fragen, wenn er hört, was Thomas hier hört von seinen Gefährten: Wir haben den Herrn erlebt? Jesus hat den Zweifler verstanden – daß er brennt nach einer letzten, persönlichen Gewißheit. Jesus hat damit gerechtfertigt, was wir das tiefste Anliegen des Protestantismus nennen könnten, die Frage: »Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?«, diese Frage, die die Reformation in der Kirche stellte und die der Pietismus – das ist sein unvergängliches Verdienst – wie eine brennende Flamme weiter am Leben erhalten hat. Thomas findet den gnädigen Gott. Es sind acht Tage vergangen. Wieder sind die Jünger bei verschlossenen Türen versammelt. Auf einmal ist Er da. In derselben Souveränität über Raum und Zeit, die ihm seit der Auferstehung zu eigen ist. Er ist da und, wenn er sie grüßt mit seinem Friedenswort, ist auch der Friede da. Ein unbegreiflicher Friede; ein Friede, über dem eines Tages alle verschlossenen Türen aufgehen werden. Denn alle sich abriegelnden Christenversammlungen sind nicht im Frieden; durch »verschlossene Türen« ist man nie geborgen; noch durch die Ritzen der Wand kriecht die Sorge und die
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Angst. Aber der Friede des Auferstandenen ist jene Geborgenheit bei offenen Türen, mitten in einer in der Tat feindlichen Welt. Auf einmal sind die Jünger vergessen, treten in den Schatten. Und nur Er ist da und Thomas. Der Herr und der Jünger, der eben noch das herausgefordert hatte: Wenn ich nicht meine Hand in seine Seitenwunde lege! Auf einmal reicht er ihm seine »durchgrabene Hand«, auf einmal ist jenes wunderbare »Nahesein« über ihn gekommen, das er mit seinem Zweifel herausgefordert hatte; nun darf auch er bekennen. Er muß die Waffen strecken. Christus ist Sieger. Der Zweifler hat nicht umsonst gezweifelt, Christus hat ihn gerechtfertigt! Nun kann er sagen: Mein Herr und mein Gott. Er sagt nicht: »ein Herr« oder »ein Gott«. Er sagt nicht: Ich glaube, daß es ein System gibt, eine Weltansicht, welche damit gegeben ist, daß der Mensch einen Herrn hat, daß Gott ist; nicht mehr so mittelalterlich-katholisch, wo die Dogmatik mit dem Satz beginnt: ob Gott ist! und dieser Satz dann bewiesen wird, sondern evangelisch: Mein Gott! Mein Herr! Thomas mußte als einzelner unter den Jüngern fragen, warten, zweifeln und wie ein Ausgestoßener dazwischen stehen, damit er uns deutlich machte, was es heißt: Sünde vergeben, Sünde behalten. Das heißt es, daß wir Jesus anerkennen als unseren Heiland: Mein Gott, Mein Herr. »Daß Jesus Christus wahrer Gott vom Vater in Ewigkeit geboren und auch wahrer Mensch von der Jungfrau Maria geboren, sei mein Herr!« Der Zweifler hat eine Antwort von Jesus erhalten, die eine Hoffnung bleiben wird für alle, die ihn nicht umsonst gesucht, die sich nicht umsonst dem Autoritätsglauben der Kirche entzogen, die nicht umsonst gesagt haben: ehe ich nicht … Thomas sagt und bekennt: Mein Gott. Wir wissen ja, daß Martin Luther in dieser einen einzigen Formel den Unterschied fand zwischen allen anderen Religionen und dem Glauben an Christus, in diesem Wörtchen »Mein«. Alle anderen sagen, so meinte er, »es ist ein Gott«. So sagt auch die Philosophie. Das ist das letzte, was sie sagen kann. Aber der Glaube, der aus Gott geboren ist, und die Theologie, diese auf solchen Glauben hin angelegte Rede in Frage und Antwort, sagt: Mein Gott. Das ist das Zeichen dafür, daß Gott in Jesus zu uns gekommen ist. Solange er nicht in Jesus zu uns kommt, wird das Mein nicht echt sein. Gott wird nach wie vor ein Gott sein! Einer unter vielen. Der Beste und der Höchste vielleicht unter vielen. So wie heute unsere Zeitungen das Christentum preisen! Wie sie von unseren Tagungen und Veranstaltungen berichten. Das Mein Gott und Mein Herr können sie nicht fassen. Denn da, wo Thomas vor Christus steht, kann kein Reporter hingelangen. Hier ist jegliche Berichterstattung unmöglich. Hier liegt die dem Unglauben unzugängliche Mitte der Kirche selbst. Aber nun – die Vermahnung des Herrn an Thomas! Haben wir ihn nicht
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allzusehr gerechtfertigt, den zweifelnden, den die moderne Theologie zum ersten Mal im Jüngerkreis verlautbarenden, den protestierenden und protestantischen Thomas? Dieweil du mich gesehen hast, glaubst du! Selig sind, die nicht sehen und doch glauben! Dieweil du mich erlebt hat, glaubst du; also weil etwas eingetreten ist, was noch über den Glauben hinaus geht; was sich nicht mit jener Gabe begnügt, die der Herr seinen Jüngern gab, jener Gabe »Sünde zu vergeben und zu behalten«, was noch als »Erlebnis« hinzukommt! Die persönliche Begegnung mit Jesus! Selig sind, die Glauben und Erfahrung in eins setzen, die »aus Glauben in Glauben« leben! Selig sind, die sich nun auch solche »Erlebnisse« und »Erfahrungen« abbauen lassen. Selig sind die, die sola fide leben werden. Die nichts brauchen, worauf ihr Auge schaut. Nichts brauchen, wohin sie ihre Hand legen. Nichts brauchen, um gewiß zu sein, daß »er auch an mich gedacht, als er sprach, es ist vollbracht«. Die nun hingehen können und es ertragen können, daß alle diese »Erscheinungen« und persönlichen »Erlebnisse« fallen. Wegfallen. Daß sie nur Erziehung, Anfang, Hilfe zum Glauben sind, aber daß wir dann mehr und mehr hineinwachsen in jenen Glauben, der eine »Gewißheit ist der Dinge, die man nicht sieht«. Der die Augen schließt und der jenen Frieden bekennt, der »inexperimentalis et insensibilis« ist. »Wenn ich auch gleich nichts fühle von deiner Macht …«, das ist der Weg, auf den Jesus verweist. Aus dem Glauben, der gestützt, gefördert und getragen ist von solchen »Zeichen« des Erbarmens und der Hilfe, hineinzukommen in jenen »reinen Glauben«, der allein vom Worte lebt. Der damit genug hat, daß der Heilige Geist da ist, in dem »Sünde vergeben und behalten wird«. Jesus zeigt also Thomas den Weg zur Seligkeit, er zeigt ihm, wo sein Weg ist, nicht im Sammeln solcher »Erlebnisse«, sondern im »Abbau«, im Leben »sola fide«, er zeigt dahin, wo die Reformation nun in der Tat anhob: höher hinaus, als der Pietismus (gerade auch der mittelalterliche, katholische, aus dem Luther herkommt), es geahnt hatte, so hoch, daß dem Menschen mit seinem Fühlen und Greifen und Sehen der Atem ausgeht, so hoch, daß jene Hochgebirgsregion erreicht wird, wo der Zweifel – jeder Zweifel – fällt. Wo der Mensch nur noch »sola fide« lebt. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben. Selig sind, welche den Spott des imaginären Gottes hinnehmen, weil sie den Weg des dunklen, des unsichtbaren Glaubens gefunden haben. Den Weg, den keine Psychologie mehr entdeckt und darum auch zum Glück nicht verraten kann! Den Weg, da der natürliche Mensch sterben muß, damit der geistliche Mensch lebe, den Weg, der nicht mehr als Weg, als Methode, als Erfahrungs- oder Erlebnistheologie faßbar wird. Alles, was Thomas je gefragt oder gesagt hat, ist damit beantwortet. Selig also, wer sich abbauen läßt in seinem Sehen-Wollen, und sich aufbauen
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läßt in seinem Glauben! Die Erscheinungen des Auferstandenen mußten den Zweifel des Thomas erzeugen! Wenn es wirklich so ist, daß der Herr gegenwärtig ist in seiner Kirche, dann muß jedermann fragen: wie kann ich ihn finden und erleben? Eine ganz neue Frage. Ein nicht von Gott wegführender, ein zu ihm hinführender Zweifel. Nun muß auch der Zweifel »uns zum Besten dienen«. Alle, die je so gefragt, die je eine in besonderen Erfahrungen und Erlebnissen bestehende Antwort erhalten oder erwartet haben, sollten es hören, was der Herr zu Thomas sagt: Das Selig gilt euch nicht, weil ihr mich erlebt, erfahren und gesehen habt. Die Seligpreisung gilt dem, der mit mir in das »unsichtbare Reich des Glaubens« eintritt und alles andere, mag es noch so wunderbar, süß und wesentlich gewesen sein, fallen läßt. Denn der Glaube allein empfängt, was ich euch gegeben habe, die »Vergebung der Sünden«, und wo Vergebung der Sünden ist, »da ist Leben und Seligkeit«.
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58. Die Erscheinung des Auferstandenen in Galiläa Johannes 21,1-14 1. Juni 1950
Darnach offenbarte sich Jesus abermals den Jüngern an dem Meer bei Tiberias. Er offenbarte sich aber also: Es waren beieinander Simon Petrus und Thomas, der da heißt Zwilling, und Nathanael von Kana in Galiläa und die Söhne des Zebedäus und andere zwei seiner Jünger. Spricht Simon Petrus zu ihnen: Ich will hin fischen gehen. Sie sprechen zu ihm: So wollen wir mit dir gehen. Sie gingen hinaus und traten in das Schiff alsbald; und in derselben Nacht fingen sie nichts. Da es aber jetzt Morgen war, stand Jesus am Ufer; aber die Jünger wußten nicht, daß es Jesus war. Spricht Jesus zu ihnen: Kinder, habt ihr nichts zu essen? Sie antworteten ihm: Nein. Er aber sprach zu ihnen: Werfet das Netz zur Rechten des Schiffs, so werdet ihr finden. Da warfen sie, und konnten’s nicht mehr ziehen vor der Menge der Fische. Da spricht der Jünger, welchen Jesus lieb hatte, zu Petrus: Es ist der Herr! Da Simon Petrus hörte, daß es der Herr war, gürtete er das Hemd um sich (denn er war nackt) und warf sich ins Meer. Die anderen Jünger aber kamen auf dem Schiff (denn sie waren nicht ferne vom Lande, sondern bei zweihundert Ellen) und zogen das Netz mit den Fischen. Als sie nun austraten auf das Land, sahen sie Kohlen gelegt und Fische darauf und Brot. Spricht Jesus zu ihnen. Bringet her von den Fischen, die ihr jetzt gefangen habt! Simon Petrus stieg hinein und zog das Netz auf das Land voll großer Fische, hundertdreiundfünfzig. Und wiewohl ihrer so viel waren, zerriß doch das Netz nicht. Spricht Jesus zu ihnen: Kommt und haltet das Mahl! Niemand unter den Jüngern aber wagte, ihn zu fragen: Wer bist du? denn sie wußten, daß es der Herr war. Da kommt Jesus und nimmt das Brot und gibt’s ihnen, desgleichen auch die Fische. Das ist nun das drittemal, daß Jesus offenbar ward seinen Jüngern, nachdem er von den Toten auferstanden war. Das 21. Kapitel des Johannes-Evangeliums, besonders die Geschichte, die von der Erscheinung des Herrn am See Genezareth handelt, stellt uns vor eine Reihe schwerer Fragen. Die beiden letzten Verse des vorigen Kapitels
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sollten doch wohl das Ende des Evangeliums sein. Es wird dort gesagt, daß Jesus noch viel mehr und andere Zeichen tat, die in diesem Buch nicht aufgezeichnet sind und daß alles, was hier geschrieben ist, aufgezeichnet wurde, damit wir »glauben, daß Jesus der Christus, der Sohn Gottes ist«, und damit die, die glauben, »das ewige Leben haben«. Das klingt wie ein Buchschluß und ist es ganz sicher auch gewesen. Es ist das Ergebnis des Ganzen und, wie immer im Neuen Testament, kommt das auf eine Formel heraus, auf die Formel: Jesus Christus. Jesus ist Name, ist Geschichte eines Menschen und in diesem Menschen Geschichte Gottes mit uns. Christus ist der Titel, Christus ist das griechische Wort für den Messias, für den Gesalbten Gottes, den verheißenen König Israels. Aber das, was mit dieser Zusammenstellung gesagt werden soll, ist nun das Ungeheuerliche: daß dieser Jesus, dieser irdische Mensch, der zum Kreuz geht und dort stirbt, der Messias ist – das glauben, heißt leben. Nun geht unser Evangelium aber doch weiter, es werden weitere Erscheinungen des Auferstandenen berichtet, und am Ende des 21. Kapitels lesen wir dann, daß der Lieblingsjünger der Zeuge und Verfasser ist und daß sein Zeugnis wahr ist. Noch einmal wird betont, daß es noch viel mehr zu schreiben gäbe und »die ganze Welt die Bücher nicht fassen könnte, die über ihn geschrieben werden könnten«. Doch das ist noch nicht alles, was uns über diesen Schluß des JohannesEvangeliums nachdenklich machen könnte. Wir lesen weiter von einer Erscheinung des Auferstandenen, die nicht mehr in Jerusalem, sondern am See Genezareth spielt, bei Tiberias, an demselben Ort, an dem das Wunder der Speisung geschah. Man muß sich doch unwillkürlich fragen, wie kamen die Jünger nach Galiläa und warum haben sie ihren Fischerberuf wieder aufgenommen? Dazu kommen einige verstreute Hinweise, in denen dieses schon vorher von Jesus selbst prophezeit wird, so etwa Markus 16,7, wo es heißt: »daß er vor euch hingehen wird nach Galiläa, da werdet ihr ihn sehen.« Das sollen die Frauen, die am Grabe die Erscheinung des Engels hatten, den Jüngern ausrichten. Und ebenso sagt Jesus, als er das letzte Mahl in der Nacht mit seinen Jüngern hielt, daß sie sich alle an ihm ärgern werden, »wenn ich aber auferstehe, will ich vor euch hergehen nach Galiläa« (Mark. 14,26). Ebenso berichtet Matthäus am Schluß, daß die Elf auf einen Berg nach Galiläa gingen und den Herrn sahen, vor ihm niederfielen und den Missionsbefehl erhielten. Wie können wir nun damit die Erscheinungen zusammenreimen, die in Jerusalem stattfanden? Forscher, die tief im biblischen Verständnis verwurzelt waren, wie Adolf Schlatter oder Ernst Lohmeier, haben vermutet, es hätte eine doppelte Haltung in der damaligen Gemeinde gegeben, ein
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Teil der Christen hätte sich nach Galiläa begeben und dort auf das Ende gewartet, während die anderen in Jerusalem geblieben seien und durch die Ausgießung des Heiligen Geistes gewiß wurden, daß erst das Evangelium allen Völkern gebracht werden müßte, ehe das Ende komme. Sie haben gemeint, daß man Spuren dieser verschiedenen Auffassungen in dem Bericht unseres Evangeliums fände. Darnach hätten wir also in der Urchristenheit eine eschatologisch eingestellte, das Ende in unmittelbarer Nähe erwartende, sich von der Welt zurückziehende und auf der anderen Seite eine missionarisch eingestellte Richtung, die von Jerusalem aus das Heil Gottes in Jesus Christus in alle Welt hinausträgt. Immer wieder haben sich später diese beiden Tendenzen in der Christenheit bemerkbar gemacht, die einen, die in Erwartung des baldigen Endes der Welt sich zurückziehen und als die Stillen im Lande leben, während die anderen das Evangelium bis an die Enden der Welt hinaustragen. Lassen Sie mich an dieser Stelle ein kurzes Wort zur Bibelkritik sagen. Martin Kähler, jener aus der Erweckungsbewegung kommende SchriftTheologe, der mehr als jeder andere zu seiner Zeit für das Vertrauen der Heiligen Schrift als Theologe und Dogmatiker gestritten hat, hat sich dabei immer wieder gegen die Verbalinspiration verwahrt, weil die Art des Buchstabenglaubens, die hierin zum Ausdruck kommt, gerade dem Wesen der Heiligen Schrift nicht entspricht. Die Lehre von der Verbalinspiration ist keine christliche, sondern eine spätjüdische Lehre, und wir tun der Bibel einen schlechten Dienst, wenn wir sie der ernsthaften Forschung nicht freigeben wollten. Gerade in den letzten beiden Jahrhunderten hat die Bibelkritik unendlich viel entdeckt und gelehrt, mit ganz neuen Augen die Schrift zu lesen. Man bedenke doch einmal, was es heißt, daß an soundsovielen Universitäten sodunsoviele Gelehrte nur für dieses eine Buch und seine Erforschung angesetzt werden, daß dieses Buch seit Jahrhunderten die Wissenschaft fesselt und sie zum Forschen herausfordert. Ist das nicht alles ein Beweis, daß wir es hier mit einem außerordentlichen Phänomen zu tun haben? Bisher ist dabei die Bibel immer wieder als etwas Ganzes und Helles aus dem Prozeß hervorgegangen. »Scriptura sui ipsius interpres«, sagten die Alten, d. h. »die Schrift legt sich selber aus«. Es ist in der Bibel selber ein Leben, mit dem sich auseinanderzusetzen immer wieder bedeutete, daß es siegreich hervorging. Wir meinen dieses innere Leben der Schrift, wenn wir sagen, daß es Wort Gottes ist. Darum soll man sich auch als Laie nicht beirren lassen, wenn bei der gelehrten Forschung Ergebnisse herauskommen, die uns zunächst in unserem herkömmlichen Bibelverständnis verwunderlich erscheinen. Das Recht des Laien, bei dieser Sache mitzusprechen, und zwar vollgültig mitzusprechen, ist damit nicht
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bestritten oder aufgehoben. Der Unterschied zwischen einem Laien und einem Theologen ist doch kein anderer als der zwischen einem Autodidakten und einem, der methodisch zum Forschen angeleitet ist und anleitet. Das sind Gradunterschiede. Die theologische Wissenschaft als solche ist keine Geheim-Wissenschaft, es darf nicht dahin kommen, daß ein Gelehrtenstand sich zwischen Schrift und Gemeinde schiebt und die Gemeinde in ihrem Vertrauen zu ihrer eigenen Urteilsfähigkeit beeinträchtigt. Keine lebendige Gemeinde wird das so empfinden. Sie behält das Recht, Einsicht und Aufklärung über das zu fordern, was in der theologischen Wissenschaft vor sich geht und sie soll sich nicht davon abbringen lassen, ihr Urteil selbst zu bilden. Unsere Geschichte ist nun ein lehrreiches Beispiel einer solchen kritischen Frage. Die Geschichte selbst ist offensichtlich eine Wiederholung. Von einem solchen Fischfang erzählt uns Lukas 5. Damals handelte es sich um die Berufung der Jünger. Könnte nicht auch diese Geschichte eine Art Berufungsgeschichte sein? Dabei ist es unwahrscheinlich, daß irgendjemand diese Geschichte nacherzählt hat, denn er würde sie dann wohl lieber in Jerusalem haben spielen lassen. Es muß doch auffallen, daß hier plötzlich das Ostergeschehen von Jerusalem nach Galiläa verlegt wird. Natürlich kann man versuchen, zwischen den verschiedenen Erscheinungsgeschichten eine Harmonie herzustellen, man kann sagen, die Jünger waren erst in Jerusalem, dann gingen sie nach Galiläa. Aber diese Versuche führen erst recht in die Brüche. Wenn Harmonisierung der Sinn der Heiligen Schrift wäre, dann wäre es wohl richtiger gewesen, man hätte nur ein Evangelium geschrieben und nicht vier, mit allen Widersprüchen, die sie auf den ersten Blick zu enthalten scheinen. Die Versuche, solche Widersprüche aufzuheben, haben meist den entgegengesetzten Erfolg, die Nahtstellen bleiben sichtbar, an ihnen setzt dann die Kritik ein, und so erzeugt immer wieder eine falsche orthodoxe Methode die Kritik, an der sie selbst zugrunde geht. Vielleicht hat der Verfasser, der dieses Kapitel angehängt hat, damit einen Harmonisierungsversuch beabsichtigt, aber dann ist er jedenfalls mit dem Stoff nicht fertig geworden. Wie ein erratischer Block steht diese Geschichte mitten zwischen den anderen Auferstehungsgeschichten. Die Erscheinung Jesu bei seinen Jüngern am See Genezareth liegt einfach quer, man kann sie nicht eingliedern, und auch der Erzähler, der sie hier berichtet, hat sie nicht um ihren eigentlichen, urwüchsigen, etwas unheimlichen Charakter bringen können. Wenn man auf diese Geschichte stößt, geht es einem wie bei einer Ausgrabung, plötzlich stößt man auf ein viel älteres Fundament, das unter dem bisher Bekannten gefunden wird.
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Um das zu verstehen, muß man wissen, daß unsere Evangelien nicht am Schreibtisch entstanden sind. Sie sind nicht verfaßt von irgendwelchen Schriftstellern, die sich das ausdachten, was sie niederschrieben, sondern sie sind gesammelt. Sie liefen vorher als einzelne Geschichten von Jesus in den Gemeinden um. Es waren wohl auch Texte, um die sich die Gemeinden sammelten, wenn sie den Herrentag begingen. Unsere Evangelien sind nicht geschrieben worden, damit wir später darüber predigten, sondern sie sind gleich im Anfang gepredigt worden und darnach erst aufgeschrieben. Darum möchten sie auch immer wieder gepredigt werden. So muß man sich die Freiheit erklären, mit der in ihnen die Worte und Taten Jesu berichtet werden. Nicht die Abweichungen sind das Erstaunliche, sondern wunderbar ist vielmehr, daß trotz aller Abweichungen doch ein Zug immer wieder durch das Ganze geht, daß man merkt, diese Perlen werden immer wieder zusammengehalten durch eine Kette, durch einen Ring, der festgeschlossen ist. Das werden wir auch an unserer Geschichte sehen, wenn wir tiefer in sie eindringen. Die Jünger sind wieder Fischer, alles scheint zu Ende. Sie sind nicht einmal zusammen geblieben, wer weiß, was sie auseinander getrieben hat? Sie fischen, wie damals, ehe Jesus sie gerufen hat. So kommen sie uns vor wie Fahnenflüchtige, die nach dem Tode ihres Feldherrn die Uniform auszogen, um wieder als harmlose Zivilisten in ihrem Beruf zu leben. Jesus hat das vorausgesagt mit einem Wort des Propheten Sacharja: »Ich werde den Hirten schlagen und die Schafe zerstreuen« (Mk. 14,27). Aber auf was für eine peinliche Szene sind wir da auf einmal gestoßen! Ob man sich wohl später scheute, das von den angesehenen Führern der Gemeinde zu erzählen? Petrus und die Söhne des Zebedäus, die späteren »Säulen der Gemeinde«, zu Ostern nicht in Jerusalem, sondern auf der Flucht! Sie haben die Sache ihres Herrn aufgegeben und denken nun daran, wie sie ihr eigenes Leben fristen können. Wir wissen ja, wie peinlich solche Erinnerungen sein können, und wissen auch, wie gern man sie retuschiert. Und doch ist diese Geschichte da und schaut uns an, zeigt uns eine Lage, die noch viel blamabler ist als die von den verschlossenen Türen in Jerusalem. Die Jünger sind verzagt an der Sache Gottes, sie geben die Schlacht verloren. Kein einziger von den Männern, die einmal Jesus gefolgt waren, ist auf seinem Posten geblieben. Keiner! Alle sind nur von der einen Sorge befallen, von der Angst um ihre eigene Existenz, und so fischen sie wieder in Galiläa. Wer wird sie hier finden? Sicher nicht die, vor denen sie sich fürchten – aber der, den sie tot glaubten, der findet sie! Wie in jener denkwürdigen Nacht, als sie fischten und nichts gefangen hatten, begegnet ihnen Jesus. Aber diesmal erkennen sie ihn nicht. Wie
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sollten sie es auch? Für sie ist er ein Wanderer, ein Mann, der wohl Hunger hat und wartet, ob sie etwas fangen werden. Er fragt, ob sie nichts Eßbares haben. Sie sagen: Nein. Und wieder alles wie damals. Der fremde Mann sagt: Ihr müßt das Netz nach rechts auswerfen. Und schon ist es voll, so daß sie es nicht herausziehen können. Da – es ist ja alles Wiederholung, Erinnerung für die, die sich nicht mehr erinnern wollen – raunt der ungenannte Lieblingsjünger dem Petrus ein Wort zu: Es ist der Herr! Im Griechischen heißt das: Kyrios. Kyrios ist der Titel, mit dem Jesus von seinen Gläubigen als der Lebendige und Auferstandene bekannt wird. Er ist nicht nur der Herr, er ist der Herr des Todes und aller anderen Mächte und Herrschaften in der Welt. »Kyrios« hatte schon Thomas gesagt, »der Kyrios ist da«, so läuft es nun auch in dem Schiff von Mund zu Mund. Petrus, wie immer stürmisch und eilfertig, legt sich sein Obergewand an und wirft sich ins Meer. Er will als erster beim Herrn sein. Die anderen kommen im Schiff nach, das nicht weit vom Ufer entfernt ist. Das ist zunächst einmal der Hergang der Geschichte, die alles umstößt, was wir bisher gehört haben. Wie das dann in und um Jerusalem gewesen sein mag, das ist mit den heutigen Mitteln der Forschung gar nicht mehr auszumachen, aber indem diese Geschichte uns vor große Rätsel und Fragen stellt, tritt eins nur um so unumstößlicher heraus: die Souveränität des Herrn! Wenn es so zugegangen ist und dies eine der ältesten und ursprünglichsten Geschichten der Erscheinung des Auferstandenen wäre, dann würde noch viel deutlicher eines feststehen, daß allein ER, allein Gott und das, was ER mit seinem Sohn getan hat, die Klammer ist zwischen der Zeit vor und der Zeit nach dem Kreuz. Ganz allein ER, solus Christus. ER der Sieger in allem menschlichen Versagen. ER bleibt der Einzige, der sein Werk nicht preisgibt. ER ist Gottes Geschichte mit den Menschen und es sind nicht der Menschen Gedanken über Gott, die wir in der Erscheinung des Auferstandenen vor uns haben, sondern Gottes gnädige Gedanken und Taten mit uns. Hätten die Jünger wirklich – wie viele annehmen – die Geschichte Jesu umgedeutet, um so sein Werk zu erhalten und aufzubauen (sozusagen auf dem Grabmal eines Toten), dann wäre jedenfalls diese Geschichte völlig unverständlich. Genau das Umgekehrte wird hier bezeugt. Wenn die Sache der Erlösung des Menschengeschlechtes auf Menschen gestanden hätte, selbst auf solchen, die der Herr selbst dazu erwählt hatte, wenn sie es wären, an denen der wunderbare Fortgang nach dem Tode Jesu hing, dann würden wir heute ganz gewiß nicht in seinem Namen hier versammelt sein. Hier – wo die letzten Hüllen fallen, wo die Jünger nackt vor uns stehen, so nackt wie Petrus, nackt in ihrer ganzen Furcht und Verzagtheit –
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hier bleibt nur ein Satz übrig, auf dem das Auge ruht: Als der Morgen dämmerte, da stand Jesus am Ufer. Dieser Jesus, der die Jünger heimholt von ihrer Flucht, der sie zurückruft zu den verlassenen Schafen, der sie nicht zurücktreibt mit Scheltwort oder Kommando, sondern mit einer Frage, die Petrus gar nicht anders als mit Ja beantworten kann, dieser Petrus tritt als der lebendige Herr seiner Gemeinde aus dem Rahmen dieser Geschichte. Jesus fragt: »Hast du mich lieb?« Er fragt Petrus dreimal. Wir wissen alle, warum. Denn so oft wie er ihn damals verriet, muß er nun das Ja bekennen. Jedes erneute Ja ist eine volle und ganze Reue, mit der alles neu wird. Das also ist unsere Begegnung mit dem Auferstandenen, daß er uns die Frage vorlegt, ob wir ihn, den Gekreuzigten, dessen wir uns schämen, lieb haben. Mehr nicht, eine Frage, auf die es nur ein Ja oder Nein gibt, hier muß ein jeder heiß oder kalt sein, und alles Laue wird ausgespien aus seinem Munde. Das ist die Hoheit und alles überblickende, alles mit einem einzigen Wort wendende Kraft, mit der der Auferstandene seine fahnenflüchtigen Offiziere zurückruft in die Schlacht, wo sie nun stehen und zu sterben haben werden – und wo sie, die Flüchtigen von gestern, die unerschrockenen Zeugen von morgen sein sollen. Alles das mit einem Wort, mit einer Frage – als ob er alles wüßte und gerade darum in dieser einen Frage Petrus und in ihm den anderen und auch allen, die ihn je noch verleugnen werden, die Tür zur Umkehr – zu dem Ja, das Antwort ist, Echo gleichermaßen auf das heimliche Ja, das schon in der Frage des Meisters an den Jünger drin liegt. Ja ohne Nein, Gewißheit ohne Hinterhalt – so wie man sie eben nur haben kann, wenn ER vor uns steht und wir vor ihm, wenn ER fragt und wir antworten (nicht umgekehrt, wie wir das so gern tun), wenn ER uns unsere Untreue vergibt und wir uns von ihm vergeben lassen, wenn ER als der Sieger über den Tod seine allmächtige Hand ausstreckt und nach vorn weist und wir auf einmal können, was er gebietet. Auf dem Ja zu Jesus, auf dem eindeutigen, nicht von uns erdachten oder mit den Lippen gesprochenen, sondern aus dem Herzen geborenen, alle Zweifel und alle Furcht zunichte machenden Ja zu uns – darauf ruht der gewaltige Befehl: »Weide meine Schafe!« Doch darüber, wie auch über das Mahl, das der Herr mit ihnen hält, und über das Ende der beiden Jünger soll in einer letzten und abschließenden Betrachtung die Rede sein.
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59. Das Mahl des Auferstandenen Johannes 21,10-23 2. Juni 1950
Spricht Jesus zu ihnen: Bringet her von den Fischen, die ihr jetzt gefangen habt! Simon Petrus stieg hinein und zog das Netz auf das Land voll großer Fische, hundertdreiundfünfzig. Und wiewohl ihrer so viel waren, zerriß doch das Netz nicht. Spricht Jesus zu ihnen: Kommt und haltet das Mahl! Niemand aber unter den Jüngern wagte, ihn zu fragen: Wer bist du? denn sie wußten, daß er der Herr war. Da kommt Jesus und nimmt das Brot und gibt’s ihnen, desgleichen auch die Fische. Das ist nun das dritte Mal, daß Jesus offenbart ward seinen Jüngern, nachdem er von den Toten auferstanden war.Da sie nun das Mahl gehalten hatten, spricht Jesus zu Simon Petrus: Simon Jona, hast du mich lieber, denn mich diese haben? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, du weißt, daß ich dich liebhabe. Spricht er zu ihm: Weide meine Lämmer! Spricht er wieder zum andern Mal zu ihm: Simon Jona, hast du mich lieb? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, du weißt, daß ich dich liebhabe. Spricht er zu ihm: Weide meine Schafe! Spricht er zum dritten Mal zu ihm: Simon Jona, hast du mich lieb? Petrus ward traurig, daß er zum dritten Mal zu ihm sagte: Hast du mich lieb? und sprach zu ihm: Herr, du weißt alle Dinge, du weißt, daß ich dich liebhabe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Schafe! Wahrlich, wahrlich ich sage dir: Da du jünger warst, gürtetest du dich selbst und wandeltest, wohin du wolltest; wenn du aber alt wirst, wirst du deine Hände ausstrecken, und ein andrer wird dich gürten und führen, wohin du nicht willst. Das sagte er aber, zu deuten, mit welchem Tode er Gott preisen würde. Und da er das gesagt, spricht er zu ihm: Folge mir nach! Petrus aber wandte sich um und sah den Jünger folgen, welchen Jesus liebhatte, der auch an seiner Brust beim Abendessen gelegen war und gesagt hatte: Herr, wer ist’s, der dich verrät? Da Petrus diesen sah, spricht er zu Jesus: Herr, was soll aber dieser? Jesus spricht zu ihm: So ich will, daß er bleibe, bis ich komme, was geht es dich an? Folge du mir nach! Da ging eine Rede aus unter den Brüdern: Dieser Jünger stirbt nicht. Und Jesus sprach nicht zu ihm: Er stirbt nicht, sondern: So ich will, daß er bleibe, bis ich komme, was geht es dich an?
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Am Schluß der Auslegung wartet auf uns das schwierigste Stück: das Mahl. Das hier gehaltene Mahl am Gestade des Sees ist nicht das einzige, das in den vierzig Tagen der Erscheinung Jesu unter den Seinen stattgehabt hat. Da ist das Mahl, das der seltsame und schriftkundige Begleiter mit den beiden ungenannten Jüngern hält, die von Jerusalem nach Emmaus gehen und die, wissend um die Botschaft der Engel, es doch nicht zu glauben vermögen, daß Jesus lebt. Als sie aber am Abend mit dem Fremdling bei Tische sitzen und er das Brot bricht, dankt und es ihnen gibt, da, so heißt es: »wurden ihre Augen geöffnet und sie erkannten ihn«. Das Brot des Lebens – Seite an Seite mit uns an unserem Tisch, an dem wir gemeinhin nur mit der Sorge (auch wenn sie von Genuß und Üppigkeit überdeckt ist) zusammensitzen! Was mag es wohl bedeuten, daß die Jünger den Herrn jetzt erst und gerade jetzt erkennen? Die meisten Ausleger sehen hierin eine Erinnerung an das Abendmahl, an jenes letzte Zusammensein Jesu mit den Jüngern in Bethanien. Aber es spricht so wenig dafür. Die Spendeformel ist die der gewöhnlichen Mahlzeit. Die Einsetzungsworte fehlen. Entscheidend ist vielmehr die Tatsache, daß Jesus das Brot nimmt, dankt, es bricht und ihnen gibt. Daß also diese Hände wirklich seine Hände sind, daß er ihnen nicht nur das himmlische, sondern das irdische Brot reicht. Mehr steht in dieser Geschichte nicht drin, jedes Mehr wäre ein weniger. Aber das steht drin. Und ich glaube, daß alle, die sich hier allzuschnell und allzuunbedenklich in die kultische Deutung flüchten, jenen Realismus zerstören, der uns aus Rembrandts Bildern gerade bei dieser Szene so unvergeßlich packt. Daß er ihnen zu essen gibt, das ist es, was wie ein Blitz die Schatten der Todeswelt zerteilt. Genau in dieselbe Richtung weist die vielleicht noch wesentlichere Geschichte Lukas 24,36-49. Hier ißt Jesus selbst von dem gebratenen Fisch und von dem Honig, den sie ihm vorlegen. Und er ißt, um zu erweisen, daß er es ist, er, der Jesus von Nazareth, den sie gekreuzigt und begraben haben und der auferstanden ist in der Kraft des heiligen Geistes. »Ein Geist hat nicht Fleisch und Bein, wie ich es habe.« Und man ist geradezu versucht, zu diesem Satz jenen Gegenspruch zu zitieren: »Ein Geist ohne Fleisch und Bein, das ist der Teufel« (Luther). Hier scheiden sich in der Tat zwei Welten. Das Essen hat in den Auferstehungsberichten offenbar diese scheidende Bedeutung, an ihm erst wird zu ermessen sein, ob wir begreifen wollen, was für eine Sache sui generis, ohne Vorgang und ohne Wiederholung, die Auferstehung Jesu ist. Darum ist der Auferstandene der Mensch Jesus – in ihm und in ihm allein reicht die Menschheit über den Tod hinaus. Das Essen ist vollzogen, um uns jeden Ausweg vor dieser Erkenntnis zu verlegen, mag sie auch unserem Fleisch und Blut noch so schwer eingehen.
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Auch die Umdeutungen dieses Essens in kultische Handlungen sind Ausflüchte, nicht besser, sondern schlechter als das glatte: »Unmöglich« des Rationalismus. Und weiter: wir können aus Lukas 24,44 entnehmen, daß die Begegnungen Jesu mit den Jüngern nach seiner Auferstehung offenbar dem Zwecke dienen, seine Reden zu bestätigen, die er vorher mit ihnen – als prophetische! – hielt. Jetzt ist alles erfüllt. Jetzt erst verstehen sie, was sie vorher gehört und nicht begriffen hatten. Von hier aus, von dieser Höhe des Zusammenseins mit dem den Tod hinter sich habenden Jesus aus können und sollen sie seine Worte und Taten der Welt kundtun. Sie selbst stehen damit jenseits der Geschichte. Die Geschichte der Menschen mit Gott ist hier an ihr Ende gekommen, und die Geschichte Gottes mit den Menschen nimmt ihren Anfang. In diesen Rahmen gehört nun wohl auch das Mahl an jenem Morgen am Gestade des Sees von Genezareth, das die erschrockenen und auf ihrer Flucht von dem Herrn selbst eingeholten Jünger in seiner Gegenwart halten müssen. Merkwürdig ist die Zahl der Fische – 153. Aus der Menge der Deutungen, über die R. Bultmann, Johannes-Evangelium, gut orientiert, hebt sich immer wieder die von Hieronymus stammende, von Bengel in seinem Gnomon aufgenommene heraus, wonach diese Zahl die Vollzahl aller damals bekannten Fischarten sein soll, so daß damit angezeigt wäre, daß der Fischzug der Jünger allen Menschen gilt, allen Nationen und allen Schichten, »nobiles et innobiles, divites et pauperes, et omme genus hominum de mari hujus saeculi extrahitur ad salutem«, d. h. »Vornehme und Geringe, Reiche und Arme und alles, was Menschenantlitz trägt, wird herausgezogen aus der Tiefe dieses Saekulums zum Heil«. Die Zahl wäre also ein Symbol der Vollständigkeit, ein Zeichen, daß dieses, im Unterschied zu Lukas 5 jetzt nicht zerreißende, Netz über alle Völker und Menschen geworfen ist. Aber es handelt sich ja nicht nur um die Fischfanggeschichte, sondern hier ist eine Mahlszene angefügt, zu der die Jünger vom Herrn (dessen Namen sie nicht zu nennen wagen, erst nach dem Mahl fällt diese Anonymität) befohlen werden. Und wieder ist es Jesus, der ihnen das Brot und die Fische zuteilt. Er gibt sie ihnen. Darauf liegt der Ton. Sie werden zur Mahlzeit befohlen. »Es wartet alles auf dich, daß Du ihnen die Speise gebest zu seiner Zeit« (Ps. 104,27). Auch hier sollten wir keine Symbolisierung vornehmen, sondern begreifen, daß die ganze Kraft der Erzählungen in diesem, freilich immer wieder unfaßlichen, weil von jenseits der Todeswelt in unsere Welt hineinreichenden Realismus liegt. Als Handelnder tritt der Auferstandene in den Kreis der Jünger, alles ist von ihm ausgehende Dynamik. Menschen und Tiere sind ihm zu Dienst bestellt. Das ist die Dynamik der Gottesherrschaft, die mit ihm – mit Jesus Christus – unter uns
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begonnen hat. Was niemand zu sagen wagt – und was doch alle wissen – steht über diesem Mahl: denn sie wußten, daß es der Herr war. Sie wußten also, wer bei dieser Geschichte Mitte ist, wer – ungenannt, aber doch alles bewegend – hier die zentrifugalen Tendenzen ihres flüchtigen Lebens in einem neuen Aufruf und Befehl wieder in seine Hand genommen hatte. Wissen wir das auch? Wissen wir, daß wir es hier mit dem »Ursprung des Christentums« zu tun haben? Hier – und nirgends sonst – stehen wir an der dünnen, aber hellen und klaren Quelle jenes groß und breit, dafür aber auch trüb und flach gewordenen Stromes, der nun als Christentum mit vielen Kirchen und Denominationen durch die Zeiten und Räume der Welt dahinfließt. Hier, auf diesem Hochland jener 40 Tage, entspringt der Strom, an dessen Ufer die Völker wohnen. Hier – und nicht da, wo wir gewöhnlich die »geschichtlichen Anfänge« suchen, bei dem historischen Jesus! Es war eine prophetische Tat, als Martin Kähler dieser ganzen historischen Leben-JesuForschung ihr Ende weissagte, indem er dem »historischen Jesus« den biblischen geschichtlichen Christus entgegenstellte. Von Jesus etwas wissen wollen unter Einklammerung des Auferstandenen (wie das Wilhelm Hermann und seine Nachfahren versuchen), um so den Zugang der historischen Forschung zu ihm freizuhalten, muß zur Vergewaltigung der uns vorliegenden Zeugnisse führen. Denn das Subjekt der Evangelien ist Jesus der Auferstandene, darum flackert in allen diesen »Geschichten« bereits etwas von dem Licht von Ostern, ob das nun die Sturmfahrt mit den Jüngern, das Meerwandeln und Versagen des Petrus, die Auferweckung des Lazarus oder die Heilung des Gichtbrüchigen ist. Hier ist alles in Bewegung. In der Geschichte von Jesus Christus gibt es kein festes Land, wo wir uns mit historischer Sicherheit niederlassen könnten. Darum mußte sich der Abfall der Orthodoxie zum Historismus rächen, indem der letztere das Gefängnis, in das sich die Kirche gab, immer enger, immer lichtloser machte. David Friedrich Strauss und Albert Schweitzer sind diesen Weg als die imposantesten Vertreter zuende gegangen. Er ist zuende. Die Bekennende Kirche und die von dieser nicht zu trennende Theologie Karl Barths sind aus der Erkenntnis geboren (und vielleicht auch aus dem Mute), daß er zuende ist. Daß das Ende eines solchen lange beschrittenen und als einzige Möglichkeit empfundenen Weges von großen und heute erst anhebenden Erschütterungen begleitet ist, wen möchte das verwundern. Nur sollten wir uns nicht aufhalten lassen von den Nachhutgefechten, die nun unvermeidlich unter den eben an dieses Ende gelangten Schultraditionen ausbrechen. Es sind keine Kämpfe, die nach vorn weisen. Es sind Auseinandersetzungen, deren gemeinsame Voraussetzungen überholt sind: daß
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nämlich die Anfänge des Christentums – das heißt der Kirche – historisch faßbar seien. Daß man von dem historischen Jesus beginnend aufsteigen könne zu dem, was hernach daraus wurde. Aber bisher sind alle ehrlichen Forscher bei diesem Aufstieg verunglückt. Und die hier nicht verunglückt sind, erwecken den leisen Verdacht, daß sie den Aufstieg nicht versucht haben. So dürfte der ganze Kampf um die Entmythologisierung – ungeachtet seiner Heftigkeit – doch die Frage rechtfertigen, ob wir hier nicht in die Luft streichen. Er wirkt – wenn man die Für- und Widerstimmen zusammenhört – wie ein Familienzwist, da die Behauptungen der einen Partei immer die Voraussetzungen für die Gegenthesen der anderen bilden. Es ist das Auf-der-Stelle-treten in der Theologie von heute! Es ist hier nicht der Ort, ausführlicher darüber zu berichten. Wir glauben nur, nicht fehl zu gehen, wenn wir meinen, daß auch die in letzter Zeit laut gewordenen amtlichen Erklärungen der Kirchen und des Ratsvorsitzenden in dieser Frage eine geradezu peinliche Unsicherheit kundmachen. Sie operieren theologisch alle auf demselben Schachbrett, jene alten Scheingegensätze, die wir meinten, überwunden zu haben und die auch eine Zeitlang in der Bekennenden Kirche – als sie ihren Zeugendienst erfüllte! – überwunden waren, die Gegensätze von Positiv und Liberal, sind auf einmal in der Stagnation unseres gesamten kirchlichen Lebens wieder da und sie sind selbst der Grund dieser gähnenden Langeweile. Aber die Bekennende Kirche sollte ihre Straße fröhlich ziehen – um nichts Schärferes zu sagen – und sich nicht mehr als nötig mit diesen Randerscheinungen aufhalten. Ihr könnten doch die Augen dafür aufgegangen sein, daß die Stunde gekommen ist, um den fatalen Bund zwischen Offenbarung und Geschichte zu kündigen und damit den gesamten Historismus vor eine Geschichte zu stellen, die als »Geschichte in der Geschichte« (Barth) eben hier – in dieser Begegnung und Ausrüstung der ersten Jünger durch den Auferstandenen ihren Anfang nimmt. Wir »hatten einen Bund mit dem Tode gemacht« (Jes. 28,5), der Historismus kennt keine andere Geschichte als die, welche im Tod ihre Grenze hat. Als die Bekennende Kirche in Barmen ihre erste theologische These aufstellte, als »uns die Augen geöffnet wurden«, haben wir jenen Bund gekündigt und uns daran erinnert und erinnern lassen, daß Gott mit dem »köstlichen Eckstein«, den er in Zion gelegt hat, einen Neuen Bund gegründet hat, einen Lebensbund, durch den die Kirche zu allen Zeiten – auch als sterbende – unüberwindlich sein wird. »Wer glaubt, der flieht nicht.« Und es ist nun zu fragen, ob mit diesem Zitat nicht auch der Sinn dieser seltsamsten unter all den Mahlzeiten getroffen ist, die der Auferstandene mit den Seinen, hier mit seinen fahnenflüchtigen Offizieren, am Seeufer
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seines unvergeßlichen Wirkens hielt. Jetzt, von hier aus, als er sich als der erwiesen hat, der auch ihre Notdurft und Nahrung in seinen Händen hält, erteilt er seinen Auftrag und eröffnet unmißverständlich dem Petrus, wohin ihn sein Befehl führen wird. Alles ergibt sich nun in lückenloser Einheitlichkeit. 1. Nach dem Mahl stellt Jesus das alte Verhältnis zwischen sich und Petrus wieder her. Denn dessen Flucht war ja doch nur die Fortsetzung seiner Verleugnung im Hofe des Hohenpriesters. Und Jesus stellt das alte Verhältnis zu Petrus dadurch wieder her, daß er nicht fragt, wie wir gemeinhin in solchen Fällen fragen, was er denn eigentlich in dieser Zeit gemacht, gedacht, anderen geraten und verraten hat, Jesus läßt nicht jene Galgenreue aufkommen, die unvermeidlich ist, wenn wir einander Richter spielen, sondern er hilft Petrus. Er hilft ihm dazu, alles zu vergessen und doch nur das eine zu wissen, das not tut, das eine und einzige, das wie ein helles Licht in der Mitte brennt und alle Finsternis an den Rand drängt: die Frage: Hast du mich lieb und die mit der Frage gegebene Antwort: Ja, Herr, du weißt, daß ich dich lieb habe – das ist das Konfirmationsgelübde, das der Auferstandene dem Apostelfürsten abnimmt. 2. Untrennbar davon ist der Befehl. Kein Liebhaben Jesu, ohne daß uns diese Liebe an sein Werk auf Erden bindet. Auch hier ist wieder streng zu beachten, es ist und bleibt Sein Werk. »Die Sach und Ehr, Herr Jesu Christ, nicht unser, sondern dein ja ist.« Es heißt sehr betont: Weide meine Lämmer. Wenn wir das doch recht sehen wollten, daß es im pastoralen Dienst nicht um unsere, sondern um seine Lämmer geht. »Die christliche Kirche ist die Gemeinde von Brüdern, in der Jesus Christus durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt. Sie hat mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung mitten in der Welt der Sünde als die Kirche der begnadeten Sünder zu bezeugen, daß sie allein sein Eigentum ist, allein von seinem Trost und von seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte« (3. Barmer These). Das ist die beste Auslegung, die wir zu diesem Befehl Jesu finden können. Eine Auslegung, die zugleich deutlich macht, es kann auch anders gehalten werden. Es kann auch vergessen werden, daß wir eine Gemeinde von Brüdern sind – Brüder des Auferstandenen! – vergessen werden, daß Jesus gegenwärtig an uns handelt – wir könnten sein Vermächtnis wie ein Erbe verwalten unter all den anderen »Erbschaften« des Abendlandes! – Wir könnten mit unserem Glauben etwa Zuversicht, mit unserem Gehorsam aber Vorsicht bezeugen, wir könnten zwar im Glauben ihm, im Gehorsam aber anderen Herren die »Lämmer« zutreiben. Wir könnten mit unserer Botschaft die Lämmer rufen und sie dann mit unserer Ordnung
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Das Mahl des Auferstandenen
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zerstreuen. Wir könnten, womöglich unter Berufung auf die Lehre von den beiden Reichen, es dahin bringen, daß diese Lämmer gar nicht mehr wissen, wessen Eigentum sie nun sind, weil wir ihnen mit der Linken nehmen, was wir ihnen mit der Rechten geben. Und endlich, wir könnten uns wohl denken, daß an Stelle der uns froh und getrost machenden Erwartung seiner Erscheinung wir den uns anvertrauten Lämmern ganz andere Bilder und Erwartungen, Schreckensbilder und Angstträume vor die Seele malen – oder wenigstens dulden, daß die »Welt der Sünde« unwidersprochen diese häßlichen Spiegelungen ihres bösen Gewissens überallhin streut –, auch tief hinein in die kirchliche Presse und Politik. Wenn wir heute solch ein Wort wie die 3. Barmer These lesen – geht es uns dann nicht ähnlich damit wie mit unserer Geschichte vom See Genezareth: die Zeiten, in denen wir so dachten und lebten, scheinen uns so ferne gerückt, daß man meint, das sei nicht dieselbe Kirche, nicht mehr dieselben Menschen. Hier ist alles einfach, dem Himmel so nahe und der Welt so überlegen – aber vergessen wir nicht: in der Umkehr ist alles einfach. Unsere Geschichte ist die Geschichte der Umkehr und Barmen war Bekenntnis einer solchen. 3. Bleibt das Dritte und Letzte. Jesus läßt Petrus nicht im Unklaren, wohin dieser Befehl ihn führen wird. Unter Benutzung eines wahrscheinlich weltlichen Sprichworts (R. Bultmann), wonach der junge Mensch zunächst seinen eigenen Weg geht, aber der alte dann geführt werden muß, sagt ihm Jesus: damit hast du deine Freiheit verloren und bist nun auf einen Platz gestellt, wo ein anderer, höherer, über dich den Befehl übernommen hat. Ein Apostel ist ein »Sklave Jesu Christi«. Dieser Hinweis bedeutet hier Treue bis in den Tod. Das ist eingeschlossen in den Befehl: Weide meine Lämmer. Der, welcher sich selbst nicht schonte, wird auch den Seinen kein Verständnis entgegenbringen, wenn sie sich – etwa mit Rücksicht auf die Lämmer! – schonen wollten. Ihre Gemeinde lebt nicht von ihnen und wenn sie ihre Treue mit dem Tod bezeugen, dann sind die Lämmer immer noch nicht verlassen. Die Hirten sind auswechselbar – nachdem der, welcher allein der gute Hirte ist, ewig lebt (1. Petr. 5,4). Die Tatsache, daß Petrus gehen muß und der Lieblingsjünger bleibt, bedeutet nicht, daß der eine – der scheidende – benachteiligt oder der andere – der bleibende – bevorzugt ist, sondern beides gehört zu der vom Herrn des Kampfes bestimmten Ökonomie. So ich will, daß er bleibe, bis ich komme, was geht es dich an. Folge mir nach! Es muß immer einer bleiben, wenn der andere geht – damit die Herde nicht ohne ihre Hirten ist, bis daß er kommt! Das ist die mitten in der Voraussicht des Martyriums noch aufleuchtende Gewißheit! Der Bestand des Hirtenamtes in der Gemeinde hat seine Beständigkeit im Kommen des Herrn, wie eine Brücke, die in der unsichtbaren Welt ihren tragen-
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den Pfeiler hat. Jeder, der stürzt, wird einen neben sich sehen dürfen, der bleibt – die Jüngerschaft dieses Herrn, des Lebendigen, stirbt nicht aus – das Amt, das Er hier einsetzt, wird bleiben bis der Tag kommt, da es durch Seine Erscheinung auf Erden seinen Sinn verliert.
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60. Pfingsten 20. Mai 1956
Die Vorstellung von dem, was Pfingsten bedeutet, ist im Bewußtsein der meisten Christen merkwürdig blaß. Welches sind nach Ihrer Ansicht die Gründe dafür?
Es stimmt, Weihnachten und Ostern sind ganz anders im Bewußtsein unseres kirchlichen, auch unseres öffentlichen Lebens verwurzelt als Pfingsten. Woran liegt das? Ich erinnere mich aus der Zeit, als ich Gemeindepfarrer war, daß mir oftmals die Menschen sagten, sie könnten sich unter dem »Heiligen Geist« nichts vorstellen. Wahrscheinlich haben sie damit insofern das Rechte getroffen, als der Geist Gottes wirklich die Grenze alles Vorstellbaren bedeutet. In dieser Hinsicht könnte das Pfingstfest wirklich ein Prüfstein für unsere volkskirchliche Frömmigkeit sein, die bei den beiden anderen Festen allzusehr in »Vorstellungen« lebt. Pfingsten hängt aufs engste damit zusammen, daß Jesus Christus sich der Sichtbarkeit entzieht, daß er nicht anders als eben Gott selbst, geglaubt und nicht gesehen sein will. Da aber beginnt erst eigentlich das Leben mit ihm und das Hoffen auf ihn und auch die wahre Gemeinschaft mit ihm als dem erhöhten Herrn. Während jene beiden anderen Feste weithin Volksfeste sind, macht das Pfingstfest erst deutlich, was Kirche und Gemeinde der Glaubenden wirklich bedeutet – gerade im Unterschied zu denen, die schauen, aber nicht glauben. Insofern besteht schon ein sachlicher Fortgang in der Feier dieser Feste. Je mehr sich bei uns das Bewußtsein herausbildet, daß die Kirche doch etwas anderes ist als eines der üblichen soziologischen Gebilde wie Volk, Genossenschaft oder Zweckverband, desto mehr wird auch das Fest der Pfingsten, das Fest des Heiligen Geistes, der mit dem erhöhten Christus unzertrennlich zusammenhängt, und uns mit ihm und so auch miteinander eins macht, an Bedeutung gewinnen. Die Bibel spricht an vielen Stellen vom Wirken des Heiligen Geistes. Unser Glaubensbekenntnis redet vom Heiligen Geist als der dritten Person der Trinität. Wie ist es zu dieser Weiterbildung der Lehre vom Heiligen Geist gekommen?
Wenn in der Heiligen Schrift vom Geist die Rede ist, so handelt es sich meistens um die Tatsache, daß Gott nicht zu finden und zu begreifen ist wie irgend ein anderer Gegenstand oder eine sonstige geistige Erscheinung
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innerhalb des Weltganzen. Es ist vielmehr eigens Gottes Tat und Gottes Gabe, wenn er uns dessen gewiß macht, daß Er ist, unser Schöpfer, Versöhner und Erlöser. Darum haben eigentlich niemals Bedenken bestanden, daß der Geist Gottes eben wirklich nun Gottes Geist ist, seine Gabe und seine Wirkung, und daß der Mensch über den Geist Gottes nicht verfügen, ihn auch durch nichts anderes ersetzen kann. Aber es hat in der Tat einige Kämpfe gegeben in der alten Kirche, ob man den Heiligen Geist als dritte »Person« der Trinität bezeichnen soll. Manche meinten, der Geist sei doch selbst ein Geschöpf, eine Schöpfung des Sohnes Gottes, der ihn sendet, wie es bei dem Evangelisten Johannes heißt, und wollten darum nur von der Einheit von Vater und Sohn reden. Aber es zeigte sich bald, daß diese Einheit ja nichts anderes ist als jene Größe, die wir mit Geist Gottes bezeichnen. So ist eigentlich der Geist nichts Gesondertes, Drittes, Neues neben Gott dem Vater und seinem eingeborenen Sohn, sondern er ist jene Wirklichkeit, in der beide eins sind, die durch nichts, durch kein Leiden und auch nicht durch den Tod, aufgehoben werden konnte. Es ist wichtig, zu sehen, daß die ersten Christen den Geist wirksam sahen in der Auferstehung Jesu von den Toten – das war für sie kein Schauwunder, sondern Tat des Geistes Gottes –, und sie selbst haben ihren eigenen Geistbesitz als Pfand des ewigen Lebens angesehen. Die Lehrbildung der abendländischen Kirche über den »Heiligen Geist« innerhalb der Trinität ist freilich erst um das Jahr 1000 zum Abschluß gekommen, sie hängt zusammen mit der Trennung der morgenländischen (griechischen) und abendländischen (römischen) Kirche und geht im wesentlichen auf das berühmte »filioque« zurück, also darauf, ob beide, Vater und Sohn, wie die Abendländer lehren, den Geist »senden«, oder nur der Vater, wie es die Morgenländer fassen. Was bedeutet das Wirken des Heiligen Geistes für unser menschliches Leben?
Das ist eine Frage, über die man ein ganzes Buch schreiben könnte, und auch längst welche, gute und schlechte, geschrieben hat. Es ist so enttäuschend, wenn man eine Abhandlung über den Heiligen Geist zur Hand nimmt und sie dann bald beiseite legt, weil sie so langweilig ist. Unter dem Wirken des Heiligen Geistes stellen wir uns doch aber – und mit Recht! – das Gegenteil von allem Toten, Langweiligen, Herkömmlichen und Gewohnten vor. Und wer darüber anders denkt, der lese etwa das 36. Kapitel des Hesekiel oder das dritte des Johannesevangeliums oder die Pfingstgeschichte Apostelgeschichte 2 und nehme dazu die herrliche
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Predigt in die Hand, die der junge Karl Barth darüber in dem Predigtbändchen »Komm, Schöpfer Geist!« veröffentlicht hat. Nebenbei bemerkt: aus diesem Predigtbändchen haben wir damals, es war nach dem ersten Weltkrieg, als junge Theologen, durch den Krieg tief erschütterte, sehr unsicher gewordene Christen mehr über den Geist Gottes gelernt als aus unseren dicken Dogmatiken. Und wenn ich nun sagen sollte, was der Geist Gottes wirkt, wenn ich es mit einem Wort sagen sollte, so wüßte ich wirklich nichts anderes zu sagen als eben das eine Wort Leben. Er tötet und macht lebendig! Er tötet, was vor Gottes Angesicht und in seinem Reiche wirklich kein Lebensrecht hat, und darum schmerzt es uns oft, wenn die Operation des Geistes Gottes an uns beginnt, aber er tötet nicht, um zu töten, sondern um uns zu Teilhabern und Trägern eines unzerstörbaren Lebens zu machen, das aus Gott selbst ist und dessen vielfältige Früchte mit stets wechselnden Bezeichnungen in der Bibel benannt werden, am klarsten wohl von Paulus im Galaterbrief 5,22 ff. Schon der Ausdruck »Frucht« zeigt, daß es sich hier um einen Lebensvorgang handelt, denn der gute Baum bringt gute Früchte. Was aus der Pflanzung und dem Wirken des Heiligen Geistes hervorgeht, ist ein guter Baum! Die Reformatoren haben die Schwärmer, die sich mehr oder weniger ausschließlich auf die Führung durch den Geist verlassen wollten, hart bekämpft. Sind die Reformatoren hier im Recht oder vielleicht zu ängstlich gewesen?
Man wird die »Schwärmer« nicht alle in einen Topf werfen können, denn George Fox, um nur einmal an jenen großen englischen Quäker zu erinnern, oder gar William Penn – die waren doch noch etwas anderes als Karlstadt oder Münzer, obschon man auch dem letzten neuerdings mehr Gerechtigkeit widerfahren läßt als ehedem. Die sogenannten »englischen Revolutionskirchen«, auf deren geistigen Fundamenten die Neue Welt in den Staaten Nordamerikas aufgebaut wurde, sind Erscheinungen von höchster gesellschaftlicher und politischer Bedeutung, und das, was sie einmal in Auflehnung gegen das bestehende System der Staatskirchen und der imperialen Mächte bezeugt haben, ist der Mutterboden der heute bei uns so gepriesenen, aber offenbar nicht immer sehr tief verstandenen Demokratie. Wenn wir auf die biblischen Wurzeln des Schwärmertums eingehen würden, dann müßte uns das alsbald auf die Bergpredigt führen. Diese ist in den Staatskirchen hinter der paulinischen Theologie und wohl auch
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hinter einem in sich selbst zufriedenen Dogmatismus zu sehr zurückgetreten und in ihrem Realismus nicht ernst genommen worden. Dabei ist sie doch die Auslegung der Gebote Gottes. Wer darüber mehr wissen will, der sollte einmal zu dem immer noch besten Werk greifen, der großen Untersuchung von Ernst Troeltsch über die »Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen«. Dort ist dann auch Wesentliches – Anfechtbares zwar, aber nicht ganz Falsches! – über die Reformatoren in ihrem Verhältnis zu den Schwärmern gesagt. Im Liedgut unserer Kirche spielt der Heilige Geist eine große Rolle. Müßte nicht auch die Predigt stärker die Bedeutung des Geistes bezeugen?
Es wird wenig Zweck haben, »über« den Geist zu predigen, wenn die Predigt nicht selbst unter der Not und der Bitte steht: Komm, Schöpfer Geist! Sie haben recht, wenn Sie darauf verweisen, wie breit das Liedgut in unserem Gesangbuch an Pfingst- und Geistliedern ist. Das gilt übrigens auch von der mittelalterlichen Kirche, von der wir ja einiges übernommen haben. Ich erinnere nur an das: »Komm, Heiliger Geist, Herre Gott!« Eine spezielle Predigt über den »Heiligen Geist« stelle ich mir sehr schwierig vor, vielleicht kann sie auch gar nicht gelingen. Denn der Heilige Geist hat immer nur eine Funktion, Jesus zu verherrlichen und zu verklären, das heißt den Menschen Jesus von Nazareth so »klar« zu machen, daß uns aus seinem Angesicht Gottes Gnade und Vergebung entgegenleuchtet und aus seinem Wort unser Heil und Leben gewiß wird. Die beste »Predigt« dieser Art, die ich im Neuen Testament kenne, sind die Abschiedsreden Jesu, die im Johannesevangelium stehen, von der Fußwaschung bis hin zum hohepriesterlichen Gebet. Ich fände es gut, wenn insbesondere in der Zeit zwischen Ostern und Pfingsten, wie das ja auch in der Auswahl der Perikopen geschieht, die Gemeinde sich noch mehr als bisher mit diesen Reden – und das im Zusammenhang! – beschäftigte. Ist die christliche Lehre vom Heiligen Geist in allen christlichen Kirchen gleich, oder gibt es da wesentliche Unterschiede?
Ich nehme an, daß insbesondere innerhalb der verschiedenen protestantischen Denominationen in England und Amerika eine reiche Skala interessanter Unterschiede zu vermerken sein wird. Der bedeutendste bei den »alten« Kirchen ist das schon genannte »filioque«. Manche bauen auf dieser Unterscheidung eine ganze Philosophie des Gegensatzes von Ost und West auf. Weiter sind die Kämpfe um die Taufe und um die Bedeutung des Gei-
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stes für den Sakramentsempfang überhaupt bekannt. Aber das kann ich hier nicht auseinandersetzen. Nur so viel soll gesagt sein, daß auch in unseren Tagen und in unseren Reihen – Gott sei Dank – hier wieder neue und auch alte Fragen aufgebrochen sind, und wo immer die Frage und der Ruf nach dem Geist laut wird, wo jene heilige Unzufriedenheit mit dem Gegebenen und Bestehenden empfunden wird, wo immer wir eines nur offiziellen, institutionellen, amtlichen, unpersönlichen Christentums müde und überdrüssig sind, wo Gebet und Glaube, Bekenntnis und Verkündigung statt dessen in den Vordergrund treten und das Wort zu wirken und zu laufen beginnt, da ist, mögen auch Unklarheiten und Streitigkeiten über Recht und Vollmacht des Geistbesitzes aufbrechen, doch immer Seine Zeit, die Zeit, da den blinden und tauben Menschen Gottes Geist Augen und Ohren auftut, um auf Gott zu hören, auf ihn allein – und auf den, den Gott zu uns gesandt hat! Der Geist wirkt! Ein Christentum, das seine Wirkung nicht mehr kennt, ist schlecht dran, auch wenn es weniger Probleme und Streit hat als jenes, in dem der uns oftmals gar nicht bequeme, auf jeden Fall niemals »gleichschaltende« Geist Gottes weht.
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61. Jesus und die Kirche Lukas 5,1-11 1947
Es begab sich aber, da sich das Volk zu ihm drängte, zu hören das Wort Gottes, daß er stand am See Genezareth. Und sah zwei Schiffe am See stehen; die Fischer aber waren ausgetreten und wuschen ihre Netze. Da trat er in der Schiffe eines, welches Simons war, und bat ihn, daß er’s ein wenig vom Lande führte. Und er setzte sich und lehrte das Volk aus dem Schiff. Und als er hatte aufgehört zu reden, sprach er zu Simon: Fahre auf die Höhe und werfet eure Netze aus, daß ihr einen Zug tut! Und Simon antwortete und sprach zu ihm: Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen; aber auf dein Wort will ich das Netz auswerfen. Und da sie das taten, beschlossen sie eine große Menge Fische, und ihr Netz zerriß. Und sie winkten ihren Gesellen, die im anderen Schiff waren, daß sie kämen und hülfen ihnen ziehen. Und sie kamen und füllten beide Schiffe voll, also daß sie sanken. Da das Simon Petrus sah, fiel er Jesu zu den Knien und sprach: Herr, gehe von mir hinaus! Ich bin ein sündiger Mensch. Denn es war ihn ein Schrecken angekommen, ihn und alle, die mit ihm waren, über diesen Fischzug, den sie miteinander getan hatten. Desgleichen auch Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, Simons Gesellen. Und Jesus sprach zu Simon: Fürchte dich nicht; denn von nun an wirst du Menschen fangen. Und sie führten die Schiffe zu Lande und verließen alles und folgten ihm nach. Jesus und die Kirche – das ist das Thema, unter dem diese Verse stehen, die uns berichten, wie Jesus seine ersten Jünger berief. In aller Stille vollzieht sich dieser so bedeutungsvolle Akt. Aber das, was später einmal der Kirche über ihr Amt und ihre Sendung wichtig sein wird zu wissen, kann sie hier finden. Vor allem, daß die Apostel von sich aus nichts mitbringen, daß sie sündige Menschen sind. Wenn das je vergessen würde, dann wäre der Grund verloren, auf dem alles ruht, nämlich die Erkenntnis, daß die Voraussetzungen bei allem, was in der Kirche geschieht, bei Gott liegen und nicht bei den Menschen. Was wir an diesen Menschen sehen, die hier in ihr neues hohes Amt berufen werden, ist Widerstreben, Furcht und Erschrekken. Und wahrscheinlich haben sie damit den Sinn ihrer Berufung besser
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und tiefer verstanden als alle, die meinen, von sich aus für die Ausrichtung dieses Auftrags etwas mitzubringen. Uns aber könnte diese Geschichte deshalb zu denken geben, weil sie sonnenklar jener auch heute noch verbreiteten Zeitanschauung ein Nein entgegensetzt, die behauptet, Jesus selbst habe keine Kirche gewollt, diese sei vielmehr das Produkt seiner Jünger. Durch solche Meinung wird nämlich aus dem, der gekommen ist, um durch sein Opfer der sündigen Menschheit einen neuen und durch nichts zu sperrenden Zugang zu Gott zu geben, ein idealistischer Schwärmer gemacht, dem man gleichzeitig den pflichtschuldigen Zoll der Bewunderung und das Mitleid eines weltfremden Vornehmens gewähren kann. So kommt man am besten von ihm frei. Daß er aber umsichtig dafür sorgte, daß sein Werk eine seinem Anheben gemäße Fortsetzung und Ausbreitung erführe und daß er sich auf Erden die Werkzeuge suchte, die Träger des von ihm zu sendenden Geistes sein könnten, mußte man darum leugnen; denn diese apostolische Kirche ist ja ein Ort, wo seine Gegenwart und unsre Gegenwart sich begegnen, so daß es dann nicht mehr möglich ist, das Wort der Apostel zu verachten, ihm selbst aber eine scheinbar tiefempfundene Verehrung entgegenzubringen (Lk. 10,16). Richtiger wäre es wohl zu sagen, daß die ganze Heilige Schrift von zwei Kirchen redet, von einer echten und einer falschen, von einer fleischlichen und einer geistlichen. So ist auch hier schon die Berufung der Apostel, die nichts anderes mitbringen als ihren im Gehorsam erwiesenen Glauben an den Herrn Jesus Christus, die Absage an jene andere Kirche, die über dem Festhalten der Tradition in Schrift und Kultus das Wort der Wahrheit versäumt. Während ferne im Tempel zu Jerusalem der Gottesdienst seinen gewohnten, mit dem Fanatismus der Unbelehrbarkeit verfochtenen Ablauf nimmt, entsteht hier in der Alltäglichkeit dieses Lebens am See Genezareth, unter Fischern und Landleuten, die Kirche, die zum Träger der obdachlos gewordenen Gottesverheißungen werden soll. Alles, was der falschen Kirche abhanden gekommen ist, findet man hier wieder: da geschieht echte Berufung, da geschieht Erwählung wider der Erwählten Willen, da ist Gehorsam aufs Wort, da sind die diesen Glauben begleitenden Zeichen, die Wundertaten Gottes, da tut sich Anfechtung und Erschrecken auf, da hören wir das gnadenvolle Fürchte dich nicht, an dem wir später den Auferstandenen erkennen werden, da ist weltweiter Auftrag und hingebende, alles dafür lassende Nachfolge. Die neue Kirche nimmt teil an der Armut und Verborgenheit, aber zugleich an der Wahrhaftigkeit ihres Herrn. Und wenn wir heute vor dieser Geschichte von »Petri Fischzug« stehen, dann sollten wir wissen: das ist der Grundriß jener einen, heiligen apostolischen Kirche. Keiner sollte an ihr weiterbauen, ohne ständig
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an diesem so einfachen Grundriß Maß und Gefüge dieses Baus zu studieren, dessen Leitung immer noch in den Händen dessen ruht, der sich hier die ersten lebendigen Steine zu seinem Hause zusammensuchte. Alles, was hier geschieht, geschieht voraussetzungslos. Die Hand Jesu reißt seine Leute immer weiter, sie müssen springen, ohne zu sehen, wohin es eigentlich geht, bis sie auf einmal vom Ende her alles verstehen. Die einzige Voraussetzung, die wir wahrnehmen, liegt bei Gott: darin, daß sein Wort durch Jesus an die Welt ergeht und die Fischer Zeugen dieses Predigens und Lehrens werden. Jesus zeigt ihnen, wie man mit dem Fischnetz des Wortes Menschen fängt – und sie selbst gingen ihm ins Netz. Dies, daß die Menge das Wort Gottes hörte, ist das Entscheidende. Daß die Leute endlich, endlich wieder einmal Gott reden hören, ihn so reden hören, daß sie es hinnehmen ohne Disput und ohne Zweifel, wie eben eines Menschen Herz Gottes Wort hinnimmt, wenn es wirklich zu ihm kommt. Daß die Leute hören, als ob der selber mit ihnen redete, der alle Gedanken ihres Herzens kennt. Daß sie vom Wort ergriffen werden und im Wort Gott ergreifen. Jesus, das Wort verkündigend, Jesus, lehrend mit der Vollmacht Gottes, ohne jeden anderen Ausweis und Titel, allein in dem und durch das wirksam, was er predigt: das ist das erste, was Petrus an ihm erlebt, es wird darum auch das erste bleiben, womit sie, die Apostel, das Werk des Auferstandenen in der Welt fortsetzen. Und als hätte der Herzenskünder erkannt, warum Petrus sich die Sache nur aus der Ferne anhört, tritt Jesus – allwissend – in seinen Kahn. Bittet ihn, das Fahrzeug ein wenig vom Lande wegzurudern. Nun muß er, als ein unfreiwillig Ausgesonderter, zu Füßen dieses Lehrers sitzend, sein nächster Hörer werden. In Jesus kommt sein Lebensschicksal über ihn, und zwar so beiläufig, daß Petrus, wenn man ihn später gefragt hätte, wie er denn an Jesus geraten sei, mit gutem Recht hätte sagen können: weil er in meinen Nachen stieg! So heimlich wie die Berufung ist nun auch die Probe. Jesus prüft seine zukünftigen Jünger auf ihren Glaubensgehorsam, ohne daß sie wissen, daß sie in der Prüfung sind. Und er prüft sie, damit sie für den kommenden Weg ein Zeichen haben, wie es zugeht im Reiche Gottes. Allen Regeln ihres Handwerks zum Trotz sollen sie jetzt auf die hohe See fahren. Verstehen sie nicht mehr vom Fischen als er? Haben sie denn nicht mit aller ihrer Kunst einen vollen Mißerfolg hinter sich? Und doch trauen sie ihm und machen damit den ersten Schritt auf dem Wege, auf dem es nun immer so sein wird: daß sie die eigenen Überlegungen hintansetzen müssen, daß ihnen als an sich selbst Verzweifelten nichts anderes übrig bleibt, als dem Herrn zu parieren. Dann heißt es einfach: Auf dein Geheiß.
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Daß der bestandenen Probe die Erfüllung folgt, könnte Petrus und seinen Genossen den Glauben gestärkt haben – es war ja überreich, was sie fingen, und ein bewährter Ausleger meint, daß Jesus damit den Aposteln zeigen wollte, daß sie im Dienste dieses Herrn keine Not leiden sollten – aber sei dem, wie ihm wolle; nachdem die Probe des Gehorsams bestanden ist, fast könnte man sagen, bestanden aus eigener Kraft, öffnet sich nun erst der Abgrund, über den Petrus nicht mehr wegkommt. Denn an diesem Wunder erkennt er, wer der ist, der vor ihm steht, und sieht zugleich, wer er selber ist. Nun bricht es heraus aus ihm: Ich bin ein sündiger Mensch. Nun fühlt er die Unerträglichkeit der Nähe Jesu, in dem ihm Gott nahe ist. Vorhin mußte er vergessen, daß er ein Fischer ist, und aufs Wort hin gehorchen, das konnte er, aber vergessen, was für ein Mensch er ist – das kann er nicht. Die Anfechtung tut sich vor ihm auf wie ein abgründiger Schlund, der ihn in sich begraben möchte. Er sieht seine Sünde, aber er sieht nicht den Weg, der aus ihr herausführt. Er erfährt das, was alle Menschen in der Anfechtung erfahren, daß seine Sünde nicht nur über ihn selbst, sondern auch über Gott hinauswächst. Luther sagt dazu: »Nun ist’s wahr, Petrus lügt damit nicht, daß er sagt: er sei ein sündiger Mensch, aber das ist nicht recht, daß er Christum von sich gehen heißt.« Gewiß, eigentlich hätte Petrus sagen müssen: Herr, hilf mir, bleibe bei mir, denn ich bin ein sündiger Mensch. Aber in der Anfechtung tut der Mensch das Verkehrteste: Er flieht vor seinem Retter. Nun tut Jesus sein größtes, sein eigentliches Werk. Hat er eben seine Gottheit im Wunder offenbart, so offenbart er sich in seinem: Fürchte dich nicht! als Sünderheiland und Weltenrichter. Er hat das letzte Wort. Wo er freispricht, kann die Sünde nicht mehr verklagen (Röm. 8,33. 34). Wie einer, der aus dem Tode ins Leben tritt, wie einer, der gerettet ist, aber um den Preis, daß er nun seinem Retter gehört, hört Petrus, wie nun über sein Leben entschieden wird: Du wirst von nun an Menschen fangen. Du wirst – das ist ausgemacht von Gott – es ist keine Frage, auch kein Befehl, es gibt kein Ja oder Nein zu diesem Beruf, es gibt nur dies eine, daß sich erfüllt, was Gott im Sinne hat. Und mit einemmal versteht Petrus die ganze Geschichte, vom Ende her enthüllt sich der Sinn dieser seltsamen Erlebnisse. Die Fahrt aufs hohe Meer wird das Sinnbild seines Lebens sein, der Nachen das Sinnbild der Kirche, die ihn trägt, das Meer Bild der Welt, die sein Arbeitsfeld werden soll, das Netz Bild für das Wort, mit dem er fischen muß, und der Fang Verheißung der Gemeinde, die gewonnen wird. Was soll er nun tun? Diese Leute können nichts anderes mehr tun, als daß sie ihre Schiffe verlassen und dem Menschenfischer nachfolgen, dem sie selbst als sein erster Fang ins Netz gegangen sind.
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Lukas 5,12-16 Und es begab sich, da er in einer Stadt war, siehe, da war ein Mann voll Aussatz. Da er Jesum sah, fiel er auf sein Angesicht und bat ihn und sprach: Herr, willst du, so kannst du mich reinigen. Und er streckte die Hand aus, und rührte ihn an und sprach: Ich will’s tun, sei gereinigt! Und alsobald ging der Aussatz von ihm. Und er gebot ihm, daß er’s niemand sagen sollte; sondern »gehe hin und zeige dich dem Priester und opfre für deine Reinigung, wie Moses geboten hat, ihnen zum Zeugnis«. Es kam aber die Sage von ihm immer weiter aus, und kam viel Volks zusammen, daß sie hörten und durch ihn gesund würden von ihren Krankheiten. Er aber entwich in die Wüste und betete. Man muß bedenken: der Aussatz bedeutet im Morgenland mehr als eine Krankheit. Er heißt der »erstgeborene Sohn des Todes«, und wer von ihm befallen ist, den hat der Fluch Gottes getroffen. Darum nennen noch heute die Araber den Aussätzigen »gottverflucht« oder »von Gott befehdet«, und auch das hebräische Wort für Aussatz im Alten Testament hat wahrscheinlich diesen Sinn: Schlag Gottes. Hiob muß es von seinen Freunden hören, daß das »böse Geschwür« Gottes Strafe an ihm sei, und Mirjam wird »aussätzig wie der Schnee«, weil »der Zorn Gottes ergrimmte wider sie« (4. Mose 12,10). Darum wohl auch diese peinlich genauen Erkennungs- und Reinigungsregeln, die das Priesterbuch über diese Krankheit aufzeichnet (3. Mose 13 f.). Der Kranke wird ausgeschlossen aus der Gemeinschaft des Volkes, und seine Reinigung vollzieht sich nicht ohne Schuldopfer und Sühnezeremonie. Von den Menschen verlassen, von Gott verflucht, lebt er wie ein zu den Toten Geworfener, er geht umher, allen erkenntlich, im Habitus der Totentrauer, mit zerrissenem Gewand und verhülltem Bart. Dem Heiligtum darf er sich nicht nahen, nichts Heiliges essen, Menschen, die in seine Nähe kommen, hat er zu warnen mit den Rufen: Unrein, Unrein! Er ist ein »Ausgesetzter«, einer, der nirgends Zuflucht findet. Diese Welt des Todes, der Unreinheit und des Fluches begegnet hier Jesus. Trotz aller Enthaltungs- und Absperregeln, ja dem ganzen Gesetz zum Trotz, wagt dieser Kranke den Durchbruch zu Jesus. Es ist, als ob er es wüßte, daß Jesu Heiligkeit nicht eine entfernende Schranke ist, sondern eine helfende Zuflucht. Er wirft sich mit seinem Elend vor ihn hin. Er fordert Jesus heraus, dem in ihm fressenden Tode gegenüber seine Herrschaft zu erweisen. Aber indem er ihn so in sein Leiden hineinzieht, bekennt er ihn als den Herrn, nicht nur als den Herrn des Todes, sondern auch als den
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seines Lebens. Nicht von der Krankheit soll sein Leben mehr abhängig sein, sondern vom Willen Jesu. Die Krankheit, diese aller menschlichen Hoffnung entrückte Krankheit zum Tode, bringt ihn dazu, sein Leben ganz in die Hand Jesu zu legen. Die ihn von allen Menschen aussondernde Pest bringt ihn dazu, in Jesus den verheißenen Messias zu entdecken. Denn Jesus ist es ja, von dem verheißen ist: »Die Elenden werden wieder Freude haben am Herrn, und die Armen unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels« (Jes. 35,19). Der Zorn Gottes, der ihn traf, wirft ihn vor die Füße Jesu, von wo ihm die Barmherzigkeit Gottes widerfahren soll. So durch seine Krankheit an sich und aller Menschen Hilfe verzweifelnd, gelingt ihm der rettende Sprung in den Glauben: Wenn du willst, kannst du mich reinigen. Schon damit ist er frei. Er hat den Arzt gefunden, in dessen Hand er sein verlorenes Leben legen kann. Er betet, wie man zu Gott beten muß, so nämlich, daß man alles glaubt und doch nichts fordert. Nicht mehr steht das gefühllose Schicksal über ihm, unter dessen Griff er sich, in ohnmächtiger Auflehnung, erschöpft, sondern die Entscheidung liegt beim Willen Jesu. Sein »Schicksal« hat Augen, die sein Elend sehen, Ohren, die seinen Ruf hören. Güte, die ihn an sich zieht, Kraft, die dem Tode gebieten kann. Gott ist nicht mehr der ferne, harte, in Gesetzen – gleich welcher Art! – manifestierte Gott, sondern Gott ist Mensch geworden, ist hineingetreten in des Menschen Elend, um die Schöpfung frei zu machen von dem Fluch, der auf ihr lastet. Der Wille Jesu soll entscheiden, Leben und Sterben kommt von ihm. – Und siehe da, er streckte seine Hand aus, rührte ihn an und sprach: Ich will es, sei rein. Der Wille Jesu wird an ihm offenbar – als das Leben, als die Rettung. Mehr noch, Jesus fürchtet den Aussatz nicht, er rührt den vor ihm Liegenden an. Wenn wir das so lesen, scheint die Berührung nicht eben viel zu bedeuten, aber für den im Staube Liegenden ist sie alles. Diese Hand, die sich nach ihm ausstreckt, hält alles in sich, was ihm fehlt, Reinheit, Leben, Gesundheit, wiedergeschenkte Gemeinschaft. Vor dem Finger Gottes muß der Tod seine Beute lassen und das Weite suchen. Und sofort verließ ihn der Aussatz. Was der Kranke noch nicht wissen kann und weswegen ihm noch das »Schweigegebot« auferlegt wird, das werden die Apostel dieses Herrn einmal später kundtun, ja, von daher wird diese Geschichte erst ihr rechtes Licht empfangen, daß nämlich in diesem Jesus Christus die Heiligkeit Gottes eine heilende geworden ist, daß diese Hand schaffend, umschaffend eingreift in unser Leben, daß Gott in ihm das, was nicht ist, ins Dasein ruft, daß seine Gerechtigkeit den Sündern gilt und seine Kraft den Schwachen und seine Nähe den Ausgestoßenen, kurz, daß in der Berührung durch die
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Hand Jesu sich alles wandelt, und zwar in sein Gegenteil: Tod in Leben, Verzweiflung in Hoffnung, Hölle in Himmel. Denn all diese Wunder, die Jesus tut, sind ja nur Zeichen des einen, kommenden, großen Wunders: der Auferstehung von den Toten, der unbegreiflichen Wende im Leben der Welt, der Wiedergeburt des Menschen zur lebendigen Hoffnung, zum Wandel in der Neuheit des Lebens. Aber weil das »Ärgernis« noch aussteht, weil das Kreuz, diese große göttliche Sicherung des Glaubens an Jesus vor dem Abweg in Wundermagie und Menschenvergötterung, noch nicht offenbar geworden ist – denn alle diese Wunder wollen ja eigentlich keine »Wunder« sein, sondern schlichte Erweise der Hilfe Gottes –, darum das Verbot, niemandem etwas zu sagen, eben darum aber auch das Gebot: gehe hin und zeige dich dem Priester. Das Gesetz soll nicht aufgelöst, sondern erfüllt werden. Jesus kommt als der, der erfüllt, nicht als der, der zerstört; er zerstört die Werke des Teufels, aber gerade darum und darin erfüllt er das Gesetz. Nur sollen wir nicht übersehen, sein Erfüllen war eine unendlich größere Wendung als alles noch so revolutionäre Handeln es je sein kann. Die Erfüllung des Gesetzes liegt jenseits des Gesetzes. Sie liegt weit darüber hinaus. Nun, da er geheilt ist, könnte der Kranke den Priestern deutlich machen, daß der Eine da ist, auf den hin die Reinheitsgebote weisen. Er »könnte« es, so, wie eben auch die Schöpfung uns die Augen auftun könnte, daß Gott uns lieb hat, oder wie der Mensch aus seinem Herzen wissen könnte, was gut ist und was der Herr von ihm fordert. So könnte dieser Gerettete auch den das Gesetz behütenden Priestern zum Zeugnis werden. Die Tat Gottes, lebendig vor ihnen stehend in einem Menschen, der vom Tode zum Leben gekommen ist, »könnte« ihnen die Augen auftun, zu sehen, wie und wann das Gesetz – und zwar das ganze Gesetz – Sinn und Sendung gewinnt: daß es nicht schaffen kann, was es verlangt, daß es aber Zeugnis sein kann für den Geist Gottes, der lebendig macht. Weil die von Jesus geschaffene Reinheit vor dem Gesetz besteht, könnte das Gesetz selbst bezeugen, daß Gott in Jesus gegenwärtig ist. Denn alles, was Gott in Jesus Christus an den Menschen tut, wenn er sie rechtfertigt, ist gewirkt zwar ohne das Gesetz, aber das so Gewirkte ist dem Gesetz gemäß, so daß wir hierin ein Zeugnis haben, daß Jesus der Christus ist. Wer dies Zeugnis aber nicht annimmt, der wird Jesus ans Kreuz bringen müssen, weil er in ihm einen Zerstörer des Gesetzes sieht – auch dann werden die durch Jesus Geretteten Zeugnis ablegen, aber ein Zeugnis, das diese Gesetzesfrommen verdammt bis in die Hölle. Und doch läuft, trotz des Schweigegebotes, das Gerücht von Jesus durchs Land. Es läßt sich nicht verheimlichen, daß der Retter gekommen
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ist. Die Leute kommen, um zu hören und sich heilen zu lassen. Der ganze Mensch, mit Leib und Seele, findet hier Rettung und Hilfe. Aber das Hören steht voran. Denn dieser, der so hilft, bringt das Wort, und alles, was er tut, ist nur begleitendes, dies Wort als Wort von oben ausweisendes Zeichen, das Gott durch ihn wirkt. Wer ihn nicht hört, dem wird er auch nicht helfen. Und wo man nur das Tatchristentum preist, da werden sich wohl statt der das Unmögliche vollbringenden Taten Gottes die sich sehr bald in ihrer Erbärmlichkeit erweisenden Werke des Menschen untergeschlichen haben. Denn die Taten Jesu sind Zeichen, die Sache selbst liegt im Wort. Vielleicht heißt es darum so häufig, daß sich Jesus gerade mitten aus der größten Wirksamkeit heraus den Massen entzieht, um allein zu sein. Denn so heißt es zum Schluß: Er entwich in die Wüste und betete. Er ist kein Übermensch, der über besondere Kräfte verfügt, sondern er empfängt alles von seinem Vater. Die Arbeit und die Anstrengung, das Elend, das sich auf ihn legt, treibt ihn ins Gebet. Denn der Vater, zu dem er betet, will im Sohn die Wunderwerke wirken, die er zum Heile der Menschen im Sinne hat. So hebt auch unsere Geschichte mit einem Wunder an und zeigt uns am Ende die Quelle, aus der die Kraft Jesu fließt, deren wir Zeuge geworden.
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Lukas 5,17-26 Und es begab sich auf einen Tag, daß er lehrte; und es saßen da die Pharisäer und Schriftgelehrten, die gekommen waren aus allen Märkten in Galiläa und Judäa und Jerusalem. Und die Kraft des Herrn ging von ihm und er half jedermann. Und siehe, etliche Männer brachten einen Menschen auf einem Bette, der war gichtbrüchig; und sie suchten, wie sie ihn hineinbrächten und vor ihn legten. Und da sie vor dem Volk nicht fanden, an welchem Ort sie ihn hineinbrächten, stiegen sie auf das Dach und ließen ihn durch die Ziegel hernieder mit dem Bettlein mitten unter sie, vor Jesus. Und da er ihren Glauben sah, sprach er zu ihnen: Mensch, deine Sünden sind dir vergeben. Und die Schriftgelehrten und Pharisäer fingen an zu denken und sprachen: Wer ist der, daß er Gotteslästerungen redet? Wer kann Sünden vergeben denn der alleinige Gott? Da aber Jesus ihre Gedanken merkte, sprach er zu ihnen: Was denket ihr in eurem Herzen? Welches ist leichter zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Stehe auf und wandle? Auf daß ihr aber wisset, daß des Menschen Sohn Macht hat, auf Erden Sünden zu vergeben (sprach er zu dem Gichtbrüchigen): Ich sage dir, stehe auf und hebe dein Bettlein auf und gehe heim! Und alsbald stand er auf vor ihren Augen und hob das Bettlein auf, darauf er gelegen hatte, und ging heim und pries Gott. Und sie entsetzten sich alle und priesen Gott und wurden voll Furcht und sprachen: Wir haben heute seltsame Dinge gesehen. Unser Evangelist hat in diesem Kapitel einige Geschichten zusammengetragen, die für alle, die sie erlebten, etwas Unheimliches, Störendes, Aufregendes an sich tragen. Denn, was hier geschieht, ist seltsam, oder, wie es im Urtext heißt: paradox. Es zerbricht alle Gesetze und Regeln, unter denen sonst das Geschehen abrollt, es ist unleugbar Faktum, so gewiß in seiner Faktizität wie der Nachen oder wie der See oder wie die Krankheit oder die Menschen, die darum herumstehen – und doch, dies Geschehen steht unvermittelt, beunruhigend, drohend mitten in der Welt, in der diese Menschen leben. Es bricht in ihre Welt herein wie ein Erdbeben, das alle Fundamente wanken macht. So ist es mit allen Wundern Jesu – Gottes Kraft manifestiert sich in ihnen als Faktum. Man kann die Augen davor schließen, aber damit ist es nicht aus der Welt geschafft – man kann es aber auch nicht gut zugeben, denn wollten wir’s zugeben, dann würden wir uns damit ja selbst aufgeben, jedenfalls aufgeben in dem, was wir als Grenze zwischen Möglich und Unmöglich, zwischen Recht und Unrecht, zwischen
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Fromm und Gottlos, zwischen Wirklichkeit und Einbildung zu wissen meinen. Das ist der durchgängige Refrain all dieser Wundergeschichten: Schrecken, Furcht, Ekstase! Und immer wieder dieser plastische Unterschied: im äußeren Kreis die Weisen, die zu Toren werden, die Menschen, die über Gott und sein Walten Richter spielen und sich damit selber richten. Sie sind unerschütterlich. »Sie achten alles für nichts und reden übel davon und reden und lästern hoch her« (Ps. 73,8). Die Ereignisse kommen gar nicht an sie heran. Sie haben ihre Deutungen parat, um sie sich vom Leibe zu halten. Sie sind der Prototyp aller derer, die die Wirklichkeit Gottes nur so weit gelten lassen wollen, als sie sich den von ihnen begreiflichen Kategorien fügt; was sie sprengt, ist ihrem Gericht verfallen. Sie meinen, es bestünde eine Analogie zwischen den Gedanken des Menschen und Gottes Wirklichkeit, sie wissen nicht, daß, wo Gott eingreift, es wider und über den Verstand geht. Darum hassen sie das Paradoxe, das Unerwartete, das, was man erst glauben muß, eh’ man’s verstehen kann. Ganz anders die Leute, die im inneren Kreis stehen. Der Mann, der den anderen mit diabolischen Kräften geladen erscheint, ist ihnen Heiland und Retter. Sie suchen seine Nähe. Sie überschreiten getrost die Grenze des Möglichen, sie wissen, daß man diesem Jesus gar nicht anders nahekommen kann: die Krankheit, die Not, die Einfalt, die Sünde – sie bringen diese Leute dahin, daß sie deutungslos vor Jesus hintreten, daß zwischen ihrer Not, ihrer sie zu Boden drückenden Not und Jesus nichts mehr steht, kein Besserwissen, kein Deuten, kein Rechthaben –, daß sich also in diesem Niemandsland eines schlechthin passiven Glaubens beide begegnen: Gott und der Mensch, Gottes Hilfe und des Menschen Elend. Das beides begegnet sich in dem Gichtbrüchigen und in Jesus. Dieser Glaube wagt das Äußerste, wenn es ihm nur gelingt, seine Not Jesus vor die Füße zu legen. Er bricht hindurch durch den Sperrgürtel der Menschen, er kapituliert nicht vor den Hindernissen, er zerbricht nicht über der Not, er klagt nicht anderen die Ohren voll, sondern er handelt, und sein Handeln ist, ohne daß ein Wort dabei fällt, die beredteste Demonstration dessen, was er sich erhofft. Und das Wunder bedeutet ja nichts anders, als daß Gott diesen vor allen Weisen und Selbstgerechten schutzlos preisgegebenen, ja verhöhnten Glauben nicht im Stich läßt. Wo Jesus diesen Glauben »findet«, da richtet er Zeichen auf, paradoxe, in ihrem Woher und Wohin unbegreifliche Zeichen, die beides in sich tragen, Heil und Verhängnis, Hilfe und Entsetzen. Und ohne diesen Preis der Entscheidung gibt es keine Rettung. Es gibt wenig Geschichten unter den Wundern Jesu, die diesen Doppelcharakter seiner Taten so deutlich offenbar machen wie die hier vorliegende. Die Pharisäer mögen denken: Heilungen gehen noch an, da wirkt eben
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»Gottes Kraft«, aber daß dieser Jesus auf Erden Sünden vergibt, das ist Blasphemie. Das kann nur Gott! Wer das tut, setzt sich damit Gott gleich, nimmt Gott sein Urteil vorweg! Handelt, als sei heute schon der Jüngste Tag! Und in der Tat, hier hören wir erst einmal, warum die Sündenvergebung, die Jesus bringt und die seine Boten in seinem Namen weitertragen sollen, den »religiös« eingestellten Menschen von damals und vielleicht auch von heute als etwas Ungeheuerliches, ja als etwas Lästerliches erscheinen muß. Denn selbstverständlich wußten auch die Pharisäer von Sündenvergebung, sie wußten auch etwas von Gottes Barmherzigkeit, es müßte das Alte Testament mit seinen vielen Verheißungen nicht geben, sollten sie nichts davon wissen. Daß aber ein Mensch auf Erden Sünden vergibt, daß dies, dem Tag Gottes vorbehaltene Geschehen jetzt und hier vollzogen wird, geht über das Alte Testament hinaus, geht auch über den Täufer hinaus. Wer das tut, der macht sich Gott gleich, übertritt das erste Gebot. Jesus weicht vor diesem Denken seiner Gegner nicht zurück, es ist alles richtig, was sie erwägen, theologisch durchaus richtig, Sündenvergebung ist wirklich Vorwegnahme von Gottes Urteil, steht wirklich allein in Gottes Recht und Macht, aber – der Menschensohn hat eben diese Macht als der Weltenrichter. Sie ist wirklich Gottes Sache allein, aber so und nicht anders, ohne Abstrich und Verkürzung, wird sie in Jesus Ereignis, und gerade, daß er das tut, ist der Ausweis seiner Sendung. Wenn sie das gelten ließen, dann würden auch sie begreifen, wer hier vor ihnen steht, was für eine Stunde in der Weltgeschichte geschlagen hat, daß der neue Aeon angebrochen ist, daß das Gericht Gottes über die Welt diese unendlich selige Gestalt hat: Buße und Vergebung der Sünden! Sündenvergebung als Möglichkeit in der Ferne, als himmlische Möglichkeit, davon weiß irgendwie auch jeder Mensch. Und wenn die Schwermut zuweilen daran zweifelt, beginnt doch immer wieder der Leichtsinn, damit zu rechnen. Aber was hier berichtet wird, ist nicht Sündenvergebung als himmlische Möglichkeit, sondern als irdische Wirklichkeit, als letztes, in alle Ewigkeit gültiges Wort Gottes. Sündenvergebung, nicht als Möglichkeit, die Gott an sich hat – wer wollte die bezweifeln? – sondern Sündenvergebung mit bestimmter Adresse: Dir sind deine Sünden vergeben! Das tut Jesus und so will er, daß seine Jünger die ihnen verliehene Lösegewalt handhaben, mit dieser indikativischen Bestimmtheit und Direktheit: dir sind sie vergeben, jetzt und hier – und zugleich vor Gott in alle Ewigkeit. Das ist die Vollmacht des Menschensohnes, die darzutun der Sinn unserer Geschichte ist. Immer wieder, wenn die Sündenvergebung diesen Vollmachtscharakter
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verliert, wenn Zeit und Ewigkeit auseinanderbrechen, wenn die Vergebung aus einer eschatologischen Wirklichkeit zu einer im Ungewissen schwebenden Möglichkeit wird, verliert der Mensch die Gewißheit seines Glaubens. Und es ist bezeichnend, daß sowohl das Judentum wie auch der vorreformatorische Katholizismus lehrte: der Mensch darf seines Heiles nicht unmittelbar gewiß sein! Warum nicht? Weil dies bei Gott steht und Gottes Urteil noch aussteht. Ganz anders Jesus Christus, ganz anders Luther und die auf ihn gegründeten Bekenntnisschriften: ihnen kommt alles auf diese Gewißheit an. »Glaubst du, so hast du«, sagt Luther; »Dir geschehe, wie du geglaubt hast«, sagt Jesus Christus. Und durch das ganze Neue Testament geht dieser Klang unumstößlicher, gegen »Gegenwärtiges und Zukünftiges« gesicherter Gewißheit: »daß uns nichts trennen kann von der Liebe Gottes«. Die Gemeinde Jesu Christi besteht aus solchen Menschen, denen die Sündenvergebung auf Erden, die Jesus gebracht hat, zum Zentrum ihres Lebens, zum Wendepunkt ihres ganzen Seins geworden ist. Alles, was sie von Jesus Christus glauben und bekennen, hat dies zum Inhalt, daß sie in ihm die Vergebung der Sünden haben. Das gilt von seinem Tod wie von seiner Auferstehung. So ist er das Wort Gottes, das in die Welt gekommen ist: er ist, was er bringt, die Zusage von der Sündenvergebung auf Erden. Des zum Zeichen läßt er den Gichtbrüchigen aufstehen von seinem Lager. Das Wunder hat seine Bedeutung nicht in sich – sondern Jesus will, daß es von sich wegweist. Worauf hin denn? Auf seine Vollmacht, Sünden zu vergeben. So sind alle Wundertaten Jesu Zeichen. Wofür denn? Dafür, daß wir erkennen, was sein Kreuz und seine Auferstehung bedeuten. Zeichen seiner ihm von Gott gegebenen Vollmacht, die Menschen ihrer Sünde los und ledig zu sprechen. Denn »wen der Sohn frei macht, der ist recht frei«. Das Ende unserer Geschichte weitet den Blick: dieser Geheilte, dieser Lahme, der nun vor aller Augen in sein Haus geht und wieder wandeln kann, ist ja das Bild aller derer, denen durch die Vergebung der Sünden die Freiheit neu geschenkt ist »zu wandeln in guten Werken«. Aber vergessen wir nicht, daß solcher Wandel von sich wegweisen soll, daß er nichts ist als ein von Gott aufgerichtetes Zeichen, damit die Welt erkenne, wer die Macht hat, auf Erden Sünden zu vergeben. Denn das Wunder der wiedergeschenkten Gesundheit muß dem anderen dienstbar bleiben: der Proklamation der Vergebung der Sünden im Namen Jesu auf Erden!
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Lukas, 5,27-32 Und danach ging er aus und sah einen Zöllner mit Namen Levi am Zoll sitzen und sprach zu ihm: Folge mir nach! Und er verließ alles, stand auf und folgte ihm nach. Und Levi richtete ihm ein großes Mahl zu in seinem Hause, und viele Zöllner und viele andere saßen mit ihm zu Tisch. Und die Schriftgelehrten und Pharisäer murrten wider seine Jünger und sprachen: Warum esset und trinket ihr mit den Zöllnern und Sündern? Und Jesus antwortete und sprach: Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken; ich bin gekommen, zu rufen die Sünder zur Umkehr, und nicht die Gerechten. Zöllner sind Unterpächter oder auch unmittelbar Beauftragte des römischen Staates, Juden, die sich aus materiellem Interesse in den Dienst der fremden Macht gestellt haben. An Straßen, Brücken und Stapelplätzen treiben sie ihr dem Volk verhaßtes Geschäft. Religiös denken sie »liberal« (Schlatter), das heißt, sie haben mit den Ordnungen gebrochen, unter denen die Frommen ihres Volkes leben. Darum sind sie aus der Gemeinde ausgeschlossen, ein breiter Graben trennt sie von den »Gerechten«; Heiden und Zöllner (Mt. 18,17) stehen für den gesetzesstrengen Juden auf einer Ebene. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß Zöllner, wie uns berichtet wird, in einzelnen Städten zeitweise ein großes Ansehen besaßen; denn diesen Einfluß verdanken sie allein ihrem Geld. Die unter Leitung der Pharisäer stehende Gemeinde derer, die das »Joch des Gesetzes« übernommen haben, läßt sich dadurch nicht imponieren. Räuber, Ungerechte, Ehebrecher und Zöllner (Luk. 18) erscheinen ihnen gleich verächtlich. Und in der Tat, aus allen Zöllnergeschichten, die uns das Neue Testament berichtet, wird das eine deutlich: Das Geld beherrscht ihr Leben. Wie man bei Zachäus sieht, wird manche Träne der Armen und manches Unrecht an den von ihnen eingetriebenen Steuern gehangen haben. Sie werden Leute gewesen sein, die nach so etwas nicht fragten. Daß Jesus einen Zöllner in die Jüngergemeinde beruft, ist allein schon ein Affront, ein Anstoß für die Frommen, geschweige denn, daß er in sein Haus geht und mit seinen Genossen Tischgemeinschaft hält. Denn dadurch zerbricht Jesus die Ordnung, die der Pharisäismus aufgerichtet hatte, um das Volk vor dem drohenden Zerfall zu bewahren. Wir dürfen annehmen, daß es dem Orden der Pharisäer gelungen war, bis in die Dorfgemeinschaften hinein die soziale und religiöse Trennung durchzuführen zwischen denen, die das Gesetz ernst nahmen und darum »Gerechte« genannt werden,
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und den »Zöllnern und Sündern«. Dies Bemühen um die Reinerhaltung der Gemeinde reicht weit zurück; sie ist das Werk einer Laienbewegung, die aber auch bald Theologen in ihren Kreis zieht und die vor allem darauf aus ist, in einer Zeit zunehmender Hellenisierung die Vätersitte und das Gesetz zum Sammelruf des heiligen Volkes zu machen. Wir wissen aus der Geschichte, daß der Einfluß dieser Bewegung für die Entwicklung des Judentums außerordentlich gewesen ist, vor allem in der Diaspora. Saulus ist ein Beispiel dieses strengen Observantentums. Wer in den Orden eintrat, mußte bestimmte Gebets- und Reinheitsvorschriften auf sich nehmen, vor allem aber sich verpflichten, »keine Tischgemeinschaft mit Heiden oder dem ›am haarez‹ (Bezeichnung für das ungebildete und darum, wie man meinte, ungesetzlich lebende Landvolk) zu halten« (M. Weber). Wir erfahren hier, daß Jesus in seinem praktischen Handeln diese Ordnungen des Pharisäismus durchbricht. Wir wissen, daß er sich dadurch Todfeinde schuf, die ihn wegen der Nichtachtung des Gesetzes ans Kreuz bringen, die ihn zum »Freund der Sünder und Zöllner« stempeln und über den richten, der doch selbst der Weltenrichter ist. Wenn aber Jesus gerade in den Pharisäern den eigentlichen Gegner seiner Botschaft sieht, dann richtet sich das nicht nur gegen ihre Aufgeblasenheit und Heuchelei, sondern gegen ihr Prinzip, gegen diesen ihren Weg der Reform der Gemeinde, gegen diese Art von Heiligkeit und Purismus, die ihnen als Ideal vorschwebt. Des zum Zeichen steht Levi, der Zöllner, in der Gemeinde der Apostel! Simon, der Zelot (Luk. 6,15) und Levi, der Zöllner, werden Brüder unter dem Ruf Jesu. Der Name Pharisäer bedeutet: Absonderung. Gerade deswegen handelt Jesus demonstrativ. Sein Umgang mit den Zöllnern, seine diesen moralisch Aussätzigen gewährte Gemeinschaft ist eine öffentliche, praktische Demonstration gegen das Prinzip des Pharisäismus, und zwar für eine für alle Zeiten gültige Demonstration gegen dieses Prinzip. Er bricht aus diesem inneren Ring aus, um zu suchen, was verloren ist. Er macht nicht mit bei diesen Versuchen, die Gemeinde durch Absonderung zu reinigen und rein zu erhalten. Und er macht darum nicht mit, weil er weiß, daß dies Richten und Scheiden Gott vorbehalten ist. Weil an seinem Bußruf offenbar wird, daß die Zöllner und Huren dem Reiche Gottes näher sind als die, die sich für die Berufenen halten (Mt. 21,31). Weil die Buße, die er bringt, Freude, Ruf zur Umkehr und Heimkehr, und das Heilmittel, das er anwendet, Barmherzigkeit ist. Und in der Tat, was die Absonderung nicht erreichte, das vermag die neu geschenkte Gemeinschaft: unter dem Eindruck dieser Gnade läßt Levi all seinen Besitz, sagt dem Gott Mammon seinen Dienst auf, erkennt, wie verloren sein Leben ist, und ergreift die nach ihm aus-
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gestreckte Hand des Retters. Er verließ alles, stand auf und folgte ihm. Die Bekehrung des Levi ist die Rechtfertigung des Handelns Jesu: dieser Gerettete ist der Zeuge wider seine Verkläger. Er, Jesus Christus, hat in Wahrheit das Gesetz verstanden, er tut das »Schwerste im Gesetz«, was jene dahinten lassen, »nämlich das Gericht, die Barmherzigkeit und den Glauben« (Mt. 23,23). Der hier zum Apostel berufene Levi wird auch Matthäus genannt. Vielleicht, daß er mit seinem Bericht hinter manchem steht, was dann in dem nach Matthäus genannten Evangelium über Jesu Kampf wider den Pharisäismus berichtet wird, weil er selbst erlebt hat, daß die Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt, die Sünde nicht aufhebt, sondern sie nur größer macht. Das, was die Pharisäer unter Gerechtigkeit und Heiligkeit verstehen, ist genau das Gegenteil der Gerechtigkeit, die Jesus bringt. Seine Gerechtigkeit enthüllt nicht die Sünde, sondern bedeckt »der Sünden Menge« (1. Petr. 4,8). Er grenzt sich nicht ab von den Ungerechten, sondern geht in ihre Mitte. Und geht in ihre Mitte als der Heilige, als der ganz Andere, der ihnen Fremde. Gerade mitten unter den Sündern wird seine Fremdheit wunderbar enthüllt als eine helfende, verwandelnde, aus der Welt Gottes stammende. Jesus nimmt den »Zaun« weg, der die Menschen aufteilt in solche, die Gott ferne, und solche, die Gott nahe sind (Eph. 2,14-18). Gewiß, das kann nur er, aber warum murren die Pharisäer, wenn er tut, was niemand sonst kann? Sollten sie sich nicht freuen? Bei den Engeln Gottes ist Freude über die Umkehr der Verlorenen, warum nicht auch in der Gemeinde? Der Pharisäismus macht aus der Buße eine Leistung, die er fordert, Jesus kommt und holt selbst das verlorene Schaf heim, er fordert nichts, er schenkt alles. Es ist das Fürchterliche an dieser Werkgerechtigkeit des Pharisäismus, daß ihre Heiligkeit und Gerechtigkeit abstoßend, aussondernd wirkt. Der Pharisäer macht eigentlich erst den Zöllner möglich! Denn diese Güte ist ja nur eine Güte im Vergleich; im Verhältnis zu denen, die nicht so sind wie er, ist er gut. Er braucht geradezu dies Gegenstück zu seinem eigenen Wesen. Aber in Jesus Christus ist die Gerechtigkeit Gottes einladend, suchend, helfend, neuschaffend, liebenswert, anziehend. Denn Jesus hält seine Gerechtigkeit nicht fest wie eine Tugend, mit der man sich herausstellt, sondern bringt sie als die Gabe Gottes, die den Sünder gerecht macht, er schafft, was nicht vorhanden ist, er weckt die Toten auf und macht die Aussätzigen rein. Das ist der weltbewegende, ja mehr, der das Reich Gottes bewegende Kampf Jesu wider den Pharisäismus: es gilt, den Sündern den Glauben an Gottes Gerechtigkeit zu bringen, darum müssen die, die ihre eigene Gerechtigkeit an deren Stelle gesetzt haben, beiseitegedrängt wer-
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den, denn sie stehen dem rettenden Tun Gottes im Wege. »Gott hat uns zuerst geliebt«, heißt es einmal (1. Joh. 4,19). Dies Zuerst ist es, woran sich die Pharisäer aller Zeiten stoßen. Daß die Bewegung von Gott ausgeht, daß Gott von sich aus die Gemeinschaft, die der Mensch preisgegeben hat, wieder aufnimmt, daß er niemanden zu unrein, zu verloren, zu schlecht befindet, um ihn nicht doch zu suchen, zu rufen und an seinem Tisch zu sitzen – das erscheint dem Pharisäer in uns als ein Einsatz, der zu hoch ist. Und doch, wenn wir daran etwas abmarkten, zerstören wir alles; der Einsatz muß so hoch sein, denn der Fall ist ja so tief. Die meisten Ausleger meinen, daß Jesus mit seinem Schlußwort von den Gesunden und Gerechten in der Tat sagen wollte, daß die Frommen, die ihm widerstanden, wirklich gerecht und gesund seien und ihr einziger Fehler darin bestehe, daß sie sein Handeln an den Sündern und Kranken nicht mit der Freude begleiten, die Gott darüber empfindet. Aber was ist das für eine Gerechtigkeit, die Jesus nicht nötig hat? Was ist das für eine Gesundheit, die dieses Arztes entraten kann? Will nicht Jesus vielmehr damit sagen: »Wehe euch Reichen, denn ihr habt euren Trost dahin? Wehe euch, die ihr voll seid, denn euch wird hungern?« (Lk. 6,24 f.). Will er nicht vielmehr damit sagen: Wenn ihr nicht auch Sünder werdet, dann kann ich euch nicht helfen? Wenn ihr nicht endlich in jenen, die ihr verachtet, das Bild des Menschen erkennt, der ihr selbst vor Gott seid, dann werdet ihr ewig blind bleiben? Will er nicht damit einen neuen Unterschied aufrichten zwischen den Menschen, den Unterschied zwischen denen, die um die Krankheit wissen und darum den Arzt in ihr Haus bitten, und den anderen, die an sich selber den Arzt spielen? Denn »unser lieber Herr Christus, wahrer Mensch und ewiger Gott, der ist der rechte Arzt und hat die gewisse Kunst, ja auch den Befehl und Amt dazu, daß er uns kranken, vergifteten Menschen helfen soll. Wie er sagt am Ende: Ich bin nicht gekommen um der Gerechtigkeit willen, das ist, um deren willen, die sich lassen dünken, sie sind für sich selbst fromm und bedürfen niemandes, der ihnen helfe, sondern um der Sünder willen. Das merke wohl!« (Luther, Hauspostille).
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Lukas 5,33-39 Sie aber sprachen zu ihm: Warum fasten des Johannes Jünger so oft und beten so viel, desgleichen der Pharisäer Jünger; aber deine Jünger essen und trinken? Er sprach aber zu ihnen: Ihr könnt die Hochzeitleute nicht zu fasten treiben, solange der Bräutigam bei ihnen ist. Es wird aber die Zeit kommen, daß der Bräutigam von ihnen genommen wird; dann werden sie fasten. Und er sagte zu ihnen ein Gleichnis: Niemand flickt einen Lappen von einem neuen Kleid auf ein altes Kleid; sonst zerreißt er das neue, und der Lappen vom neuen reimt sich nicht auf das alte. Und niemand faßt Most in alte Schläuche; sonst zerreißt der Most die Schläuche und wird verschüttet, und die Schläuche kommen um. Sondern den Most soll man in neue Schläuche fassen, so werden sie beide erhalten. Und niemand ist, der vom alten trinkt und wolle bald den neuen, denn er spricht: Der alte ist milder. Die Leute vermissen an Jesu Jüngern die Heiligkeit. Es fällt ihnen auf, daß Jesu Jünger im Unterschiede zu den Jüngern anderer Männer in ihren Lebensformen nichts Ungewöhnliches, Asketisches, Außerordentliches an sich haben. Jesu Jünger bildeten keinen mönchischen Orden, ganz im Unterschiede zu den Anhängern, die einzelne Rabbinen oder auch Johannes der Täufer um sich sammelte. Das mußte stutzig machen. Denn die Menschen lieben das Außerordentliche, sie haben es gern, wenn sich die Heiligen durch Kleidung und Lebensgewohnheit aus der Masse herausheben. Es gehört ihrer Meinung nach zur Heiligkeit, daß sie sich Entbehrungen auferlegen, die dem gewöhnlichen Menschen zu schwer sind. Das begründet ihr Ansehen. Es gibt dem, was man sich unter einem heiligen Wandel vorzustellen beliebt, Glanz und Farbe. Darum finden wir auch in fast allen Religionen Mönchsorden mit asketischer Ordensregel, denn diese Lebensformung ist die Spitze menschlicher Religiosität. Als Johannes der Täufer auftrat, mit einem Kleid von Kamelhaar angetan und einem ledernen Gürtel um die Lenden, als er in die Wüste ging und dort von Heuschrecken und wildem Honig lebte, da »ging zu ihm hinaus ganz Jerusalem und das ganze jüdische Land«. Solch eine Erscheinung ist aufsehenerregend, erweckend. Johannes predigt schon durch das, was er ist und wie er lebt. Er war ein Bußprediger, der auf das üppige Geschlecht seiner Zeit Eindruck machte. Daß Jesus anders kommt, will etwas sagen. Denn genau so, wie seine Jünger hinter denen des Johannes zurückbleiben, erscheint er selbst, mit Johannes verglichen, den Leuten als ein »Fresser und Weinsäufer«. Und zwar
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steht das in den Augen derer, die ihn richten, auf einer Stufe mit dem anderen, daß er »der Zöllner und Sünder Geselle« ist (Mt. 11,19). Warum übernimmt Jesus nicht die hergebrachte Form des Heiligenlebens, warum tritt er nicht als Asket auf und fordert von seinen Jüngern nicht die Askese? Darum nicht, weil er Jesus ist! Weil er die Erfüllung ist! Weil sein Kommen und Auftreten nicht Vorbereitung, sondern Gegenwart der Gottesherrschaft ist! Das – und nicht irgend etwas »Liberales« will diese Haltung Jesu und seiner Jünger ausdrücken. Er bleibt in Wahrheit nicht hinter Johannes und den Rabbinen zurück, nein, er geht weit, unendlich weit über sie hinaus. Denn »hier ist mehr denn Jona«, hier ist mehr als ein Bußprediger, hier ist die Buße zur Freude geworden, zur Gabe, zur Umkehr, zur Heimkehr. Daß seine Jünger nicht fasten und – offensichtlich – keine Stundengebete halten, daß er überhaupt nicht auf diesem Wege die Reform und Erneuerung des Lebens sucht, die er zu bringen gekommen ist, liegt nicht daran, daß Jesus in der Askese etwas Unnatürliches, Übertriebenes oder gar Scheinheiliges sieht, auch sollte niemand meinen, Jesus habe damit dem Natürlichen und Alltäglichen das Wort reden wollen: gerade das nicht. Sondern daß die Heiligkeit so aussieht, daß sie dem Alltäglichen und Natürlichen zum Verwechseln ähnlich sieht, daß man sie von den alten Maßstäben her gar nicht mehr erkennen kann, das ist das Überlegene, das Neue, das Erstaunen- und auch Ärgernis-Erregende an dieser Lebensform. Den Gegensatz von weltlichem und mönchischem Wandel versteht jedermann, diese beiden Seiten bedingen sich gegenseitig, aber was heißt es denn, wenn da Menschen sind, die sich von den anderen eben nicht in diesem Sinne unterscheiden und deren Existenz doch etwas Neues, Anderes, Weltüberlegenes darzustellen behauptet? Es heißt, daß der Bräutigam da ist, daß der Tag Gottes angebrochen ist, daß alles, was im Hohenlied über das Glück der Erfüllung gesungen ist, hier nun wahr wird in der Gemeinschaft der Kirche als der Braut mit ihrem Herrn. Die Zeit des Wartens und Sich-Verzehrens ist dahin, das Heute und Jetzt der Gnade Gottes ist angebrochen. Das freie, scheinbar, aber eben nur scheinbar weltförmige Leben der Jünger bedeutet, daß sie die letzte, äußerste Umkehr vollzogen haben, nicht die Umkehr von der Welt zum weltabgewandten Leben, sondern die Umkehr zu der Gegenwart Gottes in der Welt und in der Zeit. Es ist der Schritt, den Luther vollzieht, als er den mönchischen Wandel aufgibt, es ist die Haltung, um derentwillen er sich von den Schwärmern als das »sanftlebende Fleisch von Wittenberg« verspotten lassen muß. Es ist das »Haben, als hätte man nicht«, es ist jene verborgene, nicht mehr scheinende, neue, wahre Heiligkeit, die nicht mehr
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aus sich selbst heraus lebt, sondern aus dem, der »uns gemacht ist zur Gerechtigkeit, Heiligkeit und Erlösung« (1. Kor. 1,30). Denn alles, was man ohne Christus nur postulieren, fordern kann, ist jetzt da. Darum die Freude, darum dies wirklich Neue, dies ganz Andere der Lebensführung, dies weder Weltliche noch Weltabgewandte, dies »in der Welt, aber nicht von der Welt sein« (Joh. 17,14). Der Tag Gottes ist angebrochen, die Zeit des Heils ist da, dem entspricht es, daß Jesu Jünger nicht sauer sehen, sondern in der großen Freude leben. »Der Herr ist nahe.« Auch für sie wird der Tag kommen, da sie fasten werden, wenn der Bräutigam von ihnen genommen wird. Jesus denkt bei diesem Wort an seinen Tod. Kurz bemessen ist die Zeit, da Menschen mit dem Sohne Gottes wandeln dürfen. Muß es da nicht heißen: Kauft die Zeit aus! Aber ob Jesus wirklich gemeint hat, daß seine Jünger dann so fasten werden, wie jetzt des Johannes Jünger fasten? Muß nicht diesem neuen Leben auch ein neues Fasten entsprechen? Gewiß, »die Welt wird sich freuen, ihr aber werdet traurig sein« (Joh. 16,20), aber sollte er nicht noch mehr damit meinen? Will er nicht damit sagen, daß sein Tod und sein Leiden die neue Grundlage sein wird für den rechten Ernst und die rechte Buße des Menschen? Daß sein Kreuz hineinleuchten wird in ihr Leben und sie bekennen werden: »Mir ist die Welt gekreuzigt und ich der Welt« (Gal. 6,14)? Daß sie aufhören werden, sich zu berauschen an ihrem Ruhm, an ihren Werken, an ihrer Heiligkeit, daß ihnen als Kot erscheinen wird, was sie einmal für Gewinn erachtet haben? Das Kreuz wird der Maßstab werden, an dem sie ihr Leben messen, durch den sie ihre Gerechtigkeit verwerfen werden, um die andere, die fremde Gerechtigkeit aus dem Glauben an Christus zu erlangen. Es wird ein neues »Fasten« sein, eine echte, aus der Erkenntnis und dem Gedächtnis des Leidens Christi geborene Nüchternheit und Buße, eine Askesis, eine »Einübung ins Christentum«, bei der das Leiden und Sterben des Herrn das ABC ist und bleibt. Also nicht nur vorübergehend, nein, bleibend bringt Christus etwas Neues; wer zu ihm kommt, muß aufhören, in der Abkehr von der Welt die Heiligkeit zu suchen, er muß sich »zurückkehren« zu seinem Stand und Beruf, aber so, daß Gottes Gnade und Gottes Wahrheit ihn umgeben. Gottes Gnade darin, daß er allezeit umgeben ist von Gottes Gemeinschaft, die den Sünder an sich zieht, und Gottes Wahrheit, daß der Ernst des bitteren und unschuldigen Leidens Christi sein Herz nüchtern und seinen stolzen Sinn demütig macht. Darum knüpft Christus nicht an an etwas Bestehendes, darum setzt er nicht einen Flicken auf das alte Kleid und füllt nicht den Wein in die alten Schläuche, darum verbessert er nicht nur die Formen der Pharisäer und des Johannes, nein, es geht höher hinauf, der Weg von
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Johannes zum Jünger Jesu ist kein Übergang und keine Reform, es ist ein Sprung. Ein Neuanfang! Dort herrscht das Gesetz, hier Gnade und Wahrheit. Dort wird das Reich Gottes erstrebt, hier ist seine Gegenwart Voraussetzung alles Strebens. Das bedeutet das herrliche Wort von dem neuen und dem alten Kleid, von den alten Schläuchen und dem neuen Wein. Wenn die Sonne aufgeht, muß man die Läden auftun und die Lichter löschen. Sie haben ihren Glanz verloren. Nicht neue Wahrheit in alten Formen, nicht nur Verbesserung, Reform des Alten an den Punkten, wo es reformbedürftig ist. Sondern »wer in Christus ist, ist eine neue Kreatur«. Manche Ausleger meinen, Jesus habe damit sagen wollen, daß auch das alte Kleid sein Recht habe und daß er die alten Schläuche schonen wolle, daß er das Neue neben das Alte setzen wollte, das »Essen und Trinken« seiner Jünger neben das »Fasten« der anderen. Aber damit verliert sein Wort und sein Werk Größe und Schärfe. Er will das, was er bringt, nicht neben das Alte setzen, sondern gegen das Alte, er will nicht schonen, sondern abbrechen, um neu zu bauen. Das »Ich aber sage euch« aus der Bergpredigt steckt in diesem Wort. Denn das Evangelium ist nicht die Reparatur der aus dem Gesetz geborenen Frömmigkeit und Heiligkeit, sondern ihre Aufhebung. Und überall, wo wir das Neue Testament daraufhin ansehen, sehen wir, daß es diesen Bruch, diese Wendung beschreibt und lehrt, ob das Paulus ist, oder der Hebräerbrief, oder Johannes und Petrus – sie alle zeigen, jeder in seiner Weise, daß das Kommen Jesu den Bruch bedeutet: »Siehe, ich mache alles neu« (Offb. 21,5). Gerade diesen Bruch wollte das fünfte Kapitel unseres Evangeliums in einzelnen Episoden uns miterleben lassen; es ist ein Bruch mit der Tradition, wenn Jesus sich seine Jünger aus dem »Volke«, das heißt aus Sündern holt, wenn er die Gegenwart der Sündenvergebung proklamiert, wenn er den Aussätzigen berührt, wenn er mit den Zöllnern zu Tische sitzt, wenn er seine Jünger nicht fasten läßt. Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden. Unser Evangelist hat ein Wort hinzugefügt, das die anderen nicht überliefern. Es steckt ein leises Lachen in diesem Wort. Vielleicht auch eine Mahnung zur Nachsicht. Denn ist es nicht wahr, daß die, die den alten Wein gewöhnt sind, nicht gern zum neuen, gärenden Saft übergehen? Ist es nicht wahr, daß die Erneuerung der Kirche auch eine Generationenfrage ist? Denn der alte ist milder!
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Es lief das Volk zu und kamen etliche Tausend zusammen, also daß sie sich untereinander traten. Da fing er an und sagte zu seinen Jüngern: Zum ersten hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer, welches ist die Heuchelei. Es ist aber nichts verborgen, das nicht offenbar werde, noch heimlich, das man nicht wissen werde. Darum, was ihr in der Finsternis saget, das wird man im Licht hören; was ihr redet ins Ohr in den Kammern, das wird man auf den Dächern predigen. Ich sage euch aber, meinen Freunden: Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, und darnach nichts mehr tun können. Ich will euch aber zeigen, vor welchem ihr euch fürchten sollt: Fürchtet euch vor dem, der, nachdem er getötet hat, auch Macht hat, zu werfen in die Hölle. Ja, ich sage euch, vor dem fürchtet euch. Verkauft man nicht fünf Sperlinge um zwei Pfennige? Dennoch ist vor Gott deren nicht eines vergessen. Aber auch die Haare auf eurem Haupt sind alle gezählt. Darum fürchtet euch nicht; ihr seid besser denn viele Sperlinge. Ich sage euch aber: Wer mich bekennet vor den Menschen, den wird auch des Menschen Sohn bekennen vor den Engeln Gottes. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, der wird verleugnet werden vor den Engeln Gottes. Und wer da redet ein Wort wider des Menschen Sohn, dem soll es vergeben werden; wer aber lästert den Heiligen Geist, dem soll es nicht vergeben werden. Wenn sie euch aber führen werden in die Schulen und vor die Obrigkeit und vor die Gewaltigen, so sorgt nicht, wie oder was ihr antworten oder was ihr sagen sollt; denn der Heilige Geist wird euch zu derselben Stunde lehren, was ihr sagen sollt. Wo Jesus ist, da fallen alle Schranken. Pharisäismus heißt in irgendeinem Sinne Schranken setzen, aussondern, absondern. Es ist dies schließlich unsere äußerste, aber auch unsere glänzendste Möglichkeit, wenn wir daran gehen, von uns aus Gottes Herrschaft auf Erden aufzurichten. Wir können dann nichts anderes tun als einen Zaun ziehen zwischen uns und den anderen, zwischen den Gotteskindern und den Weltmenschen. Wir gehen immer wieder mit größtem Ernst an dasselbe hoffnungslose Unternehmen, wie die ersten Pharisäer, die dieser Sache ihren Namen gaben. Sie wollten
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das fromme Israel schützen vor der befleckten und zersetzenden Berührung mit dem von allen Seiten eindringenden Heidentum. Sie wollten der Väter Sitte wieder aufrichten. Sie wollten »mit Ernst Juden sein«. Sie wollten wieder eine Tradition schaffen, an der erkennbar würde, wer zum Herrn gehört – und wer nicht! Dieses »und wer nicht«, wird in solchem Falle unvermeidbar. Es ist die bedenkliche Schattenseite aller religiösen Reformen, die von Menschen her in Szene gesetzt werden, das geradezu tragische Gesetz alles »positiven Christentums«, das unheimliche Hinterhaus zu dieser glänzenden Fassade. Von hier geht die stille und zuweilen auch sehr vernehmliche Anklage aus, die von draußen sich ergebende Revolte gegen dieses Für-sich-sein-Wollen der Guten und Gerechten. Sie begreifen nicht, daß sie eben damit all das Positive, das Wahre und Heilige, das Tüchtige und Vorbildliche, das ihnen anvertraut ist, in Mißkredit bringen. »Um euretwillen wird der Name Gottes gelästert unter den Heiden« (Röm. 2,24). »Für den Geist ist solchermaßen gut sein eine Krankheit« (Nietzsche). Denn indem sie ein »Innen« setzen, setzen sie auch ein »Draußen«. Draußen aber bleibt dann das »ungebildete Volk« (man hatte im Judentum für das Draußensein diesen terminus technicus geprägt, in dem die ganze Hoffnungslosigkeit der Lage ihren Ausdruck fand). Draußen heißt dann Grenze der Humanität, durch Gottes Gebot gezogene, geheiligte Grenze zwischen den beiden Söhnen eines Vaters. Draußen leben heißt dann notwendigerweise gesetzlos leben, Mensch in der Masse sein, preisgegeben an den Tag und an seine Freuden, an die Sinnenlust und ihre Leere; das ist der Mensch außerhalb des Kreises der »Abgesonderten«, ungezügelt und in dumpfer Tätigkeit sein Dasein abwickelnd. Jesus ist die Aufhebung dieser Grenze. Er steht an dem Ort, wo nach Meinung der Verantwortlichen in Israel »nichts mehr zu machen ist«. So sehen wir ihn. So will er gesehen sein, will sich so dem Gedächtnis seiner Gemeinde einprägen: er gehört in diese Umgebung! Er muß dort sein, wo sein Vater will, daß er sei, er, »der Sünder und Zöllner Geselle«. »Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen« (Jes. 53,4). Jesus ist damit in seiner Person die Aufhebung, das Gericht Gottes über unsere Absonderung. Indem er sich der Sünder erbarmt, richtet er den Pharisäer. Wir alle haben keinen anderen Weg der Umkehr und der Buße als diesen. Der Pharisäer, der wir sind, muß erfahren, daß sich Jesus allein des Sünders annimmt, der wir doch wohl auch und vornehmlich sind. Bei ihnen nimmt er seinen Standort ein. Die Nähe Gottes zu diesen Menschen, zu den Menschen in ihrem Ausgestoßensein, in ihrem Draußensein, die unbedingte, voraussetzungslose, weihnachtlich wunderbare Nähe Gottes
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zu den wirklichen Menschen, das ist Jesus. Denn in Jesus begegnet die Wirklichkeit Gottes der Wirklichkeit des Menschen. Das ist der Standort, den der Evangelist als Eingang der Jüngerrede (12,1-59) plastisch herausstellt. Wir sollten ihn nicht übersehen, sollten diesen Rahmen nicht als unwesentlich abtun oder gar zerbrechen. Jesus bildet mit den ihn umringenden, umdrängenden Massen eine untrennbare Einheit. Er ist und will nicht als Privatperson angesehen werden, »daß wo ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast« (Joh. 17,24). Man sehe sich in den modernen Leben-Jesu-Darstellungen vornehmlich liberal-bürgerlicher Prägung einmal an, wo diese ihn umdrängenden, durch ihn geheiligten und geretteten »Massen« hingeraten sind. Sie sind längst aus seinem Bilde wegretouchiert. Ob das wohl zufällig geschah, daß Jesus und die Menschen von »draußen« getrennt wurden, die Lukas uns hier so untrennbar eins zeigt? Sollte dieser unmerklich isolierte, stillschweigend privatisierte Jesus nicht vielleicht aus dem Heiland Gottes einer der unseren geworden sein, nicht mehr unser Richter, der gekommen ist, die Zäune abzubrechen und die Schranken aufzuheben, die wir gezogen haben, sondern selbst solch ein Garant unserer frommen, unserer scheingerechten, unserer von Gottes Gerichten längst zerbrochenen Ordnungen. Wir haben aus Jesus einen »Legislator«, einen Gesetzgeber gemacht. Gilt es nicht, ihn aus diesen Fesseln wieder frei zu machen und denen zuzuführen, die zu erlösen er gekommen ist? Jedenfalls stellt ihn Lukas bei der Gelegenheit dieser seiner Ermahnungen an die Jünger nicht als Prediger auf eine Kanzel, nicht wie einen Rabbi aufs Katheder, sondern läßt ihn sprechen aus dem Zusammenlauf des Volkes heraus. Aus der Mitte ihn umdrängender Scharen von Menschen allerlei Volks mahnt Jesus die Jünger. Sie sollen es fertigbringen, Gemeinde zu bauen ohne den »Sauerteig des Pharisäismus«. Wehe, wenn er noch einmal aufgerichtet würde, der Zaun zwischen denen, die drinnen, und denen, die draußen sind. Wehe, wenn es wieder dazu käme, Bedingungen, Präparationen, Lebensformen und Ordnungen vorzubauen, um zwischen Gottes Barmherzigkeit und der Welt in ihrer sichtbaren und spürbaren Verlorenheit eine Sicherheitszone einzuschalten. »Welt ging verloren, Christ ward geboren!« Da ist kein Übergang. Hütet euch vor solchen Unternehmungen! Es ist etwas Unechtes an dieser Heiligungsbewegung, welches die ganze Sache im Prinzip verdirbt. Diese Bewegung ist kein Leben, sondern Erstarrung, sie eint nicht, sondern sie spaltet. Sie lebt nicht vom Freudenruf der Umkehr, sondern vom Stolz auf ihre Entsagung. Sie zieht nicht an, sondern sie stößt ab. Sie macht den Menschen nicht wahr, sondern fügt zu seiner faktischen Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit noch den Schein der
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Frömmigkeit hinzu. Sie heilt den Schaden Israels mit einem Pflaster, nicht mit dem Wunder neuen Lebens. Sie hat nichts Befreiendes an sich, sondern lähmt Geist und Seele, sie bricht nicht von innen, aus dem Herzen, in das Äußere des Menschen hervor und nimmt dieses in seinen Dienst, sondern sie geht den umgekehrten Weg, von außen nach innen, sie will von der Zucht der Glieder, der Zunge, des Auges, der Hand ins Innere vorstoßen und darum ist sie Heuchelei. Heuchelei als objektive Lebensform! Heuchelei im biblischen Sinne, als der gefährliche Punkt, dem der Zorn Gottes gilt, ist der Versuch des Menschen, an seiner eigenen Wirklichkeit vorbei zu leben, eine faktische, verdeckte, verborgene Existenz zu führen (über die er nicht Herr ist) und eine nach außen hin zur Schau getragene (wo er über sich selbst verfügt). Heuchelei führt zur Doppelexistenz des Frommen, die ihn schwach und feige macht. Heuchelei muß da eintreten, wo ich vor Gott ein anderer bin (z. T. unbewußt!) als vor mir selbst und vor den Menschen. Der Mensch lebt dann in zwei Bildern, ein verdecktes, das nur Gott kennt, und ein gespieltes, das er den Menschen und sich selbst vortäuscht. Er macht dann die Gesellschaft zur Stätte dieses verzweifelten Theaters. Dostojewskijs Rodion Raskolnikow ist das großartige Beispiel einer solchen gespaltenen Existenz unserer Tage, zugleich auch der Fingerzeig, wie man aus ihr befreit wird. Wundern wir uns, wenn an dieser heimlichen Krankheit alles zugrunde geht, was uns das Leben wert macht, Familie und Gesellschaft, Staat und Kirche? Alles fängt an zu phosphoreszieren. Der wirkliche Mensch ist nirgends mehr anzutreffen, der durch seine Schuld geprägte Mensch. Ein eingebildeter Christus vermag einen eingebildeten Kranken zu heilen, aber der wirkliche Christus, Jesus von Nazareth, der Gekreuzigte und Auferstandene, ist gekommen, den wirklichen Menschen zu suchen und gesund zu machen. Darum setzt Jesus dieses als oberstes Gebot über alles Wirken seiner Jünger: Nur keine Heuchelei! Nur kein Doppelbild. Keine versteckten Unter- und Hintergründe eurer geistlichen Funktionen, an die man dann nicht rühren darf. Wenn ihr euch damit behelft, dann wundert euch nicht, wenn euer Wort seine sammelnde und belebende Kraft verliert an denen da draußen. Ihr seid mehr als Funktionäre, die eine Summe von Lehren auszurichten haben. Ihr seid selbst Menschen von Fleisch und Blut, Menschen voller Furcht und angefochten von innen und außen, Menschen, die fallen, um wieder aufzustehen, die ausreißen und die ihr Herr wieder in die Schlacht zurückholen muß. Die ersten Jünger haben sich auch nicht geschämt, vor aller Welt sich als die zu zeigen, die sie waren: unverständige, furchtsame, verlorene und sündhafte Menschen. Sie haben sich nicht als Heilige und Helden bezeich-
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net, sondern als Menschen von Fleisch und Blut. Darum sind die Evangelien keine Heiligenlegenden. Warum aber Jesus die Jünger warnt vor diesem Scheinleben, erfahren wir sogleich: Denn es ist nichts verborgen, was nicht offenbar würde. Eines Tages kommt es doch an den Tag, wer ihr seid und wenn es der Jüngste Tag sein sollte. Eines Tages wird es aus sein mit allen falschen Worten und Gesten, mit allen hochtrabenden Phrasen und selbstbewußter Aufgeblasenheit. Eines Tages wird die Inflation der frommen Worte zu Ende sein, dann wird die Abrechnung fällig. Dann wird ein unerbittlicher Richter die Feststellung des faktischen Wertes umlaufender Phraseologie treffen. »Sie sagen’s wohl und tun’s nicht« (Matth. 23,3). In diesem Licht wird all der Flitter und Schein abfallen, durch den die Selbstgerechten vor anderen etwas zu sein gedachten. Sein Auge wird keine Grenze kennen, es wird keine Finsternis geben, in die wir uns noch flüchten könnten, »daß auch in uns, im Innersten unserer selbst kein Raum mehr bleibt, wohin wir vor Gott fliehen könnten« (Luther Römervorlesung II S. 43,22). Die Weltgeschichte und – nach einem zwingenden Schluß vom Ganzen aufs Einzelne – auch die Lebensgeschichte eines jeden Menschen geht einer schonungslosen, unausweichlichen Offenbarung entgegen. Denn sie geht Jesus entgegen und Jesus ist die Offenbarung aller Dinge. So ist er das Licht der Welt. Die Tatsache seiner irdischen Gegenwart ist die Garantie, daß wir seiner Offenbarung nicht entgehen werden. Sie hat bereits begonnen, die Welt unter ihr Licht zu stellen. Wir sind bereits offenbar! »Darum legt die Lüge ab und redet die Wahrheit« (Eph. 4,25). Aber Jesus will nicht, daß wir bei dieser – irgendwie selbstverständlichen, nicht weiterführenden – Erkenntnis von der Automatik der mit ihm einsetzenden Gerichtsoffenbarung stehen bleiben. Seine Gleichsetzung von letzter, endgültiger Wirklichkeit einerseits und Offenbarung andererseits hat noch eine andere, eine positive Seite. Was ihr in der Finsternis sagt, das wird man im Licht hören. Das ist der Weg der Freudenbotschaft, die aus stillen Kammern und einem Winkel der Welt ins Licht der Öffentlichkeit dringt. Sorget nicht, wie ihr das heimlich euch ins Ohr Geredete kund machen werdet. Es wird öffentlich werden. Es wird von den Dächern her laut werden, ohne euer Zutun. Das ist wieder die Automatik der Offenbarung, aber nun so, »daß die Nacht vorgerückt und der Tag nahe herbeigekommen ist« (Röm. 13,12). Es gibt eine innere Dynamik des Wortes im Ablauf der Zeiten. Was am See Genezareth begann, mußte laut werden in Jerusalem. Und was in Jerusalem geschah, mußte laut werden in Rom. Was der Bischof von Rhegium im Barbarensturm niederschrieb, mußte einmal zum Handbuch Karls des Großen werden und was als Wittenberger Mönchsgezänk ins Dunkel abge-
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drängt werden sollte, mußte vor Kaiser und Reich verhandelt werden. Das Wort läuft wie eine Zündschnur, die an einer Stelle angebrannt ist. Eines Tages wird die Welt merken, daß sie unterminiert ist. Darum dürfen alle Wahrheitszeugen aus diesem Worte Jesu ihre Zuversicht schöpfen: auch wenn ihr Mund verstummt, die Offenbarung dringt doch an den Tag! Es predigt. Es wird kund vor aller Welt. Das ist die andere, die nicht mehr selbstverständliche, die allem Anschein zum Trotz zu glaubende Seite aus der unaufhaltsamen Dynamik der Offenbarung. Es ist die Oster- und Auferstehungsseite dieser mit Jesus und durch Jesus unter uns begonnenen Gottesgeschichte. Wenn es so weit kommt, wenn sie – die Welt! – merkt, was die Jünger Jesu zu sagen haben, wenn es aus den Kammern auf die Dächer kommt und aus den Kirchen in die Parlamente, wenn das Wort das Ghetto zerbricht, in das die Welt – in seltsamem Einverständnis mit den ihr sonst gar nicht angenehmen Pharisäern – das Wort des Lebens einzuschließen trachtet, dann kann man das Fürchten lernen. Dann werden sie sich an diejenigen halten, an die man sich in solchem Falle allein halten kann: an die Menschen, die seinen Namen tragen! Denn ihn, Jesus Christus, können sie nicht mehr umbringen. Darum spricht er jetzt zu seinen Freunden: Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten und danach nichts mehr tun können. Denn wenn jener Unterschied der beiden Sphären, des Privaten und des Öffentlichen, des Kirchlichen und des Politischen durchbrochen wird – in der Dynamik des dem Siege entgegengehenden Wortes – werden sich die Gegenspieler nicht lange hinter dem Berge halten. Der Aufbruch des Wortes, mitten hinein in die Öffentlichkeit dieser Welt, mobilisiert auch die Kräfte, die dort ihren Thron errichtet haben. Ihr Aufmarsch wird durchaus so sein, daß die Jüngerschaft Furcht ergreift. Wie sollte sie nicht! Für diese anfechtungsvollen Stunden und Zeiten gibt Jesus seinen Freunden eine Regel mit auf den Weg, die Ohnmacht dieser Mächtigen zu begreifen. Wenn sie den Leib getötet haben, sagt er, ist ihre Macht zu Ende. »Mehr können sie nicht.« Wir werden uns hüten müssen, daraus eine Allerweltsweisheit zu machen, eine verzweifelte Banalität für verzweifelte Buben, die, darum wissend, daß der Tod sie der Macht der Menschen entzieht, diesen Sprung in den Abgrund tun, wenn der irdische Richter sie zur Rechenschaft ziehen will. Es ist sicher keine gute Sache, mit dieser ultima ratio zu leben, auch dann nicht, wenn es der Rat der Weisen und der Könige sein sollte. Nicht das hat Jesus gemeint, daß der Jünger es in der Hand hätte, in ausweglosen Lagen den Tod zu wählen oder auch, ihn nicht zu fürchten. Er will die Furcht nicht wegnehmen, sondern verschärfen. Er will die natürliche Todesfurcht überhöhen durch eine um
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so viel überlegenere Furcht als die Ewigkeit der Zeit unvergleichlich überlegen ist. Jesus setzt – anders als der Stoiker und anders als der moderne Materialist – Furcht gegen Furcht. Gottesfurcht gegen Menschenfurcht! Die Gottesfurcht hebt die Menschenfurcht auf. In ihr findet der Jünger seine Freiheit und Überlegenheit wieder, die er angesichts der bedrohlichen Lage seiner selbst zu verlieren in Gefahr war. Jesus setzt den Tod, der von Gott her droht, den Gerichtstod, gegen den anderen Tod, der uns von den Menschen her begegnet. »Daß uns werde klein das Kleine und das Große groß erscheine.« Wer Gott fürchtet, ist der Weltangst entkommen. »Fürchte Gott und halte seine Gebote« (Pred. 12,13). Das ist das älteste und probateste Mittel, sich der Angst zu entziehen. Wer Gott nicht fürchtet, den wird keine Psychologie und keine Therapeutik von dieser »Weltangst« heilen. Aber Furcht Gottes und Furcht Gottes ist zweierlei; und hier liegt der Knoten, dadurch diese Lehre zweideutig und rätselhaft wird. »Wir fürchten alle Gott, sprechen mit Ehrerbietung von ihm, hören mit Ehrerbietung von ihm sprechen usw. und tun uns wohl auch bei der und jener Gelegenheit mit seiner Furcht einigen Zwang an, und übrigens bleibt alles beim alten … Das war aber auch nicht die Furcht Gottes der Altväter, die uns in der Schrift zum Muster dargestellt werden. Denn bei denen war die Gottesfurcht nicht Bedienter hinten auf dem Wagen, sondern Herrschaft und Kutscher zugleich. Ihnen war nichts so innig und heilig als sie, nichts so sauer, das sie ihretwegen nicht getan, nichts so süß, das sie ihretwegen nicht gelassen hätten … Die wahre Furcht Gottes muß Empfindung, muß Wahrheit in uns sein; dann ist sie wohltätig in ihren Einflüssen und wunderbar in ihren Wirkungen mehr und anders als wir meinen oder verstehen« (M. Claudius). So haben wir es selbst erlebt, daß Gottesfurcht hilft, wo keine Klugheit mehr Rat weiß. Es gab in Deutschland, als Hitler an die Macht kam, viel kluge und gebildete Menschen, die sahen, was für ein Unheil sich hier zusammenbraute. Warum unterwarfen sich so viele dem trügerischen Schein der hohlen Worte? Wir erkannten damals, was wir solange vergessen hatten, verwöhnt durch das Fehlen echter Anfechtungen, daß zur Wahrheit Mut gehört, und zwar ein Mut, der von jenseits des Todes her gewonnen sein will. Und weil die »Klugen und Weisen« einen nur auf das Diesseits bezogenen Wahrheitsbegriff hatten, weil sie längst das Kreuz und seine Wahrheit aus ihrem modernen, optimistischen, philosophischen Weltbilde entfernt hatten, darum knickte der göttliche Dreschschlitten, der über die europäische Landschaft dahinging, unsere geistigen Freiheiten wie der Sturm einen morschen, entwurzelten Wald. In diesen Tagen ist das Wort Jesu bei seinen »Freunden« wieder zu Ehren gekommen, und es wäre seltsam, wenn diese Anfechtung schon vorüber wäre.
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Jesus sagt hier, daß es nur einen Weg und nur ein Mittel gibt, Menschenfurcht hinter sich zu lassen, das ist die Furcht vor dem, der, nachdem er (hören wir wohl: Er – nicht die Menschen!) getötet hat (so drückt sich unser Evangelist aus, um für die heidnisch-griechischen Leser, für die er schrieb, die Sache noch einmal ein wenig härter zu machen), auch Macht hat, den ewigen Tod zu verhängen. Ja, ich sage euch, vor dem fürchtet euch. Jesus sieht hinter dem Bild des leiblichen Todes die Realität des Todes selbst. Das, sagt er, ist in der Tat das Schreckliche, das ist die Schwelle, wo es kein Zurück gibt. Hier geht es in der Tat ums Leben, wo es um Gott geht, nicht da, wo es euch ums Leben zu gehen scheint. Er sagt das nicht, um Furcht zu machen vor der Hölle, sondern um Gott groß zu machen. Gott ist der Herr über diesen Abgrund. Das heißt also: wenn die Jünger klug sind, dann werden sie damit rechnen, daß Gott und nicht ein Mensch entscheidet über Heil und Verdammnis. Mögen die Heiden ihre Weltangst zu bannen suchen durch Aufgipfelung immer neuer Sicherheiten – schließlich gilt immer noch: »Rosse sind Fleisch und nicht Geist« (Jes. 31,3) – wahrhaft beständig und frei macht allein die Gottesfurcht, jene grenzenlose Unsicherheit, die doch grenzenlose Sicherheit ist. Die Gottesfurcht macht die Jünger Jesu frei von dem, was der Mann auf der Straße den Zufall nennt, was die Alten Fatum nannten und was als Fatalismus eine große gottwidrige Macht unter den Menschen unserer Tage geworden ist. Jesu Jünger können wieder Gott ihren Herrn sein lassen. Der eherne Himmel des Schicksals, unter dem die Heiden leben, ist zerrissen – Jesus hat ihn zerrissen – und sie leben nun unter dem offenen Himmel, das heißt unter Gottes gnädiger Vorsehung. Jedenfalls von Gott her – so meint es Jesus hier – könnten sie so leben. Von Gott her ist kein Hinderungsgrund einzusehen, warum den Menschen nicht die Sperlinge ein Beispiel und Vorbild sein können. Darum fürchtet euch nicht, denn ihr seid besser denn viele Sperlinge. Wollt ihr nicht das große Geheimnis und Rätsel von Sein und Nichtsein, den Grund und die prima causa aller eurer Menschenfurcht, in die Hand zurücklegen, in der es in Wahrheit liegt? Wollt ihr nicht unter seiner Providenz sicher und frei über die Erde schreiten, wollt ihr nicht eintreten in das Land, da Frau Sorge nicht mehr Königin ist, in euer Kinderland, das euch näher liegt, als ihr denkt. Einen Schritt nur – und die Welt um euch her verwandelt sich in Gottes Welt und Gottes Reich. Und dieser eine Schritt, erschreckend und beseligend zugleich, ist das Bekenntnis, das Bekenntnis von Jesus. Zu ihm als dem Gekreuzigten und Auferstandenen. Zu ihm als dem Herrn der ganzen Welt. Zu ihm mitten im Prätorium des heidnischen Cäsars und zu ihm auf der Akropolis von Athen. Zu ihm, ob sich die Zeichensüchtigen daran ärgern und die Phi-
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losophen uns für Toren halten. Zu ihm als der Ohnmacht Gottes, die mächtiger ist als die Pforten der Unterwelt, zu ihm als der Torheit Gottes, die zum vergeblich gesuchten Stein der Weisen geworden ist. Wer mich bekennt vor den Menschen, den wird auch des Menschen Sohn bekennen vor den Engeln Gottes. Wer mich vor dem irdischen Tribunal bekennt – Günther Bornkamm hat uns das gezeigt, daß »die Menschen« in diesem Spruch Jesu die Repräsentanten des öffentlichen, staatlichen, geistigen Lebens sind – den wird der Weltenrichter (der wiederkehrende Christus) vor dem himmlischen Tribunal bekennen. Denn die Engel vollziehen das Endgericht. Bekennen heißt: sich zu jemandem bekennen. Eine Sache an einen Namen binden. Und in diesem Namen die Sache bezeugen. Sich zu Jesus bekennen, heißt die Sache Gottes und seiner Herrschaft an diesen Namen binden und in diesem Namen und keinem anderen die Sache Gottes, seine Gerechtigkeit und Wahrheit bezeugen. Unser Eintreten für ihn – im irdischen Rechtsstreit – wird einmal eingelöst und aufgewogen durch sein Eintreten für uns im himmlischen Rechtsstreit. Da, wo es um Tod und Leben im Sinne einer endgültigen, einer irreparablen Entscheidung geht! So leuchtet in den Stunden höchster Not über den Zeugen seines Namens eine Verheißung (bzw. eine Drohung) auf, die das Schwerste leicht, das Unmögliche möglich macht. Der Himmel ist der Erde so nahe und die Erde dem Himmel, das letzte Gericht dem vorletzten und das vorletzte dem letzten, das Rettende dem Gefahrvollen und das Gefahrvolle dem Rettenden, der Abgrund ist so tief und der Punkt, der uns vor ihm bewahrt, so nahe – daß, noch einmal sei es betont, von Gott her alles getan und gesagt ist, um den Jünger seiner Sache gewiß zu machen. Dieses Bekenntnis hat eschatologischen Charakter. Hier korrespondiert dem Bekennen auf Erden ein Bekennen im Himmel, dem geschichtlichen Bekennen in der Zeit ein übergeschichtliches am Ende der Tage. Nicht auf die Mathematik theologischer Lehrgesetzlichkeit ist das Bekenntnis der Christen gegründet, sondern auf die angewandte Mathematik, auf die scientia practica, wenn du wie Petrus im Hofe stehst, während oben dein Herr zerschlagen wird, und die Magd dich greift: Du warst doch auch mit diesem Jesus von Nazareth – oder wenn das Synhedrium dich zitiert und dir verbietet, weiter das Kreuz Christi als den Sieg Gottes zu verkünden in den Straßen der Stadt, wo sie ihn hingerichtet haben – oder wenn sie dir die Christusidee lassen wollen, aber nicht den ins Fleisch gekommenen Herrn, den Davidssohn, den zu Bethlehem geborenen König der Juden – oder wenn das Festhalten am Namen Jahwe dir das Leben kostet, weil die Heidengötter seinen Namen ausgemerzt wissen wollen, um noch einmal auf Erden zu herrschen – dann erst begreifen wir, was es heißt: Wer mich bekennt vor den Menschen! Al-
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les, was wir Bekenntnis nennen und was uns als solches von den Vätern in der Christenheit überkommen ist, dürfte aus solchen Krisen geboren sein und ist Wegmarkierung, Beispiel und Ermutigung für die zu erlernende Jüngerschaft Jesu. Nicht auf das Bekenntnis an sich kommt es an, das sind oder können sein leere Formeln, tötender Buchstabe, ein Leichnam, den die Tendenz hinter sich gelassen (Hegel). Endzeitliche, vor Gott gültige Relevanz hat das Bekenntnis nur, wenn es Bekenntnis zu Jesus ist. Wenn in diesem Namen die Sache Gottes in ihrem Entweder-Oder festgehalten wird. Jesus bekennen oder ihn verleugnen, mit diesem Entweder-Oder zerreißt der Vorhang zwischen Zeit und Ewigkeit. Es ist das einzige EntwederOder, das die Schrift gelten läßt, das einzige, welches Sinn hat. Denn schließlich heißt ja Entweder-Oder immer, daß die Zeit aufgenommen ist in die Ewigkeit. Es gibt so viele falsche Entweder-Oder, zerstörende, hoffnungslose, nihilistische Entscheidungen, in die man uns zwingen will. Dann sollten wir es dem Elias gleichtun und in der Höhle bleiben. In diesen Stürmen ist Gott nicht. Auch mit dem Bekenntnis zu Jesus haben die Menschen, die Christen, oftmals gerade die frommen Menschen ihr falsches, menschliches, fanatisches, aus dem Bruderhaß und nicht aus der Menschenliebe geborenes Entweder-Oder verbunden. Wieviel Entehrungen seines Namens sind unter seiner Gloriole durchgeführt. »Christus non illuditur nisi in purpura« (Luther). Christus wird nirgends so gut verspottet, als wenn sie ihm einen Purpurmantel umlegen. Darum noch einmal: hütet euch vor der Heuchelei. Nur keine falschen, keine selbstgemachten Entweder-Oder, auch keine scheinbar christlichen, keine solchen, bei denen ihr von vornherein auf der richtigen Seite steht, keine solchen, bei denen ihr das letzte Wort, das erst fallen wird, Sein Wort schon vorwegnehmt. Was wirklich Bekennen und was Verleugnen heißt, darüber steht das Urteil noch aus. Es liegt in der Hand des Weltenrichters, der kommen wird. Es bleibt seine Entscheidung, der wir entgegengehn. Wir Menschenkinder können, auf dieses Entweder-Oder gesehen, nur mit Furcht und Zittern beten: »Daß, wenn du, o Lebensfürst, prächtig wiederkommen wirst, ich dir mög’ entgegen gehn und vor dir gerecht bestehn.«
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Lukas 12,13-14 Es sprach aber einer aus dem Volk zu ihm: Meister, sage meinem Bruder, daß er mit mir das Erbe teile. Er aber sprach zu ihm: Mensch, wer hat mich zum Richter oder Teiler über euch gesetzt? Das ist ein »echter« Lukas. Dieser Spruch von dem Mann aus der Menge, der Jesus zum Erbschlichter in einer Familienauseinandersetzung mit seinem Bruder haben möchte, und das darauf folgende Gleichnis vom reichen Kornbauern. Es gibt Bilder, von denen wir auf den ersten Blick wissen, sie sind »echt«, man spürt es ihnen an, daß man hier vor einem Original steht. Das ist »ein echter Dürer«, so sagen wir wohl dann. Es liegt etwas Unmittelbares in solchen Bildern, das für sich selbst spricht. Ähnliche Dinge gibt es nun auch in den ersten drei Evangelien. Vieles haben sie miteinander gemeinsam, Matthäus, Markus und Lukas. Hier haben sie wohl gemeinsame Überlieferungen gehabt, die uns nicht mehr erhalten sind. Aber dann gibt es Stücke, die sind ihnen eigentümlich. Aus denen kann man entnehmen, was sie in der Verkündigung Jesu am meisten beeindruckte, wo eigentlich das Herzblut des einzelnen Evangelisten pulsiert. So gibt es Geschichten und Jesusworte bei Lukas, die nur er der Nachwelt überlieferte. Das ist »sein« Evangelium. Wenn man unseren Evangelisten ein wenig genauer liest, wenn man den Aufbau seines Evangeliums mit dem der anderen vergleicht oder vor allem den Reisebericht 9,51-18,14 sich etwas aufmerksamer ansieht, diesen gescheiterten Versuch des ersten »Historikers« (er hat als Rahmen die »historische« Methode auf die Rekonstruktion des Lebens Jesu anzuwenden versucht und ist »trotzdem« in das Neue Testament aufgenommen worden), den »Orten und Wegen« Jesu nachzugehen, wird man schnell ein Auge dafür gewinnen, was ein »echter Lukas« ist. (Wer mehr davon wissen will, nehme sich A. Schlatters Lukas-Kommentar zu Hilfe.) Aber weiter kommen wir leider nicht. Lukas hat diese Geschichten gesammelt, aber wer hatte sie ihm berichtet, in welchen seltsamen Christengemeinden hat er diese herrlichen Gleichnisse und diese scharfen Jesusworte entdeckt? Wo hat man neben den Seligpreisungen die Weheworte – als Verschärfung – aufbewahrt? Warum haben andere sie weggelassen? Wo hat man sich nicht gefürchtet, der Nachwelt davon zu berichten, wie hart Jesus über den Reichtum urteilt, wie ernst er warnt, den Gegensatz von reich und arm für ethisch indifferent zu halten, für etwas dem Menschen Äußerliches. In den lukanischen Gleichnissen werden wir eines anderen belehrt (Luk. 16,25). Reich und arm
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sind keine »Zufälligkeiten« des menschlichen Lebens, wie die Griechen auf Grund ihrer philosophischen Ansicht von Menschen (des allein auf sich gestellten Menschen!) lehrten, sondern Reichtum ist eine Gott feindliche Macht, die sich zwischen Gott und den Menschen schiebt, er kann es ja nicht nur sein, er ist es. Wo er diese Wirkung nicht hat, wo Blindheit für Gott und den Nächsten nicht seine natürliche, für den Träger des Besitzes verhängnisvollen Folgen sind, da ist es allein der Nähe des Reiches Gottes, das heißt, Gottes Gnade und Allmacht zu verdanken (Matth. 19,26). Und doch hat sich Jesus nicht an dem im Kleinen wie im Großen entfachten Streit um Mein und Dein beteiligt, wie das der Mann wollte, der mit seinem Bruder um das Erbteil hadert. Wer hat mich zum Erbschlichter (= Teiler, Schiedsrichter) über euch gesetzt? Wir werden uns also hüten müssen, Jesus und seine Verkündigung hineinzuziehen in unsere höchst armselige, höchstens als Interimsmoral zu rechtfertigende Ordnung des Besitzes und des Eigentums, in jene Kämpfe, die in der Einzel- wie in der Völkerfamilie um die »Erbschaft« ausbrechen und Brüder zu Feinden machen. Jesus kommt nicht in die Welt, um unsere höchst fragwürdigen Rechtsordnungen zu sanktionieren, durch die wir leben oder in denen wir vielmehr – von Jesus aus gesehen – das Leben verfehlen. Denn Abhängigkeit des Lebens von Besitz, diese furchtbare Umkehrung, die das Wunder des Lebens, die veneratio vitae, die Ehrfurcht vor dem Leben (A. Schweitzer) untergehen läßt in der Sorge um Besitz und Arbeit, Produktion und Planung, diese Sünde am Leben, die den Reichen zum blinden Toren macht und den Armen seine Nähe zum Gottesreich verfehlen läßt – sie zu strafen ist Jesus in die Welt gekommen, zu Menschen, die nicht mehr »wie die Kinder« leben, damit sie wieder den Vater im Himmel erkennen, dazu wird er jetzt – als Richter angesprochen – das Wort nehmen.
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Lukas 12,15-21 Und er sprach zu ihnen: Sehet zu und hütet euch vor dem Geiz; denn niemand lebt davon, daß er viele Güter hat. Und er sagte ihnen ein Gleichnis und sprach: Es war ein reicher Mensch, des Feld hatte wohl getragen. Und er gedachte bei sich selbst und sprach: Was soll ich tun? Ich habe nicht, da ich meine Früchte hin sammle. Und sprach: Das will ich tun: ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen und will drein sammeln alles, was mir gewachsen ist, und meine Güter; und will sagen zu meiner Seele: Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat auf viele Jahre; habe nun Ruhe, iß, trink und habe guten Mut! Aber Gott sprach zu ihm: Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern; und wes wird’s sein, das du bereitet hast? Also geht es, wer sich Schätze sammelt und ist nicht reich in Gott. Jahr um Jahr wird das Evangelium vom reichen Kornbauern am Erntedankfest verlesen. Mitten hinein in die Freude und das Glück über die Ernte, eine Freude, die wir wohl alle verstehen, denn wir haben erfahren, was Hunger und Hungersnot bedeutet – aber mitten hinein in dieses Glück der Geborgenheit erklingt eine Warnung. Der Tod wird sichtbar als Grenze aller unserer Möglichkeiten des Sammelns und Sorgens. Das Erntefest und der Tod – das ist eine seltsame Zusammenstellung. Und doch ist das wohl der Sinn jener Ordnung, die unser Evangelium gerade für diesen Tag zur Lesung bestimmt hat. Und tut sie nicht recht daran? »Der Tod ist ’n eigner Mann. Er streift den Dingen dieser Welt ihre Regenbogenhaut ab und schließt das Auge zu Tränen und das Herz zur Nüchternheit auf! Man kann sich freilich von ihm auch verblüffen lassen und des Dinges zuviel tun, und gewöhnlich ist das der Fall, wenn man bis dahin zu wenig getan hat. Aber er ist ’n eigner Mann, und ein guter Professor Moralium! Und es ist ein großer Gewinn, alles was man tut, vor seinem Katheder und unter seinen Augen zu tun« (Matthias Claudius, Über einige Sprüche des Prediger Salomo). Jahr um Jahr wird über unser Gleichnis gepredigt, hin und her im Lande, aber was geschieht? Was müßte denn geschehen? Es müßten unsere vollen Scheunen, so bedeutsam sie sind, dennoch ganz klein, ganz bedeutungslos werden – wenn wir nämlich dieses Gleichnis Jesu recht begriffen hätten – vor dem Kreuz, das allein groß und erhaben und wirklich eine Stätte des Friedens zu heißen verdient. Der Bauersmann in unserem Text sagt zu sich selbst – und er wendet sich damit an sein eigenes Ich, an das, was in seinem Innern fragend, sorgend, wachend, fürchtend pocht und klopft und
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damit offenbar macht, daß er da doch noch eine Stimme in seinem Innern hat, die wie ein Vogel im Käfig hin und her flattert und sich müde stößt an den Gitterstäben eines goldenen Gefängnisses – also zu diesem seinem besseren Selbst sagt dieser Bauersmann: Du hast, was du suchst. Vorrat auf viele Jahre. Laß Hungersnot kommen, dich wird es nicht erreichen. Laß Tausende umsinken zu deiner Rechten, Zehntausende zu deiner Linken, dich wird nichts treffen. Iß und trink und sei fröhlich. Ach, wenn dieser Mann seinen Frieden an einer anderen Stelle gesucht hätte, wenn er sich auf den Hügel von Golgatha gestellt und er von da aus erkannt hätte, wie klein, wie hinfällig, wie nichtig all diese Dinge sind, hinter denen wir Menschen Schutz suchen, von denen wir Frieden und Heil erwarten, und er hätte hier zu dieser fragenden, suchenden, noch nicht ganz erstorbenen Stimme in sich selbst gesprochen: Der ist dein Friede! – wäre er dann immer noch der Tor gewesen, der erschrecken mußte, wenn plötzlich in der Nacht der Tod ihn ruft? Jesus Christus geht ans Kreuz und bezahlt sein Blut, auf daß wir gerettet würden. Jesus läßt seine Blicke über die Welt gehen, sieht das arme und zerschundene Volk, sieht die Herde, die keinen Hirten hat, sieht sie angstvoll und zitternd zusammenbrechen – und sagt zu seinen Jüngern: Die Ernte ist groß (Matth. 9,37). Wenn Jesus von Ernte redet, dann meint er das nahe Ende der Welt (Matth. 13,39). Jesus sieht die Welt einer großen Ernte entgegenreifen, er hört bereits die Engel des Himmels, die ihre Sichel zum Schnitt ansetzen, er sieht uns alle von den kommenden, großen Gerichten Gottes bedroht und angefochten. Er sieht uns verlassen und von Angst geschüttelt. Er sieht jenen Tag der Ernte kommen, da die Spreu vom Weizen gesondert wird. Er weiß, daß die Welt in dieser ihrer letzten Zeit einen Hirten nötig hat, der die Schlüssel der Hölle und des Todes in Seiner Hand hält. Nur der Bauersmann sieht das alles nicht. Er hört die Sichel des Todes nicht, die noch heute Nacht durch sein volles, saftiges, sattes Leben schneiden wird. Er hört nichts und sieht nichts, weil seine vollen Scheunen, die gebauten und die noch geplanten, ihm den Blick verstellen, er sieht die Flut nicht, die bereits in seinen eigenen Hof hineinspült. Er begreift nicht, daß die Ernte uns an den Abschluß unseres eigenen Lebens, an die Rechnung erinnert, die von uns verlangt werden wird. Er sieht den Tod nicht, der sich hinter seinen Scheunen versteckt hält. Als Kinder lernten wir den Spruch: »Und wisset, daß ihr nicht mit vergänglichem Silber und Gold erlöst seid von eurem eitlen Wandel nach väterlicher Weise, sondern mit dem teuren Blute Christi als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes«. Luther hat ihn eingesetzt in seine Erklärung des 2. Artikels, um uns das »gelitten, gekreuzigt, gestorben und
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begraben« eindrücklich zu machen. Das ist der Preis, der gezahlt werden mußte, »damit wir Frieden hätten«. Sollte nicht dieses Wort aus dem 1. Petrusbriefe etwas zu tun haben mit dem Erntedankfest, mit den vollen Scheunen, mit der Torheit des reichen Kornbauern, mit den dunklen und verborgenen Beziehungen und Bindungen, die von den vollen Scheunen zu einer Seele hin- und hergehen und diese so satt und sicher machen? In allen Gleichnissen redet Jesus von sich. Alle Gleichnisse sind nur Rätselworte, die uns hellhörig machen sollen für die Geschichte, die mit Jesus, mit Seiner Geschichte, über uns und die ganze Welt gekommen ist. Ahnt der alte Mann, der hier seine Sicherheit und seinen Frieden bei dem sucht, was er hat, ahnt er denn nicht, daß Jesus gekommen ist, ihm etwas zu schenken, was er nicht hat, daß Jesus gekommen ist, seine goldenen Fesseln zu zerschneiden und ihn reich zu machen in Gott? Jesus hat auch diesen törichten alten Narren, der seine Scheunen nicht groß genug bauen konnte und dabei vergaß, daß wir alle in diese Welt nichts hineingebracht haben, darum auch nichts mit hinausnehmen werden – Jesus hat auch diesen alten Mann, den wir längst aufgegeben haben, über den wir lachen oder die Fäuste ballen und dem wir dann doch selbst so leicht ähnlich werden, wenn die Gelegenheit dazu da ist, auch ihn hat der Herr in sein Evangelium eingeschlossen. Der reiche Kornbauer gehört ins Evangelium des gekreuzigten und auferstandenen Heilandes. Denn noch ist es Zeit, klug zu werden und frei zu werden. »Jesus ist kommen, der starke Erlöser.« Jesus hat die Fesseln durchschnitten, die jeden von uns an das binden, was wir haben, und das »nicht mit Gold oder Silber«! Ist doch Jesus dazu von Gott unter uns gesandt, damit wir nicht mehr sagen: Hier hast du gute Ruh! – und dabei denken wir an unsere Häuser und Scheunen, an den Erntesegen aller Art, an die Arbeit und Leistung, die unseren Namen trägt, an Ruhm und Ehre, Geld und Ware, Weib und Kind. Jesus stört diese Ruhe. »Ich bin gekommen, ein Feuer anzuzünden auf Erden.« Dazu ist Jesus unter uns Menschen getreten. Wer ihm nahekommt, kommt dem Feuer nahe, und in diesem Feuer versengen die härtesten Fesseln. Es brennt, es tut oftmals sehr weh, aber hernach begreifen wir, daß hier Fesseln fallen und Fesseln fallen müssen, daß der Durchgang durchs Feuer das Tor zur Freiheit ist. Wenn der reiche Kornbauer nur still hielte, wenn er nur jetzt nicht die Augen zumachte, da der Blitz von oben seine Lage so grell beleuchtet und ihm zeigt, wie arm er ist in all seinem Reichtum, wenn er sich mit hineinziehen ließe in das Feuer, das Jesus in seinem eigenen Herzen anzünden möchte, dann könnte auch er noch ein freier, froher, gütiger und kluger Mensch werden, der dann nicht im Nachsinnen über seinen Besitz mit sich selbst Monologe hielte, wie er es immer
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höher und höher treiben könne, sondern der etwas lernen würde von der Kunst, sich Freunde zu machen mit dem Mammon der Ungerechtigkeit und Beutel zu füllen, die ihren Wert nicht verlieren, wenn der Tod uns nackt auszieht. Einmal muß jeder reiche Mann das Feuer kosten. Wir wissen, daß der Mann, der den Herrn Christus in der Gestalt des armen Lazarus vor seiner Tür nicht erkannt hatte und darum erst klug wurde, als es zu spät war, hernach ganz allein dies Feuer zu schmecken bekam und wir kennen sein verzweifeltes Bitten aus dem Abgrund seiner Qual. Hütet euch vor dem Geiz. Wir verstehen, daß dies ein guter Rat ist, ein Rat, den Jesus uns gibt, weil er uns so herzlich und unbestechlich lieb hat. Er sieht die Gefahr, die dem Menschen von seinem Besitz her droht. Er sieht, daß Besitz ein Name ist für falsche Sicherheit. Auf einmal bricht diese dünne Decke durch und eine Lohe schlägt uns entgegen aus abgründiger Tiefe. Wir müßten nicht groß geworden sein in Revolutionen und Umwälzungen, um nicht wenigstens einen Hauch von dieser »Hölle und Qual« verspürt zu haben, die sich dann für die armen reichen Leute auftut. Der reiche Kornbauer aber hat noch Zeit. Wenn er weiß, daß er ins Evangelium gehört, wenn er die Hand nicht zurückstößt, die so hart und doch so heilsam-fest nach ihm greift, wenn er sich führen ließe »hinauf nach Jerusalem«, vielleicht gerade heute am Erntetage seine Scheunen hinter sich ließe und sein Angesicht dorthin richtete, wo das Kreuz auf sie beide wartet, auf diesen Jesus, der hier mit ihm redet, und auf ihn, der gezeichnet ist als das Kind des Todes, wenn er im Gesetz die Gnade und im Ernst des Todes die Verheißung des Lebens begriffe – würde er dann nicht von jener Höhe, die das Kreuz bezeichnet, heimkehren als ein ganz anderer, arm geworden an dem, was er eben noch für Reichtum und Sicherheit hielt, aber nun erst reich im Sinne der Ewigkeit, reich in Gott? Er hat den Preis erkannt, den Jesus für ihn zahlte. Nun versteht er, was die Christenheit singt: Du bringst mich hoch zu Ehren, Und schenkst mir großes Gut, Das sich nicht läßt verzehren, Wie irdisch Reichtum tut. Wieder haben wir ein »Hütet euch« vernommen aus dem Munde des Herrn. Es ist der Mahnruf des Hirten, der die Seinen behüten will vor der Gefahr. Hütet Euch vor jeder Art von Habgier. Das ist die Quintessenz des Ganzen. Darum haben die Leute in jenen ersten Christengemeinden, die Lukas besucht hat, unsere Geschichte von Gottes Wort erzählt. So ähnlich, wie der
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Prophet Nathan dem König David die Geschichte von dem reichen Mann erzählte, der dem Armen sein einziges Schaf wegnahm – und der König David wußte gar nicht, daß das seine eigene Geschichte war. Wenn unser Gleichnis an dem dafür bestimmten Sonntag ausgelegt wird, dann sitzen wir unter der Kanzel und denken: Wie töricht von diesem Bauern, der meint, er könnte ewig leben! Wir halten es, wie im Theater: Wenn wir nach Hause gehen, sagen wir zu unserem Nachbarn, »ja, so ist das Leben, so sind die Bauern«. Aber so billig kommen wir doch nicht davon. Am Ende bekommst du doch noch den Schlüssel in die Hand; der Bauer verliert seine dir vielleicht sehr fremden Züge, er wird dir immer ähnlicher. Er wird wie ein Spiegel, in dem dein Leben im Lichte der Ewigkeit erscheint, und du hörst nur noch eins: hütet euch vor jeglicher Art von Habgier. Und wo eben noch der Kornbauer stand, steht auf einmal der Kaufmann oder der Mann, der durch Wissenschaft oder Heilkunst reich wurde, den Politik oder Journalistik zu Wohlstand brachte – ein Spiegel ist dieser Mann geworden für unser aller Torheit und ein Aufruf, unseren Reichtum als Armut zu begreifen und unsere Hände aufzutun wie ein Bettler, damit sie Jesus fülle mit den Gütern, die die Motten und der Rost nicht fressen. Zwei Worte sind aus dieser Mahnung noch zu klären, das Wort Habgier, das in der Lutherbibel mit Geiz übersetzt wird, und das Wort Narr, das wir mit »töricht« wiedergegeben haben. Die griechische Sprache hat hier ein Wort für Geiz, das wir im Deutschen schwer wiedergeben können; es heißt: das »Mehrhabenwollen«. Also dieses grenzenlose Streben nach Mehr, das in allem Schaffen und Produzieren, im privaten und staatlichen Kapitalismus wie eine Kraft, eine rastlose Bewegung drin steckt. Die Bibel meint, daß dies Mehrhabenwollen die Wurzel alles Bösen ist (1. Tim. 6,10). Wie aber müßte es dann um einen Menschen bestellt sein, der wirklich reich ist, reich in Gott? Müßte nicht ein solcher Mensch frei sein von dieser Unersättlichkeit des leeren, sich sorgenden, fürchtenden, nicht mehr denkenden Mehrhabenwollens? Müßte dieser Reichtum in Gott uns nicht fähig machen, mit den Dingen dieser Welt so umzugehen, wie sie gemeint sind? »Ein jegliches hat seine Zeit und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde« (Pred. 3). Müßten wir nicht lernen, arm in uns selbst, andere reich zu machen (2. Kor. 6,10)? War doch niemand ärmer als der Mann am Kreuz und gerade er und gerade so hat er alle Welt reich gemacht, reich an Schätzen, die niemand nehmen kann, die den Tod überdauern. Der Narr aber ist ein Mensch, der so lebt, als ob es keinen Gott und darum auch keinen Tod gäbe. Wir kennen das Wort aus den Psalmen und aus den Sprüchen der Weisheit im Alten Testament. Der Narr ist einer, der so denkt,
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redet, handelt, urteilt als ob es keinen Gott gäbe (Ps. 14,1). Wie Frömmigkeit und Klugheit Hand in Hand gehen, gehörten auch Gottlosigkeit und Torheit zusammen. Die Gottlosigkeit ist die Torheit der Menschen, ist die Blindheit, durch die sich auch die Weisen und Klugen unter ihnen – und sie oft am verhängnisvollsten – verrechnen. Denn »die Furcht Gottes ist der Weisheit Anfang« (Spr. 9,10). Darum sollten wir darauf achten, daß der Tod in unserem Gleichnis als Stimme Gottes vernommen sein will, denn nicht die Todesfurcht an sich macht weise, sondern die Einsicht, die im Tode die Stimme Gottes vernimmt und ihn allein fürchtet.
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Lukas 12,22-34 Er sprach aber zu seinen Jüngern: Darum sage ich euch: Sorget nicht für euer Leben, was ihr essen sollt, auch nicht für euren Leib, was ihr antun sollt. Das Leben ist mehr denn die Speise, und der Leib mehr denn die Kleidung. Nehmet wahr der Raben: sie säen nicht, sie ernten auch nicht, sie haben auch keinen Keller noch Scheune; und Gott nähret sie doch. Wieviel aber seid ihr besser denn die Vögel! Welcher ist unter euch, ob er schon darum sorget, der da könnte eine Elle seiner Länge zusetzen? So ihr denn das Geringste nicht vermöget, warum sorget ihr für das andere? Nehmet wahr der Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch aber, daß auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht ist bekleidet gewesen als deren eines. So denn das Gras, das heute auf dem Felde steht und morgen in den Ofen geworfen wird, Gott also kleidet, wieviel mehr wird er euch kleiden, ihr Kleingläubigen! Darum auch ihr, fraget nicht darnach, was ihr essen oder was ihr trinken sollt, und fahret nicht hoch her. Nach solchem allem trachten die Heiden in der Welt; aber euer Vater weiß wohl, daß ihr des bedürfet. Doch trachtet nach dem Reich Gottes, so wird euch das alles zufallen. Fürchte dich nicht, du kleine Herde! denn es ist eures Vaters Wohlgefallen, euch das Reich zu geben. Verkauft, was ihr habt, und gebt Almosen. Macht euch Beutel, die nicht veralten, einen Schatz, der nimmer abnimmt, im Himmel, da kein Dieb zukommt, und den keine Motten fressen. Denn wo euer Schatz ist, da wird auch euer Herz sein. Eine heidnische Sage erzählt von der Erschaffung des Menschen, daß eine Göttin, mit Namen Cura, auf deutsch: Frau Sorge, den Menschen geformt habe aus einem Stück Erde. Als sie ihr Gebilde aus Lehm geschaffen hatte, bat sie den Gott Jupiter, er möge ihm seinen Geist einhauchen. Jupiter tat das. Als nun das von Erde genommene Wesen zu leben begann, erhob sich ein Streit, wer ihm den Namen geben dürfte. Alle wollten es als ihr Eigentum reklamieren, der Gott, der den Geist gab, die Sorge, die die Gestalt fertigte, und die Erde, die den Stoff dazu hergab. Da trat Saturn, der oberste der Götter, hinzu und verfügte: »Du, Jupiter, weil du den Geist gegeben hast, sollst bei seinem Tode den Geist, du, Erde, weil du den Körper gegeben hast, sollst bei seinem Tode den Körper empfangen. Weil aber die Sorge dieses Wesen zuerst gebildet, so möge, so lange es lebt, die Sorge es besitzen. Weil aber über den Namen Streit besteht, so möge es homo (Mensch) heißen, weil es aus humus (Erde) gemacht ist.« Diese alte Sage
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von der Sorge und dem Menschen ist dann von Goethe aufgenommen und eingefügt worden in die Tragödie des Faust, in jener ergreifenden Szene am Ende seines Lebens, als Faust davon träumt, die Völker durch Arbeit frei und glücklich zu machen. Da tritt die Sorge in seine einsame Kammer. Sie haucht ihn an, so daß er erblindet. Er hastet weiter, seinem Ende entgegen. Er wähnt, daß der Klang der Spaten zu seinen Füßen das Fanal einer neuen Zeit des Glücks und der Freiheit werden wird, während er in Wahrheit das Werk der Lemuren ankündigt, die sein Grab schaufeln. Du Narr, diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern. Darum sage ich euch: Sorget nicht. Wir kennen den Spruch aus der Bergpredigt, wie wir sie bei Matthäus finden, wo er als Auslegung des Vaterunsers, das ihm vorangeht, vernommen wird. Hier bekommt die Mahnung des Herrn einen anderen Klang. Hier ist alles ausgerichtet auf das am Ende Kommende: Fürchte dich nicht, du kleine Herde. Es ist schon etwas in dem Ganzen zu spüren von der Kraft des Auferstandenen, wenn er, der Sieger durch die Macht des lebendigen Gottes, in die Kammer seiner Jünger tritt, die die Angst und die Sorge dort zusammengetrieben hat, und ihnen die Binde von den Augen nimmt, so daß sie seiner gewiß werden. Gerade von der Auferstehung Jesu her fällt ein starkes, helles Licht über die Torheit des Sorgens. Es ist, wie wenn der Morgen aufgeht und die Schatten der Nacht weichen müssen. Kein Wunder, daß die, die keine Hoffnung haben, von der Sorge übermannt werden; kein Wunder, daß in ihrem Herzen unablässig die Frage pocht: Was werden wir essen, was werden wir trinken, womit werden wir uns kleiden? Kein Wunder, daß von da her die blutigen Kämpfe der Menschen um die Futterplätze entbrennen; kein Wunder, daß die Sorge mit am Tische sitzt, wo Regierungen und Kommissionen diesen Wettstreit der Interessen zu regulieren suchen – was würde es bedeuten, wenn wir einmal allen diesen dunkeln Schatten den Rücken kehrten und unser Angesicht dem Osterfürsten zuwendeten, der mit dem Befehl in unsere Mitte tritt: Sorget nicht. Nur von jenseits des Todes her hat dieser Ruf Kraft und Sinn. Denn Auferstehung heißt: also ist das Leben doch mehr als die Speise und der Leib – er ist in diese große Wandlung eingeschlossen – mehr als die Kleidung. Auf das Mehr kommt es an. Was machen wir daraus? Was macht unsere Blindheit daraus? Wenn wir das Mehr – und das besagt die große, helle, überwältigende Hoffnung – streichen, dann degradieren wir die Lebensfrage zur Magenfrage und die Leiblichkeit unserer Existenz wird »ein Erdenrest, zu tragen peinlich«, den wir schamvoll zu verhüllen trachten. Von hier, vom Menschen, von diesem Kind der Sorge her, ist der Mißklang in den Lobgesang der Schöpfung eingedrungen und durchsetzt ihren Lobgesang,
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der vom größten bis zum kleinsten Stern tagtäglich angestimmt wird, mit Angst und Sorge. Weil wir das Mehr des Lebens und der Leiblichkeit, das über die Berechenbarkeit und Sichtbarkeit hinausreichende Stück unserer Existenz preisgegeben haben, darum ist nun die ganze Schöpfung ohne Mitte und ohne Herrschaft, darum müssen nun Blumen und Vögel unsere, des geistbegabten Menschen, Lehrer sein. So ist der Riß in die große Glocke gekommen, daß sie nicht mehr klingt, mögen Naturphilosophen und Dichter, Theologen und Prediger sie noch so eifrig schwingen. Der Anstoß, der sie neu zum Klingen und Schwingen bringen könnte, muß vom neuen Menschen ausgehen, von der neuen Welt Gottes, von der Auferstehung. Von da aus kommt der Ruf: Sorget nicht! Von da aus darf es heißen: Deus sive natura, Gott oder die Natur, von da aus wird die Natur die Stimme Gottes und die Stimme Gottes das Natürliche sein. Die Aufklärung hat die Sache in gefährlicher Weise verkürzt, sie hat nicht begriffen, daß der Punkt, um die Welt aus den Angeln zu heben, außerhalb dieses Äons liegen muß, sie hat die dritte Dimension in ihrer Theologie vergessen. Denn das Leben ist mehr als die Speise. Es ist darum mehr und nur darum mehr – weil es Totenauferstehung gibt. Weil der Mensch nicht vom Brote allein lebt, sondern von dem Wort, das von Gott her zu ihm – und nur und gerade zu ihm – kommt. Weil Gott nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebendigen ist. Erst die Sorge hat uns so blind gemacht, daß wir das Große und das Kleine vertauscht haben. Das Leben ist das Große und die Speise ist das Kleine, der Leib ist das Wunder und die Kleidung ist unsere Zutat. Der Sorge verfallen, das heißt, der Auferstehung und damit dem eigentlichen, nur vom neuen Äon her faßbaren Sinn des Lebens den Rükken kehren. Der Sorge verfallen heißt in den Schatten treten, den mein eigener Unglaube über meinen Lebensweg wirft. Die Sorge hat uns alle so blind gemacht, daß unser Tun ebenso hastig wie leer, unser Denken ebenso phantastisch wie ohnmächtig geworden ist. Was steckt denn hinter all den Plänen, den immer wieder neu gemachten, mit rührender Zuversicht im Osten wie im Westen über Trümmern und Totengebeinen ungebrochen und unverwandelt proklamierten Rettungs- und Sekuritätsplänen? Wer denkt sie aus und für wen werden sie ausgedacht? Die Sorge plant sie und sie sind geplant, um die Welt mit Sorge zu erfüllen. Hier spürt man nichts von dem Frühlingswehen der Auferstehung. Nichts vom neuen Menschen. Der Riß, die Disharmonie zu dem, was die Vögel unter dem Himmel und die Lilien auf dem Felde predigen, wird immer größer. Wir haben die Maße verloren, so daß wir am Ende Gottes Sache und unsere Aufgabe verwechseln. Die Sorge ist die Last des weißen Mannes geworden – und wer weiß, wie nahe ihm sein Ende ist.
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Sollten wir nicht daran gehen, nach neuen Maßen unser Dasein anzufassen, in seinen konkreten Sorgen und Bedrängnissen, in Gesellschaft und Haus, in Arbeit und Freizeit, sollten wir nicht versuchen, die Akzente wieder richtig zu setzen, die Rangordnung der Werte wieder herzustellen, wie sie eigentlich gemeint ist, das menschliche Dasein in allen seinen Fragen, den ideellen wie den materiellen, von den Gesetzen des Reiches Gottes und das heißt von der Auferstehung des Leibes her neu anzusehen und eine andere Überlegenheit zu beweisen, als wir sie bislang, gerade auch als Christen, an den Tag gelegt haben. Meinen wir nicht, daß dies auch eine Möglichkeit, ein Weg, ja der wirklich königliche Weg des Lebens wäre? Jesus ist darum gestorben und auferstanden, um uns zu helfen, daß wir Gottes Herrschaft unsere erste, vornehmste Sorge sein lassen. Muß denn noch mehr geschehen, um den Menschen nach dieser Richtung in Bewegung zu bringen? So bekommt das Lied der Vögel unter dem Himmel und der Schmuck der Lilien einen neuen, unromantischen, realistischen Sinn. Denn diese unerlöste Welt wartet ja auf die Offenbarung der Kinder Gottes, wartet auf den neuen Menschen, der nicht mehr im Schatten der Sorge, sondern im Lichte der Hoffnung lebt. Sie wartet darauf, daß Menschen sich erheben, die mit Wort und Tat beweisen, daß der Schleier der Sorge am Ostermorgen zerrissen ist wie der Vorhang im Tempel. Sie wartet darauf, daß wir wieder von der Mitte aller Dinge her leben, zentripetal und nicht zentrifugal, von der Herrschaft her, die Gottes Macht und Gnade kundtut, der gegenüber Sünde und Tod weichen müssen. Befehl und Verheißung liegt in dem Wort Jesu: Sorget nicht! Befehl an alle, die seiner Herrschaft trauen. Die begreifen, wer in Jesus mit uns redet. Und Verheißung der neuen Welt Gottes und des neuen Lebens, das in Jesus uns allen so nahe gekommen ist. »Wahrlich, eine Stätte der Genesung soll noch die Erde werden, und schon liegt ein neuer Geruch um sie, ein heilbringender und eine neue Hoffnung« (Nietzsche). »Darum, wenn du eine Nachtigall singen hörst, so hörst du den feinsten Prediger, der dich dieses Evangelii ermahnet, nicht mit schlechten bloßen Worten, sondern mit der lebendigen Tat und Exempel, weil sie die ganze Nacht singt und gellt sich schier zu Tode und ist viel fröhlicher im Wald als wenn sie im Vogelbauer gefangen ist, da man sie mit allem Fleiß warten muß, und sie doch selten gedeiht und lebendig bleibt, als sollte das uns sagen: Ich will lieber in des Herren Küche sein, der Himmel und Erde geschaffen hat, und selbst Koch und Hauswirt ist und täglich viel Vöglein speist und ernährt aus seiner Hand« (Luther). Es ist kein heidnisches, obschon ein unseren Ohren längst entwöhntes, aber doch – wenn wir Ohren haben, zu hören – seliges carpe diem, das die ganze Natur um uns her uns
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vorlebt. Und es ist ein großes, wenn nicht das größte Problem der Weltgeschichte, warum der Mensch, für den und auf den hin dies alles geschaffen ist, herausgetreten ist aus diesem Lebensgesetz des »Heute«, aus diesem Geborgensein aller Dinge in Gott, das ihn doch Tag um Tag zur Umkehr ruft: »Summa, wir haben soviel Meister und Prediger als Vögel in der Luft, die mit ihrem lebendigen Exempel uns zuschanden machen, daß wir uns sollten schämen und nicht dürften die Augen erheben, wenn wir einen Vogel singen hören, als der Gottes Lob und unsere Schande gen Himmel schreit« (Luther). Aber Jesus sagt noch mehr. Es geht ein Klang durch seine Rede, der auch dem ärmsten und verzweifeltsten unter uns das Herz höher schlagen lassen könnte. Jesus fragt, wie man jemanden fragt, der etwas vergessen hat, das er nicht vergessen durfte: Wißt ihr nicht, ihr Menschen, was ihr für Gott bedeutet? Was sind die anderen Wesen dieser Erde verglichen mit dem Menschen? Wieviel seid ihr besser denn die Raben. Wieviel mehr wird er euch kleiden, ihr Kleingläubigen. Begreifen wir denn nicht, daß Gottes verschwenderischer Reichtum, den er um uns ausbreitet im Blühen und Wachsen des doch so schnell vergehenden Lebens der Pflanzen und Tiere, eine Spitze hat, die auf uns, auf den Menschen im Menschen, weist? Der Mensch bezeichnet auf jeden Fall die Stelle in der ganzen Schöpfung, wo Gottes eigentliches Wunder, wo seine ganze Herrlichkeit und Größe sich offenbaren wird. Hier ist Gottes größte Tat, hier ist seine volle Gnade und Barmherzigkeit zu erwarten. Euer himmlischer Vater weiß, daß ihr des bedürft. Warum soll es denn nicht wieder so unter uns zugehen, daß wir Gott die Dinge anheim befehlen, die, wenn wir sie zu unseren Sorgen machen, bald alles andere, Gottes Reich und alles, was dazugehört, Leben, Freude und Liebe, Güte und Geduld, Erkenntnis und Glaube wie ein böses Unkraut überwuchern und überwachsen werden. Menschen, die aus meiner Heimat im Osten jetzt herausgekommen sind, haben mir erzählt, daß da, wo vor ein paar Jahren noch die sorgsam bestellten Felder ihre reiche Frucht trugen, heute Disteln und Unkraut das ganze Land bedecken. Ist das nicht ein Bild unseres ganzen Lebens? Da, wo einmal ein Fragen und Suchen nach Wahrheit und Erkenntnis war, wo die Menschen nachsannen, um den eigentlichen Fragen des Lebens auf den Grund zu kommen, wo in oft großer Armut ein reines Herz und ein hoher Geist sich regten, da ist heute alles überdeckt von dem Schlinggewächs des: was wir essen und was wir trinken sollen. Unser Text hat hier ein Wort, das Luther übersetzt: Fahret nicht hoch her, andere übersetzen: »Ängstet euch nicht«. Es wird schwer zu entscheiden sein, wer recht hat. Aber die Warnung vor dem Luxus würde schön hinein-
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passen in diese Mahnungen Jesu. Denn der Luxus macht die Menschen unzufrieden, er läßt das Trachten nach den vergänglichen Gütern so mächtig unter uns werden. Ein großer Gelehrter hat auf den engen Zusammenhang hingewiesen, der zwischen dem Luxus und dem Kapitalismus besteht. Das alles heißt Öl in die Flammen der Sorge gießen. Warum können wir nicht wieder singen: Er weiß viel tausend Weisen Zu retten aus dem Tod, Er nährt und gibet Speise Zur Zeit der Hungersnot, Macht schöne, rote Wangen Oft bei geringem Mahl Und die da sind gefangen, Die reißt er aus der Qual. Hier kommt das Wort »Zufall« zu seinem Recht. Gemeint ist damit eine zusätzliche Gabe, etwas, das Gott hinzufügt, hinzutut. Essen und Trinken, Haus und Hof, Acker, Vieh und alle Güter sind solche zusätzlichen Gaben. Gaben, an denen wir nicht unbedingt Gottes Vaterschaft und Liebe ablesen können. Er kann es geben und Er kann es nehmen. Das, woran wir Gottes Vatergüte immer erkennen und begreifen, ist die Gabe seines Reiches, ist das Aufgenommenwerden dahin, »wo Fried und Freude lacht«, ist das ewige Leben. Das Sorget nicht geht aus in ein Fürchte dich nicht, du kleine Herde. Jesus will damit sagen: Wartet nicht mit dem, was ihr nun tun müßt, bis ihr viele seid. Seht nicht um euch her, auf die anderen, die nicht mittun, die schlafen, die müde und träge sind, seht nach oben. Seht, daß das Wohlgefallen Gottes wie ein helles Leuchten über euch, gerade über euch steht. Gottes Reich beginnt nicht, wie Massenbewegungen beginnen, obschon solche Bewegungen immer wieder einen eigentümlichen Zauber auf fromme, auf Gottes Reich wartende Menschen ausgeübt haben. Aber »Hütet euch« auch hier! »Die ›Menge‹, wenn sie als Instanz für die Wahrheit behandelt wird, und ihr Urteil das Urteil sein will, verabscheut der Wahrheitszeuge mehr als das junge sittsame Mädchen ein Tingeltangel. Und die zur Menge als Instanz reden, sind in seinen Augen Werkzeuge der Unwahrheit. Die Menge ist die Unwahrheit. Ich könnte weinen, jedenfalls kann ich die Sehnsucht nach der Ewigkeit lernen, wenn ich an die Erbärmlichkeit unserer Zeit denke, welche die heillosesten Zustände des Altertums weit übertrifft« (Kierkegaard). Nein, Gott ist nicht bei den starken Bataillo-
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nen, das sollen die Jünger Jesu als Regel Seiner Strategie mitnehmen. Sie sollen sich nicht fürchten, wenn sie sehen, daß sie in der Minorität sind. Die »Gemeinde« ist immer die kleine Herde. Wenn Gott seine Schlachten schlägt, bedient er sich der Geringen, der Minoritäten, der unscheinbaren Werkzeuge, sonst möchte »Israel sich rühmen wider mich und sprechen: Meine Hand hat mich erlöst.« Wer zu der kleinen Schar gehören will, die Gott je und dann in besonderer Weise exponiert, die bleibt, wenn die anderen »hinter sich gehen«, der muß lernen, mit der ungeheuren Paradoxie zu rechnen, daß das Reich, das für die ganze Welt da ist, dessen Türen für alle offen stehen, dessen Ruf in allen Zungen vernommen wird – daß dieses universale Geschehen des Reiches Gottes da beginnt, wo zwei oder drei im Namen Jesu versammelt sind, wie es immer wieder gewesen ist, in den Gemeinden am See Genezareth, in den Hafenvierteln von Korinth und den Hausgemeinden von Rom, in dem Turmstübchen des grauen Klosters von Wittenberg und den Bürgerschaften von Zürich und Genf, bei den Kohlenarbeitern von Sheffield und den Pilgervätern, die ihren Covenant unter Gottes Gegenwart beschwören und das Leben der Heiligen in der neuen Welt beginnen. Wortwörtlich sind solche Verheißungen Jesu in Erfüllung gegangen – und es ließen sich hierzu noch mancherlei Beispiele aus der jüngsten Geschichte in Deutschland und anderswo anführen. Es wird, es muß geradezu ein Mißverhältnis bestehen zwischen der Sache, die ihr zu vertreten habt, und der Zahl derer, die dafür eintreten. Fürchtet euch darum nicht. Versucht nicht unter der Parole der Volksmission oder des Öffentlichkeitswillens aus dem Glaubensartikel der Kirche einen Schauartikel zu machen. Schämt euch des Evangeliums nicht, das der kleinen Herde gilt. Wenn es einmal von Gott her tagen wird über den Fortgang Seines Reiches, die Schleier fallen werden über dem, was wir Kirchengeschichte nennen, werden die »kleinen Herden«, die hier und da Gottes Reich bezeugt und die Welt in die Schranken gefordert haben, den wahren Zusammenhang und die lautere Tradition Seines Reiches repräsentieren – und was wir »Kirche« nennen, wird sehr nahe an den breiten Weg herankommen, wo die vielen zur Verdammnis wandeln. »Die Menge ist die Unwahrheit«, es gibt auch eine christliche, eine fromme Menge – vergeßt nicht, euch umzuschauen, worauf das Wohlgefallen Gottes ruht. Denkt daran, daß es besser ist, ihm als den Menschen zu gefallen. »Hab ich das Haupt zum Freunde und bin geliebt bei Gott, was kann mir tun der Feinde und Widersacher Rott«. Das ist die Sprache derer, »die so ein armes Häuflein sind« und doch nicht »verzagen«. Darum – es liegt hier dasselbe Motiv zugrunde, wie bei der Mahnung im Eingang, die Menschen nicht zu fürchten, die den Leib töten – fürchtet euch nicht, auch wenn ihr
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entdecken werdet, daß ihr eine kleine Herde seid. Fürchtet euch vielmehr dort zu stehen, wo die Sonne nicht scheint, wo das Licht erlosch, wo das Wohlgefallen Gottes nicht euer Himmel und eure Zuversicht ist, wo die Menschen nicht suchen, »was droben ist«, wo sie nach unten, auf sich und die anderen schauen, aber nicht in den Himmel, der sich in Jesus Christus aufgetan hat. Denn das, was ihr können sollt, könnt ihr nur hier. Nur da, wo die Nähe des Reiches Gottes geglaubt wird, wo wir von seinem Kommen und seinen – neuen – Gesetzen leben, werden wir es wagen, »Narren in Christo« zu sein. Und das müßten wir schon werden, wenn anders uns das, was jetzt folgt, nicht anmuten soll wie die Parole eines weltfremden Schwärmers: Verkauft euren Besitz und gebt Almosen! Macht euch Beutel, die nicht veralten, einen Schatz, der unerschöpflich ist in den Himmeln, wo ein Dieb nicht hinkommt, noch eine Motte ihr Zerstörungswerk treibt. Schon die alte Kirche hat Mühe gehabt, mit diesen und ähnlichen Worten Jesu – dem spezifisch lukanisch-jakobinischen Kerygma! – fertig zu werden. Zunächst hat sie die Sätze noch wörtlich genommen und erst später allegorisiert. Sie wollen aber wörtlich genommen sein. Sie wollen ohne Abstrich gehört sein. Wir Europäer könnten doch etwas wissen von Beuteln, die über Nacht ihren Wert verloren haben, von Dieben, die – gewiß nicht ohne Gottes Zulassung – uns zeigen, was dieser Welt Güter wert sind, von Motten, die unsere Festkleider zernagen und die Weissagungen des Jesaja an das üppig-unbekümmerte Jerusalem zur modernsten Lektüre machen, die man den offenbar immer noch ahnungslosen Europäern auf den Nachttisch legen sollte. »Es heißen aber nicht allein Motten und Rost, so die Kleider und Eisen und Erz fressen, noch die Mäuse und Ratten, die man mit Fallen fängt, auch nicht allein Diebe, die heimlich Kästen räumen, sondern auch die großen lebendigen Motten und öffentlichen Diebe, als die großen Eisenfresser und Scharrhansen zu Hofe, die einem Fürsten können Boden und Beutel leeren und zuletzt um alles bringen, was er hat. Also auch in Städten, nicht allein die einem Bürger zum Haus einsteigen, sondern eine Stadt fein heimlich aussaugen mit Wuchern und Schinden, auf dem Markt und wo sie können, so daß kurzum, wo Geld und Gut ist, da müssen auch Motten und Diebe sein …« (Luther). Darum seid klug! Das vergrabene Pfund hat keinen Wert. Geld an sich, Vermögen, Besitz an sich sind Zeichen der Angst und der Sorge. Was nutzt der Reichtum, wenn rings herum die Armut und das Elend wächst. Dieses Horten toter Werte ziemt den Kindern des kommenden Reiches nicht. Laßt das Geld dem dienen, wozu es – im Sinne des Gottesreiches – bestimmt ist: der Barmherzigkeit. Welcher Triumph, wenn der Reichtum, das Geld, das
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kälteste und unpersönlichste unter allen Dingen der Erde, unter euren Händen und unter der Direktive der Gottesherrschaft dem Wachsen des Reiches Gottes dienen muß. So wie der Teufel sich für seine Zwecke – nur zu oft und zu erfolgreich – fromme Institutionen und Phrasen aneignet, so soll hier, bei euch, das Gegenteil geschehen: ihr sollt den Mammon der Ungerechtigkeit dienstbar machen, ihr sollt das, was Menschen auseinander bringt, zwingen, Menschen zu Freunden zu machen. Ihr sollt aus dem unbarmherzigsten Stoff des Geldes einen Mantel des Erbarmens weben, um eures Bruders Blöße zu decken. Denkt daran, daß der Weltenrichter euch am Ende der Tage nicht fragen wird: Wo ist euer Vermögen, sondern daß er euch fragen wird: Wo ist euer Bruder? Er wird nicht fragen: Was hast du gegessen, wie hast du dich gekleidet (das nur zur Beruhigung der allzu Skrupulösen unter uns, und zur Beunruhigung derer, die meinen, man müsse nun sauer sehen und sich in Sack und Asche hüllen), sondern er wird, wenn du ihm gefolgt bist, das Geheimnis deines Lebens aufdecken: Ich war nackend und du hast mich gekleidet, ich war hungrig und du hast mich gespeist. Dann wirst du wissen – dann, wenn dir dies Wissen nicht mehr schaden kann – daß du einen Schatz im Himmel hast. Dann werden dort Heimlichkeiten offenbar werden, vor denen euch nicht zu grauen braucht. Unser Text gebraucht hier das Wort Almosen. Dies Wort ist bei uns in Verruf gekommen. Wir sollten das unsere tun, um es wieder zu dem zu machen, was es im Sinne Jesu ist. Das Wort bedeutet seinem ursprünglichen Sinne nach: »Tat der Barmherzigkeit«. Es bedeutet immer ein Ganzes, immer etwas, bei dem Herz und Hand beteiligt sind. Barmherzigkeit ist eine Macht, die das steinerne Herz aus eurem Fleische wegnehmen und euch ein fleischernes – das heißt, ein menschliches, mitfühlendes, mitfreuendes und mitklagendes Herz geben wird. Barmherzigkeit ist der neue Geist, der da einzieht, wo die Sorge weicht. Gebt Almosen heißt in Wahrheit: Laßt Barmherzigkeit zur Tat werden, laßt sie zu einem Wirklichkeit, Besitz und Habe bestimmenden und verwandelnden Gesetz werden. Die Barmherzigkeit ist das Gesetz des Himmelreiches, das einzige, das hier gilt. Wehe dem, der dagegen verstößt; Heil allen, die nach ihm leben. Denn wo euer Schatz ist, da wird auch euer Herz sein! Hier müßte man nun eigentlich jeden Leser dieser Auslegung bitten, sich Luthers Auslegung zum ersten Gebot im großen Katechismus vorzunehmen. Denn es ist kaum je Besseres zu dieser Sache geschrieben worden. Was hier aus dem Worte Jesu aufleuchtet, ist das erste Gebot. Denn einen Schatz haben, heißt doch wohl, etwas haben, was wir lieben und woran wir hängen, dessen Besitz uns Glück und Heil verbürgt. »Darum will er uns von allem anderen
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abwenden, das außer ihm ist, und zu sich ziehen, weil er das einige, ewige Gut ist. Als wollte er sagen: was du zuvor bei den Heiligen gesucht hast, oder auf den Mammon und sonst vertraut hast, das versieh dich alles zu mir und halte mich für den, der dir helfen und mit allem Guten reichlich überschütten kann« (Luther zum 1. Gebot). So ist denn dieser Abschnitt ein Stück »Nationalökonomie« aus der Perspektive der Gottesherrschaft geworden. Jesus läßt sich nicht herausdrängen aus dem Alltag unseres Lebens, und von der bekannten Rede der Eigengesetzlichkeit des wirtschaftlichen Lebens, die heute wieder um uns wirbt, weiß der Herr nichts. Du und dein Bruder – das sei der Bereich, in dem die Barmherzigkeit walte, die neue Welt Gottes, die sich vor dir aufbaut – Mein und Dein, das ist das Reich der Sorge und der Einsamkeit, das eben damit hinter dir liegt. Die Nähe des Gottesreiches bedeutet, daß eine große Wendung, ein Umbruch fällig ist: die Wendung, zu der uns die Vögel unter dem Himmel und die Lilien auf dem Felde rufen. Denn ihr Ruf heißt nicht (wie wir das allzulange falsch gedeutet haben): Zurück zur Natur – sondern: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.
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Lukas 12,35-48 Eure Hüften sollen umgürtet sein und eure Lampen angezündet und ihr selbst sollt Menschen gleich sein, die auf ihren Herrn warten, wann er aufbricht von der Hochzeit, damit sie, wenn er kommt und klopft, ihm sogleich auftun. Selig jene Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend findet. Wahrlich, ich sage euch, er wird sich gürten und sie sich zu Tische legen lassen und herzutreten und ihnen aufwarten. Auch wenn er (erst) in der zweiten, auch in der dritten Nachtwache kommt und findet sie so, selig sind jene. Dies aber wisset, daß, wenn der Hausherr wüßte, zu welcher Stunde der Dieb kommt, er es kaum zugelassen hätte, daß sein Haus durchgegraben würde. Seid auch ihr bereit, denn der Sohn des Menschen kommt zu der Stunde, da ihr es nicht glaubt. Es sprach aber Petrus: Herr, sagst du dies Gleichnis zu uns oder zu allen? Und der Herr sprach: Wer ist denn der treue, verständige Haushalter, den der Herr über sein Gesinde setzen wird, daß er jedem zu seiner Zeit das rechte Maß an Getreide gebe? Selig jener Knecht, den sein Herr, wenn er kommt, so tun findet. Wahrlich, ich sage euch, er wird ihn, wenn er kommt, über alle seine Güter setzen. Wenn aber jener Knecht in seinem Herzen sagt: Mein Herr verzieht zu kommen, und anfängt die Knechte und Mägde zu schlagen und zu essen und zu trinken und sich zu berauschen, so wird der Herr jenes Knechtes an einem Tage kommen, da er ihn nicht erwartet, und zu einer Stunde, da er es nicht merkt, und wird ihn in Stücke hauen lassen und seinen Teil zu den Ungläubigen stellen. Jener Knecht aber, der den Willen seines Herrn kannte und keine Vorbereitungen traf, noch nach seinem Willen handelte, wird schwer gezüchtigt werden. Der aber nichts davon wußte, und gleichwohl auch Dinge tat, die der Strafe wert sind, wird milde gezüchtigt werden. Man muß beachten: zwischen Vers 34 und Vers 35 besteht ein sachlicher Zusammenhang. Anders als Matthäus und Markus hat unser Evangelist die beiden großen Themen: den Ruf Jesu zur Freiheit vom Besitz und die Mahnung zur Wachsamkeit eng aneinander gerückt. Er hat eine Klammer um beide gelegt, eine in der Sache begründete Klammer. Denn die Abhängigkeit des Lebens von den Gütern dieser Welt, das Sichhängen an die Schätze, die der Rost und die Motten fressen, ist offenbar nur die Kehrseite einer müde gewordenen Hoffnung. So geht es, wenn Knechte aufhören, mit der Wiederkehr ihres Herrn zu rechnen. Dann verfallen sie dem Vorfindlichen, klammern sich an das Vorhandene. Wenn man die Jesusworte von Vers 35 ff. als Kommentar zu Vers 34 verstehen darf, dann hat er mit dem
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Schatz zum mindesten etwas gemeint, was nicht hier ist. In der Redeform des Messiasgeheimnisses hat er von seiner Zukunft gesprochen, von seinem Weggehen und Wiederkommen. Er hat damit deutlich gemacht, wie wir diesen Schatz finden; wie man frei wird, so frei wie die Vögel sind; wie man heimfindet in den wahren Rhythmus des Lebens, in dem die andere »geistlose« Kreatur noch steht. Eben darum, weil unser Leben aufgehört hat, ein wartendes, hoffendes, ausschauhaltendes Leben zu sein, sind wir der Sorge und dem Besitz verfallen. Es geht hier Jesus nicht etwa nur um ein »christliches« Leben, als Spezialform des Lebens überhaupt, sondern es geht um das Leben selbst. Es geht darum, wen man unter den Lebenden selig sprechen kann. Wer die enge Pforte gefunden hat. Wer hier – und auf das Hier und Jetzt kommt dabei alles an – den rechten Weg nach dort gefunden hat und auf ihm wandelt. Wer den Schatz, also den Zentralwert des Lebens, für den es sich zu leben lohnt, im Gegenwärtigen sucht, gleich ob das nun Personen- oder Sachwerte, ob es hohe oder niedrige Ziele sind, der wird sein Leben verlieren. Wer es aber verliert, indem er es ganz und gar von dem Kommenden her erwartet, der wird’s gewinnen. Das heißt leben: als Knecht des kommenden Herrn auf der Zinne stehen und bereit sein. Den Schmerz und die Drangsal dessen ganz in sich aufnehmen, daß unsere Liebe und unsere Hoffnung keinen konkreten, keinen greifbaren und sichtbaren Inhalt hat! Daß wir darauf angewiesen sind, »bis daß er kommt«, uns an die Verheißung zu halten. In dieser Erwartung sein Leben zubringen, es ganz und gar in diese Erwartung einschmelzen, dieses Erstgeburtsrecht nicht preisgeben für das Linsengericht auch noch so lockender gegenwärtiger, greifbarer Möglichkeiten – das heißt ein treuer Knecht sein. »Es wird die Zeit kommen daß ihr werdet begehren zu sehen einen Tag des Menschensohnes und werdet ihn nicht sehen. Und sie werden zu euch sagen: Siehe hier! Siehe da! Geht nicht hin und folget auch nicht« (Luk. 17,22 f.). Ist nicht die ganze Kirchengeschichte – und auch unsere allerjüngste – erfüllt von diesem: Siehe hier, siehe da! Wissen wir auch, wie schwer es dann ist, mitten in solchen hochgestimmten Zeiten sich die Ohren zu verstopfen und alle diese Erscheinungen und vermeintlichen Theophanien – Gott in der Geschichte! – an sich vorübergehen zu lassen, wie Elias in seiner Höhle, ohne herauszutreten. Immer nur Nein sagen, immer Protestant sein müssen! Nicht mit einstimmen dürfen, wenn sie das Schlagwort vom positiven Christentum prägen, Nein sagen, laut und vernehmlich Nein, wenn sich die Kirche – die wartende – verwechselt mit dem Reiche Gottes – dem Gegenstande ihrer Erwartung. Nein sagen zu jedem religiösen, klerikalen, oder auch kulturprotestantischen Kurzschluß, der uns die Verchristlichung der ganzen Welt verspricht und damit das eine
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nimmt, was nicht von dieser Welt ist. Ein wartender Knecht sein, heißt ein freier Mann sein, der sich nicht bindet, einer, den nichts ganz befriedigt, was dieser Äon ihm zu bieten vermag. Ein wartender Knecht sein, heißt ergriffen sein von einer Erwartung, die anders noch als die Idee in der Philosophie, nämlich den ganzen Menschen ergreifend, über diese Welt hinauslangt und weiß, auf wen sie hofft. Der so Hoffende ist gefeit gegen die Sorge. Er wird nicht erblinden. Er wird helle Augen behalten. Laßt eure Lichter brennen. Er wird nicht da Rast machen, wo kein Ruheplatz vorhanden ist, wo sich doch alles verändert, wo sich doch alles dreht. Er wird in der Fremde ein Fremdling sein, in der Welt ein Wanderer, in der Zeit einer, der nicht stillsteht, im Kampf einer, der nicht abrüstet. Laßt eure Lenden umgürtet sein. Weil diese Welt abbruchreif ist, muß unser Leben in ihr aufbruchbereit sein. Sonst passen wir nicht hinein. Darum seid gleich wie (beachte Gleichnisrede) Menschen, die auf ihren Herrn warten, »die aber gottis warten, die bitten gnad, aber sie stellen es frey tzu gottis gutem willen, wenn, wo und durch was er yhn helffe. An der hilffe zweyfeln sie nit. Sie geben yr aber kein namen nit, sie lassen sie gott teuffen unnd nennen, unnd solt es auch lange an masz vortzogen werden. Wer aber der hilff einen namen gibt, dem wirt sie nit, dann er wartet unnd leydet gottis radt, willen und vortzihen nit. Das ist, meyn seel ist ein wartendes ader harrendes ding wurden« (Luthers Bußpsalmen, Psalm 130,5). Wenn irgendwo die Heilsbedeutung der Lehre von der Wiederkunft Christi für die Gemeinde mit Händen zu greifen ist, dann hier. Selig jene Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend findet. »Wachet, stehet im Glauben, seid männlich und seid stark« (1. Kor. 16,13). »Selig ist, der da wachet« (Offb. 16,15). In diesem einen Punkte liegt der ganze Unterschied zwischen den guten und den bösen Knechten. Hier wird die Linie sichtbar, die als Gerichtslinie mitten durch das Gesinde des Herrn geht: die einen rechnen damit, daß ihr Herr – der zur Zeit abwesend ist – wiederkommt. Die anderen benehmen sich, als ob er ihnen die Herrschaft übertragen hätte und selbst nicht mehr käme! Das ist die Licht- und Schattenseite seines Ferneseins. Das ist die tiefste und schwerste Versuchung der Menschen, die sein Werk auf Erden treiben, in seiner Aufgabe heute stehen, es ist die Versuchung des Großinquisitors, des Vikariates Christi. Die eschatologische Komponente ist das Prägezeichen in unserer christlichen Existenz. Wer dieses Zeichen nicht an sich hat, der soll gewiß sein, daß sein Teil bei den Ungläubigen sein wird. Christlich existieren heißt in der Erwartung des kommenden Herrn existieren. Wo diese Erwartung erloschen ist, da ist nicht nur ein unwesentliches oder akzidentielles Stück unseres christlichen Lebens stillgelegt, nicht etwa »nur« die Hoffnung erstorben, sondern damit ist alles
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pervertiert und korrumpiert, der Glaube und die Hoffnung, das Ganze ist verkehrt. Denn Jesus Christus ist der Kommende. Er begegnet jedem, dem er wirklich begegnet, von der Zukunft her, als das kommende Leben, als der Herr der kommenden Welt. Anders kann er nicht unser Herr sein. Wäre er nur einer, der einmal gekommen ist, also eine Größe der Vergangenheit, wir würden uns seiner bemächtigen. Der »historische Jesus« ist in unserer Hand, nicht mehr wir in der seinigen. In Jesus ist die Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Zukunft aufgehoben, das, was hinter uns liegt, verwandelt sich in das, was vor uns liegt. »Der ist’s, der nach mir kommen wird, welcher vor mir gewesen ist« (Joh. 1,27), anders kann man von Ihm nicht zeugen. Jesus ist der einzige Mensch der Geschichte, von dem das gilt. Nur als der Kommende ist er der, der gekommen ist. Beides ist ineinander verwoben. Jesus ist nicht einmal gekommen und gegangen und wird wiederkommen, wie einer, der aus einem Zimmer geht und umkehrt und wiedereintritt. Solche Vorstellungen greifen fehl, wo es um sein Kommen geht. Darum redet Jesus nur gleichnishaft von Kommen und Wiederkommen. Jesus will sagen: als der Kommende bin ich jetzt mitten unter euch. Und als der, der ich bereits gekommen bin, werde ich zu euch kommen. Der Wiederkommende bleibt der, der gekommen ist. Er gürtet sich wie bei dem Abschiedsmahl (Joh. 13) und dient seinen Knechten, wie er ihnen bei seiner ersten Ankunft diente (Mark. 10,45). Der Jesus des ersten und der Jesus des zweiten Advent ist sich gleichgeblieben. Er hat sich nicht verändert, er ist die Ereignis gewordene Treue Gottes in Zeit und Ewigkeit. Was er uns war, das wird er wieder sein. In Jesus gibt es allerdings eine Wiederkehr aller Dinge. Jesus Christus ist derselbe in Zeit und Ewigkeit. Selig die Knechte, die in ihrer wartenden, hoffenden, allezeit wachen Existenz von dieser Treue leben. Die mit diesem Jesus Christus rechnen. Deren Schatz wird dann in der Tat dort sein, wo das Gesetz der Todeswelt und der Vergänglichkeit keine Geltung hat. Wer Jesus Christus recht erkennt, dem verwandelt er sich aus einer Größe von gestern in eine solche von morgen. Aber dieses Morgen liegt nicht mehr innerhalb der Zeit, sondern ist das, was die Zeit zur Zeit macht, zu dem langgezogenen, mit Seufzen und Sehnen erfüllten Noch-Nicht seiner Wiederkunft. »Ja, komm Herr Jesu.« Dies Gebet ist nicht zufällig das letzte Wort des Neuen Testamentes. Das alles ist in diesem Gleichnis, das Jesu seinen Jüngern für die »Zeit« mit auf den Weg gibt, enthalten. Sie sind Menschen gleich, die auf ihren Herrn warten, wenn er aufbricht von seiner Hochzeit. Ohne Bild gesprochen: Wenn Jesus kommen wird, wird er kommen als Bräutigam, der die Braut gewonnen hat. Er hat sie sich gewonnen – seine Gemeinde – auf der
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Bluthochzeit in Golgatha. Sie ist insofern sein, als sie eine wartende, ihn erwartende Gemeinde ist. Was soll seine Wiederkunft denen, die ihn nicht mehr erwarten? Die werden nicht einmal die Rede davon verstehen. Die, welche damit zufrieden sind, daß er einmal gekommen ist und sich als Verwalter und Erben seiner Hinterlassenschaft fühlen, kann die Kunde von seiner Wiederkunft nur als ein Mythos berühren. Damit zeigen sie nur, wie es faktisch um ihre Existenz steht! Sie müssen jetzt Herren spielen, sie müssen mit Brotwunder und Schauwunder arbeiten, sie müssen vergessen, daß wir alle gleicherweise wartende Knechte sind, sie müssen Scheidungen aufrichten, wo Einheit sein sollte, sie müssen sich trösten mit dem, was anderen zugehört. Sie sind dem Namen nach Haushalter, aber treu sind sie nicht, wie könnten sie es auch sein, wo sie ja doch mit dem kommenden Herrn nicht mehr rechnen. So wird hier das Ethos im Leben der Menschen untereinander, Zucht und Gerechtigkeit auf der einen Seite, Zuchtlosigkeit und Gewalttat auf der anderen von diesem einen Punkt her angestrahlt: von der Zukunft des Herrn. Es wirkt dieses Gleichnis wie ein Wort, das alle Menschen verstehen, nicht nur die Jünger; es ist eine Antwort auf die Petrusfrage im faktischen Sinne: das begreifen alle. Was ein treuer und kluger Haushalter ist, verstehen sie genau so wie das andere, was ein hochgekommener Knecht ist, der sich als Herr gebärdet. Sich mit dem Herrn verwechseln, ist der Schlüssel zu aller Tyrannei, im Großen wie im Kleinen, im Staatlichen wie im Kirchlichen. So enthüllt sich das Gleichnis von den wartenden Knechten und alle Welt kann hineinschauen und erkennen, daß hier der Grund liegt von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Daran liegt alles. Daß der Herr, der gekommen ist, der wiederkommende Herr bleibt und wir seine Knechte. Mitten in dieses Gleichnis ist ein anderes hineinverwoben, welches sich durch das ganze Neue Testament zieht und Antwort sein will auf die Frage: Wann kommt das Ende? Wann kommt der Herr? Kein Wunder, daß die, welche an seine Wiederkunft nicht glauben, über eine solche Frage lächeln. Sie verraten damit nur, wes Geistes Kind sie in Wahrheit sind. Wer ihn erwartet, kann gar nicht anders fragen als: wann wird das geschehen? Aber es gibt keine Antwort darauf. Es kann keine darauf geben. Denn diese Wiederkunft liegt eben nicht in der verlängerten Zeitreihe, die unser Geist in die Zukunft hinein legt, um sie ihres geheimnisvollen Charakters zu entkleiden. Nein, Jesus gebraucht eine andere Redeweise, um uns zu antworten: wie ein Dieb! Unberechenbar, wirklich auf uns zukommend, nicht in unserer Hand liegend, so wird die Zukunft des Herrn sein. So wird er erscheinen wie ein Dieb, als die große Erschütterung und Beraubung allen, die sich halten an das, was sie haben, an die Schätze dieser Welt, an das
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Wissen um das, was war, an das Christentum als Tradition, an Jesus als den Gekommenen, Bekannten, den an die Kirche oder die Theologen oder gar die Historiker Ausgelieferten. Allen diesen wird sein Kommen sein wie der Einbruch eines Diebes in den Palast des Reichen. Aber den Armen, Wartenden, Hoffenden, denen, die sich gegürtet haben zum Aufbruch, denen, die ihre Lampen brennend halten, wird es Erfüllung sein, Bestätigung dessen, was sie geglaubt und gehofft haben. Sie werden sich gerechtfertigt finden in ihrer scheinbar gebrochenen Existenz, in dem merkwürdigen Expressionismus ihres erwartungsvollen Lebens. Hier liegt auch der Schlüssel zu jenem Satz: daß der Wissende, wenn er fehlt, schwerer gestraft werden wird, als der Unwissende bei gleichen Fehlern. Denn der Unwissende kann noch staunen, ihm können noch die Augen aufgehen. Aber der Wissende hat seinen Lohn dahin! Wissen ohne danach zu leben, ist schlimmer als Unwissenheit. Ein Jünger sein heißt in jedem Falle ein Wissender sein.
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Lukas 12,49-59 Ich bin gekommen, daß ich ein Feuer anzünde auf Erden; was wollte ich lieber, denn es brennete schon! Aber ich muß mich zuvor taufen lassen mit einer Taufe; und wie ist mir so bange, bis sie vollendet werde! Meinet ihr, daß ich hergekommen bin, Frieden zu bringen auf Erden? Ich sage: Nein, sondern Zwietracht. Denn von nun an werden fünf in einem Hause uneins sein, drei wider zwei, und zwei wider drei. Es wird sein der Vater wider den Sohn, und der Sohn wider den Vater; die Mutter wider die Tochter, und die Tochter wider die Mutter; die Schwiegermutter wider die Schwiegertochter, und die Schwiegertochter wider die Schwiegermutter. Er sprach aber zu dem Volk: Wenn ihr eine Wolke sehet aufgehen vom Abend, so sprecht ihr alsbald: Es kommt ein Regen – und es geschieht also. Und wenn ihr sehet den Südwind wehen, so sprecht ihr: Es wird heiß werden – und es geschieht also. Ihr Heuchler! die Gestalt der Erde und des Himmels könnt ihr prüfen; wie prüft ihr aber diese Zeit nicht? Warum richtet ihr aber nicht von euch selber, was recht ist? So du aber mit deinem Widersacher vor den Fürsten gehst, so tu Fleiß auf dem Wege, daß du ihn los werdest, auf daß er nicht etwa dich vor den Richter ziehe, und der Richter überantworte dich dem Stockmeister, und der Stockmeister werfe dich ins Gefängnis. Ich sage dir: Du wirst von dannen nicht heraus kommen, bis du den allerletzten Heller bezahlest. Es ist also das Kommen Jesu selbst schon ein Stück Gericht. Das meint Jesus mit dem Wort: Ich bin gekommen, ein Feuer anzuzünden auf Erden, was wollte ich lieber, denn es brennete schon. Es ist nicht das Feuer der Begeisterung, von dem der Herr hier redet, wie man das Wort manchmal fälschlich verstanden hat, sondern es ist das Weltenfeuer des großen Gerichtes Gottes, in dem alles verbrannt und geläutert wird, was Menschen tun und was Menschen sind. Jesus kommt, um ein Feuer anzuzünden und wahrhaftig, seit er gekommen ist, brennt es unter uns. Seitdem hört es nicht auf mit Gerichten, die über die Menschen kommen, Revolutionen und Kriegen, in denen unsere Sünde und unsere Schuld gerichtet wird. Seitdem hört es nicht auf zu brennen unter uns, auch im geistigen Leben. Wir müssen unsere eigenen Kritiker sein, wir müssen den Balken sehen, der in unserem eigenen Auge sitzt. Wir wissen: mit welcherlei Maß wir messen, damit werden wir auch gemessen werden, das Gericht, das wir halten, wird auch mit uns gehalten; das ist die Wahrheit, die mit Jesus Christus in die Welt gekommen ist. Dieses Feuer brennt so heiß, daß es in
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ihm kein Mensch aushalten kann. Es ist das Feuer des Gerichtes, das im Bewußtsein der Menschen, in ihrem Gewissen, entfacht ist. Anders als bei Sokrates, anders als es die Stoiker taten, anders als es die tun, die im Gewissen die Stimme der Natur zu vernehmen meinen, hat Jesus einen Feuerbrand in unsere Herzen geworfen, den niemand löschen kann. Wir verstehen nun, warum er sagt, er möchte, daß es schon hell brennte. O, daß die schlaffen, trägen, toten Gewissen erwachten, daß die menschliche Gesellschaft ihre Sünde begriffe, daß sie nicht von einer Schuld zur anderen blind und töricht weiter triebe, daß nicht die Gespenster der Toten eines Krieges den nächsten provozieren, daß die Menschen, endlich, endlich einmal erwachten und begriffen, wer das Feuer angezündet hat, in dem ihnen so heiß und bange wird, und zu Gott selber ihre Zuflucht nehmen, zu dem lebendigen Gott, der in Jesus Christus handelt. Aber Jesus sagt auch, warum es noch aufgehalten wird, warum der Weltenbrand noch nicht so hell und so verzehrend lodert, wie er ersehnt, denn er muß zuvor noch mit der Taufe getauft werden, die seine Vollendung bedeutet. Das Aufhaltende ist sein Opfer. Zwischen den Tagen, da er das Feuer auf die Erde gebracht hat, und jenem Tag, da in diesem Feuer die ganze Welt mit ihrer Sünde und ihrer Schuld verzehrt werden wird, steht seine Taufe, steht der große Akt der Gnade Gottes, daß er selbst seinen Sohn in die Bluttaufe des Kreuzes führt, damit jeder dort seinen Frieden und seine Gerechtigkeit fände, also das fände, was das Feuer nicht verzehren und was der Weltenbrand nicht verschlingen kann. Aber gleichwohl, damit wir nicht zu früh vom Frieden reden, der Frieden, den er bringt ist ein anderer als der, in dem wir hier leben. Er bringt nicht den Frieden auf die Erde, sondern das Schwert, die Zertrennung, die Gespaltenheit. Es muß erst einmal Aufruhr sein, ehe Friede ist, weil der Friede, in dem wir miteinander leben, kein echter ist, weil Vatersein und Sohnsein, weil Mutter und Tochter, weil Bräutigam und Braut in dem, was sie bindet, nicht den Frieden haben, weil das kein Band ist, das hält, wenn das Weltenfeuer Gottes brennt. Darum muß jetzt schon offenbar werden, daß alle diese natürlichen Bindungen kein Halt sind, daß wir alle dann allein sind, daß der Sohn sich nicht klammern kann an seinen Vater und die Tochter nicht an ihre Mutter, wenn die letzte Frage laut wird und die Zeichen des Weltgerichtes Gottes sichtbar werden. Denn diese Zeichen sind da, nur wir sehen sie nicht. Wir können das Wetter beurteilen, wenn Regen kommt, wir wissen, wenn die großen Perioden der Hitze einsetzen, wir kennen die Erde und wir kennen den Himmel, aber die Zeit kennen wir nicht. Die Zeit, die unsere Zeit ist, die letzte Zeit, den Tag, unseren Tag im Angesicht der Ewigkeit. Die Zeit ist das Geheimnis
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unseres Lebens, das Geheimnis der Geschichte. Wer von uns weiß denn, daß nur noch Zeit zwischen unserem Heute liegt und seinem Kommen. Nur noch Zeit. Abnehmende, schwindende Zeit. Die Nacht ist vorgerückt, der Tag zieht herauf! Es gibt nur eines, womit dieser Tag ausgefüllt werden kann, dieser Tag zwischen der Erscheinung Jesu Christi und seiner Wiederkunft. Wer klug ist, der versöhnt sich rechtzeitig, ehe die Stunde des Gerichtes kommt. »Versöhne dich mit deinem Widersacher, solange du auf dem Wege bist.« Wer mag der Widersacher sein, der uns dem Richter übergibt, wer mag der Richter sein, der uns dem Gefängnis übergibt, wes mag das Gefängnis sein, das uns einschließt? Dieser Widersacher ist kein anderer als Gott. Wollen wir mit der Umkehr bis auf den Tag warten, da Gott Gericht hält? Was wollen wir tun, um uns selbst aus dem Schuldturm zu befreien, in den uns das Ende unserer eigenen Wege führt? Darum versöhne dich mit deinem Widersacher, versöhne dich mit Gott, solange es Zeit ist, solange noch die Taufe Jesu dazwischen steht, zwischen dem Anfang, da er das Feuer auf die Erde brachte und dem anderen, da dich dieses Feuer verzehrt. Die Zeit, die Gott uns noch gelassen hat, dank der Bluttaufe Jesu Christi, ist Gnadenzeit. Jesus Christus ist der Kommende, aber er ist gekommen, damit wir sein Kommen ertragen, damit wir uns freuen können auf den Tag, wenn er kommt, um uns zu erlösen.
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63. Gott und dein Bruder 1 Johannes 2,9-11 1940
Wer da sagt, er sei im Licht und haßt seinen Bruder, der ist noch in der Finsternis. Wer seinen Bruder liebt, der bleibt im Licht und ist kein Ärgernis bei ihm. Wer aber seinen Bruder haßt, der ist in der Finsternis und wandelt in der Finsternis und weiß nicht, wo er hingeht; denn die Finsternis hat seine Augen verblendet. Was schon im dritten Vers unsres Kapitels gesagt war, wird hier wieder aufgenommen, nur werden die Dinge jetzt schon viel deutlicher, andringender, unausweichlicher. Hieß es dort: »Wer sagt, ich kenne ihn und hält seine Gebote nicht, der ist ein Lügner«, so heißt es jetzt: Wer sagt, er sei im Licht und haßt seinen Bruder … Damit ist das entscheidende Wort gefallen, das Wort, in dem der Inhalt des alten, nun in Christus neu verkündigten, neu zu hörenden Gebotes beschlossen liegt: Gott und dein Bruder. Das wird nun das Thema bleiben in allem, was in den drei folgenden Kapiteln gesagt wird bis hin zu dem großen Schluß des vierten Kapitels: »Und dies Gebot haben wir von ihm, daß wer Gott liebt, daß der auch seinen Bruder liebt«. Vom Bruder her wird der Mensch gemessen, das mag jeder wissen, der in das Licht Gottes tritt, danach muß sich jeder richten, der gewillt ist, in diesem Licht zu leben, zu wirken und zu wandeln. Vom Bruder her, nicht von uns selbst her. Der Maßstab, nach dem wir gerichtet werden, liegt außerhalb unser selbst. Der Bruder – das ist der lebendige, unbestechliche Spiegel unsrer Frömmigkeit, den uns Gott entgegenhält, damit wir daran erkennen, wie weit das echt ist, was wir unsre Gotteserkenntnis, unsre Theologie, unsre Rechtgläubigkeit und Bekenntnistreue, unsre Erleuchtung und Bekehrung nennen, dieser Spiegel zeigt untrüglich an, wie weit in alledem Licht von oben wirksam ist, er macht auch unzweideutig offenbar, wo der Glaube an Gott aufgehört hat, Leben und Gemeinschaft zu sein, wo er nur noch oder sogar erst noch Rhetorik, Phrase und Einbildung ist. Das ist die große Sache, die unser Brief nicht müde wird, herauszustellen. Darum liest er sich auch wie eine Predigt oder eine Auslegung über die großen Gleichnisse Jesu und seine Worte. Man denkt unwillkürlich an die Geschichte vom barmherzigen Samariter oder an Jesu Auslegung des Ge-
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Gott und dein Bruder
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botes: Du sollst nicht töten, und man weiß, wo der Mann herkommt, der so redet. Denn nachdem die Erkenntnis Gottes in Jesus Christus offenbar geworden ist und dieser »helle Schein« auch in unsre Herzen gegeben worden ist, dürfen wir daraus nicht wieder eine bloß rhetorische oder rein gedankliche Angelegenheit machen. Im Licht sein bedeutet eine wirklich spürbare Veränderung, nicht nur für die Lehre, sondern auch für das Leben, nicht nur für das Bekenntnis, sondern auch für die Gemeinschaft. Wehe, wenn sich das Christentum dazu hergibt, sich den wechselnden, die Menschen bald erregenden, bald wieder abstumpfenden Meinungen und Ideen über Gott und den Urgrund der Dinge, wie sie durch die Zeiten geistern, gleichzustellen. Das darf es um der ihm anvertrauten Sache, das darf es um seiner eigenen Sachlichkeit und Wahrhaftigkeit willen nicht. Es darf sich nicht bescheiden mit einem Platz im Götterhimmel der Religionen. Es hat mehr zu bieten als nur einen neuen oder auch wahren »Begriff« von Gott. Hier, jetzt, in Jesus Christus, wo er verkündigt, wo er geglaubt wird, geschieht etwas, und zwar im Himmel und auf Erden, genauer gesagt, hier geschieht der Wille Gottes, hier wird vergeben, wie uns vergeben worden ist, hier wird geliebt, wie wir geliebt worden sind, hier leuchtet das Licht der Welt und es leuchtet allen, die im Hause sind. Das geschieht – oder, wo nichts geschieht, wo der Blitz nicht zündet, wo alles nur ein Wetterleuchten am Horizont bleibt, wo das Grundschema eures Wandelns und Handelns immer noch das alte ist: Soll ich meines Bruders Hüter sein?, da habt ihr daran das gewisse Zeichen, daß ihr noch nicht in den Strahl des Lichtes getreten seid, daß ihr die Sache vorläufig nur vom Hörensagen kennt, daß die Nacht noch nicht vorgerückt, der Tag, der große, gnadenreiche Tag Gottes jedenfalls für euch noch nicht nahe herbeigekommen ist. Denn wo dies Licht über uns aufgeht, da beginnt auch der Strom der Liebe zu quellen, der Strom der Liebe, die alles verträgt, alles glaubt, alles hofft und alles erduldet. Da geschieht wirklich etwas Neues, und es geschieht einfach damit, daß in der innersten, intimsten Beziehung von Mensch zu Mensch ein totaler Wandel eintritt, daß der böse, mißgünstige, mörderische Haß verdrängt wird vom Walten der Liebe. Das ist das erste, was wir uns merken müssen: Die Warnung, das Erstgeburtsrecht der Kinder Gottes preiszugeben für das Linsengericht irgendeiner abstrakten, unkräftigen, diese Welt und ihre Not überspringenden religiösen Idee. Dieses Christentum, für das Glaube und Wandel zwei verschiedene Kapitel sind, dieses Christentum, das von Gott redet, aber darüber den Bruder vergißt, oder vom Bruder redet und darüber das Gebot Gottes vergißt, dieses Christentum, das Himmel und Erde, Erkenntnis und
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Tat, Bekenntnis und Gemeinschaft auseinanderreißt, ist nicht das Neue und Überlegene, auf das die Welt wartet, solch ein Christentum lebt nicht aus den Kräften der kommenden Weltzeit, im Gegenteil, es ist selbst ein Stück Welt und darum Finsternis. Denn das »wahrhaftige Licht« geht aus von einer Gemeinschaft und verschmilzt die, die in ihm wandeln, zu neuer, echter, lebendiger Gemeinschaft (Kap. 1,7). Die Gemeinschaft, aus der es seinen Glanz und seine Klarheit gewinnt, ist die von Vater und Sohn. Daß der ewige Gott und der ins Fleisch gekommene Jesus Christus eins sind, daß alles, was Jesus tut, redet, denkt und zum Vollzuge bringt, Gottes Plan, Gottes Gedanken, Taten und ewiger Ratschluß sind, daß aus dieser unzertrennlichen Gemeinschaft von Vater und Sohn die Erlösung der Welt geboren wurde und daß jeder, der glaubt, selbst mithineingezogen wird in die Kraft und Weltüberlegenheit dieser Gemeinschaft – dieses unausdenkliche Wunder des dreieinigen Gottes, das ist das »wahre Licht, das jetzt erscheint« (V. 8). Dieser in Gott gegründeten Gemeinschaft, diesem himmlischen, wahren Urbild gemäß soll die Gemeinschaft sein, die wir untereinander haben. Gott ist wieder Unser Vater, und der Nächste ist wieder unser Bruder. Und zwar eben kraft der Liebe, die den Vater mit dem Sohn und den Sohn mit dem Vater verbindet. Diese ewige, aller Sünde und Schuld der Welt gewachsene, sie tragende und überwindende Liebe soll das Band sein, das auch uns aneinander bindet. Wo sie da ist, wird uns nichts voneinander trennen können, so wenig, wie zwischen Gott und seinem Sohn irgendetwas andres stand und steht als eben dies – die Liebe. Sie soll das Element sein, in dem die Christen miteinander leben. Wo sie das nicht ist, wo sie noch nicht ist, wo noch der böse, feindliche Haß zwischen uns lagert wie Nebelschwaden, die nicht weichen wollen, da sollen wir auch wissen, daß die Gottesgemeinschaft, von der wir reden, auf einer Selbsttäuschung beruht. Denn so wie die Sünde ein Ganzes ist, wie sie nicht nur Gott und Mensch, sondern auch Bruder und Bruder entzweit, so ist auch die Versöhnung ein Ganzes. Ihr könnt nicht das Adamserbe ablegen und das Kainszeichen weiter tragen. Darum, wenn jetzt wirklich »das Leben erschienen ist« (Kap. 1,2), dann muß das auch eine totale Erneuerung mit sich bringen. Ihr dürft nicht auf halbem Wege stehen bleiben. Ihr müßt nun auch wirklich den Punkt ins Auge fassen, an dem die Welt im Argen liegt und der nirgendwo anders ist, als in euch selbst, ihr dürft auch nicht warten, bis die anderen aufhören, euch zu hassen, sondern der Umschwung muß bei euch eintreten. »Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, bittet für sie, so euch beleidigen und verfolgen.« So leben, das hieße, kein Ärgernis geben, und zwar kein Ärgernis dem, der uns durch
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Gott und dein Bruder
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seine Liebe neu geboren hat, so leben, das hieße, das Werk Jesu Christi auf Erden fortsetzen, das wäre wirklich der Glaube, der »in der Liebe wirksam ist«. Darum, weil unser Verhältnis zum Bruder eine so entscheidende Sache ist, wird sie uns mit diesen kurzen, klaren Sätzen eingeschärft, Sätze, die kein Kompromiß und keine Abmilderung dulden. An dem Ist und Bleibt kann man nicht deuteln. Hier werden Tatsachen festgestellt, und es liegt an uns, uns danach zu richten. Wer seinen Bruder haßt, der ist noch in der Finsternis. Das scheint nicht nur so, da ist nicht nur die Gefahr eines Rückfalls oder Abfalls, sondern da muß das Licht Gottes noch mit seinem vollen, überwindenden Glanz einbrechen und die Finsternis vertreiben. Es ist besser, wir rechnen bei Zeiten mit dem Faktum, wie es wirklich ist, als daß uns die Augen erst aufgehen, wenn es zu spät ist und die »große Kluft« zwischen uns und unserem Bruder befestigt wird, da niemand herüber und hinüber kann (Luk. 16,26). Aber ebenso sicher, wie der Haß richtet, so sicher soll es auch gelten, daß die Liebe rettet. Wer seinen Bruder liebt, der bleibt im Licht. Das ist der große Trost, solange die Liebe nicht gestorben ist, solange ist das Licht noch nicht erloschen, dem wir nachwandeln. Solange ist unserm Glauben das Rückgrat nicht gebrochen. Vielleicht, daß wir das garnicht selber wissen, vielleicht, daß wir uns selbst für verirrt oder verloren halten, aber die Liebe bewahrt den, der sich ihr anvertraut. Das sind die beiden großen und entscheidenden Ausrichtungen unseres Wandelns: Haß und Liebe. Der eine Weg führt unaufhaltsam in den Abgrund, der Haß ist gar nichts anderes als die Verblendung, mit der Gott die schlägt, deren Ende das Gericht ist. Der andere Weg hat die Verheißung des Bleibens: »Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.« Hier wird die Kraft mächtig, die die Zeit überdauert, ja mehr, die sie gestaltet im Sinne dessen, was ewig bleiben wird. Auffällig, daß der Apostel da, wo er von den Wirkungen des Hasses redet, nicht von dem redet, der durch diesen Haß getroffen wird, sondern vielmehr von dem, den der Haß verblendet und verfinstert. Im Licht der Ewigkeit gesehen vernichtet der Haß nicht den, an dem wir ihn auslassen, sondern er vernichtet den Weg und das Leben dessen, der in ihm aufgeht, der sich von ihm hinreißen und verblenden läßt. Nicht mein Bruder, ich selbst gehe an meinem Haß zugrunde – denn wer so hassen kann, hat noch nie die Liebe gespürt, die ihn selbst rettete. Dazu sagt Martin Luther in einer Predigt vom reichen Mann und armen Lazarus (1522): »Das macht, er hat ganz und gar keinen Verstand von Gott, hat auch von seiner Güte noch nie etwas gespürt. Denn wer Gottes Güte fühlet, der fühlet auch seines Nächsten Unfall. Wer aber Gottes Güte nicht fühlet, der
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fühlet auch seines Nächsten Unfall nicht. Darum, wie ihm Gott nicht gefällt, so geht ihm auch kein Nächster zu Herzen. Also sehen wir, daß es unmöglich ist, zu lieben, wo nicht Glaube ist, und unmöglich zu glauben, wo nicht Liebe ist; denn es will und muß beides beieinander sein. Denn ein Gläubiger liebt jedermann und dient jedermann, aber ein Ungläubiger ist jedermann Feind im Herzen und will, daß ihm jeder diene.«
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Homiletik-Vorlesung Nachschrift aus dem illegalen Predigerseminar Bloestau
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Kapitel 1: Beauftragung zur Predigt
Wir gehen vom Grundsätzlichen zum Praktischen. Was heißt Verkündigung? Der Versuch, hinter den gepredigten Christus auf den historischen Christus zurückzugehen, ist schon der Sturz in den Abgrund. Der wirkliche Christus ist der gepredigte Christus, nicht der historische Christus 1 . Das Kerygma und Jesus Christus selbst waren von Anfang an nicht zu unterscheiden. 2 Kor 5,16-18: »Darum kennen wir von nun an niemand mehr nach fleischlicher Weise; und ob wir auch Christus früher nach fleischlicher Weise erkannt haben, so erkennen wir ihn doch jetzt so nicht mehr. Darum, ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden! Aber das alles von Gott, der uns mit sich selber versöhnt hat durch Christus und uns das Amt gegeben, das die Versöhnung predigt«. Ohne das Predigtamt wäre die Auferstehung Christi eine Phantasie 2 . Es ist eine Illusion zu meinen, die Predigt sei eine Rede über die Tatsache Jesus Christus und man könne dann die Predigt liberal oder orthodox gestalten. Solange unsere Predigt nichts anderes ist als eine derartige Explikation der Tatsache Jesu Christi, ist sie nicht Kerygma. Die Unveränderlichkeit des Kerygmas ist die Unveränderlichkeit Jesu 1.
2.
Vgl. Martin Kähler (1835-1912), Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus. Nachdruck nach der 1. Auflage 1892 in: E. Wolf (Hg.), ThB 2, 4. Aufl.1969. »Das ist der erste Zug seiner Wirksamkeit, daß er seinen Jüngern den Glauben abgewann. Und der zweite Zug ist und bleibt, daß dieser Glaube bekannt wird. Daran hängt seine Verheißung (Röm. 10,9.10); daran hängt für uns die Entscheidung; daran hängt die Geschichte der Christenheit. Der wirkliche, d. h. der wirksame Christus, der durch die Geschichte der Völker schreitet, mit dem die Millionen Verkehr gehalten haben in kindlichem Glauben, mit dem die großen Glaubenszeugen ringend, nehmend, siegend und weitergehend Verkehr gehalten haben – der wirkliche Christus ist der gepredigte Christus. Der gepredigte Christus, das ist aber eben der geglaubte, der Jesus, den wir mit Glaubensaugen ansehen in jedem Schritt, den er tut, jede Silbe, die er redet …« (ebda. 44/45). Zu M. Kähler Vgl. J. Schniewind, Martin Kähler, in: ders., Nachgelassene Reden und Aufsätze, TBT 1, 1952, 166-172. Vgl. J. Schniewind, Die Leugner der Auferstehung in Korinth, in: a. a. O., 112-139; ders.,Wort Gottes und Evangelium (1918), in: H. J. Kraus, Julius Schniewind. Charisma der Theologie, Neukirchen 1965, 67-82.
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Homiletik-Vorlesung
Christi selber, ist die Unveränderlichkeit des Willens Gottes, der in Jesus Christus die Menschen erlöst hat. Die Verkündigung des Evangeliums ist nichts anderes als die stets neue Kundmachung des Willens Gottes, der an sein Ziel gekommen ist. Diese Botschaft haben wir an den Mann zu bringen, das heißt ein Verkündiger sein. Das Wort also, das wir zu verkündigen haben, ist das Wort Gottes selbst, und der Versuch, beides auseinander zu nehmen, ist bereits der Versuch des Menschen, sich frei zu machen vom Auftrag der Verkündigung. Wenn es so ist, daß das Kerygma, der lgo@ to‰ qeo‰ (das Wort Gottes), eine ein für allemal feststehende Wirklichkeit ist, dann könnten wir ja sagen: warum braucht Gott dann immer wieder einen Mund, der seine Botschaft ausrichtet? Würde es nicht genügen, wenn ein für allemal die Erkenntnis feststünde? Das Evangelium hat heute so wenig einen Raum in der Welt wie in den Tagen, als Er in das Seine kam und die Seinen nahmen ihn nicht auf (Luk 2,7; Joh 1,11). Wenn es ein Faktor wäre, der sich einprägt in den Weltbestand, dann könnte man vielleicht sagen, daß dieses Wort keinen besonderen Träger braucht, sondern eben gefunden werden kann; so könnte dieses Wort Gottes da sein, wenn es zur Welt gehörte. Dann bedürften wir der Predigt nur für das ungebildete Volk. Hier wird es schon deutlicher, warum Gott Boten braucht. Er braucht sie darum, weil er sonst niemanden hat, dem er sein Wort anvertrauen kann, weil er sein Wort nicht in den Weltbestand als solchen legen kann. In dem Augenblick, wo die Boten Gottes in der Welt aufhören würden, würde auch das Wort Gottes nicht mehr da sein. Das Wort Gottes ist nicht an sich da, es gehört nicht zum Wesen und zur Existenz der Welt. Darum kann man das Wort Gottes ausrotten, darum kann eine Kirche untergehen. Es ist keine gute Rede, wenn man sagt, die Kirche wird nicht untergehen, aber um das deutsche Volk ist uns bange. Nein, umgekehrt, der Fortbestand der Kirche ist ein Wunder Gottes. Erhaltungsgesetze erhalten das Volk. Der Fortbestand der Kirche ist in der Tat ein Wunder. Gott vertraut sein Wort irrenden, schwachen Menschen an und davon lebt die Kirche. Wer mein Wort hat, der predige es recht (vgl. Jer 23,28)! Wer es nicht hat, der kann es auch nicht predigen. Das Alte Testament ist geschrieben auf steinerne Tafeln, das Neue Testament ist geschrieben in fleischerne Herzen, menschliche Herzen, der Brief Gottes, geschrieben an die Welt, so wie Gott sein Wort in einen Menschen legt, der vom ersten Tag an bedroht ist. 2 Kor 3,2-3: »Ihr seid unser Brief, in unser Herz geschrieben, gekannt und gelesen von allen Menschen! Ist doch offenbar geworden, daß ihr ein Brief Christi seid, durch unsren Dienst zubereitet, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit
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Kapitel 1: Beauftragung zur Predigt
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dem Geist des lebendigen Gottes, nicht in steinerne Tafeln, sondern in fleischerne Tafeln des Herzens«. Wir haben weder für den Fortbestand der rechten Lehre, noch für den Fortbestand der Kirche als solcher irgendeine Garantie. Luther wusste, das Wort Gottes hat seine Zeiten 3 . Es kommt wie ein Platzregen. Es kann auch keine Zeit sagen, warum das so und so ist. Gott bestimmt die Zeiten, da sein Wort aufgeht, und die Menschen, die davon ergriffen werden, haben nicht damit zu hadern und zu rechten, warum es gerade sie trifft. Jeremia sagt: warum muss ich in diesen Beruf geboren werden, ich bin doch nicht anders als die anderen. Er weiß sich berufen von Mutterleibe an (vgl. Jer 1,1-8; 20,7-18). Es belegt dieser Beruf seine ganze Existenz. Es schlägt dieser Auftrag zurück und belegt die ganze Existenz. Wir machen es uns zu leicht, wenn wir meinen, das Wissen um die rechte Lehre garantiere die Verkündigung. Es ist vielmehr so, daß dieses Wort Gottes von sich aus geschieht und daß da, wo es wahrhaftig dann geschieht und offenbar wird, die Menschen predigen müssen. Eine Verkündigung, die nicht unter diesem Muß steht, weiß im letzten Grunde noch nicht, was wirkliche Verkündigung ist. Die wird dann die Klugheit verbunden mit der Verkündigung. Nur wo eine ⁄n€gkh, ein Muß, ein Zwang besteht, da ist wirkliche Verkündigung. 1 Kor 9,16: »Denn daß ich das Evangelium predige, darf ich mich nicht rühmen; denn ich muß es tun. Und wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht predigte!«. Gott lässt also sein Wort ausrichten durch Boten, deren ganzes Leben er mit einer Notwendigkeit für diesen Dienst beansprucht, daß das Schicksal dieser Boten das Schicksal des Evangeliums wird. Sie können nicht den Untergang ihrer Botschaft überleben. Das Schicksal ihrer Botschaft ist ihr eigenes Schicksal. Die Verachtung, das Gedränge, die Schmach: dadurch werden sie offenbar als Boten Christi (2 Kor 6,1-10). Im Kerygma ist Jesus selbst gegenwärtig. Denken Sie daran, dann wird deutlich, daß der Bote dadurch einbezogen wird in das Schicksal seines Herrn. Es gibt also nicht nur das Eine, die Welt, und ihr gegenüber dann eine christliche Theorie oder Weltanschauung, sondern mitten
3.
M. Luther, An die Ratsherrn aller Städte deutschen Lands, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen, 1524 (WA XV,27-53; BoA II, 442-464). »Ich acht/ das deutsch land/noch nie so viel von Gottis wort gehöret habe/als itzt. Man spürt yhe nichts ynn der historien dauon/lassen wyrs denn so hyn gehen on danck vnd ehre/so ists zu besorgen/wyr werden noch greulicher finsternis und plage leyden. Lieben deutschen/ keufft weyl der marck fur der thur ist/samlet eyn/weyl es scheynet vnd gutt wetter ist/braucht Gottis gnaden und wort/weyl es da ist. Denn das sollt yhr wissen/Gottis wort vnd gnade ist ein farender platzregen/der nicht wider kompt/wo er eyn mal gewesen ist« (BoA II, 46,14-21).
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Homiletik-Vorlesung
in dieser Welt das Wort Gottes, sein Schicksal, das sich einzeichnet in die Welt als das Kreuz. So hat das Wort Gottes seine bleibende Geschichte in der Welt; der Strom läuft mitten durch die Felder dieser Welt und Weltgeschichte hindurch. So will Gott, daß sein Wort verkündigt wird. Er behält es ganz in seiner Hand. In seiner Hand liegt es, wenn es gerät, wenn es verdirbt. Wer wüßte heute nicht, wie uns die Versuchung anliegt, dem Wort zu entgehen! Jedesmal, wenn Gott uns herausstellt, das Wort zu verkündigen, haben wir zu kämpfen mit unserem Fleisch und Blut, weil wir uns dem Wort entziehen wollen. Bis in Ihr Alter wird dieser Kampf währen. Aber wo das Wort Gottes wirklich da ist, da verlieren wir, wir finden die Fluchttüren verriegelt, das Wort Gottes stellt uns auf die Schanze 4 . Da nützt es nichts zu sagen: Jahrhundertelang gab es ein Assimilationschristentum, warum ist jetzt der Bruch da? Es gibt keine Antwort oder nur die eine: Weil das Wort Gottes da ist. Sind unsere Pfarrer besser als frühere? Nein, vielfach ist es sogar umgekehrt, aber doch ist das Wort Gottes da. Es fragt nicht, ob kluge, tüchtige, bibelkundige Menschen da sind, sondern es macht eben aus toten Menschen lebendige, es bewirkt, daß Menschen hinter toten Buchstaben Gottes Geist spüren (vgl. 2 Kor 3,6). Die Offenbarung Gottes ist verbunden mit dem Predigtamt, das Predigtamt bleibt darum angewiesen auf die Offenbarung Gottes, das Geheimnis Gottes. Durch das Predigtamt bleibt die Offenbarung in Gottes Hand, bleibt sie sein mustffirion (Geheimnis; vgl. 1 Kor 2, 6-10; 4,1; Eph; Kol). In diesem Amt und Beruf stehen wir. Darum kann ich keine allgemeine Predigtlehre entwerfen, wenn wir Homiletik lesen, sondern ich frage: was müssen wir heute predigen aufgrund des Wortes Gottes, das uns heute herausstellt gegen diese ganz bestimmte Gestalt von Welt, wie wir sie finden? Predigtlehre können wir nur entwikkeln, indem wir vom Inhalt ausgehen. Aufgrund dieses Inhaltes haben wir die Grundzüge der Predigtlehre zu entwickeln. Wo liegt der Predigtauftrag, den wir heute auszurichten haben? Dabei ist es nicht so, als ob dieser Auftrag nicht immer wieder ausgerichtet worden sei, aber es ist doch so, daß dieser Auftrag heute ausgerichtet sein muß im Gegensatz zu einer anderen Verkündigung, die sich nicht auf diesen Auftrag bezieht; und es ist auch nicht so, als ob dieser Gegensatz nur einer wäre von anderen und unter anderen, sondern es ist so, daß dieser Gegensatz in uns selber liegt. Der Auftrag der Verkündigung liegt darin, Jesus Christus so zu verkündigen, daß in ihm die einzige Offenbarung Gottes 4.
Vgl. H. J. Iwand, PM I, S. 185 f.
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Kapitel 1: Beauftragung zur Predigt
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liegt, in der wir Menschen das Heil haben (vgl. Apg 4,17) 5 , daß die Unvergleichlichkeit dieser Offenbarung zu allen sonstigen Bezeugungen Gottes deutlich wird, daß gerade das eine deutlich wird: im Hören auf dieses Wort allein haben wir das Leben. Der Glaube kommt nicht aus den Werken, sondern aus dem Hören (vgl. Röm 10,17; 3,28). Wenn Sie jetzt nur einmal mit einem Blick das an Ihrem geistigen Auge vorüberziehen lassen, wo die Welt heute von Glaube, Offenbarung, Gott, Schöpfer spricht, und wenn Sie sich dann dessen bewußt werden, daß wir nun den Auftrag haben, in diese Welt hinein mit dieser Ausschließlichkeit das Wort Gottes, Jesus Christus, zu verkündigen, in dem allein Gott gefunden werden kann, dann wissen wir, daß diese ganze Welt mit ihrem Glauben, mit ihren Offenbarungen und Gottesdeutungen gewendet werden muß, wenn diese Verkündigung gehört werden soll. Es wird diese Verkündigung hereinbrechen als Gericht und Entschleierung über die Täuschungen, in denen die Welt sich ergeht. Der Trug des Satans wird offenbar werden (vgl. 2 Thess 2,1-12). In diesem Sinne ist unser Predigtauftrag heute zu verstehen. Wir haben heute, wenn wir predigen, das Wort zu bezeugen, das den Glauben, so weit er aus sich selbst in der Welt da ist, entrechtet und allein dem Glauben aus dem Hören seine Geltung gibt. Wenn wir Christus bezeugen, redet Gott wahrhaftig. Das ist im letzten Jahrzehnt und in Barmen in wunderbarer Weise herausgestellt, daß im Hören auf dieses Wort der Mensch sein Heil hat 6 . Auch wenn alle Ordnung der Kirche hinfällt, müssen wir predigen, auch dann würde uns die ⁄n€gkh (ein Zwang) überfallen, dieses Wort in die Maskerade hineinzureden. 5.
6.
lwand zitiert hier indirekt die Barmer Theologische Erklärung vom 31. 5. 1934, These 1: »Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen« (zit. nach E. Wolf, Barmen, BEvTh 27, 2. Aufl. 1970, 92). Iwand bezieht sich hier auf die sog.«Lutherrenaissance« der Jahre um 1920, die vor allem von Karl Holl (1866-1926) ausging, an der aber auch sein Lehrer Rudolf Hermann (1887-1962) wichtigen Anteil hatte. Vgl. K. Holl, Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1: Luther, 7. Aufl. Tübingen 1948. Zu Holl: R. Stupperich, Karl Holl als Lutherforscher, in: Luther 37, 1966, 112-121; J. Wallmann, Karl Holl und seine Schule, in: ZTHK Beih. 4, 1978, 1-33. R. Hermann: Luthers These »Gerecht und Sünder zugleich«, 2. Aufl., Gütersloh 1960; ders., Gesammelte Studien zur Theologie Luthers und zur Reformation, Göttingen 1960; ders., Gesammelte und nachgel. Werke (hg. v. H. Beintker), Bd. 1: Luthers Theologie, Berlin 1967; Bd. 2: Studien zu Luthers Theologie und des Luthertums, Göttingen 1981. Zu Hermann: H. J. Iwand, NW 6; H. Beintker, Die Bedeutung Rudolf Hermanns für die Lutherforschung und das Problem der Hermeneutik, in: THLZ 103, 1078,1-18.
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Homiletik-Vorlesung
Wie richten wir nun als solche, die mit diesem Wort belastet sind, wie richten wir heute unseren Auftrag aus? Wie müssen wir heute dieses Wort Gottes bezeugen, wenn wir hineingestellt werden in unsere Zeit mit ihren Evangelien, mit ihrem Glauben, mit ihren Mythen, und was bedeutet der Rückhalt der Heiligen Schrift für unsere Verkündigung? Wenn die Predigt vom Auftrag her verstanden werden muß, muß man auch bei der Predigtlehre vom Auftrag ausgehen, nicht von der Form, nicht vom Kultus. Schleiermachers Predigtlehre ist die Lehre einer bestimmten kultischen Handlung 7 . Weil man die Homiletik als Lehre des Gottesdienstes entwikkelte, hat immer wieder die Form über den Inhalt dominiert, die Frage der Form und der Technik. Das geht aber noch bis zu Wolfgang Trillhaas, denn auch er geht eigentlich von einer Predigtlehre aus, die die Lehre von einer gottesdienstlichen Handlung ist 8 . Wir werden davon sprechen müssen, wie sich Predigt und Liturgie zueinander verhalten. Wir werden dabei sehen, daß auch die Liturgie verstanden werden muß von der Verkündigung her 9 und nicht aus der bestimmenden kultischen Form. Bei Smend und den Berneuchnern 10 ist Liturgie, wie in der katholischen Kirche das Sakrament, 7. Friedrich Daniel Schleiermacher (1768-1834), Die praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hg. von J. Frerichs. In F. Schleiermacher, Sämmtl. Werke, I,13, Berlin 1850 (vgl. S. 64-82). Ders., Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen/Krit. Ausgabe, hg. von H. Scholz (1910), Darmstadt 1969, §§ 284-286. Zu Schleiermacher vgl.: W. Trillhaas, Schleiermachers Predigt (1933), TBT 28, 2. erg. Aufl. 1975; F. Wintzer, Die Homiletik seit Schleiermacher bis in die Anfänge der »dialektischen Theologie« in Grundzügen, APTh 6, 1969, 17-22. 8. Iwand bezieht sich hier auf die 1. Auflage von W. Trillhaas, Evangelische Predigtlehre, München 1935 (inzw. 5. neubearb. Auflage, 1964), § 1: Predigt und Liturgie (11-23): »Die christliche Predigt ist im Hauptgottesdienst nicht ein Gegenstück zur Liturgie, sondern ein wesentlicher Teil derselben« (11). Man wird Trillhaas aber nicht als Kronzeugen einer Predigt als kultischer Handlung heranziehen können; er befindet sich sehr stark – wie Iwand – in der Auseinandersetzung mit der Erneuerungsbewegung des Gottesdienstes (s. A. 10); vgl. Predigtlehre, S. 18-22. 9. Iwand verweist hier auf Georg Merz (1892-1959). Von ihm war u. a. erschienen zur Zeit der Vorlesung Iwands: Kirchliche Verkündigung und moderne Bildung, München 1931; es erschien, Amt und Gemeinde, BK 26, 1935 und Die lutherische Liturgie und das Gebet der kämpfenden Kirche, BK 48, 1937; vgl. auch ders., Um Glauben und Leben nach Luthers Lehre, ThB 15, 1961. Zur Frage Liturgie – Predigt vgl. auch: O. Dietz, Die Bändigung der Liturgie durch das Wort, BK 47, 1937. 10. Zu Smend und den Berneuchnern vgl.: K. B. Ritter, Gottesdienst und Predigt, 1930. J. Smend, Zur Frage der Kultusrede, in: Theol. Abhandlungen, Festgabe H. J. Holtzmann, Tübingen 1902, 213-241; ders., Der evangelische Gottesdienst, Göttingen 1904; M. Schian, Die Reform des Gottesdienstes und die hochkirchliche Bewegung, 1922; K. Fezer, Das Wort Gottes und die Predigt, Stuttgart 1925, 17-27.75-80. Vgl.
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Kapitel 1: Beauftragung zur Predigt
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ein kultischer Vorgang, der seinen Wert in sich hat, während wir meinen, daß auch die Liturgie hinein gehört in das Handeln Gottes mit der Gemeinde und umgekehrt. Darum ist dann auch die Bitte um Vergebung der Sünde und der Zuspruch der Gnade in diesem Sinne eine wirkliche Begegnung mit dem Worte Gottes 11 . Man muß sich einmal fragen, ob wirklich nur formale oder psychologische Momente den Unterschied machen zwischen der römisch-katholischen Messe und Luthers Deutscher Messe, oder ob nicht auch der ganze Charakter des Kultus in der Deutschen Messe ein anderes Gesicht bekommt 12 . Wie im katholischen Gottesdienst das Sakrament des Altars, so steht im protestantischen Gottesdienst die Verkündigung im Mittelpunkt und beherrscht alles, auch das Sakrament. Wir haben dann danach zu fragen, wodurch die Predigt geboten ist. Die Predigt des Evangeliums ist nicht denkbar ohne den Befehl des Auferstandenen. Darum ist auch nicht zuerst nach ihrem Zweck, sondern nach ihrer Aufgabe zu fragen. Es wird gepredigt, weil der Auferstandene diesen Befehl seinen Jüngern hinterlassen hat (vgl. Mt 28,18-20; Luk 24,44-49; Apg 1,6-8). Es wird nicht gepredigt, weil die Verkündigung den religiösen Bedürfnissen dient. Es ist auch nicht so, daß in der evangelischen Kirche den religiösen Fragen der christlichen Gemeinde durch die Predigt entgegengekommen wird im Unterschied zur katholischen. Die Predigt wird nicht von ihrem Wert, von ihrem Nutzwert her gemessen. In dem Sinne kann auch die katholische, ja sogar die antichristliche Kirche Predigtkirche werden. Sie können aber das Wesen der Predigt nur verstehen, wenn Sie
auch: E. Bethge, Dietrich Bonhoeffer, München 1965, 505 f. Iwand in: NW 4, 210: »Das ist auch die Frage an die Berneuchner, eine Frage an alle die, die da meinen, weil es mit dem, was Gott gesetzt hat, nicht geht, darum müßten wir mit eigenen Formen und Ordnungen, Volkstumsordnungen, Lebensordnungen, Heiligkeitsordnungen nachhelfen, ja so nachhelfen, daß der Tod der Kirche die wahre Folge davon sein wird.« 11. Vgl. zum wirkenden Wort Gottes, von dem Luther vor allem im Zusammenhang der Sündenvergebung, der Taufe und des Abendmahls redet: WA 2,713-723; WA 6,543,28-544,13; WA 30 II, 497,9-24. 32-36; 498,26-30; WA 40 I, 589,25-28; WA 44,716,31-720,36. Iwand zitiert in NW 4, 273 WA 2,466,3 ff.: »Euangelium et lex proprie in hoc differunt, quod lex praedicat facienda et omittenda, immo iam commissa et omissa et impossibilia fieri et omitti … Euangelium autem remissa peccata et omnia impleta factaque. Lex enim dicit: ›Redde, quod debes‹. Euangelium autem: ›Dimittuntur tibi peccata sua‹.« S. 277 zitiert er WA 2,466,12 f.: »Praedicatio remissionis peccatorum per nomen Christi, hoc est Euangelium«. Zum Sachverhalt vgl.: O. Bayer, Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie, FKD 24, 1971. 12. M. Luther, Deutsche Messe, 1526, WA 19,72-113; BoA III, 294-309.
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davon ausgehen, daß jede Predigt getragen ist vom Befehl des Auferstandenen. Jede Predigt setzt zweierlei voraus. Zum einen: Christus ist durch die Auferstehung zum Herrn der Welt geworden. Durch die Verkündigung und in der Verkündigung wird damit die Herrschaft Jesu Christi in der Welt durchgesetzt. Die Ausbreitung des Kerygmas ist die Ausbreitung der Herrschaft Jesu Christi, die er durch seine Auferstehung erworben hat. »Dein Reich komme«,das heißt: es werde gepredigt. Im Neuen Testament ist es so, daß die Ausbreitung des Evangeliums nichts anderes bedeutet: Es wird nun die Welt der Königsherrschaft Gottes untertan gemacht. So ist schon »Evangelium« im Alten Testament zu verstehen: ›Wie schön sind die Füße der Boten auf den Bergen, die da sagen: König ist dein Gott!‹ (vgl. Jes 52,7). Ein solcher e'aggelfflsth@ (Freudenbote) ist der Prediger 13. Es wäre die Herrschaft Jesu Christi über die Welt gar nicht denkbar, wenn sie nicht kräftig würde in dem Geschehen des Predigens. So wie Jesus selber kommt und nichts anderes tut als predigen – denn das wird von seiner irdischen Tätigkeit erzählt –, so kommt auch die Herrschaft Jesu Christi heute noch nicht anders zu der Welt und zu uns als in der Predigt. So verstanden ist die Predigt nicht mehr eine kultische Handlung, kann sie nicht mehr verstanden werden vom Kultus aus. Sie muß verstanden werden von der Tatsache her, daß Jesus Christus als der ewige Hohepriester vor Gott steht und da das wahre Heiligtum ist (vgl. Hebr 2,17-3,2; 4,14-17; 7,23-28; 9,25-28; 5,1-10), sonst würden wir sie von der skffla (dem Schatten, vgl. Hebr 8,5; 10,1) her begründen. Aber Jesus hat den Tempel abgebrochen, Jesus hat das Wahre, das Bleibende herausgestellt, und in diesen Kultus höherer Ordnung gehört die Verkündigung. Jesus hat wirklich den Tempel abgebrochen und in drei Tagen aufgebaut (vgl. Mt 26,61; 27,40; Joh 2,18-22). Er selbst ist der Tempel geworden, in dem wir Gott finden und anbeten. Denn wir haben es tatsächlich 13. Zu diesen Zusammenhängen ist unbedingt zu vergleichen die Theologie Julius Schniewinds (1883-1948). Iwand ist in den Königsberger Jahren sehr stark durch die Zusammenarbeit mit J. Schniewind geprägt worden. Insbesondere die exegetischen Versuche Iwands zeigen bis in seine späten Meditationen hinein die wohl unausprägbare, weil in theologischer Gemeinsamkeit errungene Übereinstimmung. Vgl. J. Schniewind, Die Botschaft Jesu und die Theologie des Paulus, in: Nachgel. Reden und Aufsätze, 16-37; ders., Die Leugner der Auferstehung in Korinth, a. a. O., 110-139; ders. Wort Gottes und Evangelium, in: H. J. Kraus, Julius Schniewind. Charisma der Theologie, Neukirchen 1965, 64-96. Zu Schniewind vgl.: G. Friedrich, Julius Schniewind, ein Lehrer der Kirche, EvTh 43, 1983, 202-221; W. Wiefel, Julius Schniewind (1883-1948), in: KuD 29, 1983, 182-196; P.-P. Sänger, Anfänge und Herkunft Iwands – seine theologischen Lehrer, in: J. Seim/M. Stöhr (Hg.), Beiträge zur Theologie Hans Joachim Iwands, Arnoldshainer Texte 51, Frankfurt 1988, 3-60.
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nicht zu tun mit einer Symbolik, hinter der dann die Wahrheit steht, sondern wir haben es mit der Wahrheit und Wirklichkeit Gottes selbst zu tun. In dem Moment, wo unsere Verkündigung nur als kultische Handlung verstanden wird, ist die Gefahr nahe, daß unsere Predigt nur eine Rede ist von einem großen Unbekannten. Man meint dann, das Unsagbare kultisch deutlich machen zu können. Aber wir haben den lgo@ qeo‰ (das Wort Gottes), nicht den ⁄gnwst@ qe@ (den unbekannten Gott, vgl. Apg 17,23-31). Bei uns steht der in der Mitte, der sagt: »Ich aber kenne ihn« (Joh 8,55). In der Verkündigung setzt der Auferstandene seine Herrschaft im Kosmos durch und zwar im Kosmos nach der Breite und Länge, im Raum und in der Zeit. Erst von Christus her gibt es eine Zeitrechnung, so wie es von Christus her erst eine Ökumene gibt (vgl. Kol 1,15-23). So ist im Neuen Testament der Predigtbefehl zu verstehen: Ausbreitung der Herrschaft Christi in alle Räume, in alle Weiten, in alle Zeiten, in alle Höhen, in alle Tiefen. Das heißt Ausbreitung der Herrschaft Christi und wenn wir sie nicht ausbreiten durch das Wort der Verkündigung, dann fallen wir davon ab. Wir wissen, wie in der Kirchengeschichte alle möglichen Mittel dazu genommen worden sind. Wir wissen, wie fragwürdig die Verkündigung dadurch geworden ist, wie dadurch die Verkündigung in den Hintergrund getreten ist. Wer den Ritus mitmachte, wurde Christ 14 . In dem Augenblick, wo die Verkündigung zurücktritt, kommt das Heidentum wieder hervor. Immer wieder sind die Reformen der Kirche ausgegangen von Reformen der Verkündigung her, nicht nur in der Reformationszeit. Bernhard von Clairvaux war ein großer Prediger, Augustins Größe steckt in seinen Predigten und in seiner Lehre. Oder denken Sie an den Pietismus, er konnte wieder predigen und lehren. Da liegt die Erneuerung der Kirche, weil die Kirche hier wieder verstanden wird von der Verkündigung her. Da ist auch das, was uns heute bewegt, daß Karl Barth den Ruf herausgetragen hat: Verkündigung ist die Herrschaft des Auferstandenen 15 . In dem Augenblick, wo die Kirche sich wieder versteht aus der Verkündigung heraus, muß sie auch wieder die Auferstehung von den Toten verstehen, sonst kann sie
14. Zu den Missions-»Methoden« der Jesuiten, die Iwand im Blick hat, vgl. H. Boehmer, Die Jesuiten, Stuttgart 1957, 131-186. 15. Kein wörtliches Zitat. Diese Interpretation der Theologie Barths, wohl von Barmen 1934 her, trifft zwar nicht die Predigtlehre Barths in jener Zeit genau, wohl aber deren Intention. Zu vgl. ist: K. Barth, KD I/1, 1932/33; ders.,Offenbarung,Theologie und Kirche, TEH 9, 1934. Vgl. auch die Definition der Predigt in: ders., Homiletik – Wesen und Vorbereitung der Predigt. Nachschrift des Homiletischen Seminars 1932 und 1933, hg. v. G. Seyfferth, (1966), 2. Aufl., 1985, 30. Vgl. auch K. Barth, Die Auferstehung der Toten (1924), 4. Aufl., Zürich, 1953.
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nicht verkündigen. Eine Theologie, die die Rechtfertigung verstand ohne Auferstehung, hat es nie zu einer ordentlichen Verkündigung gebracht. So konnte die Rechtfertigungslehre wohl tradiert werden, aber nicht als Verkündigung auf den Plan treten. Paulus sagt, daß die ganze Rechtfertigungslehre nichts nützt, wenn Christus nicht auferstanden ist. 1 Kor 15,14+16: »Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsere Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich … Ist Christus aber nicht auferstanden, so … seid ihr noch in euren Sünden«. Er ist auferstanden, damit unsere Rechtfertigung kräftig wird (vgl. Röm 4,25). Damit wird schon deutlich, was es heißt, daß im Auftrag des Auferstandenen verkündigt wird: Die Verkündigung ist dann nichts anderes als die Einbeziehung der Menschen in diesen Akt, in das hochzeitliche Mahl, zu dem sie geladen werden von den Gassen, Gute und Böse werden einbezogen in das Mahl (vgl. Mt 22,1-14 par.). »Es ist alles bereit«, das heißt: Verkündigt, geht hin und predigt allen Völkern, geht und ladet sie ein, seid Boten, seid Knechte, seid Lehrer, die die Menschen lehren, wie es wahrhaftig mit Gott steht, tut die Türen auf und ruft sie alle herbei, damit sie teilhaben an dem, was Gott in Christus bereitet hat. So ist denn auch die Rechtfertigung selbst zu verstehen: Gott war in Christus und hat uns gegeben den lgo@ t»@ katallagffi@ (das Wort der Versöhnung; vgl. 2 Kor 5,19). Verkündigen heißt also, den Menschen Anteil geben an der Herrschaft Gottes in Jesus Christus. Die Austeilung der c€ri@ to‰ qeo‰ (der Gnade Gottes; vgl. Röm 1,7; 3,24; 5,15-19; 7,25), die in Christus uns geschenkt ist, ist das Kerygma, und die Annahme dieses Geschenkes ist der Glaube. Es wird einfach den Menschen gesagt, was Gott ihnen bereitet hat, und durch dieses Angebot ergreift Christus Besitz von den Menschen. Es ist ganz anders, als es unter dem Gesetz war, wo nämlich einfach ein ganzes Volk unter die Ordnung Gottes gestellt wurde, und dann war die Verkündigung oder Erziehung nur Auslegung, Schriftgelehrtenarbeit, die sich innerhalb dieser Ordnung vollzog. Wesentlich ist, daß hier die Gnade Gottes angeboten wird, daß wir nicht unter dem Gesetz stehen, sondern unter dem Evangelium. Wer’s nimmt, der nimmt es. Wer nicht glaubt, der lässt es. Den einen ein Ärgernis, den andern ein Geruch zum Leben (vgl. 1 Kor 1,23 und 2 Kor 2,14-16). Mit einer christlichen Ordnung, in die hinein dann auch die Predigt gehört, ist dem Menschen nicht geholfen. »Die Erlösungsordnung muß in die Schöpfungsordnung hineingebaut werden« 16 : das ist falsch. Wenn man so vorgehen würde, würde man das Evangelium einbauen in das Gesetz, dann 16. Vgl. F. Lau, Art. Schöpfungsordnung, in: RGG 3. Aufl., Bd. V, 1492-1494. Zur Kritik
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könnte keiner mehr das Evangelium verwerfen, ohne sich damit auszugliedern aus der Volksgemeinschaft. Das Evangelium würde die allgemeine deutsche Haltung werden. So aber geht es nicht, obwohl manche, gerade von den Besten, das bei uns meinten. Sie meinten, wenn das ganze Volk christlich sein soll, dann muß die Verkündigung aufgebaut werden auf den Schöpfungsordnungen, nicht auf der Erlösungsordnung. Aber dann ist die Verkündigung nichts anderes als Moralpredigt und ein Stückchen Seelsorge. Wenn aber Verkündigung Angebot Gottes ist in der Kraft der Auferstehung, dann muß die Verkündigung scheiden, die einen herausholen zum Glauben, bei den andern ein Ärgernis erwecken. Wir wundern uns immer wieder so über den Satz: Bruder gegen Bruder; ich bin gekommen, einen zu erregen wider den andern (vgl. Mt 10,34-38). Aber wir werden sehen: Wir können gar nicht das Evangelium verkündigen, ohne daß dieses Widereinander entsteht. Selbst die Heiligkeit der Familie zerbricht daran 17 . Hier wird jeder vereinzelt, hier hört jedes Denken in der Sippe, im Stamm, im Volk, in der Allgemeinheit auf. Damit ist gesagt: durch diese Tradition und Erziehung wird niemand ein Christ. Es wird nur einer ein Christ, wenn er ganz für sich aIlein hört auf dieses Wort, das ihm gesagt wird in der Kraft des Auferstandenen. Du wirst kein Christ, wenn Du darauf siehst: Was sagt mein Bruder dazu? Christ wird man dadurch, daß man durch die Verkündigung in die Einsamkeit der Todesstunde versetzt wird. Sterben mit Christus (vgl. Röm 6,8), das heißt vereinzelt werden, daß man da mit Ihm ganz allein ist und in Ihm Genüge hat (vgl. Joh 10,10). Er ist der Auferstandene. Er ist unsere dikafflwsi@ (unsere Gerechtmachung; vgl. Röm 5,18). Röm 4,25: »Er ist um unserer Sünden willen dahingegeben und um unserer Rechtfertigung willen auferweckt«. Die Verkündigung ist die Durchsetzung der Herrschaft Jesu Christi, aber diese Herrschaft ergreift nur jeden für sich. Christus samvgl. die Darstellungen von E. Wolf, Luthers Erbe?, in: ders., Peregrinatio II, München 1965, 52-81; und: Zur Selbskritik des Luthertums, ebda. 82-103. 17. Vgl. hier die aus der Situation der Vikare der BK gesprochene, von E. Burdach, Hans Joachim Iwand, Theologe zwischen den Zeiten, Beienrode 1982, 395 wiedergegebene gefährliche(!) Beschreibung: »Bibelworte, die als Übertreibungen galten, wurden erschreckende und beglückende Wirklichkeit, das eine, das die Familie auflöst: ›Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist mein nicht wert‹ (Matth. 10,37), und das andere, das die neue Familie stiftet: ›Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? … Wer den Willen tut meines Vaters im Himmel …‹ (Matth. 12,48.50) … Die damalige deutsche Jugend reagierte auf Hitlers totalen Anspruch notwendig mit Begeisterung; die Parallele dazu war die völlige Hingabe junger Theologen an die Sache Christi …« Gegen diese Parallelisierung würde Iwand heftigen theologischen Widerspruch anmelden, wie aus der gesamten Homiletik sicher deutlich wird.
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melt uns nicht als Masse und Herde, Jesus kann uns nicht anders heimholen als so, daß er uns vereinzelt. Das Zweite, das zum Predigtbefehl gehört, ist die Ausgießung des Heiligen Geistes. Der Predigtbefehl setzt einerseits voraus, daß Jesus Christus auferstanden ist und andererseits, daß Gott den Heiligen Geist gibt. Warum? Weil ohne den Geist Gottes der Mensch nicht erkennen kann, daß Jesus Christus der Herr ist (vgl. 1 Kor 12,3) 18 . Wenn Ihnen der Auftrag gegeben wird zu predigen, so behält sich Gott das Gelingen dieses Auftrages selbst vor. Wir stehen mit der Ausführung unseres Predigtauftrages zwischen zwei Grenzen: Wir können nicht predigen, wäre Christus nicht auferstanden, und unsere Predigt wirkt nichts, wenn Gott nicht den Heiligen Geist gibt. Wir laufen zwischen Ostern und Pfingsten, aber wir sind darauf angewiesen, daß Ostern und Pfingsten von Gott aus in Kraft gesetzt ist. Nicht wir können durch die Verkündigung Jesu Christi Jesus Christus in der Welt verherrlichen. Denken Sie sich einen Menschen, zu dem gesagt wird: Du hast hier zu arbeiten, aber ob was dabei herauskommt, liegt bei Gott. Kann man das noch arbeiten nennen? Gerade das müssen wir arbeiten nennen. Alles andere ist menschliche Hybris. Der Landwirt weiß genau, daß seine Arbeit davon abhängt, daß Gott das Gedeihen gibt. Darum bei Paulus gerade dieses Bild 1 Kor 3,5-7: »Wer ist Apollos? Wer ist Paulus? Diener sind sie, durch welche ihr seid gläubig geworden und das, wie es der Herr einem jeglichen gegeben hat. Ich habe gepflanzt, Apollos hat begossen; aber Gott hat das Gedeihen gegeben. So ist nun weder der da pflanzt noch der da begießt etwas, sondern Gott, der das Gedeihen gibt«. Die Predigtarbeit ist so begrenzt und so bemessen, daß das Gelingen allein bei Gott liegt, daß wir wirklich Arbeiter sind in seinem Weinberg (vgl. Mt 20,1-16). Wenn Er nicht wachsen läßt, dann läßt er nicht wachsen. Und wie der Bauer nicht zu sorgen braucht – er kann keinen Regen machen –, er hat das Seine zu tun: so ist tatsächlich die Predigttätigkeit auch eine ganz bestimmte Arbeit, die in einer ganz bestimmten Sauberkeit, mit Fleiß und Zucht getan
18. Vgl. M. Luther, Kleiner Katechismus, in: BSLK, Göttingen 1967, 511,46-512,14: »… Credo me propriis rationis meae viribus Jesu Christo, Domino meo, fidere aut ac eum accedere nullo modo posse, sed spiritus sanctus per evangelium me vocavit, suis donis illuminavit, recta fide sanctificavit et conservavit …«. Großer Katechismus, BSLK 653,25-662,13. Zit. 654,21-27: »Denn wider Du noch ich künnten immermehr etwas von Christo wissen noch an ihn gläuben und zum Herrn kriegen, wo es nicht durch die Predigt des Evangelii von dem heiligen Geist würde angetragen und uns in Bosam geschenkt«; vgl. auch 660,44-47: »Von Christo künnten wir nichts wissen, wo es nicht durch den heiligen Geist offenbaret wäre«.
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wird. Und wenn wir alles das getan haben, haben wir nichts anderes zu tun als die Hände zu falten, Gott möge die Arbeit segnen. Machen Sie keinen Popenzauber später in Ihrer Gemeinde! Es hängt an Gottes Geist. Im Vertrauen darauf sollen wir unsere Arbeit tun: ministerium verbi divini, »Dienst am Wort Gottes«. Gottes Geist scheidet, nicht wir. Wenn wir das tun, dann folgt in der Tat nur Streit, Neid, Zank, Hass, Zerstörung daraus (vgl. Gal 5,20). Wir können nicht heilen, aber wenn Gott zerreißt, dann heilt es. Wo ein Christ ist, da merkt man das. Es kommt die Zeit, da der Segen kommt. Wenn Gottes Geist den Menschen vereinzelt, dann nicht darum, damit dieser Mensch nun für sich leben soll, sondern damit er dem Herrn lebe (vgl. Röm 14,7-9), und das wird Frucht bringen für alle, die im Hause sind. Das Licht wird leuchten (vgl. Mt 5,15). Gott trennt nicht ein Stück von Erwählten heraus, um das andere Stück zu verwerfen, sondern um den andern dadurch Kraft zu geben. Eine christliche Kirche ist auf die Dauer für ein ganzes Volk ein Segen. Die Juden sind das einzige Volk, das auf Grund völkischer Prinzipien keine christliche Kirche in sich duldet 19 . Bitte achten Sie darauf, daß die Grenze nach vorn für unser Wirken und Arbeiten der Geist Gottes ist, so wie nach hinten die Grenze die Auferstehung Jesu ist. Was Er mit dem Wort macht, ist seine Sache. Das geht so weit, daß ich eigentlich gar nicht weiß, wie denn durch meine Verkündigung der Glaube im Hörer zustande kommt. So wie der Bauer nicht weiß, wie durch das Sterben des Samenkorns neues Leben kommt, so darf der Pfarrer nicht wissen, wie denn aus seinem Wort das Leben aufgeht. In dem Augenblick, da er das weiß, macht er das Leben, ist er nicht mehr ein Diener der Freude, sondern ein Herr über den Glauben, 2 Kor 1,24: »Nicht daß wir Herren wären über euren Glauben, sondern wir sind Gehilfen eurer Freude …«. Sunergoffl (Mitarbeitende) sind Leute, die bei Gott mit in der Arbeit stehen (vgl. 1 Kor 3,9; Kol 4,11), Gott ist am Werk, durch seinen Sohn die Herrschaft in der Welt einzunehmen und sucht sich Arbeiter für dieses Werk, die in der Grenze der Knechtschaft, der Dienststellung dieses Werk zu vollführen haben. Wehe, wenn diese Arbeiter sich als Herren fühlen! Da schlagen sie den Sohn tot: Jetzt kommt der Erbe (vgl. Mk 12,7 parr.)! 1933 sagte man: Jetzt machen wir das Christentum im deutschen 19. Hier ist aufmerksam zu machen auf das Problem »Iwand und die Juden«, das jedem aufmerksamen Leser von Iwands Schriften aus den Jahren 1933-1945 auffällt wegen seiner starken, von seiner Exegese getragenen Polemik gegen die Juden. Vgl. dazu: J. Seim, Israel und die Juden im Leben und Werk Hans Joachim Iwands, in: H. Kremers (Hg.): Die Juden und Martin Luther – Martin Luther und die Juden, Neukirchen 1985, 249-286.
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Volk! Wehe uns, wenn wir dasselbe machen: Jetzt werden wir bekenntnistreu predigen! Damit wäre in der Tat dasselbe auf der anderen Seite gemacht. Zwischen Ihnen und Ihrer Gemeinde steht Gott! Ein Segen und ein Trost, wenn Sie diese Grenze respektieren, aber ein scharfes Schwert, wenn Sie versuchen, diese Grenze zu überschreiten. In dem Augenblick, wo Sie beginnen, als Prediger über die Seelen herrschen zu wollen, laufen Sie in Gottes Schwert. Wie das kommt, daß Menschen aus Ihrer Verkündigung ihren Gott finden, bleibt Ihnen ebenso ein unabänderliches Rätsel, wie es allen anderen ein Rätsel bleibt. Es bleibt nur Gottes Segen übrig, so daß wir also wirklich wissen: Gott schafft den Glauben, wandelt den Menschen, ich bin nur sein Werkzeug. Was heißt denn jetzt do‰lo@ (Knecht) sein (vgl. 2 Kor 4,15)? Das heißt: In theologischer Rechtschaffenheit predigen. Die Theologie ist nichts anderes als diese Bemühung, der der Prediger im Wissen um die Knechtsstellung sich unterzieht, das Sich-Bemühen um die rechte Verkündigung, wobei alle Mittel benutzt werden müssen, die ihm zur Verfügung gestellt sind, weil er nicht über den Geist verfügt. »Der vom Geist getriebene Mann« braucht dies Mittel nicht. Er ist die dritte Person der Trinität: »Gott, Christus und ich, das ist die Heilige Dreifaltigkeit« 20 . Damit hat Karl Bornhausen nur gesagt, was viele denken: Weil ich aus dem Heiligen Geist rede, entzünde ich den Menschen, darum Schluß mit der Theologie! Der Auftrag der Verkündigung aber, den wir uns nicht gegeben haben, begrenzt uns zugleich durch die Gabe Gottes. Gott behält sich vor, was er aus dem Worte macht. Unsere Arbeit ist eine Arbeit auf Hoffnung – wie beim Landwirt. Die Arbeit des Predigers ist, wenn sie recht getan wird, das Vorbild jeder Arbeit. Daran, wie ein Prediger arbeitet, kann die ganze Gemeinde lernen, was Arbeit heißt: Daß nämlich Arbeit begrenzt ist zwischen Auftrag und Segen und daß es nicht wahr ist, wenn man sagt, wir Pfarrer seien die einzigen, die nicht arbeiteten. Hier wird entweder die Arbeit verfehlt oder wahrhaft getroffen. »Nun sucht man nicht mehr an den 20. Dies Zitat (?) konnte in der vorliegenden Form nicht an den Schriften Karl Bornhausens (1882-1940) verifiziert werden. Daß Iwand aber die Theologie Bornhausens damit polemisch charakterisiert, ist ganz offenbar. Vgl. K. Bornhausen, Die Offenbarung. Über die Verbindung von Gott und Mensch in der Zeit, Leipzig, 1928, 32 f.73 f.206-209; ders., Schöpfung, Wandel und Wesen der Religion, Leipzig 1930, 132-134.139. Zu K. Bornhausen vgl. M. Marquard, Karl Bornhausen (1882-1940), in: E. Herms/J. Ringleben (Hg.), Vergessene Theologen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Studien zur Theologiegeschichte, GTA 32, 1984, 104-126. Vgl. zur Sache deutend Iwand, NW 4, 46: »Es gibt noch eine besondere Form der annihilatio dei, das ist die Konformität mit Gott, d. h. das Herabziehen Gottes in meinen eigenen Willen, meine eigene Brust, indem ich erkläre, in mir selbst wohne Gott.«
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Haushaltern, denn daß sie treu erfunden werden« (1 Kor 4,2). Wenn wir Anfang und Ende verfehlen, streichen wir in die Luft (vgl. 1 Kor 9,26). Wo das Wort Gottes aber wirkt, da hat Er sich dazu bekannt durch Ausbreitung seines Geistes. So war es auch bei Christus, die Predigt Jesu wird begleitet von den Taten Gottes (vgl. Mk 16,17-20; Apg 2,22; Hebr 2,3 f.). Wie arbeite ich nun als getreuer Knecht? Schrift, Exegese, Gemeinde: diese Dinge und ihr Verhältnis zueinander müssen wir dann entwickeln. Aber wichtig ist und festhalten müssen Sie dies Eine: Hierdurch ist der Begriff der Arbeit gefunden. Ehe wir nicht den ganz nüchternen Begriff der Arbeit festgestellt haben, können wir den Predigtbegriff nicht entwikkeln, so daß wir genau dabei wissen: Unsere Arbeit hat den Erfolg nicht in der Hand, sondern den hat Gott. Wir haben Gott hinter und vor uns als den, der uns sendet und der den Erfolg dieser Sendung in der Hand behält, sich vorbehält. Erst wenn wir das bedenken, können wir recht arbeiten. Wenn wir diese Grenze überschreiten, hört der Charakter der Sendung auf. Wenn der Prediger meint, er könne das Wirken des Geistes ersetzen durch seine Begeisterung, hört der Arbeitscharakter der Predigt auf. Nüchtern haben wir uns zu halten an die uns gesteckten Grenzen. Wir werden sehen, was das bedeutet, wenn wir die Frage des Hörers bei der Predigt betrachten. Denn es ist klar, daß diese Frage eine andere wird, wenn zwischen mir und dem Hörer der Heilige Geist steht. Ich habe ihm das Wort zu bringen, dem sich Gottes Wort beigesellt. Ich habe mich nicht auf den Hörer einzustellen, sondern auf den, der mich sendet. Daß wir treu erfunden werden, das ist alles (vgl. 1 Kor 4,2)! 21 Vereinigt sich nun der Heilige Geist nur mit dem rechten Evangelium? Gerade das meint das Neue Testament, wenn es den Heiligen Geist auf Christus bezieht, daß sich der Heilige Geist nicht einer Verkündigung beigesellt, die nicht aus dem Evangelium geschöpft ist. Wo das nicht geschieht, steht das ⁄n€qema Gottes dahinter, Gal.1,8: »Aber wenn auch wir oder ein Engel vom Himmel euch würde Evangelium predigen anders, als wir euch gepredigt haben, der sei verflucht«. Die Predigt setzt voraus, daß Christus gekommen ist, daß also der Wille Gottes an den Menschen sein Ziel erreicht hat. Darum ist das Wesen der Predigt Verkündigung, und ihre Form ist Botendienst. Gewiß gibt es auch im Alten Testament Predigt, aber alles, was da Predigt ist, bezieht sich auf den Tag Gottes, an dem Gott helfen wird, kommen 21. Iwand, NW 6, 282 (Brief vom 20. 9. 1935 aus Bloestau): »Hier ist viel zu tun, manchmal meine ich, es einfach körperlich und geistig nicht mehr zu schaffen. Wer weiß, was Gott noch mit uns vorhat. Wenn wir nur treu erfunden werden.«
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wird. Auch die Predigt des Gesetzes ist bezogen auf den Tag, da Gott den Menschen ein neues Herz geben wird (vgl. Jer 31,31-34; Hebr 8,8-12), an dem Gott das Volk seines Eigentums besuchen wird (vgl. Ps 94,14; 135,4; Lk 1,68; 1 Petr 2,9). Darum ist diese Predigt schon Verkündigung, weil sie bezogen ist auf den Tag des Herrn, bezogen auf einen bestimmten konkreten Tag. So meinen auch unsere Bekenntnisschriften, daß dies der Unterschied ist, daß die alttestamentlichen Frommen Ausschau halten auf diesen Tag, während die Gemeinde Christi von der Gewißheit lebt, daß der Tag gekommen ist 22 . Die Gewißheit der alttestamentlichen Propheten und die Gewißheit der neutestamentlichen Gemeinde ist ein und dieselbe. Es ist nicht so, daß die alttestamentlichen Frommen noch einer Ungewißheit ausgesetzt waren und wir eine Gewißheit für uns haben, sondern es ist lediglich so, daß sie predigten: Der Tag Gottes, das Gericht Gottes, die große Wendung, der neue Bund kommt! Wir aber sagen: Das Reich Gottes, die große Wendung, der neue Bund ist gekommen in Jesus Christus! So wie es damals solche gab, die zweifelten, weil es ein zukünftiges Ereignis war, so gibt es heute viele, die zweifeln, weil es ein vergangenes Ereignis ist. Ich möchte hier gar nicht den Unterschied herausstreichen, aber die Predigt wäre als solche überhaupt nicht möglich, wenn nicht ein solcher Tag, eine solche Stunde von Gott gesetzt wäre, und zwar in unserer Zeit, im Lauf dieser Welt, für das Menschengeschlecht. Denn dieser Tag hat inhaltlich zu bedeuten, daß der Wille Gottes geschieht, daß Gott zu seinem Ziel kommt, daß in einem bestimmten Ereignis der Wille Gottes sich erfüllt, und darum ist das Wesen der Predigt Verkündigung. Warum ist das Wesen der Predigt nicht Gesetzespredigt, nicht Morallehre, warum nicht religionsphilosophischer Vortrag, warum nicht seelische Erregung, fromme Erregung, durch die der vorhandene Kern der Gemeinde immer neu erregt wird, sondern warum Verkündigung? Wenn wir uns das nicht klar machen, bleibt unsere Verkündigung ein 22. Apologie der CA IV, 5+6, in: BSLK, a. a. O., 159,30-160,9: »… als wenn im alten Testament die Schrift verheißet den zukünftigen Christum und beutet ewigen Segen, Benedeiung, ewiges Heil, Gerechtigkeit und ewiges Lebens durch ihn an, oder im neuen Testament, wenn Christus, seid er kommen ist auf Erden, im Evangelio verheißet Vergebung der Sunden, ewige Gerechtigkeit, ewiges Leben …« Apologie XII, 53+54, BSLK, 261,53-262,10: »Haec enim sunt duo praecipua opera Dei in hominibus, perterrefacere, et iustificare ac vivificare perterrefactos. In haec duo opera distributa est universa scriptura.« Vgl. zum Verhältnis Altes – Neues Testament bei Iwand nur die Arbeiten der beiden einflussreichen Lehrer: M. Kähler, Jesus und das Alte Testament, bearb. und hg. von E. Kähler, BSt 45, Neukirchen 1965; J. Schniewind, Die Eine Botschaft des Alten und Neuen Testaments (1936), in: Nachgel. Reden und Aufsätze, a. a. O., 58-71.
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leerer Begriff. Im Neuen wie im Alten Testament finden wir, daß Kerygma heißt: Da ist etwas geschehen, und von diesem Ereignis gehen Boten aus, Kunde von ihm in alle Welt zu tragen. »Wie lieblich sind die Füße der Boten, die da sagen: König ist worden dein Gott« (vgl. Jes 52,7). Diese Botschaft nimmt Jesus auf, er predigt die basileffla qeo‰ (die Königsherrschaft Gottes; vgl. Mk 1,15), wie auch das ganze Heer der Apostel die basileffla verkündet, die in Christus Ereignis geworden ist. Verkündigung heißt, daß ein Ereignis eingetreten ist, welches bekannt werden muß, daß ein Ereignis eingetreten ist, das durch Heroldsruf ausgerufen werden muß. E'aggelfflsth@, das ist zum einen der Bote, der die Kunde bringt: Die Schlacht ist gewonnen!, zum andern der Ausrufer, der bekannt gibt, daß ein neuer Kaiser den Thron bestiegen hat. Dieses Ereignis muß verkündet werden, proklamiert werden. Es geht gar nicht an, daß ein König den Thron besteigt, ohne daß sein Volk davon Kunde bekommt; es muß wissen, unter welchem König es lebt. In diesem schlichten Sinne wird verkündigt. Oder auch in dem Sinn, daß ein Bote kommt und die Kunde bringt: Die Schlacht ist gewonnen! Christus selbst bezeichnet sich als solchen Boten, Luk 4,18+19: »Der Geist des Herrn ist bei mir, darum weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, daß sie los sein sollen, und den Blinden, daß sie sehend werden, und den Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sein sollen, zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn«. Verkündigung gäbe es gar nicht, wenn nicht etwas geschehen wäre, was ausgerufen werden muß und das dadurch, daß es ausgerufen wird, seine Bedeutung für das Ganze gewinnt. Ein Gewitter geschieht und ist auch ein Ereignis, aber es geschieht, auch wenn nichts davon proklamiert wird. Eine Thronbesteigung, die nicht proklamiert wird, ist ein Theater. Denn eine Thronbesteigung geht nicht nur den etwas an, der den Thron besteigt, sondern alle, die zu seinem Reich gehören. Indem der König Boten aussendet, nimmt er sie in Pflicht, stellt er sie in die Bindung unter das Ereignis. Verkündigung heißt, daß Gott durch unsere Verkündigung die Menschen dieser Welt in Pflicht nimmt zum Glauben an diesen Jesus Christus. Der ist kÐrio@ (Herr, Herrscher; vgl. Ps 8,2; Röm 4,24; Hebr 13,20), nicht nur der Kirche, sondern der ganzen Welt, Phil 2,9-11: »Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, daß in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, daß Jesus Christus der Herr sei, zur Ehre Gottes des Vaters«. Das heißt verkündigen: Ein Bote Gottes sein, der die, an die die Botschaft ergeht, in Pflicht nimmt, zum Bekenntnis aufruft, diesem Herrn sich zu unterstellen. Die Kraft der Verkündigung
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liegt in dem Ereignis selbst, von dem die Verkündigung herkommt. Weil Jesus Christus von Gott zum Herrn gesetzt ist, darum können wir verkündigen. Aber diese Einsetzung würde dann nutzlos sein, wenn sie nicht wirksam würde in diesem Botendienst. Sie ist nicht ein Ereignis an sich, sondern hat nur soviel Bedeutung für die Welt, als Boten da sind, die die Menschen dieser Welt in Pflicht nehmen für das Reich Gottes, für den Sohn Gottes. »Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selbst« (2 Kor 5,19). Zur Machtergreifung gehört der Botendienst; streichen wir das, dann streichen wir damit faktisch die Versöhnung Gottes. Dann wäre es gar nicht nötig, daß wir Mission trieben. Warum gehen denn die Boten hinaus und missionieren die Welt? Weil Jesus der Herr ist und sein Reich es verlangt, daß alle die Botschaft davon empfangen. »Wir bitten als Botschafter an Christi Statt, laßt euch versöhnen mit Gott« (2 Kor 5,20). Erst dadurch, daß ihr euch versöhnen lasst, wird das Werk des Sohnes Gottes in euch kräftig. Dein Reich komme so, daß wir hineingehören, Anteil haben an dem, was bei Gott geschehen ist. Wir bitten, daß es auch zu uns komme 23 . Wir bitten damit, indem wir so bitten, sowohl um den Heiligen Geist, daß wir es glauben, als auch um die rechte Verkündigung, um Boten Gottes. Das Wesen der Predigt als Verkündigung müssen wir herleiten von einem Ereignis Gottes, das ausgerufen werden muß. Botendienst! Paulus nennt sich einen Gesandten, einen do‰lo@ (einen Sklaven), einen di€kono@ (Diener), einen Gefangenen, einen Läufer, der bis zum Ziel laufen muß (vgl. 2 Kor 4,5; 6,4; Phlm 1,9; Phil 3,12-14; 1 Kor 9,24-27). Er meint, daß die Verkündigung an eine bestimmte Form ihrer Ausrichtung gebunden ist. Wenn wir die Form vom Inhalt her verstehen wollen, müssen wir sagen: Keine Verkündigung ist echt, die nicht die Weise der Erzählung annehmen kann, die nicht Bericht ist. Eine Verkündigung – ganz grob gesprochen – die meint, sie müsse eine neue theologische Erkenntnis unter das Volk bringen, macht aus dem Teil ein Ganzes; das ist nicht Aufgabe der Verkündigung. Auf diese Weise predigt sich der Prediger selbst. Seine Erkenntnis kann er nicht umsetzen in einen Bericht. An Weihnachten müssen Sie die Weihnachtsgeschichte erzählen – das ist die Grenze für alle theologischen Extravaganzen. Ebenso an Ostern und Pfingsten. Was da geschehen ist, darauf kommt es an. Das mag uns peinlich und hinderlich sein, aber sobald 23. Vgl. M. Luther, Kleiner Katechismus, BSLK 513,5-15. »Gottes Reich kömmpt wohl ohn unser Gebet von ihme selbs, aber wir bitten in diesem Gebet, daß auch zu uns komme« (513,7-9); vgl. BSLK 673,7-23.
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wir die Predigt nicht umsetzen können in Geschichte, in dem Augenblick ist sie nicht mehr Verkündigung. Der Bote, der die Botschaft von der gewonnenen Schlacht bringt, sagt zunächst nichts anderes als: Die Schlacht ist gewonnen! Der Thron ist bestiegen! In dem Augenblick, wo wir nicht mehr Bericht erstatten in diesem Sinn, wo wir nur noch herkommen vom Hörsaal oder einer Inspiration, sind wir nicht mehr Boten Gottes. Grob gesprochen: Das, was Paulus uns in Römer 3 lehrt, erzählt uns der Evangelist in der Leidensgeschichte. Sie haben zu allen Lehrstücken, so glaube ich, einen Hintergrund in der Geschichte Jesu. Es gibt nicht eine bestimmte paulinische Theologie, sondern sie ist auch nur eine Ausführung, eine Lehre über das, was Gott in Jesus Christus getan hat und was in den Evangelien berichtet ist 24 . Ich habe es empfangen und weitergegeben; was hast du, was du nicht empfangen hättest (vgl. 1 Kor 11,23; 15,3; 4,7)? Unsere ganze Lehre in der Predigt muß sich immer wieder daran messen lassen, ob wir darin den Menschen über dieses Ereignis belehren. Erst damit wird sie aktuell, ereignishaltig. Die Aktualität der Predigt liegt in dem einen Akt Gottes: s€rx ¥gffneto, Joh 1,14: »Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit«. Darum können Sie ohne weiteres das, was Sie predigen, als Kindergottesdienst halten. Wo Sie das nicht können, dürfen Sie nicht verlangen, daß die Erwachsenen Ihnen glauben. Kindern müssen Sie erzählen. Wenn Sie das, was Sie zu lehren haben, nicht erzählen können, haben Sie nichts zu lehren. Alles was nicht unmittelbar dargestellt werden kann als Erzählung, kann niemals Inhalt der Verkündigung sein. Von daher muß man sich fragen, ob wirklich der Hebräerbrief nicht schon an die Grenze dessen geht, was man noch als Verkündigung ansprechen darf. Ob nicht von daher bestimmte Fragen aufkommen beim Jakobusbrief, beim 2. Petrusbrief, ob hier nicht die Verkündigung schon übergeht in eine christliche Moralpredigt? 25 Das ist das Große beim Johannesevangelium. Johannes erzählt die Ge24. Vgl. zum exegetischen Hintergrund dieser These: J. Schniewind, Die Botschaft Jesu und die Theologie des Paulus, in: ders., Nachgel. Reden und Aufsätze, 16-37; ders., Zur Synoptiker-Exegese, ThR 2, 1930, 129-189. »Der Jesus der Evangelien ist der Gekreuzigte, nicht anders wie der Christus des Paulus … In den Evangelien ist Jesus auf dem Weg zum Kreuz und zur Auferstehung; für Paulus ist Jesus als der Gekreuzigte und Erhöhte seiner Gemeinde gegenwärtig … Die Briefe, zumal Paulus’ Briefe, bezeugen, was der Erhöhte in seiner Gemeinde redet und tut. Die Evangelien aber bezeugen, wer dieser Erhöhte ist« (Die Botschaft Jesu, a. a. O., 17); vgl. Anm. 1. 25. Vgl. Luthers Vorreden zur Bibel, hg. von H. Bornkamm, ITB 677, 1983, 173 f.215218. Zu 2. Petrus: WA 14,73,22 ff. vgl. H. Bornkamm, Einführung, a. a. O., 11-38;
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schichte, und es folgt dann die Rede: Heilung des Blinden – »Ich bin das Licht der Welt« (vgl. Joh 9); Lazarus – »Ich bin die Auferstehung und das Leben« (vgl. Joh 11). So ist auch bei Jesus dieses Nebeneinander dessen, was er lehrt und tut. Die Evangelisten schreiben als Berichterstatter, das ganze Neue Testament ist nicht denkbar ohne diese Basis. Nur auf diesem Fundament gibt es die Lehrpredigt, die ganze theologische Arbeit. Wehe, wenn sich diese Arbeit selbst als Fundament versteht! Paulus weiß: der Grund ist gelegt, auf diesem Grunde bauen wir auf (vgl. 1 Kor 3,11). Wehe, wenn jeder seine Bauten als die Grundlagen ansieht!
W. Maurer, Luthers Verständnis des neutestamentlichen Kanons, in: ders., Kirche und Geschichte 1, Göttingen 1970, 134-158.
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Kapitel 2: Immer währende Verkündigung
Wenn nun wirklich die Verkündigung ausgeht von einem Tatbestand, warum muss dann immer von neuem gepredigt werden? Die immer währende Verkündigung müssen wir doppelt begründen. Zum einen ist der Tatbestand, den Sie zu verkündigen haben, von unerforschlicher Tiefe (vgl. Röm 11,33). Es geht immer ¥k pfflstew@ e§@ pfflstin (aus Glauben in Glauben; Röm 1,17), so daß, wenn jemand hier stehen bleiben wollte, er selbst nicht in der Sache drin stünde. Zum andern ist die immer währende Verkündigung zu begründen aus dem Verhältnis zur Welt. Die Welt schüttet alles wieder zu, die Vögel picken es weg, die Dornen ersticken’s, es gerät auf den Felsen, nur wenig geht auf (vgl. Mk 4,13-20). Die Welt sendet auch ihre Prediger, um die Prediger des Evangeliums zu verwirren. Der Fürst dieser Welt (EG 362,3) tut alles, um diese Botschaft, die ja den Kindern der Welt die Freiheit bringt, zu unterdrücken. Die Welt tut alles, um das, was durch diese Verkündigung geschaffen wird, zu vernichten. Ein neuer Aufbruch war uns geschenkt in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg, als wir Luther fanden, als wir zur Schrift fanden, als uns der Durchbruch durch den Liberalismus gelang, als wir die Theologie des Kreuzes wiederfanden als das, für das unsere Väter gelitten und gestritten haben, als es uns gelang, die Theologie zu befreien aus Philosophie und Historismus und wir wirklich meinten, jetzt ist es geschafft, denn die Vertreter des Alten darf man nur noch ruhig sterben lassen, die neue Situation ist gesichert, der Nachwuchs kommt aus dieser Theologie. Auf einmal aber saß die Lüge auf dem Thron, auf einmal kehrte sich alles um und der Abschaum, theologisch und pastoral, flaggte in dem Sinn: Uns gehört die neue Zeit! Ein deutliches Zeichen, das doch eine sehr schwere Anfechtung gewesen ist für die wenigen, die damals die ganze Tragweite der Entwicklung übersahen, ein eindeutiges Dokument dafür, daß die Welt immer wieder versucht, die Dinge zuzuschütten. Es ist eben nicht so, daß wir sagen könnten: Jetzt ist die Zeit ein Bahnbereiter für das Evangelium, das ist jetzt Junge Kirche 26 , das ist die neue Theologie, das ist die Erwek26. Vgl. zu Entstehung und Anliegen der »jungreformatorischen Bewegung«: K. Meier, Der Evangelische Kirchenkampf Band 1, Göttingen 1976, 92-96.106-108; M. Per-
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kung 27 , jetzt machen wir mit! Das geht nicht. Alle derartigen Überlegungen sind völlige Täuschungen. Wenn die Zeit und die Verkündigung scheinbar zusammenklingen, kommen größte Fehler heraus. Überall, wo wir glauben, der Zeitgeist entwickelt sich im Sinne des Evangeliums, sind wir getäuscht. Da brauchten wir nicht mehr zu predigen, da würden ja die Menschen, die dem Zeitgeist gemäß denken und leben, im Evangelium leben. Niemals kann eine Zeiteinteilung – und mag sie noch so fromm sein, daß man von einer Art Theokratie sprechen könnte –, niemals kann dieses Leben die Predigt ersetzen, niemals kann die Predigt übergehen in liturgische Formen, die dann das fromme Leben regeln und darstellen. Ich habe bei den Berneuchnern immer den Verdacht, daß die Verkündigung nur eine Unterstützung der liturgischen Form ist, in der dann stilvoll das ganze Leben nach dem Willen Gottes geregelt ist. Hierher gehören auch meine Bedenken gegen bestimmte Dinge der Hochkirchen 28 . Man kann weltlich und geistlich die Predigt überflüssig machen. Die Predigt hat dann nur die Aufgabe, die Gemeinde christlich zu erregen. Christus erregt dann am stärksten die Kräfte, weil er das Urbild des frommen Selbstbewusstseins ist 29 . Dann liegen wir in Konkurrenz mit einem politischen Lebensstil, aber alles das ist ein Umgehen der Verkündigung. Es ist eine Utopie, wenn man meint, daß ein Mensch auch in seiner eigenen Existenz das Wort Gottes entbehren könnte, denn auch das Leben des Menschen selbst schüttet immer wieder zu, was er zu haben meint. Auf die Tiefe der Sache gesehen ist das, was wir in 2000 Jahren gegratiet, Das Ringen um Wesen und Auftrag der Kirche in der nationalsozialistischen Zeit, AKG 19, Göttingen 1968, 81-83; vgl. Anm. 27. 27. Zu vgl. sind die Selbstzeugnisse und Darstellung der Theologie der deutschchristlichen Bewegungen. G. v. Norden: Der deutsche Protestantismus im Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung, Gütersloh 1979; H. J. Sonne, Die politische Theologie der Deutschen Christen, GTA 21, Göttingen 1982; E. Wolf, Barmen, BEvTh 27, München 2. Aufl. 1970. 28. Bei Iwand keine direkten Belege. Man vgl. aber die Bemerkung von E. Burdach, Hans Joachim Iwand, a. a. O.,397, die wohl nicht Bonhoeffer treffen sollte, aber einen charakteristischen Unterschied im Lebensstil beider Seminare in Bloestau und Finkenwalde benennt: »Im Unterscheid zu dem mehr klösterlich-liturgischen Charakter von Bonhoeffers Finkenwalde war Bloestau sicherlich kein ›heiligmäßiger‹ Ort. Psalmodieren und Gebetsrituale gab es nicht; allzu großer liturgischer Eifer sah sich im Verdacht, durch schöne, feierliche Form einen dürftigen Inhalt verdekken zu wollen.« Bethge beschreibt das gemeinsame Leben in Finkenwalde sehr viel differenzierter, vgl. E. Bethge, Bonhoeffer, a. a. O., 490-498.527-539. 29. Vgl. F. D. Schleiermacher, Der christliche Glaube, hg. von M. Redeker, Berlin 1960, Band I, bes. §§ 32-35. Ders., Die praktische Theologie nach Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, (hg. v. J. Frerichs), Berlin 1850, 201-264.
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Kapitel 2: Immer währende Verkündigung
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ben haben, gar nichts. Was ist alles, was wir tun können, gegenüber dieser Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und Erkenntnis Gottes (vgl. Röm 11,33 f.)? Hin und wieder haben große Prediger und Theologen einen Blick tun können in die Abgründe, die sich hier auftun. Die Prädestination tut solchen Abgrund auf, der Glaube an die Präexistenz Christi, die Kunde von der Einheit von Vater und Sohn. Das ist gerade das Entscheidende, daß unsere Predigt immer wieder geschieht am Rande eines solchen Abgrundes. Wer davon nichts weiß, weiß nichts vom Unterschied zwischen dem, was er sagt und dem, was das Wort Gottes sagt. Dann gibt es keine Entwicklung. Dann predigt er als Vikar schon so, wie er später als Superintendent predigen wird. Es hängt daran, ob er wirklich nachjagt und verläßt, was dahinten liegt (vgl. Phil 3,12-14). Wenn wir nicht wachsen und werden am Wort Gottes, dann wird nichts aus uns. Eine Predigt taugt soviel, wie der Prediger selbst auf dem Wege ist, in Bewegung ist, Neues zu sehen und zu finden, und das, was er gefunden hat, hinter sich läßt. Und zwar nicht nur hinter sich läßt, weil ein Zeitabstand ist zwischen dem 10. und 17. März, sondern weil er in mühseliger Arbeit Falsches entdeckt an dem, was er für richtig hielt und Neues entdeckt in einem Gebiet, das ihm bisher verschlossen war. Wenn die Predigt nicht getragen wird von einem Werden und Wachsen, nicht allein in der Heiligung, sondern auch in der Erkenntnis, dann taugt die Predigt nichts. Ein Praktisches dazu: das Wichtigste ist, daß Sie wirklich anfangen, wenn Sie als Prediger anfangen, und nicht einen Riesen markieren. Es muß zu merken sein, daß der Stand Ihres Lebens, Ihrer Erkenntnis, Ihrer Theologie Ihr eigener ist, nicht der eines theologischen Lehrers. Es ist völlig falsch, wenn Sie sich am Sonntag hochkurbeln. Wenn Sie wachsen wollen, dann müssen Sie zunächst einmal den Mut haben anzufangen, wo Sie stehen und dürfen nicht meinen, um der Gemeinde willen eine übertriebene Leistung darstellen zu sollen. Gehen Sie nicht über den Stand Ihrer Erkenntnis hinaus. Nur so können Sie wachsen. Sonst ist das Orthodoxie als Vergreisungserscheinung. Dinge, die uns mühsam aufgingen, sind Ihnen in den Schoß gefallen. Alle Vorteile haben ihre Nachteile. »Wie das zustande kommt, weiß ich nicht, aber ich weiß, daß es eine gute Ware ist«. So geht es Ihnen dann! Wer von der Pieke auf dient, kennt die Dinge bis ins Einzelne. Theologie heißt nicht nur, mit der Elektrischen zu fahren, sondern zu wissen, wie es kommt, daß die Elektrische fährt. Wir müssen wissen, warum wir so und nicht anders predigen. Es hat viele »dialektische« Theologen gegeben, die 1933 von Wechselstrom auf Gleichstrom umgeschaltet wurden. Wenn Sie nur einen Punkt haben, den Sie sich selbst erarbeitet haben – das Gleichnis vom Verlorenen Sohn – oder: »Ich schäme mich des Evangeliums nicht« – oder: »Wer den Sohn hat,
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hat auch den Vater« – oder: »Ihr kennt Gott nicht, ich aber kenne ihn« (vgl. Lk 15,11-32; Röm 1,16: 1 Joh 2,23; Joh 8,54 f.) – an einem Punkt muß unser Herz verwachsen sein mit dem Evangelium, sonst ist es nichts. Wenn Sie diesen Punkt haben, wird Sie nichts aus der Hand Gottes reißen können. Sie werden es merken in Ihrem Herzen, wenn Sie angefochten werden. Sie werden es merken, es geht nicht um die Theologie, sondern es geht ums Herz, und alles Wachstum in der Erkenntnis ist ein Wachstum in der Erkenntnis Jesu Christi, der Gnade Gottes, einer Gnade, die das Herz fest macht (vgl. Hebr 13,9), die den Menschen ins Licht Gottes stellt, die mich in das Licht Gottes stellt, daß ich nicht anderen predige und selbst verwerflich werde (vgl. 1 Kor 9,27). Schämen Sie sich Ihrer Armut nicht! Sie haben nicht zu predigen über das, was Sie glauben, sondern über das, was die Apostel bezeugt haben und die Propheten. Das Glaubenszeugnis haben Sie nicht herauszustellen, das wird Ihnen ja übergeben, Sie sind ja Boten. Aber predigen Sie nun nicht, indem Sie sich solchem Glauben, dem vermeintlichen Glauben aller derer gleichstellen, von denen Sie das Glaubenszeugnis haben. Predigen Sie nach Maßgabe dessen, was Sie können, dann werden Sie sehen, daß das Wachstum in der Erkenntnis nicht damit zusammenhängt, daß wir immer gläubiger und heiliger werden, sondern daß wir abnehmen und Er wächst (vgl. Joh 3,30) und wir dadurch anfangen zu erkennen, zu sehen, daß uns die Dinge aus den Augen genommen werden, die uns am Sehen hindern. Sünde kommt, Fehler kommen und nehmen uns das Vertrauen auf eigene Amtstreue; da kommen Leidenschaften, die uns das Richten aus dem Mund nehmen, und mehr und mehr wird das Feld freigelegt, daß wir nicht mehr auf uns sehen, sondern auf Christus. Wir können nur wachsen, indem wir abnehmen und alt werden, aber dadurch nehmen wir in Christus zu. Das ist der unergründliche Reichtum der Erkenntnis Gottes in Christus. So wächst auch die ganze Kirche, und die ganze Kirchengeschichte ist ein solches Wachsen. Von da her wird deutlich, warum auch die Verfehlung hineingehört in dieses Wachsen. Es ist ein Wachsen, dessen Knotenpunkt Vergebung der Sünden heißt. Wir brauchen immer wieder diese Vergebung, damit wir weiterkommen. Das steht dann zwischen Gestern und Heute. Und wenn das nicht da ist, dann werden wir nicht verkündigen können. Darum stellt Gott Prediger auf die Kanzel, lebendige Menschen, die nicht aus Stein sind, die da wachsen, die darum Mitleid haben können mit denen, die schwach sind (vgl. Hebr 2,18; 4,15), die mitten hineingestellt sind in den ganzen Werdegang und Irrgang menschlichen Lebens, und darum geht Er da mit durch den Gang der Zeiten. Die Vergebung, die durch die Zeiten hindurchgeht, ist das Mitgehen des Gei-
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Kapitel 2: Immer währende Verkündigung
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stes Gottes durch die Zeiten: »Ich bin alle Tage bei Euch«, ich gehe mit durch die Welt (vgl. Mt 28,20b). Seitdem Christus einmal in die Welt gekommen ist, überläßt er sie nicht mehr sich selbst. Dann wissen wir, warum wir ein ganzes Leben lang an diese Verkündigung setzen. Zum andern ist die immer währende Verkündigung darin begründet, daß die Welt dem entgegengesetzten Ende zutreibt. Alles, was wir in dieser Hinsicht bauen, wird zerbrochen. Luther sagt nicht: Das Luthertum hat Ewigkeitswert, sondern: Nach unsern Tagen wird es scheitern 30 . Er sah die Geister, die da kommen würden, um zu zerschlagen, was neu geschenkt war. Hierher gehört das Wort vom fahrenden Platzregen. Es gibt, solange wir in der Welt sind, keine Evangeliumsverkündigung ohne Häresie, ohne Anfechtung. Das ist der Fehler aller Orthodoxie, daß sie meint, ein für alle Mal eine richtige Lehre feststellen zu können. Sie wird das Hochkommen der Irrlehre nicht verhindern können. Wenn der Sturm kommt, schüttet er Sand über die Felder, die wir bebaut haben. Da nützt kein Kirchenregiment und keine Aufsicht. Das wissen wir im Gegensatz zu den Katholiken, das unfehlbare Lehramt nützt da nichts. Ein Index nützt da nichts. Wenn die Flut kommt, wird das Stück Land weggespült. Seit Luther kämpfen wir mit diesem modernen Geist in aufgelöster Ordnung. Bitte erwarten Sie nicht zuviel vom Kirchenregiment. Gerade da, wo die Apostel lehren, tritt die Irrlehre auf. Wir brauchen uns nicht zu wundern, daß in der evangelischen Kirche immer wieder Irrlehre auftritt. Das liegt eben daran, daß hier Gottes Wort auf den Plan tritt. Ist es vielleicht ein Sieg, daß es in der spanischen Kirche seit der Inquisition Ruhe gegeben hat? Wenn Sie die Kirche heraushalten aus den Auseinandersetzungen, dann kommt die Auseinandersetzung eines Tages unerwartet wie nach der Revolution für die russische Kirche. Dann leidet die Kirche. Aber wir wollen uns dadurch nicht den Blick trüben lassen für unsere evangelische Kirche. Wir sind genötigt, ständig im Kampf zu liegen. Da gehen natürlich viele zum Gegner über. Aber das ist die große Aufgabe in der evangelischen Kirche: diese Auseinandersetzung um die Bewahrung der Gemeinde wird Sonntag für Sonntag geführt. Da liegt die eigentliche Kirchenleitung! Im Wort Gottes, das verkündigt wird! Und so allein haben wir es in der Bekennenden Kirche verstanden, daß die Kirchenleitung dazu dient, der Verkündigung des Wortes 30. M. Luther, WA 40 I,485,1: »Post nostra tempora wirds widder zu scheittern ghen« (zit. bei Iwand, NW 4, 418); vgl. auch F. Schulz, Die Gebete Martin Luthers, QFRG 44, 1976, 275, Nr. 485: »Lieber Herre Gott, ich bitte dich, du wöllest unser jetziges geschlecht zugleich mit uns sterben lassen; dann wann wir nun hinweg werden sein, so werden die allerfährlichsten zeiten folgen«.Vgl. BoA VII, 384.
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Gottes zu dienen. Wir dürfen nicht neben das Wort Gottes ein Lehramt setzen. Das Wort Gottes richtet, das Wort Gottes allein entscheidet. Jede Gemeinde hat das Recht zu richten 31 . Dies alles zu der Tatsache gesagt, daß die Entwicklung der Welt dem entgegengesetzten Ende zutreibt. Diesen Kampf haben wir zu führen. Mit dem Verschütten des Evangeliums müssen wir rechnen, Sicherung dagegen gibt es nicht. Was bedeutet das denn? Das bedeutet noch zweierlei. Erstens: Sie haben für den Tag zu stehen, an dem Sie verkündigen. Wenn Sie predigen ist Heute, das Heute Gottes! Heute, jetzt haben Sie zu verkündigen (vgl. 2 Kor 6,1-3; Hebr 3,7-19)! Was daraus wird, haben Sie Gott zu überlassen. Er kann Sie behüten, er kann die Gemeinde auch der Irrlehre überlassen. Danken Sie Gott, daß Sie heute noch der Gemeinde predigen dürfen. Wir haben das in den letzten Jahren oft erfahren und an dieser Grenze, wo man unmittelbar den Gegner sieht, der alles vernichten will, an dieser Grenze wird man überhaupt erst ein wahrer Zeuge Gottes. Da stehen wir vor dem Ernst der Ewigkeit. Nicht so, daß wir etwas Ewiges errichten, aber so, daß wir durch die Welt an die Todesgrenze gestellt werden, gewiss nur für den Tag, da wir reden, aber so, daß uns dieser Tag immer wieder deutlich wird, als könnte es der letzte Tag sein. Von Anfang an steht über Jesu Verkündigung das Ende (vgl. Mk 2,7.20; 3,6). Gerade dadurch, daß die Welt uns bedroht, zwingt sie uns, das Heute ganz zu erfüllen mit dem Worte Gottes, nichts anderes zu sein als die Stimme Gottes im Heute. Wenn uns das geschenkt wird, sehen wir erst, wie Gott aus den Nöten dieser Zeit heraus die Freude schafft, die uns dann trägt, daß die Leiden dieser Zeit nicht wert sind der kommenden Herrlichkeit (vgl. Röm 8,18). Gerade dadurch, daß die Welt uns keinen Raum lässt, daß wir nicht sagen können: was wir sagen, hat Ewigkeitsbedeutung, gerade dadurch bekommt unsere Predigt den Ernst. Ich kann nur reden zu den Menschen, die gerade hier sind, die nicht weggehen dürfen, ohne daß sie hier und jetzt eine Antwort kriegen. Gerade durch den Kampf wird unsere Predigt gegenwärtig. Erstens also werden wir ins Heute gedrängt. Zweitens wird uns die Vermessenheit genommen, als ob wir Menschen bewahren könnten. Vergleichen Sie das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat und dem Säman (vgl. Mk 4,26-29). Christus stirbt und befiehlt die Seinen Gott (vgl. Joh 17). Wenn Sie einmal so Ihre Gemeinde Gott be31. M. Luther, Daß eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen, Grund und Ursach aus der Schrift, 1523 WA 11,408-416. BoA 395-403. Zur Sache vgl. WA 12,260, 27 ff.; WA 22,147,2-6.
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fehlen, werden Sie erst verstehen, was das Amt des Predigers eigentlich ist: daß Sie selbst nicht mehr führen können, daß Sie Ihre Gemeinde sozusagen verlassen müssen und in Gottes Hand legen müssen, weil Gott Ihnen einfach das nimmt, was, wie Sie glauben, Ihnen gehört. Diese Gemeinde gehört aber nicht mir, sondern Gott. Im 2. Korintherbrief erfährt Paulus: Diese Gemeinde gehört nicht mir. In dem Brief lässt er die Gemeinde los, um sie wiederzugewinnen. Er ist immer wieder in Gefahr, die Rivalität mit seinen Gegnern aufzunehmen. Indem Gott uns alles nimmt, was er uns gegeben hat, macht er uns wieder ganz arm und lässt uns nichts übrig als sein Wort, sodaß wir Boten bleiben, die mit seinem Wort im Heute stehen und damit alle Dinge denen, die Gott lieben, zum Besten dienen müssen (vgl. Röm 8,28). Wir haben es in der Verkündigung zu tun mit einer Wahrheit und Wirklichkeit, die die Welt von sich aus nicht zu Worte kommen lassen will, weil die Welt dem entgegengesetzten Ende zutreibt. Daher hat die Predigt endzeitlichen Charakter. Es wird durch sie deutlich, welchem Ende die Welt zutreibt. Es wird das Ende der Welt durch die Predigt aufgedeckt. Von da aus kommen wir dazu, den dreifachen Charakter der Predigt deutlich zu machen: Sie verkündigt, was in keines Menschen Herz gekommen ist (vgl. 1 Kor 2,9), sie ist Kerygma. Sie erzieht in der Erkenntnis der Einheit und Weisheit dieser Offenbarung, sie ist Paraklese. Sie steht in konkretem Kampf mit eindringender Irrlehre, sie ist Didache. Die Predigt ist Kerygma. Die Schrift sagt, der Glaube kommt aus dem Hören (vgl. Röm 10,17; 1 Thess 2,13) 32 . »Wer Ohren hat zu hören, der höre« (vgl. Mk 4,23; Mt 11,15), sagt Jesus immer wieder. Wenn der Mensch nichts anderes wäre als ein aufmerksam Hörender, dann wäre er in Wahrheit der Glaubende. Der Glaubende ist nichts anderes als ein Mensch, der dem Worte Gottes begegnet mit der Haltung des schlicht Hörenden, ¢pako¼ pfflstew@, Gehorsam des Glaubens (vgl. Röm 1,5; 16,26). Das kann nur von daher begründet und verstanden werden, daß es sich hier um Gottes Wort handelt. Dem Wort von Menschen gegenüber kann ich nicht ein schlicht Hörender sein, sondern muß ich ein kritisch Hörender sein. Aber dem Wort Gottes gegenüber kann ich nur ein Hörender sein, wenn ich zugleich ein
32. Der nachgeschriebene Text bietet: »die Predigt kommt …«. Iwand bietet hier eine Mischform aus Röm 10,14-17.
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Glaubender bin. Das Hören hat dann den Charakter des Empfangens: »Herr rede, dein Knecht hört« (vgl. 1 Sam 3,9 f.). Nun können wir weitergehen und sagen, daß das Predigen nichts anderes ist als das Weitergeben des Gehörten. Wenn wir das Gehörte weitergeben aus dem Studium der Schrift, dann geben wir nur das weiter, was die Boten Gottes da gehört, vernommen, aufgezeichnet haben: Hebr 2,1+3: »Darum sollen wir desto mehr achthaben auf das Wort, das wir hören, damit wir nicht am Ziel vorbeitreiben … wie wollen wir entrinnen, wenn wir ein solches Heil nicht achten, welches zuerst gepredigt ist durch den Herrn und bei uns bekräftigt wurde durch die, die es gehört haben?« (vgl. auch 1 Joh 1,1-4). Es ist nicht so, daß wir in der Predigt von Gott reden, Worte über Gott machen, daß wir das Subjekt des Redens sind und Gott Objekt, sondern Gott ist der Redner. Darum beziehen wir uns auf die Schrift, weil hier Gott der Redende ist und beziehen uns auf Jesus Christus, weil er das Wort Gottes ist, in dem Gott geredet hat. Was wir dann bezeugen, bezieht sich in der Tat auf das, was wir gehört und von dem Gehörten verstanden haben. In diesem Sinne heißt die Predigt Kerygma. Wenn jedoch in der Predigt etwas gesagt wird, was der Mensch sich selber sagen kann, dann ist sie keine Predigt. Es wird im Kerygma das gesagt, was in keines Menschen Herz gekommen ist. Wir können nun fragen: wie ist es denn möglich, daß ein Mensch das Wort Gottes aufnimmt, ohne daß er dafür veranlagt ist? Müssen wir nicht eine Anlage beim Menschen voraussetzen? Und welche Bedeutung hat das für den Aufbau der Predigt? Muß die Predigt nicht den Anknüpfungspunkt 33 suchen bei der jeweiligen Haltung des Hörenden? Gerade hier müssen wir sagen: Die Anknüpfung ist die Predigt selbst. Sie sucht nicht, sondern ist der Anknüpfungspunkt. Indem Gott redet, knüpft er bei uns an und zwar so, daß Er mit seinem Wort von der Gnade anknüpft bei unsrer Sünde, daß Er mit seinem Wort des Friedens anknüpft bei unserem Unfrie33. Die Frage des »Anknüpfungspunktes« war in der Diskussion der dreißiger Jahre unlösbar verbunden mit den Problemen natürlicher Theologie. Emil Brunner, Die Frage nach dem »Anknüpfungspunkt« als Problem der Theologie (1932), in: ders., Ein offenes Wort. Vorträge und Aufsätze Bd. I, Zürich 1981, 239-267; Ders., Gott und Mensch, 1930, 55; ders., Natur und Gnade. Zum Gespräch mit Karl Barth (1934), in: TB 34, 1966, 169-207. Karl Barth, Nein! Antwort an Emil Brunner, TEH 14, 1934, in: ThB 34, 1966, 208-258; ders., KD I/1, 250 ff. Rudolf Bultmann, Das Problem der »natürlichen Theologie«, GuV I, (1933), 5. Aufl. 1964, 249-312; Edmund Schlink, Der Mensch in der Verkündigung der Kirche, München 1936, 1-19. W. Trillhaas, Evang. Predigtlehre, München 1935, § 5. Wilhelm Link, »Anknüpfung«, »Vorverständnis« und die Frage der »Theologischen Anthropologie« (1935), in: TB 38, 1967, 147-193. E. Thurneysen, Die Fülle in Jesus Christus, TÉH 33, 1935, 13 f.
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den, bei unserer Ruhelosigkeit, daß Er mit seiner Verheißung anknüpft bei der Hoffnungslosigkeit unserer Lage, daß Er mit seinem Wort der Vergebung anknüpft bei dem Nichtvergessenkönnen unserer Schuld. Wenn Paulus die Predigt ein mustffirion (ein Geheimnis; vgl. 1 Kor 2,1 u. 7) nennt, dann handelt es sich nicht darum, wie Lessing das versteht, daß nämlich in der Weltentwicklung eine Idee offenbar würde, die bis dahin nur angelegt, aber noch nicht da war; es handelt sich nicht um eine neue Epoche in der Entwicklung des Menschengeschlechtes 34 . Die Offenbarung Gottes steht nicht in diesem Sinn im Zusammenhang mit dem Werden des Menschen, daß hier eine supranaturale Offenbarung einträte, sondern sie bedeutet, daß Gott nun wirklich da anknüpft, wo wir nicht anknüpfen würden, daß er den Armen darauf anspricht, daß er selig ist, den Sünder darauf, daß er eingeladen ist zum großen Abendmahl, daß er den Verzweifelten darauf anspricht, daß er heil ist. Alle Wunder Jesu gehen darauf hinaus! Das ist es, was nicht in des Menschen Herz kommen kann. In ein Herz, das voll ist von Bitterkeit, kann nicht mehr die Liebe kommen. Gott knüpft da an, wo der Mensch und die Welt sagen: Hier ist alles aus! Er macht die Wüste zum fruchtbaren Land (vgl. Jes 32,15; 35,1.7; 41,18; 43,19). Das heißt predigen! Wir müssen wirklich den Mut haben, diese Anknüpfung Gottes zu vollziehen und nicht da anzuknüpfen, wo wir Menschen anknüpfen möchten, weil dann nichts geschieht. Wir müssen anknüpfen bei der Gottlosigkeit, um den Glauben zu verkündigen. Uns, die wir gottlos waren, hat Gott gerecht gemacht, Röm 5,6-8: »Denn Christus ist ja zu der Zeit, da wir noch schwach waren, für uns Gottlose gestorben. Nun stirbt kaum jemand um eines Gerechten willen; um des Guten willen wagt er vielleicht sein Leben. Gott aber erweist seine Liebe gegen uns darin, daß Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren«. Wir sind selber Beispiele dafür, daß die Gottlosigkeit kein Riegel ist gegen das Wirken Gottes, daß die Welt durch keinerlei Gottlosigkeit sicher ist vor dem Gott, der der Vater Jesu Christi ist. Mit der Predigt muß etwas in des Menschen Herz kommen, das bis dahin keinen Eingang hatte in dieses Menschenherz. Es würde der die Predigt völlig mißverstehen, der meint, er hät34. Gotthold Ephraim Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780), in: Werke Bd. 8, Theologiekritische Schriften III. Philosophische Schriften, München 1979, 489-510, ebda. § 4: »Erziehung gibt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte: sie gibt ihm das, was er aus sich selber haben könnte, nur geschwinder und leichter. Also gibt auch die Offenbarung dem Menschengeschlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde: sondern sie gab und gibt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher« (490).
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te lediglich einen neuen Inhalt über die Religion, über Gott bekanntzugeben. Wir haben es nicht mit einer tabula rasa zu tun, sondern mit einem verschlossenen Herzen, mit einem verstockten Volk, vom Herrn abgewichenen Volk (vgl. Ez 2,34; 3,7; Jer 9,13 f.; 11,8; 13,10; 16,12; 18,12, 23,17). Die Predigt ist Verkündigung, weil durch diese Verkündigung Gott den Menschen zu sich bekehren will. Das ist das Neue und Besondere der Predigt, daß in ihr das Unfaßbare geschieht, daß der Sünder seines Gottes gerecht wird, daß wirklich der Lahme aufsteht, sein Bett nimmt und heimgeht, daß die große Sünderin wirklich das Wort Gottes hört, daß Zachäus wirklich Buße tut (vgl. Mk 2,1-12; Lk 7,36-50; Lk 19,1-10); das sind die Unmöglichkeiten, die hier Wirklichkeiten werden – und das heißt Verkündigung. Die Aufgabe des Verkündigens muß sein, nach dem Wort zu suchen, das so etwas vollbringt. Predigtvorbereitung heißt dann: Suche nach dem Wort, das solche Wunder tut. Das Kerygma selbst bedeutet dann: Ich habe gefunden, ich habe den Schatz im Acker wirklich gefunden! (vgl. Mt 13,44-46). Der Pfarrer, der auf die Kanzel steigt und predigt, hat im Acker der Schrift den Schatz gefunden. Über jeder Predigt muss dieser Moment der großen Freude stehen 35 , daß hier nun das Wort gefunden ist, das die Menschenherzen wendet (vgl. EG 133,8). In dieser Gewissheit predigt der Verkünder des Evangeliums. Wir entdecken im Neuen Testament, wenn wir uns die Briefe des Paulus ansehen: Das Wort der Gnade ist gefunden. Das Wort ist nahe. Das Heil ist gefunden, dessen sind wir Zeugen. Nicht allein Nachdenken und Nachsprechen, was Gott gesagt hat! Hier fehlt noch das Suchen. Es gehört zu den Dingen, die Adolf Schlatter sich zu einfach macht, wenn er meint, es genüge das Hinsehen und Hinhören 36 . Nicht einfach Textauslegen! Das ist gerade die Frage, was hier »einfach« heißt. Wir stehen nicht über den Hörern. Die Verkündigung ist also immer das Zeugnis eines gelungenen Durchbruches vom Nichtverstehen zum Verstehen. Ich muß in jeder Predigt sehen, von welchem Punkt aus hier der Mensch gefragt hat, um zu 35. Vgl. J. Schniewind, Die Freude im Neuen Testament, in: ders., Geistliche Erneuerung, Göttingen 1981, 39-48; auch in: Nachgelassene Reden und Aufsätze, 72-80; ders., Evangelische Metanoia, BK 25, 1935, 18-31. 36. Iwand verkürzt die Auslegungstheorie Schlatters. vgl. A. Schlatter, Atheistische Methoden in der Theologie, BFChTh 9, 1905, 229-250, auch in: TB 41, 134-150; ders., Die Theologie des Neuen Testaments und die Dogmatik, BFChTh 13, 1909, 782, auch: TB 41, 203-255. Zu A. Schlatters Hermeneutik vgl. P. Stuhlmacher, Adolf Schlatter als Bibelausleger, in: ders., Versöhnung,Gesetz und Gerechtigkeit. Aufs. zur bibl. Theologie, Göttingen 1981, 271-301; ders., Vom Verstehen des Neuen Testaments. Eine Hermeneutik, NTD Erg. 6, Göttingen, 1979, 156-162.
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verstehen, von welchem Punkt dann von Gott geantwortet wird. Eine Predigt, die lediglich das in der Schrift enthaltene Dogma gibt, ist unmenschlich. Predigen heißt: Zeugnis davon ablegen, daß man selber vor der Tür gelegen hat und nicht umsonst davor gelegen hat (vgl. Lk 16,19-31). Wenn ich predige, muß der Mensch, der den Text nicht versteht, mich verstehen; ich muß dem Menschen gleich werden, der den Text nicht versteht. Ich muß in priesterlichem Dienst die Not dieses Menschen zu meiner Not machen und muß als solcher vor der Tür des Textes liegen, wie ein Bettler vor der Tür des reichen Mannes. Ich muß wirklich anfangen zu sagen: Ich verstehe das nicht!, muß mich hineinreißen lassen in das Fragen und Nichtverstehen der ganzen Welt. Und nun heißt Verkündigung nichts anderes, als daß wir dieses Nichtverstehen unserer Brüder zu unserem eigenen machen, damit sich Gott unser erbarme, damit Er uns eine Antwort gebe. Denn Sie können ja fragen: Gerade, wenn ich mich so an das Nichtverstehen verliere, wer garantiert mir dann, daß ich am Sonntag mit meiner Predigt fertig bin? Das garantiert uns in der Tat niemand, und ich habe auch keinen Grund zu sagen, weil mich diese Fragen gefährden in der Fertigstellung meiner Predigt, lasse ich sie beiseite. Ich habe das Gelingen meiner Verkündigung nicht in der Hand, und es kommt darauf an, daß ich den Menschen nicht mehr gebe als ich zu geben habe. Die Unwahrhaftigkeit der Predigt besteht seltener darin, daß ich etwas sage, was ich nicht glaube; sie besteht vielmehr leicht darin, daß ich den Weg aus dem Nichtverstehen zum Verstehen nicht ehrlich und sauber gehe, daß ich plötzlich erscheine in Höhen, mit Ausdrücken und Erkenntnissen, die jedem Sterblichen schlechterdings unerreichbar sind, daß ich die Kanzel zu einem Theater mache, in dem der Pfarrer den Luther spielt wie der Schauspieler den König Lear. Damit wird die Kirche zur Bühne, und seien Sie ganz sicher, der Mensch weiß genau, daß er es hier nicht mit einem Zeugen zu tun hat, sondern mit einem Schauspieler, der für den Sonntag eine Rolle einstudiert hat. Weithin wollen die Gemeinden das auch, daß der Prediger seine Rolle spielt. Man ist sich darüber klar, wenn das Stück zu Ende ist, daß man es nicht mehr mit dem König Lear oder Hamlet zu tun hat, sondern mit einem simplen Menschen. Das wünschen weithin die Gemeinden. Dem müssen Sie widerstehen und das werden Sie, wenn Sie deutlich machen, daß Sie selbst ein Mensch sind wie die anderen, der davon nichts versteht, der auf der Erde bleibt und nicht weiß, wie er die hohe Wand hinaufkommen soll. Bei Paulus sehen wir das deutlich, wie er von seiner Schwachheit spricht, daß er nicht erhört ist in seinem Gebet (vgl. 2 Kor 12,7-10). Nichts vom Übermenschentum. Hier können alle Zutrauen und Zuversicht gewinnen, die auch heute vor der Tür liegen und nicht hinein-
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kommen. Denken Sie auch an die Gleichnisse Jesu. Das ist das Große, daß er hier nicht schon ein Verstehen voraussetzt, sondern daß er im besten Fall ein Verstehen der irdischen Dinge voraussetzt. Er setzt geradezu das Nichtverstehen voraus. Ich rede hinein in eine nichtverstehende Welt, damit sie aus einem Nichtverstehen zum Verstehen kommt. Die Gleichnisse sind hineingesagt in eine nichtverstehende Welt, damit sie durch den Geist Gottes, wenn sie Jesus Christus erkennt, sich die Gleichnisse übersetzen kann in das, was sie bedeuten. So verhält sich das, als ob ich jemandem, der heute eine bestimmte Sprache nicht verstehen kann, ein Zeichen gebe und sage, es wird einmal die Zeit kommen, da wirst du erkennen, was dieses Zeichen bedeutet. Jesus trägt unsere Schwachheit. So müssen Sie ganz ähnlich in der Predigt in die Welt, die Gottes Wort nicht versteht, diese Zeichen und Spuren des Reiches Gottes hineinlegen; wie ein Fischer, der mit seinem Fischernetz arbeitet und die Fische fängt. Die schwierige Stelle aus dem Hebräerbrief, daß der Glaube hinzukommen muß zum Hören, gibt uns immer wieder die Frage auf, ob sozusagen das Hören das Erste ist und der Glaube dann hinzukommt oder umgekehrt. Ich würde aber die Frage so nicht fassen, dann kämen wir auf die katholische Unterscheidung von assensus und consensus hinaus 37 . Dann kämen wir zu dem Glauben, der in der Liebe Form gewinnt, während das Hören eine fides informis ist. »Die Kirche wird schon nicht lügen, was die Kirche sagt, wird schon wahr sein«. Viele sagen auch bei uns: »Es schadet nichts, das andere wird schon kommen, aus dem assensus wird schon der consensus werden«. Aber dann wäre hier das Hören ein Hören, wie wir es von menschlichen Botschaften kennen. Gewiß ist daran etwas Richtiges, aber es betrifft nicht das eigentliche Hören des Wortes Gottes in der Verkündigung. Denn dies Hören des Wortes Gottes kennt kein Darüberhinaus, kennt nicht die Situation des Dann-erst. »Damals habe ich es gehört, später habe ich es erlebt«. Dieses Hören ist der Inbegriff des Erlebens, Glaubens, Wissens. Es gibt nichts, was über das Hören hinausginge: »Dir sind deine Sünden vergeben« (Lk 7,48). »Ich habe jetzt die Gnade gehört, wie kann ich sie erleben?« Das ist unsinnig. Indem die Sünderin das hört, hat Gott selbst sie frei gemacht. Aber nun predigt ein Pfarrer über diese Stelle und predigt von der Gnade und sagt dann: »Ihr werdet das auch erleben oder erlebt haben!« Daran sieht man, er hat nicht verstanden, was hier diese Frau hört. 37. Über die Sachzusammenhänge der kathol.Lehrtradition informieren: F. Loofs, Leitfaden zum Studium der Dogmengeschichte, 6. Aufl. Tübingen 1959, 461-464.557559; R. Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte IV/2, (1920), Nachdruck Darmstadt 1975, 763-781; H. A. Oberman, Spätscholastik und Reformation Band I, Zürich 1965, 68-87.
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Er zerstört durch sein Predigen den Text. Das Hören und das Glauben sind eins. Ich höre überhaupt nur Gott, wenn das Hören für mich zum Glauben wird und zwar zum schlechthinnigen Glauben, zu einem unbezweifelten Glauben, so wie der Gelähmte es hört: »Stehe auf, deine Sünden sind dir vergeben« (Mk 2,5). Er hört’s und er glaubt’s. So auch Jairi Töchterlein und der Schächer am Kreuz (vgl. Mk 5,41 f.; Lk 23,43). So hören wir das Wort, und unser Glaube ist nichts anderes als dieses Hören. Der Inbegriff des Glaubens ist, daß das Wort der Gnade Gottes uns Menschen da erreicht, wo wir glaubten, wir wären für Gott nicht mehr erreichbar. Das ist der Inbegriff des Glaubens: Ich habe eine Stimme gehört, ich habe da, wo ich nichts mehr hörte, einen Ruf vernommen, und Kerygma heißt, daß wir da hineinreden, in diese Tiefen der Verzweiflung. Darum müssen Sie selbst diese Tiefen der Verzweiflung schmecken, weil Sie sonst dahinein nicht gehen können, nicht reichen können. Dabei ist es nicht so, daß Sie aus Ihren eigenen Erfahrungen heraus reden, denn diese Erfahrungen haben Sie nicht mit Ihrem Amt übernommen. Der Maßstab ist der, daß Sie die Anfechtungen und Versuchungen der Gemeinde zu Ihren eigenen machen, wie Jesus es auch getan hat. Das Leben der Menschen, zu denen wir reden sollen, muß irgendwie unser Leben werden. Ich darf nicht auf der Kanzel stehen unter der Voraussetzung: hier gilt noch das Zweite Reich. Ich muss reden zu denen, die in den Fluten des Dritten Reiches treiben. Wenn Sie da nicht mitten hinein springen, werden Sie diese Menschen nicht erreichen. Es geht nicht, daß Sie von der Kanzel aus als dem sicheren Port der Sittlichkeit wohlgemeinte Ratschläge denen geben, von denen bekannt ist, daß sie unsauber leben. Denn wenn die nicht ihre Not verstanden wissen, wird man ihnen nicht helfen. Die Antwort auf eine solche Predigt darf nicht die sein: Gebt mir erst ein eigenes Haus, dann will ich auch das sechste Gebot halten usw., sondern es muß so sein, daß die Worte hineinverkündigt werden in die Situation der Elenden und daß sich wirklich Menschen, die vom Volksbetrug leben, gerufen wissen und die Hälfte ihres Vermögens hergeben (vgl. Lk 19,8), daß Menschen, die in Unzucht leben, hören: Gott will von mir, daß ich nicht lebe wie ein Tier, Gott will mich, Gott sucht mich, holt mich! Damit wir so nahe zu diesen Menschen reden können, müssen wir deren Not selber tragen, müssen wir ihnen gleich werden. Nun gibt es nur einen Begriff für das Gleichwerden, der heißt ein Sünder werden, ein demütiger Mensch werden, ein Mensch, der weiß, daß er nur durch die Gnade Gottes vor dem allem bewahrt ist. Es ist also so, daß Gott mit seinem Wort nicht nur da anknüpft, wo wir nicht mehr anknüpfen können, daß er Wunder tut, sondern es ist so, daß Gott auch neben mich einen Boten seines Wortes stellt, der mich versteht,
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sodaß ich mich gleichsam selbst getroffen fühle. Wir haben alle nicht verstanden, was Sünde bedeutet, aber dann ist Jesus Christus mitten unter uns getreten. Er ist an unsrer Statt ein sündiger Mensch geworden, 2 Kor 5,21: »Gott hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht«, und wenn wir Ihn ansehen, finden wir uns in Ihm begnadigt: »auf daß wir würden in ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt«. Es muß also schon so sein, daß wir uns im Hören des Wortes Gottes verstanden wissen als die, die draußen sind. Wir verstehen das Wort Gottes nicht, aber wir fühlen uns von Gott verstanden. Das ist das Wunderbare, daß es das gibt. Die Sünderin in Joh 8, die hört das Wort Gottes nicht, versteht es nicht, sonst würde sie nicht so leben. Keiner würde sündigen können, wenn er Gott wirklich verstünde, wenn er bei Gott wäre, wenn er vor Gottes Antlitz stünde. Wir stehen immer schon draußen. Die Sünde lockt uns immer vor die Tür. Und das Hören des Wortes Gottes ist dann darum so schwer, weil es immer gehört werden soll von einem, der sich abgewendet hat. Und darum ist es tatsächlich möglich, daß wir zwar das Wort Gottes nicht verstehen, aber wir dann doch Gott so reden hören, daß wir hören, von uns ist die Rede, von Nichtverstehenden, von Furchtsamen, Ängstlichen, von Sterbenden; aber hier ist so die Rede, daß von Gott her die Rede ist! Das heißt das Wort Gottes hören. Sie werden daran gemerkt haben, das Wort Gottes hören ist für mich nicht ein formaler Begriff, sondern heißt, als einer, der unter dem Gesetz, unter dem Todesfluch der Sünde steht, Gottes Wort als das Wort der Gnade hören, hören. Als einer, der unter dem Gesetz lebt oder der ohne das Gesetz lebt, Christus hören, das heißt, das Wort Gottes hören. Und in diesem Sinne ist die Predigt Kerygma. Wenn Sie den Predigtauftrag erhalten und ausgesendet werden (im Grunde aus der Schrift erhalten Sie ihn und den empfangen Sie jedes Mal, wenn Sie aufgerufen werden zu predigen), dann weden Sie immer ausgesendet, das Tote lebendig zu machen (Hes 37). Sie werden ausgesendet, den glimmenden Docht nicht zu löschen, zu trösten (vgl. Jes 42,3; 40,1), das, was nicht ist, ins Dasein zu rufen (vgl. Röm 4,17). Sie stehen immer, wenn Sie verkündigen müssen, an dem Punkte, wo Gott selber steht, wenn Er mit seinem Worte schafft, an der Grenze des Existierenden im Sinne der Umkehr, der Buße, des neuen Menschen, des neuen Lebens. Also ich könnte es auch so ausdrücken: Das Schaffen, das in der Verkündigung des Evangeliums liegt, hat nicht seine Parallele im ersten Schöpfungstag, sondern in der Auferstehung. Aber auch hier stehen Sie am Rande der Existenz. Was ist, muß zunichte werden, was nicht ist, muß ins Dasein gerufen werden. Darum darf ich nicht sagen: Was ich sehe, ist
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nichts als ein Feld von Totengebeinen (vgl. Hes 37,1 ff.), sondern: Herr, Du weißt es wohl, ich glaube, hilf meinem Unglauben (vgl. Mk 9,24). Diese Dinge dürfen nie für mich ein Faktum werden, nie weiter als eine Anfechtung. So ist das das Merkwürdige, daß ich das Wort Gottes verkündige und zugleich berufen bin, dabei zu sein, zu verstehen, was da geschieht. Der Pfarrer macht es nicht, aber er ist dabei, berufen als Zeuge der Erweckung und Verstockung. Das ist der Zusammenhang zwischen Predigt und Ereignis, Predigt und Geschehen. So etwa könnte man bestimmen, was Kerygma ist: Kerygma ist die Anwendung, die Proklamation, die Bekanntgabe des Wortes Gottes, das die Welt verwandelt, und es ist das Dabeiseindürfen bei dem Ereignis dieser Verwandlung, das Zeugeseindürfen, daß Gott am Werke ist. So erst sind Sie selbst ein wirklicher Herold, der nicht nur eine Botschaft erfährt, sondern Botschafter ist eines Königs, der kommt und dessen Kommen sich ankündigt in bestimmten Zeichen des Sieges. In dem Kerygma selbst zieht der König schon ein 38 . Die Predigt ist Paraklese. Das ist nun das Nächste, freilich Untergeordnete. Die Predigt erzieht in der Erkenntnis der Einheit und Weisheit der Offenbarung. Sie können nicht jeden Sonntag eine Erweckungspredigt halten. Das Predigen ist eingeordnet in eine Arbeit, durch die wir in Unterricht und Predigt einführen und weiterfahren. Aber die Dinge liegen noch tiefer. Wir stehen in einer wirklichen Tradition. Die Kirche hat in den 2000 Jahren an Erkenntnis und Weisheit zugenommen. Darum müssen wir Bezug nehmen auf das, was unsere Vorfahren erarbeitet haben. Wir müssen aber auch selbst wachsen und werden in der Erkenntnis der Offenbarung. Die Gemeinde muß in der Tat hineingenommen werden in den Fortgang der 38. J. Schniewind, Die neutestamentliche Auffassung vom Worte Gottes und ihre Bedeutung für unsere Praxis (1918), in: H. J. Kraus, J. Schniewind, 67-82: »Der Herold kündigt den König an: ›Wie lieblich …‹ (Jes 52,7). Dies Wort faßt die Hoffnung Israels zusammen … Die Vorstellung vom Evangelium knüpft daran an: die Frohe Botschaft, die das mit sich bringt, was sie verkündet« (ebda. 68 f.); vgl. ders., Artikel ⁄ggelffla ktl. in: TWBNT I, 56-71; ders., Nachgel. Reden und Aufsätze, 36: »Jesu Wort wie das des Paulus ist Botschaft, Kerygma, Euangelion, ist Tat und Sendung Gottes; es ist das Wunder aller Wunder, Ankündigung und Zuspruch der künftigen Welt Gottes, die im Wort schon Gegenwart wird …«; G. Friedrich, Art. kffirux, in: TWBNT III, 682-717; »Durch das Verkündigen vollzieht sich die Machtergreifung Gottes. Das Verkündigen selbst ist darum das Neue. Durch das Verkündigen kommt die basileffla.« (703,2-4). Vgl. auch: R. Bultmann, Kirche und Lehre im Neuen Testament, GuV I, 153-187; ders., Die Bedeutung des geschichtlichen Jesus für die Theologie des Paulus, a. a. O., 188-213. D. Bonhoeffer, Finkenwalder Homiletik, in: E. Bethge (Hg.): Gesammelte Schriften IV, München 1961, 237-289, bes. 240-244.
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Erkenntnis: Vor drei Jahren hätte ich meiner Gemeinde diese Predigt noch nicht bieten können. Etwas davon dürfen wir ja heute erleben. Vor 15 Jahren hätte man vielfach die heutige Predigt nicht verstanden. Die Gemeinden werden fragen. Dazu müssen wir die Gemeinden geradezu erziehen. Nicht die Fragen zurückweisen, weil Sie selber sich darüber nicht im Klaren sind. Stellt die Gemeinde Fragen, die Sie nicht zu beantworten wissen, sagen Sie das ruhig, aber unterdrücken Sie nicht das Fragen, denn das Fragen zeigt, das Kind fängt an zu lernen, zu wachsen in der Erkenntnis des Evangeliums. Die Erkenntnis der Einheit und Weisheit Gottes selbst aber ist unermesslich. Es muß also deutlich werden, daß wir mit unserem Predigen auf dem Wege sind. Wir haben nicht eine christliche Weltanschauung, die ewig ist und die wir dogmatisch fixieren, sondern wir sind auf dem Weg. Wir haben schon das ewige Evangelium (vgl. Offb 14,6), aber nur so, daß wir allmählich vorwärtskommen. Niemals kommt ein Punkt, an dem wir sagen können: jetzt geht’s nicht mehr weiter. Nicht dem antichristlichen Dogmatismus einen christlichen Dogmatismus entgegenstellen! Sondern lernen an dem, was da heute geschieht! Heraus aus den Schlagworten, ¥k pfflstew@ e§@ pfflstin (aus Glauben in Glauben, vgl. Röm 1,17)! In bibelfesten Gemeinden werden Sie spüren, daß aus einer inneren Substanz heraus für die Bibel geredet wird, nicht aus einem Dogmatismus heraus. Wenn wir die Aufgabe der Paraklese in Angriff nehmen, werden wir darauf stoßen, daß aber viele Gemeinden gar nicht herauswollen aus ihrer Faulheit. Was bedeutet die verschiedene Überlieferung im Neuen Testament? Das müssen Sie sehen, nicht die Augen davor verschließen. Fragen Sie, was das bedeutet. Das bedeutet Fülle, Reichtum, Verwachsenheit, Willkür, aber es bedeutet Leben und nicht Starrheit. Lebendige Menschen sind Zeugen gewesen. Und das gerade ist das große Wunder: Wenn Sie diese verschiedenen Zeugnisse des Neuen Testaments nebeneinanderstellen, dann werden Sie sehen, es ist ein Kerygma. Denken Sie an die verschiedenen Berichte vom Abendmahl, von den Seligpreisungen, vom Vaterunser. Wenn wir das sehen, die Verschiedenheit und die Einheit, dann wissen wir genau, was wir zu predigen haben, nämlich die Einheit. Die Verschiedenheit haben wir auch, weil es jedem in einer bestimmten Weise gegeben ist und aufgeht, weil wir auch nicht einfach ein Apparat sind, sondern Menschen sind, Boten Gottes. Es kommt darauf an, die Offenbarung in ihrer Vielgestaltigkeit ernst zu nehmen. Es ist die Offenbarung wirklich eine gnðsi@ (eine Erkenntnis), eine sofffla qeo‰ (Weisheit Gottes; vgl. 1 Kor 1 und 2). Dann finden wir auch ein Verhältnis zum Dogma. Das Dogma ist nichts anderes als eine Fixierung der Erkenntnis der Kirche. Die Alte Kirche hat
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mit ihrem Dogma ganz ohne Frage einen Höhepunkt in der Erkenntnis der Einheit und Weisheit der Offenbarung Gottes erreicht. Die Lehren über die Naturen in Jesus Christus, über die Dreieinigkeit, das sind Aussagen, an die wir heute gar nicht mehr heranreichen, an denen wir sehen, daß die Kirche zurückgeglitten ist in ihrer Erkenntnis. Darum ist es wichtig, daß die Predigt bezogen ist auf das Dogma, auf die Erkenntnis der Kirche. Die Erziehung zur Erkenntnis Gottes muß sein die Erziehung zum Verständnis im Sinn des Dogmas. In diesem Sinn muß die Predigt dogmatisch ausgerichtet sein. Durch das Dogma müssen wir uns weiterhelfen lassen in dieser Erziehung. Nehmen Sie als Beispiel die Jungfrauengeburt. Das ist ein schwieriges Dogma. Aber diese Lehre kann uns zu einer Hilfe werden zu verstehen, was es ist um den ersten und zweiten Adam (vgl. Röm 5,12-19); sie kann uns eine Hilfe werden zu verstehen, daß der Geist Gottes ein schöpferischer Geist ist, eine Hilfe zu verstehen, daß Christus der Anfänger einer neuen Menschheit ist. In dem Augenblick hat das Dogma seinen rechten Sinn gefunden, nämlich uns zu helfen. »Empfangen vom Heiligen Geist«, das ist wichtig, nicht: »geboren von der Jungfrau Maria«. Emil Brunner irrt hier 39, weil er nicht den Geist versteht. Hier ist der Mensch neu geboren, ein neuer Mensch ist geboren, Christus ist geboren aus unserem Geschlecht. Das ist gemeint, so könnte dieses Dogma ein Richtpunkt sein, wenn ich zu predigen habe. Oder eine andere Sache. Arius und Athanasius 40 . Was bedeutet dieser Streit zwischen ihnen, den wir kodifiziert sehen im Nicänum, für unsere Verkündigung, für die dogmatische Ausrichtung unserer Verkündigung? Er bedeutet dies: Wenn Arius recht hätte und Jesus Christus wäre nicht »Gott von Gott« 41 , sondern er wäre adoptiert – so grob hat Arius es nicht gesagt, er arbeitet mit dem Begriff der causa, er will das 39. Iwand bezieht sich wohl auf: E. Brunner, Der Mittler (1927), der S. 288-292 über die »Theorie von der jungfräulichen Geburt Jesu« (288) spricht und der dieses Lehrstück von der naturwissenschaftlich-biologischen Seite her abhandelt und verwirft, bzw. auf ein »Dass« eines göttlichen Wunders reduziert (290-291). Vgl. auch ders., Die christliche Lehre von Schöpfung und Erlösung, Dogmatik II, Zürich 1950, 413422; ders., Der Mensch im Widerspruch, Zürich 1937, Anm. 1, S. 405 f. Dagegen: Karl Barth, Nein!, ThB 17 I, 254; KD I/2, 200 f.207. 40. Zum arianischen Streit vgl., Reinhold Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte Bd. 2 (1923), 6. Aufl. 1965, §§ 22+23. A. v. Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte Bd. 2, (1909), Nachdruck der 4. Aufl., Darmstadt 1964, 184-284; sehr schön und instruktiv: K. Beyschlag, Grundriß der Dogmengeschichte Bd. 1, Darmstadt 1982, 231-277; A. M. Ritter, Dogma und Lehre in der Alten Kirche, in: C. Andresen (Hg.), Handbuch der Dogmengeschichte Bd. 1, Göttingen 1982, 99-283 (hier: 144-221), und: A. Grillmeier, Jesus Christus im Glauben der Kirche, Bd. 1, Freiburg 1979, 356-413.460-479. 41. Symbolum Nicaenum, in: BSLK, 26 f.
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logische Denken hineinbringen; aber damit begnügt er sich nicht, er sagt vielmehr, darum hat Gott den Sohn gezeugt, weil die Welt ihn jammerte; dann war also die Welt früher da, und der Sohn ist um der Welt willen da – wenn das so wäre, sagt Athanasius, wenn Gott den Sohn geschaffen hätte um der Welt willen, dann ist die Idee »Welt« früher im Herzen Gottes, dann hat Gott nicht den Sohn ewig bei sich. Du hast einen heidnischen Gottesbegriff, sagt Athanasius. Unser Glaube ist vom Sohn her konstituiert. Vater und Sohn halten durch ihren Geist die Welt in ihren Händen, bei dir hält die Welt den Vater und den Sohn. Gerade, wenn Sie über die Tatsache Jesus Christus ist der eingeborene Sohn des Vaters (vgl. Joh 1,18) predigen müssen – etwa in der Zeit von Ostern bis Pfingsten –, dann müssen Sie sich durch das Nicänum darauf aufmerksam machen lassen, daß man auszugehen hat von der Einheit von Vater und Sohn. Die Aussendung geschieht, weil Gott in der Welt die Glaubenden retten wollte, aber die Existenz des Sohnes ist damit nicht begründet. Nach Arius ist die Existenz des Sohnes notwendig um der Welt willen. Die Frage »Welt und Gott« ist in diesem Dogma geordnet. Und da ist es klar und eindeutig, daß wir von dieser Erkenntnis her sofort in richtiger Antithese stehen zu einem Christentum, das da sagt, Christus sei ein großer Sittenlehrer 42. Noch zwei Beispiele. Wenn die Predigt in der Erkenntnis der Einheit und Weisheit der Offenbarung Gottes erzieht, bedeutet das, daß sie die Gemeinde zum Bekenntnis, nun auch zum formulierten Bekenntnis erzieht. Ich denke da z.B an das Mitsprechen des Apostolikum. Aber die Gemeinde muß auch wissen, was in der Reformation und was heute bekannt worden ist 43 . Und weiter. Die o§konomffla qeo‰, das heilsgeschichtliche Handeln Gottes (der Heilsplan Gottes; vgl. Kol 1,25) gehört auch dazu. Die Predigt muss darauf dringen, daß für die Hörer die Einheit der Offenbarung sichtbar wird, verständlich wird. Das bedeutet, daß wir vor allen Dingen Anfang und Ende begreifen, daß wir wissen, im Handeln Gottes geht es um die ganze Menschheit. Gott steht am Anfang, alle Menschen sind aus ihm gekommen, und auch das Ende der Dinge liegt in Gottes Hand und ist bestimmt durch den Namen Jesu. Da hinein kommt auch die Führung der Völker, die Führung Israels und die Führung der Kirche, damit deutlich 42. Zu diesem Thema vgl. vor allem: Albrecht Peters, Betrachtungen zum sittlich-personal geprägten Gottes- und Christusbild des 19. Jahrhunderts, in: KuD 9, 1963, 122-166. 43. Iwand verweist hier auf die Confessio Augustana und auf die Barmer Theologische Erklärung.
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wird, was wir Weltanschauung nennen. Weltanschauung heißt die Einheit der Urteilsbildung. Eine solche Einheit muss in Fragen des Glaubens der Gemeinde geschenkt werden. Die Predigt ist Didache. Sie ist zugleich der Kampf mit der stets von neuem eindringenden Irrlehre. Wenn wir uns das Neue Testament ansehen, in dem ja das Zeugnis der urchristlichen Verkündigung übermittelt ist, dann werden wir kaum einen Brief finden, in dem nicht die Verkündigung sich mit einer ganz bestimmten Irrlehre auseinandersetzt. Es ist das Kennzeichen der neutestamentlichen Predigt, daß überall der Kampf mit der Irrlehre geführt wird. Wir sehen also, daß von vornherein in der Urgemeinde die Irrlehre mit auf dem Plan ist. Auch die Predigt Jesu wendet sich gegen eine falsche Lehre. Darum richtet sie sich aus gegen die Pharisäer. Denken Sie nur an die Bergpredigt: »Ich aber sage Euch (vgl. Mt 5,22.28-32.34.39.48)!« Denken Sie an bestimmte Aussagen über die Schriftgelehrten! Alles ist Kampf mit der Irrlehre (vgl. Mt 22,15-23,36 par). Ganz deutlich wird es in den Reden Jesu des Johannesevangeliums. Es gibt keine Rede, in der sich Jesus nicht mit der Lehre der Juden auseinandersetzt. Es wäre also falsch, wenn wir Predigt einfach als Textauslegung verstünden. Wenn die urchristliche Predigt das Urbild der Verkündigung ist 44 , dann gerieten wir wohl in ganz große Schwierigkeiten, wenn wir sagen müßten, inwiefern diese Predigt Textauslegung sei. Die urchristliche Predigt ist eben selbst Verkündigung und wenn wir predigen, setzen wir dieses Kerygma, setzen wir diesen Kampf fort. Bis heute kämpft das Evangelium gegen diesen Pharisäismus, gegen diese Gesetzlichkeit. Und wenn wir unserer Predigt einen Text zugrunde legen, dann heißt das nichts anderes, als daß das Kerygma bis heute in diesem Kampf kräftig ist. Denn es gibt in der Tat eine Art und Weise zu predigen, die diese Entscheidung scheut, die meint, die Predigt sei nur eine sinngemäße, sachgemäße Auslegung des Textes. Es fragt sich, ob man die Schriften des Neuen Testamentes interpretieren kann, ohne in die gleiche Entscheidung mit hineingerufen zu werden und diese Entscheidung zu übernehmen. Wenn Sie einmal fragen, in welcher Form Irrlehre im Neuen Testament vorkommt, werden Sie erstaunt sein. Eigentlich kommt der Begriff »Irrleh44. Vgl. M. Kähler, Der sogenannte historische Jesus, TB 2, 103: »So wird man sagen dürfen, unsere Doppelsammlung sei Urkunde für den Vollzug der kirchengründenden Predigt«. J. Schniewind hat diese Bestimmung übernommen. Vgl. J. Schniewind, Martin Kähler, in: Nachgelassene Reden und Aufsätze, 166-172.
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re« als solcher gar nicht in dieser Abstraktion vor. Der Gegensatz: Lehre und Irrlehre, tritt im Neuen Testament ganz zurück. Das, was vorkommt, sind meistens Personen, Irrlehrer, Pseudoapostel, Pseudopropheten, Pseudolehrer (vgl. 2. Kor 11,13; Mt 7,15; 24,11.24; Apg 13,6 u. ö.; 2 Petr 2,1). Mit denen haben die wahren Zeugen Jesu Christi sich auseinanderzusetzen. Die Dinge sind aber gar nicht so eindeutig, daß ich festlegen könnte: hier ist die wahre, hier ist die falsche Lehre. Die Auseinandersetzungen sind zunächst in der Form da, daß falsche Lehrer auftreten, die die Gemeinde verführen und daß nun die rechten Hirten der Gemeinde die Gemeinde vor diesen falschen Lehrern schützen und sie als solche entlarven. Der zweite Korintherbrief ist nichts anderes als ein solcher Versuch. Der Galaterbrief ist der Versuch, die falschen Lehrer, die die Galater vom Evangelium abgebracht haben, als solche zu entlarven und in ihrer Autorität zu entmächtigen. Im Neuen Testament begnügen sich die Lehrer nicht damit, daß sie herausstellen, das ist die falsche, das ist die rechte Lehre, nun entscheidet euch! Die Lehrer im Neuen Testament widerstehen ganz real dem Gegner, wie Jesus den Schriftgelehrten und Pharisäern. In diesem Sinn wird auch der Heilige Geist verstanden. Er überführt die Welt der Sünde, der Gerechtigkeit und der Wahrheit. Es ist ein Gerichtsprozess, der sich da vollzieht. Das Reden aus dem Heiligen Geist ist ein Richten der Welt, Joh 16,8-11: »Und wenn derselbe kommt, wird er der Welt die Augen auftun über die Sünde und über die Gerechtigkeit und über das Gericht; über die Sünde, daß sie nicht glauben an mich; über die Gerechtigkeit, daß ich zum Vater gehe und ihr mich hinfort nicht sehet; über das Gericht, daß der Fürst dieser Welt gerichtet ist«. Wir können noch Weiteres entdecken, wenn wir näher zusehen, worum es bei der Irrlehre im Neuen Testament geht. Die Verführung durch Irrlehrer hängt fast immer mit sittlichen Verfallserscheinungen zusammen. Es versteckt sich dahinter ein ganz bestimmter ethischer Liberalismus (vgl. 2 Petr 2,1-3.12-22) 45 . Es verbindet sich damit eine ganz bestimmte Ausnutzung des Wortes Gottes, das verkrämert, um Geld verkauft wird (vgl.2 Kor 2,17). Es handelt sich bei der Irrlehre tatsächlich auch darum, daß die Menschen durch sie wieder zurückgeführt werden in die Finsternis, aus der sie herkommen, in die sittliche Verdorbenheit, aus der sie herausgeholt worden sind. Die Irrlehre bedroht also die Gemeinde an Leib und Seele, sucht sie wieder zurückzuziehen in die Entheiligung. Wenn also im Neuen Testament der Irrlehre widerstanden wird, dann in der Form, daß der Apostel oder der jeweilige Lehrer darum kämpft, seine 45. Iwand meint wohl: ethischer Libertinismus.
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Gemeinde zu bewahren vor diesen Wölfen, die in die Herde eingedrungen sind (vgl. Mt 7,15; Joh 10,12; Apg 20,28 f.). Wir können daraus zunächst für die Predigt lernen: Es genügt nicht, den Unterschied zwischen Lehre und Irrlehre klarzumachen. In diesem allgemeinen Sinn wird nirgends im Neuen Testament geredet; sondern es kommt darauf an, daß ich den Irrlehrer beseitige und die Gemeinde von dem Verfall errette. Es handelt sich also um einen ganz realen Widerstand und um eine reale Bewahrung der Gemeinde. Dieses zu tun, das heißt nun »lehren«, das heißt, das Wort Gottes recht verkündigen. Es darf sich also ein Pfarrer nicht damit entschuldigen, daß er sagt: Ich habe immer das rechte Wort gelehrt, wenn die Gemeinde sich nicht danach richtet, so ist das nicht meine Schuld. Er ist nicht damit entschuldigt, daß er das Rechte lehrt. Er hat alles daran zu setzen – bis zum konkreten Kampf mit dem Irrlehrer –, die Gemeinde zu bewahren. Die Gemeinde ist ihm anvertraut wie eine Herde. Er hat nicht nur zu sagen, da ist der Wolf!, sondern er hat ihm zu widerstehen. Also wir sehen hier, es handelt sich um einen Kampf und Widerstand gegen ganz reale und konkrete Mächte, die in die Gemeinde einbrechen. Wir sehen das heute ganz klar. Wir haben z. B. Gemeinden und Pfarrer, die mit uns darin völlig einig sind, daß die Lehre der Deutschen Christen eine Irrlehre ist, die aber nicht die in ihre Gemeinde eingedrungene Irrlehre angreifen und entlarven. Sie erkennen den Zusammenhang zwischen Irrlehre und Verfall, gehen aber nicht dagegen an. Darum ist ihr Gerede von wahrer und falscher Lehre sinnlos. Sie sehen den rechten Weg nur auf der Landkarte, aber sie marschieren ihn nicht (vgl. 2 Kor 11,13-15; 2 Petr 2,1-22; 1 Tim 4,1-5; Mt 24,3-5.11.12.23-28). Es ist fast so, als ob die falsche Lehre sich im falschen Propheten inkarnierte, und nirgends sehe ich im Neuen Testament den Versuch gemacht, die falschen Propheten zu bekehren. Die falschen Propheten gelten als unbekehrbar, wie die Anführer von Häresien in der Kirchengeschichte unbelehrbar sind. Ich kann sie nur ausstoßen, denn die falschen Propheten gehören hinein in das Reich des Antichristen und haben da ihre bestimmte Rolle, die sie spielen müssen. Auch in der Reformation sehen wir das immer wieder. Ich kann nicht daran glauben, daß die Schwarmgeister sich bekehren, ich will aber dagegen schreiben, um der Gemeinde willen, sagt Luther 46. Wir müssen also damit rechnen, daß es in der Gemeinde unbe46. Vgl. WA 23,73,29-75,30: »So wil ich nu abermal mich widder den teufel sampt seinen schwermern setzen, nicht umb yhren willen, sondern umb der schwachen und einfeltigen willen. Denn da hab ich keine hoffnung zu, das die lerer einer ketzerey odder schwermerey solten bekeret werden, ja, wo das müglich were, ist schon bereit so viel geschrieben, das sie wol bekeret weren, Es ist noch nie gehöret, das der be-
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kehrbare Irrlehrer gibt, gegen die wir stehen müssen, bei denen es uns nicht aufgetragen ist, sie zu bekehren und zu gewinnen. Wir haben da keine Verheißung von Gott. Die einzige Form, in der wir sie bekehren könnten, wäre in der Tat der Widerstand. Es wäre sinnlos zu sagen, wir müssen nur mal mit dem Reichsbischof reden. Das wäre so, als wenn Paulus zu den Pseudopropheten nach Korinth geschickt hätte, um sie von der Echtheit seiner theologia crucis zu überzeugen. Dann wäre der ganze zweite Korintherbrief ungeschrieben geblieben. So denken aber heute viele. Warum sind denn die Irrlehrer nicht bekehrbar? Warum gibt es nur einen Weg, den des Widerstandes? Weil die Irrlehre selbst durch das Evangelium heraufbeschworen ist. Hätte Paulus nicht das Evangelium gepredigt, wie er es gepredigt hat, hätte er gar nicht den Widerstand der Gesetzesprediger heraufbeschworen. Der ist gekommen durch das Evangelium selbst. Das sind ja gerade die Menschen, die Anstoß nehmen am Evangelium! Das sind ja nicht die Verführten, sondern es ist der Versuch des Satans, dem Evangelium zu widerstehen, wenn es aufbricht, und darum geben wir uns einer Utopie hin, wenn wir glauben, wir könnten den Irrlehrer bekehren. Luther hat nie die Illusion gehabt, den Papst zu bekehren. Darum nicht, weil er wußte, daß das die Kehrseite des Evangeliums ist 47 . Die Irrlehrer, die im Neuen Testament auftreten, sind herausgerufen durch die Verkündigung der Apostel selbst. Wir stehen also vor der Tatsache, die uns immer wieder daran erinnert, daß wir ecclesia militans, nicht triumphans (kämpfende, nicht triumphierende Kirche) sind. Es ist utopisch zu meinen, die gesamte Kirche könne die reine Lehre haben. Wir können allerdings sagen, wenn das so ist, dann hört der Kirchenkampf nie auf, denn die Kirche hat ihren Anfang genommen mit diesem Kampf. Die rein erbauliche Form, christliche Briefe zu schreiben, ist dem Neuen Testament ganz fremd. Denken Sie an die Thessalonicherbriefe, an Philipper 3, an Hebräer 1, an Römer 3 und 7! Wir müssen uns also immer sagen, daß die Kirche heute mit den falschen Lehrern in den Kampf tritt, darin haben wir das offenbare Zeichen, daß das Evangelium in unserer Kirche mächtig ist. keret sey, der falsche lere erfunden hat, Denn solche sunde ist zu gros, weil sie Gotts wort lestert und sundigt ynn den heiligen geist, drumb lesst sie Gott verstocken, das es gehet nach dem Spruch Jesaja vi. ›Mit sehenden augen solt yhrs nicht sehen und mit hörenden oren solt yhrs nicht hören, Denn dis volcks hertz ist verstockt.‹« (73,29-75,2; in 75,3-20 legt Luther diesen Text Jes 6,9 f. aus). 47. Vgl. WA 54,206-299: Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet, 1545, WA 50,5,6-18. Zu Luthers Verhältnis zum Papsttum vgl.: Scott H. Hendrix, Luther and the Papacy. Stages in a Reformation Conflict, Philadelphia 1981; H. Kirchner, Luther und das Papsttum, in: H. Junghans (Hg.), Leben und Werk Martin Luthers von 15261546, Göttingen 1983, Bd. 1, 441-456.
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Was ist nun demgegenüber die rechte Lehre? Orthodoxie im üblichen Sinne gibt es im Neuen Testament nicht. Es gibt eine gesunde Lehre und gesundmachende Lehre (vgl. 1 Tim 1,10; 6,3; 2 Tim 1,9; 2,1.8), aber es gibt nicht eigentlich »rechte Lehre«. Wenn Sie einmal die Ausdrücke für rechte Lehre nennen sollten, müßten Sie sagen: ⁄lffiqeia (Wahrheit), didacffi (Lehre), e'aggfflion (Evangelium), lgo@ to‰ qeo‰ (Wort Gottes), «ffima (Wort,Rede), ⁄koffi (Predigt, das Gehörte), pfflsti@ ¥k ⁄koffi@ (der Glaube aus der Predigt) – das sind die eigentlichen Ausdrücke für das, was wir »reine Lehre« nennen; dogma ist noch »Rechtssatzung«, und die dogmata im Kolosserbrief sind der nomos (Gesetz), den Jesus Christus zerbrochen hat (vgl. Lk 2,1; Apg 16,4; Kol 2,14). In der Auseinandersetzung mit der Häresie vollzieht sich der Endkampf der Kirche zwischen Wahrheit und Lüge. Die Deutschen Christen sind also eine viel ernstere Angelegenheit als man meint. In N. passierte es einmal, daß einer aufstand und fragte, warum wir so scharf gegen die Deutschen Christen redeten, denn schließlich seien das nur physische Personen. Da konnte ich mich nicht enthalten zu sagen: Es geht nicht um physische Personen; es sind die Träger einer metaphysischen, einer satanischen, die Gemeinde zerstörenden Kraft, einer geistigen Macht, die einbricht in das Reich Gottes, die danach trachtet, die Seelen der Menschen zu fangen. Darum ist der Kampf so ernst. Nicht um physische Personen geht es, sondern um die Sache, um die Idee, für die diese Personen streiten. Sie können das bei den paulinischen Briefen sehen. Die Pseudoapostel sind vorgeschobene Posten des jüdischen Geistes, der wieder einzudringen versucht in die christlichen Gemeinden. Mit denen setzt Paulus sich auseinander, die in einem christlichen Gewande in die Gemeinde einzudringen versuchen. So sind die Irrlehrer immer vorgeschobene Posten, durch die ein anderer Geist, ein anderes Pneuma, ein ˝llo@ Crist@ (ein anderer Christus) in die Gemeinde einzudringen versucht, 2 Kor 11,13-15: »Denn solche falschen Apostel und arglistigen Arbeiter verstellen sich zu Christi Aposteln. Und das ist auch kein Wunder; denn er selbst, der Satan, verstellt sich zum Engel des Lichtes. Darum ist es nichts Großes, wenn sich auch seine Diener verstellen als Diener der Gerechtigkeit; deren Ende wird sein nach ihren Werken«. So ernst ist die Situation, daß Johannes die Dinge zur völligen Trennung bringt (vgl. 2 Joh 7-11). Ich sagte schon, demgegenüber ist die rechte Lehre ⁄lffiqeia, Wahrheit. Wie die Irrlehre zum Ziel hat, den Menschen zu verführen in Ungehorsam, die Gemeinde sittlich zu verderben, so kommt es für die Gemeinde immer darauf an, daß die ⁄lffiqeia getan wird, Joh 3,2: »Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht, daß seine Werke offenbar werden, denn sie
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sind in Gott getan«. Paulus sagt, daß die Heiden die ⁄lffiqeia qeo‰ (die Wahrheit Gottes) danieder halten in der ⁄dikffla (Ungerechtigkeit; vgl. Röm 1,18). In dem Augenblick, wo die ⁄lffiqeia aufbricht, weichen ⁄dikffla und ⁄nomffla (Ungerechtigkeit und Gesetzlosigkeit). Darum kann der Antichrist der ⁄nmo@ und der ˝diko@ genannt werden (vgl. 2 Thess 2,3-12). Predigen ist: Die Menschen herausholen aus ihren Dunkelheiten. Nur so kann ich das Evangelium verkündigen, daß die Wahrheit die Menschen frei macht. Wenn Sie heute die Wahrheit verkündigen, ohne daß die Wahrheit wirklich Menschen freimacht, dann verkündigen Sie die Wahrheit Gottes nicht. Wir sehen also, der Kampf zwischen Lehre und Irrlehre ist der Kampf, mit dem Wort Gottes die Menschen zu befreien, während die Irrlehre versucht, durch einen Schein von Gottes Wort die Menschen wieder zurückzuholen in die alte Knechtschaft der Sünde. Wir können das auch in der Form ganz deutlich sehen, daß meistens da, wo die Irrlehre auftritt, sich ganz bestimmte sittliche Schäden, wie Unterschlagungen, Korruption (z. B. in Gemeindekirchenräten) zeigen. Das erschwert den Kampf, weil die Menschen herausgeholt werden müssen aus ihrer sittlichen Verkommenheit. Die Irrlehre ist nur eine Decke dafür, daß der Mensch tun und lassen kann, was er will. Der Gegner sitzt tiefer als nur in der Lehre. Das ist nur die oberste Schicht in diesem Kampf, allerdings eine sehr wichtige Ebene. Wir sehen, es gilt einen ganz realen Kampf mit bestimmten Gegnern, Pseudopropheten usw., die immer auch eine sittliche Verfallserscheinung bedeuten. Diesem Kampf darf ich mich nicht entziehen, denn wenn ich die rechte Lehre predige, muß ich sie predigen als eine Wahrheit, die Tat werden muß. Wir gehen jetzt einen Schritt tiefer und verfolgen die Frage der Irrlehre unter Gegenüberstellung von Gotteswort und Menschenwort. Wir werden dann noch einen letzten Schritt tun in der Gegenüberstellung von Gesetz und Evangelium. Es wird schwieriger, wenn wir den Kampf gegen die Irrlehre als den Gegensatz von Menschenwort und Gotteswort fassen, also als die Frage nach der rechten Verkündigung. Denn mit derselben Gewißheit, mit der wir in jenem Kampf zwischen falschen Propheten und kirchlich geordnetem, gebundenem Leben unterscheiden können, können wir hier schon nicht mehr unterscheiden. Jede Predigt stellt an mich die Frage: Wirst du ein Prediger von Gottes Wort sein? Hier bin ich selbst in ganz anderer Weise gefordert. Hier bin ich selbst in Gefahr, mitzuwirken beim Eindringen einer falschen Lehre. Wir müssen uns fragen, was es heißt, Gottes Wort zu predigen. Sie kennen aus Luthers Schrift »Wider Hans Worst« die These, ein Prediger kann nicht sündigen, denn er predigt Gottes
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Wort; sonst müßte ich sagen, Gott sündigt 48 . Luther ist also hier der Meinung, die Predigt besteht in nichts anderem, als daß der Prediger seinen Auftrag ausführt und das Wort Gottes, das ihm aufgetragen ist, ausrichtet. Es geht eigentlich nicht um die Frage, wie kann ich als Mensch Gottes Wort sagen? Damit würde ich schließlich eine Sache zur Frage machen, die nicht meine Sorge ist. Denn wenn Gott mir aufträgt, sein Wort zu verkündigen, dann habe ich nicht die Frage zu stellen, wie kann ich als Mensch dieses Wort verkündigen? Die Möglichkeit liegt im Worte Gottes, nicht in mir. Wenn ich die Möglichkeit, wie ich als Mensch Gottes Wort zu verkündigen habe, in mir suchen würde, dann würde ich sie in der Tat an der falschen Stelle suchen. Hier ist der Punkt, von der Inkarnation zu handeln. »Es geschah das Wort an Jeremia … Ich habe alle meine Worte in deinen Mund gelegt …« (vgl. Jer 1,4.9). Dieses Wort enthält in sich die Möglichkeit, daß es durch Menschen ausgerichtet wird. Karl Barth geht davon aus: Wie kann ich als Mensch Gottes Wort verkündigen? Wir sollen wissen, daß wir Menschen sind, aber darauf vertrauen, daß wir Gottes Wort verkündigen sollen, sollen dem Wort Gottes mehr vertrauen als uns selber 49. Das nehme ich an. Aber nicht ohne weiteres nehme ich diese Frage an: Wie kann ich, der Mensch, Gottes Wort verkündigen? Sie können in der Tat bei Moses sehen: »Ich habe eine schwere Zunge« (vgl. Ex 4,10). Zögern nicht alle Propheten, wird ihnen nicht da erst deutlich, daß sie Menschen sind? Das ist richtig. Aber damit ist noch nicht gesagt, ob das der Ansatz sein darf, von dem ich ausgehe, um das Problem von Menschenwort und Gotteswort zu erfassen, das theologische Problem zu erfassen. Das ist eine Anfechtung; aber es ist fraglich, ob das ein theologischer Ansatz ist. 48. M. Luther, Wider Hans Worst, 1541. WA 51,469-572; BoA IV, 322-378; 347,10-13. »Aber die Lere mus nicht sünde noch strefflich sein/vnd gehöret nicht ins Vater vnser/da wir sagen/Vergib vns vnser schuld/Denn sie nicht vnsers thuns/sondern Gottes selbs eigen Wort ist/der nicht sündigen noch vnrecht thun kan.« »Ein Prediger muß dessen gewiß sein, daß Gott aus seinem Munde spricht. Sonst ist’s Zeit, daß er schweige. Er muß gewiß sein, daß er Gottes Wort predigt, so gewiß als wenn Gott selber predigte. Dann kommt er vom Himmel. Was tut er? Er erschreckt die Wächter und wälzt den Stein vom Grab. Er grüßt nicht zuvor die Priester und erbittet nicht von ihnen die Erlaubnis zum Predigen.« (E. Mühlhaupt [Hg.], D. Martin Luthers Evangelien-Auslegung, Band 5, 4. Aufl. Göttingen 1969, 274). Vgl. F. Schulz, Die Gebete Luthers, a. a. O., 285, Nr. 521 (vgl. Nr. 511-528). Vgl. Iwand, NW 5, 221. 49. K. Barth, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie (1922), in: ders., Das Wort Gottes und die Theologie, München 1924, 156-178; auch in: TB 17/1, 197-218; vgl. ebda. 199: »Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und unser Nicht-Können wissen und eben damit Gott die Ehre geben«.
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In dem Augenblick, da ich mich von der Schrift löse, stehe ich vor der barthschen Frage; in dem Augenblick, da ich die Schrift vor mir habe, kann ich nicht mehr so fragen. Ich wende mich hier gegen den Vortrag Karl Barths von 1922. Das ist heute nicht mehr so bei Barth 50 . Ich würde so sagen: Ihr findet in der Schrift den für euch bereiteten Auftrag so, daß ihr ihn erfüllen könnt. Wenn ich also die Predigt vorbereite und halte in der Weise der Schriftauslegung, dann darum, weil ich hier nicht einen Text interpretiere, sondern weil ich mich an den Auftrag halte, wie er für die Kirche bestimmt ist. In dem Augenblick, da die Kirche das Wort Gottes reden wollte ohne Beziehung auf die Heilige Schrift, würde sie an ihrer Aufgabe scheitern müssen, die übermenschlich ist. In dem Augenblick, da der Pfarrer hintritt auf die Kanzel und sagt: Ich will euch das Wort Gottes heute predigen als euer Heilsprophet ohne die Schrift – dann muß er scheitern, denn dann will er das Wort Gottes »an sich« reden, dann macht er sich seinen Auftrag selbst zurecht. Das ist der Gegensatz zu Barmen, darum ging es in Barmen, daß wir das Wort Gottes nur so predigen und verkündigen dürfen, wie es seinem Auftrag gemäß an uns gekommen ist, daß wir es aber nicht predigen dürfen, indem wir es »an sich« predigen in die Situation unserer Zeit hinein, weil wir meinen, nur so aktuell das Wort Gottes reden zu können. Das Wort ist auf uns gekommen in Jesus Christus. Wir haben es auszurichten, aber nicht noch einmal zu vermenschlichen. Das sähe so aus, als ob das Wort Gottes, wie es uns gegeben ist, noch nicht ein Menschen gegebenes Wort Gottes wäre. Dann würde sich die Inkarnation potenzieren. Ich aber meine, das Wort ist wirklich an uns gekommen. Du hast das dir überkommene Wort auszurichten. Wir machten die Ehe auch nicht. Aber in der und durch die Ehe wird es dir möglich sein, treu zu sein. Du darfst nicht meinen, weil du das alles noch nicht hast, könntest du nicht heiraten, denn dann stellst du dir das Heiraten vor, als ob du ohne Stiftung der Ehe zusammenleben könntest mit einer Frau. Du findest das Wort Gottes und das hast du zu sagen. Das Wort Gottes ist ja da, ist ja ausgebreitet in aller Welt, tut doch nicht so, als ob ihr es finden müßtet, es ist ja gefunden, es ist ja gegeben in Propheten- und Apostel50. Der »Wandel« in Barths Auffassung ist für Iwand wohl vor allem in der Barmer Theol. Erklärung und in den seit 1932 erscheinenden Bänden der Kirchlichen Dogmatik (I/1, Zürich 1932) zu sehen. Vgl. auch die Iwand wohl damals nicht bekannten Formulierungen der Homiletik Barths: K. Barth, Homiletik – Wesen und Vorbereitung der Predigt, Zürich 1966. Über Barths Einfluss auf Iwands Theologie steht eine Arbeit noch aus. Vgl. P.-P. Sänger, a. a. O., 39-46.
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mund, in Jesus Christus, und dieses Wort Gottes, das da ist, das habt ihr zu verkündigen. Infolgedessen könnte ich sagen, die Frage, wie soll ich als Prediger, als Mensch Gottes Wort predigen?, ist von Gott beantwortet durch die Heilige Schrift. Das ist die Antwort darauf. Wenn ich in Not bin, wie soll ich das Wort Gottes predigen?, dann antwortet mir Gott so darauf, daß er mir die Schrift in die Hand gibt. Die Schrift ist die Antwort und nicht ein besonderes Erlebnis, eine besondere Ekstase, ein besonderer Habitus. Gott hat diese Frage für uns gelöst. Lebe nur in der Schrift, dann wirst du Gottes Wort predigen können! Lebe in der Ehe, dann wirst du keusch sein können. Lebe im Beruf, dann wirst du arbeitsam sein können. Aber in dem Augenblick, da du diese Ordnung zerbrichst und meinst, du müßtest sie erst schaffen, wirst du scheitern an deinem eigenen Gigantentum. Was Ehe? Freie Liebe! Freie Liebe ist für mich genug! Was Beruf und Stand? Genie! Leistung! Das ist für uns genug! Genau in diese Schwarmgeisterei hinein – Ehe als Kameradschaft, Beruf und Stand als Leistung, Genie, Begabung –, genau da hinein gehört das, was die Deutschen Christen wollen, wenn sie von Gott ohne die Schrift reden, was alle diese Leute wollen, die sich so aufblasen – und müssen dann sein wie die Wolken, die keinen Regen geben (vgl. Prov 25,14). Predige ich das Wort Gottes, das ich in der Schrift finde, oder predige ich das Wort Gottes, das ich anderswo finde? Predige ich es so, wie es geschehen ist zu den Aposteln und Propheten oder wie es mir geschieht? Indem ich es so predige, wie es zu den Aposteln und Propheten geschehen ist, geschieht es auch zu mir. Dann erst predige ich im Heiligen Geist, denn der Heilige Geist kann sich nicht selbst verleugnen. Er will, daß wir auch heute so reden, wie er vor Zeiten geredet hat. Vom Geist getragen sein in der Verkündigung heißt nichts anderes, als von dem Geist getragen sein, der in den Aposteln und Propheten geredet hat. Wenn uns das klar ist, wird uns auch klar sein, was Menschenwort heißt. Denn die Schwierigkeit beim Menschenwort liegt nicht darin, daß ich Menschenwort predige, sondern daß ich Gotteswort als Menschenwort predige, daß ich an die Stelle von Gottes Wort mein eigenes Wort setze und daß ich mein eigenes Wort als Gottes Wort ausgebe. Während also Gottes Wort in der Schrift gepredigt wird als Sein Wort an die Menschen, predige ich hier mein Wort als Gottes Wort, versuche ich den umgekehrten Aufstieg. Träume, die ich habe, gebe ich aus als Gotteswort. Damit verführe ich die Menschen (vgl. Jer 23,25-32). Es ist nicht so, als ob ich mir dessen bewußt wäre, daß ich betrüge. Wenn ich träume, dann halte ich in der Tat die Träume für wahr. Ein Hungriger träumt, er sitze an einer reich gedeckten Tafel und esse sich satt. Aber wenn er auf-
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wacht, ist er hungrig. Darum geht es. Nach dem Erwachen zeigt sich der Hunger. Das geschieht, wenn ich mein Wort predige. Es geht hier um den Gehorsam. Das Verhältnis von Lehre und Irrlehre würde also dann so zu fassen sein, daß der rechte Lehrer in seiner Verkündigung dem Gott gehorsam ist, der ihn sendet, daß er aus einem bestimmten Auftrag und aus einer Sendung heraus predigt, daß er ständig dabei den Dienst verrichtet, den er übernommen hat durch den Auftrag der Kirche. Wer in seinem eigenen Auftrag und aus eigener Sendung heraus predigt, predigt im Ungehorsam. Alle Enthusiasten predigen aus Eigenem heraus. Sie sind so erfüllt von den Gesichten und Bildern, die in ihnen sind, daß sie sich nicht halten können, sie müssen predigen 51 . Sie haben in Röm 10,14+15 das eigentliche Paradigma: anrufen, glauben, hören, predigen, senden: »Wie sollen sie aber den anrufen, an den sie nicht glauben? Wie sollen sie aber an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie aber hören ohne Prediger? Wie sollen sie aber predigen, wenn sie nicht gesandt werden?«. Drehen Sie die Ordnung um, dann haben Sie die Skala der Irrlehre: Predigen ohne Sendung, hören ohne Predigt, glauben ohne Hören, anrufen ohne Glauben! Durch die Irrlehre wird die Kirche zersetzt, aufgelöst; es entsteht nicht eine neue Kirche, sondern die völlige Atomisierung! Menschenwort predigen heißt, durch Ungehorsam Gottes Wort verwandeln und verwenden. Ein falsch verwendetes und verwandeltes Gotteswort, das ist erst das eigentliche Menschenwort, ein Menschenwort, das ich als Gotteswort ausgebe. Deshalb kämpft Luther um das EST im Abendmahlsstreit 52 , denn er will nicht, daß man es verwandle in ein Menschenwort und es doch als Gotteswort ausgibt. Er sieht darin den Bruch mit dem Ganzen, denn ich fange damit an, Gottes Wort mir zu deuten. Ich glaube nicht an Gottes Wort, sondern nur noch an ein gedeutetes Wort. Weithin ist die Predigt, die wir 51. Vgl. WA 15,211,24 ff.; WA 18,367,9 ff.; 454,23 ff.; WA 19,460,17 ff. »Was ist nu das fur ein geist, der dis teil wil ungewis und yrre machen, und kan doch sein teil nicht gewis noch fest machen … ? Es ist freylich kein ander geist denn der teuffel, der lust hat die hertzen zu rütteln allenthalben und lest sie auf keinem teil gewis und sicher sein, sondern pampeln und schweben, darnach sein wind webt, wie ein espen laub. Aber der heilig geist ist ein solcher lerer, der gewis ist, gewis macht und nicht so weben und schweben lest, Denn ynn Christo ist nicht ja und nein, sondern Ja und Amen’??? 2. Cor.1« (WA 23,245,23-32). Vgl. Karl Holl, Luther und die Schwärmer, a. a. O., 420-467. 52. Vgl. vor allem: »Daß diese Wort Christi ›Das ist mein leib‹ noch fest stehen, 1527, WA 23,38-320; vgl. auch: WA 19, 460,6-36; WA 26,261-509; WA 52,805,18-806,3; WA 44,716,31-720,36.
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Kapitel 2: Immer währende Verkündigung
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halten und die so beliebt ist, nichts anderes als ein solches, im Sinne der Zeit gedeutetes Menschenwort. Die Gefahr der Deutung ist immer gegeben an hohen Festtagen und bei Kasualien. Ich weise nur hin auf den Erntedanktag und den Sonntag Reminiscere 53 ; da wird aus dem Prediger ein Deute- und Leutepriester. Die Gefahren sind sehr groß, und manche bekehren sich wieder so, daß sie ins umgekehrte Extrem umschlagen und dann am Heldengedenktag erklären, daß das gar keine Helden sind. Aber damit helfen sie sich auch nicht. Die Entgleisung kann nur dadurch verhindert werden, daß man an anderer Stelle dazu redet, vor oder nach der Predigt oder vom Altar aus. Das ist besonders für junge Prediger ein sehr guter Rat. Der Kampf zwischen Lehre und Irrlehre ist der Gegensatz von Gesetz und Evangelium. Wir haben vorhin gesagt, es geht um die rechte Verkündigung. Hier geht es um den rechten Glauben 53a . Ich richte über den Glauben der Hörer. Ich sage, was der wahre und der falsche Glaube ist. Ich sage, welcher Glaube vor Gott angenehm und welcher falsch ist. Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium will dies bedeuten, daß sie mir Macht gibt, über den Glauben zu richten und zwar über den Glauben von Christen. Es kann jemand meinen, er glaube an Christus, aber dieser Glaube macht ihn doch nicht selig, weil er im Grunde gesetzlich lebt, von den Werken des Gesetzes seine Seligkeit abhängig macht. Wir haben die christliche Gemeinde vor uns. Die paulinische Theologie warnt diese Gemeinde vor dem Rückfall in die Gesetzlichkeit, und diese Predigt gilt nicht Juden, sondern Christen (vgl. Gal 2,11-21; 5,1-15). Paulus richtet sich nicht an Juden, sondern an Christen, damit die nicht in das Gesetz zurückfallen. Gerade der ernste Christ ist von der Gefahr des Rückfalls bedroht. Paulus kämpft gegen die Petriner, und Luther kämpft gegen Rom, und dieser Kampf muß geführt werden, wenn die Kirche, wenn die Gemeinde ständig unter der Gnade bleiben soll. Ja, durch diesen Kampf halte ich die Gemeinde ständig unter der Gnade. Ich muß also wissen, daß ich in meiner Ge53. Der Sonntag Reminiscere (5. So. d. Passionszeit) war seit 1926 Gedenktag für die Gefallenen des 1. Weltkriegs, seit 1934 »Heldengedenktag«. Vgl. K.-P. Jörns, Zur Predigt am Volkstrauertag, in: Der Lebensbezug des Gottesdienstes, Göttingen 1988, 176-190; dort Hinweis S. 177 f. auf D. Bonhoeffer, Gedanken für den Prediger zum Volkstrauertag, in: GS IV, 197-199. 53a. 3a Vgl. K. G. Steck in: H. J. Iwand, Um den rechten Glauben, TB 9, 1959 (2. Aufl. 1965), 9: »Aber wenn ich mir überlege, was Ihre theologische Autorschaft besonders kennzeichnet und von der Autorschaft anderer unterscheidet, dann ist es eben dies, daß die Wirklichkeit des Evangeliums und seiner Verkündigung und die Aufgabe der theologischen Forschung und Lehre nie und nirgends auseinanderfallen, daß es vielmehr immer nur um das Eine, ›um den rechten Glauben‹ geht.«
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Homiletik-Vorlesung
meinde faktisch Irrlehre habe, daß auch meine Gemeinde im Besten immer davon bedroht wird, daß sie nicht unter der Gnade bleiben will, daß sie mehr sein will als das, was nun einmal dem Christen zusteht. Wenn meine Gemeinde auf dem Standpunkt steht, sie habe zwar die Gnade verstanden, jetzt aber komme es auf die Heiligung, auf die Kirchenzucht an, jetzt müßten die Vollkommenen von Thessalonich, von Essen, von Königsberg allmählich herausgestellt werden, dann ist die Stunde ganz ernst geworden. Hier muß ich den Glauben richten und die Gesetzlichkeit treffen, denn es gibt kein Hinauskommen über die Gnade. Alle unsere Heiligung und Kirchenzucht kann sich nur vollziehen auf dem Boden der Gnade, kann niemals ein Schritt der Entwicklung über die Gnade hinaus sein. Es ist doch sehr auffällig, daß Paulus den schärfsten Kampf auf diese Lehre verwendet, Röm 12,1: »Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes …«. Hier sagt Paulus, indem er zur Ermahnung übergeht: »durch die Barmherzigkeit Gottes«. Das bleibt die Basis. Wenn dieses nicht mehr das Fundament der Heiligung ist, dann ist die Heiligung eine Entheiligung. Wenn mein ganzes Leben in der Heiligung und mein Streben danach nicht mehr verwurzelt ist in dem Erbarmen Gottes und das Leben meiner Gemeinde nicht mehr darin wurzelt und meine Ermahnung nicht mehr von daher kommt, dann predige ich Gesetz, dann hebe ich durch das, was ich jetzt predige, das auf, was ich eben gepredigt habe (vgl. Gal 2,17-21). Es kann sich niemand mehr in die Gnade Gottes flüchten, da er fürchten muß, doch auf neue Forderungen zu stoßen, denn die Gnade ist dann nur ein Lockmittel, um ihn aufs Neue unters Gesetz zu bringen. So soll es nicht sein, sondern die Gnade ist das neue Leben, ist der neue Stand vor Gott, das Sein in Christo, und die Heiligung kann immer nur geschehen dadurch, daß ich immer aufs Neue die Gnade verkündige; sie ist die Frucht der Gnadenpredigt des Evangeliums, nicht die Bedingung für die Echtheit. Die Gnadenbotschaft ist durch sich selber echt, sie wird nicht erst echt durch das heilige Leben, das ich führe, sondern das heilige Leben ist die Frucht eines Glaubens, der sich allein an die Gnadenbotschaft hält. Jeder andere Glaube ist ein falscher Glaube. Der rechte Glaube wird also gewonnen durch rechte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Die Predigt allein darf sich rühmen, daß sie in Wahrheit gegen die Irrlehre streitet, daß sie in Wahrheit Gottes Wort ist, die Glauben schafft. Die Predigt, die nur Glauben richtet und nicht Glauben schafft, ist nicht aus dem Evangelium gewonnen. Ich kann nur dann den Glauben richten, wenn ich selber durch die Verkündigung Glauben schaffe. Die Predigt gründet Kirche, richtet Kirche, erneuert Kirche.
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Kapitel 3: Verkündigung und Gemeinde
Welchen Platz nimmt die Gemeinde ein in der Wortverkündigung? Die Predigt geschieht in einem Amt, das von der Gemeinde übertragen wird. Das Hören der Gemeinde ist Gehorsam, dessen Dienst sie selbst bestimmt hat. Der Umkreis der hörenden Gemeinde ist bestimmt durch das Amt. Wie weit reicht die Gemeinde? Die Antwort liegt im Amt, das Amt gibt den Umkreis an. Es ist eine ganz bestimmte, in sich zusammengeschlossene Gemeinde, die dieses Amt einem ganz bestimmten Diener überträgt. Indem die Gemeinde dies Amt überträgt, stellt sie sich unter Gottes Wort. Sie stellt sich also in der Weise unter Gottes Wort, daß sie nicht nur die Schrift liest, sondern daß sie das Amt der Wortverkündigung überträgt. Dadurch ist sie selbst gebunden an das Hören des Wortes, ob sie will oder nicht. Die Gemeinde muß sich ganz klar darüber sein, daß sie durch die Übertragung des Amtes dem Prediger die Vollmacht gibt, das Wort zu reden zur Zeit und zur Unzeit. Es genügt eben nicht, daß die Gemeinde lediglich die Bibel hat. Das ist eine falsche pietistische Anschauung, denn die Bibel kann man lesen oder nicht lesen, auswählen, zurechtstutzen. Das Amt bedeutet die Souveränität des Wortes Gottes in der Gemeinde. Die Zerstörung des Amtes in der Gemeinde ist die Zerstörung der Vollmacht des Wortes Gottes. Im Amt kommt zum Ausdruck, daß die Gemeinde nicht über das Wort Gottes verfügt, daß sie hören muß, was das Wort Gottes ihr verkündigt, ob es ihr gefällt oder nicht. Von Anfang an ist die Kirche so geordnet, daß es nicht nur das Wort gibt und die Gemeinde, sondern das Amt (vgl. Eph 4,10-13). Darum wird man das Verhältnis von Predigt und hörender Gemeinde nicht recht bestimmen können ohne das Amt. Ich halte es für einen Mangel bei Wolfgang Trillhaas, daß er das Hören der Gemeinde unmittelbar gewinnt aus dem Wort ohne Beziehung auf das Amt, auf die Vokation 54 . 54. W. Trillhaas, Evang. Predigtlehre, 1935, § 6,54-59. »Wo den Hörer die schriftgemäße Verkündigung christlicher Predigt anspricht, da darf er sich des trösten, wirklich das Wort Gottes zu hören, der seinen Geist der Lehre und des Trostes nie ohne das Wort gibt, und dessen heiliger Geist uns gegeben wird, wo wir Gottes Wort als dieses sein Wort wirklich hören« (54. Im Text als These insgesamt gesperrt gedruckt). Vgl. S. 55 und 105.
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Homiletik-Vorlesung
Hier liegt ja auch ein wesentlicher Unterschied zwischen Kirche und Schwarmgeisterei. Wo bleibt da das Amt, die Ordnung des Verhältnisses von Gemeinde und Wort Gottes? Das Amt ordnet das Verhältnis so, daß das Wort Gottes der Gemeinde übergeordnet ist, so wie auch in weltlichen Dingen das Amt zum Ausdruck bringt, daß etwa die Führung den Geführten gegenüber Autorität besitzt. Das Amt ist das Zeichen der Autorität des Wortes Gottes gegenüber der Gemeinde. Auctoritas heißt Ursprung, das, woher etwas stammt 55 . Das Amt will zum Ausdruck bringen, daß die Gemeinde in ihrem Bestand herkommt vom Wort Gottes, daß sie die Frucht ist und das Wort Gottes die Wurzel, daß sie gewirkt ist durch das Wort Gottes in ihrem Bestand. Sie hat nicht wie irgendeine Religionsgesellschaft oder Gesinnungsgemeinschaft eine Doktrin gewählt, eine Parole oder ein Programm, um das sie sich sammelt, sondern sie ist geschaffen, gesammelt, ins Leben gerufen durch die Wirkung dieses Wortes. Darum wirkt dies Wort auch fernerhin unter ihr in der Autorität des Amtes. Eine Gemeinde kann zerfallen und kann durch rechte Ausrichtung des Amtes wieder hergestellt werden. Wenn aber das Amt selbst zerfällt, dann ist die Wiederherstellung dieser Gemeinde eigentlich nicht mehr möglich. Ich sage »eigentlich«, denn Gott hat natürlich noch viele Wege. Aber das wird immer so geschehen, daß in irgendeiner Weise ein Eingriff mittels des Amtes, also eines Evangelisten, eines Lehrers, eines Predigers stattfindet, vielleicht auch in der Weise, daß ein Charismatiker in der Gemeinde selbst auftritt; aber immer wird es so sein, daß das Wort Gottes sich einen Träger sucht, der die Gemeinde sammelt. Das Amt in der Gemeinde ist nicht eine Funktion der Organisation im säkularen Sinne – so soll man das allgemeine Priestertum nur nicht verstehen! – sondern es ist die Ausübung der Autorität des Wortes Gottes über die Gemeinde. Gemeinde unter dem Wort hält das Amt der Wortverkündigung heilig. Indem nun die Gemeinde das Amt der Wortverkündigung überträgt, indem sie ein Glied der Gemeinde beruft zum ministerium verbi divini 56 , handelt sie als ein Glied der ecclesia in perpetuum mansura 57 . 55. Zum Stichwort und seiner Geschichte vgl. vor allem T. Eschenburg, Über Autorität (1965). Erw. u. überarb. Aufl. st 178, 1976. Auch H. Rabe, Art. Autorität, in: Geschichtl. Grundbegriffe Bd. 1, Stuttgart 1972, 382-406. 56. CA V,1-4, BSLK 58,1-17: »Ut hanc fidem consequamur, institutum est ministerium docendi evangelii et porrigendi sacramenta. Nam per verbum et sacramenta tamquam per instrumenta donatur spiritus sanctus, qui fidem efficit, ubi et quando visum est Deo, in his, qui audiunt evangelium …«; Apologie XV,42, BSLK 305,9 f.: »Atqui praecipuus cultus Dei est docere evangelium«. 57. CAVII,1, BSLK 61,1-7: »Item docent, quod una sancta ecclesia perpetuo mansura sit. Est autem ecclesia congregatio sanctorum, in qua evangelium pure docetur et recte
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Kapitel 3: Verkündigung und Gemeinde
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Denn die Gemeinde setzt sich ja aus sterblichen Menschen zusammen. Sie steht in einem ständigen Wandel der Zeiten, der Generationen, der kulturellen und geistigen Verschiebungen, denen sie ausgesetzt ist. Aber indem sie das Amt der Verkündigung immer weitergibt, besinnt sie sich darauf, daß sie in der einen, allgemeinen, christlichen Kirche steht. Sie darf deshalb auch dies Amt nicht in der Form weitergeben, daß es ihr gefällt, einen Menschen zu wählen, sondern ihr ist dies Amt übertragen, und sie beruft in das Amt mit dem Auftrag, Jesus Christus zu predigen, der gestern, heute und in Ewigkeit derselbe ist (vgl. Hebr 13,8). Gerade dadurch bezieht sie sich auf die ecclesia perpetuo mansura und ist sie ein Glied an dem einen Leibe. So vollzieht sich die Anrede an die Gemeinde aufgrund der Vokation. Wenn ich also zu ihr predige, dann predige ich ihr aufgrund der Berufung, durch die sie selbst mich in dies Amt berufen hat. Sie kann sich nicht darüber beschweren, daß ich ihr vielleicht beschwerlich falle mit meiner Predigt, sie hat es mir ja selbst aufgetragen. Sie hat mir ein Amt übertragen, aufgrund dessen ich Seelen binden und lösen soll, aufgrund dessen ich Menschen den Weg der Wahrheit weisen soll, aufgrund dessen ich an den Sterbebetten die Auferstehung von den Toten bezeugen soll, aufgrund dessen ich die, die nicht so tief sehen, bewahren muss vor den Verführungen und Verfälschungen, kurzum: Indem sie mir das Amt überträgt, gibt sie mir die Vollmacht, das Wort Gottes im Gehorsam gegen Gott selbst ihr auszurichten. Es genügt nicht, wenn ich das Hören der Gemeinde lediglich begründe mit der Bezogenheit des Menschen auf das Wort Gottes überhaupt, sondern das ist die Voraussetzung für das Hören des Wortes Gottes, daß eine bestimmte Gemeinde in das Amt der Wortverkündigung beruft. Von Anfang an ist das so gewesen. Jesus hat sein ihm zugewiesenes Volk. Denken Sie an die Geschichte vom kanaanäischen Weib (vgl. Mk 7,24-30 par). An diese ihm von Gott zugewiesene Gemeinde hält er sich als der Messias. So ist das auch später, immer wieder ist eine Gemeinde da, die dann Boten mit einem Auftrag ausrüstet (vgl. Apg 17,1-3). Indem die Gemeinde das Amt überträgt, entschließt sie sich, das an sie gerichtete Wort Gottes zu hören und stellt sich damit zugleich in den Gesamtzusammenhang der ecclesia perpetuo mansura. Wir dürfen also nicht einfach die Gemeinde in der Form einbeziehen, daß wir sagen: Wenn ich das Wort recht verkündige, sammelt sich darum herum die Gemeinde. Das administrantur sacramenta.« Vgl. W. Maurer, Ecclesia perpetuo mansura im Verständnis Luthers, a. a. O., 62-75.
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Homiletik-Vorlesung
ist zwar an sich richtig, aber ohne bestimmte Vokation von der Gemeinde her wird das rechte Verhältnis von Gemeinde und Predigt nicht verstanden werden. Es ist dann die Gefahr vorhanden, daß der Prediger als ein Religionsstifter wirkt, der seine Ideen verkündigt und so um sich eine Gemeinde versammelt, der jedoch nicht in einem von der Gemeinde übertragenen Amt seinen Dienst tut. Es ist immer wieder die Meinung aller Schwarmgeister heute, man müsse Feuergeister haben. Dann aber versteht man Jesus falsch und versteht nicht, daß er in seinem Amt den Auftrag Gottes an sein Volk ausrichtet. Das Wort schafft die Kirche, die Verkündigung baut oder zerstört, sammelt oder zerstreut. Darum ist es Irrlehre, die Gemeinde als konstant zu sehen und in der Predigt eine Lebensfunktion der Gemeinde zu finden. Wenn man die Gemeinde als konstant ansieht, die durch sich und aus sich selbst heraus existiert, als eine Gegebenheit, dann kommt man zu der Rede von der gemeindegemäßen Verkündigung 58 . Man prüft dann die Predigt daraufhin, ob sie gemeindegemäß ist, ob durch die Verkündigung die Gemeinde in dem, was sie ist und darstellt, erhalten wird. Diese Rede von der gemeindegemäßen Verkündigung kehrt die Verhältnisse schlechthin um. Denn die Gemeinde soll prüfen, ob die Predigt dem Worte Gottes gemäß ist, darf aber nicht prüfen, ob die Predigt gemeindegemäß ist. Das widerspräche ihrem Auftrag. Dann würde sie sich selbst zum letzten Maßstab der Predigt machen. Dieses Mißverständnis wird dadurch nahegelegt, daß man gemeint hat, die Predigt sei eine Lebensfunktion der Gemeinde, in ihr komme zum Ausdruck, was sie erlebt und bedrängt, und sie suche sich sozusagen ein Organ, in dem das seinen Ausdruck findet. Denken Sie an die Predigttheorie Schleiermachers. Hier ist der Prediger nicht der Mund des Wortes Gottes, sondern der Gemeinde, der zum Ausdruck bringt, was die Gemeinde bewegt 59 . Bei Beerdigungen, Hochzeiten, großen Feiertagen wird das deutlich. Der Pfarrer gleicht einem 58. Das Programm der »gemeindegemäßen« Predigt ist für Iwand verwirklicht in der homiletischen Theorie des protestantischen Liberalismus ebenso wie in der homiletischen Theorie der Deutschen Christen. Es besagt die Vorordnung der »konkreten« Gemeinde vor das Wort Gottes, ist also ein eminent ekklesiologisches Programm. Vgl. F. Wintzer, Homiletik seit Schleiermacher, a. o. O., 137 ff.154 ff. Beachte: K. Barth, Homiletik, 67 f.; ders., Die Gemeindemäßigkeit der Predigt (1935) in: EvTh 16, 1956, 194-205. 59. Zur Predigttheorie Schleiermachers vgl. F. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), hg. von R. Otto, 6. Aufl., Göttingen 1967, S. 19 und 125-160 (vierte Rede); ders., Der Christliche Glaube, hg. von M. Redeker, 7. Aufl., Berlin 1960, Bd. 2, §§ 121-126 und 133-135; ders., Prakt. Theol., a. a. O., 203 f.239 f. (vgl. Anm. 7).
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Kapitel 3: Verkündigung und Gemeinde
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Dichter und Redner, der dem Gefühl der Menge Worte verleiht, sodaß sich die Gemeinde durch den Prediger selbst versteht. Diese Gemeindegemäßheit ist eine Irrlehre. Dann redet der Prediger nicht Gottes Wort in die Gemeinde hinein, sondern dann redet er aus der Gemeinde heraus. Das ist nicht mehr eine Gemeinde unter dem Wort, sondern eine Gemeinde, die über das Wort verfügt. Gerade dadurch wird das Amt zerstört. Vielmehr sollte es so sein: Die Gemeinde soll prüfen, ob die Verkündigung dem Worte Gottes gemäß ist. Denken Sie an Luthers Schrift, daß die christliche Gemeinde Recht habe, über die Lehre zu urteilen 60 . Paulus ruft immer wieder die Gemeinde auf, prüft eure Lehrer, ob sie die rechte Lehre haben (vgl. Gal 1,6-10; Phil 3,2; 1 Thess 5,21). Es handelt sich also nicht darum, daß das Wort Gottes gemeindegemäß gepredigt wird, sondern daß der Gemeinde dem Worte Gottes gemäß gepredigt wird. Der Gegensatz, aus dem heraus die Gemeindegemäßheit der Predigt gefordert wird, ist der Gegensatz von Gemeinde und Pfarrer. Man geht davon aus, daß der Pfarrer sich auf die Gemeinde einstelle. Diese Voraussetzung ist aber total falsch, denn der Prediger und die Gemeinde stehen beide unter Gottes Wort. Es geht also nicht darum, daß der Prediger sich auf die Gemeinde einstellt, sondern daß er sich unter das Wort Gottes stellt, daß der Prediger als ein Glied der Gemeinde predigt, das Wort Gottes auslegt, daß er nicht Herr ist über die Gemeinde, sondern daß er ihr Glied ist. So ist also weder der Wille des Predigers noch der Wille der Gemeinde der Maßstab für die Verkündigung, sondern das Verbum Dei, das Wort Gottes. Die Gemeinde ist aufgerufen, ihren Prediger an diesem Maßstab zu prüfen. Es ist durchaus möglich, daß ein Pfarrer, besser ein Prediger, in seiner Amtsführung ganz allein die Gemeinde erhält. Es ist denkbar, daß eine ganze Gemeinde abirrt vom Wort Gottes und daß sie allein dadurch erhalten wird, daß der Prediger unter dem Worte Gottes bleibt und das ihm von der Gemeinde übertragene Amt führt, bis die Gemeinde zur Erkenntnis und Einsicht kommt, daß sie irrt. Es ist ebenso möglich, daß eine Gemeinde das Amt, das von einem Prediger verwüstet wird, dadurch bewahrt, daß sie am eigentlichen Charakter dieses Amtes festhält, den Prediger ermahnt, von seinem Irrtum zu lassen. In dem Amt selbst liegt in nuce die Erhaltung der Gemeinde als solcher. Indem ich mein Amt treu ausrichte, kann ich in Wahrheit meine Gemeinde bewahren, auch wenn sie jetzt nicht mit mir geht. Paulus denkt gar nicht daran, die Gemeinde aus der Verantwortung zu entlassen, über die er das Amt eines Apostels hat. Wir finden in der Schrift 60. Vgl. Anm. 31.
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Homiletik-Vorlesung
große Bilder dafür. Wenn Hosea von der Ehe spricht und von daher Gottes Handeln mit dem Volk Israel versteht, dann ist ganz deutlich, daß Hosea auch die ehebrecherische Frau nicht aus der Ehe entläßt, er bleibt ihr Mann und hält sie dadurch fest als seine Frau, auch wenn sie irrt und abirrt (vgl. Hos 1-4). So kann ein Prediger durch das Amt seine Gemeinde erhalten, auch wenn die Gemeinde irrt – gleich wie Gott sein Volk nicht losläßt. Er kann warten, bis sie zurückkehrt. Er hält durch das Amt die Gemeinde als die fest, die sie sein soll im Unterscheid zu der Gemeinde, die sie ist. So hält Gott in seiner Treue das Volk Israel fest als das, was es sein soll im Unterschied zu dem, was es ist. Er leidet um sie, er geht ihr nach, er bittet sie, er weint um sie, er betet für sie. Meine Brüder, das ist die eigentliche Aufgabe, die ich habe, wenn mir eine Gemeinde das Amt überträgt. So ist die Gemeinde wahrhaft erst zu finden in der Treue des Hirten zu ihr, und ohne diese Treue ist sie einfach nicht. Nehmen Sie an, es ist heute eine Gemeinde da, der Pfarrer aber hat erkannt, daß sie falsch ist. Nun existiert eine doppelte Gemeinde, die Gemeinde, um die der Pfarrer ringt, die ihm übertragen ist, und die faktische Gemeinde, die sich abwendet, die randaliert, die sich empört – und die dennoch nie freikommt von dem Anspruch, der durch die Treue ihres Hirten ihr gegenüber geltend gemacht wird. Das Wort also schafft die Kirche. Im letzten Grunde handelt es sich dabei nicht um die Treue ihres Hirten. Hier wird der Gemeinde Gottes Treue offenbar, Gottes Anspruch deutlich. So schafft das Wort die Kirche. Die Kirche ist also niemals etwas Konstantes, Gegebenes, Festes, so daß ich sagen könnte, so oder so ist die Kirche, denn sie will so sein. Sondern ich muss mich immer wieder fragen, wie finde ich die Gemeinde in dem Worte Gottes, wie will das Wort die Gemeinde? Darin finde ich sie. Sie sehen jetzt auch deutlich, daß die ganze Frage nach dem Anknüpfungspunkt hinfällig ist, denn in dieses Wort Gottes ist die Gemeinde schon eingeschlossen. Es ist ganz falsch, wenn wir zunächst davon ausgehen: hier ist das Wort Gottes, wie finde ich nun den Anschluß? Im Wort Gottes ist schon die Gemeinde beschlossen. Ich habe gar nicht erst anzuknüpfen bei den Hörern, sondern sie sind mir schon anvertraut, sind ja schon meine Herde. Ich habe nicht erst die Brücke zu schlagen, wohl aber habe ich der Gemeinde gegenüber, wie sie ist, die Gemeinde anzureden, die sie vor Gott ist. Ich habe also der Gemeinde gegenüber, die ein bestimmtes Bild von sich selber hat, die Gemeinde anzureden, die vor Gott steht. Sie steht vor Gott als eine gerichtete und begnadete. Ich will Ihnen das deutlich machen. Wenn Jesus Christus in die Welt kommt, dann heißt es nicht, er kam mit einer bestimmten Botschaft in eine bestimmte Welt und versuchte nun, sich auf bestimmte Art und Weise
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Kapitel 3: Verkündigung und Gemeinde
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Menschen verständlich zu machen, sondern es heißt: »Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf« (Joh 1,11). So kommt das Wort Gottes, wenn es in die Gemeinde hinein geschieht, immer in sein Eigentum, aber die Seinen nehmen es nicht auf. Wenn wir die ganzen Dinge dahin verschieben, daß wir nach dem Anknüpfungspunkt suchen, dann sieht es so aus, als ob der Widerspruch der Gemeinde in Wahrheit der Mangel der Anknüpfung wäre. Dann dürfte es nicht heißen: »die Seinen nahmen Ihn nicht auf«, dann müßte es heißen: aber er verstand es nicht, den rechten Ton zu finden. Er fand den Anknüpfungspunkt zu den Juden nicht, und daran ist er gescheitert. Dann mache ich aus der Schuld der Gemeinde eine Entschuldigung der Gemeinde und aus der Treue des Predigers einen Mangel an seiner Fähigkeit. Es ist an dieser Stelle nicht wichtig, daß das ganze Suchen nach gemeindegemäßer Predigt theoretisch gesehen nicht zu rechtfertigen ist – vielleicht könnte man es praktisch rechtfertigen, vielleicht würde der Erfolg es rechtfertigen, das würde uns nicht so sehr bewegen, aber das ist entscheidend, daß dabei die Schuld der hörenden Gemeinde entschuldigt wird und die Treue des Predigers umgebogen wird in einen Mangel seiner Fähigkeiten, als ob er sich nicht genug Mühe gäbe. Dies eine ist der eigentliche praktischtheologische Fehler dieser Theorie. Die Verkündigung ist, wenn sie wirklich Verkündigung des Verbum Dei ist, immer schon bezogen auf die Gemeinde. Das Wort ist nie für sich, aber die Menschen, die es trifft, die werden eben nun angesprochen als die Gemeinde Gottes. Sie werden dadurch in Marsch gesetzt, sie werden dadurch gerichtet und aufgerichtet, sie werden dadurch Gemeinde. Durch die Verkündigung des Wortes Gottes werden die Menschen, die es hören, angesprochen als Gemeinde Gottes, immer von Neuem angesprochen auf das, was sie sind bei Gott, im Unterschied zu dem, was sie sind bei sich selbst. So ist denn das Wort kircheschaffend, durch das Geschehen des Wortes wird Gemeinde Gottes geschaffen, aus Menschen dieser Welt. Die Autorität des Amtes ist also keine statische, eine in sich ruhende, sondern sie ist eine schöpferische. Das Amt bezeugt darin seine Autorität, daß es Gemeinde schafft. In der altpreußischen Dogmatik 61 ist der Grundtext für diesen Gedanken Jesaja 55,11: »Das Wort wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende«. Ein so verkündigtes Evangelium kann nicht leer bleiben, sondern schafft Gemeinde. 61. Iwand meint die altprotestantische Dogmatik. In PM I, 386 spricht er im Zusammenhang dieses Textes von »nachreformatorischer Orthodoxie«.
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Kapitel 4: Erwählung und Anknüpfung
Das Wort, das Evangelium, das wir verkündigen, knüpft nicht bei dem Geschaffensein des Menschen, bei der creatio Dei an, sondern es trifft den Menschen kraft der praedestinatio Dei, kraft seiner Erwählung. Die Auseinandersetzung, die man hier theologisch führen müßte, wäre die mit Augustinus, wenn man bis in die Tiefe gehen wollte. Augustinus und mit ihm das Mittelalter sieht den Anknüpfungspunkt in der creatio. »Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir« 62 . Das bestimmt die gesamte Theologie Augustins und des Mittelalters. Darum fehlt auch im Mittelalter die Bedeutung der Predigt, der Verkündigung 63 . Der Mensch ist ein Spiegelbild des trinitarischen Gottes – das ist der Anknüpfungspunkt. Wenn Gott sich mir offenbart, knüpft er bei mir an aufgrund der Tatsache, daß ich geschaffen bin als sein Abbild. Das reicht noch viel weiter; das finden Sie wieder bei Schleiermacher. Die »schlechthinnige Abhängigkeit« des Menschen, die Schleiermacher als das Wesen der Religion definiert, ist ja nichts anderes als die Kräftigkeit des Gottesbewusstseins 64 . Wenn ich also 62. S. Aurelii Augustini Confessionum. Libri XIII, ed. Skutella, Stuttgart 1981, I,110-13: »et tamen laudare te vult homo, aliqua portio creaturae tuae. Tu excitas, ut laudare te delectet, quia fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te«. 63. Zur Geschichte der Predigt im Mittelalter vgl. Rudolf Cruel, Geschichte der deutschen Predigt im Mittelalter, Detmold 1879, Nachdruck Darmstadt 1966. 64. F. D. Schleiermacher, Der Christliche Glaube, hg. von M. Redeker, 7. Aufl., Berlin 1960, Bd. 1, S. 23 § 4: »Das Gemeinsame aller noch so verschiedenen Äußerungen der Frömmigkeit, wodurch diese sich zugleich von allen andern Gefühlen unterscheiden, also das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit, ist dieses, daß wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung zu Gott bewußt sind«. Vgl. §§ 4+5,23-41; §§ 32,35; ders., Über die Religion, a. a. O., 49-54. Schleiermacher definiert »Frömmigkeit« im bei Iwand angegebenen Sinne, Religion wird in den »Reden« anders bestimmt: »… das Universum ist in einer ununterbrochenen Tätigkeit und offenbart sich uns jeden Augenblick. Jede Form, die es hervorbringt, jedes Wesen, dem es nach der Fülle des Lebens ein abgesondertes Dasein gibt, jede Begebenheit, die es aus seinem reichen, immer fruchtbaren Schoße herausschüttet, ist ein Handeln desselben auf uns, und so alles Einzelne als einen Teil des Ganzen; alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion …« (53. Vgl. auch 52.64 f.). Vgl. Iwand, Erläuterungen zu Martin Luther, Daß der freie Wille nichts sei, MüA, Erg. Reihe 1, 3. Aufl., 1975,
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Kapitel 4: Erwählung und Anknüpfung
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auf meine Existenz zurückgehe, finde ich meine Gottbezogenheit. Davon geht auch noch Wolfgang Trillhaas aus, der meint, daß der Prediger die Gemeinde anspricht auf ihre Geschöpflichkeit hin 65 . Ich glaube, daß diese These falsch ist. Luther sagt einmal, die einzige Vorbereitung auf die Gnade Gottes ist die Prädestination 66 . »Wes ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich, und wen ich verstocke, den verstocke ich« (vgl. Röm 9,15 u. 18). Wenn tatsächlich das Geschaffensein die Voraussetzung wäre für das Angeredetwerden durch Gott, dann bliebe es unbegreiflich, daß nicht alle Menschen hören, es bliebe unverständlich, wie es geschehen kann, daß man sagt: »Er kam in sein Eigentum, und die Seinen nahmen ihn nicht auf«. Dann werden Sie niemals mit der Tatsache fertig werden, daß so und so viele, die ganz gleiche Vorbedingungen psychologischer Art haben, eben nicht hören. Sie werden nicht fertig mit der Tatsache, daß zwei an derselben Mühle mahlen, der eine versteht’s, der andere nicht (vgl. Mt 24,41). Ein Mensch kann in seiner ganzen Predigtarbeit gestört werden, er kann sich falsche Ziele setzen, wenn er nicht weiß, daß allein die Vorsehung Gottes, die praedestinatio Dei, hörende Menschen macht. Er muß wissen, daß es einfach unserer Macht entnommen ist, ob einer hört oder eben nicht hört, daß wir Gott bitten müssen, Er möge den Menschen das Herz auftun, Er möge sich erbarmen. Er muß wissen, daß wir vor Gott auf den Knien liegen müssen für unsere Gemeinde, aber daß wir nicht deshalb, weil sie alle von Gott her sind, den Versuch unternehmen können, sie alle zum Verstehen des Evangeliums zu bringen. Die Menschen sind und bleiben in Gottes Hand, auch in ihrem Hören auf die Predigt. Versteht dich einer in deiner Predigt, dann mußt du Gott danken, daß Er diesen Menschen durch seine Gnade gerettet hat. Wir gehen, wenn wir predigen, an lauter Türen vorbei; die einen tun sich auf, die andern bleiben verschlossen. Aber das 281: »Interessant ist der Versuch Luthers, die ›Freiheit des Willens‹ als dispositiva qualitas (i. e. WA 18,636,16; MüA 46,35 f. R. L.) und aptitudo passiva zu deuten, wir könnten sagen: die Erlebnisfähigkeit des Menschen. Hier und hier allein kann man Schleiermachers ›schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl‹ zur Erläuterung heranziehen. Hier ist es sogar genau treffend. Nicht aber darf man es … mit dem ›servum arbitrium‹ vergleichen. Luther versteht den Willen nicht aus dem Akt, sondern aus dem Affekt! In seinem Wollen ist der Mensch von Kräften beherrscht, denen gegenüber er ›passiv‹ ist, denen er sich in Leidenschaft und Hingabe, das heißt ›passiv‹ erschließt«. 65. Vgl. W. Trillhaas, a. a. O., 49 f. und Anm. 24. 66. M. Luther, Disputatio contra scholasticam theologiam 1517, WA 1,224-228; BoA V, 320-326, These 29: Optima et infallibilis ad gratiam praeparatio et unico dispositio est aeterna dei electio et praedestinatio (322,23 f.). Vgl. These 30 (ebda. Z. 25 f.): Ex parte autem hominis nihil nisi indispositio, immo rebellio gratiae gratiam praecedit.
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Auftun und Verschließen liegt nicht in unserer Hand. Wir können anrennen mit aller Kraft, die verschlossenen Türen gehen nicht auf; wenn sie aufgehen, dann von innen her, von innen wird der Riegel aufgestoßen, der, der den Riegel aufmacht, steht innen. Wenn man sich das klar macht, verliert man das Aufdrängerische, dann bringt man den Friedensgruß von Tür zu Tür und wartet, bis Gott selbst den Riegel zurückschiebt (vgl. Lk 10,1-12). Man wird geduldig, man erzürnt sich nicht, man verzweifelt nicht, man fängt wirklich an zu arbeiten (vgl. 2 Kor 6,4-10). Was nützt es denn, wenn Sie Ihre ganze Kraft verlieren dadurch, daß Sie Tag für Tag gegen verschlossene Türen anrennen? Gott weiß Zeit und Stunde, das ist Prädestination. Wir haben den Samen auszuwerfen und nicht zu fragen, wird er aufgehen oder nicht? Denken Sie an das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat (vgl. Mk 4,26-29). Welcher Prediger aber hat diese Ruhe, diese Geduld, diese Langmut? Es ist nicht die Schuld der Menschen, wenn sie das Wort nicht annehmen, Gott hat sie ja verschlossen. Wir müssen an ihnen immer wieder erkennen, daß wir gar nichts voraushaben, wenn wir glauben, wir haben es begriffen. Gottes Gnade ist es, daß er Ihnen die Herzen öffnet, und Sie haben keinen Grund, sich zu erheben über die, denen er sie nicht auftat. Im Gegenteil, darin sehen Sie erst einmal, daß Sie ebenso gut verschlossen werden könnten; so wie die Frau, die Kinder hat, nichts voraus hat vor der, die keine hat (vgl. Jes 54,1; Ps 113,9). Gottes Gnade ist es. Das könnte auch sehr viel bedeuten für das Leben der Gemeinde, damit die, die meinen, sie haben es, sich nicht überheben, sondern für die anderen bitten. Prädestination ist nichts neben dem Worte Gottes, sondern sie vollzieht sich durch und in dem Wort Gottes; indem es die Menschen trifft, vollzieht sich die Scheidung. Wenn wir das Wort Gottes verkündigen, treffen wir auf offene und verschlossene Türen. Gott selber hat den Riegel in der Hand. Wenn nicht der Geist Gottes die Herzen der Menschen wendet, dann kann das Wort sie nicht fassen. »Nun bitten wir den Heiligen Geist um den rechten Glauben allermeist« (EG 124,1), so bittet die Gemeinde, so sammelt sie sich, so bittet sie für die, die das Wort noch nicht hören, Gott möge ihnen den Geist geben. Einige praktische Fragen werden hier deutlich: Die Mißerfolge des Predigers, die Nutzlosigkeit seiner Rede. Wenn ein Prediger drei, vier Jahre in einer toten Gemeinde predigt, fängt er an zu erlahmen, er ist müde geworden in seinem Glauben. »Wir haben die ganze Nacht umsonst gearbeitet und nichts gefangen« (vgl. Lk 5,5). In Wahrheit ist der Prediger an die Grenze der praedestinatio Dei gelangt, er selbst. Er weiß es gar nicht, daß er mit Gott an der Furt zusammengeraten ist, daß Gott ihm seine Hüfte
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verrenkt hat (vgl. Gen 32,23-32). Nicht die halsstarrige Gemeinde, Gott liegt ihm im Weg, er ist an die Grenze der providentia Dei geraten. Er ist gleichsam gefragt, wirst du auch predigen, wenn dich niemand versteht? Predigst du wirklich kraft deines Auftrages oder im Blick auf einen Erfolg? Ist dir das Wort Gottes so wahr, daß du dennoch bei ihm bleiben willst, auch wenn es niemand hört und dann Gott Zeit und Stunde überlassen willst, wirklich glauben willst im Mißerfolg, daß es kein Mißerfolg ist? Wir wissen um solche Dinge aus der Missionsgeschichte. Jahr um Jahr wurde das Evangelium gepredigt ohne Erfolg. Eines Tages brach es auf. Haben wir nicht in unserer jüngsten Kirchengeschichte so etwas auch erlebt? Ein Sturm ist aufgekommen, das Schiff hat Fahrt bekommen. Zeit und Stunde, meine Brüder, weiß allein Gott (vgl. Mt 24,36). Zeit und Stunde Gott überlassen, das heißt mit der praedestinatio Dei rechnen. Oder denken Sie an den Konfirmandenunterricht. Wie schwer ist es zu sehen, daß anscheinend alles zerbricht, wie Gott seinen Mantel darüber breitet, daß ich nicht mehr sehen kann, wie das wächst und aufgeht, was ich gesät habe. Da fragt uns Gott: Hast du auch wirklich ernst damit gemacht, daß der Mensch nicht dir, sondern mir gehört, daß du mit deiner ganzen Verkündigung den Menschen zu mir führst, nicht an dich bindest, daß ich meine Heiligen wunderbar führe (vgl. Ps 4,4), Wege des Irrtums, die du nicht verstehst? Ich, ich weiß Zeit und Stunde, weiß den Tag, da er an seine Brust schlagen wird und sagen wird, ich will umkehren und zu meinem Vater gehen (vgl. Lk 15,17.18). Ein Prediger, der damit ernst macht, wird nie den Stab zerbrechen über seiner Gemeinde, wenn er auch verzweifelt. Er wird niemals sein Urteil mit dem Urteil Gottes verwechseln. Unser Urteil ist nicht Gottes Urteil. Er kann die Dinge ganz anders wenden als wir es glauben. Und auch für die Gemeinde selbst, für das Leben der hörenden und der verirrten Gemeinde: Wie wichtig ist es, daß sie das weiß. Wer steht, der sehe zu, daß er nicht falle (vgl. 1 Kor 10,12). Wer weiß, ob Gott nicht eines Tages aus diesen Steinen Kinder erwecken wird (vgl. Mt 3,9)? Wer um die praedestinatio Dei weiß, der weiß, daß seine Arbeit eine Arbeit auf Hoffnung ist, der weiß um Gottes Erfolge in den Mißerfolgen seiner Boten. Denken Sie an Jona in Ninive. Er wollte den Stab brechen, aber Gott sagt nein, sie hat sich bekehrt, ich falle dir in den Arm. Hältst du das für unmöglich, daß sie sich bekehren könnte? Du sagst, dein Auftrag sei umsonst gewesen; wichtiger als dein Wille ist dies, daß die Stadt gerettet wird. Du, der du eben entronnen bist, zürnst jetzt über diese Stadt (vgl. Jona 4). Oder denken Sie an Jeremia, der sich zu den Armen wendete und fest-
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stellte, weniger als die Reichen verstehen mich die Armen. Gott verschloss auch da die Tür, machte ihn ganz einsam, zwang ihn, in dieser Einsamkeit ein Prediger Gottes zu werden (vgl. Jer 5,1-5; 15,10-21). Praedestinatio Dei überall! Jesus selbst steht vor dieser Grenze: Jerusalem, wie oft habe ich dich sammeln wollen … und ihr habt nicht gewollt (vgl. Mt 23,37), praedestinatio Dei! Darum finden wir auch andererseits bei Jesus: Die, die du mir gegeben hast, die habe ich bewahrt (vgl. Joh 17,12; 6,39; 10,28.29). Wo Gott die Grenze zieht, können wir nicht hinüber. Die es hören, hören es, weil Gott die Grenze durchbrochen hat. Wir sollen um unsere Gemeinden in der Verkündigung ringen, um unseren Nächsten, aber wir sollen wissen, die Grenzen, auf die wir da stoßen, heißen auch praedestinatio Dei, electio Dei, Erwählung durch Gott. Seine Gemeinde ist von Ewigkeit her. Es ist so, als ob wir bei der Predigt eine Fahne entrollten und die, die auf die Fahne verschworen sind, sammeln sich um dieses Feldzeichen 67 . Wir finden die Erwählten Gottes, indem wir predigen, aber wir schaffen sie nicht. Wir entdecken sie, indem wir das Evangelium verkündigen, aber wir rufen sie nicht ins Dasein; sie sind ja schon von Gott her erwählt, aufgeschlossen, bestimmt für sein Heil. Ich glaube nicht, daß Sie an den Bestand der Kirche glauben können, wenn Sie nicht Ernst machen mit der electio Dei. Wenn die Kirche eine Schöpfung ist aus der Zeit, kann sie nicht bestehen in der Ewigkeit. Wenn ich nicht mit der electio Dei rechne, kann ich auch nicht sagen: permansura in aeternum. Die Widerstände, die das Wort Gottes findet, sind realer Natur. Es handelt sich beim Widerstand, den das Wort Gottes findet, durchaus nicht darum, daß es nicht verstanden wird, daß es lediglich ein Mangel der Auslegung sei, der hier vorliegt, daß es darauf ankomme, verständlicher zu reden, in der Sprache des Volkes, und wie alle diese Dinge heißen. Denn 67. M. Luther, Dass eine christliche Gemeine, a. a. O. (vgl. Anm. 31), »Da bey aber soll man die Christlich gemeyne gewißlich erkennen/wo das lautter Euangelion gepredigt wirt. Denn gleych wie man an dem heerpanier erkennet/als bey eym gewisßen tzeychen/was fur eyn herr/und heer tzu felde ligt/alßo erkennet man auch gewiß/an dem Euangelio/wo Christus und seyn heere ligt/des haben wyr gewisse verheysßung gottis Isaia.55 … Da her sind wir sicher/das vnmuglich ist/das nicht Christen seyn sollten/da das Euangelion gehet/wie wenig yhr ymer sey …« (BoA 2, 395,3-396,11). Vgl. F. Schulz, Gebete, a. a. O., 235, Nr. 347: »Lieber Herr Gott, laß uns dein gnedig wort hören, behalt uns bei deiner verheyssung, das wir nit fallen in das murren und ungedult, erhebe dich, wirff eyn fehnlein auff, laß dein wort fest bei uns stehn, das wir uns darnach richten, wie man sich nach dem panier im Heer richtet« (vgl. Die ersten 25 Psalmen auf der Koburg ausgelegt, 1530, WA 31 I, 275,5-13, zu Ps.4,7).
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solange man das denkt, übersieht man, daß der Widerstand gegen das Wort Gottes gerade dann am größten ist, wenn es verstanden ist. Der Widerstand bricht dann erst in letztem Ernst und stärkster Leidenschaft auf, wenn das Wort verstanden wird. Die Pharisäer verstanden Jesus wohl, aber gerade darum widerstanden sie ihm. Das Wort Gottes trifft also auf einen ganz realen Widerstand in der Welt. Es ist eine Utopie zu meinen, das Wort Gottes würde in der Welt angenommen, wenn es verständlicher, wahrer gepredigt würde. Je wahrer und verständlicher es gepredigt wird, desto mehr wächst der Widerstand. Es ist wie ein Pflug, der wirklich einschneidet in den Acker und da auf die Steine trifft, die in diesem Acker liegen. Wenn ich hineinfahre in dieses Leben mit dem Wort Gottes, decke ich den Widerstand auf. Denn das Wort Gottes ist nicht nur eine Darstellung, ein Bericht, eine Unterrichtung über religiöse Fragen, sondern es richtet den Menschen, deckt die Sünde auf, verurteilt ihn. Das Wort Gottes trifft die bösen Werke. »Wer Arges tut, der haßt das Licht« (vgl. Joh 3,20). Was ist damit gesagt? Woher stammt der Haß gegen das Licht? Er stammt aus einem Tun, aus einer Bewegung, in der dieser Mensch sich befindet. Der Haß gegen das Wort Gottes wäre gar nicht denkbar, wenn nicht wirklich verstanden würde, was das Wort Gottes will. Es will nämlich dies, daß der Mensch abläßt vom bösen Tun, es will ihn herausrufen aus diesem Tun. Darum wurzelt der Hass gegen das Wort Gottes in dem Befaßtsein, in dem Treiben von bösen Werken, in dem der Mensch sich befindet. Das wird oft ein Haß gegen den Prediger sein, so wie der Haß der Juden sich richtet auf Jesus, auf die Apostel, auf Stephanus. Der Haß sucht sich dann einen Gegenstand, an dem er sich austoben kann. Aber er wurzelt darin, daß Böses getan wird. Aus dieser Quelle steigt der Haß empor. Solange ich also dieses Tun nicht angreife mit dem Wort Gottes, darf ich mich auch nicht wundern, daß ich friedlich das Wort Gottes verkündigen kann, solange störe ich den Satan nicht in seinem Reich. In dem Moment aber, wo ich wirklich das böse Tun angreife, wo ich das Wort Gottes wirklich als Wort Gottes verkündige, wo ich die Gerechtigkeit Gottes verkündige, in diesem Augenblick bricht der Haß hervor. Der Haß ist nicht nur real, sondern auch brutal. Der Widerstand gegen das Wort Gottes vollzieht sich nicht nur in der Weise, daß dem Worte Gottes widersprochen wird, sondern nach der Schrift immer wieder auch in der Weise, daß man die Boten Gottes zum Schweigen zu bringen oder zu töten versucht (vgl. Mt 5,11.12; 23,24-36). Es ist nicht so, als ob nun die Welt anfinge, mit uns über das, was wir ihr zu sagen haben, zu sprechen. Sie hat ganz andere Mittel, die nach ihrer Meinung viel wirksamer sind. Jesus sagt voraus, wie die Juden die Propheten behandelt haben, so werden sie es mit ihm und seinen Jün-
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gern machen. Die Welt will nicht verstehen, sie will, daß dieses Wort, das sie versteht, verschwindet. Und sie kann das Wort Gottes nur dadurch zum Schweigen bringen, weil es in Schwachheit verkündigt wird, durch Menschen. An die hält sie sich. Gott kann sie nicht stürzen, aber seinen Sohn kann sie töten. Gottes Wort kann sie nicht leugnen, aber seine Boten kann sie verfolgen (vgl. Mt 21,33-46). Gerade wenn das Wort Gottes einen Menschen in seinem Gewissen trifft, dann steht dieser Mensch vor einer doppelten Frage, entweder sich zu bekehren oder den Boten Gottes zu vertreiben, das Wort Gottes zum Schweigen zu bringen. Darum setzen Verfolgungszeiten, Kampfzeiten in der Gemeinde immer da ein, wo das Wort Gottes recht gepredigt wird, wo es verstanden wird, wo es trifft, wo es die Hölle plündert, wie Luther sagt 68 . Denn die sittlichen Verfehlungen, sie sind die Bollwerke, mit denen der Satan die Abwehr gegen das Verbum Dei organisiert. Denken Sie an 1 Korinther 6,9+10. Zuerst wird immer Unzucht genannt, das Laster der Heiden, die Unsauberkeit in den geschlechtlichen Dingen. Götzendienst, Ehebrecher, Weichlinge, Homosexuelle, Diebe, unsaubere Geschäftemacher, die immer mehr haben wollen, Betrunkene, Lästerer, Räuber. Vergleichen Sie auch Römer 1 und Galater 5. Alle die sogenannten Lasterkataloge beschreiben die Position, die der Satan aufbaut wider das Verbum Dei, wider das Evangelium, wider Gott. Jesus sagt, daß die Engel des Himmels kommen werden und alle sk€ndala (Ärgernisse; vgl. Mt 13,41; 18,7) ausrotten und die, die Ungesetzlichkeit tun. Die ⁄nomffla (Gesetzlosigkeit) ist das Feld, in dem der Satan die Menschen vor dem Wort Gottes birgt, es ist die Festung des Satans. Er selbst wird am Ende der Tage enthüllt als der ⁄nmo@ (Gesetzlose). »Gesetzlos handeln« ist die Bezeichnung für das Tun von Sodom und Gomorrha (vgl. 2 Petr 2,2-11). Wir werden also erleben, wenn wir in der Gemeinde Gottes Wort ver68. M. W. kein genaues Zitat. Vgl. aber: WA 31 I,199,29: »Wolan, las scheinen, las gleissen, ynn des thut mein ungleissender pfarher die tugent, das er Gottes reich mehret, den himel füllet mit heiligen, die hellen plundert, den teuffel beraubt, dem tode weret, der sunden steuret …«; WA 45,367,26-32: »Wie nun daß klein thierlein thut, eben alßo hat Christus gethann, welcher sich In die menscheyt verborgen, Den Teuffel und todt mit Ime spilnn lest, biß Ine der todt verschlingt und den Rachen zugethan hat, hat Christus alß ein würmlein den Todt den bauch zu borth und ein thür herauß gemacht, Dem Teuffel den stachel genomen und sein Reym auffgericht: Er herschet mitten unther seynen feinden, die er nider gelegt und geplundert hat«. WA 52,587,13-15: »Wo nun solche gerechtigkeyt ist, das man vergebung der sünden durch Christum glaubt, da soll alßdenn folgen …, das wir den geschlagnen und uberwundenen feinden nach eylen und sie plündern und voll würgen, das ist: wir sollen uns in heyligem leben halten …«. Vgl. noch: WA 7,217,31; 10 II,376-395; 25,253,7-10; 36,544,15-18.
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kündigen, daß sich dann diese Mauer, diese Phalanx bilden wird dem Worte Gottes gegenüber und hinter dieser Mauer sich die sammeln werden, die nun dem Worte Gottes widerstreben. Hier muß durchbrochen werden, hier muß eingebrochen werden. Das erst ist der wirkliche Sieg über den Satan. Das tut Jesus, wenn er kommt und sagt: metanoe…te, kehret um (vgl. Mk 1,15; Mt 4,17 u.ö)! Das nennt die Bibel ˝fesi@ martin, Vergebung der Sünden (vgl. Mk 1,4; Apg 2,38; Mt 26,28). Sie ist die Bresche, die in dieses Bollwerk des Satans gebrochen wird. Ein Pfarrer, der sich in seiner Gemeinde darauf beschränkt, lediglich das Wort auszulegen ohne einzubrechen in den Bezirk des Bösen, der tut nicht, was ihm aufgetragen ist. Er tut das Verbum Dei nicht, er weicht vor diesen Widerständen zurück. Von hier aus verstehen wir das Leben Jesu. Die Synoptiker schildern uns, wie Jesus einbricht in dieses Reich des Satans und reiche Beute macht. Hier sehen wir auch, wie diese Widerstände Gesicht gewinnen. In bestimmten Figuren begegnen sie uns, in Krankheit, Besessenheit, Laster. Auch die Krankheit widersteht dem Verbum Dei, auch die Armut, die Not, vor allem aber die Besessenheit, die Dämonie. Die Menschen, die geschlagen sind mit Blutfluß, mit Fieber, mit Epilepsie, mit Dämonie, mit Aussatz (vgl. Mk 5,25-34; 1,29-34; 9,14-29; 5,1-20; 3,22-27; 1,40-45 Parr), die erfahren an sich die Macht des Bösen, die Ohnmacht des Menschen vor dem Tode. Darum ringt Jesus mit diesen Gewalten, darum befreit er die Menschen von diesen Mächten. Wir haben darum auch dieses Ringen mit all diesen Dingen in der Gemeinde. Von hier aus muß man verstehen, was Diakonie bedeutet. Die Hilfe der Gemeinde an den Kranken gehört mit hinein in das Amt der Verkündigung. Das Zeugnis an Sterbebetten heißt, daß sich der Diener des Wortes nicht fürchtet und dem Tode ins Angesicht den Trost des Heiligen Geistes bringt. Die Gefahr, mit der wir uns neu auseinandersetzen müssen, ist die Besessenheit, wir nennen das heute Fanatismus. Der Fanatismus ist auch ein solches Laster, das den Menschen verschließt für das Hören des Wortes Gottes und für die Bruderliebe. Unsere Predigt heute ist ein Widerstehen gegen diesen Fanatismus; so wie Jesus diesen Fanatikern, diesen Dämonischen nicht nachgegeben hat, sondern er hat die Dämonen ausgetrieben. Jesus greift das Laster an zwei Stellen an, bei denen, die richten und bei denen, die lasterhaft leben; beide faßt er zugleich, die die Steine werfen und die, auf die die Steine geworfen werden sollen; denn er hat gesehen, daß sich beides bedingt. Der Pharisäer macht erst den Zöllner möglich. Die die Steine werfen und selber nicht besser sind, machen erst die Hurerei möglich (vgl. Joh 8,1-11). So greift er ein und richtet sie beide. Das ist das Erstaunliche bei Jesus, daß er das Laster richtet in denen, die es scheinbar
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nicht treiben. In den Pharisäern sieht er die Wurzel des Lasters, sieht er die, die schuldig sind für die anderen, die umkommen. Er reißt das Laster an der Wurzel aus. Er verlegt die Güte in Gott, nicht in die Menschen. Er teilt nicht ein in gute und böse Menschen, sondern sagt, hier ist Gott, und hier seid ihr. Hier ist der Gott, der die Sünde vergibt, und hier seid ihr alle, die solche Vergebung nötig haben. »Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet« (vgl. Mt 7,1). So wird die Gemeinde in der Urchristenheit als ein Tempel des Heiligen Geistes bezeichnet (vgl. 1 Kor 3,16.17), als Bezirk, der im Unterschied zum Bezirk des Satans umsäumt ist von guten Werken, Eph 2,10: »Denn wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, welche Gott zuvor bereitet hat, daß wir darin wandeln sollen«. Wie ein Garten, in den wir versetzt werden, daß wir darin leben sollen, so hat Gott die guten Werke bereitet als den Lebensraum, in dem sich die Gemeinde bewegen soll. Darin wandeln, davon Gebrauch machen, das ist der Inbegriff des urchristlichen Ethos: peripate…n (im Glauben leben, wandeln; vgl.Joh 8,18; Röm 6,4; 13,13; 1 Thess 4,1 u. 6). Gott hat euch versetzt in das Reich seines Sohnes (vgl. Kol 1,12-14), es kommt jetzt darauf an, daß ihr auch in diesem Reich lebt. So sagt die Urgemeinde: Ihr seid der Tempel des Heiligen Geistes, ihr seid versetzt in einen neuen Bezirk, in das Heiligtum Gottes, hier lebt, hier wandelt. Legt die Zeichen ab, die euch noch anhaften von eurer Vergangenheit und wirkt jetzt die guten Werke, wie ihr im Reich des Bösen die bösen Werke wirktet, Gal 5,22: »Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Gütigkeit, Glaube, Sanftmut, Keuschheit«. Auch Römer 12-15 und 1 Korinther 12-14 sind Beschreibungen davon, wie es im Tempel des Heiligen Geistes aussieht, in den ihr versetzt seid. Ein besonderes Laster, das nicht vergessen werden darf, ist die Simonie: Um Gelderwerbes willen das Wort Gottes, die Kräfte des Geistes Gottes verwenden (vgl. Apg 8,5-25; 1 Tim 6,5-10). Wenn das Wort Gottes um des Erwerbes willen getrieben wird, dann ist es schon gefangen im Bösen. Dann kann es nicht mehr das Reich des Bösen zerstören, denn es steht ja selbst schon unter der Oberhoheit des Mammon. Dann kann es im besten Fall noch bezaubern, verführen, bannen. Das Wort Gottes kann so getrieben werden, daß es die Gemeinde heute bannt, schlafend macht, im Traum erhält, am Aufwachen hindert, weil der Prediger das Wort Gottes dazu gebraucht, daß er es um seiner Sicherheit willen verwendet. Die Frage, die uns heute immer so stark bewegt, wie kommt es, daß so viele Leute bekenntnistreu predigen und dabei ihre Gemeinde einschläfern?, hat damit ihre Antwort: Das ist ein Stück von Simonie. Sie haben die Macht des Be-
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kenntnisses an der Bekennenden Kirche gespürt und versuchen nun, auch sich in die Kräfte des Bekenntnisses einzuschließen. Das ist Simonie, gestohlene Kraft. Aber das gilt auch uns. Wir predigen das Evangelium der Propheten und Apostel, und es fragt sich nun, ob wir es wirklich noch so verkündigen, wie sie es wollen oder ob wir es schon verkrämern, ob wir lediglich die Macht dieser Worte gebrauchen, aber zu unserem Dienst, zu unserem Nutzen. Wie sagte man in der Reformationszeit: Die katholische Kirche habe es Luther nicht vergeben können, daß er den Mönchen an die Bäuche griff 69 . Alles das betrübt den Heiligen Geist (vgl. Eph 4,30). Von hier aus verstehen wir erst den Zusammenhang von Wort und Geist. Dieser Zusammenhang, der ja für die Verkündigung von ungeheurer Wichtigkeit ist, besteht darin, daß die Macht des Bösen durch das Wort Gottes gebrochen wird. Der Zusammenhang liegt nicht im Subjektiven, in Erweckungsbewegungen sondern im Objektiven, in einem Einbruch in das Reich des Satans und in der Befreiung derer, die da gebunden sind. So versteht es die Urgemeinde, weil sie von Jesus Christus herkommt. Jesus hat keine Erwekkungsbewegung hervorgerufen, sondern er hat die Gebundenen befreit. Die Geister, die gebunden sind, sollen befreit werden; das Gefängnis wird zerbrochen; Jesus hat das Gefängnis gefangen geführt (vgl. Eph 4,8; 1 Petr 3,18-22). Das ist der Zusammenhang von Wort und Geist. Ich könnte auch so sagen: Dieser Zusammenhang besteht darin, daß in ihm die Freiheit gewonnen wird. Wenn Wort und Geist zusammenkommen, dann schlägt die Stunde der Befreiung: ¥leuqerffla. Darum reinigt der Heilige Geist die Gemeinde. Wenn der Geist Gottes unserem Predigen zu Hilfe kommt, dann geschieht etwas in der Gemeinde, dann geschieht giasm@, Heiligung, Reinigung der Gemeinde (vgl. Röm 6,19.22; 1 Thess 4,3-8; Hebr 12,14). Dann muß der Satan mit seinen bösen Werken zurücktreten ins Dunkle, er muß fliehen, ist vertrieben, hat keinen Raum und keine Hütte mehr in den Herzen der Menschen. Das ist der Zusammenhang von Wort und Geist. Der Geist Gottes zerbricht den Widerstand, auf den das Wort Gottes stößt.
69. Erasmus est anguilla. Niemand kan yhn ergreiffen denn Christus allein. Est vir duplex. Cum esset interrogatus Coloniae a duce Friderico, cur damnaretur Lutherus, quid peccasset? respondit: ›Multum peccavit, qui tetigit ventres monachorum et coronam papae‹. (BoA VIII, 17,20-23, Tischrede Nr. 131, Dez. 1531).
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Kapitel 5: Predigt als Kampf: Zeichen und Wunder
Gott hilft unserer Verkündigung durch Zeichen und Wunder. Immer wieder wird das im Neuen Testament bezeugt. Dies Wort wird ausgewiesen durch Zeichen und Wunder. Denken Sie an die Zeichen und Wunder, die das Leben Jesu begleiten. Er selbst spricht von shmeffla und ˛rga (vgl. Joh 10,37.38; 14,10-12), denen man glauben soll. Sie sind immer begleitende Umstände. Wenn man Jesus auf seine Wundertaten festlegen will, entweicht er (vgl. Joh 6,1-15), sie sind Begleitung, nicht das Wesen selber; aber sie sind da. Im Hebräerbrief steht, daß das Wort zu ihnen kam, indem sich Gott zugleich bezeugte durch Zeichen und Wunder und mancherlei Kräfte und Austeilung des Heiligen Geistes nach seinem Willen (vgl. Hebr 2,4). Wir verkündigen das Wort, und Gott läßt etwas geschehen, er geht sozusagen neben uns her, und wir können in solchen Zeichen und Wundern erkennen, daß Gott mit uns ist. Paulus bezeugt es von sich selbst, 2 Kor 12,12: »Denn es sind ja eines Apostels Zeichen unter euch geschehen in aller Geduld mit Zeichen und mit Wundern und mit Taten«. Röm 15,18.19a nennt er sein Wirken ein Wirken durch Wort und Tat. Hierher gehört auch die Bedeutung der Bekehrung. Sie bedeutet etwas für die ganze Gemeinde. Wenn sich einer dieser Widersacher bekehrt, dann ist das ein Zeichen für die ganze Gemeinde. Die Bekehrung des Paulus wird nie bezogen auf ein subjektives Erleben des Apostels, sie wird von vornherein bezogen auf die Gemeinde. Die ganze Gemeinde lobte und dankte Gott, daß sich ein Verfolger bekehrt hat. Er wird bekehrt, damit er das Evangelium verkündigt (vgl. Apg 9,1-31; Gal 1,15-24). So stehen einzelne Bekehrungen in der Geschichte der Gemeinde. Die Bekehrung Luthers gehört in die Geschichte der Kirche, ebenso die Bekehrung Augustins, das sind große Beispiele. Beispiele im Kleinen sind Bekehrungen in der Einzelgemeinde. Hier wäre Johann Christoph Blumhardt zu nennen, der in dem, was er in seinem Dorf erlebt, nicht den Einzelnen bekehrt, sondern in dem Einzelnen den Widersacher, den Satan, schlägt. Das, was in Blumhardts Handeln in Boll geschieht, bewegt die ganze Gemeinde. So gibt es noch viele andere Beispiele. Ich weise nur noch hin auf Friedrich von Bodelschwingh und seinen Kampf gegen ganz bestimmte Laster in der
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Kapitel 5: Predigt als Kampf: Zeichen und Wunder
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Gemeinde und wie dann der Widerstand einsetzte, weil er dagegen vorzugehen wagte. Adolf Stöcker hat Ähnliches erlebt 70 . Wenn es in einer solchen Gemeinde gelingt, einen Stein herauszubrechen, einen herüberzubringen, der dann Zeugnis ablegt, dann ist das Festungswerk zertrümmert. Das ist die große Bedeutung von Bekehrungen, die sehr wunderbar vor sich gehen können. Wir werden nie sagen können, sie ist nun ein Beweis. Aber es ist ein Zeichen, wie die Wand bei Belsazar (vgl. Dan 5,2), ein Warnungszeichen, das die Menschen erschrecken läßt, das sie aus ihrer Sicherheit aufschreckt. Wir sehen solche Dinge immer wieder. Es ist so, als ob in eine Stadt, die meint, der Feind kann uns nicht erobern, die Kunde kommt, ein Tor ist aufgebrochen! So geschieht durch solche Zeichen immer wieder ein Einbruch in die scheinbar so sichere Burg des Gegners. Wir können und wir werden solche Zeichen immer wieder erfahren. Das ist die andere Seite: »Er ist bei uns wohl auf dem Plan« (vgl. EG 362,4)! Wir können diese Zeichen niemals machen, aber wir können dessen gewiß sein, daß zu seiner Zeit Gott sein Wort begleiten wird mit Dingen und Ereignissen. Der Pietismus hat den Fehler gemacht, daß er die Bekehrung beschränkte auf das Individuum, auf das Verhältnis des Menschen zu sich selbst. Die Bekehrung steht in einem viel größeren Raum, im Gegensatz zwischen Gott und Welt. Der einzelne, der sich bekehrt, ist die Einbruchstätte Gottes in eine gottlose Welt. Von hier aus kann man auch verstehen, warum die Mission der lutherischen Kirche in der Missionspraxis die Bekehrung änderte. Sie ließ nicht mehr die einzelnen christlich gewordenen Heiden herausgehen aus Stamm und Sippe, sondern befahl ihnen, in ihrem Stamm zu bleiben, damit sie dort wirkten als Einbruchstätte Gottes in einen Kreis der Gottlosigkeit. Darum müßten wir auch immer sagen, bleib an deinem Ort und in deinem Stand, denn deine Bekehrung bedeutet, daß du nun eine Tür 70. Zu den angeführten Namen vgl: a) Luther: zur »Wende« Luthers vgl. M. Brecht, Martin Luther – sein Weg zur Reformation, Stuttgart 1981, 173-230; O. Bayer, Promissio, a. a. O.; H. J. Iwand, NW 5, 27-38; B. Lohse (Hg.), Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther, WdF 123, Darmstadt 1968. b) Augustinus: A. Augustini Confessionum Liber Octavus, a. a. O., 152-179. c) Johann Christoph Blumhardt: ders., Gesammelte Werke hg. v. G. Schäfer, Reihe I, Band 1: Der Kampf in Möttlingen, Texte, Göttingen 1979; Band 2: Anmerkungen, ebda. 1979. D. Ising, Johann Christoph Blumhardt, Göttingen 2002, bes. 131-250. d) Friedrich von Bodelschwingh: ders., Briefwechsel Bd. 1+2, hg. v. A. Adam, Bethel 1975; vgl. ebda., Bd. 1 VII-X. e) Adolf Stoecker: K. Kupisch, Adolf Stoecker. Hofprediger und Volkstribun, Berlin 1952; W. Jochmann u. a., Protestantismus und Politik, Werk und Wirkung Adolf Stoeckers, Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, Bd. 17, Hamburg 1982.
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geworden bist für den Einbruch des Wortes Gottes. Du bist einer der ungesicherten Posten in der scheinbar so gesicherten Position des Bösen. Ein bekehrter Christ in einer Gemeinschaft von Heiden ist eine offene Wunde im Heidentum. An dieser Wunde sind dann ganze Stämme sozusagen verblutet. Wären die Christen aus ihrem Stamm herausgegangen, dann hätten sie die Kraft verloren, zu wirken. Wir sollen nicht die Gemeindeglieder, die sich bekehrt haben, sammeln in Konventikeln, sondern wir müssen darauf achten, daß gerade die Menschen, die gewendet sind, bei denen sich so etwas ereignet hat, nun auch bleiben, wo sie sind. Das ist meine Meinung. Es ist Einbruch Gottes, Wirken Gottes. Hierher gehört auch das Gebet, meine Brüder. Das Gebet des Pfarrers wird gerade dann erst echt sein, wenn er einmal vor diesen Wänden gestanden hat, durch die er nicht mehr durch kann. Wenn ihm der Widerstand in seiner Gemeinde begegnet ist wie ein Felsen, den er nicht mehr entzweibrechen kann, dann muß er mit dem Stab des Gebets Wasser aus diesem Felsen schlagen (vgl. Ex 17,5.6). Das Gebet ist ein Herbeirufen Gottes, der es allein vermag, hier durchzustoßen. Das Gebet ist ein Zeugnis dafür, daß die Mächte, mit denen wir zu ringen haben, stärker sind als wir und alles, was wir können, wissen und sind, daß wir hier nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen haben, daß alle Taktik und Klugheit hier umsonst ist (vgl. Eph 6,12). Das Gebet ist ein Ringen mit Mächten, die den Menschen in Bann halten. Ehe diese Mächte ausgetrieben werden, müssen sie besiegt sein. Jesus betet vor den Heilungen, vor den Totenauferweckungen (vgl. Mk 7,34; Joh 11,41). Dieses Gebet ist ein Ringen mit dem Bösen selbst. Das Gebet als Kampf mit den Mächten, die den Menschen in Bann halten, bedeutet viel. Es ist nicht nur dieses menschliche Bitten, ach Gott, hilf mir doch!, sondern es ist ein wirkliches Darinstehen im Kampf. Durch dieses Gebet lerne ich die Mächte selber kennen, spüre etwas von diesem Abgrund und davon, daß Gott mehr ist als alle diese Mächte. In diesem Gebet stehe ich nicht am Ufer, sondern in diesem Gebet werde ich selbst hineingeworfen in den Strom. Dies Gebet ist ein Ringen mit allen bösen Geistern. Wenn wir nicht dieses Ringen mit den bösen Geistern im Gebet wagen, dann werden wir sie auch nicht zerbrechen können. Sie wollen zerbrochen sein im Gebet; erst dann kann ich mitten unter sie treten, wenn ich sie im Gebet zerbrochen habe ohne Furcht. Ich glaube immer wieder, daß die Menschen, die sich heute fürchten, den Kampf mit den bösen Geistern, vor denen sie sich fürchten, nicht bestanden haben im Gebet. Dieses Gebet macht uns fähig, furchtlos mitten hineinzutreten in das Treiben dieser Geister. Wenn Sie als Pfarrer an ein Sterbebett gerufen werden, wird es nötig
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sein, daß Sie sich wappnen im Gebet gegen die Furcht und das Todesgrauen, das Ihnen da begegnet. Im Gebet müssen Sie bereits den Tod besiegt haben, wenn Sie nicht nur am Ufer stehen, sondern mit der Krankheit und dem Tode ringen wollen. Das bedeutet hier das Gebet. Hierher gehört auch das Gebet vor der Predigt. Denn wenn Sie wirklich in die Position des Feindes einbrechen wollen, dürfen Sie sich nicht fürchten vor ihm. Das Gebet ist der eigentliche und höchste Ort, wo Gott uns hilft. Die Zeichen und Wunder, die dann unserer Verkündigung folgen, sind eigentlich nur eine Bestätigung dessen, daß wir Gott nicht umsonst angerufen haben, daß wir durchgebrochen sind durch diese Geister, durch diese Zone der Angst und der Verführung hin zu Gott. Wenn Sie in Ihrer Gemeinde arbeiten, werden Sie darauf achten müssen, daß auch die Ältesten für die Gemeinde beten lernen, daß auch sie ringen mit den Kräften, die die Gemeinde verführen wollen. Predigen Sie nicht, ohne mit Ihren Ältesten zusammen gerungen zu haben, ihnen die Verantwortung aufs Herz gelegt haben. Eine Predigt ist nur dann etwas wert, wenn sie Kraft hat und hineinwirkt in alles, was im Dorf vor sich geht, und diese Kraft gewinnt sie nur durch das Gebet. Auch die Ältesten müssen diese Verantwortung auf ihr Gewissen nehmen. Sonst kann ich meine Gemeinde nicht zusammenhalten. Das ist unendlich schwer. Darum sage ich es noch einmal: Ich muß zunächst einmal den Sieg über die bösen Geister errungen haben, ehe ich sie faktisch angreifen kann. Denn ich kämpfe nicht wie einer, der in die Luft streicht (vgl. 1 Kor 9,26), sondern ich kämpfe mit einem gewissen Ziel. Ich muß schon wissen, wo die Achillesferse dieses Gegners sitzt, damit ich das Schwert dahin stoßen kann. Das lerne ich im Gebet. So lehrt uns der Widerstand, den wir mit unserer Verkündigung finden und den wir selbst nicht zerbrechen können, der vielmehr uns zu zerbrechen sucht, so lehrt er uns beten, wirft uns auf Gott, zeigt uns, daß unsere Verkündigung ein Ringen ist zwischen Seinem Reich und dem Reich der Finsternis, daß wir lediglich ganz kleine, bescheidene Figuren sind in einem großen Krieg, daß wir lediglich dadurch etwas leisten können, daß wir in der Stellung bleiben, damit der Feldherr siegt. Von daher bekommt die Gebetsliturgie der Kirche ihre Bedeutung, die Sammlung der Gebete. Die Bibel überliefert uns ja das Urstück solcher Sammlung, den Psalter. Sie können uns erziehen zum rechten Beten um den Sieg. Alle großen Beter der Kirche haben von den Psalmisten das Beten gelernt. Denken Sie auch an die Gebetssammlungen, die wir heute haben: Oetinger, Blumhardt, Bezzel. Es sind Menschen gewesen, die gerungen und gekämpft haben und indem wir ihre Gebete nachsprechen, lernen wir recht beten. Die Jünger baten Jesus, er möge sie beten lehren (vgl. Lk
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11,1). Beten ist also etwas, was wir lernen müssen und zwar von denen, die in Wahrheit das Beten gekonnt haben. Beten ist nicht leicht, das kann man nicht von Haus aus, das muß man lernen. Die schwerste Not für die Verkündigung sind die Spaltungen in der Gemeinde. Sie müssen immer gelöst werden, entweder durch Bekehrung oder durch Ausschluß. Spaltungen erfordern die größte geistliche Vollmacht in der Gemeinde. Sie sind andererseits auch das Verderblichste, was es in der Gemeinde gibt, denn sie bringen die Verkündigung um ihre Vollmacht. Wenn zwei Pfarrer in einer Gemeinde wirken, und jeder sammelt um sich seinen Kreis, dann bedeutet das eine Entmächtigung der ganzen Gemeinde. Wir werden aber niemals vermeiden, daß Spaltungen auftreten aufgrund der rechten Verkündigung; Spaltungen sind eine Folge solcher Verkündigung. Es wird uns das nicht erspart bleiben, aber wir dürfen uns nicht dabei beruhigen, sie müssen immer beseitigt werden, ultima ratio ist der Ausschluß. Dieser Ausschluß ist in der Kirchengeschichte immer so vollzogen worden, daß man versucht hat, die Führer der Sekte auszuschließen. Luther hat die Führer der Schwarmgeister ausgeschlossen, Paulus hat die Führer in Korinth ausgeschlossen. Es gilt als eine Regel in der Kirchengeschichte, daß Führer von Häresien unbekehrbar sind. Darum kommt es immer darauf an, die Gemeinden zurückzugewinnen von diesen Führern, diese zu isolieren. Sie werden gar nicht anders handeln können. Der Ausschluß aber erfordert immer das Handeln der gesamten Gemeinde, bzw. der Gesamtkirche. Das erste Konzil, das sog. Apostelkonzil (vgl. Apg 15,1-29; Gal 2,1-10), entstand aufgrund der Frage, ob man die Heidenchristen, die sich nicht beschneiden lassen wollten, ausschließen solle. Niemals soll man solche Dinge für sich allein machen, etwa aufgrund seiner eigenen geistlichen Vollmacht. Wir erleben heute manchmal Beispiele, daß Pfarrer einzelne Gemeindeglieder ausschließen. Solche Verfahren können nur vollzogen werden durch ein Handeln der Gesamtkirche bei der in diesen Dingen die Vollmacht liegt. Bekehrung, Zurückgewinnung, Überwindung des Ausschlusses obliegt demgegenüber dem Amt der Verkündigung. Das sind Dinge, die auch noch im Rahmen der Einzelgemeinde zu leisten möglich sind. Das Ausschlußverfahren ist dagegen ein Handeln der ganzen Kirche. Auch dieses Verfahren ist eine Tat des Geistes Gottes. Der Ausschluß bezeugt nämlich, daß ein Glied ausgeschieden wird (vgl. 1 Kor 5,18), damit die ganze Kirche einig bleibt. Es ist nicht der Sieg einer Gruppe über die andere, sondern der Zusammenschluß der Kirche wider die Separation. So bezeugt sich der Heilige Geist im Ausschluß als der die Kirche einende und befriedende Geist. Wenn sich in einem Ausschluß der Heilige
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Geist nicht mehr bezeugt als der einende und befriedende, dann haben wir nur noch eine rabies theologorum (Theologenstreiterei) vor uns, mit anderen Worten, das Recht zum Ausschluß hat die Gemeinde durch die Einigkeit des Geistes, durch nichts sonst.
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Die Schriftauslegung verdient den Namen »Predigt« dann, wenn in ihr das ganze Heil Gottes verkündigt wird. Der Ton liegt auf »das ganze Heil«. Es wird also damit gesagt, daß nicht von vornherein jede Schriftauslegung Predigt ist. Es ließe sich denken, daß eine Schriftauslegung geschieht, die als solche eben nicht den Titel einer Predigt verdient, und der Maßstab liegt nicht allein darin, ob nun der Text erschöpfend ausgelegt wird, sondern daß der Text so ausgelegt wird, daß darin das Heil Gottes verkündigt wird, daß in dem Text die Heilsverkündigung Gottes gefunden ist und daß diese Heilsverkündigung zum Gegenstand der Auslegung gemacht wird. Das ist außerordentlich wichtig, denn wir haben und wir halten eine ganze Reihe von Predigten, die in der Tat den Anspruch erheben dürfen, daß sie den Text auslegen und sich auch bemühen, den Text nach allen Richtungen auszulegen, denen aber der Mittelpunkt fehlt, der Punkt, um den alles schwingt, der Punkt, von dem aus eine Auslegung erst den Namen Verkündigung, Evangelium, Heilsbotschaft verdient. Wenn Sie an die Predigten in der Apostelgeschichte denken, werden Sie finden, daß in ihnen immer wieder alttestamentliche Texte – Psalm 110, Joel 3, Jesaja 53 – herangezogen werden (vgl. Apg 7,14-36; 8,32-35). Diese Stellen werden so ausgelegt, daß gesagt wird, das gilt jetzt von Jesus Christus, den ihr gekreuzigt habt, den Gott auferweckt hat, von diesem redet der Text. So müssen wir auch jeden neutestamentlichen Text lesen. Dieser Text, der gilt jetzt von Jesus von Nazareth, der hier auf Erden gekreuzigt ist, den Gott auferweckt hat. Erst wenn wir den Text mit diesem Ereignis zur Deckung bringen, geht er auf. Die Verkündigung, die Predigt, ist also die Kunst, das Zeugnis der Apostel und Propheten mit dem Leiden und Auferstehen Jesu Christi zur Deckung zu bringen. In dem Moment, wo mir das gelingt, gelingt mir die Predigt. Die Predigt über neutestamentliche Stellen ist deshalb leichter, weil wir hier schon die Beziehung auf Jesus von Nazareth deutlicher und klarer vor uns haben als im Alten Testament, weil wir hier schon das Vorbild der Predigt finden. Wir finden im Neuen Testament nicht Schrift, grafffi, sondern selbst schon Kerygma. Darum nennt das Neue Testament das Alte grafffi, es versteht sich selbst aber als Kerygma, als Predigt. Darum muss
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die Auslegung des Textes immer das ganze Heil Gottes, Jesus Christus, in sich schließen. Denken Sie an bestimmte Stellen im Neuen Testament, in denen das ganz deutlich wird, 2 Kor 5,20: »Lasst euch versöhnen mit Gott.«; 1 Tim 3,16: »kündlich groß ist das Geheimnis …«; auch der Prolog des Johannesevangeliums. Da wird ganz deutlich, wie es in all diesen Stücken um das Eine und Ganze geht. Und so muß es auch in jeder Predigt um dies Eine und Ganze gehen. Wenn ich also an einen Text herantrete, um ihn der Gemeinde zu verkündigen, dann muß ich an ihn herantreten in der Erwartung, in ihm das ganze Evangelium zu finden. Wenn ich ihn auslege, dann muß meine Auslegung getragen sein von der Freude, daß ich es gefunden habe. Denn der Prediger ist ja nicht ein Textausleger, ein Hermeneut, sondern der Prediger ist ein Bote, ein kffirux. Wieder sind hier die Predigten der Apostelgeschichte vorbildlich. Wenn Petrus predigt, dann predigt er über Tod und Auferstehung Jesu Christi mit dem Ziel Taufe, Sündenvergebung, Geistempfang (vgl. Apg 2,22-38; 3,1226; 4,8-12). Immer wieder sagt er: Gott hat seinen Sohn Jesus, den ihr verleugnet habt, verherrlicht. Dafür ist er als kffirux herausgestellt, für diese Gottestat ein Herold, ein Mund zu sein, und die Schrift, die dabei herangezogen wird, dient dazu, dieses Faktum aus den Verheißungen Gottes zu bekräftigen und zu bestätigen. Nun können wir aber fragen: Warum predigen wir denn nicht nur dieses Ereignis, nicht nur über die Stücke des Glaubensbekenntnisses, sondern warum legen wir einen Text aus? Darum, weil wir dieses Kerygma empfangen haben von den Aposteln und den Propheten. Die Textauslegung ist ein Zeichen dafür, daß wir dieses Kerygma nicht aus uns selber haben, sondern daß es uns überkommen ist. Gerade weil wir angewiesen sind auf das Zeugnis des Heiligen Geistes, beziehen wir uns auf die Zeugnisse derer, die der Heilige Geist vorzeiten hat reden lassen. Dieser Geist hat die Männer des alten und des neuen Bundes herausgerufen, und er will auch, daß sein Zeugnis heute im Einklang steht mit den Zeugen, die er vorzeiten herausgerufen hat. Dieser Geist widerspricht sich nicht, er wirkt in der Bezogenheit auf das, was er vorzeiten gewirkt hat. So können wir denn sagen: In der Beziehung unserer Verkündigung auf die Verkündigung der Apostel und Propheten ist die Einheit der Kirche gewährleistet (vgl. Gal.1,8.9; Eph 4,1-16). Wenn wir dieses Kerygma nicht mehr auslegen können, es nicht mehr in den Zeugnissen der Schrift finden, dann dürfen wir vermuten, daß wir auch nicht mehr ein und dasselbe Kerygma mit der Alten Kirche haben. Die Schrift also reformiert immer wieder unsere Verkündigung, nicht aber reformiert das, was wir verkündigen wollen, die Schrift. Wo also das
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Evangelium, wo das Kerygma selbst verfälscht wird, da bemühen sich die Menschen, frei zu werden von der Schrift, vom Text. Wer das echte Evangelium hat, kann im Text keine Hemmung oder Behinderung finden, sondern er ist dann in seinem Element wie der Fisch im Wasser. Wer aber ein falsches Evangelium hat, der stößt sich am Text, es paßt nicht hinein. Darum versucht er die Bibel zu verkürzen, zu verändern, dogmatisch umzugestalten. Wir sehen das heute ganz genau, daß die Deutschen Christen versuchen, bestimmte Texte wegzuschneiden, das Alte Testament, Paulus. Warum? 71 Weil sie ein Kerygma verkünden, das nicht mehr mit dieser Textauslegung übereinstimmt. Das rechte Kerygma, das rechte Evangelium erschließt uns die Einheit der Heiligen Schrift. Predigen heißt immer, das ganze Heil kundtun. Erst wenn der Text dazu dient, hat er seine rechte Dienststellung gewonnen. Wenn der Text dieses Heil verbirgt, verwirrt, verdeckt, zersplittert, zerstört, dann ist die Predigt nicht gelungen. Ich könnte auch so sagen: Der Text ist wie ein Kleid, und es kommt wirklich darauf an, daß hier eine Gestalt in diesem Kleide schreitet und daß Sie nicht einfach dieses Kleid auf den Kleiderbügel homiletischer Regeln hängen und dann diesen heiligen Rock vor der Gemeinde aushängen. Das Heil schreitet in diesem Text auf uns zu, das heißt Verkündigung 72 . Formen der Verkündigung. Die besonderen Formen der Verkündigung finden wir vorgezeichnet in der Verkündigung der Apostel selbst. Es gibt Situationen, die eine ganz besondere Predigt erforderlich machen oder besser, es gibt Predigten, denen man es ansieht, daß sie in eine besondere Situation hinein geredet sind. Ich will drei Formen dieser besonderen Art der Predigt nennen: Die Lehrpredigt, die Paränese, die prophetische Predigt. Diese drei Formen sind für bestimmte Aufgaben und Anlässe wesentlich und erlaubt. Es kann vorkommen, daß Sie in der Tat einmal eine reine Lehrpredigt halten müssen in Ihrer Gemeinde, unter Umständen auch ohne Text. Es kann sein, daß Sie einmal eine rein paränetische Predigt halten, die sich mit ganz bestimmten Lastern beschäftigt, mit Trunksucht oder mit Denunziation z. B., so daß Sie einen bestimmten Punkt herausgreifen müssen. Solche Situationen kommen vor und sie sind nicht regelwidrig. Es 71. Zur Stellung des Alten Testaments in der Theologie der Deutschen Christen vgl. H.-J. Sonne, Die politische Theologie der Deutschen Christen, GTA 21, 1982, 4953; C. Nicolaisen, Die Stellung der »Deutschen Christen« zum Alten Testament, in: Zur Geschichte des Kirchenkampfes, Ges. Aufs. II, AGK 26,1971, 197-220. 72. Vgl. D. Bonhoeffer, Finkenwalder Homiletik, in: GS IV, 240 f.
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kann schließlich auch die Möglichkeit geben, daß Ihnen eine wirklich prophetische Predigt aufgetragen ist, eine Predigt, die sich mit den Zeichen der Zeit befaßt, und diesem Auftrag dürfen Sie sich nicht entziehen. Aber diese drei Formen müssen Besonderheiten bleiben, sie dürfen nicht zur Regel werden. Machten Sie ständig Themapredigten, dann würden Sie die Predigt in ihrem Grundcharakter als Textpredigt zerstören. Die Lehrpredigt im eigentlichen Sinne ist allerdings eine ausgesprochene Themapredigt. Wir finden im Neuen Testament solche Themen, die zwar nicht predigtmäßig, aber lehrmäßig behandelt werden: Die Auferstehung im 1. Korintherbrief, die Endzeit im 1. Thessalonicherbrief, die Beschneidung im Galaterbrief, die Judenschaft in Römer 9-11, denken Sie auch an 1. Korinther 7. Da werden ganz bestimmte Themen angeschnitten, die lehrhaft erörtert werden. Wir kennen solche Themapredigten auch aus der Reformationszeit, z. B. Luthers Invokavitpredigten, in denen er über bestimmte Lehrstücke wie Buße, Glaube, Taufe, Abendmahl predigte, ohne Text 73 . Die Lehrpredigten sind besonders schwer, weil es bei ihnen darauf ankommt, die ganze Heilige Schrift im Blick zu haben. Wenn Sie eine solche Lehrpredigt halten, heute z. B. über Kirche und Staat, dann müssen Sie dabei den Überblick haben über die Gesamthaltung der Heiligen Schrift zum Thema Kirche und Staat. Aber warum sollen Sie nicht einmal eine solche Predigt halten, wenn das heute notwendig ist? Das Neue Testament jedenfalls zeigt uns, daß solche Lehrpredigten als Ganzes möglich sind. Oder Sie halten eine Lehrpredigt über das Alte Testament. Es fragt sich, ob man bei einer solchen Lehrpredigt einen Text voranstellen soll. Wenn, dann nur ganz lose, aber lieber eine längere Schriftstelle verlesen, die zum Ganzen gehört und paßt. Geben Sie dann der Predigt nicht den Charakter einer Textauslegung, sondern den einer wirklichen Lehre (doctrina), das ist in der heutigen Verwirrung nötig. Oder Sie halten eine Lehrpredigt zur Judenfrage, zur Frage der Heiligen Schrift, zur Offenbarung Gottes. Warum sollen Sie nicht in der festlosen Hälfte des Kirchenjahres hin und wieder eine solche Lehrpredigt einschieben? Sie können auch in jedem Monat eine Lehrpredigt halten; diese Predigt muß aber eine wirkliche Lehrpredigt sein mit klaren Sätzen und Deduktionen. Dabei dürfen Sie dann nicht ins Erbauliche abschwenken, sondern Sie müssen im Lehrhaften bleiben. Wenn Sie nämlich das Lehrhafte vermischen mit der erbaulichen Predigt, dann vermischen Sie zwei Formen miteinander und das ist nicht gut. Oder 73. M. Luther, Acht Sermone zu Wittenberg in den Fasten, 1522, WA 10 III,1-64; BoA VII, 363-387.
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Sie halten eine Lehrpredigt über Taufe und Abendmahl. Auch über das Jenseits, über das zukünftige Leben, über das Verhältnis von Diesseits und Jenseits können Sie dabei reden. Dabei legen Sie am besten einen möglichst umfassenden Text zugrunde, sonst erfassen Sie nicht das Thema in seiner ganzen Breite. Zur Paränese haben wir auch Vorbilder im Neuen Testament. Vor allen Dingen wäre zu erinnern an die Haustafeln, dann auch an die Lasterkataloge und die Beschreibungen des rechten Wandels, an Galater 5, an Römer 12-14, an 1 Korinther 12-14. Es handelt sich hier um bestimmte Anweisungen des christlichen Lebens, auch um Anweisungen für das Leben des Pfarrers, der Ältesten. Denken Sie an die Pastoralbriefe. Wenn Sie über diese Texte predigen, dürfen Sie nicht einfach nachreden, was dasteht, sonst wird das keine Paränese, sondern Sie müssen Stellung nehmen zu dem, wie es in Ihrer Gemeinde, in unserer Kirche heute zugeht. Zur Paränese gehört viel Erfahrung. Es kommt darauf an, Wege zu finden, daß wir als Gemeinde Jesu Christi leben können. dazu dient die Paränese, Wege durch das Dickicht zu bahnen, damit der Christ Freude und Lust bekommt, in dieser Welt seinen Christenglauben zu bewähren. Wir werden dabei faktische Gemeindezustände im Auge haben müssen, an denen wir nicht vorbeireden dürfen. Denn wenn es uns nicht gelingt unseren Zuhörern jetzt und heute die Wege zu bahnen, wenn wir ihnen nur erzählen, was für Ermahnungen der Apostel Paulus seinerzeit seiner Gemeinde gegeben hat, dann helfen wir ihnen nicht. Dabei muß darauf geachtet werden, daß diese Paränese nicht in einzelne Stücke zerfällt, wie es sehr bald in der frühen Kirche der Fall war (vgl. 1. Clemensbrief). Das ist im Neuen Testament nicht so. Die schlichteste und einfachste Paränese bis hin zum Gebot der Gastfreundschaft wird dort immer unter das eine Thema gestellt: Ihr seid teuer erkauft, ihr seid der Tempel, Gott will in Euch wohnen (vgl. 1 Kor 6,19.20; 7,23). Die Paränese muß getragen sein von dem Gedanken der Nachfolge und der Gegenwart des Herrn. Das Letztere ist mir wichtiger als die Nachfolge. Praesentia Dei: lebt so, wie die Gegenwart Gottes es von euch verlangt; Praesentia Dei in Christo: so lebt! So stellt euch dar vor der Welt! Die Paränese hat also im Grunde genommen den Sinn, ernst zu machen mit der Gegenwart Gottes im Leben der Gemeinde. Es ist durchaus denkbar, daß Sie genötigt sind, einzelne paränetische Predigten in Ihrer Gemeinde zu halten. Wenn Sie jahraus, jahrein in Ihrer Gemeinde predigen, werden Sie sich die Einförmigkeit des Predigens dadurch abwechslungsreich machen, daß Sie hin und wieder Lehrpredigten und paränetische Predigten halten.
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Bei der prophetischen Predigt handelt es sich um die Deutung der Zukunft. Das ist nicht leicht und nicht jedem gegeben. Wem es aber gegeben ist, den soll man nicht hindern. »Den Geist dämpfet nicht!« (vgl. 1 Thess 5,19). Wenn Sie einmal Ihrer Gemeinde eine solche Predigt halten müssen, aus dem Erschrecken über die Zeichen der Zeit heraus, dann tun Sie’s. Aber deuten Sie die Zeichen der Zeit dabei nicht nur nach irgendwelchen Meinungen, sondern immer anhand der Heiligen Schrift. Wir dürfen nie die Zeichen der Zeit aus einer Weltuntergangsstimmung deuten, sondern wir müssen sie aus der Heiligen Schrift erklären. Das dient dazu, die zerstörenden Faktoren beizeiten zu erkennen, das dient dazu, recht aufzuwachen. Eine prophetische Predigt kann in der Tat gesegnet sein durch eine Erwekkung der ganzen Gemeinde. Es kann einer schlafenden Gemeinde gerade diese Predigt fehlen. »Der Herr ist nahe« (vgl. Phil 4,5), muß das Thema jeder prophetischen Predigt sein, daran muß sie geprüft werden. Sie muß immer Adventscharakter tragen. Das Zerrbild der prophetischen Predigt ist die Zeitdeutung, der Literat auf der Kanzel, der nicht das Gericht und die Nähe des Heils verkündigt, sondern eine geistige Deutung der Zeit gibt. Der Ernst der prophetischen Predigt liegt in dem einen: »Irret Euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten«, die Zukunft bringt, was Ihr heute sät (vgl. Gal 6,7.8). Die prophetische Predigt deutet also darauf hin, daß unsere Zeit in Gottes Händen steht, daß Christus nicht nur der ist, der gekommen ist, sondern der kommen wird. Die Zeichen der Zeit müssen als Zeichen Seines Kommens dienen. Die prophetische Predigt führt also zur Erkenntnis, daß Christus nicht nur der Herr der Gemeinde, sondern der Herr der Welt ist. Während die paränetische Predigt zum Ausdruck bringt, Christus ist der Herr der Gemeinde, bezeugt die prophetische Predigt, Christus ist der Herr der Welt, er ist der Kommende. Diese drei besonderen Formen der Predigt dürfen und sollen neben der eigentlichen Schriftauslegung einhergehen. Die Lehrpredigt soll immer an dem einen gemessen werden, ob wir die ganze Heilige Schrift im Blick haben; die paränetische Predigt soll immer gemessen sein an dem einen, Praesentia Dei; die prophetische Predigt soll immer gemessen sein an dem einen, der Herr ist nahe, der Herr kommt! Das Wort Gottes, das wir in der Schrift suchen und finden, enthält in sich schon die Beziehung auf den Menschen, so daß rechte explicatio auch die rechte applicatio, die rechte Erklärung auch die rechte Anwendung in sich schließt 74 . Sie wissen, daß vor allem in der Orthodoxie die explicatio der 74. Vgl. dazu: H. Hering, Die Lehre von der Predigt, Berlin 1905, bes. S. 117 ff.151 ff.
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Inbegriff der Predigt war und daß der Pietismus dann in der applicatio die Aufgabe der Predigt sah. Diese beiden Fragestellungen sind nicht richtig. Denn der Text redet nicht von einer Wahrheit an sich, sondern er redet ja von Christus, er redet ja von dem Heil Gottes für mich, er enthält insofern von vornherein auch die applicatio. Er redet eben nicht von einer Sache und von einem Sachverhalt, sondern er redet von mir, er redet von der Tat Gottes in Christo an mir. Darum darf niemals die Einleitung einer Predigt so lauten: Was sagt uns der Text und was bedeutet das für uns? Die Anwendung dessen, was der Text für uns bedeutet, liegt bei Gott und nicht bei uns. Wenn sie bei uns läge, dann würden wir ja willkürlich das auf uns anwenden, was wir für uns für gut halten. Wenn Sie heute in einer Bauerngemeinde über den reichen Kornbauern predigen (vgl. Lk 12,16-21) und diesen Text auf die Bauern anwenden, dann werden sie sagen, das hat der Pfarrer gesagt. Meist aber wird es der Pfarrer gar nicht wagen, so zu reden. Er wird so vorsichtig sein oder auch so unvorsichtig, daß er dabei in jedem Fall den Menschen nicht trifft, sondern zerschlägt oder vertreibt. Der Versuch von uns aus das Wort Gottes recht anzuwenden, ist eine Überschätzung unserer Macht. Wenn die Anwendung nicht in der explicatio liegt, ist sie schon verdorben. Wenn ich heute einen Text auslege und sagte, »Nun müssen wir das auf unsere Situation anwenden – und wir sehen ja, wie hier die Deutschen Christen verurteilt werden« –, dann werden dadurch die Deutschen Christen abgestoßen und die andern in eine falsche Sicherheit gebracht. Wir dürfen also niemals zwischen explicatio und applicatio eine Trennung machen, sodaß sich der Mensch hier dazwischen schaltet und er nun den Pfeil des Wortes Gottes lenkt, damit er auch dahin treffe, wohin ihn der Mensch haben will. Wenn ich das Wort Gottes wahrhaft finde, dann trifft das Wort, dann finde ich im Wort Gottes schon den vom Worte getroffenen Menschen. Das Wort Gottes, das ich in der Heiligen Schrift finde, ist immer das schon auf Menschen bezogene Wort Gottes. Es enthält in sich schon die Beziehung auf den Menschen. Es ist nicht das Wort Gottes an sich, sondern das Wort Gottes an uns. Die Entscheidung liegt nicht in dem Verhältnis von Auslegung und Anwendung der Predigt, sondern es geht darum, wer verwandelt wird: Wird das Wort Gottes in uns verwandelt oder werden wir verwandelt in das Wort Gottes? Wandelt sich das Wort Gottes mit dem Zeit- und Menschenverständnis oder wird das Zeit- und Menschenverständnis durch das Wort Gottes verwandelt? 169 ff.; A. Niebergall, Die Geschichte der christlichen Predigt, in: Leiturgia II, Kassel 1955, bes. S. 288-305; G. Eichholz, Vom Formproblem der Verkündigung, in: ders. (Hg.), Herr, tue meine Lippen auf, Bd. 1, 8. Aufl. Wuppertal 1967, IX-XVI. M. Fuhrmann u. a. (Hg.), Text und Applikation, Poetik und Hermeneutik IX, München 1981.
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Der Mensch, der vom Worte Gottes angeredet wird, wird angeredet als der homo mutabilis (der veränderbare Mensch). Wenn ich das Wort Gottes predige, dann glaube ich aufgrund des Wortes Gottes, daß der Mensch ein homo mutabilis ist, ein Mensch, der sich wandeln kann. Das hat ungeheure Konsequenzen. So predige ich hinein in die gottlose Welt, indem ich weiß, daß das Menschen sind, die sich wandeln können. So predige ich zu solchen, die zu dem ehebrecherischen Geschlecht gehören (vgl. Mt 12,39; 16,4). Das Wort Gottes predigen heißt, an die Wandlungfähigkeit des Menschen glauben. Denn das Wort Gottes redet den Menschen an auf das, was er nicht ist. Es redet uns an auf das, was wir nicht sind im Gesetz wie im Evangelium, nämlich gut, heilig, wahr, rein, vollkommen, vor allem aber redet es uns an auf Glaube, Liebe, Hoffnung, also auf das, was wir nicht sind und nicht haben, damit es aus dem, was nicht ist, das Seiende schafft (vgl. Röm 4,17). Der Mensch, der angeredet wird vom Wort Gottes, tritt unter die Kraft des schöpferischen Wortes Gottes, nur daß das Wort jetzt nicht das Dasein schafft, sondern das Dasein umschafft. Darum steht die Verkündigung im Zeichen der Schöpfung, aber so, daß das, was ist, umgeschaffen wird in das, was nicht vorhanden war. Das nennen wir dann Wiedergeburt, Umkehr, Reue, Buße, mit einem Wort: mutatio hominis. Das Wort bringt dem Menschen das neue Leben, die kain¼ ktfflsi@ (vgl. 2 Kor 5,17) und zwar einem Menschen, der tot ist. Predigen heißt also von Gott mit dem umschaffenden Worte Gottes betraut sein. Worin liegt denn nun der eigentliche Fehler in der Frage nach der applicatio, der Fehler der psychologischen Methode? Hier wird gefragt, was ist der Hörer, was bringt er mit, was fehlt ihm noch? Hier wird versucht, den Hörer aus dem Rest dessen, was er noch hat, zu verstehen, um das, was er nicht hat, wieder aufzubauen. Hier wird versucht, den Menschen aus einem Defekt zu verstehen. Wenn das aber so ist, dann kann der Mensch niemals das Wort Gottes wirklich verstehen. Hier wird er ja als Konstante gesetzt, hier wird nicht das Wort Gottes als Subjekt gesetzt, sondern hier ist der Mensch das Subjekt, hier ist der Mensch der Herr, hier wird nicht mehr geglaubt, sondern berechnet. Wie kann ich dann von dieser Voraussetzung her überhaupt noch hoffen, daß der Gottlose das Wort Gottes hört? Niemals mehr! Ich kann mir dann nur noch die Illusion machen, der Gottlose sei kein Gottloser, während ich im andern Fall mit der Realität rechne und doch nicht verzweifle, sondern vom Wort Gottes her mit der Realität des Menschen rechne, aber diese Realität aufhebe. Das Wort Gottes verwandelt uns in sich. Ganz kühn: wer recht predigt, der steht da, wo Gottes Wort steht, als er die Welt geschaffen hat. Von Gott
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aus steht er da. Er nimmt teil am Schöpfungsakte Gottes, und zwar schafft Gott hier den Menschen um durch sein Wort, das der Prediger sagt. Wenn Sie in ein Herz, das verzweifelt ist an sich selbst, das Wort Gottes hineinsagen: Dir sind deine Sünden vergeben! – dann geschieht dieses unermeßliche Wunder. Wenn Sie einem Menschen, der die Ehe gebrochen hat, aus dem Wort Gottes heraus zumuten, daß er nun wirklich rein und heilig werden soll vor Gott, weil er Christi Eigentum ist; wenn Sie einem Menschen, der seinen Bruder haßt, zumuten, daß er seinen Feind lieben soll, weil er Christi Eigentum ist und wenn dieses Wort wirklich den Menschen verwandelt, dann sind Sie Zeuge dessen, daß Gott der Schöpfer hier redet. Nicht aus dem Nichts schafft Gott hier das Seine, sondern aus dem Gegensatz, aus dem Widerspruch, aus dem Verlorensein. Darum Wiedergeburt, darum Umkehr, darum neues Leben, darum eben mutatio, aber mutatio, die im tiefsten Sinne creatio ist. Der Mensch, der in das Wort Gottes gefaßt ist, von dem das Wort Gottes redet, wird immer aus bestimmten, konkreten Dingen heraus verstanden. Er ist nicht der Mensch an sich, sondern er ist der Bauer, der Fischer, der Kaufmann, der Jude, der Grieche, der Arme, der Reiche, der Jüngling, die Frau, die Dirne, der Pharisäer, der Zöllner, er ist immer zusammengesehen mit seinem Milieu oder besser, er steht immer in seiner Welt. Er ist nie das Abstractum »homo sapiens«, sondern immer der handelnde, der so und so lebende, konkrete Mensch. Die Bibel redet den Menschen an in seiner Welt. Die Psychologie macht aus dem Menschen, wenn sie sich verabsolutiert, einen Typ, den Schwermütigen, den Zweifler, den Skeptiker. Das macht die Bibel nicht, sondern wir sehen in ihr den Menschen in seiner Lebensbeschäftigung. Der Mensch wird hier nicht präpariert, sondern er kommt so, wie er ist, unverdeckt, unter das Wort Gottes, der Pharisäer mit seiner Frömmigkeit, der Zöllner mit seiner Verkommenheit, der Bauer mit seinen Scheunen, der reiche Mann mit seinem Geld, der Sohn in seinem Gegensatz zum Vater, die Frauen in ihrer Weiblichkeit, kurzum als Personen in ihrer Rolle, die sie spielen. Und das ist nun das Wunderbare, daß das Wort Gottes den Menschen in dieser Lage aufsucht, nicht am Sonntag, nicht in Abstraktionen, nicht in dem Bild, das er von sich hat, sondern in seiner Tätigkeit. Gott nimmt den Menschen aufs Korn, wie er hantiert, wie er umhergeht, wie er lebt und arbeitet in der Welt. Wenn es Ihnen gelingt, dem nachzueifern, daß der Mensch nicht als ein präpariertes Wesen von Gottes Wort getroffen wird, sondern daß das Wort Gottes die Menschen trifft in dem, worin sie sind, nicht in dem, wofür sie sich halten, dann werden Sie gut predigen. Der Bibel kommt es darauf an, den Menschen in seiner Welt zu treffen,
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in seinem Wirken, hier den Menschen und so die Welt zu verändern, den Bauern zu verändern, den Kaufmann, den Soldaten zu verändern und dadurch seine Welt zu ändern, ihn nicht erst aus seiner Welt herauszulösen in ein Kloster zu stecken, in einen Typ zu verwandeln, ein Innenleben zu hypostasieren und an ihm herumzuarbeiten, sondern ihn in der blut- und wirklichkeitsnahen Situation seines Lebens zu treffen. Die Bibel kennt auch eine Anrede an den Menschen, die ganz gleichmäßig ergeht an alle, sie kennt auch ein Sein des Menschen an sich. Wenn das Wort Gottes den Menschen trifft, dann redet es den Menschen an auf seine Stellung zwischen Adam und Christus. Die Bibel redet zu jedem Menschen von Sünde und Tod. Das ist das Zeichen, daß er von Adam herkommt, das Kainszeichen, das sie an ihm sieht. Den Menschen, der dadurch gekennzeichnet ist, nennt die Bibel Fleisch, s€rx (vgl. Röm 7,5.18; Gal 5,17). Der durch seine Natur, sein Fleisch bestimmte Mensch wird vom Gesetz Gottes behaftet. Die Bibel redet den Menschen darauf an, daß er von Adam zu Christus geht. Sie redet von Sünde, Tod und Gesetz. Die Entscheidung fällt mit dem Gesetz. Der Mensch wird nicht frei von Sünde und Tod, aber wenn der Mensch dem Gesetz entnommen wird durch Christus, dann können ihm Sünde und Tod nichts mehr anhaben. Gesetz und Evangelium, das ist die Umkehr, das sind die Grenzpfähle, an denen der Mensch das Reich Adams verläßt, um in das Reich Christi einzutreten. Darum muß der Schlagbaum des Gesetzes hochgehoben werden, damit der Mensch in das Reich Christi eingehen kann. So wird er befreit; er kommt zur Freiheit der Kinder Gottes (vgl. Röm 8,1.2.21) dadurch, daß das Gesetz aufgehoben wird und er zu Christus kommt. So sieht also die Bibel den Menschen, als einen Werdenden, als einen, der noch in der Sünde ist, aber nicht aufgeht in der Sünde; als einen, der von Adam kommt, aber zu Christus geht. Sie versteht den Menschen nicht einseitig aus der s€rx, aus dem Fleisch, wie der Materialismus, nicht einseitig aus dem pneÐma, aus dem Geist, wie der Idealismus, sondern als einen, der fleischlich und geistlich ist, aber der fleischliche Mensch ist der untergehende, und der geistliche Mensch ist der aufgehende. Diesen Niedergang und Aufgang in einem Leben haben, das nennt die Bibel – glauben. Die Nacht vergeht, der Tag bricht an, der fleischliche Mensch ist im Vergehen, der geistliche Mensch ist im Kommen: So sieht sie jeden Menschen. Luther: sunt duo toti homines et unus totus homo 75 . 75. Iwand paraphrasiert hier Luthers Aussagen im Galaterkommentar 1519: »Non ergo duo isti homines diversi imaginandi sunt, sed velut crepusculum matutinum, quod neque dies neque nox est, utrunque tamen dici potest, magis autem dies, ad quam de
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Was ist die Klammer, die den alten und den neuen Menschen zusammenfasst, den adamitischen und den christlichen Menschen? Das ist die Zeit. Der zeitliche Mensch, der Mensch in dieser Zeit, ist ein werdender, ist ein aufhörender und ein anfangender Mensch. Jeder Mensch, ob er Bauer, Pharisäer, Zöllner, reich, arm, Jude oder Grieche ist, ist in Christo ein werdender Mensch. Er ist eine neue Schöpfung, wenn er aus dem Glauben lebt (vgl. 2 Kor 5,17-21). Die Evangelientexte kann man auch im Blick auf die Predigt in die vier Stücke gliedern: die Wunder, die Gleichnisse, die Logien und Streitgespräche und die Leidensgeschichte Jesu. Diese vier Stücke werden immer wieder verschiedene homiletische Anforderungen an Sie stellen, wenn Sie darüber predigen sollen. Es ist doch etwas total anderes, ob ich über ein Wunder oder über ein Wort Jesu zu predigen habe oder über bestimmte Stücke der Leidensgeschichte, über den Verrat, die Verhaftung, den Tod. Es kommt bei diesen verschiedenen Auslegungen dann darauf an, daß wir der Eigenart der Texte wirklich gerecht werden. Wie predige ich über ein Wunder Jesu? Warum ist das Wunder Jesu Gegenstand der Verkündigung? Es ist ein gängiger homiletischer Fehler in Predigten über das Wunder Jesu, daß ich zunächst einmal über das Wunder an sich predige, daß ich also zunächst in der Einleitung die Frage stelle, ob man überhaupt an Wunder glauben könne. Diese Fragestellung, die wir aus der Aufklärungszeit übernommen haben, verdirbt die ganze Predigt. Es geht ja nicht um den Wunderglauben, sondern um den Glauben an Jesus Christus. Wenn aber der Prediger zunächst sein Bemühen daran setzt, den Wunderglauben in der Gemeinde zu rechtfertigen, dann setzt er an einer ganz falschen Stelle ein. Es ist im Grunde genommen dann ganz gleichgültig, ob Sie das Wunder in seiner Superiorität behaupten oder rationalistisch auflösen. Wenn wir uns darauf einlassen, eine Wunderpredigt so zu fassen, daß es um die Behauptung oder die Auflösung des Wunders geht, dann ist die Predigt von vornherein verloren. Denken Sie an die Geschichte von der Speisung der Fünftausend (vgl. Mk 6,31-44). SobaId wir fragen, wie macht der Jesus das?, stehen wir der Geschichte nicht mehr tenebris noctis vergit. Verum longe pulcherrime utrunque ostendit Semivivus ille apud Lucam, qui, a Samaritano susceptus quidem curari, nondum tamen plene sanus factus est, ita et nos in ecclesia sanamur quidem, sani autem plene non sumus: ob hoc caro, ob illud spiritus vocamur. Totus homo est qui castitatem amat, idem totus homo illecebris libidinis titillatur. Sunt duo toti homines et unus totus homo: ita fit, ut homo sibiipsi pugnet contrariusque sit, vult et non vult. Atque haec est gloria gratiae Dei, quod nos fecit nobisipsis hostes«. WA 2,586,9 ff.
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gegenüber als Hörende, sondern als Neugierige, die eine Urkunde auf ihre Gültigkeit untersuchen. Das verdirbt aber von vornherein jede Verkündigung. Es wird bei der Predigt über ein Wunder entscheidend darauf ankommen, daß wir uns hier mehr als bei allen anderen Predigten genau an den Text halten, daß wir in der Auslegung der Einzelheiten des Textes den Blick dafür bekommen, was sich hier ereignet. Bei einer Wunderpredigt kommt es darauf an, daß Sie in minutiöser Genauigkeit die Einzelheiten des Textes einfach darstellen und auslegen. Sobald Sie versuchen, die Wunderpredigt auf eine Formel zu bringen, diese Predigt will uns sagen, daß Jesus der Herr ist oder diese will uns sagen, daß Jesus der Herr ist über Krankheit und Tod – in dem Augenblick haben Sie das Wunder zerstört. Sie haben gleichsam den Geist gelöst aus dem Ereignis. Dabei zerstört die Predigt den Text. Es kommt also beim Wunder darauf an, Zug um Zug der Geschichte darzustellen, den Hörer dazu zu bringen, daß er stillsteht, daß er nicht gleich beim Ende des Wunders anlangt, sondern daß er mitgeht, Zug um Zug. Nehmen wir als Beispiel die Geschichte von der Auferweckung des Töchterchens des Jairus (vgl. Mk 5,21-43). Hier kommt es darauf an, daß zunächst einmal damit wirklich ernst gemacht wird, daß der Tod in seiner ganzen Macht und in seiner ganzen Grausamkeit offenbar wird, wie er dieses Mädchen ergreift. Es darf nicht von vornherein schon in Aussicht genommen sein, das ist nur ein Vorwand, um die Herrlichkeit Jesu darzustellen, in Wirklichkeit haben wir den Tod hier gar nicht so ernst zu nehmen. Wenn Sie darüber predigen, dann kommt es in erster Linie darauf an, daß die Hörer glauben, daß dieses Mädchen tot ist, daß der Tod deutlich wird und daß dann Jesus dem Tod entgegentritt und den Tod mit seinen Augen ansieht und ihn ansieht als einen Schlaf und dieses Mädchen ergreift und herausholt aus dem Schlaf und es wieder lebendig macht. Nehmen Sie die Geschichte von der Sturmstillung (vgl. Mk 4,35-41). Es wird darauf ankommen, daß Sie genau Zug um Zug beschreiben, wie das alles geschieht, wie Jesus ins Schiff tritt, die Jünger ihm folgen, wie dann die Wellen anfangen übermächtig zu werden, sodaß die Jünger nicht mehr rudern können, sondern verzweifeln, daß sie Jesus wecken, daß er an den Rand des Schiffes tritt, seine Hände ausreckt, die Stille eintritt. Zug um Zug muß dieses Wunder ausgelegt werden. Dann erst wird es glaubwürdig. Nur wenn wir anfangen, die einzelnen Züge des Wunders ernst zu nehmen und es aus diesen einzelnen Zügen zusammensetzen, werden wir darüber recht predigen. Wir werden dann nämlich erleben, daß das Wunder in sich ein Ereignis schildert, das nicht von vornherein erwartet werden kann, das unerwartet, paradox, uns selbst überraschend und ergreifend aus dieser
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Geschichte herausspringt. Wenn Sie das nicht bei Ihrer Auslegung der Heiligen Schrift erreichen, dann haben Sie das Wunder durch die Predigt zerstört. Es ist die allergrößte Schwierigkeit, durch die Predigt das Wunder nicht unglaubwürdig zu machen. Das Wunder bleibt sozusagen bei unserer Auslegung in sich selbst unberührt, es bleibt die Mitte, an die wir selber nicht herankönnen, an die wir nur den Hörer heranführen. Darum legen wir ganz genau die einzelnen Züge aus. Denken Sie an die Geschichte von Petri Fischzug (vgl. Lk 5,1-11). Es kommt darauf an, daß der Hörer nicht von vornherein das Ende sieht, sondern daß er wirklich geduldig dies alles mithört: Wie Petrus da klagt, daß sie umsonst gearbeitet haben, wie Jesus sie von Neuem ausschickt und wie über dem Fischfang auf einmal dies Neue da ist, der Fischfang vergessen wird und er selbst ein Menschenfischer wird. Bei der Predigt über das Wunder kommt es also darauf an, daß das Ziel nicht der Wunderglaube ist, sondern der Glaube an Jesus, daß Er als der Unbegreifliche im Mittelpunkt der Verkündigung steht und nicht das Ereignis des Wunders. Vielleicht können wir sagen: Das Wunder hat die Aufgabe, den irdischen Jesus, der mit uns lebt und handelt und redet, in seiner Unbegreiflichkeit immer wieder offenbar zu machen. Man könnte einmal vorsichtig sagen, daß das Wunder und das Gleichnis darin einander gegenübergestellt sind, daß das Wunder das Unbegreifliche ins Begreifliche und das Gleichnis das Begreifliche in den Bezirk des Unbegreiflichen verlegt. Zwei Fragen sind für die Wunderpredigt noch wesentlich. Die erste Frage lautet, was bedeuten die Wundergeschichten im Johannesevangelium homiletisch? Will uns Johannes darin sagen, das sei die rechte Auslegung des Wunders? Ich meine ja; die Wundererzählungen sind Paradigmen für Wunderpredigten. Jesus übernimmt hier nämlich selber die Auslegung. Denken Sie an die Blindenheilung (vgl. Joh 9): Ich bin das Licht der Welt, sagt Jesus – das ist die Auslegung der Blindenheilung. Denken Sie an Lazarus: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Das ist die Auslegung der Auferweckungsgeschichte (vgl. Joh 11,1-45). Denken Sie an die Speisung der Fünftausend: Ich bin das Brot des Lebens. Das ist die Auslegung der Speisungsgeschichte (vgl. Joh 6,22-59). Deshalb kommen wir zu einem merkwürdigen Schluß: diese Wundergeschichten sind nur dadurch Evangelium, weil Jesus selbst mit seinem Wort sie auslegt, weil er, der Erhöhte, sich hier bekennt zu dem, was der irdische Jesus tut. Es kommt theologisch sehr viel darauf an, daß wir das einmal begreifen. Wenn die Geschichte von der Sturmstillung in der Gemeinde verlesen wird, dann handelt es sich nicht nur um Erinnerung an das, was Jesus getan hat, sondern der hier mit den Jüngern im Sturm fährt,
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der ist der Erhöhte (vgl. Mk 4,35-41). Denken Sie an die Blindenheilung; der hier den Blinden heilt, der ist der Erhöhte zur Rechten des Vaters (vgl. Mk 10,46-52). Denken Sie an die Geschichte, wie Jesus auf dem Meer wandelt; der über das Meer wandelt und den sinkenden Petrus hält, ist heute der Erhöhte (vgl. Mk 6,45-52). Was heißt das? Es bedeutet, daß das Schiff, das Meer, der Petrus, das Mädchen, daß alle diese Figuren, die im Wunder auftreten, eine Bedeutung für uns gewinnen. Das Meer ist die Welt, in der man versinkt, der Sturm ist die Anfechtung, die das Schiff bedroht, das Schiff ist die Kirche, in die uns Jesus einlädt, in die er uns aufnimmt, das sterbende Kind ist der Mensch, der getroffen wird vom Tod. Damit sind wir bei der zweiten Frage: Wie steht es denn um uns und die Wundersituation; sind das Allegorien; darf ich ohne weiteres übertragen, das Schiff ist die Kirche, das Meer ist die Welt, der Sturm ist die Anfechtung, der sinkende Jünger ist der vom Glauben abfallende Mensch, der Blinde ist der Ungläubige? Ich darf das, weil der, der hier in diesem irdischen Wunder handelt, zugleich der Erhöhte ist. Die Wundergeschichten sind zugleich die Geschichten seiner Kirche, weil der erhöhte Herr und der irdische Jesus eins sind. Darum können wir unsere Lebensgeschichte in diese Bilder fassen und so werden wir begreifen, was das Ziel einer wirklichen Wunderpredigt ist. Es kommt darauf an, daß wir erkennen, daß Jesus in unserem Leben steht, so wie er im Wunder, im Leben der damaligen Menschen steht. Weil der irdische Jesus und der erhöhte Jesus eins sind, fällt unsere Situation mit der Situation zusammen, die im Wunder erzählt wird. Das ist die Kunst der Predigt. Also nicht, was hat uns das Wunder nun zu sagen, was haben wir von daher zu lernen?, sondern ein völliges Zusammentreten dessen, was dort geschieht, mit dem, was heute geschieht. Die Aufhebung der Zeiten, die Gleichzeitigkeit mit dem, was dort geschieht, das ist die Aufgabe der Predigt. Anders liegen die Dinge beim Gleichnis. Im Gleichnis versteht der Mensch, was er von sich aus nicht versteht. Das Bedeutsame an den Gleichnisreden ist dies, daß hier jeder Mensch, sei er, wer er sei, die Geheimnisse des Himmelreiches so hört, daß er sie versteht. Aber sagt Jesus nicht selbst, sie hören und hören doch nicht (vgl. Mt 13,13-16)? Ich meine hier mit Verstehen, daß der Hörer versteht, daß es um ihn geht. Hier wird vom Himmelreich so geredet, daß er sich nicht entschuldigen und sagen kann, das ist mir zu hoch, das verstehe ich nicht. Wenn er versteht, was mit einem Sauerteig geschieht, den ich in einen Teig menge, was mit einem Samen-
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korn geschieht, das ich auswerfe, mit einem Netz, das ich ins Wasser hänge, dann versteht er in Wahrheit, was das für eine Sache ist mit dem Himmelreich. Er versteht nur das nicht, daß diese Gottesherrschaft in Jesus Christus über ihn gekommen ist. Es fehlt bei diesem Verstehen des Gleichnisses, das denen draußen widerfährt, die Erkenntnis, daß die basileffla to‰ qeo‰ (die Herrschaft Gottes) in Jesus erschienen und daß sie jetzt und hier über die Menschen gekommen ist. Es wird gleichnishaft davon geredet, wie es ist, wenn die basileffla to‰ qeo‰ über die Welt kommt, aber explizit wird noch nicht davon geredet, wie das ist, wenn sie in Jesus zu mir kommt. Die Predigt wird die Aufgabe haben, über das Gleichnis hinaus diesen Punkt zu finden, wo die basileffla to‰ qeo‰ in Jesus Christus über uns kommt. Die Predigt ist an ihr Ziel gelangt, wenn es ihr gelingt, das Gleichnis aufzulösen und bis dahin vorzustoßen, wo wir nicht mehr gleichnishaft von der basileffla to‰ qeo‰ reden, sondern aussagen, daß sie jetzt in Jesus Christus zu uns gekommen ist. Die Predigt wird daran zu prüfen sein, ob sie im Rahmen des Gleichnisses bleibt oder ob sie über den Rahmen hinaus zur Wirklichkeit vorstößt, von der das Gleichnis redet. So sind die Gleichnisse uns dadurch wesentlich, daß der Rahmen des Verstehens ganz weit gespannt ist. Es kann niemand bei den Gleichnissen sagen, du redest mir zu hoch, ich verstehe das nicht, die Dinge des Himmelreiches sind mir ein Buch mit sieben Siegeln. Nein, sie sind eigentlich ganz offenbar, ganz einfach, so einfach wie das Einmaleins. Und die Tatsache, daß du es dennoch nicht verstehst, ist das eigentliche Problem. Dein Nichtverstehen liegt nicht am Himmelreich, sondern liegt daran, daß Du das Himmelreich nicht begreifst. Daß du draußen bist, daran liegt es. So daß die Gleichnispredigt immer darauf hinausläuft: Wie komme ich dahinein, wie finde ich die Perle, wie werde ich gefangen im Netz, wie geht bei mir der Same auf? Das ist die Frage. Über Gleichnisse predigen heißt aufzeigen, daß jeder Hörer die Sache des Himmelreiches versteht und sein Nichtverstehen des Wortes Gottes daran hängt, daß er draußen ist. Die Gleichnispredigt zielt darauf, daß wir dazu kommen, anzuklopfen, daß uns aufgetan wird, daß wir dazu kommen, Einlaß zu begehren. Für den, der drinnen ist, hört das Gleichnis auf, Gleichnis zu sein. Die Gleichnispredigt muß darauf ausgerichtet sein, alle zu erfassen, die Ohren haben zu hören. Sie ist ganz weit ausgespannt, sie setzt nichts voraus an Erkenntnissen und an Theologie, an Bekenntnis. Sie setzt nur voraus, daß wir das Leben des Alltags kennen, das Netzauswerfen, das Säen usw. Wenn man das versteht, dann zieht sich die Gleichnispredigt zusammen und lädt alle, die nun gehört haben, ein, einzutreten in das Himmelreich.
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Ich habe jetzt von den Himmelreich-Gleichnissen gesprochen; wir haben aber noch andere Gleichnisse. Es wird aber bei allen Gleichnissen das geschehen, daß der Mensch sagt, so ist es, ohne daß er weiß, daß er sich damit das Urteil spricht. Denken Sie an das ernsteste Gleichnis bei Markus, an das Gleichnis vom Weingärtner (vgl. Mk 12,1-12), in dem Jesus seine Leidensgeschichte erzählt. Wenn Sie die Leidensgeschichte Jesu erzählen, werden viele Menschen das ablehnen; wenn Sie aber diese Geschichte von Markus 12 erzählen, wird es ihnen nachgehen. Es kommt die Stunde, da Gott auch diese Menschen hineinzieht in sein Reich, da Gott aus Menschen, die draußen stehen, solche macht, die drin sind. Das Gleichnis ist die voraussetzungsloseste Verkündigung des Himmelreiches an alle. Bei der Gleichnispredigt kommt alles darauf an, daß die Menschen, die dieses Gleichnis hören, in der Verkündigung eingeladen werden, einzutreten in die Wirklichkeit des Reiches Gottes. Es kommt darauf an, aus der gleichnishaften Rede herauszutreten, um zur wirklichen Verkündigung des Reiches Gottes überzugehen. Darum muß eine Gleichnispredigt immer über das Gleichnis hinausgehen, während die Wunderpredigt sich streng im Rahmen halten muß. Die Gleichnispredigt darf Lehrpredigt werden, sie muß Lehrpredigt sein in ihrem Ziel. Sie muß die Tür finden, die aus dem Gleichnis in die Wirklichkeit der basileffla qeo‰ führt und muß die Menschen einladen, da hineinzugehen. Das wird uns nicht immer gelingen, wir werden zum Teil im Gleichnishaften steckenbleiben, das schadet aber nichts, wenn wir uns nur in die Richtung dahin begeben. Der Fehler wäre, zu glauben, man könne durch Auslegung des Gleichnisses die Dinge des Reiches Gottes deutlich machen. Das Gleichnis darf nicht ausgemalt werden, sondern wir müssen vom Gleichnis hinstreben zur Wirklichkeit des Reiches Gottes. Wenn Sie über das Gleichnis vom Sämann predigen, dann kommt es darauf an, daß Sie nicht zuviel reden über das, was der Sämann tut. Sie müssen so darüber predigen, daß zuletzt nicht mehr vom Landmann und vom Säen die Rede ist, sondern von Gott und seinem Wort und daß dadurch der Hörer vom Gleichnishaften in die Realität kommt.
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Nachworte
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Hans Joachim Iwand als Homiletiker und Prediger in seinem geistesgeschichtlichen Kontext und darüber hinaus Albrecht Grözinger I. Die homiletische Diskussion des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum spiegelt wie kaum eine andere theologische Disziplin die grundsätzlichen theologischen Kontroversen dieses Zeitraums wider. In der Homiletik wurden all die theologischen Schlachten noch einmal geschlagen, die an anderer Stelle nicht entschieden werden konnten. Gäbe es für nachfolgende Generationen nur die Textdokumente der Homiletik, aus denen sie sich informieren könnten, sie könnten nach der Lektüre dieser Texte ziemlich genau beschreiben, welche grundsätzlichen Fragestellungen die deutschsprachige protestantische Theologie im 20. Jahrhundert bestimmt haben. Wenn in dem vorliegenden Band Hans Joachim Iwand als Homiletiker und Prediger dokumentiert ist, so gibt dies zugleich auch eine präzise Auskunft über seinen Ort in der protestantischen Theologie Deutschlands im vergangenen Jahrhundert. Diesen Ort möchte ich hier kurz skizzieren. Besser jedoch noch als diese Skizze gibt die genaue Lektüre der mit diesem Band vorliegenden Predigten und homiletischen Reflexionen Auskunft darüber, welchen Akzent Iwand im theologischen Gesamttableau des 20. Jahrhunderts gesetzt hat.
II. Die protestantische Theologie sah sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dramatischen Veränderungen im kulturellen Gemütshaushalt der deutschen Gesellschaft konfrontiert. Diese Veränderungen hatten ökonomische, soziale und politische Gründe. Schleiermacher konnte die Grundlinien seiner Praktischen Theologie noch in den sicheren Gestaden einer bürgerlichen Welt im Übergang von einer feudal-landwirtschaftlichen hin zu einer frühindustriellen Gesellschaft formulieren. Er ahnte künftige Entwicklungen, sah deren Dramatik aber noch nicht ab.
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Nachworte
Hätte Schleiermacher an die Ränder Berlins, seines langjährigen Wohnsitzes, geblickt, hätte er dort eine merkwürdige Wahrnehmung machen können. Er hätte gesehen, daß dort Menschen, vom Land an die Ränder der Städte als Armutsflüchtlinge verschlagen, oft in kümmerlichen Unterkünften hausten. Menschen, die weder dem Bürgertum noch den Handwerkern noch dem Bauernstand zuzuordnen waren. Hier hätte Schleiermacher die ersten Lohnarbeiterinnen und Lohnarbeiter, die Vorhut des künftigen Proletariats, sehen können. Er hätte wahrnehmen können, daß dort am Rande Berlins die Welt, aus der er herkam, in der er aufwuchs und in der er heimisch war, aus den Fugen zu geraten drohte. Soziale Veränderungen waren erkennbar, die das 19. Jahrhundert zu einem Jahrhundert eines kolossalen Umbruchs werden ließen, ein Umbruch, dessen Konfliktkonstellationen sich dann im Ersten Weltkrieg und in der Russischen Oktoberrevolution explosionsartig entladen haben. All dies hat Schleiermacher kaum wahrgenommen. Und so bleibt seine Theologie, so sehr sie selbst nach vorne weisen wollte und in vielfacher Hinsicht auch nach vorne weist, doch merkwürdig vergangenheitsbehaftet. Der frühe, wenn man so will »romantische«, Schleiermacher der Reden »Über die Religion« hat etwas geahnt von der tiefen Zerrissenheit der Menschen. Und er spürte auch, daß diese Zerrissenheit etwas mit den sozialen Entwicklungstendenzen seiner Zeit zu tun hatte. Dieses Gespür scheint dem etablierten Professor an der Berliner Universität und dem ansonsten hoch aufmerksamen Besucher der Berliner großbürgerlichen Salons verloren gegangen zu sein. Die Grenze seiner sozialen Welt war zugleich die Grenze seiner praktisch-theologischen Wahrnehmung. An der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert hat etwa Friedrich Hölderlin die kommenden Konflikte, die aus der sozialen und politischen Zerrissenheit auf deutschem Boden herrühren, bereits deutlich beim Namen genannt. Im 2. Buch des 2. Bandes des »Hyperion« finden sich dazu folgende Sätze: »Es ist ein hartes Wort und dennoch sag ich’s, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt?« 1 Noch schärfer als Hölderlin sieht der späte Goethe die Auswirkungen 1.
Friedrich Hölderlin, Werke und Briefe, hg. von Friedrich Beißner, Erster Band, Frankfurt 1969, S. 433.
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Hans Joachim Iwand als Homiletiker und Prediger
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der beginnenden industriellen und ökonomischen Revolution auf die Lebensbedingungen der Menschen. Im Jahre 1821, also zur selben Zeit, als Schleiermacher auf dem Höhepunkt seines Wirkens in Berlin stand, erscheint Goethes Roman »Wilhelm Meisters Wanderjahre«. Sehr konkret finden sich hier die Phänomene des Frühkapitalismus benannt: »Sowenig nun Dampfmaschinen zu dämpfen sind, sowenig ist dies auch im Sittlichen möglich: Die Lebhaftigkeit des Handels, das Durchrauschen des Papiergelds, das Anschwellen der Schulden, um Schulden zu bezahlen, das alles sind die ungeheuern Elemente, auf die gegenwärtig ein junger Mann gesetzt ist. Wohl ihm, wenn er von Natur mit mäßigem, ruhigem Sinn begabt ist, um weder unverhältnismäßige Forderungen an die Welt zu machen noch auch von ihr sich bestimmen zu lassen!« 2 Goethe ist sich bewußt, daß diese Entwicklungen im ökonomischen Bereich nicht lediglich Äußerlichkeiten sind, sondern daß die Conditio Humana in ihrem Kern davon berührt ist. Goethe benennt im »Wilhelm Meister« hellsichtig bereits Entwicklungen, die erst am Ende des 19. Jahrhunderts der Praktischen Theologie vor Augen standen. Gerüstet war die Praktische Theologie von Schleiermacher herkommend in ihrem wissenschaftlichen Selbstverständnis. Unerwartet jedoch traf sie die Schärfe der sozialen Problematik. Hier hatte sie Schleiermachers blinden Fleck übernommen. Und erst ein Paul Drews hat dann an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert mit seiner Forderung nach einer »Religiösen Volkskunde« der Praktischen Theologie die anstehende Aufgabe vor Augen gestellt. Ich skizziere diese Zusammenhänge deshalb an dieser Stelle so ausführlich, weil sie genau den Rahmen abstecken, in dem sich Iwands theologische Überlegungen, nicht zuletzt zur Homiletik, bewegen. Iwand war sich der geistesgeschichtlichen Erblast bewußt, die der Theologie des 20. Jahrhunderts aufgeladen war. Ebenso war er sich bewußt, daß die Arbeiterschaft in weiten Teilen sich von der Kirche entfremdet hatte. Zum erstenmal seit der Reformationszeit drohte den protestantischen Landeskirchen der Verlust einer ganzen Bevölkerungsgruppe. Die Praktische Theologie reagierte auf diese Herausforderung auf zweifache, konträre Weise. Und die Auseinandersetzung um diese beiden Wege der Praktischen Theologie bestimmte die Diskussion der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Die erste Variante war die einer konsequenten Modernisierung prak2.
Johann Wolfgang Goethe, Werke in zwölf Bänden, Band 7, Berlin/Weimar 1981, S. 296.
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Nachworte
tisch-theologischer Theoreme – und das hieß konsequente empirische Ausrichtung und Öffnung hin zu den Humanwissenschaften. Profilierter Vertreter dieser Position war Paul Drews, der sich dazu im Jahre 1901 programmatisch äußert: »Nach unserer Auffassung muß die Praktische Theologie mehr deskriptiv-induktiv als systematisch-deduktiv betrieben werden. Die Voraussetzung einer besonnenen und wirksamen Beeinflussung des kirchlichen wie nichtkirchlichen Lebens ist eine wirkliche Kenntnis des gegenwärtigen religiösen Lebens innerhalb und außerhalb der Landeskirchen. Das erfordert eine beschreibende Darstellung des religiösen Lebens der Gegenwart im Zusammenhang mit seinem geschichtlichen Werden auf Grund einer eindringenden psychologischen Analyse des Volkscharakters wie der Gruppen- und individuellen Typen, mit denen der Geistliche zu rechnen hat. Die Wichtigkeit dieses neuen Zweiges der praktischen Theologie, den man kurz ›religiöse Volkskunde‹ nennen kann, wenn man die religionspsychologische Charakteristik mit einschließt, wird immer mehr erkannt werden. Wenn der theologische Praktiker, der Pfarrer, in fruchtbarer, zielbewußter und ihn selbst befriedigender Weise das Evangelium verkündigen will, so muß er genau unterrichtet sein über den Stand des religiösen Lebens der Kreise, auf die er wirken soll. Er muß wissen, was hier religiöses Bedürfnis ist; welcher Art die Frömmigkeit ist, von der in der Tat das Leben getragen und bestimmt wird.« 3 Für Drews heißt das: Konsequente Modernisierung der praktisch-theologischen Theoriebildung auf der Höhe der zeitgenössischen bürgerlichen Wissenschaften. Für Karl Barth, und damit komme ich zur zweiten Variante Praktischer Theologie, war genau dieser Weg nicht konsequent und radikal genug. Wie kann man – so sein kritischer Einspruch – die Theologie derart an geisteswissenschaftliche Traditionen anschließen, die ja die Krise, deren Höhepunkt die Katastrophe des Ersten Weltkriegs darstellt, mit heraufgeführt haben? Karl Barth und Eduard Thurneysen formulieren deshalb eine zur radikalen Veränderung entschlossene Homiletik einer Theologie der Krise. Gegenüber der empirischen Ausrichtung der Liberalen Theologie wird nun eine theologische Grundlegung der Homiletik eingeklagt: »nicht: wie macht man das? sondern wie kann man das?« 4 – um die berühmte Formulierung Barths hier aufzurufen. In der Frühzeit der Dialektischen Theologie hielten Barth und Thurneysen mehrere Vorträge, die die Predigtaufgabe 3. 4.
Paul Drews, »Religiöse Volkskunde«, eine Aufgabe der praktischen Theologie, in: Monatsschrift für kirchliche Praxis 1 (1901), S. 1. Karl Barth, Das Wort Gottes und die Theologie, München 1929, S. 103.
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konsequent als eine paradoxe Aufgabe formulierten. Auch hier hat Barth die klassische Formulierung gefunden: »Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben.« 5 Dies ist keine formale Paradoxie, und eben auch keine existentielle Paradoxie, wenigstens nicht in erster Linie, sondern eine dezidiert theologische Paradoxie, und nur als solche wird sie von Barth entfaltet. Vor dem Hintergrund dieser theologisch paradoxen Bestimmung der Predigtaufgabe konnte die Frage nach dem Handwerk und der Empirie der Predigt, an der der Liberalen Theologie so gelegen war, kaum noch gestellt werden. Eduard Thurneysen spricht denn auch – im Übrigen gar nicht so ironisch – von einem himmlischen Lachen über »sämtlichen Ratschlägen, Rezepten und Mittelchen der praktischen Theologie«. 6 Und dort, wo Thurneysen auf die Methodenfrage zu sprechen kommt, und als Praktischer Theologe muß er nolens volens darauf zu sprechen kommen, sind seine eigenen Ratschläge denn auch nur quasi Ratschläge via negationis: keine Rhetorik, kein Aufbau des Menschlichen, sondern Abbau, keine Abwechslung in der Predigt, sondern jeden Sonntag das Gleiche in der Verkündigung. Gerade bei Thurneysen zeigt sich, daß die theologische Paradoxie der frühen Dialektischen Theologie eben keine Brücken zur Methodik und Empirie der Predigt mehr zuließ. Was dogmatisch – durchaus überzeugend – als Paradoxie formuliert werden konnte, kommt praktisch-theologisch nur als Aporie zur Sprache. In der praktisch-theologischen Perspektive konnte allenfalls zu einem die Aporien aushaltenden Pastoralethos aufgerufen werden. Wir sollten uns davor hüten, wie dies allerdings sehr oft geschieht, diese Position der Dialektischen Theologie als vormodern, quasi als Rückschritt hinter die Moderne zu apostrophieren. Nein, die Dialektische Theologie gehört in das kulturelle Umfeld und Klima der frühen Weimarer Republik. Dort hat sie ihren genuinen Ort. Georg Pfleiderer hat diesen geistesgeschichtlichen Ort der Dialektischen Theologie in einem treffenden Bild eindrücklich so beschrieben: »Die Titanic- (oder freundlicher ausgedrückt: die Britannia-) Phase der modernen Theologie dürfte vermutlich vor allem darum fürs Erste vorbei sein, weil sie – um im Bild zu bleiben – einer Klassengesellschaft angehört hat und die zahlungskräftige theologische Ari5. 6.
A. a. O., S. 158. Eduard Thurneysen, Die Aufgabe der Predigt, in: Gert Hummel (Hg.), Aufgabe der Predigt, Darmstadt 1971, S. 105-118, zit. Stelle S. 106.
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stokratenkaste, die ihre Passagierdecks bevölkerten, heute keine Zeit mehr hat für Luxusfahrten, die vorrangig ihrer Selbstdarstellung dienen. Für die Gegenwart anschlußfähiger dürfte das avantgardistische Stadium der Barth’schen Theologie sein, die Zeit der Römerbriefkommentare und des Tambacher Vortrags, also die Phase, in der Barth sozusagen eine ganze Flotte wendiger Barkassen, Segelschiffe und Ruderboote zu Wasser gelassen hatte, die freilich unter der Wasserlinie auch schon von modernen Dieselaggregaten angetrieben waren.« 7
III. Die praktisch-theologische Kontroverse zwischen Liberaler und Dialektischer Theologie war also nicht die Frage, ob die Theologie zu modernisieren sei, sondern welche Wege zu dieser Modernisierung zu beschreiten sind. Liberale und Dialektische Theologie standen sich in dieser Kontroverse aber so verständnislos wie letztlich sprachlos gegenüber. Sprachlos in dem Sinne, daß zwar auf beiden Seiten lautstark geredet wurde, zugleich aber eine Sprache gepflegt wurde, die von der anderen Seite nicht verstanden wurde, vielleicht gar nicht verstanden werden konnte. Sah die Liberale Theologie in der Dialektischen Theologie einen Rückzug aus der Moderne, so formulierte die Dialektische Theologie in der Sprache des zeitgenössischen Expressionismus den Vorwurf, daß die Liberale Theologie in ihrem »naiven« Modernitätsstreben gerade nicht modern genug sein. Eine solche Konstellation kann dann nur in die Sackgasse einer verständnislosen Nicht-Kommunikation auch in der Auseinandersetzung über homiletische Grundsatzfragen führen. Und genau an dieser Stelle sehe ich den wichtigen theologiegeschichtlichen Ort der Homiletik und der Predigtpraxis Hans Joachim Iwands. Meine generelle These lautet in diesem Zusammenhang: Iwand teilt mit der Liberalen Theologie das Interesse einer Teilhabe der Homiletik an der jeweiligen Gegenwartskultur und kann in der Abweisung dieses Interesses durch die Dialektische Theologie nur einen abstrakten Radikalismus sehen. Auf der anderen Seite verbindet Iwand mit der Dialektischen Theologie die grundsätzliche Krisenerfahrung, die im traditionellen Kulturprotestantismus gerade keine sensible Wahrnehmung der Zeitumstände erkennen kann. Wie sich Iwand quasi »zwischen« Liberaler und Dialektischer Theologie verortet, dies ist dann in der Tat ein überaus originelles 7.
Georg Pfleiderer, Karl Barths praktische Theologie, Tübingen 2000, S. 463.
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Unternehmen, das Iwand als eigenständigen Homiletiker erkennbar werden läßt. In seiner in diesem Band dokumentierten Homiletik-Vorlesung werden die Grundzüge dieser eigenständigen homiletischen Position Iwands sichtbar. Ich nenne mir drei wichtig erscheinende Punkte: 1. Iwand kritisiert an Barth eine theologische Abstraktheit, die ihn dann auch die konkrete geistesgeschichtliche Situation nur abstrakt wahrnehmen läßt. Iwand setzt sich in diesem Zusammenhang mit den beiden homiletischen Vorträgen Barths aus dem Jahre 1922 über »Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie« und über »Not und Verheißung der christlichen Verkündigung« auseinander. Dort findet sich die berühmte paradoxe Formulierung Barths: »Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben.« 8 – und daraus konsequent abgeleitet die Frage: »nicht: wie macht man das? sondern wie kann man das?« 9 Iwand hält diese Frage im Grunde für eine theologisch abstrakte Frage. Sie ist für ihn nicht empirisch oder existentiell abstrakt. Da stellt sich durchaus die Frage: Wie kann ich Gottes Wort verkündigen von meinem Voraussetzungen her, in meinem jeweiligen Kontext, usw.? Als diese Frage ist sie sinnvoll und auch lösbar und beantwortbar. Aber als Frage einer prinzipiellen Homiletik ist sie für Iwand gerade nicht möglich. Iwand sagt pointiert: »In dem Augenblick, da ich mich von der Schrift löse, stehe ich vor der Barth’schen Frage; in dem Augenblick, da ich die Schrift vor mir habe, kann ich nicht mehr so fragen … Ich würde so sagen: ihr findet in der Schrift den für euch bereiteten Auftrag so, daß ihr in erfüllen könnt. Wenn ich also die Predigt vorbereite und halte in der Weise der Schriftauslegung, dann darum, weil ich hier nicht einen Text interpretiere, sondern weil ich mich an den Auftrag halte, wie er für die Kirche bestimmt ist.« 10 Iwand kritisiert in der Barth’schen Formulierung eine theologische Abstraktion. Die Frage steht für ihn im Grunde im luftleeren Raum. Und weil sie im luftleeren Raum steht, muß sie jene homiletischen Paradoxien erzeugen, die dann praktisch-theologisch zu homiletischen Aporien führen. Dem gegenüber klagt Iwand einen konsequenten Schriftbezug ein, und zwar in der Weise, daß in diesem Bezug auf den biblischen Verkündigungsauftrag die empirische Möglichkeit der konkreten Predigt mit ge8. Barth, a. a. O., S. 158. 9. Barth, a. a. O., S. 103. 10. Hans Joachim Iwand, Homiletik-Vorlesung, im vorliegenden Band S. 464.
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setzt ist. Dies scheint der Kern der Homiletik Iwands zu sein: Im konsequenten Schriftbezug ist eine realistische Homiletik begründet, weil wir in der Bibel auf einen Realismus stoßen, der grundsätzlich nicht überboten werden kann – weder durch existentielle, noch durch spekulative, noch durch methodische Reflexionen. Damit sind solche Spekulationen und ist ein solches Nachdenken nicht diskreditiert, vielmehr wird solchem Nachdenken ein präziser Ort zugewiesen: Gerade eine empirische Homiletik muß dort, wo sie auf die existentiellen und methodisch-handwerklichen Voraussetzungen und Bedingungen der Predigtarbeit reflektiert, auf den Realismus der Bibel bezogen sein. Schriftorientierte Homiletik – so ließe sich zugespitzt formulieren – ist für Iwand realistische Homiletik, die in ihrem Realitätsgehalt nicht mehr überboten werden kann. Deshalb lautet der erste Satz der Vorlesung auch: »Wir gehen vom Grundsätzlichen zum Praktischen.« 11 Mit diesem Satz stellt sich Iwand in die Kontinuität der Wort-Gottes-Theologie, die die Homiletik als prinzipielle Homiletik konzipiert. Aber es ist eben kein Zufall, daß das Gefälle hin zum Praktischen geht. Im Begriff der prinzipiellen Homiletik ist bei Iwand die konkrete Praxis der Predigt mit impliziert. Und damit ist impliziert auch den konkreten Ort der Predigthörerinnen und Predigthörer im Auge zu haben. Im Grunde ist in Iwands Homiletik die Forderung Drews nach einer »religiösen Volkskunde« impliziert. 2. Iwands Homiletik ist eine dezidiert theologische Homiletik, das verbindet ihn mit der Dialektischen Theologie. Aus dieser dezidierten theologischen Homiletik erwächst für Iwand jedoch eine eigentümliche Bindung der Predigt an die Welt. Gerade wer die Predigt theologisch begründet, bindet sich in und mit der Predigtaufgabe an die konkreten Weltverhältnisse. Um zu verstehen, welchen neuen Akzent Iwand hier setzt, sei kurz in Erinnerung gerufen, wie Eduard Thurneysen in seinem berühmten Vortrag aus dem Jahre 1921 über »Die Aufgabe der Predigt« über das Wort Gottes spricht: »Gott wäre nicht Gott, wenn es Brücken, direkte Wege und Zugänge ebenen Fußes vom Boden des Menschen zu ihm hinüber gäbe … [Es geht um] Begegnen Gottes mit dem Menschen, des Gottes, der in einem Licht wohnt, da niemand zukann, mit dem Menschen, der sterben, nichts weniger als sterben muß, wenn er Gott begegnet. Wer will hier einen Brückenschlag wagen, wer will hier Rat erteilen, wie es gemacht werden könnte, wer will hier von ›Aufgabe‹ reden.« 12 Für Thurneysen steht die himmel11. A. a. O., S. 419. 12. Thurneysen, a. a. O., S. 105.
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hochüberlegene, machtvolle Souveränität des Wortes Gottes am Anfang aller homiletischen Überlegungen. Wie spricht nun Iwand in seiner Vorlesung von diesem Wort Gottes? Auch für ihn steht die Souveränität des Wortes Gottes außer Frage, auch bei ihm kommt die Unterschiedenheit von Gott und Welt zum Tragen, aber eben in charakteristisch anderer Weise als beim frühen Thurneysen: »Das Evangelium hat heute so wenig einen Raum in der Welt, wie in den Tagen, als Er in das Seine kam und die Seinen nahmen in nicht auf … Hier wird es schon deutlicher, warum Gott Boten braucht. Er braucht sie darum, weil er sonst niemanden hat, dem er sein Wort anvertrauen kann, weil er sein Wort nicht in den Weltbestand als solchen legen kann … Das Wort Gottes ist nicht an sich da, es gehört nicht zum Wesen und zur Existenz der Welt. Darum kann man das Wort Gottes ausrotten, darum kann eine Kirche untergehen … Gott vertraut sein Wort irrenden, schwachen Menschen an und davon lebt die Kirche.« 13 Die Unterschiedenheit von Gott und Welt wird hier im homiletischen Kontext nicht als machtvolle Souveränität Gottes ausgelegt, sondern im Gegenteil als risikoreiche Bindung Gottes an die Welt. Nicht die Erinnerung an das machtvolle Wort Gottes, von dem Iwand an anderer Stelle durchaus sprechen kann, steht am Anfang seiner Homiletik-Vorlesung, sondern das zerbrechliche Wort Gottes, das ebenso zerbrechlichen Menschen anvertraut ist. Deshalb finden wir bei Iwand auch nirgendwo einen homiletischen oder ekklesiologischen Triumphalismus. In seine bescheidene Homiletik ist eine theologia crucis substantiell eingeschrieben. Und der Realismus seiner Homiletik insgesamt zehrt von dieser in sie eingeschriebenen theologia crucis. 3. Um auf die risikoreiche Bindung Gottes an die Welt verweisen zu können, bedarf die Predigt einer bestimmten Sprachform. Auch wenn es nicht die eine Sprachform der Predigt gibt, so läßt sich nach Iwand doch eine bestimmte Grundierung aller Predigtsprache ausmachen. Iwand weist in diesem Zusammenhang der homiletischen Form des Narrativen eine besondere Bedeutung zu. Dies gerade deshalb, weil »die Verkündigung an eine bestimmte Form ihrer Ausrichtung gebunden ist. Wenn wir die Form vom Inhalt her verstehen wollen, müssen wir sagen: keine Verkündigung ist echt, die nicht die Weise der Erzählung annehmen kann, die nicht Bericht ist.« 14 Weil die Predigt kein anderes Thema hat als die Gottes-
13. Iwand, a. a. O., S. 420. 14. A. a. O., S. 436.
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geschichte, wie sie in der Bibel überliefert ist, muß die Predigt für Iwand selbst immer wieder auch die Gestalt des Berichtes, der Erzählung annehmen. Auch hier gilt: Fragen der prinzipiellen Homiletik haben unmittelbare Konsequenzen für Fragen der homiletischen Methodik.
IV. Was läßt sich nun von Iwand für das Nachdenken über die Aufgabe der Predigt heute lernen? Läßt sich von ihm überhaupt etwas für das Predigen in einer Gesellschaft eines prinzipiellen religiösen und weltanschaulichen Pluralismus lernen? Solche Fragen an Menschen früher historischer Epochen zu stellen, ist natürlich auch immer etwas ungerecht, denn sie fordern von diesen Menschen Auskünfte ein über Situationen, die nicht die ihren waren. Aber umgekehrt ist es auch berechtigt, solche Fragen zu stellen, weil sie nicht selten in der Tat mit einem Ja beantwortet werden können. So können wir von der Homiletik der Liberalen Theologie lernen, daß empirische Fragestellungen und die Bezugnahme auf humanwissenschaftliche Erkenntnisse die Aufgabe der Predigt nicht verdunkeln, sondern erhellen. Und von der Dialektischen Theologie können wir lernen, daß die Aufgabe der Predigt unterbestimmt ist, wenn wir das Predigen nur als zwischenmenschliche Kommunikation ansehen. Was können wir von Hans Joachim Iwand lernen? Wenn man die Predigten Iwands liest, besticht deren ideologiekritischer Gehalt. Iwand war ein exzellenter Kenner der europäischen Geistesgeschichte. Deren jeweilige sozialgeschichtliche Voraussetzungen hatte er dabei immer im Blick. Viele Predigten sind eine kritische Re-Lektüre bestimmter geistesgeschichtlicher Spuren im Lichte der Gehalte der biblischen Überlieferung. Immer und immer wieder prangert Iwand in seinen Predigten an, wie Kirche und Christentum fatale Bündnisse mit bestimmten geistesgeschichtlichen Traditionen eingegangen sind, die dann das, was zu Recht Evangelium heißt, verdunkelt haben. Nicht zuletzt Iwands Entwurf zum Darmstädter Wort des Jahres 1947 kann als Frucht seiner konkreten Predigtpraxis begriffen werden. Von daher ergibt sich für mich eine überraschende Brücke von den Predigten Iwands hin zu einer bestimmten Diskussionslage unserer Gegenwart. Für die Postmoderne hat deren großer Theoretiker Jean-François Lyotard das Ende der großen Erzählungen ausgerufen. In seiner Streitschrift »La Condition postmoderne« von 1979 (deutsch unter dem Titel »Das postmoderne Wissen«) findet sich der pointierte Satz: »›Postmoderne‹ bedeutet,
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daß man den Meta-Erzählungen keinen Glauben mehr schenkt.« 15 Was versteht Lyotard unter einer Meta-Erzählung oder auch unter einer GroßErzählung oder schlicht unter einer großen Erzählung (die Begrifflichkeit schwankt hier in den verschiedenen Veröffentlichungen von Lyotard)? Große Erzählungen sind all jene vereinheitlichenden Deutungssysteme, die die Welt zentrierend von einem primären Bezugspunkt aus erklären wollen. Explizit nennt Lyotard in diesem Zusammenhang Hegels These vom Weltgeist und deren materialistisches Derivat im Marxismus, aber auch die Hermeneutik mit ihrer Behauptung eines durch philologische Identifikation zu benennenden präsenten eindeutigen Sinnes eines Textoder Weltzusammenhangs. Lyotard nennt nicht das Christentum, das er wohl ohnehin zu den überholten Traditionen zählt. Aber es ist eindeutig, daß auch das, was wir »das Christentum« nennen können, zum Typus der großen Erzählungen im Sinne Lyotards gehört. Man muß kein Anhänger der Theorie der Postmoderne sein, um anzuerkennen, daß die Rede vom Ende der großen Erzählungen oder zumindest von einem verbreiteten Verdacht gegen die großen Erzählungen für viele Menschen heute eine große Plausibilität hat. Es waren ja die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, die die großen Erzählungen in die Krise geraten ließen. Der Nationalismus führte auf die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs. Der Faschismus schuf die Vernichtungslager und der Stalinismus den Archipel Gulag. Grund genug allen Groß-Theorien, Groß-Erzählungen mithin, zu mißtrauen. Und viele Menschen hegen heute den Verdacht, daß die Rede von der Alternativlosigkeit des Kapitalismus die aktuelle und globalisierte Variante in der Reihe der abendländischen Groß-Erzählungen ist. Ich verstehe Iwands homiletische Theorie und vor allem seine konkrete Predigtpraxis als einen – avant lettre – Abschied von den Groß-Erzählungen. Seine ideologiekritische Re-Lektüre der Geistesgeschichte destruiert die Selbstverständlichkeit und Geschlossenheit bestimmter geistesgeschichtlicher Traditionsspuren. Und deshalb gerät in diesen Predigten auch die Geschichte des Protestantismus immer wieder kritisch in den Blick. Denn der Protestantismus hat im Verlauf seiner Geschichte eine merkwürdige Affinität hin zu den Groß-Erzählungen entwickelt. Darin besteht seine Stärke und Schwäche zugleich. Denn diese Affinität hin zu den Groß-Erzählungen hat ihn gleichsam in seiner jeweiligen kulturellen Gegenwart verortet. Im 19. Jahrhundert war dies die Liaison mit der philosophischen Bewegung des Deutschen Idealismus, in der Zeit nach dem Zwei15. Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen, Bremen 1982, S. 14.
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ten Weltkrieg die Symbiose mit der Hermeneutik, und zu Beginn meines Studiums stand durchaus ernsthaft ein dauerhaftes Bündnis mit einem undogmatischen Marxismus auf der Tagesordnung. Doch jeweils mit dem Untergehen einer dieser Groß-Erzählungen ist dann auch eine spezifische Form des Protestantismus untergegangen. Deshalb sollte – dies kann man aus den Predigten Iwands lernen – der Protestantismus seine groß-erzählerischen Bündnisse hinter sich lassen. Der Protestantismus wird damit – auch das kann man aus den Predigten Iwands lernen – nicht heimatlos werden. Denn er hat ja seine Geschichte, auf die er sich bezieht: die Gottesgeschichte. Und er hat seine grundlegenden Texte, die ihm aufgegeben sind: die Heilige Schrift der Christenheit, die in einem immer wieder erneuten Umkreisen und Deuten zu erschließen ist. Iwand hat diese Aufgabe in seiner Homiletik und seinen Predigten konkret gemacht. Nicht zuletzt mit seiner Erinnerung an den notwendigen narrativen Grundzug aller Predigt. Das Provokationspotential des Begriffs der »großen Erzählung« besteht ja darin, daß Lyotard sie auf Theorien anwendet, die sich selbst gerade nicht als Narrationen verstehen und in ihrer Selbstdarstellung nicht narrativ verfahren. Die geschlossenen Theoreme der Neuzeit verweigern sich in der Regel der kleinen narrativen Form. Insofern ist der homiletische Einspruch, den Iwand mit seiner Erinnerung an die Narrativität der Gottesgeschichte erhebt, zugleich auch ein Einspruch gegen jede Theologie in der Form einer Groß-Erzählung im Sinne Lyotards. Und insofern macht es durchaus Sinn Iwand als einen wichtigen Meilenstein zu begreifen auf dem Weg hin zu einer Homiletik und Predigtpraxis, die die Herausforderungen der Postmoderne theologisch reflektiert aufzunehmen vermag.
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Editorisches Nachwort, hauptsächlich zu zeitlichen Einordnung der Predigten Jürgen Seim
Die hier gesammelten Texte Hans Joachim Iwands sind nur zum Teil datiert. Darum sind die Predigten in der Reihenfolge des biblischen Kanons abgedruckt. Die Ansprachen im Abschnitt »Totengedenken« sind alle datiert und werden darum in der zeitlichen Abfolge gedruckt. In den Predigten 49-63 erscheint die erste Textgruppe »Christliche Feste« nach dem Ablauf des Kirchenjahrs, die zweite mit Lesepredigten wieder nach der Reihenfolge des Neuen Testaments. Den Abschluss bildet das Fragment einer Homiletik-Vorlesung. Die Predigten, Bibelarbeiten, Andachten und die Antworten auf die Fragen einer Kirchenzeitung sind um der Einheitlichkeit willen mit Überschriften versehen, die überwiegend den Texten entnommen sind, zum kleineren Teil auf Iwand oder die Erstveröffentlichung zurückgehen; diese werden jeweils kenntlich gemacht. Der weitaus größte Bestand der Texte stammt aus dem Iwand-Archiv in Beienrode, das inzwischen als »Nachlaß Hans Iwand« ins Bundesarchiv nach Koblenz überführt ist. Ein kleinerer Teil ist den Herausgebern von früheren Gemeindegliedern aus Iwands Dortmunder Gemeinde zur Verfügung gestellt worden. Es handelt sich um unterschiedlich überlieferte Texte: – In vielen Fällen liegen maschinenschriftliche Manuskripte vor, zum Teil von Iwand, sonst von seiner Mitarbeiterin Emmy Walther geschrieben, großenteils mit handschriftlichen Einträgen Iwands. – Als Dortmunder Gemeindepfarrer hat Iwand Wochenendgottesdienste eingeführt, die er samstags abends hielt und die ihm statt Perikopenauch Continua-Predigten erlaubten. Diese Predigten wurden teilweise stenographisch erfaßt, dann hektographiert und oft als Feldpost den Gemeindegliedern und Kollegen, die Soldat waren, zugestellt. Die erhaltenen Hektographien sind die Druckvorlage. – Die mit den Predigten 49-63 nachgedruckten Texte werden nach der Druckfassung wiedergegeben, die jeweils benannt wird.
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Die meisten Textfassungen der Predigten schließen mit »Amen«, keine enthält die Anrede »Liebe Gemeinde«. Beides gehört zur gesprochenen Predigt, auf beides wird im Druck verzichtet. Zur Entlastung von Einzelnachweisen verweise ich gelegentlich auf: Jürgen Seim, Hans Joachim Iwand. Eine Biografie, Gütersloh 2 1999 (abgekürzt: Biogr.). Nr. 1-8 Der früheste Nachweis für die von Iwand eingeführten Wochenendgottesdienste findet sich in einem Brief Iwands an Ernst Burdach vom 15. 06. 1940: »… weil heute Sonnabend ist und ich abends zu predigen habe« (Biogr. 252). Vgl. aber Predigt Nr. 11. Die Gottesdienste fanden zunächst im Chorraum der gotischen Marienkirche Dortmunds statt, aber bald füllte eine Zuhörerschaft auch aus den Nachbargemeinden die ganze Kirche. Die fortlaufende Auslegung des Hiobbuchs geht vom 3. Juni bis zum 15. Juli 1944. Sie bricht bei Kap. 19 ab und wird mit der Auslegung des Buchschlusses Kap. 38-42 am 2. September abgeschlossen. In der Zwischenzeit, Juli/August, hielt sich Iwand zur Kur in Bad Oeynhausen auf. Ob die Samstagsgottesdienste in der dieser Zeit ausfielen oder ein Kollege die Hiobauslegung übernahm, was eher unwahrscheinlich sein dürfte, ist nicht bekannt. In diese Zeit gehört der 20. Juli mit dem Attentat auf Hitler. Ob Iwand wegen Mitwisserschaft in die Kur abgetaucht war, wissen wir nicht. Die Predigten sind vor dem Hintergrund des Krieges und der Zerstörungen durch Bombenangriffe zu lesen. Nr. 1 bereits veröffentlicht in NW 3, 114-120. Nr. 9 Vgl. Nr. 30 und 31-37. Nr. 10 Die Predigt gehört in die Zeit nach 1945, sie reflektiert den sog. Kirchenkampf und die kirchliche Neuorientierung. Nr. 11 Die Predigt ist 1938/39 in Dortmund gehalten, sie spricht eingangs von der babylonischen Gefangenschaft als Gleichnis der kirchlichen Lage, später davon, »daß heute alle Völker zittern, daß in Kürze aufs Neue eine große Hekatombe für den Kriegsgott geopfert werden müßte«. Es handelt sich auch zu diesem Zeitpunkt um einen Wochenendgottesdienst (»in diesen
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Abenden«). Vgl. zum selben Predigttext NW 3,108-113, Pfingsten 1943 in Dortmund. Nr. 12 Das Datum ist aus der Predigt erschlossen: »… am Vorabend des Tages, da sich in Genf die Männer versammeln, die man die Mächtigen nennt«, zur Gipfelkonferenz über die Deutschlandfrage 18.-23. Juli 1955, Bulganin (UdSSR), Eisenhower (USA), Faure (Frankreich), Eden (GB). Nr. 13 Das Manuskript ist von unbekannter Hand auf 1956 datiert. Dazu paßt am Ende in den handschriftlichen Notizen Iwands für die Fortsetzung der Predigt das Stichwort »kalter Krieg«. Nr. 14 Der Hinweis auf die »Verdunkelungsübung vor dem Angriff« verweist die Predigt in die Kriegszeit, etwa 1940 in Dortmund. Die Erfahrung des zeitgleichen Kirchenkampfs spricht aus der Bemerkung »der Bekenner unterm Bett«. Nr. 15 Die Redewendungen »Zeit des Abfalls vom Glauben«, »Zeit des Kampfes« und die Ausdrücke »Volksgenosse« und »Volksgemeinschaft« verweisen auf die Zeit in Dortmund 1938/39, wahrscheinlich vor dem Kriegsbeginn, da es keine Anspielung auf den Krieg gibt. Vgl. PM I 455-462, PM II 12-16. Nr. 16 Überschrift von Iwand. Die Predigt gehört in die Zeit nach der Diktatur mit der Erfahrung »einer gottlosen, gottwidrigen Denkweise« im Staat bzw. bei denen »die den Staat eroberten«. Nr. 17 Die Reihung der »Verwaltungsräte«, »politischen Kabinette«, »Zeitungsredaktionen« und »sog. Kirchenführer« deutet auf die Zeit der Restauration in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Nr. 18 Die Predigt ist an einem Palmsonntag gehalten, vor einem doppelten Hintergrund: daß es der traditionelle Konfirmationstermin ist, aber ohne Kon-
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firmation; und daß die Schrecken es Kriegsendes spürbar werden: »Heute sind unsere Kirchen zerstört, heute können viele unserer Kinder nicht mehr konfirmiert werden … Not und Hunger, Leid und Sorge …«. Nach Auskunft von Iwands Sohn, Prof. Dr. Thomas Iwand, gab es 1944 in der Dortmunder Marienkirche keine Konfirmation. Die Predigt wurde vielleicht am Palmsonntag, 2. April 1944, in Dortmund gehalten; oder – wahrscheinlicher – nach der völligen Zerstörung der Dortmunder Innenstadt am 12. März 1945 in Cappenberg, wo Iwand und seine Familie Zuflucht gefunden hatten, am Palmsonntag, 25. März 1945. Vgl. Biogr. 288-291, PM I 197-202. Nr. 19 und 20 Der 27. 11. 1943 war der Samstag vor dem 1. Advent, Predigt in einem Wochenendgottesdienst. Die nächste erhaltene Predigt vom 18. 12. 1943, Samstag vor dem 4. Advent, hat als Text das Benedictus. Das könnte bedeuten, daß Iwand in dieser Adventszeit Lukas 1 fortlaufend gepredigt hätte, wobei die Predigten vor dem 2. und 3. Advent zur Ankündigung der Geburt Jesu (Lk 1,26-38) und der Begegnung zwischen Maria und Elisabeth mit dem Magnificat (Lk 1,39-56) nicht erhalten sind. Nr. 21 Die Predigt erinnert an »Menschen, die dieses Weihnachten als Gefangene … feiern werden«, und »daß einer nach dem anderen heimkehren kann«. Iwand nahm im August/September 1955 an der Reise einer Delegation aus der EKD in die UdSSR teil. Gleich danach fuhr der Bundeskanzler Adenauer mit einer Delegation nach Moskau und erreichte im Gegenzug zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen BRD und UdSSR die Freilassung deutscher Kriegsgefangener (Biogr. 490-493). Die Predigt mit der Erinnerung an jene Gefangenen könnte also Weihnachten 1955 gehalten worden sein. Vgl. PM II 34-35. Nr. 22 Die Erwähnung des Reichskirchenausschusses zeigt, daß die Predigt in die Zeit zwischen 1935 und 1937 gehört und also während des Kirchenkampfs vermutlich in Ostpreußen gehalten wurde. Nr. 23 »Die Welt der Töne – der Mann, dessen wir heute gedenken.« Es handelt sich in der Predigt nicht um das Gedanken an diesen Mann. Möglicherweise besagt die Andeutung, daß die Predigt 1950 gehalten wurde, in Erinnerung an J. S. Bachs 200. Todestag.
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Nr. 24 Anekdotisch ist aus Iwands Kindergottesdienst in Dortmund überliefert, daß ein Mädchen im Gespräch über den guten Hirten, den Mietling und die Herde auf Iwands Frage: Was bin ich? antwortete: Du bist das Schaf (Biogr. 245). Wenn Iwands Predigtsatz »du bist das verlorene Schaf« ein Echo darauf wäre, könnte die Predigt im Frühjahr 1939 gehalten sein. Vgl. PM II 229-234. Nr. 25 Die Predigt ist kaum zu datieren. Iwand reiht einmal als Erfahrung der Gemeinde aneinander: Krieg, Hinterlist, Heimatlosigkeit (II). Das könnte für Advent 1940 sprechen, die Heimatlosigkeit auf die Zwangsumsiedlung der Baltendeutschen nach Polen bezogen, die Iwand als Schock erlebt hatte (Biogr. 249 f.). Oder die Predigt gehört in die Adventszeit 1946, nachdem Iwand für die Predigthilfen von Eichholz eine Auslegung des Benedictus (Lk 1,68-79) geschrieben und zu einer neuen Betonung des Alten Testaments gefunden hatte (Biogr. 319, PM II 34-35), die auch aus dieser Predigt spricht: »Abraham und Mose, Elia und Jesaja, David und alle, alle sind gerechtfertigt« im Zeugnis Johannes des Täufers. Die rätselhafte Bemerkung über Mose als »Diener im Hause des Herrn« dürfte eine Erinnerung an Hebr 3,5 sein (Hinweis von W. Schrage). Nr. 26 Vgl. PM I 420-424. Nr. 27 Die Predigt zitiert indirekt und nennt ausdrücklich Barth und Hegel, spricht vom »Elia redivivus« und fragt, »was mit Deutschland wird oder mit Europa«. Es ist vermutlich eine Predigt im Universitäts-Gottesdienst, in Göttingen (1945-52) oder Bonn (1952-60). Nr. 28 Die Datierung ist anscheinend nachträglich von Hand dem MaschinenManuskript zugefügt, vermutlich von Iwands Mitarbeiterin Emmy Walther. Dazu paßt die Erwähnung der Zeitumstände: Ende des Kolonialzeitalters, Sorgen der bürgerlichen Welt und des Sozialismus, beide »bis an die Zähne bewaffnet«, und des Fernsehens, das damals anfing in die Wohnungen einzuziehen. Vgl. ein Jahr später die Predigt über Joh 1,43-51, NW 3, 291-298.
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Nachworte
Nr. 29 Die Predigt bricht scheinbar unvermittelt ab, die zugrunde liegende Abschrift ist aber vollständig erhalten. Vgl. PM I 222-229. Nr. 30 Die Predigt wurde im ersten Gottesdienst in der nach dem Wiederaufbau renovierten und restaurierten Dortmunder Marienkirche am Sonntag vor Pfingsten 1957 gehalten. Am 6. Oktober 1944 waren die Marienkirche und das Pfarrhaus bei einem Bombenangriff zerstört worden. Dem Text liegt ein Tonband von diesem Gottesdienst zugrunde. Vgl. Nr. 9, Nr. 47 und PM I 16-19. Nr. 31-37 Die Predigtreihe über Römer 1-3 reicht vom 1. Mai bis 3. Juli 1943. Sie schließt (siehe Nr. 31) an eine über die Johannesoffenbarung an, von der aber keine Texte vorliegen. Möglicherweise wurde erst danach die stenographische Aufnahme der Predigten begonnen. Die Überlieferung der Römer-Reihe ist lückenhaft, es haben sich Matrizenabzüge erhalten, die Lükken (evtl. am Ende von Nr. 32, jedenfalls vor Nr. 34 und Nr. 36) erklären sich eher aus der mangelhaften Überlieferung als aus beabsichtigter Auslassung dieser Texte. In den zeitlichen Rahmen gehören die Predigten über Psalm 46 (Nr. 9) und über Hes 37 (NW 3,108-113). Vgl. Biogr. 278-282. Zu Nr. 34 siehe PM I 276-283. Nr. 38 Das Datum ist von der Überschrift der Vorlage »Konfirmation 1941« erschlossen: Palmsonntag. Die genannten Pastoren sind Superintendent Fritz Heuner, Pastor Werner Scheck und Vikar Emil Stratmann. Nr. 39 Die Predigt wurde im Universitäts-Gottesdienst gehalten. Im Eifer des Predigtentwurfs entstand ein Mischzitat »Das macht dein Zorn, daß wir so gar aus sind« aus Psalm 90,3 und Klagelieder 3,22. Nr. 40 Predigt bei den Gedenktagen in Barmen 20 Jahre nach der ersten Bekenntnissynode, die die theologische Erklärung verabschiedete, deren dritter These das Leitwort aus Epheser 4,15 f. vorangestellt ist, über das Iwand predigte. Die am Ende genannte »große Zusammenkunft« war die
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Weltkirchenkonferenz in Evanston im August 1954 mit dem Motto »Christus – die Hoffnung für die Welt«. Vgl. PM I 23-26. Nr. 41 Die Überschrift ist von Iwand. Er hat den Text eine »Totenfestandacht« genannt, die »an unsere Brüder in der Bekennenden Kirche Ostpreußens gesandt« wurde, im Vorwort zu »Der Name des Herrn. Geistliche Reden«, das auf »Advent 1935« datiert ist. Diese »geistlichen Reden« erschienen als Heft 38 des Schriftreihe »Bekennende Kirche«, herausgegeben von Christian Stoll im Kaiser-Verlag München, Anfang 1936. Der Text wurde nochmals in der Reihe »Predigt im Gespräch« Nr. 20 im November 1968 mit einem Kommentar von Walther Fürst veröffentlicht. Nr. 42 Anneliese Bornkamm, erste Ehefrau Günther Bornkamms (Biogr. 178 ff.). Bornkamm war 1936 Privatdozent an der theologischen Fakultät in Königsberg, Iwand Leiter des Predigerseminars der Bekennenden Kirche in Bloestau. Nr. 43 Es handelt sich um eine Beerdigung in Dortmund. Nr. 44 Die Trauerfeier fand in der Kirche in Cappenberg statt. Egolf Heinrich Graf Kanitz, Sohn der Eheleute Albrecht Graf Kanitz und Ilse, geb.von Borcke, war am 22. Oktober 1943 an der Ostfront gefallen. Über Iwands Beziehung zum Ehepaar Kanitz siehe Biogr. im Register s. v. Kanitz. Der zitierte Bischof ist möglicherweise Clemens August Graf Galen, den Iwand im Hause Kanitz kennenlernte. Nr. 45 Rudolf Feuerbaum war offenbar als sog. Flakhelfer tödlich erkrankt. Sein Vater, der Kaufmann Rudolf Feuerbaum, war Presbyter der Dortmunder St. Mariengemeinde. Nr. 46 Das Datum ist erschlossen: Am 6. Oktober wurde bei einem Bombenangriff die Dortmunder Innenstadt mit der Marienkirche völlig zerstört (Biogr. 288 f.).
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Nachworte
Nr. 47 Die Rede, die nahezu eine Predigt ist, wurde in der Rudolf-Oetker-Halle in Bielefeld gehalten. Sie ist überschrieben: Gedenkrede zum Totensonntag 1945, von da ist das Datum erschlossen. Am Ende spricht Iwand aber von »diesem Abend« und einem folgenden Sonntag, so daß das Datum vielleicht auf den 23. November korrigiert werden muß. Es wäre dann eine Rede, zu der die evangelischen Kirchengemeinden Bielefelds einen weiteren Kreis am Vorabend des Totensonntags eingeladen hätten. Zum Beispiel des heimgekehrten Soldaten vgl. Nr. 30. Nr. 48 Oscar Ehrhardt war Iwands Schwiegervater. Der Text der Ansprache wurde mit diesem Begleittext versandt: »Professor Dr. med. Oskar Ehrhardt wurde geboren am 23. März 1873, er wirkte vom 1900-1947 in Königsberg in Preußen, zuletzt als Direktor der Chirurgischen Abteilung des ElisabethKrankenhauses in Königsberg. Er kam mit seiner Ehefrau Martha, geb. Rosenhain, im November 1947 aus Königsberg heraus, im Quarantänelager Küchensee erkrankte seine Frau und starb an einer Lungenentzündung in Berlin im St. Joseph-Krankenhaus. Seit jener Zeit lebte er bei uns in Göttingen und kam allmählich wieder zu Kräften. Er begann soeben seine Memoiren zu schreiben. Da kam er durch ein Motorrad, das ihn auf der Straße anfuhr, zu Fall und starb, nachdem der drei Tage bewußtlos im Krankenhaus gelegen hatte, an den Folgen des Unfalls. Er ist beigesetzt auf dem städtischen Friedhof in Göttingen am 31. Januar 1950. – Da uns sehr viele liebe und mitfühlende Zeichen des Gedenkens zugegangen sind, viele seiner Freunde, Kollegen und Patienten bei der Beerdigung nicht anwesend sein konnten, erlauben wir uns, Ihnen als Zeichen unserer Dankbarkeit und im Gedanken an unseren lieben Vater die Grabrede zuzusenden. Möge sie auch unter dem Wort gelesen werden, das wir der Anzeige beifügten: Ich gedenke der vorigen Jahre. Ich rede von allen deinen Taten und sage von dem Werk deiner Hände. Psalm 143,5. – Hans und Ilse Iwand, geb. Ehrhardt.« Nr. 49 Iwand, 1939 Pfarrer in Dortmund, hat diesen Text für das »Evangelische Volksblatt für die Ostmark« (Königsberg) geschrieben, hier wiedergegeben nach einem offenbar gleichzeitig erschienenen Separatdruck. Nr. 50 Iwand, 1950 Professor in Göttingen, hat diesen Text für die Hamburger Wochenzeitung »Die Zeit« geschrieben. Biogr. 406.
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Nr. 51-55 Iwand suchte nach dem 2. Weltkrieg einen Sammelpunkt für die vertriebenen ostpreußischen Mitglieder der bekennenden Kirch und fand ihn in einem Gutshof nahe Königslutter. Es nannte das Gutshaus »Haus des helfenden Hände«. Biogr. 368 ff. Für die Freunde des Hauses gab Iwand eine regelmäßig erscheinende Zeitschrift heraus, die in bewußter Anspielung an Friedrich Naumann »Die Hilfe« genannt wurde, Biogr. 385. Das Heft Nr. 2 enthielt Predigten, die Iwand am 12. März und am 6.-9. April 1950 hielt. Zu dieser Reihe vgl. Biogr. 388. Das Vorwort zum Heft lautet: »Außer der ersten dieser Schriftauslegungen und Predigten sind sie alle in Beienrode im ›Haus der helfenden Hände‹ gehalten. Das Hilfswerk einer Flüchtlingskirche muß eine lebendige Mitte haben, sonst ist es unser und nicht Gottes Werk. Eine lebendige Mitte – was kann das aber anderes sein als das Wort des lebendigen Gottes mitten unter uns. Denn diese lebendige Mitte sind nicht wir todgeweihten Menschen, sondern der, der tot war und – siehe – er ist lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und hat die Schlüssel der Hölle und des Todes. Eine Flüchtlingskirche ist heute die Gemeinschaft solcher, die mehr und tiefer als andere Menschen durch das Tal des Todes wandern mußten, die ihn zu schmecken bekamen in der ganzen Dunkelheit seiner inneren und äußeren Schrecknisse. Hüten wir uns, mit menschlichem Trost und menschlicher Zuversicht dies Erschrecken heilen zu wollen. Wir könnten uns alle durch das, was wir heute an uns und anderen erleben, gewiesen sehen auf die eherne Schlange, die Gott in dieser Welt des Todes errichtet hat, daß alle, die zu ihr die Augen erheben, leben sollen und nicht sterben. – So will dies Heftchen ein Zeichen und ein Zeugnis sein, wie in der Osterzeit das Evangelium von Kreuz und Auferstehung Jesu Christi mitten unter uns gewohnt hat – unser Trost in aller unserer Schwachheit.« Nr. 51 Predigt, gehalten in der Schloßkapelle von Cappenberg, auf dem Gut der Freunde Kanitz, wo inzwischen der Freund Ernst Burdach wohnte, als Pfarrer für die Gemeinde Lünen (Biogr. 318). Die Anspielung »auf das, was gerade in den letzten Wochen wieder durch den … Rundfunk gegangen ist«, meint Martin Niemöller, der sich kritisch zum ersten Angebot des Bundeskanzlers Adenauer, eine deutsche Armee aufzustellen, geäußert hatte und dafür seinerseits heftig kritisiert wurde. Vgl. NW 3, 195-205. Nr. 52 Ansprache zum Abendmahlsgottesdienst im Haus der helfenden Hände.
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Nachworte
Nr. 53 Predigt, gehalten im Haus der helfenden Hände. Nr. 54 Andacht im Haus der helfenden Hände. Nr. 55 Predigt in der Kapelle von Beienrode. Nr. 56-59 Im selben Jahr 1950, in der Pfingstwoche, unterzog sich Iwand nochmals einem solchen Predigtmarathon. Bei einer Evangelischen Woche in Flensburg legte er Johannes 20 f. aus. Die Bibelarbeiten erschienen in der Zeitschrift »Die Stimme der Gemeinde«, zu deren Herausgeberkreis Iwand gehörte, in den Heften Nr. 3-6 1951 (Biogr. 393). Nr. 60 Das Sonntagsblatt des Evangelischen Kirche im Rheinland »Der Weg« stellte zu Pfingsten 1956 Iwand, damals Theologie-Professor in Bonn, »einige Fragen über die Lehre vom Heiligen Geist«. Nr. 61 Der Wilhelm-Schneider-Verlag in Siegen plante eine Reihe von Lesepredigten unter dem Titel »Predige das Wort«. Es handelte sich – wie bei den »Predigthilfen« unter dem Titel »Herr, tue meine Lippen auf« – um eine Unternehmung der bekennenden Kirche. 1947 erschien der 1. Teilband des 4. Bandes »Lucas-Evangelium«, herausgegeben von Georg Eichholz. Iwand trug die Auslegung des 5. Kapitels bei. Nr. 62 Der 2. Teilband (jetzt des Lukas-Evangeliums) erschien als Band V der Reihe »Predige das Wort« an der Jahreswende 1953/54. Der Herausgeber G. Eichholz schrieb im Vorwort: »Die Vorarbeiten … liegen schon länger zurück«, nämlich bis zum Februar 1949, als Iwand seinen Beitrag über Lukas 12 für »gleich nach dem Semester« in Aussicht stellte. Die Ablieferung verzögerte sich aber, Iwand bot Eichholz an, dieser möge einen andern Bearbeiter suchen, doch Eichholz wartete geduldig auf Iwand (vgl. die Briefe Nr. 24-26, 31 und 32 im Briefwechsel, Iwand-Studien 172 f., 178 f.). Iwand nutze schließlich eine Bibelarbeit in Ostberlin für die Auslegung des Kapitels. Er bat um einen Sonderdruck von 50 Exemplaren. 1955 kam im
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Schneider-Verlag eine separate Veröffentlichung unter dem Titel »Die Gegenwart des Kommenden« heraus, mit einer Widmung: »Zum Gedächtnis an Julius und Anna Schniewind in unauslöschlicher Dankbarkeit«. 1966 erschien in der Reihe Biblische Studien Nr. 50 (Neukirchener Verlag) eine zweite Auflage, mit einem Vorwort von Walter Kreck. Nr. 63 Schon 1940 erschien als 3. Band der Reihe »Predige das Wort« eine Auslegung des 1. Johannesbriefes, herausgegeben von Hermann Barth.
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Hiob als ein Zeuge des gekreuzigten Christus Einführung in die Hiob-Predigten H. J. Iwands Bertold Klappert
Die hier erstmals vollständig zugänglich gemachten Hiob-Predigten Iwands gehören in das Jahr 1944. Davon war bisher lediglich die Predigt vom 3. Juni über Hiob Kap. 1 und 2 zugänglich. 1 J. Seim hat das biographische Umfeld dieser Wochenschlussandachten und speziell das Jahr 1944 in seiner Iwandbiographie beschrieben: Die in den Samstaggottesdiensten gehaltenen Predigten beginnen am 3. Juni 1944 und werden mit Kap. 18 f. am 15. Juli 1944 unterbrochen, d. h. am Sonnabend vor dem 20. Juli 1944, dem versuchten Aufstand gegen die verbrecherische Staatsgewalt Hitlers. Iwand hielt sich während dieser Zeit zu einer Kur in Bad Oeynhausen auf, so dass er an sechs Samstagen die Kap. 20-37 nicht predigen konnte. Erst nach der Kur und nach dem gescheiterten Putschversuch vom 20. Juli predigt Iwand am 2. September 1944 abschließend über die Kap. 38-42. 2
I. Die Prüfung Hiobs und die Infragestellung Gottes Vergleicht man den Umfang der Predigten Iwands über das Hiob-Buch im Sommer des Jahres 1944, so fällt auf, dass die Predigten über die Anfangsund Schlusskapitel des Hiobbuches die größte Länge aufweisen. Hier finden wir die Interpretationsrichtung und HörerInnenlenkung, die Iwand dem ganzen Hiob-Buch gegeben hat. Im Gegensatz zu einer Interpretation des Hiob-Buches, der noch G. von Rad folgt und die den Rahmen (Kap. 1 f. und 42,7 ff.) gegen die Reden des Hauptteils ausspielt, 3 interpretiert und
1. 2. 3.
H. J. Iwand, Ausgewählte Predigten, hg. von H. H. Eßer und H. Gollwitzer, NW 3, München 1963, 114-120. J. Seim, Hans Joachim Iwand. Eine Biografie, Gütersloh 2 1999, 283 ff. G. von Rad, Theologie des Alten Testaments Bd. I, München 1958, 451 ff.: »Die Skepsis«; ders., Weisheit in Israel, Neukirchen-Vluyn 1970, 267 ff., 306 ff.
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Hiob als ein Zeuge des gekreuzigten Christus
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predigt Iwand das Buch Hiob als Ganzes im Sinne der lectio continua kanonisch. 4 Beginnen wir zunächst mit dem Eingang und Prolog zum Hiobbuch Kap. 1 und 2, dem die erste Predigt Iwands gilt.
1. Der Auftakt des Hiobbuches a) Hiob ist der exemplarisch Gerechte (1,1): gerecht und gerade Gott fürchtend und vom Bösen weichend. Das ist nach Iwand das Thema des Hiobbuches: ein exemplarisch Gerechter, der tiefstes Leiden erleiden muss. b) Dem exemplarisch Gerechten entspricht der umfassende Segen Gottes. Iwand interpretiert zu Recht Hiob 1,2-3 als Ausfluss des Segens Gottes und als Antwort Gottes auf das exemplarisch gerechte Leben Hiobs. Die weitere Formulierung Iwands: »Alles, was er (Hiob) tat, gelang ihm wohl« ist eine Anspielung auf den Weisheitspsalm 1: »Und alles, was er tut, gerät ihm wohl« (Ps 1,3). Das Hiob-Buch gehört in den Kontext der alttestamentlichen Weisheit und bedeutet nicht etwa deren Beseitigung, sondern die Markierung von deren Grenze. c) Der umfassende Segen in Gestalt von Familie, Besitz und Ansehen vor dem Volk macht Hiob nicht hoch- und übermütig, sondern er bleibt gottesfürchtig und tritt stellvertretend und priesterlich für die Sünden seines ganzen Hauses mit Fürbitte und Opfer ein (Hiob 1,4 f.). Hiob weiß um die allgemeine Sündhaftigkeit der Menschen, sowohl anderer wie auch seiner selbst (9,1-3).
2. Das Doppelthema des Hiobbuches Gegenüber einer Auslegung des Buches Hiob, die einseitig nur die Prüfung Hiobs betont, ist für Iwands Interpretation charakteristisch, dass er auf ein Doppelthema abhebt: a) die Prüfung Hiobs und b) die Infragestellung bzw. Prüfung Gottes. 5 a) Nach dem Auftakt des Hiobbuches (1,1-5) beginnt die eigentliche Handlung erst mit dem Prolog im Himmel, dem Gespräch zwischen Gott und Satan, in welchem der Satan die Frömmigkeit Hiobs anzweifelt, indem er die Frage stellt (1,6 ff.): Wie ist Hiobs Frömmigkeit und Gottesfurcht mit 4.
5.
Zur kanonischen Hiob-Interpretation vgl. W. Zimmerli, Grundriß der alttestamentlichen Theologie, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1972, 6 1989, § 18. – J. Ebach, Streiten mit Gott. Hiob Teil 1. Hiob 1-20, Neukirchen-Vluyn 1995; Hiob Teil 2. Hiob 2142, Neukirchen-Vluyn 1996. – R. Rendtorff, Theologie des Alten Testaments. Ein kanonischer Entwurf Bd. I: Kanonische Grundlegung, Neukirchen-Vluyn 1999, 311 ff. Vgl. auch J. Ebach (Anm. 4), Teil 2, 144: »Das Gott-Sein Gottes steht daher in den Gottesreden des Hiobbuches letztlich auf dem Prüfstand« (144).
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Nachworte
seinem Wohlstand und Segen verknüpft: Geht es Hiob gut, weil er fromm und gottesfürchtig ist? Oder ist Hiob fromm und gottesfürchtig, weil und nur solange es ihm gut geht? 6 Obwohl das Wesen des Satans der Zweifel und die Anklage der Gerechten auf ihre wahre Frömmigkeit ist, vergleicht Iwand den Satan mit einem Staatsanwalt, der die Rolle des Anklägers vor Gott vertritt und meint: »Der Teufel stellt eine wichtige Frage: ›Ist Hiob denn umsonst so fromm?‹«. Iwand interpretiert diese Frage so: »Damit ist das Thema des Buches Hiob angegeben: Es ist die Frage nach einer Frömmigkeit, die ohne Eigennutz ist. Gibt es einen Menschen, so wird hier gefragt, der an Gott festhält, ohne dass er davon einen Nutzen hat?« b) Aber Iwand bleibt nicht bei der Prüfung Hiobs im Hinblick auf eine Frömmigkeit ohne Eigennutz stehen, sondern fährt fort: »Es ist vielleicht die Frage nach dem Dasein Gottes überhaupt … Indem so der Satan Hiob verdächtigt, verdächtigt er zugleich Gott …, als wollte er ihm sagen: die Menschen glauben doch nur solange an dich, als du sie segnest. Auch du bist für sie nur ein Götze«. Damit hat Iwand zutiefst ein Thema der reformatorischen Theologie angeschlagen, das er im Zusammenhang der Kommentierung von Luthers Römerbriefvorlesung (1515/16) ausführlich thematisiert hat: Wo der Glaube an Gott seine eigentliche Wurzel im Gedanken des Lohnes für ein gerechtes Leben hat, da sucht der Mensch in Gott letztlich eigensüchtig sich selbst. 7 So verwandelt sich die Prüfung Hiobs letztlich zu einer Infragestellung bzw. Prüfung Gottes selbst. Der Projektionsverdacht L. Feuerbachs ist hier vom Satan geäußert, der damit nicht nur Hiob sondern zugleich die Gottheit Gottes in Frage stellt. Iwand hat deshalb sowohl im Hiobbuch als auch in Luthers Theologie die Religionskritik Feuerbachs vorweggenommen gesehen: »Es gibt eigentlich keine schlimmere teuflische Verdächtigung des Glaubens an Gott als diese Behauptung, … daß er [der Gerechte] sogar in Gott sich selber sucht. Und Gott ist dann nur noch ein Mittel zum Zweck und aller Glaube und alle Gottesfurcht … ist dann im Grunde genommen nichts anderes als der Versuch des Menschen, Gott zum Götzen zu machen, Gott in den Dienst seiner Zwecke zu stellen«. Die Infragestellung der Frömmigkeit Hiobs ist Iwand zufolge sofort auch die Infragestellung der Gottheit Gottes. Die Infragestellung von Hiobs Gottesbeziehung und ineins damit die Negation der Gottheit Gottes, würden sie zu Recht bestehen, hätten nach Iwand unabsehbare Konsequenzen, auch für die Theologie und Kirche der
6. 7.
J. Ebach (Anm. 4), Teil 1, 8; R. Rendtorff (Anm. 4), Bd. I, 314. H. J. Iwand, Luthers Theologie, hg. von J. Haar, NW 5, München 1974, passim.
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Gegenwart. Darum musste Gott seinen Knecht Hiob dem Satan in die Hand geben. Dieser radikalen Infragestellung Hiobs und Gottes selbst entspricht auch die Stellung, die das Böse und Nichtige nach Iwand haben. In seinem letzten Vortrag vor Studierenden in Leiden am 14. 12. 1959, 1961 in der Miskotte-Festschrift veröffentlicht, 8 hat Iwand »über das Wesen und die Wurzel des Bösen« referiert und dort, besonders aber auch in der anschließenden Diskussion die These vertreten: Das Böse ist immer nur am Guten, ist immer nur die Negation des Guten. Dabei hat er sich auf das Buch Hiob, die Definition Augustins »malum privatio boni« und zugleich auf Barths Lehre vom Nichtigen in KD III 3 berufen. Gott hat das Böse nicht geschaffen, das Böse ist immer die Infragestellung und Negation des Guten: hier bei Hiob die Infragestellung seiner Frömmigkeit und Gerechtigkeit ineins mit der Gottheit Gottes selbst.
3. Die zwei Prfungen Hiobs a) Die erste Prüfung Hiobs besteht in den sog. durch Katastrophen verursachten Hiobsereignissen, nachdem Gott den Hiob zur Prüfung in die Hand Satans geben musste. Der Satan darf Hiobs Besitz angreifen, muss aber seine Person selbst verschonen. Hiob besteht diese Schicksalsschläge und bekennt: »Der NAME hat’s gegeben, der NAME hat’s genommen; der Name ADONAIs sei gelobt« (1,21). Das von Luthers Reformation wiederentdeckte und von Iwand in seiner Schrift »Glaubensgerechtigkeit nach Luthers Lehre« (1941) 9 so scharf herausgearbeitete »Deum iustificare«, d. h. Gott rechtfertigen, in Abgrenzung von der selbstsüchtigen Frage »Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?« (concupiscentia spiritualis) umschreibt die bestandene erste Prüfung Hiobs. b) Es kommt zum zweiten Prüfungsgang: »Der Satan lebt davon, dass die Menschen von Gott abfallen, er lebt davon, Gott Abbruch zu tun unter denen, die sich zu ihm halten«. Das ist das eine. Und doch gilt nach Iwand wiederum auch das andere, nämlich die tiefe Wahrheit, die der Satan als Staatsanwalt Gottes formuliert: »Haut um Haut! Alles, was der Mensch hat, gibt er um sein Leben«. Iwand aktualisiert das zu Recht so: »Wir werden sagen müssen, dass der Satan damit nicht so unrecht hat … Er weiß wie viel
8. 9.
H. J. Iwand, Über das Wesen und die Wurzel des Bösen, in: Woord en Wereld, FS K. H. Miskotte 1959, Amsterdam 1961, 200-211. H. J. Iwand, Glaubensgerechtigkeit nach Luthers Lehre (1941), München 3 1959: »Gott recht geben« 11-26, wiederabgedruckt in: Glaubensgerechtigkeit, GA II, 11125, hg. von G. Sauter, ThBü 64, München 1980.
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ein Mensch überleben kann, wenn es ihn selbst noch nicht trifft.« Und deshalb muss Gott um Hiobs Frömmigkeit und der Gottheit Gottes willen den Hiob zum zweiten Mal dem Satan überlassen. Iwand weiß nämlich auch im Blick auf die ein Jahr zuvor erfolgten schweren Luftangriffe auf Dortmund am 5. Mai 1943, 10 dass der Satan nicht so unrecht hat, wenn er diese weitere Prüfung fordert: »Er weiß, wie viel der Mensch überleben kann, … solange er gleichsam noch außerhalb der Gefahrenzone steht … ›Alle leben‹, das steht auf unseren Hauswänden geschrieben«, wie Iwand in seiner ersten Hiob-Predigt sagt. Das klingt so, als ob Iwand zufolge im Jahre 1944 die zweite Hiobprüfung noch bevorsteht und also noch nicht bestanden ist. Deshalb kommt es zu einer weiteren Verschärfung des Hiobleidens: »In solchem Elend und Leid zerbricht auch das Band der Liebe und Treue, sein eigenes Weib wird von Verzweiflung ergriffen«. So steht Hiob am Ende als der Einzelne in seiner Vereinzelung vor Gott, nachdem auch das letzte Band personaler Beziehung zu seiner Frau zerbrochen ist. In seiner Vorlesung zur Theologie Martin Luthers hat Iwand gegenüber dem Personalismus insbesondere Fr. Gogartens öfter auf diesen Punkt aufmerksam gemacht: Der Glaube an Gott ist letztlich nicht vermittelt durch die menschliche Du-Ich-Beziehung im Sinne des Personalismus, sondern in der Tiefe der Anfechtung ist der Mensch und der Glaube unmittelbar vor Gott selbst gestellt. Vor diesem muss er vereinzelt werden, damit er die Tiefe der Hiobprüfung schmecken und bestehen kann. 11 In der zweiten Wochenendpredigt vom 10. 6. 1944 vertieft sich das Thema der Vereinzelung Hiobs gegenüber seinen Mitmenschen in der Einsamkeit vor Gott (Kap. 2,11-3,26). Die Freunde Hiobs können die Vereinsamung Hiobs nicht durchstoßen. Ihr und unser Trösten – Iwand weiß auch um die Grenzen seines Tröstens in der Situation des Jahres 1944 – ist ein menschliches Trösten vom Ufer aus, das den Abstand zwischen den Freunden Hiobs und Hiobs schwerem Leiden nur vergrößert: Der Mensch in seinem Leiden, Hiob, steht allein vor Gott. Auch das andere Band der Du-Ich-Beziehung in Gestalt der Freunde Hiobs zerbricht, nachdem schon zuvor der Abbruch der Beziehung zu seiner Frau ihn in die Einsamkeit vor Gott gestoßen hatte (2,8). Wo die Freunde Hiobs versagen, d. h. wo die Du-Ich-Relation zerbricht, da erst steht die Gottesbeziehung 10. J. Seim (Anm. 2), 277 ff. 11. H. J. Iwand (Anm. 7), besonders in den von Haar nicht veröffentlichen Partien; vgl. auch Iwand in seiner Hiob-Predigt zu Kap. 15-17: »Das große Leid vereinzelt [!] den Menschen«.
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nicht mehr unter der Bedingung unserer menschlich tiefsten Du-Ich-Beziehung, sondern da wird Gott unser Freund, damit wir allein ihn fürchten und uns allein auf ihn verlassen. Das ist Hiobs Weg in seinem Schreien zu Gott (Kap. 3). Iwand hat diese tiefe und existenzielle Wahrheit auch nach 1945 wiederholt: Nachdem Karl Barth ihm seinen Band der Kirchlichen Dogmatik zur Anthropologie (KD III 2) zugesandt hatte, bedankte sich Iwand in seinem Brief vom 5. 7. 1948, indem er sich ausdrücklich von der personalistischen Philosophie seines Göttinger Kollegen Fr. Gogarten distanzierte: »Das macht mir immer Kopfschmerzen bei dem Ich-Du-Verhältnis, das zu mir vom Hainholzweg [Gogartens Göttinger Wohnung] so mächtig und autoritär herüberblickt … Es darf das Ich nicht vom Du her sein, wenn es auch auf es hin sein muß, es darf das menschliche Du nicht jenen Rang erhalten, der dem allein zukommt, dessen Eigentum wir sind, … weil er allein eben dies, sein Eigentum, zu erhalten und zu erlösen weiß.« 12
4. Das Bekenntnis am Anfang und der Weg Hiobs im ganzen Hiobbuch Die Hiob-Exegese hat auf den scheinbaren Widerspruch des demütigen und dann rebellischen Hiob hingewiesen, der zwischen dem Hiob-Bekenntnis am Anfang (1,21; 2,10) und der Klage und dem Schreien Hiobs von Kap. 3 ff., denen zufolge Hiob sein Leiden herausschreit, besteht. 13 Iwand nimmt dies zum Anlass, zwischen dem Hiobbekenntnis am Anfang und dem weiten Weg, den Hiob zu einem Ziel zu gehen hat, zu unterscheiden: »Dass es auch Hiob nicht so leicht konnte, wie es zunächst den Anschein hat, werden wir im Folgenden sehen. Es wird uns trösten. Es wäre ja unmenschlich …, wenn er [Hiob] in scheinbarer Gleichgültigkeit diese Worte (1,21; 2,9) so spräche, wie wohl ein Mensch sagt: ›Hin ist hin, verloren ist verloren‹. So ist es nicht gemeint, wenn wir die Worte lesen: Hiob 1,21. Sondern das ist das Ziel. … Aber der Weg dahin ist weit«. So sind Kap. 1 und 2 der Auftakt und die Themaformulierung, Kap. 3-42 aber die Durchführung des Themas in der Darstellung des weiten Weges, den Hiob zu gehen hat.
12. H. J. Iwand, Brief vom 5. 7. 1948 an Karl Barth, Original im Karl Barth-Archiv in Basel. 13. R. Rendtorff (Anm. 4), 312.
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II. Die christologische und reformatorische Hiobdeutung Iwands Den Hiobpredigten des Jahres 1944 gehen drei Lutherstudien voraus, die Iwand in seiner Dortmunder Zeit (1938-1945) geschrieben hat: zunächst Iwands Kommentar zu Luthers Schrift über den geknechteten Willen, die er während seiner Gestapohaft verfasst hat (1938), sodann die für Martin Niemöller im KZ Sachsenhausen verfasste Studie »Glaubensgerechtigkeit nach Luthers Lehre« (1941) und schließlich der für die Festschrift zum 60. Geburtstag dem Freund und Neutestamentler Julius Schniewind gewidmete Aufsatz »Beitrag zur Lehre von Menschen« (1943). 14 Diese drei Beiträge zur Lutherforschung sind – Jürgen Seim hat darauf hingewiesen – ein Schlüssel zu Iwands christologischem und rechtfertigungstheologischem Hiobverständnis des Jahres 1944. 15
1. Hiob als ein Zeuge Jesu Christi Gerhard von Rad hat sich im Bd. I seiner Theologie des Alten Testaments – wie auch Iwand in seinen Hiob-Predigten von 1944 – auf die 1933 erschienene Studie des Alttestamentlers Wilhelm Vischer »Hiob, ein Zeuge Jesu Christi« berufen, und er hat Vischers Hinweis auf die göttliche Gerechtigkeit, die das juristisch-weisheitliche Verständnis der Gerechtigkeit zwischen Mensch und Gott, wie es die Freunde Hiobs vertreten, transzendiert, so interpretiert: Gott »ist so reich und so mächtig, dass er das Recht selbst setzt und gegen den Menschen immer Recht behält. An diesem Punkt wurzelt die kardinale Anfechtung Hiobs«. Von Rad spricht im Blick auf Hiob in reformatorischen Kategorien vom verborgenen Gott (deus absconditus), vom Feind-Gott, ja von der Teufelsfratze Gottes. 16 Von Rad hat im Bd. II seiner Theologie des Alten Testaments im Schlussteil zum Thema der »Vergegenwärtigung des Alten Testaments im Neuen Testament« zu Hiob ausgeführt: Hiob sei zwar nicht in so direkt christolo14. H. J. Iwand, Erläuterungen zu: Martin Luther, Vom unfreien Willen, München 2 1939, 287-371; ders. (Anm. 9); ders., »Sed originale per hominem unum«. Ein Beitrag zur Lehre vom Menschen (1943), in: EvTh 6 (1946/47), 26-43; wiederveröffentlicht in: (Anm. 9), GA II, 171-193. 15. J. Seim, Hans Joachim Iwand in Dortmund (1938-1945). Vortrag in der Ev. Akademie Mülheim/Ruhr vom 23. 11. 2001 (unveröffentlicht), 1-20. 16. G. von Rad (Anm. 3), Bd. I, 410-411; W. Vischer, Hiob, ein Zeuge Jesu Christi, ZZ 11 (1933), 386-414, wiederveröffentlicht in der Reihe »Bekennende Kirche«, Heft 8 (1934). – Vgl. zu W. Vischer die Dissertation von B. Schroven, Theologie des Alten Testaments zwischen Anpassung und Widerspruch, Neukirchen-Vluyn 1995, 169 ff.; St. Felber, Wilhelm Vischer als Ausleger der Heiligen Schrift. Eine Untersuchung zum Christuszeugnis des Alten Testaments, Göttingen 1999.
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gischer Weise – wie Vischer es wolle – als ein Zeuge Jesu Christi zu verstehen. Er hat aber dann zum Hiobbuch als Ganzem gemeint, dass es »doch auch etwas rätselhaft über sich Hinausweisendes« habe, und schließlich gefragt: »War denn das Ungeheure, das zwischen Hiob und Gott zum Austrag kommen wollte, damit erledigt, dass der Empörer von Gott zum Schweigen gebracht wurde und dass ein alter Mann Kinder und Herden wiedererstattet bekam?« 17 Nicht zuletzt im Hinblick auf die Hiob-Interpretation von Rads in seinem Weisheitsbuch von 1970 ist nicht zu übersehen, dass er sich ausdrücklich reformatorischer Terminologie bedient: »Es ging Hiob also vor allem anderen um die Glaubwürdigkeit Gottes. Um das Jahwe pro me eiferte er so maßlos«. In der Rahmenerzählung versteht von Rad »Hiob in der Funktion eines rechten Zeugen für Gott«, der Gott rechtfertigt (deum iustificare): »Ohne es zu wissen, hat Hiob mit seinen beiden Bekenntnissen (1,21 und 2,10) das ›Ehrenwort‹, mit dem sich Gott im voraus [vor dem Satan als Staatsanwalt] für ihn verbürgt hatte, gerechtfertigt«. 18 Das zu von Rad soeben Ausgeführte gibt Anlass, nach dem Recht und nicht zu schnell nach den Grenzen von Iwands christologischer und reformatorisch-rechtfertigungstheologischer Hiobinterpretation im Jahre 1944 zu fragen: Inwiefern ist Hiob von Iwand als Zeuge des angefochtenen, gekreuzigten und auferweckten Christus und der Rechtfertigung Gottes (deum iustificare) verstanden worden und in welchem Maß ist das legitim? Iwands Hochschätzung für W. Vischers christologische Auslegung des Alten Testaments kommt auch nach 1945 zum Ausdruck, als er von Bonn aus an H.-J. Kraus, der ihm sein Buch »Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments von der Reformation bis zur Gegenwart« (1956) zugesandt hatte, schreibt. In seinem Brief vom 26. 10. 1956 lesen wir: »Vielleicht aber – das möchte ich ja gerne – ist erst in den Händen und in der Auslegung der neutestamentlichen Gemeinde das Alte Testament wirklich das, wozu es bestimmt ist! Es ist der Jesus von Gott beigegebene Zeuge, damit er mit seinem Zeugnis nicht allein sei. Es enthält das Arsenal der Begriffe, um die Geschichte Jesu – ihr Geheimnis – zu begreifen! … Ich weiß [allerdings] nicht recht, wo die wahrscheinlich einfache und grundstürzende Entscheidung liegt, auf die die ganze Forschung des Alten Testaments zusteuert – daß Wilhelm Vischer sie gesichtet hat,
17. G. von Rad, Theologie des Alten Testaments Bd. II, München 1960, 329 ff., 331. 18. G. von Rad, Weisheit (Anm. 3), 286, 269.
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darin haben Sie recht! Auch wenn der Griff danach nicht schon das ihm vorschwebende Bild erfassen und herunterziehen konnte.« 19
2. Hiob als ein Zeuge des gekreuzigten Christus Stellen wir zunächst Iwands grundlegenden Satz aus seiner Bonner Christologievorlesung von 1959/60 an den Anfang: »Das Kreuz sagt uns, daß wir erst in diese Tiefe der Nacht hineingehen müssen, daß ohne diesen Preis, ohne diese Wüste, ohne diese Entbehrung allen Trostes und aller Gewissheit eben kein Mensch wirklich Gott findet … Mit dem Kreuz ist die sichtbare Gestalt des Fromm-Seins, des Mit-Gott-Seins, ist dieser ganze christliche Heilsoptimismus zerbrochen und sind Abraham und Jakob, sind die Psalmisten und Hiob, sind Jeremia und der zweite Jesaja gerechtfertigt«. 20 Schon im Zusammenhang der ersten Predigt kommt Iwand angesichts der »tiefen Abgründe des [Hiob-]Leidens« auf das »wirkliche Kreuz«, das Hiob zu erleiden hat, zu sprechen und charakterisiert das Leiden der ersten Prüfung Hiobs mit Hilfe des Textes vom jesajanischen Gottesknecht: »Aber das Kreuz (Hiobs) ist auch ein wirkliches Kreuz: ›voller Schmerz und Krankheit‹« (53,5). Das wiederholt Iwand bei der Charakterisierung des Leidens der zweiten Prüfung, in welcher es zu der umfassenden Vereinzelung und Vereinsamung Hiobs kommt. Iwand fährt nach dieser inneralttestamentlichen Interpretation des Hiobleidens mit Hilfe von Jesaja 53 christologisch fort: »Wir schauen hindurch ans Kreuz«. »Jesus Christus hat die Hiobfrage durchgelebt … Jesus Christus ist der einzige, der bei uns steht, wenn wir selbst in solche Anfechtung geführt werden«. Aber nicht nur hat Christus die Hiobfrage und Hiobanfechtung durchlitten, so dass uns nichts mehr von der Liebe Gottes scheiden kann (Röm 8,35-39), sondern in dem angefochtenen Gekreuzigten hat auch der Teufel, der Staatsanwalt Gottes, seine Wette verloren. Entsprechend formuliert Iwand zur zweiten Hiobprüfung: »In Jesus Christus ist der Mensch [erschienen], in dem Gott Recht bekommen hat. So ist Hiob der Zeuge des angefochtenen, des gekreuzigten Christus, der in der tiefsten Tiefe des Kreuzesleidens an Gott festhält und auch das Leiden aus Gottes Hand nimmt«. Dieses Verständnis Hiobs als eines Zeugen der Theologie des Kreuzes 19. H. J. Iwand, Brief vom 26. 10. 1956 an H.-J. Kraus, Original in der Sammlung J. Seim, Neuwied. 20. H. J. Iwand, Christologie, hg. von E. Lempp und E. Thaidigsmann, NWN 2, Gütersloh 1999, 231 ff., 408. – Sperrung von mir.
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zieht sich wie ein roter Faden durch die Hiobpredigten Iwands hindurch. Ich nenne nur wenige Beispiele: In der Predigt zu Hiob Kap. 4-7, der ersten Eliphasrede und Hiobantwort, gewinnt Hiob die Züge des gekreuzigten Christus, indem Eliphas Hiob auf sich selber verweist: Anderen hat er geholfen, deshalb müsste er jetzt auch sich selber helfen (4,3 f.). Darin wird Iwand zufolge die Situation des gekreuzigten Christus nach Mk 15,31 transparent. In der Predigt zu Hiob Kap. 8-10, der ersten Bildadrede und Hiobantwort, kommt Iwand auf das von außen nicht unterscheidbare Leiden als Strafe für vorausgegangene Schuld einerseits und das Leiden als Anfechtung infolge der Prüfung des Gerechten andererseits zu sprechen: »Wer weiß, was uns im Leidenden begegnet, ob das Strafe ist oder Prüfung? Wer hat so scharfe Augen, das zu sehen … Was für ein Unterschied ist äußerlich gesehen zwischen den drei Gestalten, die an den drei Kreuzen auf Golgatha hingen?« Iwand hat von der Wirklichkeit des Gerichtsleidens als Folge unseres bösen Tuns und also von der Wahrheit des von der Weisheit betonten TunErgehen-Zusammenhangs in der Zeit des Jahres 1944 durchaus gewusst. So weist er in seiner Predigt am Pfingstsonntag über Ezechiel 37 nach den schweren Luftangriffen auf Dortmund vom 5. Mai 1943 auf folgenden Weisheitssatz hin: »Alles Aufbauen, das ohne Gott geschieht, wird umsonst sein«. Er zitiert dabei Ps 127,1: »Wo der Herr nicht das Haus baut, da arbeiten umsonst, die daran bauen«. Und er fragt seine Dortmunder Gemeinde: »Sollten wir das nicht wieder begriffen haben?« Iwand bezog sich damit indirekt auf Hitlers Wahlkampfrede am Vorabend der Reichstagswahl am 4. März 1933 in Königsberg, die über alle Radiosender in Deutschland ging und die Hitler mit diesem Psalmzitat schloss. 21 In seiner 21. H. J. Iwand (Anm. 1), 108-113, 110; vgl. J. Seim (Anm. 2), 288. Den mündlichen Hinweis auf den implizit politischen Bezug von Iwands Predigt vom 28. 5. 1944 über Ez 37 auf Hitlers Wahlkampfrede vom 4. 3. 1933 in Königsberg verdanke ich G. den Hertog; vgl. J. Seim (Anm. 2), 115. Zu Psalm 127 weise ich noch auf folgende Literatur hin: M. Koschorke (Hg.), Geschichte der Bekennenden Kirche in Ostpreußen 1933-1945: Allein das Wort hat’s getan, Göttingen 1976, 94. Wichtig ist, dass Iwand in den Jahren, die dieser Predigt über Ez 37 aus dem Jahre 1944 vorangingen, mehrmals – verhüllt – auf Psalm 127,1 hingewiesen hat: H. J. Iwand, Die Predigt des Gesetzes, in: Evangelische Theologie I/1934, 56 (auch in: H. J. Iwand, Glaubensgerechtigkeit. Gesammelte Aufsätze II [Anm. 9], 146); Ders., Um Einheit und Reinheit der Bekennenden Kirche, in: K. D. Schmidt (Hg.), Dokumente des Kirchenkampfes II, 1. Teil, Göttingen 1964, 283 (auch in: H. J. Iwand, Briefe, Vorträge, Predigtmeditationen. Eine Auswahl, hg. von P.-P. Sänger, Berlin 1979, 196). Nach dem Krieg äußerte sich Iwand ebenfalls dazu: Geistige Entscheidungen lassen sich nicht vertagen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2/1957, 383 (auch
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bisher unveröffentlichten Gedenkrede auf Julius Schniewind (1883-1948) vom 16. 5. 1949 in Berlin hat Iwand an diese Königsberger Wahlrede Hitlers erneut erinnert und hinzugefügt: »Nie hat er [Hitler] ein wahreres Wort gesprochen – er wusste nur nicht, dass er sich mit diesem Worte selbst das Gericht gesprochen hatte!« Iwand hat dieses Gerichtsleiden dann erst recht nach dem Untergang der Nazi-Diktatur z. B. in seinem Entwurf zum Darmstädter Wort mit dem an Jesaja 53 orientierten Bekenntnis »Wir sind in die Irre gegangen« deutlich zur Sprache gebracht. 22 Iwand hat in seinen Hiobpredigten die äußerliche Ununterscheidbarkeit zwischen einem Gerichtsleiden und einem Leiden aus Prüfung so ernst genommen, dass er in der Predigt über die erste Zopharrede und Hiobantwort (Kap. 11-14) auf diesen Punkt seelsorglich zurückkommt. Iwand, der also von der Wahrheit des Tun-Ergehen-Zusammenhangs und also vom Leiden infolge der Gerichte Gottes wusste, hat dennoch die Hiobsituation auch im Jahre 1944 ausdrücklich und eindrücklich festgehalten: »Es wäre nicht schwer, heute einer ganzen Menge von Menschen so zu predigen, wie es Zophar tut. Aber wenn nur einer [!] darunter wäre, der wirklich so litte, wie Hiob leidet, … wenn nur einer darunter wäre, der so litte, dass Gott ihn selbst in dieses Leiden und in dieser Anfechtung stößt, der könnte eben darum, weil er ein Freund Gottes ist, … niemals solchen Rat annehmen, denn dieser Rat ist trotz aller scheinbaren Frömmigkeit ein böser Rat und ein schlechter Trost«. Dieser »eine, der darunter wäre« und auf den das Gerichtsleiden nicht zuträfe, könnte in der Situation des Jahres 1944 zum Beispiel der jüdische Landgerichtsrat Hans Werner Perls gewesen sein, dessen Frau zu Iwands Predigten kam und die Iwand für ihren von den NS-Behörden in Dortmund verfolgten Mann um Hilfe bat. 23 Unter diesen, die darunter wären, könnten auch die russischen Frauen und Männer gewesen sein, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt worden waren und deren in: B. Klappert/U. Weidner, Schritte zum Frieden. Theologische Texte zu Frieden und Abrüstung, Wuppertal/Gladbeck 1983, 161): »In Gottes Hand hat auch der ›Führer‹ bei seiner leider längst vergessenen Ansprache im Schloßhof zu Königsberg im März 1933 das Schicksal seiner Regierung gestellt, als er seine Ansprache mit den Worten des 127. Psalm eröffnete: ›Wo der Herr nicht das Haus baut, da arbeiten umsonst, die daran bauen!‹ Heute schreien die Steine jenes Preußenschlosses uns zu, was bei solchem Glauben herauskommt, weil wir zu feige waren, diesem falschen Gott die Maske abzureißen.« 22. H. J. Iwand, Entwurf zum Darmstädter Wort zum politischen Weg unseres Volkes vom 5./6. Juli 1947, in: B. Klappert, Bekennende Kirche in ökumenischer Verantwortung, München 1988, 115 f. 23. J. Seim (Anm. 15), 15 f.
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Schicksal im Ruhrgebiet und speziell in Dortmund Iwand vor Augen stand, auch die holländischen ZwangsarbeiterInnen, die außerhalb Dortmunds in einem Lager untergebracht waren und die Iwand kannte. 24
3. Hiob als Zeuge der Gerechtigkeit Gottes Der Weg Hiobs kommt, so schildert es Iwand in der abschließenden Predigt, in Kap. 38-42 zu seinem Ziel: Hiob hat mit Gott gerechtet, d. h. Gott zum Rechtsstreit aufgefordert (Kap. 31). Er hat Gott gerechtfertigt (deum iustificare) und Gott die Ehre gegeben, indem er zugleich sich – nicht im Sinne der nachrechnenden Gerechtigkeit der Freunde, wohl aber im Gegenüber zu Gott – schuldig gesprochen und Buße getan hat (38,1-42,6): »Darum widerrufe ich« (42,6). Er hat von Gott die Rechtfertigung in der zeichenhaften Wiederherstellung erfahren, gegenüber den Freunden und in der Wendung seines Leidens (42,7-17). Für das Verstehen von Iwands Hiob-Predigten im Ganzen ist es aber nun wichtig, die folgenden Sätze seiner letzten Predigt über Kap. 38-42 nicht misszuverstehen: Gott ist plötzlich »da in seiner alles überragenden Majestät. Das Ich des Menschen wird ganz klein, in jeder Frage, die Gott stellt, wird das Ich des Menschen ausgestrichen [!] und das Ich Gottes wächst und wächst über alle Maße hinaus … Gottes Ich wird so groß, dass es in keinem Verhältnis mehr steht zum Ich des Menschen«. Diese Sätze meinen im Sinne Iwands nicht die unbiblische Alternative: Gott ist alles und der Mensch ist nichts! Sie sind vielmehr im Sinne der reformatorischen Religionskritik Luthers gemeint und beziehen sich ausschließlich auf die Beseitigung des religiösen Ich, das in Gott letztlich nur sich selbst sucht und damit Gott zu selbstsüchtigen Zwecken missbraucht. J. Ebach hat im Blick auf Hiob Kap. 38 ff. zu Recht gemeint: »Diese nicht-anthropozentrische Sicht auf die Schöpfung … durchzieht die Gottesreden des Hiobbuches und wird bei der weiteren Auslegung zu beachten sein.« 25 Iwand predigt diese nicht-anthropozentrische, wohl aber theozentrischanthropologische Dimension der Schlusskapitel des Hiobbuches so: »Alles Mögliche und Unmögliche kommt in diesen Schlussreden des Hiobbuches im Munde Gottes vor, nur einer fehlt, der Mensch. Die Welt dreht sich um Gott und nicht um den Menschen. Gott ist das Maß aller Dinge und nicht der Mensch. Gott ist um seiner selbst willen da und nicht nur einer, der für den Menschen da ist«. 24. J. Seim (Anm. 2), 270 f., 283. 25. J. Ebach (Anm. 4), Teil 2, 126.
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Gott um seiner selbst, um seines eigenen selbstsüchtigen Zweckes suchen und brauchen oder Gott um Seiner Selbst willen fürchten und lieben: das ist die entscheidende biblische und reformatorische Alternative, vor die das Hiobbuch die Gemeinde des Jahres 1944 Iwand zufolge stellt. Hiob als der Zeuge des angefochtenen, gekreuzigten und des von Gott in seiner Gerechtigkeit auferweckten Christus wird so in Kap. 38-42 zuletzt zum Angeredeten und Adressaten Gottes selbst: des Gottes, der als Schöpfer, Versöhner und Erlöser um Seiner Selbst willen gefürchtet und geliebt werden will. Indem Gott Hiob diesen Weg führt, wird Hiob zum Zeugen der Gerechtigkeit Gottes: – einer weisheitlichen Gerechtigkeit Gottes, die Hiob in seinem Reinigungseid (Kap. 31) bestätigt und mit seinen Freunden teilt; – einer die menschlich-göttliche Gerechtigkeit der Freunde transzendierenden, schenkenden Gerechtigkeit Gottes, die keinen Grund in Hiobs eigenem Gerechtsein hat, sondern eine rein schöpferliche und schenkende Gerechtigkeit ist (38,1-42,6); – einer schenkenden Gerechtigkeit Gottes, die aber doch die Frömmigkeit und Gerechtigkeit Hiobs dem Satan und den Freunden gegenüber rechtfertigt und die Freunde Hiob gegenüber ins Unrecht setzt (42,717).
4. Deuterojesaja, Genesis 22 und der Weg Hiobs Wie Iwand so hat auch H.-J. Kraus die Wende von Hiobs Leiden im Licht der Prophetie Deuterojesajas gedeutet, indem er auf eine Fülle von inhaltlichen und sprachlichen Entsprechungen zwischen Deuterojesaja und Hiob aufmerksam gemacht hat: Der Sturzbach von Gottesfragen an Hiob hat seine Entsprechung in Jes 40,12 ff. Die Zurückweisung der rebellischen Anfragen und Anklagen Hiobs hat ihre Entsprechung in Jes 45,9 ff. Dass Hiob den Gott der Verheißung, den Gott als Schöpfer, Rechtszeugen und als »Löser« gegen Gott in seiner Verborgenheit und Rätselhaftigkeit anruft, hat seine Parallele in Jes 45,15, wonach gerade der sich vor Israel verbergende und verborgene Gott »der Erlöser (!) Israels ist«. Schließlich und nicht zuletzt hat die Rede von Hiob als »Knecht Gottes« (in Hiob 42,7-9 gleich viermal!) ihre unmittelbare Parallele in Deuterojesajas Reden vom Gottesknecht und von Israel als Knecht Gottes (Jes 53 u. ö.). Daraus folgert Kraus: »Im Kontext des Gottesbundes steht also alles, was da [mit Hiob] geschah. Es sind die im Gottesvolk [Israel] ausgetragenen Leiden und
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Kämpfe, von denen im Buch Hiob die Rede ist, nicht aber [allgemeine] Theodizee-Fragen.« 26 Eine von daher an die ganze Interpretation Iwands von Hiob als dem Zeugen des gekreuzigten Christus und der Gottheit Gottes, der die Toten auferweckt, zu stellende Frage wäre die folgende: Hiob ist ein Mensch aus der Völkerwelt, ein gerechter Noachide, im weisheitlichen und von der Schöpfung bestimmten Kontext: »Hiob … ist Nichtisraelit«. M. a. W.: »Insofern Hiob nach einer talmudischen Meinung zu den Frommen der Weltvölker [d. h. zu den Noachiden] zählt«, resultiert »die Spannung, die Hiob auszuhalten hat, … entscheidend aus seiner Weigerung, einem dualistischen Denken zu verfallen, das der Macht Gottes das Gute und der Macht des Satan das Böse zuordnet«. 27 Die Entsprechung zu Hiob ist im Kontext Israels und der »Anfechtungen Israels« 28 die Prüfung Abrahams und die Bindung Isaaks. Das Kap. Gen 22 ist das partikulare Urbild innerhalb Israels, dem im Hiobbuch das universal-menschheitliche, noachidische Abbild entspricht. Christus wiederholt nach dem Neuen Testament nicht als Rebell, der Gott herausfordert, den Weg Hiobs, sondern er wiederholt den Weg Isaaks, die Aqeda (Mk 1,11; 9,7; 12,6; 14,36). Deshalb gibt es auch in der neutestamentlichen Passions- und Ostergeschichte keinen Hinweis auf Hiob, wohl aber in umfassender Weise einen Bezug auf Isaak, dessen Weg Jesus in seiner Passion und Auferwekkung wiederholt. 29 Mit dem Kreuz Christi ist also zuerst der Leidens- und Prüfungsweg Isaaks und von daher auch der Leidensweg Hiobs gerechtfertigt. In diesem Sinne müsste Iwands wegweisender Grundsatz aus seiner Bonner Christologie-Vorlesung, in welcher er zu Recht für eine alttestamentliche Grundlegung der Kreuzestheologie eintritt, 30 ergänzt und präzisiert werden: Mit dem Kreuz Christi ist die sichtbare Gestalt des FrommSeins zerbrochen und sind Abraham und Isaak (Gen 22), 31 sind die 26. H.-J. Kraus, Systematische Theologie im Kontext biblischer Geschichte und Eschatologie, Neukirchen-Vluyn 1983, 299 ff., 300. 27. J. Ebach (Anm. 4), Teil 1,3; K. Müller, Tora für die Völker, SKI Bd. 15, Berlin 1994, 106. 28. G. von Rad (Anm. 3), 381 ff. 29. B. Klappert, Der Gott Israels im gekreuzigten Christus, in: »Das Maß ist uns gegeben«. Die Theologie des Kreuzes als Maß protestantischen Denkens und Handelns. Symposion anlässlich des 5. Todestages von P. Beier, Neukirchen-Vluyn 2002, 4786, bes. 67 ff. 30. H. J. Iwand, in: B. Klappert, Diskussion um Kreuz und Auferstehung, Wuppertal 1967, 6 1992, 289, und in: (Anm. 20), 408. 31. Iwand wird bei dem Verweis auf Abraham an Gen 12 und 15 gedacht, nicht aber Gen 22 im Auge gehabt haben.
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Psalmisten (Ps 22) 32 und Hiob, 33 sind Jeremia mit seinen Klageliedern 34 und Deuterojesaja (Jes 53; 45,15) 35 gerechtfertigt. 36
32. H. J. Iwand, Theologia Crucis, Vorträge und Aufsätze, NW 2, hg. von D. Schellong und K. G. Steck, München 1966, 381 ff. 33. Zum inneralttestamentlichen und pharisäisch-rabbinischem Zusammenhang von Abrahamprüfung und Isaak-Aqeda einerseits und Hiob-Prüfung andererseits vgl. R. Rendtorff (Anm. 4), 314, 329; W. Zimmerli, Meditation zu 1. Mose 22,1-14, in: Herr, tue meine Lippen auf, Bd. 5, hg. von G. Eichholz, Wuppertal 3 1964, 266-276; M. Krupp, Den Sohn opfern? Die Isaak-Überlieferung bei Juden, Christen und Muslimen, Gütersloh 1995, und L. Kundert, Die Opferung/Bindung Isaaks, 2 Bde., Neukirchen-Vluyn 1998. 34. Jeremia Kap. 20, Teil der Klagelieder Jeremias, und Hiob Kap. 3 gehören eng zusammen. 35. R. Rendtorff (Anm. 3), 320. 36. H. J. Iwand hat sich auch nach 1945, insbesondere in seinen Predigtmeditationen zu atl. Texten, zustimmend auf das Buch und Konzept von W. Vischer, Das Christuszeugnis des Alten Testaments, Bd. I 1934, Bd. II 1942, berufen: So zitiert er zu 2 Kor 1,20 Vischers These: »Die Bibel kennt weder einen historischen Jesus noch eine Christusidee, sondern nur den Christus Jesus, der als solcher doppelt bezeugt wird, vom Alten und vom Neuen Testament« (in: H. J. Iwand, Predigt-Meditationen Bd. I [1963], Göttingen 2 1964, 165). In seiner Karfreitagsmeditation zu Jes 43,22-26 schreibt Iwand: »In den beiden Versen 24b.25 liegt das von Gott her gesetzte Motto für die ganze Geschichte Jesu – für den Karfreitagscharakter dieser Geschichte. Das Alte Testament liefert uns die Elemente zum Verstehen dessen, wer Jesus ist, daß und wie er der Christus Gottes ist! (W. Vischer)« (PM I 383). In seiner letzten Meditation zu Acta 13,42-52 aus dem Jahre 1960 beruft sich Iwand »für das theologische Recht dieser beim AT ansetzenden Christologie« gegen Schleiermacher und Ritschl insbesondere auf W. Vischer: »In diesem Sinne hat dann auch W. Vischer in seinem immer noch bedeutenden Buch ›Das Christuszeugnis des (nicht im!) AT‹ das Steuer herumgeworfen. So wurde unter dem Aspekt der Christusbotschaft das AT neu verstanden … Das AT wird nicht einfach von der Christenheit übernommen, sondern es wird von Jesus Christus, dem gekreuzigten und auferstandenen her neu erschlossen! Es wird besser verstanden, als es sich selbst verstand. Das AT erlebt im NT seine entscheidende Renaissance. Die Geschichte Jesu ist das Ja und Amen [2 Kor 1,20] der ganzen Bundesgeschichte, nur so kann sie [die Geschichte Jesu] begriffen und nacherzählt werden« (PM I 693). – Von der hermeneutischen Erkenntnis einer doppelten Nachgeschichte der Hebräischen Bibel bzw. des Alten Testaments im Judentum und im Neuen Testament (R. Rendtorff) ist Iwand mit diesem an W. Vischer orientierten Verständnis noch weit entfernt. – Weitere zustimmende Hinweise auf W. Vischer finden sich in PM I 409-414, 531. – Verweise Iwands auf Hiob finden sich in PM I: Hi 16,2 (92), 16,20 (405), 27,11 (505), 28,28 (168), 38,4-11 (525).
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Editorisches Nachwort zur Homiletik Rudolf Landau
I. Daß eine Homiletik-Vorlesung Hans Joachim Iwands, gehalten im Sommer 1937 »im Predigerseminar der Bekennenden Kirche in Bloestau (Ostpreußen)« vorhanden sei, erfuhr man aus Helmut Gollwitzers Vorwort zu dem von ihm herausgegebenen Band mit Predigten Iwands. 1 Ein Exemplar der Nachschrift wurde 1981 Eberhard Kerlen und mir von Dieter Pauly, Mönchengladbach übergeben. Der Kaiser-Verlag, vormals München, schloß mit uns einen Herausgebervertrag ab, die Vorlesung sollte als Einzelband ediert werden. In einer Wort-für-Wort-Lesung erarbeiteten Eberhard Kerlen und ich ein Manuskript, das dann in mehreren Tagungen des von mir 1976 in Heidelberg gegründeten »Iwand-Kreises« gelesen und diskutiert wurde. Im Sommer 1984 habe ich den Apparat erstellt, Texte nachgewiesen und ergänzt. Das Manuskript wurde dem Iwand-Archiv in Beienrode übergeben. Aus diversen Gründen war es jedoch nicht möglich, das seit 1985 fertig redigierte Manuskript zum Druck zu bringen. Im Jahre 2000 überarbeitete Günter Seyfferth, der 1966 die »Homiletik« von Karl Barth zum Druck besorgt hatte 2 , den Text und erfaßte ihn in der heute vorliegenden Form. Mit dem Manuskprit wurde inzwischen gearbeitet und es wurde wohl auch in verschiedenen Arbeiten über Iwands Homiletik zitiert 3 .
II. Wurde handschriftlich auf dem uns überlieferten Manuskript die Entstehung auf »Bloestau Sommer 1937« datiert – was der Mitteilung Gollwitzers 1. 2. 3.
NW 3, 7. Vgl. Karl Barth, Homiletik, Zürich 1966 (Imprint). So eine Mitteilung im Brief vom 5. 5. 1994 von Peter Sänger an den Herausgeber. Vgl. auch: Albrecht Grözinger, Die Homiletik Hans Joachim Iwands, in: B. Klappert/ M. Schulze (Hg.), Aus der Umkehr leben, Neukirchen 2001, S. 183-197.
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Nachworte
entspricht, so war es mir nicht möglich, den/die Nachschreibend/en zu ermitteln. Zu einer kriminalistischen Exkursion gar geriet die Nachfrage bei damals Beteiligten über die Homiletik-Vorlesung! Dass Iwand zur selben Zeit eine Vorlesung über Gesetz und Evangelium gehalten hat, ist mit der Herausgabe dieser Vorlesung dokumentiert 4 . Über die Zeit in Bloestau informiert minutiös die Iwand-Biographie von Jürgen Seim 5 , die zu allen historischen, kirchen- und theologiegeschichtlichen und biographischen Fragen heranzuziehen ist. Schriftliche Nachfragen bei den in Bloestau und Jordan mitarbeitenden Inspektoren und Vikaren Sup. Helmut Barutzky, Prof. Dr. Helmut Gollwitzer, Prof.Dr. Gerhard Friedrich, Prof. Dr. Wilhelm Hahn, OKR Dr. Hugo Maser, Prof. Dr. Otto Plöger, Prof.Dr.Hans Werner Surkau ergaben 1984 6 die unisono Mitteilung, dass man wohl noch wisse, es habe neben der – allen Befragten in deutlicher Erinnerung seienden – Vorlesung über »Gesetz und Evangelium« regelmäßige homiletische Übungen gegeben, aber von einer Homiletik-Vorlesung war keinerlei genaue Kenntnis erhalten. H. Maser teilt mit: »Ich war vom 15. April 1937 bis 15. März 1938 Studieninspektor des Predigerseminars der Bekennenden Kirche Ostpreußen … In dieser Zeit wurden 2 Kurse gehalten … Bei diesem Kurs hielt Iwand die in Bd. 4 seiner nachgelassenen Werke veröffentlichte Vorlesung »Gesetz und Evangelium«. Außerdem hielt Iwand wöchentlich homiletische Übungen (ohne Konzept!) zu einzelnen Perikopen in Rede und Gegenrede, so daß davon kein Manuskript vorhanden sein kann. … Wenn es sich um eine ausgesprochene Homiletik-Vorlesung handelt, die in Bloestau gehalten wurde, so kann es sich nur um eine vor April 1937 gehaltene Vorlesung handeln. … Ich bin überfragt« 7 Vorerst ist die Frage nach der Entstehung des Manuskriptes also mE nicht zu beantworten 8 . Sprachduktus und Inhalt lassen aber keinerlei Zweifel zu, dass diese Vorlesung von Hans Joachim Iwand gehalten wurde.
4. 5.
6. 7. 8.
NW 4. Jürgen Seim, Hans Joachim Iwand. Eine Biografie, Gütersloh 2 1999, vgl. vor allem S. 151-218. Dort im Bildteil zwischen S. 164/165 ein Bild von Vikaren, die die Vorlesung »Gesetz und Evangelium« ins reine schreiben! Namen werden jedoch in der Homiletik-Vorlesung keine genannt, so daß es ein zufälliger Fund sein dürfte, kämen die »Nachschreiber« namentlich zutage. Briefe beim Herausgeber Brief Hugo Maser vom 17. 8. 1984. Entsprechende Nachrichten werden vielleicht nach dieser Veröffentlichung eingehen!
Iwand 5 / p. 563 / 3.5.2004
Editorisches Nachwort zur Homiletik
551
III. Die mit Eberhard Kerlen im Winter 1980/1981 erstellte Überarbeitung des uns vorliegenden maschinenschriftlichen Manuskriptes, die im Sommer 1984 von mir durch Nachweise und Anmerkungen ergänzt und abgeschlossen wurde, befolgte folgende Regeln: Die Zwischenüberschriften wurden vom Hg. formuliert. Bibelttexte, die Iwand zitiert (meist nicht vollständig) oder mit wenigen Worten »antönt«, wurden ausgeführt und die dazu gehörende Stellenangabe werden kursiv gedruckt vorangestellt. Bibelstellen, auf die er anspielt, werden mit dem Verweis vgl. in Klammern angegeben. Zitate werden, soweit möglich, nachgewiesen. Iwand zitiert meist aus dem Gedächtnis und frei. Anspielungen, soweit erkennbar, vor allem, wenn namentliche Erwähnung von zeitgenössischen Autoren vorliegt, werden nachgewiesen. Sätze, die verstümmelt oder abgekürzt waren (nachschriftlich bedingt!), wurden von uns behutsam in eine lesbare und verständliche Fassung gebracht. Wir haben uns bemüht, »das gesprochene Wort« möglichst unverändert, wie es nachgeschrieben wurde, zu belassen. Die Literaturhinweise wurden für diese Edition nicht mehr ergänzt! Ich bin meinem Freund Dr. Eberhard Kerlen großen Dank schuldig, und ich habe sehr zu danken den Mitgliedern des – noch bestehenden – IwandKreises aus Heidelberger Zeiten und Pfr. i. R. Günter Seyfferth für die endgültige und vorbildliche Erfassung des Manuskriptes.
Iwand 5 / p. 564 / 3.5.2004
Iwand 5 / p. 565 / 3.5.2004
Abkürzungen
GA GA I GA II NW NW 1 NW 2 NW 3 NW 4 NW 5 NW 6 NWN NWN 1 NWN 2 NWN 3 PM PM I PM II
Hans Joachim Iwand, Gesammelte Aufsätze Um den rechten Glauben Glaubensgerechtigkeit Hans Joachim Iwand, Nachgelassene Werke Glauben und Wissen Vorträge und Aufsätze Predigten Gesetz und Evangelium Luthers Theologie Briefe an Rudolf Hermann Hans Joachim Iwand, Nachgelassene Werke Neue Folge Kirche und Gesellschaft Christologie Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts Hans Joachim Iwand, Predigtmeditationen Predigtmeditationen Predigtmeditationen Zweite Folge
Biogr. Jürgen Seim, Hans Joachim Iwand. Eine Biografie Iwand-Studien Ders., Aufsätze und Briefwechsel Hans Joachim Iwands mit Georg Eichholz und Heinrich Held
Iwand 5 / p. 566 / 3.5.2004
Iwand 5 / p. 567 / 3.5.2004
Register
Die Register weisen Bibelstellen und Namen nach. Iwands Sprache ist voller Zitate und Anspielungen. In den vorliegenden Predigten notiert er mitunter Bibelstellen und nennt die Namen zitierter Autoren. Meist aber fließen die Zitate und Anspielungen ungenannt in den Text ein. Das Register erfaßt sie so weitgehend wie möglich. Auf diese Weise lassen sich Bibelstellen und andere Autoren erschließen und über die Register der anderen Bände ihr Vorkommen bei Iwand feststellen. Die Namen sind in der überwiegenden Mehrzahl Personennamen. Ein Ortsname wie Heidelberg verweist auf einen theologischen Zusammenhang: den Heidelberger Katechismus. Namen können die handelnder Personen sein – wie Karl der Große oder der Bischof von Rhegium: Augustin – oder aber verschwiegener Autoren – wie Ludwig Allendorf, Dichter des Liedes: Jesus ist kommen; das muss man im Einzelfall nachsehen. Für Luther gilt beides, aber Heinrich Held ist nicht der mit Iwand befreundete rheinische Präses, sondern der Dichter des Liedes: Gott sei Dank durch alle Welt. Bibelstellen als Predigttexte werden bei der Seitenangabe kursiv ausgewiesen. Das alles gilt in der Hauptsache für die Predigten, deren Charakter es verbietet, die Nachweise im Text einzuarbeiten. Bei der Homiletik-Vorlesung ist das anders, R. Landau hat seine Bearbeitungs-Regeln aufgelistet. Die von ihm nachgewiesenen Gesangbuch-Zitate erscheinen gleichwohl unter den Autoren-Namen, außerdem sind einige nicht nachgewiesene Bibelstellen ins Register aufgenommen. Berücksichtigt sind nur Iwands Texte, nicht die der Bearbeiter. J.S.
Iwand 5 / p. 568 / 3.5.2004
Bibelstellen
Genesis = 1. Mose 3 3,1 3,5 3,8 3,19 3,22 3,24 4 4,9 4,10 4,15 6,6 9,9 9,13 11,1-9 15,5 19,26 28,12 32,23-32 32,25 32,27
63 324 187, 195 131 20, 28, 99, 306 233 168 75 f., 80 80, 413 197 80, 414 59, 111 247 247 192 100 230, 300 118, 161 479 14 32
Exodus = 2. Mose 3,5 4,10 15,26 16,3 17,5 f. 19 f. 20 20,2 20,3+5
199, 210 463 35 208 488 139 125 365 207
Leviticus = 3. Mose 13 f. 19,2
359 86
Numeri = 4. Mose 12,10 21,4-9
359 233, 303
Richter 7,2 12,6
399 207
1. Samuel 2,6 3,9 f. 3,10 15,7
323, 349 446 21 189
2. Samuel 12,1-4
391
1. Könige 13 f. 18 18,21 18,38+40 19,11 f.
66 125 101, 210 146 384, 404
Hiob 1,21 42,17
3-39, 359 242, 249, 267 237, 267
Psalmen 4,4 8,2 8,5 14,1 19,2 23,4 f. 24,1 31,16 33,9 36,8 42,2 f. 42,3 46 50,15 62,6 73 73,8 73,25
489 479 435 34 79, 392 34 173 154 90, 497 101, 185, 200 213 86 38 40-43 46, 262 37 25 364 42, 88
Iwand 5 / p. 569 / 3.5.2004
557
Bibelstellen 90 90,4 90,5 f. 90,6 90,7 91,7 94,14 98,1-3 98,3 102,4 102,20 f. 104,27 104,30 f. 110 113,9 115,3 118,22 118,24 121,1 126,1 f. 126,5 130,1 135,4 143,2 147,15
256-263 90 169 285 28, 211 388 434 44-48 298 65 229 341 37 492 478 113 62 149 197 38, 176, 231 268 153 434 211 56
Sprüche 9,10 16,9 25,14
392 264 465
Prediger 1,7 1,9 3,1-8 5,1 7,3 12,1 12,13
112 112, 285 264, 391 167 9 28 381
Hohes Lied 8,6
372 262, 266
Jesaja 2,4 2,12 6,5 7,14 11,1
43 62 119 280 101
25,7 28,5 28,15 28,16 29,13 30,15 31,3 32,15 35,1+7 35,19 38,17 40,1 40,3 40,4 40,6 40,28 40,30 40,31 41,18 42,3 43,1 43,19 45,9 48,22 52,5 52,7 53 53,2 53,3 53,4 53,5 54,1 55,8 f. 55,11 60,2
256 343 65 248, 343 85, 288 264 382 447 447 360 175 452 60 f., 141 140 f., 149 211 287 315 107 447 68, 79, 116, 194, 452 129, 185 447 5 95 84 321, 426, 435 492 6 5 f. 6, 8, 17, 376 305, 389 478 238, 249 475 244
Jeremia 1,1-8 1,4+9 1,10 3,15 5,1-5 9,13 f. 11,8 13,10 15,10-21 16,12 18,12 20,7-18 23,17
420 463 322 276 480 448 448 448 480 448 448 421 448
Iwand 5 / p. 570 / 3.5.2004
558 23,25-32 23,28 29,11 31,31-34
Register 465 420 237-240, 299 434
Klagelieder 3,12 3,17
26, 211 26
Hesekiel 2,34 3,7 11,19 18,23 34,3 36 36,20 37 37,2
448 448 311 85 135 349 84 49-57, 452 f. 176
Daniel 2,33 5,2 5,27
313 487 152
Hosea 1-4
474
Joel 3
492
Amos 3,8 4,11 5,20 7,1-9
59 256 193 58-66
Jona 4
479
Micha 6,8
361
Sacharja 9,8+10+12 9,9
94 94
Maleachi 3,24
101
Weisheit 11,26
65
Matthäus 1,23 2,1-12 3,2 3,4 3,5 3,9 3,10+12 3,11 3,12 4,17 5-7 5,3 5,3-7 5,4 5,5 5,6 5,7 5,8 5,9 5,11 f. 5,13-15 5,15 5,16 5,17 5,21-26 5,22 5,25 5,26 5,38 5,44 5,45 6,2 6,9 6,10 6,12 6,19 6,20 6,24 6,24-34 6,25 6,31 6,33 6,34 7,1 7,2 7,3
113 99 104 152 371 74, 149, 479 140, 152, 154 150 147, 388 402, 483 350, 374, 457 67, 200, 447 196 67 67 68, 91 68 239 67-72, 257, 261 73, 481 73-74 116, 184, 413, 431 74 77, 361 75-83, 413 65 411 193 81 414 36 69 84-86 118, 413, 426 413 69 391 176 87-92 63 52, 313 203 264 484 80, 409 119, 409
Iwand 5 / p. 571 / 3.5.2004
559
Bibelstellen 7,13 f. 7,15 7,24-27 7,29 8,10 8,23-27 8,26 8,31 9,2 9,2-7 9,37 10,24 10,28 10,32 10,34 11,5 11,11 11,15 11,19 11,28 12,34 12,39 12,41 13,13-16 13,39 13,41 13,44 ff. 14,22-32 14,25 14,31 16,4 16,6 16,17 16,18 16,19 17,20 17,22 18,7 18,17 18,20 18,21 18,23-35 19,14 19,21 19,26 20,1-16 20,16 20,28 21,1-9 21,9
176, 243, 399 458 f. 30, 202 88 364 318, 342 172 172 108, 160 342 388 170, 220 320 247-250 429 135, 298, 369 104, 155 445 368, 372, 376 119 96 499 372 505 388 482 186, 448 342 160 172 499 377 106 123, 179 326 198 293 482 367 222, 399 140 81, 327 172 59, 186, 209 386 430 119, 186 293 93-97 101
21,12 ff. 21,31 21,33-46 22,1-14 22,12 23 23,3 23,8 23,13 23,23 23,24-36 23,37 24 24,11+24 24,35 24,36 24,41 25,35 f. 25,36 25,41 26,28 26,52 26,61 26,69 27,40 27,45 27,46 27,51 28,2 28,16-20 28,18 ff. 28,20
172 368 482 428, 447 199 457 379 203 327 369 481 54, 480 459 458 61 479 477 268, 401 81 256 483 121 426 126, 383 171, 426 171 171, 221 161, 298 185 333 425 320, 443
Markus 1,4 1,15 1,29-34 1,40-45 2,1-12 2,5 2,7 2,10 2,17 2,20 3,6 3,22-27 4,13-20 4,21 4,23 4,26-29
483 102, 435, 483 483 483 448 451 326, 444 327 119 444 444 483 439 73 445 444, 478
Iwand 5 / p. 572 / 3.5.2004
560
Register
4,35-41 5,1-20 5,21-43 5,25-34 5,41 f. 6,28 6,31-44 6,45-52 7,13 7,15 7,24-30 7,34 7,37 8,38 9,14-29 9,24 10,45 10,46-52 12,1-12 12,7 14,27 14,38 15,28 15,31 16,7 16,17-20
503, 505 483 503 483 451 106 502 505 85 295 471 488 175 73 483 125, 453 406 505 61, 507 431 336 42 26 12 333 286, 333, 433
Lukas 1,5-25 1,17 1,26-38 1,30 1,31 1,52 f. 1,57-80 1,68 1,78 f. 1,79 2,1 2,7 2,8-14 2,10 2,11 2,14 2,25 3,3 4,18 f. 5 5,1-11 5,5
98-102 105 136 143 101, 279 274, 322 103-108 434 109-116 10 461 60, 420 273-277 99 196 21, 106, 134, 257 99 365 131, 435 335, 341, 355-374 24, 504 478
5,8 5,23 6,15 6,24 ff. 6,36-38 7,36-50 7,48 9,18-27 9,51 9,51-18,14 10,1-12 10,16 10,19 10,25-34 10,30 10,30-34 10,42 11,1 11,14-28 11,20 12 12,4 12,16-21 12,49 14,16-23 15,1-7 15,10 15,11-32 15,17 f. 15,28 16,9 16,19-31 16,20 16,24 16,25 16,26 17,22 f. 18,10 18,11 ff. 19,1-10 19,8 19,28-38 19,38 19,42 f. 20,38 23,43 24,11 24,13-31 24,31
119 102 368 385 117-121 108, 169, 448 450 122-128 390 385 478 356 262 412 68 119 208, 344 490 282-289 360 375-411 399 498 389 299 129-135, 369 369 88, 172, 210, 299, 442 221, 479 188 390, 401 210, 214, 390, 449 68 65 385 91, 415 404 172, 188 131, 188, 201, 207, 210, 214, 367 448 367, 451 95 f. 93 94 28 f., 395 451 186 340 343
Iwand 5 / p. 573 / 3.5.2004
561
Bibelstellen 24,36-49 24,44 24,44-49
340 341 425
Johannes 1 1,1-14 1,3 1,4 1,5 1,11 1,12 f. 1,14 1,15-18 1,17 1,18 1,19-28 1,19-34 1,23 1,27 1,29 1,29-51 1,51 2,17 2,18-22 3 3,1-16 3,2 3,3 3,8 3,16 3,20 3,30 4,24 4,34 6,1-15 6,22-59 6,39 6,48 6,66 8,1-11 8,12 8,18 8,32 8,34 8,36 8,55 9 9,39 10,10
437 493 139 10, 281 10 139, 420, 475, 477 106 111, 137, 161, 437, 475 136-143 374 456 144-150 151-155 104, 136 406 150, 197 156-164 118, 171, 382 172 426 349 165-169 461 210 57 199, 231-236 481 111, 132, 136, 148, 303, 442 166, 176 228 486 504 480 139 399 119, 452, 483 107, 139, 203, 205, 379 484 462 182 182, 366 114, 427, 442 438, 504 162 429
10,12 10,28 f. 13,37 f. 11 11,1-46 11,16 11,23 11,25 11,41 11,43 12,16 12,24 12,25 13,32 13-17 13,1-15 13,4 13,30 14,5 14,6 14,10 ff. 14,18 14,19 14,27 15,5 15,20 15,26 f. 16,2 16,7 16,8-11 16,13 16,14 16,20 16,22 16,33 17 17,12 17,14 17,21 17,24 18,14 18,16 f. 18,28 18,37 19,30 20,6 f. 20,16 20,19 20,19-23 20,24-29
129, 243, 459 249, 480 486 438 342, 504 325 250 176, 257 488 10 94 431 10, 228, 244 241-246 350 290-296 406 293 325 139 486 171 320 276 294 170 170-177 85 348 458 192 172 373 134 321 444 134, 480 373 57 246, 377 210 344 214 218 133, 204 229 125, 321 336 318-323, 326 324-331
Iwand 5 / p. 574 / 3.5.2004
562 20,28 20,30 f. 21,1-14 21,10-23 21,17 21,24 f.
Register 125, 130, 138, 321, 337 333 332-338 339-346 338 333
Apostelgeschichte 1,6 ff. 425 2 192, 349 2,3 192 2,17 192 2,22 433 2,22-38 493 2,37 f. 194 2,38 483 2,40 262 3,6 176 3,12-26 493 4 383 4,8-12 493 4,17 423 5,1-11 327 6,1-7 81 7 481 7,14-36 492 8,5-25 484 8,32-35 492 8,39 343 9,1-31 486 9,5 182 13,6 458 15,1-29 490 16,4 461 17,1-3 471 17,23-31 427 17,28 150 20,28 f. 459 Römer 1 1,1 1,1-7 1,5 1,7 1,8-15 1,14 1,16 1,16-17 1,17
482 181 f. 178-180 445 428 181-183 179 221, 248, 399, 442 184-186 330, 439, 454
1,18 1,25 2,1-10 2,11 2,12-29 2,24 3 3,20 3,21-26 3,23 3,24 3,27-31 3,28 4,17 4,18 4,24 4,25 5,1 5,5 5,6 ff. 5,12-19 5,15-19 5,18 6,4 6,8 6,19.22 6,23 7 7,5 7,9 f. 7,18 7,25 8,1 8,18 8,19 8,21 8,28 8,33 f. 8,35 8,35-39 8,38 f. 8,39 9-11 9,15 9,18 10,14 f. 10,17 11,17 11,33 11,35
462 4 187-190 189 191-194 74, 84, 376 437, 460 110 195-197 79, 127, 200 183, 199, 428 198-201 423 101, 255, 360, 452, 499 29, 32 435 32, 428 f. 37, 179 32 447 455 428 429 308, 361, 484 429 485 254, 307 460 501 54 501 428 134, 501 234, 444 396 501 32, 239, 331, 445 358 163, 262 6 f. 159, 243, 366 134 495 477 477 466 423, 445 74 439, 441 36
Iwand 5 / p. 575 / 3.5.2004
563
Bibelstellen 12-14 12-15 12,1 12,15 13,12 13,13 14,7 ff. 15,18 f. 16,26
496 484 468 235, 283 42, 82, 379, 411, 413 484 431 486 445
1. Korinther 1 1+2 1,9 1,18 1,19 f. 1,22 1,23 f. 1,25 1,30 1,31 2,1 f. 2,6-10 2,7 2,9 3,5 ff. 3,9 3,11 3,16 f. 4,2 4,7 5,1-8 5,7 6,9 f. 6,11 6,19 f. 6,20 7 7,23 7,29 9,16 9,24-27 9,26 9,27 10,12 11,23 11,26 12-14 12,3 13,1
221 454 102 135 111 382 221, 428 62 373 199 211, 268, 447 447 447 445 f. 430 413 202-205, 438 251, 484 433 437 490 116 482 199 496 176 495 496 38, 372 421 436 433, 489 442 479 437 404 484, 496 127, 430 131
13,7 15 15,3 15,3-5 15,8 15,10 15,12-22 15,14 f. 15,19 15,26 15,28 15,32 15,55 16,13
413 495 437 306-309 182 199 251-255 428 308 32, 59, 227-230 42 176, 257 28, 175, 317 205
2. Korinther 1,19 f. 1,24 2,14 ff. 2,17 3,2 f. 3,6 3,15 4,5 4,6 4,15 4,16 4,17 5,1 5,4 5,7 5,16 ff. 5,17 5,17-21 5,19 5,19-21 5,20 5,21 6,1-3 6,1-10 6,2 6,4 6,4-10 6,8 ff. 6,10 8,9 11,13 11,13 ff. 12,7-10
445, 458, 460 27 431 428 458 420 192, 361, 422 58 436 413 432 57 234 246, 264-269 306 185, 230, 321 419 185, 280, 374, 499 502 428, 436 297-305 204, 436, 493 221, 452 444 421 56, 327 436 478 38, 249 391 113 458 f. 461 449
Iwand 5 / p. 576 / 3.5.2004
564 12,9 12,10 12,11 12,12
Register 199 f. 43 400 486
Galater 1,6-10 1,8 1,15-24 2,1-10 2,9 2,11-14 2,11-21 2,15-21 2,17-21 4,11 5 5,1-15 5,6 5,17 5,20 5,22 5,22 ff. 6,2 6,7 6,7 f. 6,14
458, 461, 495 473 433, 493 486 490 182, 336 207 467 206-215 468 131 482, 496 467 415 501 431 484 349 12 13 497 373
Epheser 2,5 2,8 ff. 2,10 2,14 2,14-19 4,1-16 4,4 f. 4,4 ff. 4,8 4,10-13 4,14 4,15 f. 4,25 4,26 4,30 5,6 5,9 5,16 6,11 6,12
422 325 20 366, 484 27, 127, 245 71, 369 493 57, 192 223 229, 317, 485 469 217 216-223 379 82 485 235 320 373 243 488
Philipper 2,7 2,9 ff. 2,10 f. 3 3,2 3,5 3,8 3,12 ff. 3,20 4,4 4,5
113 435 97 460 473 182, 368 373 436, 441 223, 268 42 82, 373, 497
Kolosser 1,12 ff. 1,15-23 1,18 1,25 2,14 3,1 3,2 4,11
422 484 427 249 456 141, 461 400 175 431
1. Thessalonicher 460 2,13 445 4+5 495 4,1 484 4,3-8 485 4,6 484 4,13 f. 250 5,19 497 5,21 473 2. Thessalonicher 460 2,1-12 423, 462 1. Timotheus 1,10 3,16 4,1-5 6,3 6,5-10 6,7 6,10
461 99, 493 459 461 484 4 391
2. Timotheus 1,9 461 1,10 233
Iwand 5 / p. 577 / 3.5.2004
565
Bibelstellen 2,1.8 4,2
461 469
Philemon 1,9
436
1. Petrus 1,3 1,18 f. 2,5 2,6 2,9 3,18-22 4,8 4,17 5,4
29, 310-317, 361 91, 133, 388 357 343 434 485 369 65 345
2. Petrus 1,21 2,1 2,1-22 2,2 2,2-11
437 465 458 458 f. 84 482
1. Johannes 1,1-4 1,2 1,5 1,7 1,8 2,3 2,9-11 2,23 3,8 4,16 4,17 4,19 4,21
446 161, 414 310 82, 414 414 412 412-416 442 361 249, 325, 415 20 370 412
2. Johannes 7-11
461
Jakobus 1,17 1,18
437 39, 109 356
Hebräer 1
2,1.3 2,3 f. 2,4 2,17-3,3 2,18 3,5 3,7 f. 3,7-19 4,14-17 4,15 5,1-10 5,15 7,21 7,23-28 8,5 8,8-12 9,25-28 10,1 11,1 12,2 12,6 12,14 12,24 13,8 13,9 13,12 13,20
446 433 486 426 442 140 275 444 426 442 426 12 321 426 426 434 426 426 315, 330 9, 221 6, 450 485 61, 199 471 442 127 435
Offenbarung 1,18 2,10 3,15 f. 3,20 5,5 5,9 6,2.5 9,3-9 12,10 14,6 16,15 17,18 21,4 21,5 22,17 22,20
178-180 245, 388 256 338 193 134 159 258 64 3 454 405 248 38, 170 374 41 406
1. Clemens 437 460
496
Iwand 5 / p. 578 / 3.5.2004
Namen
Allendorf, Ludwig 150, 159, 389 Arius 455 Athanasius 455 Augustin 11, 157, 180, 234, 379, 427, 476, 486 Bacon, Francis 264 Barmen (Theol. Erklärung) 343-345, 423, 464 Barth, Karl 100, 152, 154, 180, 303, 342, 349, 427, 463 f. Behm, Martin 250 Bengel, Johann Albrecht 341 Berneuchen 424, 440 Bernhard von Clairvaux 157, 427 Blumhardt, Johann Christoph 154, 486 Bodelschwingh, Friedrich von 55, 157, 486 Bonhoeffer, Dietrich 212 Bornhausen, Karl 432 Bornkamm, Günther 383 Brunner, Emil 54, 446, 455 Bultmann, Rudolf 341, 345 Busch, Wilhelm (Pfr.) 55
Goethe, Johann Wolfgang 7, 36, 86, 92, 284, 394 Gregor, Christian 247, 329 Grimm, Brüder 115 Harnack, Adolf 319 Hauer, Jacob Wilhelm 125 Hausmann, Julie 330 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 17, 152, 154, 384 Heidelberger Katechismus 86 Held, Heinrich 384 Herberger, Valerius 86, 269 Herman, Nikolaus 116, 164, 280 Herrmann, Wilhelm 342 Heuner, Fritz 205 Hieronymus 341 Hiller, Philipp Friedrich 189 Hitler, Adolf 381 Hölderlin, Friedrich 175, 383 Ignatius von Loyola 157 Jung-Stilling, Heinrich 178
Calvin, Johannes 84, 107, 157, 210, 222 Claudius, Matthias 229, 268, 381, 387 Clausnitzer, Tobias 185 Dante 52 Decius, Nikolaus 163 Dibelius, Otto 343 Dostojewski, Fjodor 378, 405 Droste-Hülshoff, Annette von 243, 246 Dürer, Albrecht 263, 385 Fabricius, Jakob 399 Falk, Johannes 279, 377 Fox, George 157, 349 Franz von Assisi 157 Garve, Karl Bernhard 181 Gellert, Christian Fürchtegott 134, 255 Gerhardt, Paul 24, 30, 39, 41, 44, 92, 113, 124, 232, 249, 273, 276, 390, 398, 448
Kähler, Martin 334, 342, 419 Kant, Immanuel 207 Karl der Große 379 Karlstadt, Andreas (Bodenheim) 349 Kierkegaard, Sören 327, 373, 398 Knapp, Albrecht 330 Knorr von Rosenroth, Christian 83, 321 Krummacher, Friedrich Adolf 83 Lessing, Gotthold Ephraim 447 Lohmeyer, Ernst 333 Luther, Martin 15, 44, 47, 56, 60, 79, 85 f., 99, 104, 108, 123, 127, 157 f., 163, 179, 180, 182, 198, 200, 207, 210, 212 f., 222, 244, 322, 329-331, 340, 344, 358, 366, 370, 372, 379, 384, 388, 396-398, 400-402, 405, 415, 421, 425, 436, 439, 443, 459 f., 462, 467, 473, 477, 480, 482, 485-487, 490, 495, 498 f., 501
Iwand 5 / p. 579 / 3.5.2004
Namen Marx, Karl 154 Melanchthon, Philipp 180 Meyer, Conrad Ferdinand 62 f. Mohr, Joseph 275 Münzer, Thomas 349 Napoleon 284 Niederländisches Dankgebet 13 Niemöller, Martin 303 Nietzsche, Friedrich 154, 320, 324, 376, 396 Pelagius 180 Penn, William 349 Philo 85 Platon 324 Rembrandt van Rijn 340 Rousseau, Jean Jaques 76 Scheck, Werner 205 Schenkendorf, Max von 395 Schiller, Friedrich 17, 138, 173, 300 Schlatter, Adolf 322, 333, 367, 385, 448 Schleiermacher, Friedrich Daniel 424, 440, 472, 476 Schmalenbach, Marie 240, 381 Schmolck, Benjamin 287 Schneegaß, Cyriakus 37 Schwarzburg-Rudolfstadt, Ämilie Juliane von 59, 395
567
Schweitzer, Albert 342, 386 Schwerin, Otto von 32 Seeberg, Erich 267 Selnecker, Nikolaus 344 Shakespeare, William 217, 449 Smend, Julius 424 Sokrates 306, 410 Spee, Friedrich von 107, 147 Spengler, Oswald 41, 154 Spinoza, Baruch 395 Steil, Ludwig 258 Stein, Edith 258 Stoecker, Adolf 487 Stratmann, Emil 205 Strauß, David Friedrich 342 Thilo, Valentin 138 Tholuck, Friedrich August 328 Tolstoi, Leo 76 Treitschke, Heinrich von 19 Trillhaas, Wolfgang 469, 477 Troeltsch, Ernst 350 Vischer, Wilhelm 36 Volkening, Johann Heinrich 55 Weber, Max 368, 402 Weissel, Georg 94, 150 Wesley, John 157, 222 Zinzendorf, Nikolaus, Ludwig Graf 157, 222, 321