Hans Joachim Iwand Nachgelassene Werke. Neue Folge: Band 1 Kirche und Gesellschaft 9783641247652


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German Pages 349 Year 2019

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Table of contents :
Vorwort zur Neuen Folge der Nachgelassenen Werke
Vorwort zu Band 1
Inhalt
Kirche und Gesellschaft. Vorlesung, Göttingen 1951
Anhang: Ausgewählte Texte Hans Joachim Iwands zu Themen der Vorlesung
Ekkehard Börsch: Nachwort und Editionsbericht..
Editionsbericht
Abkürzungen
Literatur
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Hans Joachim Iwand Nachgelassene Werke. Neue Folge: Band 1 Kirche und Gesellschaft
 9783641247652

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Hans Joachim Iwand Nachgelassene Werke. Neue Folge Band 1

Hans Joachim Iwand

Nachgelassene Werke Neue Folge Herausgegeben von der Hans-Iwand-Stiftung

Band 1

Gütersloher Verlagshaus

Hans Joachim Iwand

Kirche und Gesellschaft Bearbeitet, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Ekkehard Börsch

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 1998 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Umschlaggestaltung: Scanlight, Marienfeld Satz: Weserdruckerei Rolf Oesselmann GmbH, Stolzenau ISBN 978-3-641-24765-2 www.gtvh.de

Vorwort zur Neuen Folge der Nachgelassenen Werke

Hans Joachim Iwand ( 1899-1960) gilt als einer der bedeutendsten evangelischen Theologen des 20. Jahrhunderts. Sein Engagement im kirchlichen wie im gesellschaftlichen Geschehen der Zeit war von einer Art, die ungeheuer anregen und herausfordern konnte. Dabei blieb er - wie seine Predigt-Meditationen, besonders die Göttinger, zeigen- immer der reformatorisch erfaßten biblischen Botschaft treu. Der literarische Niederschlag seines Wirkens ist in der Spannung vielfaltiger Anforderungen, denen er sich ausgesetzt sah, leider mehr und mehr zu bloßem Stückwerk gediehen. Helmut Gollwitzer, der Amtskollege, Freund und frühe Herausgeber Iwands, hat darin ein Opfer gesehen, das uns Nachfahren verpflichtet. Mit Walter Kreck, Karl Gerhard Steck und Ernst Wolf ging er, ungeachtet der Beschaffenheit des wissenschaftlichen Nachlasses, an dessen posthume Publikation. Der »reiche Schatz theologischer Erkenntnisse, die in ihm enthalten sind«, sollte einer theologisch-kirchlichen Öffentlichkeit erschlossen werden. Seit 1962 sind sechs Bände »Nachgelassene Werke« Iwands erschienen, deren Wirkung auf die deutsche evangelische Theologie teils zu erkennen, teils ausgeblieben ist. Das seinerzeit von Gollwitzer entwickelte Editionsprogramm war auch viel umfangreicher und ist längst noch nicht ausgeschöpft. Die Textbearbeitung der Christologie, die das Kernstück von Iwands Theologie ausmacht, erwies sich damals als ein unbezwingbarer Gipfel. Heute liegen die Dinge anders. Nachdem inzwischen der gesamte theologische Nachlaß durchgesehen, geordnet aufgestellt und in Beienrode als Archiv zugänglich ist, können alte und neue Aufgaben noch einmal angepackt werden. Das Ergebnis, zu dem es seither gekommen ist, wird hier vorgelegt. Es erscheint in einer Zeit und Welt, die gegenüber der Iwands und Gollwitzers verändert ist. Auch Kirche und Theologie sind entsprechend anders orientiert, wobei offen bleibt, wohinaus es mit ihnen gehen und wann die unumgängliche Peripetie der ganzen Entwicklung eintreten wird. Iwands Nachgelassene Werke als »Neue Folge« fortzuführen ist darum ebenso ein Wagnis wie eine Hoffnung. Die Hoffnung auf Erfolg gründet darin, daß Iwands theologisches Denken sich stets zwischen dem biblischen Zeugnis und der geistigen wie gesellschaftlichen Situation der Zeit bewegt. Daß also auch noch ein heu-

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Vorwort zur Neuen Folge der Nachgelassenen Werke

tiger Leser an seinem Beispiel lernen und das von Iwand immer wieder neu ergriffene Zutrauen in die Kraft der Theologie fassen kann. Wo im Licht der »Aufklärung Gottes~ die jeweilige Zeit eine Aufklärung erhält, die den Anspruch von Aufklärung überhaupt bewährt, da erweist Theologie ihre Kraft. Dann treten »theologische Ereignisse« ein, auf die Iwand hinzuweisen nicht müde wird. Der Leser wird dabei dem Erbe Luthers und der Weggenossenschaft Karl Barths begegnen, aber auch die kritischen Methoden neuzeitlicher Wissenschaft und die Themen einer liberalen Theologie aufgenommen und verarbeitet finden. Er wird entdecken, daß auch hier aufgerufen ist, sich der alltäglichen Erfahrungswirklichkeit zu stellen, doch zugleich davor gewarnt wird, sich in ihr begründen zu wollen. Evangelische Theologie hat ihren Grund anderswo; sie gibt sich selbst auf, wenn sie die entscheidenden Impulse und Erleuchtungen ihrer Existenz nicht aus dem biblischen Zeugnis mit dem Zentrum in der Botschaft von Jesus Christus empfangt. So ist das Ziel dieser Edition dasselbe, das auch der Hans-Iwand-Stiftung von ihren Gründern - unter ihnen Karl Barth, Gustav Reinemann und Martin Niemöller - gesteckt ist: die evangelische Theologie zu fördern, dadurch daß Theologen angeregt werden, sich mit dem Werke Iwands tiefer zu befassen. Dazu sind zunächst diejenigen nachgelassenen Vorlesungen ausgewählt worden, die schon Gollwitzer veröffentlichen wollte, da sie einen relativ abgerundeten Textbestand bieten. Es sind dies: ~tKir­ che und Gesellschaft«, eine Art ethisch-sozialer Auftragsbestimmung der Kirche; die drei Banner Christologievorlesungen, die als ein einziger Kursus gelesen werden können; und die Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, der Iwand den Titel »Väter und Söhne« gegeben hat. Darüber hinaus besteht die Absicht, einen Band zeit- und kirchengeschichtlich aufschlußreicher Briefe vorzulegen und ebenso einen eigenen Band mit Predigten und verwandten Zeugnisreden. Dies alles, als heute schon historischer Text, der jeweils eines Kommentars und einer Einleitung bedarf, braucht Zeit. Die Hans-Iwand-Stiftung hofft nicht ohne Grund, zu Iwands hundertstem Geburtstag 1999 mehr als nur einen Band der neuen Folge nachgelassener Werke vorlegen zu können. Der Leser, der vorab einen Überblick über »Mann und Werk« zu erhalten wünscht, sei auf einen 1992 als Kaiser Taschenbuch 85 erschienenen Band hingewiesen: »Hans Joachim Iwand - Theologie in der Zeit. Lebensabriß und Briefdokumentation/ Bibliographie«. Diese Fortführung der Veröffentlichung nachgelassener !wand-Werke beruht auf einer Planung, die von vielen Mitarbeitern getragen wird. Die Verwirklichung verdankt sich aber wesentlich der Arbeit von Peter-Paul

Vorwort zur Neuen Folge der Nachgelassenen Werke

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Sänger. Er hat 1979 für eine Leserschaft in der damaligen DDR eine IwanclAuswahl •Briefe, Vorträge, Predigtmeditationen« herausgebracht, die zugleich als biographische Einführung gelesen werden kann und seinerzeit große Beachtung fand. Sie ist in das genannte Kaiser-Taschenbuch eingegangen. 1991-1995 arbeitete er im Iwand-Archiv Beienrode. Er ordnete den dort gesammelten !wand-Nachlaß und machte ihn für die Forschung zugänglich. Im Zuge dieser Arbeit entwarf er das Konzept für die jetzt beginnende Fortsetzung nachgelassener Werke. Wir haben zu danken- der Sankt-Marien-Kirchengemeinde in Dortmund, der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau, der Evangelischen Kirche im Rheinland, der Evangelischen Kirche von Westfalen und dem Mitglieder- und Freundeskreis der Hans-Iwand-Stiftung e.V. Beienrode für die Schaffung der nötigen Voraussetzungen dieser Edition, sowohl finanzielle wie materielle und personelle; -den Erben Hans Joachim Iwands für das Einverständnis mit der Auswahl der Texte und ihrer Behandlung im einzelnen;- den Mitgliedern des Jahr um Jahr in Beienrode tagenden Iwancl-Symposiums für die Bereitschaft, Editionsaufgaben zu übernehmen, die daraus entstehenden Fragen gemeinschaftlich zu diskutieren und sie einvernehmlich zu lösen; - den Verlegern von Gütersloher Verlagshaus I Chr. Kaiser Verlag in Gütersloh für das anhaltende Interesse an dem Projekt, das sie in Beratung, Förderung und Gestaltung geduldig bewiesen haben. Erst das Zusammenwirken aller macht ein Ergebnis möglich. Doch der Sinn des Unternehmens wird erst dadurch wirklich, daß sich Leser auf die Sache einlassen. Da sie nicht unser, sondern Sein ist, bitten wir darum. Der Vorstand der Hans-Iwand-Stiftung

Vorwort zu Band 1

Als Iwand im Sommersemester 1951 die vierstündige Vorlesung »Kirche und Gesellschaft« hielt, war die Zuhörerschaft noch von dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Staates geprägt - aber gerade deshalb war sie umgetrieben von der Frage nach dem sachgemäßen christlichen Zeugnis in dieser Zeit. Sie studierte unter den Bedingungen des sog. Wiederautbaues, der für die meisten so sehr Kampf ums Dasein war, daß die Verrohung durch das faschistische Regime und den ideologisch geführten Angriffskrieg nicht in das kritische Bewußtsein drang, um Platz zu machen einer grundlegenden christlichen Neuorientierung. Zwar hatte die Erfahrung der Ambivalenz institutioneller Ordnung eine ganze Generation unsicher gemacht, aber man hatte die gesellschaftliche Dynamik dahinter vor lauter Gleichgeschalteten und Uniformierten noch gar nicht entdeckt. Dennoch befanden sich insbesondere die Theologie Studierenden - ein großer Teil von ihnen damals Spätheimkehrer und ehemalige Berufsoffiziere, die das Trauma einer geschlagenen Armee mit sich trugen - in einer Suchbewegung voller Fragen, wenn nicht gar Vorwürfe an die Theologie der Väter. Iwand leistet mit seiner Vorlesung mitten in diese Situation hinein eine theologische Umorientierung, deren Grundsätzlichkeit sich hinter dem schlichten »Und« zwischen Kirche und Gesellschaft geradezu verbarg. Heute ist der Begriff der Gesellschaft inflationär geworden - aber die wirkliche Entdeckung der Gesellschaft durch die Theologie, die eine Konsequenz aus der Desorientierung weiter christlicher Kreise angesichts des Aufkommens des Nationalsozialismus und seiner Diktatur hätte sein müssen, droht auch weiterhin zu stagnieren. Wenngleich wir heute mehr wissen über das Eindringen der Gesellschaft in die Kirche, bedeutet das noch nicht, daß wir die theologische Existenz inmitten des Gesellschaftsprozesses und des ihn beherrschenden Kampfes mächtiger Interessengruppen besser verstehen und klarer in Wort und Tat Position beziehen könnten. Diese Edition ist daher kein Dokument der Erinnerung; denn Iwand drängt die Theologie, die nach wie vor Gesellschaft wie eine rätselhafte und geheimnisvolle Sphinx (so Iwand) wahrnimmt, dahin, sie als Forum des nahe herbeigekommenen Reiches Gottes zu begreifen, statt sich erneut hinter die Burgmauern der Institution zurückzuziehen, institutionelle Ordnungen zu Gegebenheiten umdeutend, als wären sie als solche aus-

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Vorwort zu Band I

sagekräftig und schon gleichbedeutend mit der inhaltlichen Vorgabe eines christlichen Zeugnisses in dieser Zeit, ganz zu schweigen vom Rückzug in den Glaubensindividualismus, der dazu neigt, gesellschaftliche Prozesse den Sachzwängen zu überlassen. Der Vorgang, wie sich Gesellschaft die christliche Kirche amalgamiert, wie sie sie zur Religion und zum Konservator von Werten funktionalisiert und einbezieht in die Inszenierung neuer Mythen, schließlich die weitgehende Sprachlosigkeit der christlichen Gemeinde inmitten des sozialen, kulturellen und politischen Gesellschaftsprozesses (einmal abgesehen von den offiziösen kirchlichen Verlautbarungen, die alle immer auch den Stempel des politischen Kompromisses tragen) - das bewegt Iwand als Theologen, und diese Beweggründe schienen dem Herausgeber und dem Bearbeiter es wert zu sein, Iwands Grundfrage an die christliche Lehre und deren Ethik in einer keineswegs neutralen Gesellschaft erneut ins Bewußtsein zu rufen, selbst wenn manche seiner Konkretionen zeitgebunden bleiben. Gedankt sei Dr. Gerard C. den Hertog, Eberhard Lempp, Peter Sänger, Prof. Dr. Dieter Schellong und Jürgen Seim für ihre Hinweise und Anregungen sowie den Mitarbeiterinnen der landeskirchlichen Bibliothek in Speyer, die mir bei der Suche nach Belegstellen, die festzuhalten Iwand wenig Zeit gefunden hatte, geholfen haben. In einem Anhang werden themanahe und zeitgleiche weitere Arbeiten Iwands, die er bereits veröffentlicht hatte, zur Abrundung des Gesamtbildes seines hier gestellten Themas erneut vorgelegt. Über das Verfahren bei der Ordnung der zahlreichen Manuskriptteile gibt der Editionsbericht Auskunft. Die Drucklegung von Band 1 wurde durch einen Druckkostenzuschuß der Ev. Landeskirche in Württemberg gefördert. Ekkehard Börsch

Inhalt

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Kirche und Gesellschaft. Vorlesung, Göttingen 1951...........

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Kapitel 1: Kirche und Gesellschaft als Thema der Ethik..................

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l. Was ist Kirche? Was ist Gesellschaft?........................................... 2. Kirche und Gesellschaft im Verhältnis zueinander...................... 2.1 Das Volk Gottes und die irdische Gesellschaftsordnung ............................................................ 2.2 Das Offensein der Kirche nach der Gesellschaft hin ......... 2.3 Vom Offensein der Gesellschaft für das Reich Gottes....... 2.4 Zusammenfassung .................................................................

15 26 33 43 49 65

Kapitel 2: Theologische Mitarbeit an der ethischen Frage ..............

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1. Mitarbeiter Gottes in der Gemeinde .............................................. 2. Mitarbeiter Gottes in der Gesellschaft...........................................

68 70

Kapitel 3: Kritik und Darstellung vorliegender Ansätze..................

75

Vorwort zu Band

1. Ernst Troeltsch: »Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen« ................................................................................... 2. Friedrich Gogarten: »Politische Ethik« .......................................... 3. Emil Brunner: »Gerechtigkeit«........................................................ 4. Karl Barth: »Der politische Gottesdienst«....................................... 5. Paul Tillich: »Der Protestantismus und die proletarische Situation« ............................................................

126

Kapitel 4: Das Gebot Gottes als Gebot des Lebens...........................

142

1. Die Predigt des Gesetzes ................................................................. 2. Das Doppelgebot des Gesetzes ........................................................ 2.1 Die Gottesliebe .......................................................................... 2.2 Die Nächstenliebe.....................................................................

144 151 154 160

76 86 97 108

12

Inhalt

3. Zur Frage von Ehe und Familie (viertes und sechstes Gebot).... 3.1 Die Erziehung und das vierte Gebot...................................... 3.2 Die Ehe und das sechste Gebot............................................... 4. Vom Schutz des Lebens und des Eigentums (fünftes und siebentes Gebot) ......................................................... 4.1 Das Verbot des Tötens ............................................................. 4.2 Die Achtung des fremden Eigentums ....................................

165 165 169

177 180 184

Anhang: Ausgewählte Texte Hans Joachim Iwands zu Then1en der Vorlesung.....................................................................

188

A. Kirche und Gesellschaft...................................................................

188

B. Die Liebe als Grund und Grenze der Freiheit...............................

194

C. Gottesgerechtigkeit Bibelarbeit über Römer 12, 9 - 13,7 .......... I. Einführung ................................................................................ II. Auslegung..................................................................................

206 206 210

D. Die Bibel und die soziale Frage.......................................................

231

E. Kirche und Gesellschaft .................................................................

262

Ekkehard Börsch: Nachwort und Editionsbericht...................

281

Nachwort....................................................................................

283 283

I. Die Vorlesung in ihrer Zeit und heute ......................................... II. Warum •Kirche und Gesellschaft« und nicht 11Kirche und Staat«? .............................................................. ill. Das •aufregendste Stück Ethik« .................................................... N. •Die Predigt des Gesetzes« .............................................................. V. Die zeitgenössischen Beispiele evangelischer Gesellschaftsethik...................................................

Editionsbericht ............... ...... ...... ............................. ..... ....... ........

289 302

310 320

1. Quellen .............................................................................................. 2. Editionsprinzip .................................................................................

330 330 333

Abkürzungen ........ ............................................... ... ............ ........

336

Literatur.....................................................................................

337

Register ........................ ............................... ........................... ....

342 342 344

1. Namen ............................................................................................... 2. Bibelstellen........................................................................................

KIRCHE UND GESELLSCHAFT Vorlesung, Göttingen 1951

Kapitel 1: Kirche und Gesellschaft als Thema der Ethik

1. Was ist Kirche? Was ist Gesellschaft? Das Thema »Kirche und Gesellschaft« ist - wenn man es in den gewohnten Zyklus unserer dogmatischen Vorlesungen einordnen will - ein Ausschnitt aus der Ethik. Aber es ist ein Thema, das einerseits seit etwa einhundert Jahren mehr und mehr innerhalb der theologischen Arbeit zurückgetreten ist. Es wurde verdrängt von dem anderen: Kirche und Staat, entsprechend dem Bündnis, das die Kirche nach 1848 mit den aufsteigenden antirevolutionären konservativen Kräften und Ideen einging. Und es ist andererseits heute am Tage, wie sich die Vernachlässigung dieses Themas an uns gerächt hat, und wie wir immer noch mitten in der Ausweglosigkeit dieser Frage stehen. Nicht der Mensch und der Staat ist die uns bewegende Not, sondern vielmehr der Mensch und die Gesellschaft. Die Gesellschaft ist eine Größe geworden, die rätselhaft und mächtig bald wie ein Ungeheuer, bald wieder als die Stätte größter Hoffnungen für den Menschen und seine Zukunft erscheint. Was ist die Gesellschaft? Und was hat die Kirche mit ihr zu tun? Ist unsere Gesellschaft denkbar ohne die Kirche? Und was wird aus ihr, wenn es ihr gelänge, wie sie ja seit langem bemüht ist, die Kirche entweder in sich und ihre eigenen Bewegungen einzubeziehen oder sie gänzlich auszulöschen? Ist die Gesellschaft denkbar ohne jene andere societas (Gesellschaft)l in ihrer Mitte? Ist sie denkbar, auch und gerade in ihren innersten Bewegungen und gewalttätigen Revolutionen, ohne daß dies, woran die Kirche auch in ihrer pervertiertesten Gestalt noch erinnern muß, passiert ist, was mit Jesus an uns und für uns und für alle Menschen geschehen ist? Die Kirche in ihrer Ausstrahlung auf die Gesellschaft hin das könnte man mit einem einzigen Wort bezeichnen: Pfingsten! Denn Pfingsten heißt: Es geht nicht an, weiter hinter verschlossenen Türen zu sitzen, wie es die verängstigte Jüngergemeinde zunächst versuchte. Pfingsten heißt, daß eine Sprache vernommen wurde, die alle I. Gemeint: die Kirche.

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Kapitel I: Kirche und Gesellschaft als Thema der Ethik

verstanden. Meder und Perser und Elamiter, Barbaren und Hellenen, Gebildete und Ungebildete, der Westen wie der Osten wurden ansprechbar von Gott her und auf Gott und seine Taten hin. Pfingsten bedeutet, daß der Geist Gottes auf dem Plan ist, wirklich auf dem Plan dieser Welt, so wie Jesus zunächst hier mitten unter uns wandelte. Pfingsten bedeutet, daß diese Bewegung von Gott her, diese Befreiungs- und Erlösungstat Gottes, nicht eine ephemere Bewegung blieb, sondern daß sie wie ein Feuer um sich griff. Pfingsten bedeutet, daß der Meister recht behielt, wenn er seinen Jüngern voraussagte, sie würden, ob sie wollten oder nicht, eben damit, daß sie seine Jünger geworden sind und von ihm erwählt waren, das Licht der Welt sein, und die Gemeinde die unverborgene Stadt auf dem Berge (Mt 5, 14). Pfingsten bedeutet, daß Offenbarung Offenbarung bleibt und daß es nicht möglich sein wird, aus dem Glauben an Jesus einen Mysterienkult oder einen Mythos zu machen, auch nicht einen Mythos vom sterbenden und auferstehenden Gott. Pfingsten bedeutet, daß alle gerufen sind, die aus der Nähe und die aus der Ferne, 11sich erretten zu lassen aus diesem verkehrten Geschlecht« (Apg 2,40). Es ist also nicht an dem, daß die Kirche für sich lebt und die Gesellschaft für sich, daß jede dieser beiden Sozietäten ein Eigenleben führen kann, - sondern Pfingsten ist der Einbruch und die Störung dieses Eigenlebens der Gesellschaft; es ist der hoffnungs- und zugleich machtvolle Angriff Gottes auf diesen gesicherten Lebensbezirk, in dem der Mensch nach seinen Gesetzen sein Dasein in der Welt gestalten möchte. Pfingsten ist die Negation der Negation, die Umkehr des Verkehrten. Es ist alles andere als die Bestätigung vermeintlicher Ordnungen; denn diese Ordnungen2 sind nichts anderes als Fixierungen des Verkehrten, als der Versuch des Menschen, die Verkehrtheit zum Prinzip zu erheben und das Gefängnis zum Zuhause des Menschen umzugestalten, das Gebundenund Versklavtsein an die Mächte dieses Äons zum Dienst und zum Gehorsam umzulügen, den Tod als letzte Größe zu setzen und so den Menschen, eingepfercht zwischen Geburt und Tod, den Gesetzen des Kosmos auszuliefern. Tragen die Strukturen der Gesellschaft nicht alle etwas an sich von dieser Verkehrtheit? Ob wir Staat sagen oder Geld oder Familie oder Ehe, ob wir uns die Ordnungen ansehen, die da gelten, die Ordnung von Oben und Unten, von Regierenden und Regierten, von Mann und Frau, von Eltern und Kindern oder von Freien und Unfreien - sind es nicht alles Zaubersprüche, mit denen die Gefangenen in ihren Zellen gehalten wer2. Vgl. Vorlesung, S. 21; 26; 34f.

1. Was ist Kirche? Was ist Gesellschaft?

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den, bis sie sterben? Ist der Herr dieses Gefangnisses nicht jener NichtGott (5Mose 32,21), der sich nur zu oft und zu gern mit dem Namen Gottes schmückt, aber hinter dem nichts steht, so gewiß Gott mit allem seinem Tun, seiner Verheißung und seiner Macht in dem einen Namen Jesus sich offenbart hat? Müßte nicht, da der Fürst dieser Welt gestürzt (Job 16, 11) und in seiner Ohnmacht erwiesen ist, eine Kunde durch dieses ganze Gefangnis gehen, daß die Gefangenen frei sind, daß die Ketten fallen und daß wir nur den Mut zu haben brauchten, uns zu erheben und herauszugehen, und die Türen würden sich vor uns auftun (Apg 12, 10)? Nicht nur: Christ ist erstanden, sondern wir sind mit ihm erstanden! Die Zaubersprüche verlieren mit einem Male ihre Macht über Herzen und Verstand dieser durch einen falschen Wahn gefesselten Menschen: sie können frei sein; sie sind nicht Knechte im Hause der Welt, sondern Herren. Sie können, was sie vorher nicht konnten. Die Lahmen gehen und die Blinden sehen (Mt 11,5). Nicht Entmythologisierung der Kirche von der Welt her, sondern der Welt vom Evangelium her! Was wird aus jenen Größen und Götzen, die uns eben noch so heilig und unantastbar schienen? Wo bleibt der Nimbus, der sie eben noch umgab? Wo bleibt jene Unterscheidung von Gut und Böse, die sie - als Gesetz dieses Lebens in der Unfreiheit, als unser Sklavengesetz- proklamierten und auf deren Übertretung sie ganz wie Gott die Todesstrafe gesetzt hatten? Was wird aus dem Staat, was wird aus dem Eigentum, was wird aus der Familie und aus der Ehe, was wird aus dem, was man Autorität nennt, was wird aus der Macht, was wird aus allen diesen Heiligtümern der Gesellschaft, wenn das geschieht? Wenn sich der Mensch aus dem Grabe erhebt und - mit dem Tode im Rücken - in der Neuheit des Lebens, also als ein wiedergeborener ähnlich wie der aus der Verwesung herausgerufene Lazarus (Job 11, 1ff.) ins Leben zurückkehrt? Was wird aus diesen mit dem lebendigen Gott konkurrierenden Götzen, wenn auf einmal deutlich wird, wer der Herr der Welt ist, daß dieser Herr mitten unter uns getreten ist und alle jene Usurpatoren damit als falsche Herren dastehen? Was wird aus ihnen, wenn sie sich auf einmal freien, weil wirklich durch Gott selbst befreiten, nicht mehr an die Sünde durch das Todesgesetz gefesselten Menschen gegenübersehen? Diese Frage ist die Frage der Ethik, bzw. darauf antwortet die Ethik. Und zwar nicht mit der üblichen Verlegenheit, nicht mit dem fatalen Ausweichen in die Gesinnungsethik, in die gerade im Christentum so beliebte innere Emigration, nicht, indem siejenen Spalt entschuldigt und bestehen läßt, der zwischen Wollen und Vollbringen, zwischen Gesinnung und Tat, klafft; nicht, indem sie die Herrschaft der Sünde und des

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Kapitel 1: Kirche und Gesellschaft als Thema der Ethik

Todes rechtfertigt auf die Institutionen des gesellschaftlichen Lebens gesehen und nur den einzelnen, die Person, befreit und ihr die Hoffnung auf ein besseres, nicht verkehrtes Leben gibt. Vielmehr antwortet die Ethik, wenn anders sie etwas taugt, so, daß ihre Rede ja, ja und nein, nein (Mt 5,37) ist, nicht so, daß sie uns lehrt, in Spannungen zu leben, sondern daß sie erst einmal zu leben lehrt, und von den Spannungen erst hinterher, erst im zweiten Satz, die Rede ist. Fides non stat cum peccato mortalP haben unsere Väter bezeugt. Das heißt: Der Glaube kann nicht Wand an Wand mit der todesmächtigen Sünde leben. Gott und jener Nicht-Gott können nicht in einem Herzen und darum auch nicht in einer Welt zusammen hausen. Verkehrt ist, was aus dem Staat unter der Herrschaft der Tyrannen und des Pöbels geworden ist; verkehrt ist, was wir aus der Ehe machten, als wir sie den Zweckmäßigkeiten des Standes, der Gesellschaft oder auch der biologischen Fortpflanzung des Volkes unterwarfen. Verkehrt ist das Verhältnis von Mann und Frau, solange als nicht Gott wiedergefunden und geglaubt ist. Denn als die Menschen ihn verloren, fiel jener tiefe und schwere Schatten zwischen diese beiden, Mann und Frau, und sie begriffen nicht mehr, daß sie voneinander und füreinander da sind. Verkehrt ist der unbedingte Gehorsam, den Menschen von Menschen fordern und einander erbringen, wie das heute im politischen, aber auch im kirchlichen Leben mehr und mehr einreißt; denn der Mensch gehört Gott, erkauft mit seinem Blute (IKor 6,20). Darum dürfen wir weder der Menschen Knechte werden (I Kor 7,23) noch andere dazu bringen oder verführen, daß sie es werden oder bleiben. Verkehrt wird wohl einiges, wenn nicht vieles sein, was wir aus dem Eigentum, aus der Ehre, aus dem Tode gemacht haben. Der Mensch und seine Wohlfahrt sollten uns mehr gelten als alle »Sachwerte«. Und was die Ehre angeht, so hebt alle Ehre damit an, daß wir Gott die Ehre erweisen und ihn den Herrn sein lassen; wo das nicht mehr der Fall ist, ist alles Ehre-von-einander-Nehmen vanitas vanitatum (die Eitelkeit aller Eitelkeiten). Und der Tod? Man sollte ihn nicht so verachten, wie die Soldaten das tun, die aus ihm den Heldentod gemacht haben. Kein Wunder, daß sokhe Verkehrtheit Früchte bringt- und zwar Früchte, deren wir nur mit tiefster Scham gedenken können. Kein Wunder, daß die Welt krank ist, todkrank; denn wie ein Fluch liegt es über ihr, daß sie

3. Vgl. K. Holl, Der Neubau der Sittlichkeit, in: Ges. Aufsätze I Luther, 6. Aufl., Tübingen 1932, 190: •Unter ausdrucklieheT Verwerfung der (von der Scholastik geteilten) Lehre des Lombarden stellt Luther den Satz auf, daß der •eingegossene• Glaube nicht mit einer Todsünde zusammenbestehen könne.•

1. Was ist Kirche? Was ist Gesellschaft?

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eben diese Verkehrtheit ändern zu können glaubt. Ihr Unglaube ist ihre Schuld. Nur Unglaube, alles andere ist Strafe. Diesen Unglauben brechen - das ist die Mission der Kirche an und in der Gesellschaft. Alles andere, auch die abgründigen Sünden und Bosheiten, von denen heute die Gesellschaft heimgesucht wird, verdient Mitleid und Erbarmen. Aber ihr Unglaube verdient kein Erbarmen. Wer den Gefangenen, nur weil er sich angewöhnt hat, seine Ketten zu lieben und das Gefängnis für unzerbrechlich zu halten, seinen Träumen oder seiner Resignation überließe, der wäre kein Befreier. Er würde kein Bote und Zeuge des Auferstandenen in der Welt sein. Eine Kirche, die die Welt darum straft, daß ,.sie nicht glauben an mich« (Joh 16,9), redet nicht aus der Kraft und Vollmacht des Geistes, mit dem der Erlöser sich an den Seinen bezeugt. Oder sieht die Kirche darin ihren Weg, sich dieser Welt und der sie jeweils repräsentierenden Gesellschaft, der kapitalistischen, der kommunistischen, der pazifistischen oder demokratischen, der konservativ-ständischen oder der revolutionär-proletarischen gleichzustellen, weil sie so die beste Möglichkeit der Mission habe? Weiß die Gemeinde darum, daß keine andere Revolution und keine andere Umkehr der Umkehr gleichkommen, die sie bezeugt und zu der sie ruft? Weiß sie, daß sie der Gesellschaft gegenüber das Erstgeburtsrecht besitzt, das sie nicht verkaufen darf- für keinen Preis? Denn damit würde sie die Tat Gottes ummünzen in ein Tun der Menschen, die Auferstehung von den Toten verwechseln mit relativen Umwälzungen innerhalb der Todeswelt Bedroht und verführt, mit Gewalt und Lockungen, mit Versuchungen, deren Typ in der Versuchung ihres Herrn selbst (Mt 4,1 ff.) gegeben ist, und mit Peinigungen und Verfolgungen, die wiederum ihr Herr erlitten und damit als ohnmächtig herausgestellt hat - so steht die Kirche zwischen den Fronten, in jener Mitte, die es nicht gibt, die aber damit gegeben ist, daß die Gemeinde sich konstituiert. Es gibt eine bestimmte Theorie - man hat sie als die lutherische gepriesen - , wonach die Kirche den Staats- und Gesellschaftsformen gegenüber neutral sei. Wir werden später noch zu untersuchen haben, was das für eine Neutralität ist; wir werden zu fragen haben, warum sich diese politische Indifferenz so gern mit dem Konservativismus verbindet. Wir werden feststellen müssen, daß diese Neutralität in dem Moment aufhört, neutral zu sein, als sich eine bestimmte Entscheidung innerhalb der Gesellschaft ankündigt. Diese Neutralität ist keine echte Mitte, kein nach beiden Seiten hin gleich offenes und gleich kritisches Zeugnis. Sie ist keine von einem höheren Ort in die Kämpfe und Stöße, die die Gesellschaft bewegen, eingreifende Neutralität. Sie ist nicht in der Lage, den Frieden zu bringen. Wir

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Kapitel I: Kirche und Gesellschaft als Thema der Ethik

werden auch im weiteren Verlauf sehen, daß diese Quasineutralität in der Lehre von den beiden Reichen sich ihre epochemachende theologische Theorie geschaffen hat. Wir werden es dieser Theorie zum Vorwurf machen müssen, daß es zu jener echten, auf Tod und Leben gehenden Begegnung zwischen Kirche und Gesellschaft bei uns so lange nicht mehr gekommen ist. Wir werden zu fragen haben, ob nicht die Säkularisation, die wir heute an der Welt und ihrer Gesellschaftsordnung feststellen, doch nicht so bedenklich ist wie die, die gerade aufgrundjener Lehre in der Kirche selbst Einzug gehalten hat. Neutralität der Kirche im Sinne der Unterscheidung der beiden Reiche - so daß sie dem »Reich der Welt« die Eigenständigkeit seiner Ordnungen zuläßt - muß immer dazu führen, diese Ordnungen nun auch von der Kirche her heiligzusprechen und somit zu übersehen, daß in und hinter diesen Ordnungen Menschen schmachten, die auf die Botschaft der Befreiung harren! Wir werden weiter zu fragen haben, ob es nicht auch ähnliche Verirrungen der Kirche in Lehre und Praxis nach der anderen Seite hin gibt, Verwechslungen der Umkehr, die in Glaube, Taufe und Vergebung der Sünden besteht, mit einer solchen der gesellschaftlichen Wandlungen und Veränderungen. Wir werden also zu fragen haben, ob der Bindestrich zwischen religiös-sozial auch aufrechtzuerhalten ist, wenn es nicht mehr um religiöse und soziale Strömungen und Kräfte geht, sondern um die Kirche des gekreuzigten und auferstandenen Herrn, und um die Gesellschaft, also um jenes »verkehrte Geschlecht«, von dem die Pfingstpredigt des Petrus redet (Apg 2,40). Dürfen wir den Frieden, der in der Engelsbotschaft über dem Kind in der Krippe verkündet wird (Lk 2, 14), und den Frieden von Jesaja 9 und 11 mit dem, was man Pazifismus nennt, identifizieren? Beide meinen Frieden und beide meinen Frieden auf Erden - aber dort ist es die Botschaft vom Himmel her, die wie ein Finger auf die Tat Gottes zeigt, die in diesem einen Menschen Jesus aufErden geschieht, und hier ist es Sehnsucht und vernünftige Einsicht wie bei Kant und Tolstoi. Nur: Warum ist die Kirche nach ihrer empirischen Erscheinung und den sie repräsentierenden Personen und Gremien immer wieder geneigt, hier sehr schnell und sehr kräftig einen dicken Trennungsstrich zu ziehen - gerade diesen vielleicht phantastischen, aber ihr doch irgendwie parallelen Hoffnungen gegenüber, während sie merkwürdig gern und hemmungslos jene andere Argumentation unterstützt, daß, weil der Mensch böse sei, es darum nicht ohne Gewalt, nicht ohne Krieg, nicht ohne Gesetz und Härte geht? Was heißt Vergebung der Sünden? Was heißt Taufe? Vergebung der Sünden heißt doch wohl, daß die Sünde und also das radikale Böse nicht eine Konstante sind, mit denen jede Gesellschafts- und Staatstheorie rechnen

I. Was ist Kirche? Was ist Gesellschaft?

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muß. Vergebung der Sünden heißt ja gerade, das Böse, diese schwerste und scheinbar irreparabelste Größe unter allen Größen dieser Welt, aufheben. Es gibt nur eine Konstante: Gott - aber es gibt nicht ihm gegenüber, in einer zweiten von ihm und seiner Erlösungstat isolierten und unabhängigen Welt eine demgegenüber ähnlich absolute Konstante: etwa die Sünde, etwa das Böse, etwa den Tod oder das Gesetz. Alle derartigen isolierten und damit erst zu ihrer grausamen Mächtigkeit erhobenen Größen sind nichts. Sie sind, was sie sind, nur indem man sie erst einmal in einem Gott und seinem Reiche entzogenen Feld der Wirklichkeit »ansichtig« macht, weil man den Menschen an sich, die Sünde an sich, den Tod an sich, die Dämonen an sich, die Masse an sich etc. zum Gegenstand der Analyse und der Untersuchung macht. So ist es zu jenem furchtbaren Bündnis gekommen, das die Kirche mit den das Bestehende in der Welt sanktionierenden Mächten geschlossen hat und das ein Verrat ihrer Sendung ist. Als ob Jesus gekommen wäre, um zu sagen: Ihr habt gehört, was zu den Alten gesagt ist- ich bin gekommen, um das zu bestätigen! Wer weiß, ob die nicht mehr abreißen wollenden Umstürze und Revolutionen, mit denen die Gebundenen von unten gegen diese Ordnungen Sturm laufen, nicht die Antwort Gottes sind auf diesen Versuch, den seine Kirche in ihrer eigenen Mächtigkeit unternimmt, die Welt zu ordnen! Das ist das überaus Peinliche an jenem sachlich oft so überzeugenden Versuch der konservativen Gesellschaftslehren, wie sie im 19. Jahrhundert besonders bei uns und in Holland 4 aufgestellt wurden und Schule machten, daß sie jeden Sinn dafür verloren haben, auch hinter der Revolution könnte Gottes Hand sein, es könnte sich hier so etwas wie ein Gericht Gottes mitten in der Moderne abspielen, bei dem jeder drankommt, das jeden zu finden weiß, er sei klug oder dumm, reich oder arm, vorsichtig oder kühn - sie müssen alle über die Klinge springen und, ob sie nun wollen oder nicht, begreifen, daß sie nicht die Herren und Gestalter ihres Lebens sind. Das ist eine der wichtigsten Fragen, die wir uns stellen müssen: Wie lange können wir dieses Bündnis zwischen der Kirche und der konservativen Gesellschaftsordnung noch ertragen? Wie lange wollen wir sicher und vor uns selbstgerecht den Bindestrich christlich-konservativ verteidigen? Müssen wir nicht laut und vernehmlichangesichtsdes rauchenden Topfes von Mitternacht her (vgl. Jer 1, 13f.) fragen: Wie lange noch ist unsere Geduld zu mißbrauchen? 5 Muß denn noch mehr geschehen 4. Vgl. F. J. Stahl (1802-1861); W. Bilderdijk (1759-1831); I. Da Costa (1798-1860). 5. Im Manuskript: Quousque tandem abutere patientia nostra?

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Kapitel 1: Kirche und Gesellschaft als Thema der Ethik

nach allem, was vor unseren Augen geschehen ist? Merken wir nicht, daß die Gesellschaft, innerhalb deren wir leben, sich zu bewegen beginnt wie ein Meer, das vom Sturm ergriffen wird, und daß kein Öl, das wir auf die Fluten gießen, auf die Dauer uns diesen nach uns greifenden Mächten aus der Tiefe entreißen kann? 11Wir spinnen Luftgespinste und suchen viele Künste und kommen weiter von dem Ziel« (Matthias Claudius). Früheren Jahrhunderten galt die Natur als die Stätte des Gerichtes Gottes, so Krankheit, Hunger und Tod. Wir haben die Natur entzaubert oder meinen es jedenfalls; die moderne Gesellschaft lebt von diesem Sieg über die Natur, die sie sich dienstbar machte. Aber dafür ist sie nun selbst zur Stätte der Unberechenbarkeiten geworden; es ist heute gefährlicher, ein Glied der Gesellschaft zu sein als den Naturgewalten preisgegeben zu sein. Die Gesellschaft selbst nähert sich denselben - sie, die meinte, dem Menschen Sicherheit des Lebens zu verschaffen, ist auf einmal als Abgrund enthüllt, der uns alle zu verschlingen droht. Vielleicht wird an dem, was ich eben sagte, schon ein wenig deutlich, warum ich meine, daß wir die Frage nach Kirche und Gesellschaft stellen müssen. Nicht nur die Kirche ist heute in einer entscheidenden Reform, einer vom Bekenntnis her getragenen Wandlung, begriffen; sie unterzieht sich wieder dem, was im Dogma bezeugt ist; sie lernt unter Schmerzen und Wehen begreifen, daß sie die Braut des einen Bräutigams und die Magd des einen Herrn sein muß, wenn anders sie der dieser Kirche gegebenen Verheißung teilhaftig werden will. Auch die Gesellschaft befindet sich in einer unabsehbaren und entscheidenden Bewegung, in einer Stunde tiefster und vielleicht doch fruchtbarster Krisis. Vielleicht gerade, weil die Nähe von Gesellschaft und Natur auf einmal so groß geworden ist, weil die Trennung von Natur und Geist, aus der die modernen Gesellschaftstheorien fast alle geboren sind - nicht diejenige Rousseaus! - durch die Ereignisse des modernen Krieges und durch die Technik der modernen Revolutionen unhaltbar geworden ist; denn auch hier hat sich bemerkbar gemacht, daß die Epoche der Aufklärung zu Ende geht, nicht nur in der Kirche, sondern auch in der Gesellschaft. Was wird das bedeuten? Diese Frage wenigstens einmal zu stellen und an einem Punkte den Kopf über den Strom, in dem wir treiben, zu heben, einmal zu fragen, ob die Wasser der großen Flut nicht fallen und ob nicht Gott - dieser Gott des noachitischen Bundes - auch für uns einen Friedensbogen an den Himmel gesetzt hat (lMose 9,13), und ob es nicht an der Zeit wäre, eine Taube auszusenden in dem Glauben, daß die Erde des Herrn ist und auch diese blutgetränkte, vom Bruderkampf der Menschen aufstöhnende Erde noch unter der Verheißungjenes Bundes steht (lMose 8, 21) -das möchte diese Vorlesung sein. Wir könnten so viel ge-

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lernt haben! Es ist so viel Verheißungsvolles und Großes in der Kirche und an ihr geschehen, so viel Altes und Morsches zerbrochen, so viel Erwartung und Sehnsucht nach neuen Wegen da - wo anders als in Jesus Christus sollte und könnte denn dieses Neue sein? Indem wir das sagen, steht unsere Erörterung auch mitten inne in dem, was dem Auftrage und der Sendung der Theologie gemäß ist. Wir begegnen heute leicht dem Fehler, zu meinen, unsere Aufgaben lägen nur da, wo sie nach dem Gang der theologischen Bildung und Ausbildung traditionell festgelegt sind. Aber damit ist nicht gesagt, daß wir zu einer echten Arbeit gerufen sind. Der Formalismus einer wissenschaftlichen Methode und eines dementsprechenden Systems gewährleisten noch nicht den echten Arbeitscharakter unserer Bemühungen. Arbeit ist nur da, wo etwas geleistet wird, das als Werk auch anderen dient, und zwar abgesehen von der Intention, die mit der Arbeit verbunden ist. Arbeit muß ein Ergebnis haben, das frei zur Verfügung steht. So wie ein Handwerker, der etwas kann, oder ein Künstler sein Werk freigibt und damit einem Bedarf entgegenkommt - so müßte unsere theologische Arbeit Hilfe sein. Sie könnte und wird wohl in ihrem innersten Betrieb differenziert und kompliziert sein; auch die scheinbar entlegensten exegetischen und historischen Untersuchungen werden durchaus in das Ganze gehören, ähnlich, wie etwa komplizierteste mathematische Formeln in den Ausbau und in die Entfaltung der technischen Welt hineingehören, die uns - einer so vermehrten Menschheit - das Leben möglich und auch im Vergleich zu früher so angenehm machen. Aber auch hier ist das Denken nicht eine Kunst an sich, sondern es setzt sich um in Leistung. Es erfordert eine weitreichende und ein bestimmtes Ethos aufbringende Arbeitsgemeinschaft. Zwischen dem forschenden Entdecker und dem einfachen technischen Arbeiter besteht diese Verbindung einer Gemeinsamkeit des Werkes, ein Wissen um die Arbeitsteilung, um ein Geben und Nehmen, um Differenziertheit, je höher die Funktionen des Dienstes werden. Ist das bei uns in der Theologie auch der Fall? Wissen auch wir, was wir sind? »Werkleute sind wir: Knappen, Jünger, Meister, und bauen dich, du hohes Mittelschiff.«6 Begreifen wir, daß Bauen und Erbauen Inbegriff unserer Arbeit ist? Nicht ein »Wissen, damit wir wissen« (scire, ut sciamus), sondern ein »Wissen, damit wir aufbauen« (scire, ut aedificemus)F Wenn der Stu-

6. R. M. Rilke, Das Stunden-Buch, Erstes Buch: Das Buch vom mönchischen Leben, 1899. 7. Bernhard von Clairvaux, Sermones in Cantica canticorum XXXVI, 3 PL 183, 968

D.

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Kapitel 1: Kirche und Gesellschaft als Thema der Ethik

dent das nicht weiß, so wird es der Pfarrer im Amt jedenfalls irgendwie und irgendwo merken: Er wird merken, ob er geeignet ist oder nicht, ob ihm sein Studium zu dieser Eignung gedient hat oder nicht. Das Examen unseres Studiums liegt nicht da, wo Menschen uns Noten erteilen, sondern es wartet auf uns da, wo wir im Namen Gottes - als Boten seiner Taten (bitte denken Sie noch einmal an Pfingsten!)- mitten in dieser Welt stehen, in der Welt, wie sie ist, nicht wie wir sie möchten, daß sie wäre, nicht in einer erträumten, sondern in der faktischen Welt, die ist, was sie ist, weil wir sind, was wir sind, 8 - ob wir in dieser Welt das Evangelium von Jesus Christus auszurichten in der Lage sind? Das Peinliche an dieser Welt ist dies, daß sie sich nicht einfach auf unsere Fragen und Antworten festlegen läßt; sie macht auf uns einen areligiösen Eindruck. Sie schweigt, wo wir reden, und wir verstummen, wo sie zu reden beginnt. Sie steckt in Fragen und Nöten, die anderswoher kommen als aus dem jeweiligen wissenschaftlichen System oder einer bestimmten Schultradition. Hier nicht versagen, hier etwas können, hier eine Leistung, sei es eine wissenschaftliche, eine predigtmäßige, eine praktische - etwa der sozialen, politischen oder auch didaktischen Art - zustande zu bringen - das ist es, was von uns gefordert, was gerade aus der Solidarität der Christenheit heraus von uns erwartet werden darf. Immer wieder hat es jene besonderen Zeiten gegeben, in denen es gelang, Wort und Tat, Gaube und Bekenntnis so eins werden zu lassen,daß sich niemand mehr der echten Entscheidung entziehen konnte, die im Worte liegt. So wie es dann und wann einen Philosophen gab, dem es gegeben war, der Gesellschaft ihren Weg zu weisen; denn alle Gesellschaft ist das Werk einer jeweiligen Philosophie. Es wäre nichts als Borniertheit, dies anders sehen zu wollen. Die Menschen sind keine Tiere, und ihr Zusammenleben ist keine Instinkthaltung. So wie wir uns die Gesellschaft des Westens nicht ohne Locke und Smith, ohne die französischen Moralisten und ohne Kants System der Moral denken können, so können wir uns auch das, was heute im Osten geschieht, kaum ohne Platon und Regel und Marx denken. Genauso gibt es aber auch Ereignisse in der Kirchengeschichte, in denen sich von daher ein Aufbruch und Durchbruch vollziehen. Oftmals ist es gerade die nicht-offizielle, die Ketzergeschichte, gewesen, die nach dieser Richtung hin ihre unverwischbaren Spuren in den Gang der Gesellschaft eingegraben hat. Warum auch nicht? Nicht jeder, der hernach für uns Abrahamskinder zum Kirchenvater erhoben wird, hat sich in seiner Epoche als solcher schon gefiihlt. Das, was sie aber allesamt aus8. Vgl. H. J. !wand, Die Sachlichkeit der theologischen Arbeit (GA I, 75-86).

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zeichnet, istjene Verbindung von Wort und Tat: sie können sich das Wort Gottes nicht leer denken; sie können mit ihm nicht umgehen wie mit einem Geschoß, aus dem man die Zündung herausgeschraubt hat. Sie wissen, das ist scharf geladene Munition. Sonst wäre es nicht Gott, der lebendige Gott und sein Wort. In Gott ist das Wort nie leer; es ist immer zugleich Tat. Was der Verkündigung recht ist, sollte auch der Theologie als Wissenschaft billig sein. Theologie wird erst interessant, wenn sie uns zu den Sachen ins Verhältnis setzt oder zu der Sache, die niemand von uns je bewältigen wird und an der wir doch alle in Gemeinschaft mit den Aposteln und Propheten, also in einer Kirche, mit ihnen arbeiten. Erst hier gibt es ein Gelingen und ein Scheitern. Erst da, wo man weiß, daß man selbst auch »adokimos« (einer, der die Probe nicht besteht, vgl. lKor 9,27; 2Tim 3,8) werden kann, daß Gott selbst bei unserem Reden und Denken uns ins Herz und über die Schulter sieht - erst da wird Theologie interessant. Wenn ich allerdings diese eine alles beherrschende, unsere Erkenntnis so beglückend, unseren Irrtum so gefährlich machende Größe, wenn ich das Auge, das alles sieht, und das Ohr, das alles hört, ausschalte, dann freilich ist Theologie ebenso leicht wie leer. Aber wem hier eine Leistung gelingt - und die Bibel wie auch die Geschichte der Theologie ist der ermunternde Beweis dafür, daß solche Leistungen mit Gottes Hilfe uns Sterblichen möglich sind -, dann ist das Ziel erreicht; dann haben wir nicht umsonst gelebt. Wenn wir nun sagen, daß es sich hier um ein Thema der Ethik handelt, dann sagen wir damit, es handelt sich um Erkenntnisse, die auf dem schmalen Grad liegen zwischen Denken oder, besser gesagt, zwischen Glauben und Tat. Es handelt sich um jenen Bereich, der im Neuen Testament als Paränese, im Alten Testament als Gesetz auftritt. Es handelt sich darum, daß wir angesichts der Wirklichkeit, in der wir leben, nicht verzagen, vielmehr in ihr und auch gegen sie das Reich Gottes herbeiziehen, die Erde nicht dem Teufel und den Himmel Gott zuteilen; denn dieser Gott dürfte ein Teufel sein, und dieser Teufel dürften wir selber sein. »Die Erde ist des Herrn, der Erdboden und was darauf wohnt« (Ps 24, 1). Wie, wenn wir den Versuch einmal machten - wir sind ja nicht die ersten, die das tun -, die Ethik auch und gerade in diesem besonderen Gebiet, also in der Begegnung von Kirche und Gesellschaft, von der Eschatologie her zu entfalten? Das heißt also, daß mit der Gegenwart des neuen Äons in der Person Jesu selbst auch die »Kräfte der zukünftigen Welt« (Eph 2,7) ihre Dynamik geltend machen? Dann wäre alles, was wir als ethische Kategorien im Neuen Testament ansprechen, von jener Mitte her zu sehen, die mit der Auferstehung Jesu von den Toten zur Mitte unseres Lebens

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Kapitel I: Kirche und Gesellschaft als Thema der Ethik

geworden ist. Eine solche Mitte hat die Gesellschaft in ihrer Konzeption nicht und kann sie nicht haben. Sie hat kein •leeres Loch« in ihrer Mitte. Für sie hat der Totenacker der Menschheit kein offenes Grab. Für sie ist Ethik, d.h. Gerechtigkeit, Frieden, Freiheit, Liebe, Erbarmen, Gemeinschaft, Staat, Ordnung etc. rationale Ordnung irrationaler Tendenzen und Triebe. Sie sieht die Ideen des Guten, Wahren und Schönen nur wie einen Schatten, den ihre eigene Gestalt wirft. Sie steht sich selbst sozusagen im Lichte. Für sie sind - und das ist schon sehr viel - die Ideen das Jenseitige, darum aber die Materie, der Leib, die Erde, die Zeit und der empirische Mensch das Beschattete, Dunkle, das ethisch nicht Relevante. Es ist eigentlich nur Stoff für den unendlichen Umsetzungsprozeß der Idee, nämlich Material, um den Geist darin einzubilden. Jenseits und Diesseits stehen sich zeitlos gegenüber wie zwei Heere, die einen geheimen Waffenstillstand zwischen einander geschlossen haben. Das ist der Hintergrund dieser philosophischen Ethik, mit dem die des Neuen Testamentes nie verwechselt werden darf. Denn hier hat nun die Schlacht begonnen, nicht so, daß ihr Ausgang noch unentschieden wäre, sondern so, daß der Sieg auf seiten Gottes gewonnen ist - daß darum die guten Werke, in denen wir wandeln sollen (Eph 2, 10), längst zuvor da sind, ehe wir sie tun.

2. Kirche und Gesellschaft im Verhältnis zueinander Wir haben uns die Aufgabe gestellt, das Verhältnis zu bestimmen, das zwischen den beiden Größen Kirche und Gesellschaft besteht. Dabei verstehen wir unter Kirche etwa das, was im Epheserbrief 2, 19ff. steht: »Ihr seid nicht mehr Fremde und Gäste, sondern Bürger mit den Heiligen und Gottes Hausgenossen, erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist.~ Oder, wie es im ersten Petrushrief 2,9 heißt: »Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, das königliche Priestertum, das heilige Volk, das Volk des Eigentums« - mit dem imperativischen Zusatz: »daß ihr verkündigen sollt die Tugenden dessen, der euch berufen hat aus der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht«. Kirche ist jedenfalls ein in besonderer Weise herausgerufenes, aus einem anderen Leben und Dasein errettetes Volk mitten unter den Völkern und Ordnungen dieses Kosmos. Die Kirche ist das Volk Gottes mitten in der Welt, in dem Gott selbst redet, befiehlt, tröstet, hilft, ermahnt und so mit seinem Wort stets gegenwärtig ist.

2. Kirche und Gesellschaft im Verhältnis zueinander

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So ist zweierlei für die Kirche kennzeichnend: einmal die Gegenwart Gottes in seinem Wort, und zwar so, daß er nicht Gegenstand unseres Deutens oder ein Symbol unseres religiösen Fühlens ist, sondern so, daß er als der Herr gegenwärtig ist, der redet, während wir hören. Dieses Reden von Gott her und Hören von uns her sind das Kennzeichen der Rede, die die Kirche trägt, ohne die Kirche in ihrer Besonderheit nicht denkbar wäre; ohne Verkündigung - und das heißt vornehmlich Predigt - wäre die Kirche in ihrer Besonderheit nicht denkbar. Dann ist aber die Kirche durch die besondere Art von Gemeinschaft gekennzeichnet, die sich unter dem Wort bildet und die in den beiden Sakramenten, Taufe und Abendmahl, ihre sie untereinander verbindenden, von anderen Gemeinschaften unterscheidenden Zeichen hat. Die so miteinander verbundenen Menschen nennen sich »Heilige« - ein Ausdruck, der in der katholischen Großkirche bald nur noch einer bestimmten Schicht von asketisch lebenden Frommen zugebilligt wird, ein typischer Ausdruckfür den Kompromiß, der damit im Verhältnis zur Gesellschaft vollzogen ist. Ursprünglich kommt in diesem Ausdruck •die Heiligen«9 aber zur Geltung, daß der Wandel des Volkes Gottes auf Erden sich nicht mehr nach den Gesetzen der Sünde und des Todes vollzieht, sondern nach denen des Geistes und des Lebens (Röm 8,2). Der Titel »die Heiligen« wird aufs Innigste zusammenhängen mit der Bürgerschaft in der oberen Welt (Phil 3,20), 10 zu der sie als die der Macht des Todes Entnommenen gehören. So also, in diesem •lebendigen Tempel«, mitten in einer Schar lebendiger Menschen, die seinen Anruf vernommen haben, wohnt Gottes Geist mitten unter uns. Nicht mehr als Gesetz, das heißt als eine auf Papier geschriebene Ordnung oder in Stein gemeißelte Tafel (2Kor 3,3), sondern - und das ist entscheidend - in diesen •lebendigen Steinen«, nämlich in der aus der Welt herausgerufenen Gemeinde, hat sich Gott seinen Tempel gebaut (lPetr 2,5). Was aber ist demgegenüber die Gesellschaft? Wir lassen zunächst die vielen Deutungen beiseite, die zumal seit dem 16. Jahrhundert die moderne Gesellschaft geformt und immer wieder neu entwickelt haben. Es ist dies eine sehr merkwürdige und aufschlußreiche Sache, die, soweit ich sehen kann, im Altertum kaum da war. Die moderne Gesellschaft 11 ist ein durch 9. Nachschrift E.B.: •Heilig• heißt, umzäunt sein (sancire) durch Gottes Gegenwart; Gott selbst bewahrt und behütet sie. Vgl. S. 46. 10. Nachschrift E.B.: Sie leben nicht in einem Als-ob; weil Sünde und Tod hinter ihnen liegen und ihr Leben gleichsam verkehrt ist, sind sie für die anderen Toren. Sie können den Menschen der Welt nur noch lieben, aber nicht mehr verstehen; Gott allein kennt ihn. II. Nachschrift H.-C.P.: Der •Westen•!

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Kapitel I: Kirche und Gesellschaft als Thema der Ethik

und durch geistiges Gebilde. 12 Sie ist der Erweis für die Bedeutung des Geistes für unser Leben. Sie hebt sich damit aufs eigenartigste ab von der Hierarchie der Engel und den vitalen und brutalen Gesetzen des Tierreichs. Sie ist nichts Irrationales und möchte auch nichts Vitales, nichts Unterbewußtes, sein. Der Mensch möchte sein Zusammenleben so ordnen, wie er auch nach Gesetzen das Reich der Natur geordnet hat. So wird denn die philosophische Ethik die Geburtsstätte der Gesellschaftstheorien. Die Gesellschaft ist das Miteinandersein von Menschen und Gruppen, soweit sich dieses Miteinandersein öffentlich abspielt. 13 In den Gleichnissen spricht Jesus Menschen auf ihre gesellschaftliche Rolle hin an, z.B. den Haushalter, der sich Freunde macht mit dem Mammon (Lk 16,1 ff.), der harte Richter, der schließlich den Bitten der Witwe nachgibt (Lk 18, 1ff.), der Kornbauer, der im Blick auf seine gute Ernte die Sorge um seine Seele vergißt (Lk 12, 16ff.), und was dieser Gestalten mehr sind. Hier begegnet uns der Mensch in der Rolle, die er in dem Miteinander der Menschen spielt, d.h. im öffentlichen Leben. Das Bedeutsame ist nur, daß Jesus nicht darauf verzichtet, in diesen Vorgängen die Nähe des Gottesreiches anzudeuten: in der Rolle, die wir hier spielen, kündigt sich etwas von der Rolle an, die wir dort auf einer ganz anderen Bühne und vor eines ganz Anderen Auge spielen werden. Die Gesellschaft und unser gesellschaftliches Dasein sind nicht gleichgültig für das Gottesreich. Der Tod nimmt uns nicht einfach die Maske ab, um uns nackt und bloß in die Hände dessen zurückzugeben, aus dem wir hervorgegangen sind, sondern das Spiel ist Ernst, und der Spiegel, den Jesus uns vorhält, zeigt eine andere Tiefe als der Spiegel, in dem wir uns selbst in Kunst und Wissenschaft zu erkennen und zu verstehen versuchen. Wenn wir sagen, Gesellschaft sei das Dasein des Menschen im öffentlichen Leben, so meinen wir aber auch - und darin gehen wir über das moderne Verständnis hinaus - , daß auch unser personhartes Dasein in bestimmtem Sinne Maske ist. Vor Gott gilt kein Ansehen der Person (Röm 2, 11). 14 Das geht so weit, daß auch die elementarsten Unterschiede in 12. Randnotiz lwands: •Schöpfung des Geistes•. 13. Nachschrift E.B.: In ihr spielt der Mensch seine Rolle im öffentlichen Leben. Hier hat jeder seinen Titel und Rang. Hier gilt eine Ordnung; hier gibt es Stand, Amt und Beruf.- H.-C.P.: Auf der Bühne der Gesellschaft tragen wir unsere Masken. Im Theater sieht sich die Gesellschaft selbst -je stärker die Gesellschaft konstituiert ist, desto größer das Theater. Randnotiz Iwands: Nietzsche über die Maske! 14. Randnotiz Iwands: Ga! 2,6 (•Von denen aber, die das Ansehen hatten - was sie früher gewesen sind, daran liegt mir nichts; denn Gott achtet das Ansehen der Menschen nicht.); Kol 3,25 (•Denn wer unrecht tut, der wird empfangen, was er unrecht getan hat; und gilt kein Ansehen der Person•); Röm 2,11 (•Denn es ist kein

2. Kirche und Gesellschaft im Verhältnis zueinander

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unserem Miteinandersein (als da sind Herr und Knecht, Jude und Hellene, Mann und Frau, Gal 3,28) Maske sind. Es gibt auch hier noch ein Dahinter. Es gibt auch eine diese Unterschiede autbebende Wirklichkeit, eben die Wirklichkeit Gottes in Jesus Christus. 15 Was dann bleibt, wenn auch diese Masken abgenommen werden, wenn auch diese letzten, unsere Gesellschaft konstituierenden Unterscheidungen fallen, das ist die Frage. Bleibt dann wirklich der Mensch eine vernunftbegabte Kreatur? Bleibt nicht schließlich nur die Gesellschaft? Denkt nicht die Gesellschaft, und der Mensch will nur, was sie denkt? Bleibt nicht vom Menschen dann nur die Idee - Ergebnis der Emanzipation des Menschen von sich selbst? Es gibt kein ideales Personsein des Menschen an und für sich. Man nennt es noch Freiheit, aber dies ist keine Freiheit. »Nur der Glaubende unterscheidet die Person vom Wort (Gottes), die göttliche Larve von Gott selbst und seinem Werk. Noch handeln wir hier mit dem verhüllten Gott; in diesem Leben können wir mit Gott nicht von Angesicht zu Angesicht umgehen. Aber hier kommt es auf die Weisheit an, die Gott von der Larve unterscheidet. Diese Weisheit hat die Welt nicht; daher kann sie Gott von der Larve nicht unterscheiden. Paulus sagt (Gal 2,6) nicht, es dürfe keine Person sein, sondern es dürfe kein Ansehen der Person vor Gott sein. Personen und Larven müssen sein, Gott hat sie gegeben, sie sind seine Kreaturen, aber wir dürfen sie weder ehrfürchtig verehren noch anbeten ... Die Beschneidung zu pflegen, anzubeten und in sie die Gerechtigkeit setzen zu wollen, als wäre die Vorhaut die Sünde, ist ein Brauch, den Gott verurteilt und der aufgehoben werden muß ... So sind Magistrate, ... Vater und Mutter Personen oder Larven, deren fromme Pflege und Anerkennung Gottes Wille ist. Aber er will nicht, daß wir ihnen Divinität zuteilen, d.h. daß wir sie fürchten und verehren, an sie vertrauensvoll glauben und Gottes vergessen. Darum läßt Gott durch diese Personen Sünden und Fehltritte geschehen, die uns ermahnen sollen, zwischen Person und Gott selbst zu unterscheiden. So hat Gott alle Kreaturen zu Brauch und Nutzen geschaffen, nicht zu religiösem Kult. Er allein ist es, der zu lieben, zu fürchten und zu verehren ist« (Luther): 6 Ansehen der Person vor Gott«); Apg 10,34 (•Petrus aber tat seinen Mund auf und sprach: Nun erfahre ich in Wahrheit, daß Gott die Person nicht ansieht«); Eph 6,9 (•Und ihr Herren, tut ihnen [den Knechten] gegenüber das gleiche und laßt das Drohen; denn ihr wißt, daß euer und ihr Herr im Himmel ist, und bei ihm gilt kein Ansehen der Person•). 15. Randnotiz Iwands: Gal 3,28 (•Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus•); vgl. Kol3,11; IKor 12,13. 16. Kommentar zum Galaterbrief, 1531/35, zu 2,6 (WA 40, I, 174,1lff.-176,19): •Hic solus (sc. spiritualis personal discernit personam a verbo, larvam divinam ab ipso

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Kapitel I: Kirche und Gesellschaft als Thema der Ethik

Vor Gott gilt kein Ansehen der Person: Vor Gott wird das Plus und Minus, das mein Personsein im Zusammen-Sein und -Wirken mit anderen ausmacht, einem gründlichen und mit anderen Maßstäben unternommenen Urteil unterzogen. Hier kann es sein, daß die Gerechten verworfen und die Sünder angenommen werden. Hier treten wir auf eine andere Bühne, die uns nicht gestattet, uns hinter einer Maske zu verbergen, sondern hier gilt es »von Angesicht zu Angesicht• (lKor 13, 12). Es ist nicht gesagt, daß die Gesetze von Gut und Böse, die wir machen und mit denen wir das Gewissen der Menschen beherrschen, auch hier, also vor Gott selbst, gelten. Hier stehen wir also jenseits aller soziologischen Analogien; das Verhältnis von Mensch zu Mensch ist kein Ausgangs- oder Interpretationspunkt für das unausdenkbare, das Gott und seiner Gnade überlassene Urteil, das in seinem Reiche und da, wo er der Herr ist, in Geltung steht. Wir nennen dieses Verhältnis - nur um ihm zunächst einen Namen zu geben - die Gerechtigkeit Gottes. Und wir behaupten, daß sie nicht von den Voraussetzungen, Analogien oder Verhältnissen menschlicher Gesellschaft her zu verstehen ist. Mit anderen Worten, wir bezweifeln die Beziehung, die man immer wieder in der Theologie zwischen dem Naturrecht und dieser Gerechtigkeit Gottes herzustellen versucht hat. 17 Deo et opere Dei. lam adhuc agimus cum Deo velato, in hac enim vita non possumus cum Deo agere facie ad faciem. Universa autem creatura est facies et larva Dei. Sed hic requiritur sapientia quae discemat Deum a larva ... Non dicit Paulus, nullam debere personam esse, sed nullam personarum acceptionem apud Deum esse. Personae vel larvae debent esse et Deus eas dedit et sunt eius creaturae, sed nos non debemus eas revereri et adorare ... Colere et adorare circumcisionem et velle statuere iustitiam in ea, in praeputio peccatum, is damnatus usus est qui debet tolli ... Sie Magistratus, Discipulus, Pater, Mater, Servus etc. sunt personae vel larvae quas Deus religiose vult coli et agnosci pro suis creaturis ... Sed non vult, ut tribuamus eis divinitatem, hoc est, ut timeamus et revereamur eas, ipsis fidamus et sui obliviscamur. Ideo in omnibus istis personis relinquit Deus peccata et Iapsus et eos quidem grandes, qui nos admoneant ut inter personam et Deum ipsum discernamus ... Sie omnes creaturas dedit Deus ad utilitatem et usum, non ad cutturn et religionem ... In solo enim Deo gloriandum ac confidendum est. Is solus amandus, metuendus, colendus est.• 17. Die Konstruktion einer solchen Beziehung liegt nicht nur in der römisch-katholischen Theologie vor, sondern sie hat auch in der protestantischen Theologie lutherischer Provenienz eine Tradition, etwa in dem Sinne, daß das Naturrecht eine Wahrheit enthält, die Ausdruck der Gottesgerechtigkeit sein kann, gleichsam dessen Operationalisierung (so H.-H. Schrey, Einführung in die evangelische Soziallehre, Darmstadt 1973, § 10 •Naturrecht als Handlungsorientierung•). Vgl. K. Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde, 1946, These II: •Würde die politische Verantwortung der Christengemeinde unter der Voraussetzung vollzogen, daß auch sie sich an der Frage nach dem wahren Naturrecht beteiligte, daß auch sie ihre Entscheidungen von daher zu begründen versuchte, dann würde das freilich an der

2. Kirche und Gesellschaft im Verhältnis zueinander

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Ich könnte die Aufgabe, vor der wir stehen, auch so umschreiben: Welches ist die Bedeutung, die die Kirche in der Gesellschaft und für sie hat, wenn der Personbegriffund das Naturrecht nicht mehr der Ausgangspunkt für das Verhältnis beider zueinander sein sollen? Haben sie überhaupt eine Beziehung zueinander oder stehen sie nebeneinander wie zwei Welten, die nichts mit sich zu tun haben? Ist die Realität der Kirche das Jenseits und die der Gesellschaft das Diesseits? Vertragen sie sich vielleicht am besten miteinander, wennjeder nach seinem Gesetz, die Kirche nach spirituellem, die Gesellschaft nach irdisch-materiellem, geordnet wird und sich danach richtet? Man könnte auch sagen: Die Gesellschaft lebt nach ethischen, die Kirche nach soteriologischen Gesetzen. Es gibt einen Friedensschluß zwischen Kirche und Gesellschaft, der nicht echt ist, und zwar von beiden Seiten her nicht echt: von der Kirche her, wenn damit die Fragwürdigkeit ihrer Existenz in der Welt, das Kreuz, der ÄrgernisCharakter dieser seltsamen Heiligen mitten zwischen Zöllnern und Pharisäern (Lk 18, 10), beseitigt werden soll, und von der Gesellschaft her, wenn die Gesellschaft zwar die Kirche braucht und gebraucht, aber den eben nicht gebrauchen kann - und darum die Kirche zur Untreue gegen ihn verführt - , der ihr Herr ist. Die Gesellschaft verführt in diesem Friedensschluß die Kirche dazu, ihren Herrn zu verleugnen und zunächst sich innerhalb der Gesellschaft einzuordnen nach einem der möglichen vorhandenen Schemata, vielleicht als geistliche Herrschaft neben und über der weltlichen, wie das in der Lehre von den beiden Schwertern 18 geschehen ist, oder als religiöses Zentrum neben dem irdisch-weltlichen, wie das der Neuprotestantismus in seiner liberalen Lösung versucht hat, oder als Sekte, die nach dem Grundsatz der Glaubens- und Denkfreiheit sich in Macht Gottes, aus Bösem Gutes werden zu lassen - wie er es in der politischen Ordnung faktisch immer tut - nichts ändern. Es würde aber bedeuten, daß auch die Christengemeinde sich an den menschlichen Illusionen und Konfusionen beteiligte. Es ist gerade genug, daß sie, sofern sie ihren eigenen Weg nicht zu gehen wagt, faktisch weithin daran beteiligt ist. Sie kann diese Beteiligung aber jedenfalls nicht wollen, nicht mutwillig herbeiführen. Das würde sie aber tun, wenn auch sie die Norm ihrer politischen Entscheidungen in irgend einer Konzeption des sog. Naturrechts suchen, sie von dorther ableiten und begründen würde.• 18. •Unter den vielen Bildern, mit denen die Zeit diesen Zustand (sc. den Kampf um die Gleichberechtigung der geistlichen und der weltlichen Gewalt) zu umschreiben oder nach der einen oder anderen Seite zu verschieben suchte, spielte die •ZweiSchwerter-Lehre• eine besondere Rolle. Im Anschluß an Luk 22,38 wurde gelehrt, Gott habe zwei Schwerter auf Erden gelassen zur Ordnung der Welt, ein geistliches und ein weltliches. Man konnte daraus die Gleichheit der beiden Gewalten ableiten• (H. Krause, Art. •Kaisertum und Papsttum•, in: EStL, I. Aufl., Stuttgart 1966, Sp. 868).

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Kapitel I: Kirche und Gesellschaft als Thema der Ethik

allen Spielarten entfaltet, geduldet von der Gesellschaft, 19 die solche Absonderlichkeiten nicht ungern in ihrer Mitte toleriert, wie die Despoten die Narren, weil man doch auf diese unschädliche Weise einmal die Wahrheit hört. Die Kirchengeschichte ist Zeuge dieses Bemühens, Kirche und Gesellschaft - Organ der Gesellschaft ist dabei meist der Staat - friedlichschiedlich miteinander in Einklang zu bringen. Die Kirche muß aber mit ihrer Botschaft auf den Plan treten. Jene Gerechtigkeit Gottes muß also mitten in unserer Gerechtigkeit proklamiert werden, und die Gesellschaft muß dadurch das empfangen, wozu die Kirche als Gottes Volk in ihrer Mitte ist, nämlich das wahrhaft Neue und Hoffnungsvolle, nach dem sie angesichts ihrer Nöte und Gebrechen aus der Tiefe schreit (Ps 130, I). Das geschieht nicht dadurch, daß man die Welt, in der wir leben, die uns allen nur zu wohl bekannte Menschheit, in zwei Welten aufteilt, um so Kirche und Gesellschaft unterzubringen. Die Frage ist die, ob es überhaupt eine andere Lösung gibt. Kann es einen echten Frieden zwischen diesen beiden Größen, Kirche und Gesellschaft, geben, einen Frieden, der nicht Verrat am Herrn der Kirche ist und der andererseits doch der Gesellschaft ihr Recht läßt, der die Güte Gottes also nicht streicht, die Langmut, die über dem Treiben auf der Bühne dieser Welt steht (daß es also immer noch regnet über Gerechte und Ungerechte und daß der Vater im Himmel seine Sonne immer noch scheinen läßt über denen, die ihm darüber die Ehre geben, und den anderen, die seinen Namen nicht achten, Mt 5,45)? Wird diese Freiheit der Gesellschaft, die die Kehrseite von Gottes Güte ist, bei einem solchen Friedensschluß zwischen Kirche und Gesellschaft erhaltenbleiben? Oder - auch das ist eine denkbare Möglichkeit, und oft haben gerade die Bedeutendsten unter den Theologen sie allein gelten lassen (man denke nur an die Rede des Stephanus, Apg 7,2ff.) -gibt es hier nur Krieg, nur Ablehnung von allen Seiten der Gesellschaft einschließlich der dort beheimateten Kirche? Die Boten Gottes erwartet nur Verfolgung, Schmähung oder Tod. Jeder Friedensschluß ist grundsätzlich schon Verrat! Es ist klar, daß die beiden hier skizzierten Standpunkte einleuchtend sind, jenes Stillhalteabkommen zwischen den beiden Reichen, wonach Frieden geschlossen wird nach dem Grundsatz »Jedem das Seine« - und der permanente Gegensatz, die prinzipielle Antithese: »Abel mag untergehen, es lebe Kain!« (Luther). Und doch wäre zu fragen: Bedingen sie sich nicht? Haben wir vielleicht hier nur die beiden Enden eines und desselben Gegensatzes vor uns, die beide auseinander hervorgehen? Wir 19. Randnotiz Iwands: •dem a-konfessionellen Staat«.

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werden den Versuch machen, zu zeigen, daß es ein Drittes gibt und daß von der Botschaft des Evangeliums her das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft große, neue und hoffnungsvolle Ansätze bietet - nur muß die Kirche eben als eine solche auf den Plan treten, die diese Botschaft selbst wieder zu hören und auszurichten gewillt ist. 2.1 Das Volk Gottes und die irdische Gesellschaftsordnung Das, was ich dazu beitragen kann, wird ein Versuch sein, und wer weiß, ob wir je aus diesem Stadium des Versuches in dieser Sache herauskommen werden. Ich weiß, die Männer des 19. Jahrhunderts haben anders darüber gedacht. Nicht nur die Konservativen, sondern auch die Liberalen, vielleicht auch sogar die religiösen Sozialisten. Sie alle machen mehr als einen Versuch; sie entwerfen nämlich ein System dieser Ordnung. Sie nehmen sie damit heraus aus der Aktualität jeweiliger Begegnung. Sie entwerfen eine dem Reiche Gottes adäquate Welt- und Gesellschaftsordnung. Es ist die Frage, ob wir das dürfen - und diese Frage ist wieder die andere: ob wir das können. Die christlichen Konservativen, als deren Führer StahP0 zu nennen ist, entwirft unter dem Eindruck der von Frankreich heraufziehenden Revolution die Lehre vom Christlichen Staat. Gewiß, dabei steht auch der mittelalterliche Katholizismus Pate. Man meint, die Reformation sei in dem Bemühen zu weit gegangen, den Menschen in seinem Gewissen zu befreien, ehe man auch die Ordnungen ihrer Heiligkeit entkleidet. Die auf dem Vernunftrecht gegründete revolutionäre Bewegung in Gesellschaft und Staat erfordere eine Neubegründung der Gesellschaftsordnung vom christlichen Denken her. Der Staat sei von Gott als ein sittliches Reich gemeint und er sei gleichsam das Organ, durch welches die Kirche die Ordnung im Volk und in der Gesellschaft lenkt. Dieser ganze Entwurf ist zutiefst bestimmt durch das tiefe Grollen der Revolution, welches im Untergrund der damaligen Gesellschaft vernehmbar ist. Um der Ordnungwillen sei die Kirche im öffentlichen Dasein nötig. Es war nicht die Furcht Gottes, sondern die Angst vor dem von ihm her drohenden Gericht, das als letztes Motiv hinter diesem Entwurf der Christianisierung der Gesellschaftsordnung stand. Wir sind heute Zeugen des faktisch darüber ergangenen Gerichts.

20. F. J. Stahl (1802-1861), Jurist, gehörte zum orthodox-lutherischen Teil der Erwekkungsbewegung, Monarchist und Legitim ist, Mitbegründer der Konservativen Partei in Preußen und der Kreuzzeitung, Mitglied des Ev. Oberkirchenrats (K. Kupisch, Artikel •Stahl«, in: RGG, 3. Aufl., Tübingen 1962, Bd. Vl, Sp. 327).

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Anders Rothe. 21 Man wird die liberale Gesellschaftsordnung nicht allzu flach verstehen dürfen, wie es heute oftmals geschieht. Rothe und ebenso der mit ihm befreundete Bunsen22 sehen ziemlich klar die Zeichen der Zeit. Rothe sieht die Kirche zwischen zwei Lagern, zwischen dem Klerikalismus einerseits, der damals - typisch war der badische Kirchenstreit 23 dem Staat den Eingriff in kirchliche Angelegenheiten absprach, und der atheistischen Revolution andererseits, die gleichzeitig die absolute Verneinung jeder religiösen Grundlage der gesellschaftlichen Existenz proklamierte. Er möchte diese Mitte finden. Er findet sie seiner Meinung nach, indem er die Kirche in dem Staatenbund aufgehen läßt, in dem sich die neue, erlöste Menschheit die ihr gemäße Ordnung gibt. Rothe löst die Dogmatik gänzlich in die Ethik auf; ja, für seine Konzeption ist das gerade typisch, daß beide zusammenfallen und beide eines sind. Kaum ein anderer wie er hat so klar gesehen, daß die gesellschaftliche Ordnung Aufgabe der Verkündigung ist. Aber, um zu vermeiden, daß die Kirche diese Ordnung in ihrer Selbstbehauptung sehe, und getrieben von dem Gedanken der Sendung der Kirche an die Welt, fallen bei ihm schließlich - unter der höheren Einheit des Reiches Gottes - Kirche und Staat zusammen. Der Liberalismus ist im Grunde genommen stärker eschatologisch ausgerichtet als der Konservativismus - im Zusammenfall von Kirche und Staat kündigt sich in der Tat eine Möglichkeit an, nämlich die des tausendjährigen Reiches. Die Sozialisten werden nicht mehr diesen eschatologischen Einbruch durch die Idee der Revolution mildern, wie das bei dem die Schleiermacher'sche Schule nicht verleugnenden Rothe der Fall ist, sondern sie werden den revolutionären Charakter betonen, der zwischen der Gesellschaft und dem Reich Gottes besteht. Sie werden begreifen - man muß hier Kutter24 noch eher nennen als TolstoF5 - , daß das Reich Gottes nicht in der Linie der die Weltgeschichte beherrschenden Entwicklung kommt; es ist nur als Gericht und so als Umgestaltung, als Erneuerung 21. R. Rothe (1799-1867), Hauptwerke: Dogmatik, 3 Bde., Heidelberg 1870 (posth.); Theologische Ethik, 5 Bde., Wittenberg 1867-71. 22. C. K. Frhr. v. Bunsen ( 1791-1860), Diplomat, Hauptwerk: Gott in der Geschichte oder der Fortschritt des Glaubens an die sittliche Weltordnung•, 3 Bde., 1857-58. 23. Durchsetzung einer liberaleren kirchlichen Ära, wobei Rothe (Universität Heidelberg) vermittelte lAgendenstreit und Streit um das Konkordat). 24. H. Kutter ( 1869-1931 ), einer der führenden Vertreter des Schweizer religiösen Sozialismus, Hauptwerke: Sie müssen! 1903; Gerechtigkeit, 1905; Wir Pfarrer, 1907; Die Revolution des Christentums, 1908. 25. L. Tolstoi (1828-1910) steht hier für die Neuentdeckung der Bergpredigt und die radikale Kritik an einer Obrigkeitskirche.

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und Rettung zu erwarten. Der neue Äon will diesem Äon begegnen. Demnach könnte hinter der profanen Revolution der Gesellschaftsordnung etwas durchaus anderes stehen, nämlich etwas Radikales. Zum ersten Mal kündigt sich hier das Problem der Revolution der Ordnung als solcher als ein theologisches Problem an. Wir haben hier den steilen Grat und Gipfel erreicht, auf den nachgerade unsere ganze Fragestellung zuläuft: die Revolution. Kann man sie verneinen, ohne damit das Reich Gottes zu verneinen? Ohne damit der Gesellschaft ihre echte Hoffnung und ihre wahre, von Gott her aufgetane Möglichkeit zu nehmen? Oder aber kann man sie bejahen, ohne damit den Menschen der Ungerechtigkeit zu entfesseln, den anomos (2Th 2,8), der in Wahrheit der Antichrist ist? Die Frage ist nun die, welches dann eigentlich der tiefere theologische Grund ist, warum wir zu dem einen Ja und vielleicht zu dem anderen Nein sagen. Haben wir überhaupt ein Wissen um unsere Stellungnahme oder leben wir unbewußt - gleichsam mythologisch - in diesen oder jenen Systemen, indem wir nicht wissen, was wir tun (Lk 23,34)? Warum sagen wir Nein zu dem Bindestrich zwischen christlich und konservativ? Oder wenn wir nicht Nein sagen: Warum sagen wir Ja und warum sagen wir dann nicht dieses Ja etwas kräftiger? Warum sagen wir es nicht mit jener tiefen Überzeugung, die dem katholischen Ja in dieser Sache eigen ist? Gibt es keine echte conservatio mundi (Welterhaltung), und gilt nicht eben doch, daß da, wo ein Mensch in sich selbst zur Ordnung gelangt, auch die Welt um ihn her geordnet und zu einem geordneten Kosmos gestaltet wird? Gilt dieser platonische Gedanke nicht auch im christlichen Sinne? Spiegelt sich nicht die Friedlosigkeit der Gottlosen darin wider, daß sie die Welt in Unfrieden stürzen? Ist nicht der gottlose Mensch in der Tat der Nihilist, der Revolutionär, der die Lebensmöglichkeit innerhalb der Gesellschaft untergräbt? Ohne Frage sind das die Sorgen und Überlegungen jener christlichen Männer, die vor hundert Jahren den Bindestrich zwischen christlich und konservativ setzten. Sie haben auch ohne Frage recht - wenigstens, soweit es sich um das Phänomen handelt. Merkwürdig ist nur, daß die Schrift dieses Phänomen ganz anders darstellt - es heißt eben nicht: Die Menschen haben die natürlichen Ordnungen verlassen, sondern »darum hat sie Gott dahingegeben« (Röm 1,24). Es ist der Zusammenhang von Schuld und Gericht. Kirchlicherseits suchten also zwei Gruppen, sei es vom konservativen, sei es vom liberalen Weltbild aus, das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft zu bestimmen. Andererseits gab es eine Gegenbewegung, die innerhalb der nachreformatorischen Gesellschaftsordnung, also nach dem Bruch mit dem

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theokratischen System des Mittelalters einsetzt und aus ihr heraus sich anbahnt. Dafür stehen zwei Männer, die noch innerhalb der Kirche beheimatet, doch einerneuen Gesellschaftsidee die Bahn brechen: Jean Bodin26, der die Idee der Toleranz und der natürlichen Religion vertrat und der Wegbereiter des aufgeklärten Absolutismus wurde, und Hugo Grotius27 , der die Idee der universalen Kirche, wie sie damals zerbrach, durch die des übergreifenden, die Völker umspannenden Rechtes (des ius gentium) ersetzte. Beide Ideen, die der religiösen bzw. der dogmatischen Toleranz und des Völkerrechts hängen aufs innigste mit der natürlichen Religion und dem Rückgriff auf die sog. »eingeborenen Ideen• (die ideae innatae) zusammen. Dann aber vollzieht sich ein Bruch, und ein Gesellschaftsverständnis bricht sich Bahn, welches im gesellschaftlichen Denken die Reform bzw. die Erlösung der Menschheit sieht. Die Gesellschaftslehren vor Rousseau waren noch mehr oder weniger theologisch orientiert. Seit Jean-Jacques Rousseau 28 tritt die Philosophie an deren Stelle. Oder - wenn man so will - Rousseau vollzieht, jedenfalls im europäisch-kontinentalen Raum, die Entmythologisierung der Gesellschaftsordnung, indem er diese aus dem Vertragsgedanken versteht, also aus dem freien Zusammenschluß der freien Menschen zu einer einem Gemeinwillen untergeordneten Gesellschaft. Er geht von der natürlichen Gleichheit aller Menschen aus und will diese Gleichheit vor dem Recht im staatlichen Leben verwirklicht sehen. Gewiß, auch Rousseau ist kein Neubeginn; auch seine Konzeption hat ihre lange und in der Tiefe gereifte Vorbereitung. Wir werden sehen, wie ähnliche Gedanken im Covenant der englischen Revolutionskirchen liegen - aber seine nicht mehr religiöse, sondern rein gesellschaftlich gefaßte Formulierung ist von höchster Bedeutung. Hier zeigt sichjenes Bild der Gesellschaft, das von Kirche als solcher nichts mehr weiß. Hier ist die Gesellschaft bereits drauf und dran, sich als Totalität zu verstehen; und hier besteht die Reform des öffentlichen Lebens bereits in der Umkehr aus der persönlichen in die gesellige bzw. öffentlich-relevante Existenz. Auf deutschem Boden haben Rousseaus Gedanken die stärksten Auswirkungen gehabt, nicht nur bei Schiller und Hölderlin, sondern auch bei unseren größten Philosophen, bei Kant, Fichte und Hegel. Die Gesellschaftslehren der idealistischen Philosophie sind eigentlich alle dadurch gekennzeichnet, daß die Gesellschaft sich in ihrem Ethos autonom fühlt und daß es gilt, das Dasein der Menschen miteinander vernünftig zu gestalten. Dieratio (Ver26. J. Bodin (1529-1596), Humanist. 27. H. Grotius (1583-1645), begründet den Staat erstmals naturrechtlich und säkular. 28. J.-J. Rousseau (1712-1778).

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nunft) ist nicht nur Norm, sondern sie ist das eschatologische Prädikat des Daseins. Sie richtet das Dasein der Menschen auf ein neues, besseres, nicht durch Trieb und Einzelinteresse bestimmtes Leben aus. Sie, die ratio, ist die Sonne, deren Strahlen den neuen Morgen, die Befreiung der Menschheit von Dogmatismus und Superstition, von Unbildung und ständiger Unausgeglichenheit ankündigt. Die Theologie ist in die Ecke gedrängt; das Wort Gottes verwandelt sich in die religiöse Anlage. Alle historischen Religionen meinen etwas letztlich Überzeitliches und Ewiges; ihre Rivalität schwächt ihre eigentliche Sendung. Die Theologie muß durch die Philosophie geläutert werden. Es muß von daher die Kritik einsetzen an »aller Offenbarung«, wie der Titel der Jugendschrift Fichtes lautet, wenn die Menschheit zu den neuen Ufern gelangen soll, denen sie aufgrund ihrer wachsenden Naturerkenntnis und ihrer das All erschließenden Wissenschaften zustrebt. So wie die Theologie in der Philosophie untergeht - oder auch aufgeht - , so wird auch die Kirche in der Gesellschaft unter- bzw. aufgehen. Charakteristisch für diese Epoche ist die Vorordnung der Ethik vor die Dogmatik. Bereits Spinoza29 hatte den Glauben an Gott als Ethik entfaltet. Wir wissen, wie eindrucksvoll seine Philosophie auf die großen deutschen Geister Lessing, Goethe, Herder, Jakobi gewirkt hat. Diese Ethik ist nicht mehr more dogmatico entworfen, nicht mehr bezogen auf die kirchliche Dogmatik, sondern more geometrico: So wie Geometrie von Axiomen ausgeht, die absolut feststehen, in sich selbst evident sind, nicht deduziert, nicht abgeleitet, sondern sich selbst durch sich selbst als wahr erweisend, so muß auch die Ethik entworfen werden. Darum Deus sive natura: Das Gottesgesetz und das Naturgesetz sind im Grunde eins. Die Differenz beider - das Auseinandernehmen einer offenbarten Religion und eines natürlichen, vernunftgemäßen Daseins - ist nicht mehr länger zu ertragen. Spinozas Ethik ist soz. die Ethik vor dem Sündenfall, die Ethik, die mit dem amor Dei intellectualis (Liebe zu Gott, der verständlicher Geist ist) schließt und in ihm gipfelt. Das Dasein als intellektuelle Liebe zu Gott verstanden also ein Wandel im Schauen, nicht im Glauben - , das ist der Spinozismus. Es fehlt die Kategorie der Zeit; es fehlt der Fall des Menschen, und es fehlt darum die Realität der Welt. Religion ist hier dichterische Verklärung des Daseins in sein göttliches Insein. Religion ist Kunst, und ein Kunstwerk aus seinem eigenen Leben machen - das wird die eigentliche ethische Aufgabe der Persönlichkeit. So wie bereits für Descartes30 die Welt nur noch Raum, Materie, Ausdehnung ist - res extensa, die der Seele des Menschen, der res 29. B. de Spinoza (1632-1677). 30. R. Desca.rtes ( 1596-1650).

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cogitans, getrennt und streng geschieden gegenübersteht - , so lebt auch der spinozistische Fromme jenseits der von Leidenschaften und Affekten bewegten Welt. Er lebt - geistig - in und bei Gott, in dem es keinen Unfrieden, keine Bewegung, sondern nur ewige Ruhe gibt. Das ist charakteristisch für diese ganze Epoche. Religion heißt Ruhe und Frieden finden. Religion ist das Jenseits im Diesseits, die private, geistige Existenz mitten in der öffentlichen, politischen. Ich würde nicht Luthers Theorie von den beiden Reichen 31 dafür verantwortlich machen, sondern mir Descartes' Weltverständnis und Spinozas Ethik etwas genauer ansehen. Die Gottesfrage ist für diese ganze Epoche eine ethische Frage. Ja, der Gottesgedanke wird nur so begründbar: Gott ist nötig zu denken, weil ohne ihn die ethische Frage, die Differenz zwischen Sollen und Sein, nicht lösbar ist. Dieser Raum, diese innerhalb der Ethik aufbrechende Verlegenheit ist für die Theologie reserviert, und diese kämpft nun mehr als ein Jahrhundert darum, daß diese Verlegenheit auch wirklich offen bleibt. Sie lebt davon, daß die Ethik allein aus sich heraus nicht genügt. Sie lebt von den empirischen Verlegenheiten, die auch der idealste Ethiker nicht wegleugnen kann. Es geht ähnlich zu wie bei einer Revolution; die neuen Herren merken schließlich, daß sie ganz ohne die Hilfe der alten nicht auskommen können, - und diese sind glücklich, daß sie noch gebraucht werden, und arbeiten mit, um Schlimmeres zu verhüten. So lebt die Theologie - und mit ihr die Kirche - in dieser neuen philosophisch fundierten Gesellschaft ein toleriertes Dasein, immer wieder gebraucht und sich brauchen lassend, um die Krisen zu überdecken, die in dem Gesellschaftssystem der ethischen Autonomie aufbrechen. Könnte die Gesellschaft nicht vielleicht an diesen Krisen, wenn sie einmal offen dalägen, nicht theologisch überdeckt würden und die Kirche nicht dazu da wäre, der Gesellschaft ihre Selbstberuhigung zu geben, mehr lernen, wenn sie gezwungen ist, zu sehen, was ist, sich selbst zu sehen mitsamt ihrer Ethik, als wenn sie je und dann Theologie und Kirche als ultimum refugium (letzte Zuflucht) benutzt? Die Frage von Kirche und Gesellschaft ist im Grunde genommen die Frage nach dem Verhältnis bzw. der Ordnung von Theologie und Philosophie. Je nachdem, welche Rolle die Theologie in der Kirche selbst spielt, wird sich das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft gestalten, nämlich ob sich die Kirche der Theologie schämt oder nicht, ob sie selbst den ersten Schritt in diese Welt mit dem Wort Gottes beginnt oder ob sie den Vorrang der ethischen Frage gelten läßt. 31. Zuerst entwickelt in seiner Schrift •Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei•, 1523 (WA 11, 249,24ff.).

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Aber werfen wir einen kurzen Blick auf die drei ethischen Entwürfe, die sich an die Namen Kant, Fichte und Hege! knüpfen! Allen drei ethischen Grundkonzeptionen entspricht ein gesellschaftliches Ideal - der kantischen das der personalistischen, aufgeklärten, dem ewigen Frieden entgegengehenden Menschheit, der Fichte'schen das des letztlich kommunistischen Nationalstaates, des »geschlossenen Handelsstaates«, wie Fichte ihn nennt, der den Krieg mildernd und nur noch am Rande als nötig ansieht, und schließlich dasjenige Hegels, das die Dialektik des totalen Staates, in der kriegerischen Entscheidung von der Vorsehung erwählt, nämlich die Identität von Idee und Wirklichkeit darstellt: den •Gott auf Erden«, wie Hege! sagt. Das heißt, sie leben noch von jener Differenz zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll. Ihr Naturrecht ist noch nicht normativ. Sie kennen darum noch ein Recht, das nicht mit der Wirklichkeit zusammenfällt. Hier steht die Gesellschaft noch unter einer Norm - und demgemäß auch der Staat: Er steht noch nicht jenseits von Gut und Böse. Heget hingegen ist der Begründer des Existentialismus; hier ist die Norm identisch mit dem, was ist. Hege! lächelt über jene schwächliche Lehre der Aufklärung, wonach die Idee im Himmel und der Mensch auf Erden sein soll. Was ftlr ein schwächliches Gebilde! Heget stellt den Kontakt zwischen Idee und Wirklichkeit her. Bei Heget vollzieht sich etwas von dem, was in lMose 6,4 steht: »Da die Gottessöhne zu den Töchtern der Menschen eingingen, und diese ihnen Kinder gebaren, wurden daraus Gewaltige in der Welt und berühmte Männer«. Nicht erst Nietzsche versteht die Gesellschaft vom Übermenschen her und auf ihn hin, sondern bereits Heget liest die Weltgeschichte u,nter dem Gesichtspunkt der besonderen Schnittpunkte, wo sich der Weltgeist in einem Manne inkarniert. Hege! legt in seiner Rechtsphilosophie ein System der neuen Gesellschaft vor, welches die geschichtlichen Kategorien des Schicksals mit denen einer rationalen Gesellschaftsordnung verbindet. Heget entdeckt den modernen, den totalen Staat. 11Der Staat«, so schreibt Hege! in der Rechtsphilosophie, ist deshalb tder Gott auf Erden«, weil er die Einheit der Interessen des einzelnen mit denen des Ganzen verwirklicht. Hege! entwickelt die Lehre vom totalen Staat als den Gipfel des organischen Staatsbegriffes: »Staaten sind keine Privatpersonen, sondern vollkommen selbständige Totalitäten an sich, und so stellt sich ihr Verhältnis anders als ein bloß moralisches oder privatrechtliches.« 32 Das Verhältnis der Staaten zuein32. G. W. F. Hege!, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, III. Teil, 3. Abschn. Der Staat,§ 330, Zusatz, 497f. Vgl. a.a.O., § 258, Zusatz: •Es ist der Gang Gottes in der Welt, daß der Staat ist, sein Grund ist die Gewalt der sich als Wille verwirklichenden Vernunft• (403).

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ander ist nicht mehr durch eine den Staaten übergeordnete Rechtsidee zu ordnen, sondern es ist schicksalhaft. Der oberste Richter ist die Weltgeschichte selbst. »Der Streit der Staaten kann, insofern die besonderen Willen keine Übereinkunft finden, nur durch Krieg entschieden werden« (§ 334). Der Geist der Welt - man sieht, wie weit sich der ehemalige Stiftler vom Neuen Testament entfernt hatte- übt an den Staaten in der Weltgeschichte das letzte, inappellable Gericht aus. 33 Der Weltgeist überträgt einzelnen Völkern jeweils diese - fast möchte man sagen - eschatologische Rolle, daß mit ihrer geschichtlichen Existenz sich die der Weltgeschichte deckt. Dieses Volk übt dann auch die Vollstreckung des göttlichen Willens aus: »Dem Volke, dem solches Moment als natürliches Prinzip zukommt, ist die Vollstreckung desselben in dem Fortgange des sich entwickelnden Selbstbewußtseins des Weltgeistes übertragen. Dieses Volk ist in der Weltgeschichte für diese Epoche - und es kann in ihr nur einmal Epoche machen- das herrschende«(§ 347). 34 Erst von hierher versteht man den Begriff des »Rerrenvolkes« - der eschatologisch gemeint ist; und es ist nicht nötig, wenn wir uns über die Normen unserer Gesellschafts- und Staatsauffassung verständigen wollen, daß wir die moderne Zeit nicht mit Nietzsche, sondern mit Rousseau und Regel beginnen lassen. Regels Rechtsphilosophie war, wenn man will, die schöpferische Übertragung des Rousseau'schen Freiheitsbegriffs in die Welt des preußischen Staatsgedankens. Sie war im Grunde der Abschied vom altprotestantischen Staatbegriff und vollzog jene Verschmelzung von Aufklärung und Staatsphilosophie, die Friedrich dem Großen nur für seine Person, aber noch nicht für sein System und für die Maxime seines Rerrschens gelungen war. Regel ist unentbehrlich, wenn man den Übergang aus dem alten, konservativen Preußen zu dem Deutschen Reich Bismarcks und dessen Worte von »Blut und Eisen« verstehen will. Der Tübinger Stiftler schreibt den Katechismus des modernen, des totalen Staates. Daß erst Karl Marx kommen mußte, um Regel wieder auf die Beine zu stellen, um die Erde und nicht den Himmel, den Menschen und nicht Gott zum Ausgangspunkt dieser Gesellschaftsphilosophie zu machen, brauche 33. •Die Prinzipien der Volksgeister ... , ihre Schicksale und Taten in ihrem Verhältnis zueinander sind die erscheinende Dialektik der Endlichkeit dieser Geister, aus welcher der allgemeine Geist, der Geist der Welt, als unbeschränkt ebenso sich hervorbringt, als er es ist, der sein Recht - und sein Recht ist das allerhöchste - an ihnen in der Weltgeschichte, als dem Weltgerichte, ausübt« (§ 340, a.a.O., 503). 34. Die Fortsetzung des Zitates lautet: •Gegen dieses sein absolutes Recht, Träger der gegenwärtigen Entwicklungsstufe des Weltgeistes zu sein, sind die Geister der anderen Völker rechtlos, und sie, wie die, deren Epoche vorbei ist, zählen nicht mehr in der Weltgeschichte• (a.a.O., 506).

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ich kaum zu sagen. Marx ist die Entmythologisierung der Hegel'schen Gesellschaftsphilosophie, bei welchem Geschäft sogar der Staat in Wegfall kommt und das Proletariat als neue Komponente entdeckt wird - das von der Vorsehung auserwählte Instrument zur Verwirklichung der wahren Freiheit, der klassenlosen Gesellschaft, die nun auch den Krieg nur noch als unvermeidlichen Durchgang zu dem Zustand des ewigen Friedens notgedrungen, aber freilich bewußt bejaht. Man müßte nun, um die andere Seite nicht zu vergessen, auch jene Gesellschaftslehren in den Blick nehmen, die in England und in der neuen Welt, Amerika, entstehen. Angefangen von dem, was sich in den englischen Revolutionskirchen, bei Puritanern und Kongregationalisten, im Kommunismus des Levellertums und in der radikalen Ablehnung alles äußeren Kirchenturns bei den Quäkern herausgebildet hat. In den Kämpfen der englischen Revolutionskirchen geht die auf dem Kontinent steckengebliebene Reformation weiter. Hier vollzieht sie sich, anders als in Wirtenberg und Genf, aber ähnlich den Bewegungen am Niederrhein und in Holland - man denke an die bis heute wirksame Gestalt von Menno Simons! - im gesellschaftlichen Raum. Es kommt zum Kampf um die Glaubensfreiheit, eigentlich zum Kampf um die Freiheit dieser Glaubensausübung, stärker als zum Kampf um die lehrmäßige Fassung dieses Glaubens selbst. Von hier aus wird die neue Welt entstehen, wirklich als eine neue Welt, die das Gegenstück ist zu dem in der Herrschaft von Menschen über Menschen erstarrten und in seinen Traditionen hoffnungslos gewordenen Europa. Als die Pilgerväter im Cape Cod (Kap der Kabeljaue) ihr neues Gemeinwesen gründen, anno Domini 1620 - also etwa gleichzeitig mit dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges -, da entwerfen sie zwei Verträge, die für dieses Gemeinwesen grundlegend sein werden. Der weltliche lautet: »Wir, deren Namen unterschrieben sind, loyale Untertanen unseres Herrschers Jakob, von Gottes Gnaden König von Großbritannien, Frankreich und Irland, Verteidiger des Glaubens. Nachdem wir zur Verherrlichung Gottes und zur Förderung des christlichen Glaubens und zur Ehre unseres Königs und Vaterlandes eine Reise unternommen haben, welche die erste Kolonie im Norden von Virginia begründen soll, verbinden (covenant) und vereinigen wir uns zu einer bürgerlich-politischen Körperschaft, um solche Ziele besser ordnen, bewahren und fördern zu können und um kraftdessenjeweils angemessene und gerechte Gesetze, Verfügungen, Akte, Verfassungen und Ämter schriftlich niederzulegen, zu konstituieren und zu schaffen, wie solches aufs beste angemessen und geziemend für das Gemeinwohl der Kolonie erscheinen wird, welchem wir alle gebührende Unterordnung und Gehorsam versprechen.« 150 Jahre vor Rousseaus Entdeckung des contrat social kommt hier

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ein Covenant zustande, der bereits in allen Stücken diese Züge trägt, die Eidgenossenschaft derer, die diesen Bund bürgerlicher Gesellschaft schließen, gibt sich selbst das Gesetz und verpflichtet sich zugleich, dieses sich selbst gegebene Gesetz, in dem die volonte generalezum Ausdruck kommt, in Unterordnung und Gehorsam zu achten. Hier begegnet uns im weltlichen Raum zuerst dokumentarisch und geschichtlich grundlegend jener Akt der freien Beschlußfassung einer Körperschaft in sich selbst, durch den doch zugleich alle gebunden sind. Es ist sicher nicht falsch, wenn man darin eine Frucht jener Ordonnances ecclesiastiques gesehen hat, die Calvin in Genf der Republik gegeben hat. Aber hören wir noch das geistliche Gegenstück dieses Übereinkommens: »Im Namen unseres Herrn Jesu Christi und im Gehorsam gegenüber seinem heiligen Willen und den Weisungen Gottes. Durch die allweise und allgütige Vorsehung hier zusammengebracht und begehrend, uns in eine Gemeinde oder Kirche unseres Herrn Jesu Christi zusammenzufassen, so wie es allen geziemt, die er erlöst und sich geheiligt hat, bekräftigen wir hiermit feierlich und in aller Gottseligkeit in seiner hochheiligen Gegenwart, daß Jehova, der Herr, der einzige wahre Gott, unser Gott und der Gott der Unseren sein soll, und versprechen und verpflichten uns selbst, in allen unseren Wegen nach dem Maßstab des Evangeliums zu wandeln und in aller aufrichtigen Übereinstimmung mit seinen heiligen Geboten und in gegenseitiger Liebe zueinander und Wachsamkeit übereinander völlig und einzig anzuhangen dem Herrn, unserem Gott, dessen Gnade uns zu allem solchen helfe.« •Es gilt«, schreibt Joseph Chambon in seinem vorzüglichen Buch,35 •dem rastlos spülenden Strom dieser Weltzeit einen Diamantfelsen entgegenzurücken, die Zeit gleichsam anzuhalten durch einen unzerstörbaren Gegenwert, ja, eine Parzelle Ewigkeit in die Zeit einzusprengen. So der civile und der religiöse Bund der Pilgerväter. So die volkskirchlichen •Covenants< der Presbyterianer an den Wendepunkten der schottischen Geschichte - so auch auf seine Weise der mündliche, moralische Bund der Eisenseiten Cromwells in Windsor vor der Hinrichtung Karls I. Als Charakter- und Tatbekenntnisse sind diese Festlegungen gläubiger Verantwortlichkeit kennzeichnend für den Wirklichkeitssinn des Inselreiches gegenüber den dogmatischen Bekenntnissen des Kontinents.« Hier begegnet uns also auch ein Stück jener Eschatologie, die wir in den Lehren der modernen Gesellschaftstheorien in weltlich-rationalem Gewande auftauchen sahen; aber hier heißt es: •in seiner hochheiligen Gegenwart«. Hier ist jenes neutestamentliche Verständnis des Geistes Gottes gewahrt, der nicht aufErden waltet, es sei denn er sammle sich sein Volk, und 35. J. Chambon, Der Puritanismus, Zollikon 1944, 14ff.; 16f.

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der in der Gemeinde seinen Tempel hat, in dem er wohnt. Er ist nicht als Programm auf Papier geschrieben- und alle philosophischen Entwürfe sind Programm, »Buchstabe«, wie Paulus 2Kor 3,6 sagt, tötender Buchstabe, um es noch näher zu bestimmen - , sondern er ist in lebendige Herzen geschrieben. Hier versteht sich die Gemeinde aus der Gegenwart Gottes selbst. Hier ist ein Schritt im Verständnis des dritten Artikels getan, der offenbar weiter geht als das, was wir in Europa von der Reformation behalten haben, der nächste Schritt, der bei uns nicht geschah. Darum werden die Gesellschaftslehren, die uns von dorther erreichen, ein anderes Gesicht haben, eine andere geistige Fundamentierung, aber auch andere Gefahren, als wir sie bei uns kennen. Wir werden, wenn wir uns begegnen - die Frage Ost und West dürfte ein Kapitel aus dieser Begegnung sein - , darauf achten müssen, daß wir nicht zuerst den Splitter im Auge des Bruders sehen (Mt 7,3)! Wir werden, wenn wir das Wort Demokratie hören, nicht so sehr an Athen zu denken haben als an das Parlament independenter Puritaner und an jene Gründungsakte der Pilgerväter am Kap der Kabeljaue. Sie haben »das Joch widerchristlicher Bindungen• abgeschüttelt »und als des Herrn freies Volk sich zu einer kirchlichen Körperschaft in der Gemeinschaft (fellowship) des Evangeliums« zusammengeschlossen, »Um in allen Wegen Gottes zu wandeln gleichviel, was es koste«. 36 Man kann schon eher an das wandernde Gottesvolk denken, wie es uns in den Zeilen des Hebräerbriefes (11, 13) begegnet, wenn man die seltsame Form der Entstehung dieser Demokratie verstehen will - und man wird wohl ebenso die Entfernung der Jahrhunderte einkalkulieren müssen, wenn man das Einst und Heute gegeneinander abwägt, wie man auch diesen Abstand sehen muß, wenn man unsere europäischen Daseinsformen auf dem Hintergrund der Reformation und des Bekenntnisses vor Kaiser und Papst recht begreifen will, das damals ein Mann ablegte, der später von sich sagte, damals sei er die Kirche gewesen. Bald werden von drüben, von der neuen Welt her, die »Menschenrechte« proklamiert werden. 2.2 Das Offensein der Kirche nach der Gesellschaft hin Wir haben Kirche und Gesellschaft durch zwei vorläufige Definitionen zu umreißen versucht: Kirche ist in dem Sinne das Volk Gottes auf Erden, daß Gott selbst mit seinem Geist in seiner Mitte wohnt, während die Gesellschaft unser Dasein und Zusammensein im öffentlichen Leben umschließt. Hier gilt das »Ansehen der Person• (vgl. Gal2,6),ja, dieses macht 36. J. Chambon, Der Puritanismus, Zollikon 1944, 7.

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Kapitel I: Kirche und Gesellschaft als Thema der Ethik

geradezu das öffentliche Leben aus. Auch die private Existenz, die wir hier führen, die staatsbürgerliche Freiheit, haben wir so weit und in dem Maße, als die Gesellschaft sie gelten läßt, als sie ein gesellschaftlicher »Wert« ist. Sie kann uns diese private Existenz auch nehmen. Sie kann erklären, daß wir diese private Existenz nur im Dienste der Gesellschaft haben und als eine Funktion der Gesellschaft zu führen haben. Wie verhalten sich nun beide, Kirche und Gesellschaft, zueinander? Sind sie füreinander offen? Und inwiefern? Wir wollen zunächst dieses Offensein von der Kirche her untersuchen: Gibt es ein spezifisches Offensein von der Kirche her für diese Gesellschaft? 37

2.2.1 Das P.fingstereignis Zunächst und allem anderen voranstehend ist dieses Offensein gegeben mit Pfingsten. Es ist keine Nebensächlichkeit, daß im Glaubensbekenntnis das Credo an den Heiligen Geist demjenigen des Glaubens an die Kirche vorangeht und auch qualitativ übergeordnet ist. Es heißt »Ich glaube an den Heiligen Geist« genauso wie »Ich glaube an Gott«, »an seinen Sohn«. Der Glaube an den Heiligen Geist steht auf derselben Höhe und Linie wie der an Gott, den Vater und den Sohn. Er ist Glaube an Gott. Seine Gegenwart und die Ausgießung des Heiligen Geistes »über alles Fleisch« (Apg 2, 17) sind die Voraussetzung der Kirche. Diese ist seine Schöpfung; er ist der Schöpfer. Wo er nicht weht, da kann auch die Kirche nicht Bekenntnis des Glaubens sein. Damit ist aber das Offensein der Kirche gegeben: Sie hat nicht den Geist, sondern dieser hat sie, die Kirche, in seiner Macht und »er weht, wo er will« (Joh 3,8). Das Ereignis Kirche ist sein Werk und seine Gabe. Er kann machen, daß die Ersten die Letzten sind und die Letzten die Ersten werden (Mk 10,31). Er kann das Licht vom Leuchter nehmen (Oftb 2,5) und es anderswo aufbrennen lassen, »wo und wann es Gott gefallt« (CA V). Er hat, wie das Martin Kähler in einer Vorlesung einmal ausgeführt hat, das Evangelium von Byzanz nach Rom und von da zu den Germanen gebracht; er kann es auch hier wieder nehmen und es anderswohin tragen. 38 Von ihm her gesehen ist die Geschichte der Kirche immer Missionsgeschichte, und die Form ihrer Ausbreitung ist der Botendienst des Evangeliums. Aber Pfingsten bedeutet noch mehr: Die Gegenwart des Geistes bedeutet Umkehr. Die Menschen sind gerufen, sich •erretten zu lassen von diesem 37. Vgl. H. J. lwand, Die Bibel und die soziale Frage (Anhang, S. 245ff.; 255ff.). 38. M. Kähler, Der Gang der Menschheit, 1906, in: Dogmatische Zeitfragen, 3. Bd. Zeit und Ewigkeit, 2. Aufl., Leipzig 1913, 196-212.

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verkehrten Geschlecht« (Apg 2,40). Das Dasein, das der Mensch in der Gesellschaft führt - man denke an den furchtbaren Eingang des Römerbriefes (1, 18ff; 2, Iff.) - , ist verkehrtes Leben, in Wahrheit also kein Leben, sondern ein Hingegebensein in den Tod. Insofern ist die Botschaft von Jesus Christus und seinem Reich immer Ruf zur Umkehr und zur Taufe im Namen Jesu zur Vergebung der Sünden (Apg 2,38); die Botschaft heißt immer, daß unser Leben bisher unter dem Gesetz des Todes steht und daß es nun unter »das Gesetz des Geistes des Lebens« (Röm 8,2ff.) treten soll. Wo die Vergebung der Sünden ist, da ist das Ende dieses Äons Gegenwart geworden. Die Gesellschaft wird also nicht angesprochen auf ihre Ordnungen hin; denn das, was sie Ordnung nennt, sind »gottlose Bindungen«39 , aus denen wir befreit werden. Ordnung wird das erst, indem wir uns ihnen frei, als »Söhne Gottes• (Röm 8, 14f.), also in Freiheit unterziehen. Barth hat das in seinem Vortrag »Der Christ in der Gesellschaft« aufs beste gesagt.40 Und schließlich bedeutet Pfingsten die neue Sprache. Sie hören alle von den großen Taten Gottes reden (Apg 2, II ). Es handelt sich also nicht um eine Sprache neben anderen, etwa auch noch die der Christen in der furchtbaren Verwirrung, die wie ein Fluch die Menschheitsgeschichte durchzieht und bewegt. Neben diesem Kauderwelsch der Dialekte nun auch noch ein christliches Kauderwelsch? Es ist eine senkrecht von oben kommende Sprache, die alle daran erinnert, daß sie einen und denselben Vater haben nicht nur die Völker, sondern auch die Stände, nicht nur die Stände, sondern auch die Geschlechter. »Allesamt einer in Christus« (Gal 3,28) - das ist die neue Sprache. Sie erinnert die Menschen in der Gesellschaft daran, daß ihre Gegensätze letzten Endes Mißverständnisse sind und daß wir alle von einem herkommen. Es ist nicht gut, zu verdammen, wo man selbst den Balken im Auge hat (Mt 7,3), und zu Gericht zu sitzen, wo man selbst nur vom Erlassen der Schuld lebt. Die, die heute als Bettler vor unserer Tür stehen, werden morgen vielleicht die sein, die uns »aufnehmen in die himmlischen Hütten« (Lk 16,9). Der reiche Mann weiß nicht, was der arme Lazarusin seinem, nicht mit dem Tode abgeschlossenen, sondern erst anhebenden Leben bedeutet (Lk 16, 19ff.); sonst würde er nicht so ruhig und glück39. Theologische Erklärung der Bekenntnis-Synode in Barmen, 1934, Satz 2: •Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünde ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen• (Quellen zur Geschichte des deutschen Protestantismus 1871-1945, hg. v. K. Kupisch, Siebenstern-TB 41/42, München 1965, 276). 40. K. Barth, Der Christ in der Gesellschaft. Eine Tarnbacher Rede, in: Das Wort Gottes und die Theologie, Ges. Vorträge, München 1924, 33-69, abgedruckt auch in: Theologische Bücherei, Anfange der dialektischen Theologie, Teilt, München 1962,3-36.

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lieh sein können. Die Pharisäer wissen nicht, wer vor Gott gerecht ist und wer nicht; sonst würden sie den Kreis der Frommen nicht so klar und deutlich gegenüber den Sündern und Zöllnern abstecken (Lk 18,9ff.). Das ist die neue Sprache. Sie verstehen sie alle; denn hier werden sie angesprochen von Gott. Hier ist das Letzte und zugleich das Ursprüngliche Ereignis; hier ist es Wort geworden, eine Sprache von morgen. Da, wo die Christen deshalb etwa aus »Furcht« vor der Gesellschaft wieder hinter verschlossenen Türen sitzen (Joh 20, 19), wo sie aus konservativer Rücksichtnahme nicht den Mut haben, die Ordnungen, in denen die Gesellschaft lebt - und seien sie noch so heilig - »gottlose Bindungen• zu nennen, wo sie also die Sprache ihrer Zeit, ihres Standes, ihres Volkes, einer gerade geltenden Wert- und Weltanschauung reden, - da hören sie auf, offen zu sein; da fällt eine Tür ins Schloß, und wird eine Hoffnung, die einzige Hoffnung, begraben. 2.2.2 Der Christus draußen vor der Tür

Das zweite Moment, das das Offensein der Kirche nach der Gesellschaft hin ausmacht, ist der Herr der Kirche selbst, Jesus. Es wird nicht ohne Grund in der Bibel gesagt, er habe »außer dem Lager gelitten• (Hebr 13, 12). Er ist kein »Heiliger«, sondern »zur Sünde gemacht« (2Kor 5,21). Die, welche an ihn glauben, sind sein - aber er gehört nicht ihnen. Er steht immer draußen! Er ist immer »die Tür• (Joh 10,9); er sorgt dafür, daß die Heiligkeit der Heiligen keine abstoßende, keine die anderen von sich abgrenzende, sondern eine anziehende, einladende, eine froh und menschlich machende Heiligkeit ist. »Die Sophisten berauben uns der Erkenntnis Christi und des süßesten Trostes, daß Christus für uns zum Verfluchten gemacht wurde, damit er uns vom Fluch des Gesetzes loskaufe, weil sie Christus von den Sünden und den Sündern trennen und ihn nur so weit vorstellen, daß er für uns ein nachahmenswertes Beispiel ist. Auf diese Weise überliefern sie uns Christus nicht nur unnütz, sondern machen aus ihm einen Richter und Tyrannen« (Luther) 41 Es ist darum alles andere als ein finsteres Dogma, 41. Kommentar zum Galaterbrief, 1532, zu Gal3,13: •Hac cognitione Christi et consolatione suavissima, quod Christus pro nobis factus sit maledictum, ut nos a maledicto legis redimeret, privant nos Sophistae, cum regregant Christum a peccatis et peccatoribus et eum tantum proponunt ut exemplum nobis imitandum. Hoc modo reddunt Christum nobis non solum inutilem, sed etiam Iudicem et Tyrannum constituunt qui irascatur peccatis et damnet peccatores.• (WA 40, I, 434,21ff.); Fortsetzung des Zitates: •Wir aber müssen Christus einschließen (involvere) und erkennen, daß er wie in Fleisch und Blut so in die Sünden, den Fluch, den Tod und alle unsere Bosheiten eingeschlossen ist.•

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wenn die Kirche Jesus bekennt als den Gekreuzigten, Gestorbenen, Auferstandenen; damit hält sie gerade die Tür offen für die Welt. Wenn er aufhört, dieser Fremde zu sein, wird er von den »Sündern« getrennt, hört er auf, den Fluch der Welt zu tragen. Dann geht die Tür zu, diese Tür des großen Erbarmens Gottes. Dann verstummt die Einladung an die »Guten und Bösen« (Mt 5,45); dann dürfen sie nicht mehr kommen, wie sie sind, sondern dann müssen sie sein, wie wir sie wünschen. Dann wird nicht mehr Volk Gottes und Gesellschaft zusammenkommen. Dann werden sie sich doch wieder beschneiden lassen müssen (Gal 5,2), und wir werden es nur mit den »eingebildeten und gemalten Sündern« (Luther) 42 zu tun haben, mit Leuten, die sich selbst ihre Sünde, aber auch ihre Tugend zuschreiben und anmalen, aber nicht die »wahren Sünder«43 , die nur er, der Gekreuzigte, rufen kann, nicht aber wir mit unseren Sündenbekenntnissen und Gnadenerlebnissen rufen können. Also er ist die Tür, solange er der sein darf, der er von Gott aus ist: der Verfluchte, der mit allen Sünden Beladene.44 Darum ist die Lehre von Jesus so bedeutsam: Was machen wir aus ihm? Machen wir überhaupt etwas aus ihm? Oder lassen wir ihn als den, wozu ihn Gott gemacht hat? Kein Wunder, daß die Türe zuging, als sich das Menschenverständnis der modernen Gesellschaft auch als Maßstab der Menschlichkeit Jesu setzte; die Armen gingen auf einmalleer aus, und die Kirche wurde eine bürgerliche, eben dieser Gesellschaft dienende Kirche. Jesus ist das Haupt seiner Kirche, aber er ist zugleich der Herr der Welt (Eph 1,20ff.). Was er für die Welt, ihr selbst noch unbewußt und unbegriffen, ist, das sollte er in seiner Gemeinde jetzt schon begriffen und bekannt vor aller Welt sein! Fragen wir uns doch einmal: Kann die Welt begreifen, was es heißt, unter diesem Herrn zu leben? Kann sie ahnen, wenn sie einen Blick hinein in diesen Tempel tut, daß hier jene Umkehr vollzogen ist, die ihr in ihrer Immanenz durchaus nicht gelingen will? Kann sie sehen, daß das Leute sind, die wissen, daß sie nicht mit Gold und Silber erlöst worden sind (1Petr 1,10), und die darum auch diese Schätze, die die Motten und der Rost fressen (Mt 6,19), richtig einzuschätzen wis42. Z.B. in den Thesen der Heidelberger Disputation, 1518 (WA 1, 370,9: •Non fictos, sed veros peccatores salvat«). 43. Nachschrift H.-C. P.: Das Sündenbewußtsein ist nicht im Neuen Testament, sondern nur in unserer Moraltheologie das Erste. Nicht der bekehrte Mensch steht in der Tür, sondern der Gekreuzigte. 44. Nachschrift E.B.: Jesus Christus ist nur als der Gekreuzigte mit den Sündern verbunden. Sobald wir ihn begreitlieh gemacht haben, wird die Kirche zur Dienerin der Gesellschaft, und siegt die Gesellschaft.

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sen? Kann sie sehen, daß die »Fürstentümer und Gewaltigen«, also jene Mächte, unter denen sie gerade in ihrer öffentlichen Existenz so zu seufzen hat, »ausgezogen und an ihm, dem Herrn, zur Schau getragen worden sind« (Kol 2,15)? Sie haben hier nichts zu gelten und zu vermelden. Diese Leute fürchten sich nicht, weil sie wissen, jene können nur den Leib töten (Mt 10,28), aber der endgültige, letzte und unauthebbare Tod kommt woandersher. Kann sie sehen, daß, die Sorge, jene graue, durch alle Schlüssellöcher zu uns hereinkriechende Gestalt, 45 gebannt ist, weil dieser Herr regiert, daß hier wieder die Lilien auf dem Felde und die Vögel unter dem Himmel in der zeichenhaften Sprache verstanden werden, die dem Menschen, dem Kind der Sorge, nicht mehr begreifbar schien (Mt 6,25ff.)? Ist es nicht etwas peinlich, daß die moderne Gesellschaft das nicht mehr bei der Kirche, sondern bei Rousseau gelernt hat? Wir könnten diese Fragen ins Unendliche fortsetzen. Sie sind die Fragen der Heiligung. Nur solange sie von den Christen so beantwortet sind, daß die »draußen« begreifen, werden uns keine unechten Tugenden vorgemacht, sondern hier wird etwas spürbar von den »Tugenden dessen, der uns berufen hat zu seinem wunderbaren Licht« (IPetr 2,9; 2Petr 1,3); es wird deutlich, daß unsere Werke nicht uns, sondern unseren Vater, der auch ihr Vater ist, preisen (Mt 5,16) - nur so lange ist die Kirche nach der Gesellschaft hin offen. 2.2.3 Das Reich Gottes als Grenze der Kirche Ein Drittes möchte ich sagen: Die Kirche ist nur so lange offen, als sie sich nicht mit dem Reich Gottes verwechselt oder an dessen Stelle setzt. Daß die Spanne zwischen dem Reich Gottes und ihr immer deutlich ist, das ist das letzte und entscheidende Kriterium für ihr Offensein nach der Seite der Gesellschaft hin. Das bedeutet zunächst einmal: sie kann mitleiden. Alles, was vor ihrer Tür geschieht, könnte für sie ein Zeichen des kommenden Reiches sein. Es muß nicht, aber es kann in diesem Zeichen kommen. Es kann kommen im Frieden; es kann hier der ergriffen und begriffen werden, »der den Kriegen in aller Welt steuert« (Ps 46,10). Es kann auch kommen im Krieg, aber nicht so, daß wir ihn forcieren, sondern so, daß wir unsere Häupter erheben und wissen, daß unsere Erlösung naht (Lk 21,28). Es kann kommen in den Stößen und Bewegungen, die unter der Decke der herrschenden Klasse sich bemerkbar machen als ein Hungern und Dürsten nach Gerechtigkeit (Mt 5,6). Es könnte sein, daß die Kirche, wenn sie hier nicht offen ist, sich selbst als eine satte und zufriedene, eine in dieser Welt heimisch gewordene erweist. Es muß nicht alles 45. J. W. Goethe, Faust, li, V, 11391.

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durch die Kirche kommen und in der Kirche kommen, was von Gott kommt - aber es muß alles in seinem Namen kommen. Und in seinem Namen kommen auf alle Fälle drei Dinge nicht: Steine in Brot verwandeln, Wunder und Wagnis gleichsetzen, Herrschaft durch Anbetung des ,.fürsten dieser Welt« (Joh 12,31; Mt 4, 1ff.) ausüben. Wo es in der Kirche um diese Welt, um den Magen und um den Zauber, auch den modernen der Propaganda, und um die Herrschaft auf Kosten des ersten Gebotes geht, da hat sie vergessen, daß sein Reich nicht von dieser Welt ist (Joh 18,36). Da hat sie aufgehört, zu warten, und damit ist die Tür endgültig und für immer zugeschlagen. 46 2.3 Vom Offensein der Gesellschaft für das Reich Gottes Nachdem wir die Frage stellten, ob es eine Offenheit der Kirche auf die Gesellschaft hin gibt, fragen wir nun umgekehrt: Gibt es das nämliche, also dieses Offensein der Gesellschaft - aber nun nicht nach der Kirche, sondern auf das Reich Gottes hin? Das Kommen dieses Reiches ist sozusagen das geheime Dritte, die neutrale und doch wieder alles andere als neutrale Größe, die sich zwischen Kirche und Gesellschaft einschiebt und so einen Beziehungspunkt zwischen den beiden einander so fremden Größen bildet. Das Kommen des Reiches Gottes ist genau dasselbe wie das Evangelium: So wie dieses immer zwischen den Fronten steht, zwischen Juden und Heiden, zwischen Pharisäern und Zöllnern, zwischen den Sehenden und den Blinden, zwischen dem Sohn, der beim Vater blieb, und dem andern, der als der ,.verlorene« heimkehrt (Lk 15, 11 ff.), zwischen den Gerechten und den Gesetzlosen, zwischen denen, die nahe sind, und denen, die ferne sind (Eph 2, 13) -um auf eine neue Ebene zu verweisen, wo wir jene Gegensätze, die die Gesellschaft im Großen wie im Kleinen zerreißen, wo Thesis und Antithesis ,.aufgehoben« sind in der überlegenen, keineswegs in der Mitte, sondern in der Höhe liegenden Synthesis - , genau so kommt das Reich Gottes als dasjenige, was wir in keines der vorhandenen Schemen (vgl. Röm 12,2; 1Kor 7,31), in keiner unserer Ordnungen und Gerechtigkeiten unterbringen können, nicht als neuer Wein in alten Schläuchen (Mk 2,22), sondern als Inhalt mit eigener, mit neuer und erneuernder Gestalt.

46. Nachschrift H.-C.P.: Das Reich Gottes ist das die Kirche fragende Reich. •Außerhalb der Kirche kein Heil• (extra ecdesiam nulla salus) trifft nur dann zu, wenn diese Kirche in steter Beziehung zum Reich Gottes steht. Die Reich-Gottes-Erwartung ist die politische Ausrichtung der Gemeinde. Sie beachtet die Zeichen der Zeit.

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Man muß schon diesen Standpunkt »außerhalb« der beiden zur Diskussion stehenden Partner einnehmen, also auch »außerhalb« der Gesellschaft, um deren Offensein zu sehen, nämlich deren geheime, ihr selbst nicht bewußte Nähe zum Gottesreich und deren Wunden und Schwären (vgl. Lk 16,20), die sie auch wiederum gern vor sich und anderen verbirgt, weil sie weiß, es ist keiner da, der das verbinden kann! Es gibt auch eine andere im Luthertum traditionelle Methode, dieses Offensein der Gesellschaft nach dem Reiche Gottes hin einfach zu leugnen, es nicht zu sehen, alles auf den einzelnen, auf den Menschen als solchen, sozusagen auf den nackten Menschen zu beziehen und nicht auf den bekleideten, der auf der Bühne dieser Welt seine Rolle spielt. Hier ist es üblich, diesen Menschen zu entkleiden und ihm dann das Gegenteil seines Offenseins zu zeigen, nämlich sein Verloren- und Gefangensein unter Gesetz, Sünde und Tod; und von der Verlorenheit des Menschen her, von dem ihn der Sünde überführenden Gebrauch des Gesetzes (usus elenchticus legis) her auch der Gesellschaft kein Offensein für das kommende Reich, für das Evangelium und für die Verwandlung der Welt zuzusprechen. Im Gegenteil! In der lutherischen Tradition ist das Offensein der Gesellschaft für die Botschaft der Kirche der »Staat«, nicht der Gottes-Staat, nicht die »Königsherrschaft« Gottes, die mitten unter uns ist (Lk 17,21), sondern der als eine autonome, in sich selbst legitimierte Größe auftretende Staat. Was in Wahrheit aus diesem Staat bei einer derartigen Auffassung geworden ist und auch werden mußte, werden wir noch sehen - ich verweise hier nur auf Oswald Spengler und Max Weber' 7, die am besten diesen modernen Leviathan geschildert haben. Aber eines sollte deutlich sein: Dieser über die Gesellschaft von oben her, als Autorität, und wie eine unbewegliche Größe gesetzte Staat wirkt wie ein Dach gegen den Himmel, so daß die Einwohner dieses Hauses nicht mehr die Sterne über ihrem Haupte leuchten sehen können. Dieses Gebäude, Gesellschaft genannt, dieses Gewimmel, in dem wir uns alle bewegen, dieses Meer von großen und kleinen Nutz-, Haus- und Raubtieren, ist wie in einen Käfig eingeschlossen. Die Begrenzung der Gesellschaft durch den Staat - anstatt umgekehrt den Staat in die Bewegungen der Gesellschaft einzubeziehen, um so auch in dieses Gebilde Bewegung zu bringen, - das ist das eminent Uneschatolo47. 0. Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 2 Bde., München 1922-23, Kap. •Der Staat-; M. Weber, Ges. politische Schriften, hg. v. J. Winckelmann, 4. Aufl., Tübingen 1980; in seinem Vortrag •Politik als Beruf• (505fT.) definiert Weber den Staat als •ein auf das Mittel der legitimen (das heißt: als legitim angesehenen) Gewaltsamkeit gestütztes Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen• (507); •für die Politik ist das entscheidende Mittel: die Gewaltsamkeito (552).

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gisehe der typisch lutherischen, aber von Luther und seinen Gesellschaftsschriften immer wieder prinzipienwidrig durchbrochenen Gesellschaftslehre. Der Staat ist die ausgesprochene Diesseitigkeit; er ist die personifizierte ,.Hoffnungslosigkeit« der Gesellschaft geworden. Er ist geradezu an die Stelle der Bürgerschaft Gottes (civitas Dei) 48 getreten. Kirche und Staat haben sich den Menschen aufgeteilt; der eine hat seine Seele, der andere seinen Leib beansprucht. Was soll aus diesem Torso von Mensch werden? Nach lutherischer Tradition entspricht jenem Verschlossensein des Menschen durch Gesetz, Sünde und Tod für das Gottesreich - diesem »Totsein« (Eph 2, I ff.) des Menschen - die Lehre vom Staat als der gottgesetzten Struktur der Gesellschaft. Die Toten im Totenreich! Gewiß ist das alles richtig; aber es tritt in der lutherischen Normaldogmatik an der falschen Stelle auf. Erst damit, daß das Licht da ist (Joh 1,9), wird auch der tiefe Schatten bemerkbar, den die Gestalt des Menschen auf diesen Kosmos wirft. Erst damit, daß das Gottesreich »mitten unter uns« (Lk 17,21) getreten ist, wird deutlich, in welchen Fesseln und in welchen gottlosen Bindungen wir stecken! Erst wenn der Reiter über den Bodensee hinweg ist, kann er überhaupt ertragen, zu sehen, was er »hinter« sich hat. Erst das Evangelium und dann das Gesetz, Sünde und Tod! Erst Christus und dann in ihm, nicht in uns, nicht im Menschen und in seinem Selbstverständnis, können Sünde und Tod sichtbar und so für uns überhaupt erträglich gemacht werden. Erst das Gottesreich und seine Hoffnung, erst die Wendung unseres Blickes und das Aufgeschlossensein unserer Ohren für diese Botschaft - dann der Staat und sein tiefes Gefallensein an die ,.reine• Macht! Erst die Freudenbotschaft mitten hineingetragen in die Gesellschaft, unter die ,.Leute«, und dann die Reaktion, die im übrigen schon immer im Resultat feststehende Reaktion der Gewalthaber auf die Tatsache, daß mitten in ihrem Gefängnis die Gefangenen unruhig geworden sind und begriffen haben, es ist ein anderes Reich nahe, und ihr Zwingherr hat die Entscheidungsschlacht bereits verloren. Erst Evangelium - und dann wollen wir gleichsam an der Hand unseres Befreiers durch die dunklen Verliese und lichtscheuen Ecken dieses fatalen Gemäuers gehen; dann mag die Decke weggezogen werden über dem, was einmal Gesellschaft war und wo wir einmal zu leben verdammt waren, wie es im 48. Darunter verstand Augustinus die •auf Erden pilgernde Kirche•, die eigentliche Gemeinde der Erwählten als •Teil der Bürgerschaft Gottes, d.h. der durch die Liebe zu Gott vereinten Engel und Menschen. Ihr steht die Gemeinschaft der durch Liebe zum Irdischen Geeinten gegenüber, die civitas terrena oder civitas diaboli• (P. Lorenz, Art. •Augustin•, in: RGG, 3. Aufl., Tübingen 1957, Bd. I, Sp. 746). Vgl. A. Augustinus, Der Gottesstaat (De civitate Dei), Buch 11-22.

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Römerbrief, Kapitel 1, lautet: »Denn Gottes Zorn vom Himmel wird offenbart über alles gottlose Wesen und Ungerechtigkeit der Menschen. die die Wahrheit in Ungerechtigkeit aufualten« (Röm 1, 18). Aber auch der Zorn Gottes wird erst offenbar gemacht damit, daß die Freudenbotschaft der neuen und besseren Gerechtigkeit unter uns erklungen ist, wie das Günther Bornkamm49 in seinem Aufsatz zu Röm 1 nachgewiesen hat. Auch das ist Offenbarung - und nicht »existentiell nachweisbare Daseinsstruktun~fromme« Gesellschaft in der Gesellschaft, wie das die Pharisäer, die ,.Abgesonderten~Heiligen«, die damit die anderen erst zu ,.Profanen« machen, warum die Klerikalisierung der Gesellschaft? 53 Es gibt ein analoges Offensein der Gesellschaft auf das Reich Gottes hin. Das ist der Sinn der Gleichnisse Jesu. In diesen reicht das Gottesreich mitten hinein in das Leben und Treiben der Menschen auf dem Markte und in ihren Häusern, da, wo sie wirklich zuhause sind, wo sie lachen und weinen, wo sie lieben und hassen, wo sie verkommen oder sich als ordentliche Söhne führen. So zum Greifen nahe ist uns allen das Gottesreich; aber wenn wir danach greifen, ist es ferner denn je. Analogien sind keine Stufenleitern der Erkenntnis, um von unten nach oben zu gelangen. Gerade die Nähe dieser Gleichnisse offenbart ihre Ferne. Gerade indem uns die Augen aufgehen, wie Gott unser Leben meint, müssen wir bekennen: »Gehe hinaus von mir, denn ich bin ein sündiger Mensch!« (Lk 5,8). Das ist das Furchtbare an dieser Nähe, daß sie offenbarend ist für die Ferne, daß diese Gleichnisse wirklich Gleichnisse des Unvergleichlichen bleiben, zeitliche Bilder des Ewigen, Faßlichkeit des Unfaßlichen. Darum ihre fast expressionistische Verzerrung! Darum das im Letzten doch wieder Unwirkliche der hier handelnden Personen; man merkt, alles ist nur Geste, nur Transparent für etwas Unbegreifliches. Wir können gerade in dieser Nähe erst begreifen, daß wir es nie begreifen werden: je näher dieses Licht kommt, um so gehaltener sind unsere Augen. Die dem Liberalismus so anstößige, seinem Jesusbild so gänzlich quer liegende Verstockungstheorie (Mk 4,12) - ein unbegreiflich hartes Wort! Welche Theologie kann das überhaupt in sich unterbringen? - ist der geheime göttliche Hintergrund dieser Analogien. Nein, es führt kein Weg von draußen nach drinnen. »Fleisch und Blut werden das Gottesreich nicht erben« (I Kor 15,20). Das Geheimnis der Totenauferstehung bleibt auch hier die letzte Grenze. Darum nun auch das Gericht über jene Kirche, die meint, in der Gesellschaft das Gottesreich sichtbar und greifbar darstellen zu können. Als ob hier - gerade hier - der Verrat am Gottesreich, an seiner Ferne und an seiner Nähe, erst vollzogen wäre! Was für einen Sinn hat denn sonst das große, furchtbare Kapitel Matthäus 23 mit dem bewegenden Schluß: ,.Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt sind« (Vers 37)? Hier hat die Kirche sich mit dem Reich Gottes verwechselt und verstellt damitjenes Offensein. Hier wirdjene Klerikali53. Nachschrift E.B.: Jesus gibt der •Heiligkeit• einen ganz anderen Sinn: Er ißt mit den Armen und mit den Sündern. Das ist die Gemeinschaft der Heiligen, die Gemeinschaft solcher, die unter der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes leben.

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sierung vollzogen, der die Welt nicht anders als mit bewußter Säkularisierung antwortet und antworten kann. Darum das Gericht an denen, die >~das Himmelreich zuschließen• (Vers 13)! Sie nämlich, diese »scheinenden Heiligen«, wie Luther die Werkheiligen nannte, haben das nicht, was die Kinder der Welt haben, das dem Himmelreich analoge Tun. >~Sie sagen es wohl, aber sie tun's nicht« (Vers 3). Darum das Gegenstück zu Kapitell des Römerbriefes in Kapitel 2! Sie haben die »Form, was zu wissen und recht ist« (Röm 2,20); aber ihr Tun ist nicht anders als das der Heiden. Darum das schreckliche Fazit, das darüber ergeht: >~Worte, Worte, nichts als Worte!« 54 - ein Reden ohne Begreifen, ein Nominalismus, hinter dem kein Realismus steht. Begreifen hieße, daß Wort und Sache eins werden, daß im Wort das da ist, was mehr ist als nur ein Wort, daß sich im Wort wirklich die Türe öffnet - aber nicht die Tat nun dem Menschen und seinen gar nicht vorhandenen Qualitäten überlassen wird. Gerade das aber tun die >~blinden Blindenführer« (Mt 15, 14). Und so zieht nun eine andere Gesellschaft, die »fromme Gesellschaft« in der Gesellschaft, über die Bühne. Hier werden »Minze«, »Dill« und »Kümmel« verzehntet, aber das »Schwerste im Gesetz, nämlich das Gericht, die Barmherzigkeit und der Glaube« (Mt 23,23) bleiben dahinten. Hier ist die Form wesentlich, das »Gegrüßt-Werden auf der Straße«, das »Obenansitzen über Tische und in den Schulen«, die Titel »Rabbi« und »Meister« (ebd. Vers 6ff.), die äußere Reinheit, aber »innen ist alles voller Totengebein« (Vers 27). »0 meine Brüder, den Guten und Gerechten sah einer einmal ins Herz, der da sprach: Es sind die Pharisäer! Aber man verstand ihn nicht« (Nietzsche55). Das ist das Jerusalem, das seine Propheten tötet und steinigt, die zu ihm gesandt sind. Das ist die andere Seite der Gesellschaft, die nicht offen ist zum Reiche Gottes hin. Sie ist darum immer wieder aufgehoben in ihrer falschen, weil im Grunde genommenen »nur vor den Leuten gespielten« Gerechtigkeit (ebd. Vers 5), die bloßgestellt und gerichtet werden muß, damit die Gleichnisse Gleichnisse bleiben! Darum Johannes der Täufer und darum ebenso Paulus und der Römerbrief; darum Augustin gegen Pelagius; darum Franz von Assisi gegen den Kardinal Hugolin; darum Luther gegen die Werkheiligen, die gerade keine guten Werke aufzuweisen hatten; darum Spener und Francke gegen die bloße Lehre; darum Kutter und Blumhardt gegen die Kirche und für das Reich Gottes! Die Gesellschaft muß

54. •Nur Worte, Worte, aus dem Herzen nichts!• - W. Shakespeare, Troilus und Cressida, V,3 (übers. v. L. Tieck). 55. F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, 1886, Von alten und neuen Tafeln, 26 (KSA 4, 266).

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Kapitel I: Kirche und Gesellschaft als Thema der Ethik

offen bleiben nach der ganz anderen Welt hin, die ihr nahe ist. Der Versuch der »frommen« Gesellschaft in der Gesellschaft ist aber - so unvermeidlich er erscheint und so gewiß es immer die Söhne der Makkabäer, die Nachfolger des heiligen Franz, die Erben Luthers sein werden, die gerade das machen - dennoch ein Mißverständnis, und zwar kein produktives. Es geschieht gerade nicht die ganze Wendung, die nötig wäre, sondern nur die halbe, nur in der »Theorie«, nicht in der »Praxis•, nur als Rhetorik. Aber wo bleibt die Pragmatik in dieser Sache? Soll sie vertagt werden auf den »Jüngsten Tag«? Soll das, was eben noch Mitte war, wieder Rand werden? Soll es nun doch wieder so bieder, so leer, so unendlich traurig und unendlich hoffnungslos in der Gesellschaft zugehen? Als ob Jesus Christus nie über unsere Straßen und Märkte gewandelt wäre! Sollen wir wieder ehrfürchtig haltmachen bei dem, •was zu den Alten gesagt ist« (Mt 5,21), und die Bergpredigt mit ihren unerhörten Aussagen wieder in die Obhut jener »frommen« Gesellschaft nehmen, damit sie sage, was davon möglich und was nicht möglich, sondern Schwärmerei sei? Sollen wir uns wirklich damit entschuldigen, was doch im Munde Jesu gerade Anklage ist: »Sie sagen's, aber sie tun's nicht« (Mt 23,3)? Wer hielte es denn, wenn er ein einigermaßen gerader Mann ist, bei diesen Halbheiten aus? Irgendwann muß doch auch hier einmal Realität sein, wie da draußen mit den •Talenten• (Mt 25,14ff.) und dem »Öl in den Lampen« (Mt 25,1ff.) und dem Erfolg der Witwe vor Gericht (Lk 18,1 ff.) und dem Erfolg des »Unverschämten GeiJens« in der Nacht (Lk 11,5ff.). Wenn es so steht um Jerusalem, dann geht man besser an den See Genezareth, dann bin ich unter den •verlorenen Schafen des Hauses Israel« (Lk 15,4ff.) dem Himmelreich doch noch ein wenig näher, als wenn ich zu den Berufenen, aber nicht Erwählten gehöre. Das ist das Offenstehen der Gesellschaft, das so voller Hoffnung ist, so voller Nähe der großen Dinge, die sich hier und gerade hier ereignen können und werden. Denn das Himmelreich kommt nicht, um aus natürlichen Menschen unnatürliche zu machen, um die »Natur zu buchen• (Luther) und das Bedenkliche, das Aussätzige, Dunkle und Unflätige nach innen zu drükken, wie wenn man eine Krankheit nach innen treibt, sondern es läßt die Dinge laufen mit einer erstaunlichen Großmut. Gott kann offenbar zu sehr viel mehr Dingen lächeln als wir, sehr viel mehr verstehen und verzeihen, als uns billig erscheint. Er läßt jedenfalls seine Sonne scheinen, wo wir längst verdunkelt hätten (Mt 5,45). Er weiß, daß alles Ding seine Zeit hat (Pred 3, 1f.): »Er hat alles schön gemacht; auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur daß der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende. Da merkte ich, daß es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben. Denn ein Mensch,

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der da ißt und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes. Ich merkte, daß alles, was Gott tut, das besteht für ewig; man kann nichts dazutun noch wegtun. Und alles tut Gott, daß man sich vor ihm fürchten soll« (Pred 3,11 ff.). Und genau derselbe, der das sagt, sieht in dieser Gesellschaft •die Tränen derer, die Unrecht litten und hatten keinen Tröster; und die ihnen Unrecht taten, waren zu mächtig, daß sie keinen Tröster haben konnten. Da lobte ich die Toten, die schon gestorben waren mehr denn die Lebenden, die noch das Leben hatten. Und besser denn beide ist, der noch nicht ist und des Bösen nicht inne wird, das unter der Sonne geschieht« (Pred 4,1 ff.). Das ist der traurige, furchtbare Hintergrund aller Freude, alles Fröhlichseins und Sich-Gütlich-Tuns in diesem Leben. Das ist die Apokalypse als Hintergrund hinter den Pastoralb riefen. Das ist die Göttliche Komödie als Hintergrund der Renaissance. Das ist Schopenhauer als Erzieher56 mitten in der Wilhelminischen Ära! •Denn wo viel Weisheit da ist, da ist viel Grämen; und wer viel lernt, der muß viel leiden• (Pred 1,18).

2.3.2 Die Suche nach der Gerechtigkeit Es ist schon manchmal angeklungen - und ist aus einem bestimmten Grunde unvermeidlich - , daß die Nähe des Gottesreiches in der Gesellschaft nicht auch die Nähe dieser zum Gottesreich bedeutet. Das Gottesreich ist nicht Gesellschaft im höheren Sinne, wie das die katholische Lehre von der Kirche meintY So nahe es uns ist, so ferne sind wir ihm. 56. F. Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1674 (KSA 1, 335fT.). 57. So z.B. Papst Pius XII. in seinem Rundschreiben •Über den mystischen Leib Jesu Christi•, 1943: •(61) Die richtige Bedeutung der Bezeichnung •mystische erinnert also daran, daß die Kirche, die als eine in ihrer Art vollkommene Gesellschaft anzusehen ist, nicht bloß aus gesellschaftlichen und rechtlichen Bestandteilen und Beziehungen besteht. Sie ist ja weit vorzüglicher als irgendwelche anderen menschlichen Körperschaften, die sie überragt, wie die Gnade die Natur hinter sich läßt und wie das Unsterbliche alles Vergängliche. Jene rein menschlichen Gesellschaften, namentlich der Staat, sind gewiß nicht zu verachten oder gering zu schätzen. Allein die Kirche als ganze gehört nicht der Ordnung dieser Dinge an ... Doch was die Kirche über jedwede natürliche Ordnung noch hinaushebt, ist der Geist unseres Erlösers, der als Quelle aller Gnaden, Gaben und Charismen fortwährend und zuinnerst die Kirche erfiillt und in ihr wirkt ... (63) Deshalb bedauern und verwerfen Wir auch den verhängnisvollen Irrtum jener, die sich eine selbstersonnene Kirche erträumen, nämlich eine nur durch die Liebe aufgebaute und erhaltene Gesellschaft, der sie - mit einer gewissen Verächtlichkeil - eine andere, die sie die Rechtskirche nennen, gegenüberstellen. Eine solche Unterscheidung ... verkennt, daß der göttliche Erlöser die von ihm gegründete Gemeinschaft von Menschen als eine in ihrer Art vollkommene Gesellschaft mit allen rechtlichen und gesellschaftlichen Bestandteilen gerade zu dem Zwecke wollte, damit sie dem Heilswerk hier auf Erden dauernden Bestand sichere• (Quellen zur Konfessionskunde, R. A., H. 5, Die katholische Lehre von der Kirche, ausgewählt und eingeleitet von K. G. Steck. Lüneburg 1955, 346f.).

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Kapitel 1: Kirche und Gesellschaft als Thema der Ethik

Wir müßten schon ,.umdrehen• um 180 Grad - und auch das ist nicht aus eigener Kraft möglich! Wir müßten einen Weg dahin zurücklegen, der weiter ist als um die ganze Welt. Platon hatte schon recht mit seinem Höhlengleichnis; 58 wir sehen das Licht nicht nur verkehrt, also an den Schatten, die unsere Gestalt an die Wand unserer Höhle wirft, sondern wir sind auch angekettet, so daß wir uns dem Licht gar nicht zuwenden können. So steht das Reich Gottes mitten unter den Menschen als Gericht -als das Verkehrte im Verkehrten! Das ist nun das Zweite, was wir über das Offenstehen der Gesellschaft sagen können: Sie ist immer in Annäherung an das Gericht Gottes! Denken wir an das furchtbare 11Er hat sie dahingegeben« (Röm 1,24)! Es kommt dadurch ein Gefalle, eine Zersetzung hinein in die Gesellschaft, die unaufhaltsam ist. Und zwar darum, weil er, Gott, sie dahingegeben hat. Und fragen wir weiter bei Röm I nach, so sehen wir sofort ein Zweites: Gott hat sie darum dahingegeben, weil sie die Erkenntnis Gottes, diese ihnen von den Werken der Schöpfung her Tag um Tag einsichtige Erkenntnis Gottes preisgegeben und nicht geachtet haben. Sie haben ihn nicht »nackt• (Deus nudus) gelassen, nämlich so stehenlassen, daß Gott Gott ist, sondern haben gesagt: Gott und das Geschöpf, Gott und die Nation, Gott und der Mensch, Gott und die Geschichte! In dem »Und• haben sie Gott gesucht. Aber an ihrer Religion geht die Gesellschaft zugrunde. Ihre Religion ist ihr Götzendienst. Das aber wäre die Gerechtigkeit, daß wir Gott die Ehre geben und daß wir uns seiner Gerechtigkeit unterwerfen. Man muß einmal hineinhören in die Schrift, wie da »Gerechtigkeit« von der ersten bis zur letzten Seite der Bibel, von der Schöpfung an bis hin zu dem Bilde vom erhöhten Jerusalem (Offb 21,2ff.), alles beherrscht. »Gerechtigkeit als bauende, ausscheidende, vernichtende Denkweise, höchster Repräsentant des Lebens selbst«; 11das Größte, was ihr erleben könnt«, ist »die Stunde, wo ihr sagt: Was liegt an meiner Gerechtigkeit! Ich sehe nicht, daß ich Glut und Kohle wäre. Aber der Gerechte ist Glut und Kohle!• (Nietzsche59 ). Gerechtigkeit ist alles andere als die ,.kalte Objektivität«, die »jedem das Seine gibt«. Sie ist eine »angreiferische«, eine aktive, keine reaktive Tugend. Sie ist so etwas wie eine in der Gesellschaft befindliche Unruhe, wie ein loderndes Feuer auf dem Grunde eines Vulkans. Gott das heißt: »Recht muß doch Recht bleiben!• (Ps 94, 15). Es ist ein 11Wehe!• zu vernehmen mitten in dieser scheinbar sich selbst und ihrer Ungerechtigkeit überlassenen Gesellschaft; denn Gott erhebt 58. Platon, Politeia, VII. Buch, I ff. 59. F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra I, 1883, Zarathustras Vorrede, 3 (KSA 4, ISf.).

2. Kirche und Gesellschaft im Verhältnis zueinander

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sich. Gott setzt die »Heiden« ein, um seine Gerichte zu vollziehen: »Er wird ein Feldzeichen aufrichten für das Volk in der Ferne und pfeift es herbei vom Ende der Erdeft (Jes 5,26). Man beachte doch nur einmal diese Leute, die hier genannt sind: die »ein Haus an das andere reihen und einen Acker zum anderen bringen«, die »des Morgens früh auf sind, sich des Saufens zu fleißigen, und sitzen bis in die Nacht, daß sie der Wein erhitzt, und haben Harfen, Pauken, Psalter, Pfeifen und Wein in ihrem Wohlleben und sehen nicht auf das Werk des Herrn«; »daher hat die Hölle den Schlund weit aufgesperrt und den Rachen aufgetan ohne Maß, daß hinunterfahren beide, ihre Herrlichen und der Pöbel, aber der Herr Zebaoth erhöht werde im Recht und Gott der Heilige geheiligt werde in Gerechtigkeit« (ebd. Vers Bff.). Gesellschaft ist nicht ohne Geschichte - in dem Sinne, daß das Unvorhergesehene passiert, weil Gott in die Gesellschaft gleichsam hineingeht, und zwar so, daß die Gesellschaft nichts dagegen tun kann. Er fragt nach Recht und Unrecht. Gesellschaft ist nicht einfach identisch mit Natur. 60 Wie gerne möchten wir das! Wie gerne würden wir die Gesellschaft haben nach dem Gleichmaß der Naturgesetze. Warum geht das nicht? Wer liegt da quer? Das ist die Gerechtigkeit Gottes. Gott liegt quer. Die Gerechtigkeit ist die Gottesfrage in der Gesellschaft. Und weil sie das ist, darum ist Gerechtigkeit mehr als eine Frage der Gesellschaftsreform. Das Recht ist offenbar nichts der Gesellschaft Immanentes. Wieder dürfen wir Nietzsche zitieren: »Es gehört sehr viel Kraft dazu, leben zu können und zu vergessen, inwiefern leben und ungerecht sein eins sind.« 61 Das Recht ist nichts Gewordenes - das hat die historische Rechtsschule falsch gesehen - , sondern etwas Kommendes, und zwar in Gerichten und »Ungerechtigkeiten«, in Untergängen und Umstürzen »Kommendes«. »Das Recht kommt mit dem Messias; er wird das Recht wahrhaftig halten lehren« (Jes 42,3); »er wird nicht matt werden noch verzagen, bis er auf Erden das Recht anrichte« (Vers 4). Das Recht hat also offenbar etwas zu tun mit dem Kommen des Gottesknechtes in der Gesellschaft (Jes 52, 13ff.), nicht nur mit einer Doktrin, einer Idee von Gott, sondern einer Erscheinung, und zwar einer Erscheinung des Barmherzigen: »Er wird das zerstoßene Rohr nicht zerbrechenft; »er wird die Augen der Blinden öffnen und die Gefangenen aus dem Gefängnis führen« (Jes 42,3;7). So kommt er und

60. Nachschrift E.B.: Sie ist keine höhere Physis (Schleiermacher), sondern sie ist immer Geschichte. 61. F. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben 3, Unzeitgemäße Betrachtungen li, 1874 (KSA I, 269).

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Kapitel I: Kirche und Gesellschaft als Thema der Ethik

mit ihm das Recht. »Er wird das Recht unter die Heiden bringen« (Jes 42, 1). Recht hängt offenbar aufs engste zusammen mit dem Kommen des Geistes Gottes in die Welt und ist ein eschatologischer Begriff. Es ist der Abglanz der unter uns aufgehenden Gerechtigkeit Gottes, einer verwandelnden, einer sich erbarmenden, einer vom Tode errettenden! Darum, wenn man das Recht isoliert, wenn es an die Menschen preisgegeben ist wie das Gesetz an die Frommen, dann muß es seinen Heilsbezug verlieren. Alles Drängen und Ringen in der Gesellschaft - dieser unvermeidliche Kampf- ist Fragen und Suchen nach dem Recht. So wie die Gerechtigkeit im höchsten Sinne darin besteht, daß Gott Gott ist, so besteht das Recht im tiefsten Sinne darin, daß der Mensch Mensch ist. Es muß alles wieder seine Maße gewinnen. 2.3.3 Erlösung oder die eschatologische Hoffnung So kommen wir auf das Dritte und Letzte in diesem Offenstehen der Gesellschaft: Sie steht darum offen, weil alles nach dem Menschen und seiner Erlösung blickt. Wir haben eben die Gesellschaft abgesetzt gegenüber der Natur, das Ethos in seinem geschichtlichen Sinn abgesetzt von der Physik, in der es keine Zeit gibt, jedenfalls keine geschichtliche Zeit. Aber nun müssen wir diese Lücke wieder schließen. Alles wartet auf den Menschen! Die Kreatur ist von ihm abhängig! Gerichte über die Völker bedeuten Versteppung und Verwüstung der Welt. Wenn Nebukadnezar fällt, dannjubeln auch die Zedern des Libanon (Jes 14,8)! Wenn das Volk Gottes heimkehrt, dann wird die Wüste zum Feld und die Steppe zum Acker (Jes 32, 15). Was will denn das alles sagen? Auch hier wieder eine Analogie, ein seltsames, über uns stehendes Ineinander von Natur und Gesellschaft. Denken wir an das 8. Kapitel des Römerbriefes: das Harren der Kreatur (Vers 19)! Die Gesellschaft kann es nun einmal nicht aus der Welt schaffen, daß mit dem Menschen, der in ihr lebt, eine sonst nirgends in der Natur feststellbare Unruhe und Bewegung in sie hineinkommt, die die verschiedensten Namen haben kann: Geist oder Seele, Gesetz oder Religion. In allen geht es um das alte »Ruhelos ist unser Herz, bis daß es seine Ruhe hat in Dir!• (Augustin62). »Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muß•, sagt Nietzsche in seinem Essay über Schopenhauer. 63 Die Gesellschaft hat 62. A. Augustinus, Bekenntnisse (Confessiones, lat. und dt., übers. v. J. Bernhart, München 1955, I. Buch, 13). 63. F. Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, 5: •Wir müssen gehoben werden und wer sind die, welche uns heben?• (KSA I, 380). Vgl. auch ders., Also sprach Zarathustra I, 111 und IV (KSA 4, 14; 44; 60; 72; 249; 332).

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den Menschen mitten unter sich und damit doch wohl das Rätselhafteste, was es in dieser an Rätseln und Unbegreiflichkeiten gewiß nicht armen Welt gibt. Wenn wir zu behaupten wagten, daß mit dem Recht als einer durch nichts zu eliminierenden Macht die Grenze zwischen der Gesellschaft als einer nach Gesetzen ablaufenden Erscheinung und der Gesellschaft als der Stätte geschichtlicher Ereignisse gesetzt ist - die Grenze gegen das so verführerische ~zurück zur Natur!« - , so dürfen wir nun umgekehrt sagen: Hier, in der Hoffnung auf die Erlösung, schließt sich die ganze Welt, die Totalität aller geschaffenen Wesen wieder zur Einheit zusammen. »Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet auf die Offenbarung der Kinder Gottes .. ; denn auch die Kreatur wird frei werden vom Dienst des vergänglichen Wesens zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes« (Röm 8, 19 ;21 ). ~Mensch« bedeutet also Hoffnung, Erwartung eines Kommenden, nicht mit diesem Menschen Gegebenen, aber Angekündigten, und nicht nur Angekündigten, sondern in einer geheimnisvollen Weise alles andere Verwandelnden und Befreienden. 64 Als Luther in seiner Römerbrief-Vorlesung auf die Stelle im Kapitel 865 kommt, sagt er: Das sei die neue und seltsame Philosophie des Paulus, durch welche auch die Naturwissenschaft ein ganz neues Gesicht erhalte; denn diese Wissenschaft gleiche den Szenenbauern auf der Bühne: sie messen aus, sie stecken ab, ob und wie eines zum andern passe, aber sie wissen nicht, wofür diese Szene gebaut wird; sie verstehen nichts von dem Trauerspiel, das hier gespielt wird, nämlich dieses ängstliche Harren der Kreatur, das in merkwürdigem Zusammenklang steht mit dem Seufzen des Geistes. Beides, Natur und Geist, sind Rufe und Schrei nach Erlösung. Darum, so fahrt Luther fort, das Erzeugen und Vergehen in der Natur, als ob sie immer wieder die Formen verwürfe, die sie hervorgebracht hat, und verwerfen müsse, weil der Mensch, auf den die ganze Schöpfung wartet, nicht Gestalt gewinnen will. 66 Dürfen wir nicht sagen, daß wir gerade hier an den Sinn der Dichtung rühren? Was tut denn der Dichter 64. Nachschrift E.B.: Deshalb ist der Mensch etwas anderes als nur ein natürliches Lebewesen. Marx sah den Menschen als Gattungswesen. Im Marxismus soll der Mensch reduziert werden auf das, was er ist; die Unterscheidung zwischen dem Menschen und dem Wesen des Menschen, zwischen dem, was er ist, und dem, was er sein könnte, soll aufgehoben werden. Diese Unterscheidung sei das Wesen der Religion. Der Mensch aber, der genötigt ist, in dieser Erscheinungswelt ohne Hoffnung seiner selbst zu existieren - der ist nicht mehr der Mensch. Es könnte eine Gesellschaftsordnung geben, die wie ein großes Totenfeld aussieht. 65. WA 56, 371,28ff. 66. WA 56, 372,1 ff. Laut Nachschrift E.B. hier Hinweis lwands auf die •Randbemerkungen Lenins zu Feuerbach•.

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Kapitel I: Kirche und Gesellschaft als Thema der Ethik

anders als daß in ihm dieser Schrei, diese Sehnsucht, Wort wird, weil ihm »ein Gott gab, zu sagen, was er leidet«? 67 Beide, Natur und Geist, der Mensch als Glied der Natur und der Mensch, auf den diese Natur wartet, reden hier wie mit einer Stimme. Und die Musik? Ist sie nicht weithin Ahnung dessen, was »unaussagbar« (vgl. Röm 8,26) ist, Rand und Grenze dieser unausdenkbaren Möglichkeit? Muß nicht darum immer wieder die Gesellschaft, wenn sie sich ihre Hoffnung darstellen will, zur Kunst greifen - die Kunst als Möglichkeit - , ohne welche die Wirklichkeit, in der die Menschen leben, eben doch keine menschliche, sondern eine unmenschliche, eine hoffnungslose Wirklichkeit wäre? l~Und wenn die gesamte Natur sich zum Menschen hin drängt, so gibt sie dadurch zu verstehen, daß er zu ihrer Erlösung vom Fluche des Tierlebens nötig ist und daß endlich in ihm das Dasein sich einen Spiegel vorhält, auf dessen Grunde das Leben nicht mehr sinnlos, sondern in seiner metaphysischen Bedeutsamkeit erscheint. Doch überlege man wohl: Wo hört das Tier auf, wo fangt der Mensch an? Jener Mensch, an dem allein der Natur gelegen ist! Solange jemand nach dem Leben wie nach einem Glück verlangt, hat er den Blick noch nicht über den Horizont des Tieres hinausgehoben, nur daß er mit mehr Bewußtsein will, was das Tier im blinden Drange sucht. Aber so geht es uns allen den größten Teil des Lebens hindurch: Wir kommen gewöhnlich aus der Tierheit nicht heraus, wir selbst sind die Tiere, die sinnlos zu leiden scheinen. Aber es gibt Augenblicke, wo wir dies begreifen: dann zerreißen die Wolken, und wir sehen, wie wir samt aller Natur uns zum Menschen hindrängen als zu einem Etwas, das hoch über uns steht. Schaudernd blicken wir in jener plötzlichen Helle um uns und rückwärts: da laufen die verfeinerten Raubtiere und wir mitten unter ihnen• (Nietzsche68). Nietzsche weiß auch das andere: Wenn dieser »Übermensch« erscheint, macht die Natur, lldie nie springt, ihren einzigen Sprungc. 69 -Wir könnten hier wohl fragen, wie weit ist es von einer solchen Sicht und Einsicht aus noch bis zu dem Jubel urchristlicher Hymnen über die Ankunft des Menschensohnes? Darum, weil es ohne Sprung nicht geht, ist die Erlösung auch nicht zu haben 67. J. W. Goethe, Torquato Tasso, V, 5, 3431: •Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gab mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide.• 68. F. Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, 5 (KSA 1, 378). 69. F. Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher: •Jene wahrhaften Menschen, jene NichtMehr-Tiere, die Philosophen, Künstler und Heiligen• (KSA 1, 380). Vgl. 382: Es komme darauf an, •die Erzeugung des Philosophen, des Künstlers und des Heiligen in uns und außer uns zu fördern und dadurch an der Vollendung der Natur zu arbeiten•.

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ohne den Tod, ohne daß wir das Ende dieses Menschen und so die Geburt des neuen Menschen wollen -Tod als »Same« und Leben als »Frucht« (Joh 12,24) verstanden. Dieser neue, unsichtbare und darum auch immer wieder in seiner Neuheit unfaßbare, unbegreifliche Mensch lebt aus dem nur zu begreiflichen, spürbaren, aber in seiner hoffnungsvollen Realität doch nicht faßbaren Sterben und Vernichtetwerden des Alten. Das Samenkorn, das erstirbt, das Leben, das •verborgen ist samt Christus in Gott« (Kol 3,3), die Taufe als ein Begrabenwerden in den Tod (Röm 6,3ff.), die Übernahme des Nein Gottes in unser Leben (•Wir sind alleweg Sünder«, Röm 3,23) - was für seltsame, nun wirklich die Moral der Stoa und das Fühlen- und Erleben-Wollen der Gnosis hinter sich lassende Reden des Evangeliums! Begreifen wir, daß hier jenes unbewußte Rufen und Greifen nach dem neuen Menschen ernst genommen wird, daß es nicht verlacht, nicht als Utopie gebrandmarkt und nicht damit beantwortet wird, indem man diesen so sich über die Fluten erhebenden Menschen wieder in die Tiefe stößt? Hier ist ein Ohr, das ihn hört, eine Hand, die ihn ergreift, ein Mensch, der ist, was wir nur in der Antithese des Nichtseins sein können - hier ist Gott Mensch. Hier sind nicht Lösungen, hier ist wahrhaftig Er-Lösung. 2.4 Zusammenfassung Indem wir so Kirche und Gesellschaft aufeinander beziehen und voneinander trennen, in dem beiderseitigen Offensein, in einem weder durch die Gesellschaft vermittelten Offensein der Kirche für diese Fragen noch in einem durch die Kirche vermittelten Offensein der Gesellschaft, sondern in einem für Kirche und Gesellschaft in gleicher Weise vermittelten Offensein vom Reiche Gottes her und auf dieses Reich hin, glauben wir einen Ansatz gefunden zu haben, den wir als den evangelischen bezeichnen möchten. Hier wird weder die Kirche an die Gesellschaft überliefert und in sie aufgelöst, wie das eben doch in der Konsequenz Schleiermacher und noch mehr Richard Rothe und als deren letztem Erbe Ernst Troeltsch passierte, noch wird hier die Gesellschaft in die Kirche hineingenommen, wie das analog der mittelalterlich-katholischen Gesellschaftslehre und dann den Lutheranern des 19. Jahrhunderts widerfahren ist. Beide Lösungen müssen sich dahin auswirken, daß das Geschehen des Reiches Gottes zum Stillstand kommt: Entweder versteht sich dann die Gesellschaft als das kommende Reich Gottes und sieht damit die Kirche als eine Sache an, die sich überflüssig machen sollte -wo bleibt dann noch das »Ich glaube an die auf Dauer bleibende

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Kapitel I: Kirche und Gesellschaft als Thema der Ethik

Kirche•? 70 -, oder die Kirche empfindet sich als die Stätte, in der und mit der das Reich Gottes auf Erden da ist. Dann ist die außerhalb der Kirche lebende Gesellschaft nur noch missionarisches Betätigungsfeld; dann kann es auch niemals wieder eine Reformation der Kirche geben; denn diese spielt immer zwischen Kirche und Gesellschaft. Dann kann es nie geschehen in der Verkündigung des Reiches Gottes und seiner Freudenbotschaft, daß die, »die nicht mein Volk sind«, mein Volk werden (Hos 2,23) und die letzten die ersten und die ersten die letzten sind (Mk 10,31 ). Dann ist es unmöglich, daß gerade die Sünder die Botschaft annehmen und die Gerechten sie verwerfen; das Ereignishafte im Geschehen des Wortes Gottes ist dann preisgegeben. So aber ist das Gleichgewicht zwischen Kirche und Gesellschaft wiederhergestellt, als zwei Größen, die nie ineinander aufgehen können, die aber doch aufeinander bezogen sind, wenn anders das Evangelium der rechtfertigenden Gnade dazwischen frei und in der Mitte bleibt. Es muß so souverän in der Mitte stehen, daß von ihm her gesehen heute das, was nicht Kirche ist, Volk Gottes sein kann (vgl. Röm 9,25), und morgen das, was heute Volk Gottes ist und sich als solches ausgibt, enthüllt ist als das »Israel nach dem Fleisch« ( 1Kor 10,18). Diese Freigabe des Evangeliums bedeutet aber Arbeit für die Kirche und die Theologie. Sie muß sich doch sagen, wenn es uns gelänge, das Evangelium wieder so zu erfassen, daß es wirklich aufginge als das, was es ist, nämlich als Gottes den Menschen froh und frei machende Botschaft vom Heil in Jesus Christus, dann könnte auch jener uns aus tausend Augen anstarrenden Not der Gesellschaft (ihre Ferne zum Gottesreich, ihre Ungerechtigkeit und ihre Erlösungsbedürftigkeit, ihre unvermeidliche Unruhe), die die Not des Menschen in der Gesellschaft ist, begegnet werden. Und wenn Karl Heim 71 sagt, daß der Mensch nicht denkt, es treibe ihn denn die Not; alles andere Denken sei nur Übernahme des Gewußten, des Fertigen, des Gekonnten und des Feststehenden, so ist das richtig im allertiefsten Sinne. Aber wenn dieses Feststehende nicht mehr feststeht? Wenn dieses Gekonnte keine Kunst mehr ist? Wenn es Gott gefallen hätte, einen dicken und unübersehbaren Strich zu machen durch vieles hindurch?

70. •ltem docent, quod una sancta ecclesia perpetuo mansura sih (CA VII). 71. Vgl. K. Heim, Jesus der Herr, Harnburg 1955, 13ff.

Kapitel 2: Theologische Mitarbeit an der ethischen Frage

Die Art und Weise, wie wir hier Ethik treiben, bedeutet die Mitarbeit der Theologie an der ethischen Frage überhaupt. Anders denn als Mit-Arbeit 1 kann Ethik von uns nicht entfaltet werden. 2 Und zwar Mitarbeit in einem doppelten Sinne, wie das nach dem Vorangegangenen durchaus klar sein dürfte: einmal als Mitarbeiter Gottes in einer spezifischen Berufung, also unter der Voraussetzung, daß wir hier nicht ein leeres Feld betreten und nicht den ersten Spatenstich machen, sondern im Gegenteil darauf achten müssen, den Rhythmus, die Methode, den Weg innezuhalten, auf dem Gott diese Arbeit bzw. dieses Werk der Erlösung angefangen und vollendet hat. Anfang und Ende sind in seiner Hand. Es geht also im Schwange: wir sind es nicht, die das Rad erst in Bewegung zu setzen hätten. Es ist auch in I. Der Begriff •positive Mitarbeit« in diesem Zusammenhang, jedoch anders gewen-

det, auch bei Karl Barth, Gotteserkenntnis und Gottesdienst nach reformierter Lehre, Zollikon 1938: •Es gibt keine allgemeingültige christliche Forderung des Inhalts, daß wir den politischen Machthabern unsere positive Mitarbeit an ihren jeweiligen Aufgaben und Zielen zur Verfügung zu stellen hätten ... Wir werden dem Staat solche positive Mitarbeit nur dann leisten können, wenn uns der gottesdienstliche Sinn der politischen Ordnung durch ihn selbst, durch seine Haltung und Taten, durch sein Eintreten für Recht, Frieden und Freiheit, durch sein Verfahren der Kirche gegenüber deutlich und glaubwürdig gemacht ist-. Wenn nicht, •dann können wir, zunächst allgemein gesprochen, nur leiden, so, wie wir auch andere böse Gewalt, der wir nicht wehren können, erleiden müssen ... Es gibt aber auch keine allgemein gültige christliche Pflicht, ... dem Staat unsere positive Mitarbeit, unsere Beteiligung an seiner Verantwortlichkeit zu verweigern ...• solange und sofern uns dieser (sc. der gottesdienstliche) Charakter der Staatsordnung in concreto deutlich gemacht ist« (211 f.). 2. Nachschrift E.B. und H.-C.P.: Ethik des Neuen Testamentes heißt •wandeln würdig der Berufung• (Eph 4,1}. Die guten Werke sind früher da als wir. Wir haben uns nur in ihnen zu bewegen. Das Tun wartet auf uns. Das ist kein schöpferisches Handeln. Wir brauchen nicht Chaos zu gestalten. Mitarbeit ist grundsätzlicher Verzicht auf solches Gestalten-Wollen. Wir streben nach dem Geziemenden (epieikes}, nicht nach dem Absoluten. Wir haben es nicht in der Hand, daß das Ziel der Menschheitsgeschichte erreicht wird. Die ethische Frage beschränkt sich auf die Zeit, die uns gegeben ist. In dem uns abgesteckten Raum kann es heißen: Du sollst, denn du kannst. Wir brauchen geradezu diesen Raum.

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Kapitel 2: Theologische Mitarbeit an der ethischen Frage

seinem Ziel gewiß: Das Werk der Erlösung ist vollbracht, und der •Glaube ist darum der Sieg, der die Welt überwunden hat« ( lJoh 5,4). Weder das Wie des Beginnens noch das Ob des Siegens stehen in Frage. In Frage steht allein das, was dazwischenliegt - jenes, was wir darum unsere Mitarbeit nennen. Nur in dieser gegen Anmaßung und Verzweiflung gleichermaßen gesicherten Begrenzung kommt das Werk in Frage, das uns zu tun befohlen ist. Aber hier können und sollen wir nun auch handeln. Hier ist die Stätte unserer Freiheit, der Platz, wo es auf uns, auf den Menschen und gerade auf den in dieser Gewißheit des Glaubens stehenden Menschen ankommt. Hier kann das Entscheidende (immer nur das für unsere Lage Entscheidende) verpaßt oder auch getroffen werden. Hier sind wir nötig; hier sollen wir nicht beten und nicht warten, nicht Gott die Sache überlassen und nicht unsere Hände in den Schoß legen, sondern begreifen, daß es jetzt auf unser Urteil und unser Tun ankommt. Und zwar auf beides: auf eine im Glauben geübte, darum nüchterne und auf Gottes Barmherzigkeit bezogene Erkenntnis ebenso wie auf ein diese Erkenntnis begleitendes Tun. Wie in aller Ethik geht beides Hand in Hand. Kein Erkennen, das nicht jeweils bezogen wäre auf ein Tun! Und umgekehrt, kein Tun, das nicht immer wieder auf sein Recht und seinen Sinn zu prüfen wäre!

1. Mitarbeiter Gottes in der Gemeinde Zum Begriff»Mitarbeiter« erinnern wir an I Kor 3,9: »Denn wir sind Gottes Mitarbeiter«. Dort geht es freilich um den Aufbau der Gemeinde; aber hier ist deutlich, daß »niemand einen anderen Grund legen kann als den, welcher gelegt ist« (ebd. Vers 11). 2Kor 1,24 nennt sich Paulus einen •Mitarbeiter an der Freude« der Gemeinde. Und dabei wird wieder betont: •Ihr steht ja im Glauben!« (ebd.). Es handelt sich also darum, daß wir immer etwas voraussetzen dürfen: das Stehen, das von Gott Gesetzte. Wichtig ist weiterhin 2Kor 6, I: »Als Mitarbeitende ermahnen wir euch, daß ihr Gottes Gnade nicht vergeblich empfangt«. Und dann folgt die Erinnerung an das Heute: »Jetzt ist der Tag des Heils!« (ebd. Vers 2). Also qualifiziert das Heute der Gnade Gottes die Ausübung des »Dienstes«. Er wird also •zur Zeit und zur Unzeit« (2Tim 4,2) ausgeübt werden müssen. Darum der lange Katalog der Leiden, Zuständlichkeiten und Widerwärtigkeiten, die dem Diener Gottes dennoch die Freude zum Tun nicht nehmen sollten! Das ist das Heute der Gnade Gottes. Man beachte überhaupt, wie 2Kor 4-

1. Mitarbeiter Gottes in der Gemeinde

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6 ein permanentes Ringen mit der Müdigkeit ist, aber über dem Ganzen doch das schlichte und eindeutige Wort steht: »Dementsprechend daß wir Erbarmen empfangen haben, werden wir nicht müde« (2Kor 4, 1). So gewinnt Gott seine Arbeiter durch »Erbarmen«. Wenn es das gibt, wenn Gottes Barmherzigkeit an uns erwiesen ist, dann gibt es keine Entschuldigungen mehr. Das Mitarbeitersein wird sich also in derselben Richtung bewegen müssen, das heißt: auch wir sind nun bewegt von dem gleichen Erbarmen. Mt 5,7: »Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen«. Erbarmen heißt doch wohl, den anderen in seiner Not nicht steckenlassen und nicht an ihm vorübergehen (Lk 10,30ff.), sondern aller Not offenstehen. Wir fragen weiter: Welches ist denn das Gebiet des uns freigestellten Handelns? Ich würde hier an Röm 6 denken: »Gebt eure Glieder hin an den Dienst der Gerechtigkeit« (Vers 19), und zwar »als Gottes Knechte« (Vers 22). Das Gebiet des Möglichen betrifft also die »Glieder« - wir werden an Hand und Mund denken dürfen, an das Tun und Lassen, an das Reden und das Schweigen. Indem wir an die Glieder erinnert werden, wird zugleich angedeutet, daß es sich um dasjenige an uns handelt, was der Todeswelt angehört, auch in gewisser Weise um das, was (wie Röm 3, 13f. zeigt) tief pervertiert ist: »Ihr Rachen ist ein offenes Grab« (Röm 3, 13). Hier sollte wohl die Frage nach Gott beständig offenstehen; anstelle dessen ist da nur die Begierde, selbst etwas zu verschlingen. »Ihre Zungen sind trügerisch« (ebd.), das heißt, ihre Rede ist nicht zuverlässig. Sie reden, um zu verbergen: »Otterngift unter ihren Lippen« (ebd.). Wie Vipern vergiften sie mit bösen oder auch süßen Worten ihre Opfer. »Ihr Mund ist voll Fluchens und Bitterkeit« (Vers 14). Man denkt wohl am besten an die Mahung (u.a. in der Bergpredigt): »Vergeltet nicht Böses mit Bösem, Scheltwort mit Scheltwort« (1Petr 3,9), sondern: »Segnet, die euch fluchen« (Lk 6,27ff.)! »Ihre Füße eilen, Blut zu vergießen« (Röm 3, 15): dann, wenn es darum geht, den Gerechten umzubringen und ihn zum Schweigen zu bringen, kommt Bewegung in die träge Masse. »Auf ihren Wegen ist lauter Schaden und Jammer; den Weg des Friedens kennen sie nicht« (Röm 3, 15f.). Das heißt, hier sieht man, wozu sie die Glieder gebrauchen, 11von einer Ungerechtigkeit zur anderen«, sagt Paulus in Röm 6, 19. Man muß nur den Weg ansehen, den sie hinter sich gebracht haben; er ist besät mit zerbrochenen Herzen und mit zerstörten Werten. Und schließlich: »Es ist keine Gottesfurcht bei ihnen« (Röm 3, 18): Wen fürchten sie wohl und wen mögen sie vor Augen haben? Offenbar nur die Menschen und deren Macht!

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Kapitel 2: Theologische Mitarbeit an der ethischen Frage

An diesem Beispiel sieht man, wie tief pervertiert die ~tGlieder« sind. Eben diese sollen nun zu ~tWaffen der Gerechtigkeit« (Röm 6, 13) werden. Also ist gerade nicht der Leib, sind also gerade nicht die Glieder das Hindernde und Fremde, sondern das, was wir Gott und der Gerechtigkeit durchaus zur Verfügung stellen können. Wir können nicht einfach sagen: Wir sind unter der Gnade; darum können wir die Tatsache, daß wir sündigen, ertragen (Röm 6, 15). Dieser Dualismus ist nicht mehr statthaft. Man könnte außerdem an die Stelle erinnern: 11Wirket eure Seligkeit mit Furcht und Zittern; denn Gott ist es, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen nach seinem Wohlgefallen« (Phil 2, 12f.). Das ist richtiger als Luthers Übersetzung: ,.Schaffet, daß ihr selig werdet!«; denn »katergazesthai« heißt ,.ausführen«, »in die Tat umsetzen«. Also ist gemeint: Setzt in die Tat um, daß ihr teilhaft geworden seid der Rettung und vergeßt nicht, Gott wirkt beides, den Anfang (das Wollen) und das Ende (das Vollbringen)P

2. Mitarbeiter Gottes in der Gesellschaft Als Gottes Mitarbeiter sind wir zugleich auch Mitarbeiter der Gesellschaft. Das bedeutet zunächst etwas Negatives. Wir gehen nämlich nicht in ihr und ihren Gesetzen auf. Wir bleiben mitten in ihr »Fremdlinge• (Hehr 11,13; 1Petr 2, 11). Die Gesellschaft ist nun einmal nicht das Zuhause; sie ist nicht das, worin wir unser »Wesen« haben. Wir sind in keiner ihrer Parteien und Gruppierungen ganz zuverlässige, wir sind unter keinen Umständen hörige »Genossen«; denn wir sind eines anderen Herrn, und die Tatsache unserer Zugehörigkeit in einen anderen Herrschaftsbereich kann sich nun einmal nicht verschweigen oder ausschalten lassen. Schließlich kann man nicht »zwei Herren dienen• (Mt 6,24). Sollte es also der Gesellschaft irgendwann und irgendwo einmal einfallen, einen totalen Gehorsam von uns zu verlangen, sollte es ihr einfallen, zu ignorieren, daß Menschen unter ihr leben, die niemals der Menschen Knechte werden können (I Kor 7,23), auch wenn 3. Nachschrift E.B.: Gnade heißt nicht Bewußtsein der Vergebung mitten im Schuldigsein, sondern: Ihr seid in ein anderes Kraftfeld hineingenommen! Mitarbeit ist kein Synergismus, der den Menschen als Mitarbeiter neben Gott stellt, vielmehr bezieht sich die Kooperation nur auf die Glieder - da aber voll und ganz. •katergazesthai• (Phil 2, 12) heißt: in die Tat umsetzen, daß wir gerettet sind. Damit ist noch nicht der Erfolg gegeben. Gerade die Mißerfolge werfen uns auf die Verheißung.

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sie es wollten, sollte die Gesellschaft für diese von anderswoher regierten, weil von dorther erkauften Menschen keinen Raum mehr haben, - dann ist die Grenze der Mitarbeit erreicht. Es ist also eine sehr einfach sichtbar zu machende Grenze, um die es sich dabei handelt. Wir sind Menschen, die keinen Herrn über dem einen Herrn dulden können, der unser Herr ist! Wir sind darum nie in der Lage, einen uneingeschränkten Gehorsam zu leisten, weder im Kleinen noch im Großen, weder im familiären noch im kollegialen noch im politischen, insbesondere im parteipolitischen Raum.4 Hier ist jede Totalität grundsätzlich aufgehoben. Mitarbeit bedeutet immer die Freiheit, auszutreten und nicht weiter mitzumachen. Innerhalb dieser Grenze ist jedoch jede Art der Mitarbeit geboten. Wo andrerseits diese Freiheit gewährleistet ist, wo wir also als »die Gebundenen des Herrn• (Eph 3, I; Phlm I) mitarbeiten dürfen und wo man die Preisgabe unserer Gebundenheit nicht verlangt, da werden wir umgekehrt zu jeder Mitarbeit bereit und gerade von unserem Herrn gerufen sein. Auch hier wieder ist es wesentlich, daß es sich um Mit-Arbeit handelt. Wir werden also auch hier daran denken dürfen, daß die Sache nicht erst mit unserem Auftreten und Eingreifen beginnt, sondern längst schon im Gange ist und daß schon vieles und auch Gutes geleistet worden ist. Es wäre das Verkehrteste, was wir tun könnten, wenn unsere Mitarbeit damit begönne, daß wir die Voraussetzung dieser Arbeit prüften und dann erklärten: Die Grundprinzipien seien falsch; sie beruhten etwa auf einem idealistischen oder einem materialistischen Menschenverständnis, und darum müßten wir verlangen, daß darin erst einmal eine Wandlung einträte. Derartige Prinzipienfragen sollten wir den anderen überlassen; sie stehen gerade uns nicht an. Wir sind vielmehr dazu gerufen, durch das Tun des Guten die Trennungen und Gegensätze überwinden zu helfen. Es ist das Mißliche der Gesellschaft, daß sie in ihrer Partikularität immer das Ganze sein möchte; sie will prinzipiell denken, die Vernunft mit Prinzipien beginnen und damit die andere Seite ausscheiden und verurteilen. Aber wir können uns nicht dabei beruhigen, die Tatsache zu vergessen, daß wir allesamt nicht berechtigt sind, den ersten Stein zu werfen (Joh 8,7). Wir werden daran erinnern müssen, daß die Welt allein durch die Gnade Gottes noch besteht und nicht durch unsere Gerechtigkeit. Sie wäre vielmehr längst zusammengestürzt, wenn es nach unserer Gerechtigkeit ginge. Wir werden darauf verweisen dürfen, daß es immer noch regnet über Gerechte und Ungerechte und auch der Sonnenschein keine eisernen Vorhänge kennt (Mt 5,45); es stünde darum uns als Kindern dieses Vaters und seiner eben darin zum Ausdruck 4. Randnotiz lwands: •Eid!•

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Kapitel 2: Theologische Mitarbeit an der ethischen Frage

kommenden Vollkommenheit (Mt 5,48) schlecht an, wenn wir plötzlich die Glaubensfrage zur Magen- und Existenzfrage machten, indem wir meinten, wer anders denkt wie wir, der soll auch nicht essen! Es werden sich also die jeweils streitenden Parteien daran gewöhnen müssen, daß wir bei beiden mitarbeiten, weil es uns auf die Arbeit, auf das Gute, den Fortschritt und die positiven Dinge ankommt, die zu fördern sind, und nicht auf die •prinzipielle Klärung«. Die überlassen wir getrost einem anderen! Wir können doch nicht gerecht richten. Um so wachsamer und interessierter werden wir nun an allem einzelnen sein, was sich »mitzumachen« lohnt. Es gibt so viele Dinge innerhalb dieser bewegten und unruhigen, nicht nur im Bösen, sondern auch im Guten erfinderischen und tätigen Gesellschaft, daß wir nichts Besseres finden könnten, als hier unsere »Glieder« miteinzusetzen. Lassen sie mich das ein wenig deutlicher machen! Wir werden also nicht sagen: Da die Demokratie von Hause aus -jedenfalls die europäische - eine rationale und zumindest grundsätzlich achristliehe Sache war und noch ist, so könnten wir dabei nicht mitmachen, es sei denn, die demokratischen Prinzipien würden »verchristlicht«. Oder: Da der Pazifismus eine im Grunde humanitäre und vom Bösen im Menschen nichts wissende Bewegung ist, würden wir bei dem Friedensdienst nicht eher mitmachen, als bis wir sicher sind, daß es sich um eine christliche Sache handelt. Oder: Da die Frauenbewegung die Schöpfungsordnungen von IMose 2 und IKor 7 nicht respektiert, würden wir darin nur eine uns höchst ärgerliche und lächerliche Sache sehen können. Nein, wir werden gerade fragen, ob hier vielleicht doch etwas getan worden ist, was zur Verbesserung der Lage der Frau führen könnte (denken wir nur an das, was Bismarck über Kinder- und Frauenarbeit wie auch über Sonntagsarbeit gesagt hat!). Oder, um noch etwas zu nennen: Wenn der Streik seine Wurzeln in der Ideologie des Klassenkampfes hat, so könnten wir dazu nur ein klares Nein sagen und eine Revolte gegen die öffentliche Ordnung sehen. Könnte er jedoch nicht auch so etwas wie eine Non-violence-Bewegung sein? Ist es nicht doch imposant, was die Arbeiterschaft und die Gewerkschaften mit ihren eigenen Opfern aufgebaut haben und wie sie die Gesellschaft gerade zu erhalten, nämlich die bessere Gerechtigkeit zu erzielen suchen? Auch hier dürfen wir kurz an ein paar Stellen in der Schrift erinnern, z.B. an Phil 4,5: »Eure Güte laßt kund sein allen Menschen!•; griechisch heißt »epieikeia« Milde, also eben jene Versöhnlichkeit und Toleranz angesichts dessen, daß »der Herr nahe ist« (ebd.), und die große »Freude« (ebd. 4,4) unser Herz bewegt. Würden wir nicht, wenn wir das immer wüßten, daß unsere Zeit seine Nähe als Rand hat, daß •er vor der Tür

2. Mitarbeiter Gottes in der Gesellschaft

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steht« (Oftb 3,20), das Richten vergessen müssen? Denn der Richter ist ja er. Und wir bedürfen doch wohl alle des Erbarmens, wenn er kommt. Darum schreibt Paulus dann auch im Philipperbrief 4,8: ..was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht, was rein, was liebenswert ... , darauf seid bedacht!« Uninteressiert danebenstehen ist nicht unsere Sache in solchen Fällen. Es wäre weiter zu erinnern an jenes Herrenwort in der Bergpredigt: 11Daß sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen« (Mt 5,16). Darum sollen wir das Licht leuchten lassen vor den Menschen, das heißt immer öffentlich, gerade nicht in der bloß privaten Sphäre (Mt 5,15): es soll ja allen leuchten, die im Hause sind, aber nun so, daß sie darum nicht etwa die Christen, sondern den Vater im Himmel preisen! Also gerade nicht jenes christlich-selbstgerechte: 11Das habe ich geschafft!«; seht ihr, das haben wieder wir Christen fertiggebracht! Nein, sondern das Gutsein dessen, was wir tun, soll so wirken, daß unser Name dabei gar nicht fzur Offenbarung der Herrlichkeit Gottes1 (I Petr 4, 13) und gerade insofern ist sie eine echte und heilsame Ordnung auch des menschlichen Lebens. Noch nicht die Ordnung des Glaubens und der Liebe, aber, gleichsam als deren vorauflaufender Schatten, eine Ordnung des äußerlichen Rechts, des äußerlichen Friedens, der äußerlichen Freiheit ... wahrlich noch nicht Gottes ewiges Reich, aber wohl dessen Verheißung mitten im Chaos des Weltreichs.« »Das ist die Heiligung der Welt durch die Existenz der Kirche.« 11Nur äußerliches Recht, äußerlicher Friede, äußerliche Freiheit kann hier ge-

4. Kar! Barth: •Der politische Gottesdienst«

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schaffen und erhalten werden, und nicht ohne Zuhilfenahme physischer Gewalt kann das geschehen« (206f.). Es könne sich auch nur um einen »Hinweis auf das Leben in Jesus Christus als das Leben des Glaubens und der Liebe handeln« (207). »Aber eben in diesem Zusammenhang ist es von Gott geboten, in der Welt solches Recht, solchen Frieden und solche Freiheit zu schaffen und zu erhalten, gibt es also auch einen Gottesdienst in der Welt, einen politischen Gottesdienst.« Der Ausdruck »leitourgoi« (Diener, Röm 13,6) sei »unmißverständlich sakral«; es handele sich um Diener, die »Zur Handhabung jener Ordnung«, »offenbar an ihrer Stelle genauso wie die Kirche und ihre Glieder von Gott eingesetzt sind« (208). »Aber wie die Kirche ständig gefragt ist, ob sie ist, was sie heißt, so nun auch und erst recht der Staat.« Sein »gottesdienstlicher Sinne< könne deutlicher oder undeutlicher werden. Das erste, was den Gottesdienst des Staates angeht, ist dies: Die Kirche braucht Raum, um im Namen ihres Herrn ihre Botschaft auszurichten. »Der gottesdienstliche Sinn der politischen Ordnung wird da undeutlich, wo der Staat der Kirche diesen Raum verweigert oder beschränkt, wo er von der Kirche verlangt, daß sie sich seinen Zwecken anpasse oder unterordne, wo er ihr gegenüber die falsche Kirche fördert, wo er vielleicht gar in Verabsolutierung seiner eigenen Zwecke selber zur Kirche wird, die dann sicher eine falsche und die unduldsamste aller Kirchen sein wird. Das also ist die Frage, der sich auch der Staat nicht entziehen kann: Macht er den gottesdienstlichen Sinn der politischen Ordnung deutlich oder undeutlich? Ist er auf dem Wege in seinem Bereiche nach Röm 13 Gottes Stellvertreter und Priester oder ist er auf dem Wege, das Tier aus dem Abgrund von Apc 13 zu werden?« (210). So kommt es dann zu der Festlegung jeweils offenbleibender Mitarbeit: ''Es gibt keine allgemein christliche Forderung des Inhalts, daß wir den politischen Machthabern unsere positive Mitarbeit zur Verfügung zu stellen hätten« (211). Unsere Mitarbeit könne auch in der Opposition, ja, sie könne im Falle der Tyrannis zur gewaltsamen Entfernung der Inhaber der Macht und zur Reinigung des politischen Gottesdienstes von der Christenheit her führen. Es gebe unter Umständen auch eine »aktive Resistenz«. ''Es könnte sein, daß wir es mit einer Regierung von Lügnern und Wortbrüchigen, Mördern und Brandstiftern zu tun hätten, mit einer Regierung, die sich selbst an die Stelle Gottes setzen, die die Gewissen binden, die Kirche unterdrücken und sich selbst zur Kirche des Antichrist machen wollte« (214). Dann können wir »nur noch wählen, entweder im Ungehorsam gegen Gott den Gehorsam gegen diese Regierung oder im Gehorsam gegen Gott den Ungehorsam gegen diese Regierung«. Und nun folgt der folgenschwere Satz: »Müßte es uns dann nicht verboten sein,

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Kapitel 3: Kritik und Darstellung vorliegender Ansätze

nur leiden zu wollen? Müßte dann nicht der in der Liebe tätige Glaube an Jesus Christus unsere aktive Resistenz ebenso notwendig machen, wie er, wenn wir nicht vor diese Wahl gestellt sind, die passive Resistenz oder auch unsere politische Mitarbeit notwendig macht?« (ebd.). Machen wir uns klar, was geschehen ist! Erstens ist Barth der einzige unter den heute lebenden Theologen, der in dieser Hinsicht eine den politischen Ereignissen analoge Wendung durchgemacht hat. Was wir eben gelesen haben, ist die Buße, die Umkehr, die Revision der Theologie seines »Römerbriefes«. Denn jene Trennung der beiden Reiche unter der »Wahrung der vollen Rationalisierung beider« (M. Weber) - so daß wir also im theologischen, im Reich Gottes, ganz das Reich Gottes denken, im politischen, im Staat und seinen Verzweigungen, ganz politisch und damit nicht »Reich Gottes« denken - dieser furchtbare, leichtsinnige und die Verantwortung der Christen für das, was dort geschieht, ausschaltende Dualismus war einmal, nach 1918, mehr oder weniger die Ansicht der ganzen aus dem Kriege heimkehrenden, tief erschütterten, in ihrem bürgerlichen Denken zerbrochenen Generation. Aus diesem Dualismus heraus ist dann jenes Aufmarschgebiet des Antichrist möglich geworden. Wir haben als Christen immer wieder betont: Dort muß es so gottlos zugehen, anders kann man eben Gewalt nicht gebrauchen! Wir haben sozusagen den Teufel selbst gerufen - mit eben dieser Lehre von den beiden Reichen, mit dieser Preisgabe des äußeren Lebens an die Teufelsordnung, da es dort keine Gottesordnung, wie wir verzweifelt meinten, gibt! Barth hat in seinem »Römerbrief« nur ausgesprochen, was eine ganze Generation beseelte. Barth hat zweitens den Riß geschlossen. Er sagt nicht mehr: ein politisch Lied- ein garstig Lied.; er sagt umgekehrt: politischer »Gottesdienst«! Er nennt den Staat einen »Priester« Gottes, einen »leitourgos« (Röm 13,6). Er macht die Mitarbeit am politischen Leben zur Christenpflicht! Er sieht hinter allen Perversionen die göttliche Majestät des Staates, die aber nicht begründet wird mit unserem Böse-Sein, sondern die mit der vollen Herrschaft Jesu Christi begründet wird. Christus ist Sieger - das darf auch nicht verstummen, wenn wir vor den Pforten des Staates stehen. Nur einer unter den Theologen, die heute ihre abgeschlossenen Systeme vorlegen, hat wirklich den Mut gehabt, sich zu »wandeln«. Einem ist das, was wir getan und gesagt haben, ins Gewissen geschlagen. Einer ist nicht unerschüttert und unfruchtbar durch die furchtbaren Gerichtszeiten hindurchgegangen, hat sich nicht geschämt, eine Frage zu stellen, die wir früher nicht stellten: Müssen wir nicht unterscheiden zwischen Staat und Staat? Einer hat nun auch theologisch und längst, ehe es geschah, jene

4. Karl Barth: •Der politische Gottesdienst«

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Tapferkeit des Glaubens gerechtfertigt, die im Kampf um das Recht und die Freiheit des Gewissens, wenn auch mit Gewalt, den gottgemäßen Staat gegenüber dem pervertierten suchte. Einer hat dies geistig konzipiert und die Theologie gefragt, ob es nicht an der Zeit sei, unsere Lehre vom Staat und vom lediglich passiven, also leidenden Gehorsam zu revidieren! Drittens: Von hier aus muß man jene berühmten oder auch berüchtigten Analogien verstehen,von denen dann die Schrift ''Christengemeinde und Bürgergemeinde