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German Pages 306 [312] Year 2004
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Handlungsorientiertes Lernen und eLearning Grundlagen und Praxisbeispiele
Herausgegeben von
Prof. Dr. Horst O. Mayer und
Dr. Dietmar Treichel
R.Oldenbourg Verlag München Wien
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
© 2004 Oldenbourg Wissenschaftsverlag G m b H Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0 www.oldenbourg-verlag.de Das Werk außerhalb lässig und filmungen
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Gedruckt auf säure- und chlorfreiem Papier Gesamtherstellung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza ISBN 3-486-20021-6
Inhalt
Einleitung
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Grundlagen
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Handlungsorientierter Unterricht - Dirigierter Aktionismus oder Partizipative Kooperation? Helene Babel (Universität Wien) und Bernd Hackl (Universität Graz) Handlungsorientiertes Lernen Konsequenzen für die Mediendidaktik Dietmar Treichel (tomcom GmbH) Multimediales Lernen Horst 0. Mayer (FH Vorarlberg) Pragmatismus als theoretische Grundlage für die Konzeption von eLearning Michael Kerres und Claudia de Witt (Universität Duisburg)
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37
59
77
Die vergessenen Weggefährten des Lernens: Emotionen beim eLearning Gabi Reinmann (Universität Augsburg)
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Anwendungskonzepte
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Selbstgesteuertes Lernen als Herausforderung in der Informationsgesellschaft Horst O. Mayer (FH Vorarlberg)
121
eLearning in der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung Thomas Baumann (PH Zürich)
129
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Das PiN-Konzept: Handlungstheoretische Koordinaten zur Organisation von Präsenz und Virtualisierung im eLearning Ilse Schrittesser (Universität Wien) und Dietmar Treichel (tomcom GmbH) Digital Storytelling: Erziehung zur medialen Mündigkeit durch Bildung zur medialen Selbstreflexion Christian R. Dorn (FH Vorarlberg)
Inhalt
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163
Wizards zur Unterstützung des Problem-Based eLearning Mareike von der Stück (FH Furtwangen) und Dietmar Treichel (tomcom GmbH)
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Praxisbeispiele
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Koilaboratives Lehren, Lernen und Handeln im Blended Learning Dietmar Treichel (tomcom GmbH)
197
Blended Learning in einer großen Informatik-Lehrveranstaltung: Personenzentriert oder Handlungsorientiert? Renate Motschnig-Pitrik (Universität Wien) Die Akustik Lern-CD für Regelverstärker Horst O. Mayer (FH Vorarlberg)
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247
Interaktivität im virtuellen Lernen am Beispiel von Lernprogrammen zur Deutschen Gebärdensprache Christiane Metzger und Rolf Schulmeister (Universität Hamburg)
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Die Autoren
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Index
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Einleitung Horst Ο. Mayer und Dietmar Treichel
Die bisher vorherrschende schulische Lernsituation zeigt mehrere Schwachstellen: -
Es herrscht die Vermittlung von Faktenwissen vor, welches aus den Fachwissenschaften gewonnen, aber nur unzureichend in die Praxis übertragen wird. Das Lernen orientiert sich an einer fachlichen Spezialisierung sowie an den Strukturprinzipien der abgegrenzten Fachwissenschaften. Die Lehre fördert v.a. ein auf Wissenswiedergabe gerichtetes kognitives Lernen. Sprachlich orientierte, lehrerzentrierte Vermittlungsformen werden bevorzugt.
Immer wieder beobachten wir, dass gelerntes theoretisches Wissen in konkreten Situationen nicht genutzt werden kann. Zwar haben viele Abgänger von Schulen und Hochschulen ein großes theoretisches Wissen angehäuft, sie können dies in realen und eventuell problematischen Situationen aber oft nicht kompetent anwenden. Das erworbene theoretische Wissen kann vor allem im ursprünglichen Kontext, in dem es erworben wurde, wie z.B. bei Prüfungen, genutzt werden. Darüber hinaus bleibt es träge, das heißt der Wissenstransfer vom instruktionalen Setting auf Anwendungssituationen bleibt aus. Um träges Wissen zu verringern und den Anwendungsbezug des theoretischen Wissens zu fördern, wird häufig auf verschiedene Lehr-/Lernverfahren wie z.B. Projektorientiertes Lernen, Problem-Based Learning, Fallstudien etc. verwiesen. Dabei handelt es sich um verschiedene Formen von handlungsorientiertem Lernen. Unseres Erachtens geht es aber keineswegs nur darum, mit handlungsorientiertem Lernen die Transferleistung, die nach dem formalen Lernprozess vom Lerner zu leisten ist, als solche zu erhöhen. Handlungsorientierung, weiter gedacht, spricht neben der Erhöhung der Transferleistung und der Verringerung von trägem Wissen insbesondere die Förderung der Selbstkompetenz an. (vgl. die Beiträge von Babel und Hackl sowie Treichel im Abschnitt „Grundlagen") Praxisorientierung, selbstverantwortliche und produktive Aktivitäten sowie individuelle und kollaborative Entwicklungsmöglichkeiten fordern und fördern beides Wissen und Selbstkompetenz des Lerners. Auch im handlungsorientierten Lernen strukturiert das vermittelte Wissen die vorgegebene Wirklichkeit; die Problematisierung bestehender Orientierungen im Rahmen von reflektierten Handlungen verhelfen dem Lerner der Wirklichkeit selbstständig eine persönlich relevante Bedeutung zu verleihen, die über das Vorgegebene hinausgeht. Handlungsorientierung hat aber immer auch eine eindeutig pragmatische soziale Perspektive und betrachtet Lernen als eine situierte, kontextgebundene Entwicklung, die durch die Interaktion von Individuum und Umgebung vorangetrieben wird (vgl. dazu die Beiträge von Kerres und de Witt sowie Schrittesser und Treichel).
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Horst Ο. Mayer und Dietmar Treichel
In dem beschriebenen Sinne ist „handlungsorientiertes Lernen" ein Lehr-Lernkonzept, in dessen Mittelpunkt die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten für das eigenverantwortliche Handeln-Können in der auch für Andere bedeutungsvollen Praxis steht. Es ist ein ganzheitliches und teilnehmeraktives Lernen, in dem eine persönlich erfahrbare und bedeutsame Handlung die Organisation des LehrLern-Prozesses leitet. Dadurch sollen verschiedene Kompetenzbereiche gefördert und eine relativ dauerhafte Problemlösungsfähigkeit für konkrete Situationen entwickelt werden (s. dazu den Abschnitt „Praxisbeispiele"). Handlungsorientiertes Lernen unterstützt mit seiner Forderung nach Eigenverantwortung und individuellen Erfahrungsmöglichkeiten zudem die intrinsische Motivation der Lerner (vgl. dazu die Beiträge von Reinmann und Dorn). Handlungsorientiertes Lernen soll jedoch keinesfalls alle übrigen didaktischen und methodischen Konzeptionen ersetzen; es kann sie als eine Art Dachkonzept allerdings jeweils situations- und zieladäquat integrieren. Damit dieses Didaktikkonzept aber nicht nur an Hand einer methodischen oder ökonomischen „Effizienz" und damit eben oft ohne Berücksichtigung der längerfristigen menschlichen oder gesellschaftlichen Entwicklungen eingesetzt wird, wäre es notwendig, es im Rahmen einer umfassenden Bildungskonzeption zu positionieren. Dieses Anliegen können wir hier leider noch nicht verfolgen, müssen es jedoch für die Zukunft im Auge behalten, damit medien- und netzbasiertes Lehren und Lernen nicht in der didaktischen und praktischen Beliebigkeit verschwinden. eLearning bietet uns mit seinen technischen Möglichkeiten einen Erfolg versprechenden Weg, handlungsorientiertes Lernen in diesem weiten Sinne zu fördern. Doch vielfach verbleiben eLearning-Umsetzungen bei der bloßen Materialverteilung wie z.B. Folien zum Herunterladen oder Skripten als PDF-Files. Dieses Verständnis von eLearning als „Materialverteilmaschine" macht, so sieht man v.a. in akademischen Kontexten leicht, immer noch die große Mehrzahl der Anwendungen aus, selbst wenn ihr didaktischer und ökonomischer Sinn schon lange äußerst fragwürdig ist. Die Verteilung von Informationen lässt meist nur eine sehr eingeschränkte Interaktion zu (zu einem weiter entwickelten Begriff der Interaktivität vgl. den Beitrag von Metzger und Schulmeister). Die Didaktik dieser einfachen Konzepte ist stark lehrerzentriert, offenbar eher am vorgegebenen Curriculum oder Lehrbuch als am praktisch anwendbaren Wissen und Können der konkreten Lerner interessiert und nimmt nur wenig Rücksicht auf individuelle Unterschiede bei eben diesen Lernern. Hier wird, um es mit Luhmanns Begriffen auszudrücken, der individuell entwicklungsfähige Mensch („das psychische System") durch eLearning zu einer gesellschaftlich funktionierenden und standardisierten „Person" heruntergestuft. Es fehlt daher auch mehrheitlich eine Einbettung des Wissenserwerbes im unmittelbaren oder weiteren Kontext seiner Anwendung sowie die lebensbegleitende Entwicklung von fach- und situationsunabhängigen Kompetenzen.
Einleitung
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Auch die meisten Versuche des Instructional Design, die Komplexität realer offener Systeme (Menschen, Wissen, Praxis, Theorie) in ein lineares und standardisiertes Curriculum - weit weg von realem Handeln - zu zwängen, sind unbefriedigend und zudem teuer. Dabei sollten wir aus den Erkenntnissen der Systemtheorie doch wissen, dass die mutwillige Reduktion von Komplexität diese letztendlich nur unkontrollierbar erhöht bzw., andersherum, dass das methodische Zulassen von offener und selbstorganisierter Komplexität diese in ihrem Bearbeitungsprozess stark ordnet - was uns wieder zur Notwendigkeit einer subjektorientierten Handlungsorientierung bringt. Eine solche Handlungsorientierung ist allerdings keineswegs auf eine Art ökonomischen Opportunismus zu reduzieren; vielmehr realisiert dieses Konzept, in der Begrifflichkeit Klaus Holzkamps, den inneren Zusammenhang zwischen „lernendem Weltaufschluss, individueller Verfügungserweiterung und erhöhter Lebensqualität" in unmittelbar erfahrbarer und daher langfristig wirkender Weise. Auch handlungsorientiertes Lernen ist in diesem Verständnis bedeutungsvolles menschliches Handeln. Die Entwicklung von eLearning Produkten muss auf Lerntheorien basieren, um dem Handeln Orientierung, Sinn und Bedeutung zu geben. Eine solche Orientierung allein darf aber nicht beliebig sein, sondern muss den mit dem eLearningProzess verfolgten Lehr-Lernzielen entsprechen. Vielfach basieren eLearning-Anwendungen auf behavioristischen Modellen, dies jedoch weniger aus didaktischen Gründen, die oft gar keine Rolle zu spielen scheinen, sondern meist eher aus Gründen der organisatorischen und technischen Einfachheit. Dies soll die Bedeutung behavioristischer Ansätze nicht schmälern, wenn sie situationsgerecht eingesetzt werden. Die Handlungsorientierung kann jedoch weit darüber hinaus gehen. Mit Hilfe dieses Buches wollen wir aufzeigen, dass eLearning eine deutlich stärkere Handlungsorientierung ermöglicht als es viele vorhandene Produkte anbieten. Dabei soll der handlungsorientierte Ansatz von verschiedenen Seiten her beleuchtet, im Rahmen unterschiedlicher Konzepte eingesetzt und mögliche Umsetzungen dargestellt werden. In diesem Zusammenhang glauben wir, dass eine handlungsorientierte eLearning-Didaktik auch die Verbindung zur allgemeinen Didaktik suchen sollte, in der viele Fragen schon lange und oft gut für eLearning adaptierbar diskutiert worden sind. Wir vertreten hier also die Auffassung, dass eine effektive Umsetzung von eLearning-Konzepten nicht ohne theoretische Grundlage erfolgen kann, dass aber auch die Praxis uns neue konzeptionelle Erkenntnisse erschließen kann. Auch dies ist also eine Konsequenz der hier vertretenen Handlungsorientierung, dass dieses Buch nicht versucht, eine weitere in sich geschlossene Theorie anzubieten. Stattdessen haben wir eine Reihe von in sich konsistenten Konzepten gesammelt, aus denen die Leser sich ihre eigene, nämlich die ihnen selbst angemessene Theorie erstellen können. Wenn jeder die konzeptionellen Möglichkeiten, die eLearning uns bietet, für sich selbst in Handeln umsetzen kann, dann steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass eLearning zu effektivem Lehren und Lernen führt. Entsprechend unserem Credo, das dieses ganze Buch
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Horst Ο. Mayer und Dietmar Treichel
durchzieht, glauben wir daran, dass auch die Leser mit Hilfe dieser Beiträge ihre eigenen Positionen reflektiert entwerfen, aktiv umsetzen und systematisch evaluieren sollten.
Der Aufbau des Buches ist in die drei Abschnitte Grundlagen, Anwendungskonzepte und Praxisbeispiele gegliedert. Im ersten Beitrag zu den Grundlagen skizzieren Babel und Hackl theoretische Aspekte von handlungsorientiertem Lernen und eLearning. Handlungsorientierung wird dabei nicht nur als Betrag zur Förderung des Wissenstransfers bzw. als Möglichkeit zur Verringerung von trägem Wissen verstanden, sondern auch als tätige Selbstveränderung, als Förderung der Selbstkompetenz. In ihrer Argumentation bauen sie eine Brücke von der Kritik gängiger methodischer Konzepte für den allgemeinen handlungsorientierten Unterricht über ein theoretisch fundiertes Konzept des Lernens als tätiger Selbstveränderung zu eLearning-Anwendungen. Ähnliches versucht Treichel durch einen vielfältigen Rekurs auf psychologisch und soziologisch begründete Handlungstheorien. Ausgehend von den Begriffen „Handeln", „Lernen" und „Können" werden die Konsequenzen für die Mediendidaktik und darauf aufbauend die Eckpunkte für die Konstruktion handlungsorientierter eLearning-Systeme skizziert. Anschließend werden von Mayer die Bedeutungen von multikodaler und multimodaler Präsentation hervorgehoben sowie verschiedene, für eLearning grundlegende lerntheoretische Positionen kritisch betrachtet. Kerres und de Witt stellen in ihrem Beitrag, v.a. aufbauend auf John Deweys Schriften, eine pragmatistische eLearningDidaktik vor und setzen sich dabei ebenfalls mit dem Konstruktivismus auseinander. Reinmann geht im letzten Beitrag des ersten Abschnittes auf Gefühlte, Emotionen und Motovation als weitere Dimensionen ein, die das Lernen allgemein und die eLearning-Didaktik im Besonderen beflügeln sollten. Der zweite Abschnitt befasst sich mit Anwendungskonzepten. Hier geht es neben didaktischen auch um institutionelle Rahmenbedingungen für eLearning unter einem handlungsorientierten Gesichtspunkt. Ausgehend vom handlungsorientierten Lernen in Zusammenhang mit „lifelong learning" werden von Mayer die Bedeutung von selbstgesteuertem Lernen und die daraus folgenden veränderten Anforderungen an Lerner, Lehrende und Institutionen aufgezeigt. Der Beitrag von Baumann befasst sich mit dem Zürcher eLearning-Ansatz sowie seinen Bausteinen „Vorbereiten statt Nachbereiten", „Sandwich-Organisation" und „Umkehrung der Didaktik". Die pragmatistische Position angewandt auf forschendes Lernen am Beispiel von Didaktik und Methodik in der Lernumgebung „Pädagogik im Netz" an der Universität Wien stellt der folgende Beitrag von Schrittesser und Treichel vor. Anschließend wird von Dorn das Konzept des Digital Story Telling und seine praktische Anwendung in der Suchtprävention diskutiert. Im letzten Beitrag des zweiten Abschnitts konzipieren von der Stück und Treichel Wizards als Unterstützung und Begleitung des Lernprozesses im Zusammenhang mit Problem-Based Learning.
Einleitung
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Im dritten Abschnitt werden verschiedene Praxisbeispiele vorgestellt, denen die Idee der Handlungsorientierung zugrunde liegt. Im ersten Beitrag behandelt Treichel Gestaltungsprinzipien handlungsorientierten Lehrens und Lernens an einem konkreten Projekt in der Lehrerinnenausbildung. Der Beitrag von Motschnig befasst sich mit den Anforderungen und eLearning-Möglichkeiten in einer großen Informatik-Lehrveranstaltung; sie beschreibt ihre am Konzept der Personenzentrierten Kommunikation nach Carl Rogers orientierte Vorgehensweise und evaluiert die Ergebnisse. Der Beitrag von Mayer befasst sich mit dem Aufbau einer Lern-CD für Regelverstärker im Rahmen eines Medienstudiengangs. Diese orientiert sich am Anchored Instruction Ansatz und setzt gezielt multikodale und multimodale Präsentationen der Lerninhalte ein. Eine umfangreiche Evaluation untersucht die Lernförderung, Motivation sowie didaktische und gestalterische Aspekte. Der Beitrag von Metzger und Schulmeister schließlich diskutiert die Begriffe Interaktion und Interaktivität. Sie belegt die Bedeutung der Interaktivität am Beispiel von Lernprogrammen zur Deutschen Gebärdensprache, in denen das Konzept des entdeckenden Lernens in szenische Dialoge und Übungen umgesetzt wird. Eine Evaluation der Lernergebnisse und der Bewertung durch die Lerner zeigt die Möglichkeiten dieses handlungsorientierten Ansatzes auf.
Horst O. Mayer und Dietmar Treichel
Grundlagen
In diesem Kapitel werden handlungsorientiertes Lernen und multimediales Lernen behandelt. Verschiedene Sichtweisen bzw. Perspektiven von Handlungsorientierung sowie unterschiedliche theoretische Grundlagen von multimedialem Lernen werden dabei skizziert. Ein Beitrag geht auf die Emotionen als weitere lernrelevante Dimension ein.
Handlungsorientierter Unterricht - Dirigierter Aktionismus oder partizipative Kooperation? Helene Babel und Bernd Hack!
Unter pädagogisch ambitionierten Lehrerinnen und Lehrern gilt es als opportun, handlungsorientierten Unterricht zu befürworten und als selbstverständlich, seine Kunst zu beherrschen. Die Formel handlungsorientiert fungiert dabei meistens als Sammelbezeichnung für unterrichtliche Arrangements, denen eine gewisse Distanz zu lehrerseitig direktiven und monologischen, schülerseitig hingegen primär auf 'stilles' Rezeptionsverhalten ausgerichteten Vermittlungsstrategien gemeinsam ist. Ins Zentrum des Lerngeschehens wird immer ein in der einen oder anderen Form als praktisch verstandenes Tun der Lernenden gerückt: Interaktionen mit Personen und Instanzen der außerschulischen gesellschaftlichen Welt, Arbeiten mit Geräten und Werkzeugen, Eingriffe in natürliche und soziale Prozesse. Handeln wird dabei als eine Art Gegenentwurf zu dem verstanden, was Schülerinnen und Schüler traditionellerweise in der Schule tun müssen: in Bänken und vor Tafeln sitzen und sich abstraktes theoretisches Wissen aneignen. Dieses Verständnis bewahrt eine notwendige Intuition der Kritik an den überkommenen schulischen Zwangsverhältnissen und am entfremdeten Lernen, das sie begünstigen. Dennoch liegt ihm eine primär alltagstheoretische Auffassung zugrunde, die uns wenig geeignet scheint, die Möglichkeiten der proklamierten Orientierung an der Idee des sich zur Welt aktiv und kreativ verhaltenden Menschen auszuschöpfen. Aus diesem Grund möchten wir nachstehend einige Argumente entwickeln, die eine differenziertere Bezugnahme auf den sozialwissenschaftlichen Handlungsbegriff nahelegen und die dem von uns prinzipiell geteilten kritischen Anliegen angemessener erscheinen. Wir beginnen damit, das gängige Angebot an Interpretationen und Rezepten 'handlungsorientierten Unterrichts' einer vergleichenden Sichtung zu unterziehen (1) und das darin dominierende Verständnis eines 'aktionistisch' akzentuierten Unterrichts kritisch in Frage zu stellen (2). Dann stellen wir einige der zentralen Grundannahmen moderner Handlungstheorien (3) und in ihnen begründeter Auffassungen von Lernen als motiviertem und sozialem Selbstveränderungsvorgang (4) dar. Aus diesen Ausgangsbestimmungen lassen sich einige grundsätzliche Aspekte (5) und Bauelemente (6) einer phänomenologisch-handlungstheoretisch fundierten Vorstellung von Unterricht entwickeln. Zuletzt erläutern wir unsere Vorstellungen am Beispiel des medienpädagogischen Ansatzes des amerikanischen Pädagogen und Kulturwissenschaftlers Henry Giroux (7).
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Helene Babel und Bernd Hackl
1. Verbreitete Auffassungen handlungsorientierten Unterrichts Die didaktische Literatur zum handlungsorientierten Unterricht ist nahezu unüberblickbar geworden. Die Durchsicht einschlägiger Standardwerke oder StichwortRecherchen in erziehungswissenschaftlichen Nachschlagewerken zeigen schnell, dass die Verwendung des Begriffs handlungsorientierter Unterricht nicht nur äußerst vielfältig ist; es lässt sich noch nicht einmal ein gemeinsamer Bezugspunkt ausmachen, der erkennen ließe, welcher Geltungsbereich im Rahmen didaktischer Theoriebildung mit dem jeweils vorgestellten Konzept markiert wird (vgl. etwa Hintz, Pöppel u. Rekus 1993, S. 130, Gudjons 1994, S. 144, Wopp 1995, S. 600, Schütte 1998, S. 91, Czycholl 1999, S. 216).1 Seit den 1980er Jahren sind Begriffe wie „handlungsorientierter Unterricht", „schülerorientierter Unterricht", „Projektunterricht" sowie „entdeckendes", „erfahrungsbezogenes", „ganzheitliches", „praktisches", „offenes" Lernen etc. gängige Topoi der deutschsprachigen Schulpädagogik. Im Bedeutungskontext der Reflexionen über schulisches Lehren und Lernen bilden die Kategorien des Handelns und der Erfahrung zentrale Bezugspunkte. Das den unterschiedlichen Konzeptionen gemeinsame Reformanliegen besteht darin, neue Formen der Lernorganisation zu entwickeln, die selbständiges und selbstorganisiertes Lernen ermöglichen. Dem traditionellen Unterricht wird eine einseitige Betonung des kognitiven Lernens und der abstrakt-symbolischen Vermittlung des Wissens vorgeworfen. Die Notwendigkeit einer didaktischen Neuorientierung wird u.a. vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse gesehen. Die Zunahme an Komplexität in öffentlichem wie in privatem Leben stelle an den Einzelnen generell neue Anforderungen, deren Bewältigung der herkömmliche repetitive Unterricht nicht mehr ausreichend gewährleiste. Insbesondere wird auf die veränderte Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen hingewiesen. Kindheit heute sei geprägt durch den Verlust an Eigentätigkeit und unmittelbar sinnlicher Erfahrung (vgl. etwa v. Hentig 1975, 7 ff., Gudjons 2001, S. 13 ff., Rolff 1993, S. 20). Daraus ergäbe sich die Forderung nach einem Unterricht, der den Schülerinnen Möglichkeiten der aktiv handelnden und ganzheitlichen Auseinandersetzung mit der Objekt- und Ideenwelt sichert. Didaktische Bemühungen um einen lebensnahen Unterricht sind nichts Neues. Sie bestehen mindestens seit der Aufklärung und sind Teil der dort einsetzenden Pro-
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Dies scheint für den Großteil der im Rahmen der aktuellen didaktischen Diskussion ständig neu aufkommenden und rasch wechselnden Konzepte, Modelle, Leitbegriffe, Prinzipien und Orientierungen zu gelten. Ihnen ist gemeinsam, dass sie sich in ihrem Appell an die Innovationsbereitschaft der Praxis richten und praxisnahe Hilfe versprechen. Didaktik scheint sich zu einer Handlungswissenschaft auszudifferenzieren. Das immer umfangreichere Spektrum didaktischer Angebote läuft dabei Gefahr, eher beliebig-affirmative Lesarten und blinde Betriebsamkeit zu befördern, denn durch klare Begriffe und Argumente rationalen didaktischen Entscheidungen zu dienen.
Handlungsorientierter
Unterricht
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zesse der Institutionalisierung des Wissenserwerbs und der Professionalisierung der Wissensvermittlung2. Als zwei voneinander unterscheidbare Traditionslinien im engeren Sinne sind für das Konzept des handlungsorientierten Unterrichts die europäische und die nordamerikanische Reformpädagogik sowie die Tätigkeitspsychologie der kulturhistorischen Schule auszumachen.3 Heutige Vertreterinnen handlungsorientierter Konzeptionen sehen ihre Wurzeln mehrheitlich in der reformpädagogischen Tradition. Sie stellen die materiellen Aktivitäten der Schülerinnen in den Mittelpunkt des Unterrichts; meist sollen konkrete Handlungsprodukte das Ergebnis des Lernens sein. Im Unterschied dazu bilden in den weniger häufig anzutreffenden Konzepten, die von der tätigkeitspsychologischen Lerntheorie geleitet sind, die materiellen Aktivitäten der Schülerinnen lediglich den Ausgangspunkt der Aneignungsprozesse. Auch wenn dies nicht ausgeschlossen ist, muss das Unterrichtsergebnis nicht notwendig in konkreten Produkten bestehen. Die diesen Konzepten zugrunde liegende Annahme ist, dass der Lernprozess in Etappen zunehmender Abstraktion erfolgt. Er gilt als abgeschlossen, wenn der Lernende in der Lage ist, selbständig und bewusst abstrakte Denkhandlungen auszuführen4: „Den Ursprung jedes geistigen Prozesses bilden äußere Handlungen. (...) die Formung einer geistigen Handlung (durchlauft) mehrere Etappen. Dieser Prozess beginnt mit der Orientierung auf die Bedingungen und Forderungen, denen die Handlung genügen muss. Auf der nächsten Etappe vollzieht das Kind die Handlung mit Hilfe von Gegenständen. (...) Es folgt die Etappe der Handlung auf sprachlicher Ebene. (...) Erst danach wird die Handlung auf die innere, geistige Ebene übertragen. Hier erfährt sie ebenfalls eine Reihe von Veränderungen, bis sie Züge gewinnt, die den inneren Denkverläufen eigen sind." (Leontjew 1979, S. 22 f.)
Zu den auflagenstärksten Werken über handlungsorientierten Unterricht zählen Hilbert Meyers Veröffentlichungen „Leitfaden zur Unterrichtsvorbereitung" (1996 [Erste Auflage 1980]), „Unterrichtsmethoden" (1992 u. 1993 [1987]) und „Didaktische Modelle" (gemeinsam mit Jank, 1994 [1991]) sowie Herbert Gudjons Buch „Handlungsorientiert Lehren und Lernen. Schüleraktivierung - Selbsttätigkeit Projektarbeit" (2001 [1986]). Beide Autoren sprechen in erster Linie Lehramtsstudierende und Praktikerinnen an, die zu einer handlungsorientierten Unterrichtspra2
Als frühes Beispiel kann Comenius genannt werden. Er wies in seiner der Bildung des ganzen Menschen verpflichteten „Didactica Magna" (Original 1628) u.a. darauf hin, dass sich Sachverhalte durch sinnliches Anschauungsmaterial besser einprägen und über viele Sinne aufgenommen werden sollten; der Unterricht wäre auf die Interessen der Kinder abzustimmen und der Nutzen des zu Lernenden deutlich zu machen. Die Bedeutung, die der eigenen Erfahrung in Lern- und Aneignungsprozessen zukommt, unterstrich auch Rousseau in seinem „Emil" (1762), ebenso wie Pestalozzi, auf den die vielzitierte Trias „Kopf, Herz und Hand" zurückgeht. Vgl. schließlich auch W. v. Humboldts kurze Abhandlung über die „Theorie der Bildung des Menschen" (2002, S. 237 f.; 1793 oder 1794 entstanden; vgl. Giel u. Flitner 2002, S. 316), in der er die bildende Wirkung gegenständlicher Tätigkeit beschreibt. All dies zeigt, dass Handlungsorientierung als didaktische Leitidee an weit zurückreichende Traditionen anknüpfen kann.
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Einerseits Montessori, Freinet, Petersen, Kerschensteiner, Gaudig, Otto und Dewey u.a. und andererseits Wygotsky, Galperin und Leontjew u.a.
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In der neueren Kognitionspsychologie trifft man auf Ansätze, die den Aufbau kognitiver Strukturen in ähnlicher Weise beschreiben.
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Helene Babel und Bernd Hack!
xis angeregt und ermutigt werden sollen. Theoretische Bezugnahmen erfolgen eher aus einem pragmatisch-praktizistischen Interesse, dem propagierten Unterrichtskonzept höhere Plausibilität zu verleihen, als dieses handlungstheoretisch zu fundieren und konzeptuell auf ein ausreichend anspruchsvolles Format zu bringen. So etwa delegiert Meyer im „Leitfaden" eine solche .Anstrengung des Begriffs' an die Leserinnen, indem er auf „eine umfangreiche Literatur zur Handlungstheorie" hinweist und empfiehlt, „diese Handlungstheorien selbst im Blick auf Unterrichtsprobleme auszumelken" (1996, S. 219). In den „Didaktischen Modellen" werden dann im Unterkapitel „Handlungsbegriff' erstmals explizite Aussagen zum Begriffsverständnis gemacht. Nach der Klage über den „in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion (...) seit etwa 15 Jahren (...) geradezu inflationäre(n) Gebrauch der Begriffe .Handeln' bzw. .Handlung' und ihrer Komposita Handlungskompetenz, Handlungsmuster, Handlungsorientierung usw." (ebd.), wird mit wenig erkennbarem Anspruch auf reflexiven Tiefgang die Unterscheidung zwischen einer „deskriptiv-analytischen" Verwendung des Handlungsbegriffs (Handeln als zweckgerichtetes Tun) und einer dieser vorzuziehenden „präskriptiven" vorgeschlagen: „Handeln im zweiten, präskriptiven Sinn meint (...) eine bestimmte, politische und pädagogisch verantwortbare Praxis unterrichtlichen Handelns. Es ist nicht damit getan, dass die Schüler durch die Klasse wuseln und am Stundenende glücklich und erschöpft sind. Es muss auch etwas Vernünftiges dabei herauskommen!" (1994, S. 353)
Gudjons (2001, S. 67 ff.) versteht handlungsorientierten Unterricht als „überfällige Antwort auf den tiefgreifenden Wandel in der Aneignung von Kultur in einer Lebenswelt, deren defizitäre Entwicklungstendenz in H. von Hentigs Formulierung vom .allmählichen Verschwinden der Wirklichkeit' präzise markiert wird". Daraus ergäben sich „drei Begründungsebenen für den handlungsorientierten Unterricht: eine sozialisationstheoretische, eine anthropologisch-lerntheoretische und eine didaktisch-methodische" (ebd.). Auf der sozialisationstheoretischen Begründungsebene betone handlungsorientierter Unterricht „die nichtentfremdete Arbeit, die durch den .Ernstcharakter' von Konsequenzen des selbstgeplanten Handelns und durch Produkte mit Gebrauchswertcharakter (...) die Identifikation der Schüler/innen mit ihrem Handeln und Lernen fördert" (ebd.). Die anthropologisch-lerntheoretische Begründung erfolgt unter Bezugnahme sowohl auf die tätigkeitspsychologische Lerntheorie als auch auf kognitive Handlungstheorien, weil beide vom Aufbau kognitiver Strukturen durch Tätigkeit bzw. Handeln ausgehen. Zwar spricht Gudjons von der didaktisch-methodischen Begründungsebene, merkt aber zugleich an, dass handlungsorientierter Unterricht sich auf dieser Ebene nicht begründen ließe. Es wäre bloß möglich, ihn in seinen Kategorien, Elementen und Merkmalen, die aus der Zusammenfassung vorliegender verwandter Konzepte zu gewinnen wären, zu beschreiben. Gudjons führt die folgenden Merkmale an: Handlungsorientierter Unterricht verenge Problemstellungen nicht auf einen Fachaspekt, sondern behandle sie „wie sie in der Wirklichkeit vorkommen" und „mit dem wirklichen Leben" zu tun haben. Dies
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erfordere Interdisziplinarität und die Überschreitung von Fachgrenzen. Der Unterricht sei offen im Hinblick auf Ziele, Inhalte, Methoden und Lernkontrollverfahren, nähme Interessen und Erfahrungen der Schülerinnen und Lehrerinnen auf, und würde sinnlich-unmittelbarem selbstgesteuertem Tätigsein, das sich individualisiert und differenziert vollziehe, Raum geben. Der Lehr-/Lernprozess sei zielorientiert, der Verständigung über die Ziele käme hoher Stellenwert zu. Dies impliziere, dass Schülerinnen größere Verantwortung für ihr Lernen übertragen werde. Das Lernen erfolge in Gruppen, wodurch soziale Lernprozesse und demokratische Verkehrsformen befördert würden. Schließlich erfordere handlungsorientierter Unterricht eine Kooperation zwischen Lehrerinnen und neue Formen der Leistungsbewertung. Im Projektunterricht sieht Gudjons die genannten Merkmale umfassend realisiert. Wie Gudjons beschreibt auch Meyer handlungsorientierten Unterricht anhand von Merkmalen und Kriterien. Im „Leitfaden" sind es drei, und mit ihnen erhält man die Bemerkung mitgeliefert: „Diese drei Kriterien für Handlungsorientierung sind ganz schön anspruchsvoll. Wenn man ihnen vollständig genügen will, hätte man fast die Quadratur des Kreises geschafft" (1996, S. 212). Dessen ungeachtet werden in den „Unterrichtsmethoden" vier und in den „Didaktischen Modellen" sogar sieben Merkmale vorgestellt, um das Konzept zu charakterisieren. Sie gleichen inhaltlich in etwa jenen, die Gudjons anführt, wenn auch zum Teil andere Begrifflichkeiten gewählt werden. Etwas verwirrend mutet freilich an, dass Meyer im Rahmen der drei Veröffentlichungen nicht nur die Merkmalsanzahl erhöht, sondern auch die Gewichtung einiger Merkmale variiert. Beispielhaft sei dies am Merkmal der Produktorientierung gezeigt: So heißt es dazu im „Leitfaden", dass Handlungsergebnisse entstehen können, „die für den Lehrer und die Schüler einen sinnvollen Gebrauchswert haben" (ebd., S. 211), in den „Unterrichtsmethoden" fällt Produktorientierung überhaupt nicht unter die „vier didaktische(n) Kriterien für die Gestaltung Handlungsorientierten Unterrichts" (1993, S. 412), während in den „Didaktischen Modellen" die „Herstellung von Handlungsprodukten" im Mittelpunkt des handlungsorientierten Unterrichts steht (1994, S. 356).sWir erlauben uns, derartige Diskontinuitäten auch als einen Indikator für eine mangelnde theoretische Fundierung des Konzeptes zu lesen, die es als relativ beliebige Entscheidung erscheinen lässt, welche Bestimmungen man nun tatsächlich für bedeutsam hält.
2. Die Inszenierung didaktisch kultivierter Integrität durch 'ganzheitliche' Vermittlung Anhand der Kriterien- und Merkmalskataloge, wie sie in der didaktischen Handreichungsliteratur geboten werden, lässt sich durchaus eine plastische Vorstellung davon gewinnen, wie der von ihr propagierte handlungsorientierte Unterricht in der Praxis funktionieren soll. Das Beispiel des Kriteriums der Produktorientierung zeigt 5
Vgl. diese und weitere Ungereimtheiten ausführlich im Rahmen der umfassenden von Wöll (1998, S. 136 ff.) vorgelegten Kritik handlungs- und erfahrungsorientierter Unterrichtskonzepte.
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jedoch, dass die durch bloße Merkmalsbeschreibungen gegebenen Anhaltspunkte nicht unbedingt stringent und verbindlich sind. Diese fehlende Rückbindung an eine fundierende differenzierte Vorstellung von Handeln und Lernen macht für einige fatale Konsequenzen anfällig. Drei von diesen wollen wir im Folgenden deutlich zu machen versuchen: 1. Zwar mahnt uns Meyer, dass es nicht reiche, wenn „die Schüler durch die Klasse wuseln und am Stundenende glücklich und erschöpft sind" und auch Gudjons lässt nicht daran zweifeln, dass es im handlungsorientierten Unterricht um anspruchsvolle Lernprozesse gehen soll: So sei vor Beginn eines Projekts „eine für den Erwerb von Erfahrungen geeignete, problemhaltige Sachlage" auszuwählen, die „von den bisherigen Erfahrungen der Schüler nicht zu weit weg ist, andererseits aber auch so neuartig ist, dass (sie) eine echte Herausforderung bedeutet, also ein .echtes' Problem darstellt" (2001, S. 81). Auch sei mit der Projektmethode der Anspruch verbunden, „zur Höherentwicklung' des Einzelnen und der Gesellschaft beizutragen" (ebd., S. 83). Doch woher sollen wir den Maßstab nehmen, anhand dessen sich bestimmen lässt, was vernünftig und eine echte Herausforderung ist? Und was kann als Beitrag zur Höherentwicklung des Einzelnen und der Gesellschaft gelten? Welches ist der Bezugspunkt, von dem aus diese Entscheidungen zu treffen sind? Ist es der Standpunkt der/des Lehrer/in/s als Expert/in/e für Lehren und Lernen, jener der Lernenden selbst oder etwa jener der Gesellschaft, zu deren mündige Mitglieder die Lernenden sich entwickeln sollen? Merkmalskataloge ä la Meyer und Gudjons stellen eine Auswahl an beispielhaften Beschreibungen der Praxis dar, wie sie auf der Ebene der Phänomene in der Praxis gewonnen werden können. Indem je konkrete Praxis sich auf der phänomenalen Ebene als unendlich vielfältig erweist, kann sie durch eine solche Auswahl jedoch nicht hinreichend abgebildet werden. Spätestens beim Versuch der Umsetzung der vorgeschlagenen Unterrichtskonzeption erweist sich dann, dass Merkmalskataloge alleine viele Fragen unbeantwortet lassen. In der eigenen Praxis ist daher zumeist wesentlich mehr und anderes zu berücksichtigen, als in den praxisnahen Darstellungen glanzvoll suggeriert wird. Phänomen steht dann gegen Phänomen. Die aus Gründen der Lesefreundlichkeit und Kundenorientierung von der .Anstrengung des Begriffs' verschont gebliebenen Leserinnen, bezahlen mit Enttäuschungserfahrungen und Frustrationen. Nicht eine Erweiterung und ein ,update' der Merkmalskataloge vermag hier Abhilfe zu schaffen, sondern die Bereitstellung eines begrifflichen Instrumentariums, das die Lehrenden in die Lage versetzt, selbst die in der je eigenen Praxis anzutreffenden Phänomene erkennend aufzuschließen und die didaktischen Entscheidungen daran auszurichten. Ein solches kategoriales Orientierungskonzept ist nicht unmittelbar aus der Praxis zu gewinnen, sondern erfordert deren theoretische Rekonstruktion. 2. Eine häufig anzutreffende Lesart des Konzepts handlungsorientierten Unterrichts ist jene, dass er eine abwechslungsreiche, anregende und spannende Verfahrensweise zur Provokation motivierter Schüleraktivitäten darstelle. Als solche gewinnt das Konzept seine Plausibilität daraus, dass es eine Lösung für allzeit be-
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klagte Probleme des traditionellen Unterrichts verspricht, wie etwa mangelndes Engagement, fehlende Konzentration und andere lernabträgliche Haltungen. Solcherart als erfolgversprechende Maßnahme verstanden, rückt der methodische Aspekt handlungsorientierten Unterrichts in den Mittelpunkt des Interesses. Die einschlägige didaktische Literatur spendet hierzu vielfältige Gestaltungsideen. Aus dem Reflexionshorizont gerät dabei freilich schnell, dass die bekämpften Schwierigkeiten bereits Folgeprobleme einer strukturell misslungenen Vermittlungskonstellation sind, welche ihrerseits auf den gesellschaftlichen Formierungsauftrag der Schule zurückgeht. Verharrt der Fokus auf den Folgeproblemen und wird er nicht auf deren Ursache gelenkt, genügt sich handlungsorientierter Unterricht nur allzu leicht darin, der animierenden Beschäftigung der Schülerinnen zu dienen - womit auch immer. Der Gegenstand der Vermittlung und die Logik von Erschließungsprozessen, denen der Vermittlungsprozess folgen müsste, geraten dann zugunsten einer aktionistischen Problementsorgung aus dem Blickfeld (vgl. dazu etwa Gruschka 2002, S. 328 f.). 3. Von Seiten des ökonomischen Systems wird seit Jahren eine Reform des Unterrichts gefordert, die den durch die Veränderungen in Produktion und Arbeitsorganisation entstandenen neuen Anforderungen an die Arbeitnehmerinnen Rechnung tragen soll: Gefragt sind flexible, kooperationsfähige, innovationsbeflissene, eigenständige, allgemein gebildete wie fachlich qualifizierte, selbstkompetente, polyglotte, junge und praxiserfahrene Mitarbeiterinnen. Längst sind diese Forderungen in den Diskurs neoliberaler Politik eingegangen, wo sie sich nicht mehr bloß auf die Bereiche Wirtschaft und Arbeit beschränken, sondern auf die Herausbildung neuer Formen von Subjektivität insgesamt abstellen. Begriffe wie „Selbst-GmbH", „IchAktie", „Unternehmens-Ich", „Jobnomaden" etc., die seit den 1990er Jahren den Diskurs prägen, deuten diese Entgrenzungsprozesse an und bringen zugleich zum Ausdruck, dass ein direkter Zusammenhang zwischen der „ökonomisierung der Subjekte" und der „Subjektivierung der Ökonomie" besteht (vgl. Moldaschl 2002, S. 32). Während die klassische (wirtschafts-) liberale Vorstellung davon geleitet war, äußere soziale und politische Einschränkungen zu beseitigen, die eine freie Entfaltung der Kräfte des als autonom erachteten Individuums limitieren könnten, gehen die normativen Ansprüche der neoliberalen Polit-Ökonomie in eine andere Richtung: Die Herausstellung der subjektiven Entwicklungs- und Steigerungsmöglichkeiten dient dazu, das durch die ökonomischen Veränderungen und die daraus resultierenden biografischen Unsicherheiten notwendige Risikomanagement auf die Individuen abzuwälzen. Bildung bedeutet in dieser Diktion Kompetenz zum Risikomanagement. Handlungsorientierter Unterricht scheint sich hier als pädagogische Praktik zur Steigerung eben dieser Fähigkeit und zur Flexibilisierung der Subjekte durch Lernen nachgerade anzubieten. Die Organisation der aufgetragenen Lernprozesse sieht ja vor, dass die Lernenden nicht nur ganzheitlich (mit Kopf, Herz und Hand), kooperativ und selbstorganisiert lernen, sondern auch die Verantwortung für Lernprozess und -ergebnis übernehmen sollen. Wer die Entfremdung des Lernens durch bloß kompensatorisches Hinterhereilen hinter der gesellschaftlichen Entwick-
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lung aufheben will, ohne diese Entwicklung aus der Sicht der lernenden Subjekte kritisch zu hinterfragen, läuft Gefahr, handlungsorientierten Unterricht in eine affirmative Didaktik zu wenden, deren Funktion just darin besteht, das gesellschaftliche Gewaltverhältnis in die Schule hinein zu verlängern, zu verschleiern und pragmatisch handhabbar zu machen. Pädagogische Konzepte lassen sich mit bloßen Verweisen auf eine veränderte Lebenswelt nicht „theoretisch begründen" (s.o.). Richtig ist, dass bildungspraktisches Handeln immer unter je konkreten gesellschaftlichen Bedingungen stattfindet und diese daher auch als solche zu berücksichtigen hat. Falsch wäre es jedoch, einen Determinationszusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Anforderungen und dem pädagogischen Handeln zu unterstellen, denn die Anforderungen bedürfen kritischer Sondierung. Erst unter dieser Voraussetzung können sie für bildungspraktisches Handeln bedeutsam werden (vgl. Heid 1999, S. 232). Allerdings ist eine solche kritische Reflexion wieder nur möglich, wenn die entsprechenden begrifflichen Instrumentarien zur Verfügung stehen, die es ermöglichen, die Logik von Handlungs- und Bildungsprozessen aus der (verallgemeinerten) Perspektive des handelnden bzw. lernenden Subjekts zu konzeptualisieren. Welche grundlegenden Annahmen sich u.E. als Basis für solche begrifflichen Instrumentarien empfehlen, versuchen wir nachstehend in groben Strichen zu skizzieren.
3. Handeln als Inbegriff sinnhafter Weltzuwendung Menschliche Lebensäußerungen können sowohl (von unbetroffenen 'Dritten') als faktisch-objektive Tatsachen wahrgenommen werden als auch (vom handelnden Individuum) als sinnhaft-subjektive Ereignisse. Beide Zugänge lassen sich als paradigmatische wissenschaftliche Positionen verallgemeinern: Verhaltenswissenschaften betrachten den Menschen als Organismus, Funktionseinheit oder System, dessen Zustandsveränderungen als beobachtbare und messbare Phänomene zu erfassen sind. Demgegenüber begreifen Handlungswissenschaften in Fortführung eines Traditionsbogens, der sich von den traditionellen 'Geisteswissenschaften' bis hin zu modernen kritischen Gesellschaftstheorien spannt, den Menschen als Subjekt, dessen Lebensaktivitäten einer rationalen Rekonstruktion und hermeneutischen Deutung zugänglich sind (vgl. etwa Habermas 1983). Als Handlungen verstehen letztere dabei Verhaltensereignisse, über die ein menschliches Individuum versucht, auf die Welt Einfluss zu nehmen und in ihr intendierte Wirkungen auszulösen (vgl. etwa Habermas 1989). Hinter diesen Verhaltensereignissen stehen Motive, in denen der handelnde Mensch zwischen seinen Bedürfnissen und der Welt vermittelt: Um die Ansprüche seiner Bedürfnisse abzuwägen, zu regulieren und zu befriedigen, mobilisiert der Handelnde seine rationalen Fähigkeiten und bearbeitet mit ihrer Hilfe propositionale, normative, expressive, evaluative und explikative Problemstellungen (vgl. etwa Habermas 1988, S. 45). Er
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kann sich dabei auf die Gesamtheit jenes Wissens stützen, das in den Objekten und Funktionszusammenhängen der kulturell strukturierten menschlichen Welt gespeichert ist: Schriftliche Texte, Bilder, musikalische Kompositionen, Bauwerke, Werkzeuge, Maschinen, Gebrauchsgegenstände, gesellschaftliche Formationen und soziale Settings, Gesetze, Verhaltensregeln und ähnliche Einrichtungen transportieren Bedeutungen, d.h. sie enthalten sowohl verallgemeinerte Motive und Zwecke, wie auch verallgemeinertes Wissen zu ihrer Realisierung. Sie werden im Zuge der historischen Entwicklung gewonnen, allgemein zugänglich aufbereitet und damit den einzelnen Mitgliedern der Gattung für weiteres bedürfnisbezogenes Handeln zur Verfügung gehalten. Selbst angeeignete Gewohnheiten, vollzogene Habitualisierungen und ausgeprägte Körperformen bilden Sedimente menschlicher Erfahrungs- und Denktätigeit und können auf die sie prägenden Sinnbildungsprozesse hin befragt werden (vgl. etwa Waidenfels 2000, S. 210 ff.). Dass Handlungen als in diesem Sinne sinnhaft orientiert betrachtet werden, bedeutet nicht, dass sie rationalen Erwägungen hermetisch entsprechen oder folgen. Anthony Giddens etwa kritisiert die Vorstellung, menschliche Handlungen seien das Resultat bewusster vorgängiger Entscheidungen. Die Intentionalität des Menschen realisiere sich vielmehr als eine Art 'Monitoring', als prozessbegleitende Kontrolle eines schon immer andauernden Ereignisablaufs: „Menschliches Handeln vollzieht sich ebenso wie menschliches Erkennen als eine dur6e, als ein kontinuierlicher Verhaltensstrom. Zweckgerichtetes Handeln ist nicht aus einem Aggregat oder einer Serie separater Intentionen, Gründe und Motive zusammengesetzt. Es ist vielmehr sinnvoll, Reflexivitat in der ständigen Steuerung des Handelns verankert zu sehen, die menschliche Wesen entwickeln und die sie von anderen erwarten." (Giddens 1995, S. 53)
Analog schlägt Hans Joas vor, „Wahrnehmung und Erkenntnis nicht der Handlung vorzuordnen, sondern als Phase des Handelns aufzufassen, durch welche das Handeln in seinen situativen Kontexten geleitet und umgeleitet wird" (1996, S. 232). Bewusste Zwecksetzung geschehe solcherart „nicht in einem geistigen Akt vor der eigentlichen Handlung", sondern als „Resultat einer Reflexion auf die in unserem Handeln immer schon wirksamen, vor-reflexiven Strebungen und Gerichtetheiten" (ebd.). Die Steuerung des Handelns erfolgt dabei in einem Wechselspiel zwischen diskursiven (durch sprachliche oder bildhafte Zeichen vermittelten) und intuitiven (auf unmittelbar sinnlicher Wahrnehmung oder Vorstellung basierenden) Verarbeitungsleistungen. Erstere beziehen aus der sie ausmachenden Abstraktion vom Handlungskontext ein Potential intensiver, unabschließbarer, vertiefender, analytischkritischer, zugleich aber auch (in Hinblick auf das reale Handeln) bruchstückhafter und bloß hypothetischer Standortbestimmung. Letzteren mangelt es aufgrund ihrer Integration in den Handlungskontext an reflexivem Potential, doch sind sie eingedenk ihrer ganzheitlichen, synthetisch-praktischen, 'realistischen' Logik erst geeignet, reales Handeln anzuleiten (vgl. dazu auch Hackl 2000, S. 130 ff.). Beide zu-
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sammen eröffnen die Möglichkeit faktisch wirkungsvollen Handelns in einer begrifflich erschlossenen Welt. Die Fundierung des Handelns in den Bedürfnissen impliziert keinen Utilitarismus einer auf bloße Zweckdienlichkeit orientierten instrumentellen Rationalität. Altruistische und schöpferische Leistungen im sozialen und gesellschaftlichen Raum werden vielmehr selbst als Bezugspunkte emotionaler Attraktion gesehen. Ute Osterkamp etwa identifiziert zwei unterschiedliche Gruppen menschlicher Antriebspotentiale. Sinnlich-vitale Bedürfnisse wirken demnach als Ausdruck unmittelbarer Stoffwechselerfordernisse (Hunger, Durst, Wärmeregulation etc.) und der Notwendigkeit sexueller Fortpflanzungsaktivitäten. Sie treten zumeist zyklisch auf und werden durch Befriedigung wieder zum Abklingen gebracht, ihre Tendenz ist homöostatisch. Sinnlich-vitale Befriedigungen laufen „in sich selbst zurück" und „wiederholen sich auf gleichem Niveau" (Osterkamp 1990, S. 39). Im Unterschied dazu sind produktive Bedürfnisse auf die „bewusste Erforschung und Analyse der Realität" und die „Meisterung von Problemen im Zusammenhang mit der Teilhabe an gesellschaftlicher Realitätskontrolle und Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen" (ebd., S. 42) gerichtet. Ihre Funktion besteht in der perspektivischen Absicherung der sinnlich-vitalen Bedürfnisse durch aktive Integration in den gesellschaftlich-sozialen Lebenszusammenhang. Produktive Motive beziehen sich auf sinnlich-vitale Bedürfnisse aber nicht in einer instrumentellen Logik, sondern versorgen die notwendigen sozialen, kommunikativen, entwicklungsorientierten Leistungen (darunter etwa Lernen, Engagement, Einfühlungsbereitschaft, Solidarität, soziale Obsorge, schöpferische und ästhetische Ambitionen etc.) mit einer eigenständigen emotionalen Antriebsgrundlage. Sie inkludieren Bereitschaften zum Aufschub unmittelbarer Befriedigungshandlungen (z.B. 'Anstrengungsbereitschaft') und wirken tendenziell kontinuierlich: Die ihnen zugrundeliegenden Spannungszustände werden durch Befriedigung nicht zum Abklingen gebracht, sondern vielfach sogar vertieft und intensiviert. Die emotionale Fundierung des menschlichen Handelns ist ausnahmslos: Aktivität ohne Motivation ist unvorstellbar, Bedürftigkeit die Grundlage aller Anstrengung. Kognitive Manöver können Handlungsbereitschaft nicht substanziell auslösen, sondern lediglich Zusammenhänge stiften, welche dem Bedürfnis Gegenstand und Form geben, Orientierung verleihen und Korridore öffnen. Seinen als solchen erfahrenen und rational formatierten und supervidierten Bedürfnissen zu folgen, bildet das „einzige materiale Apriori der Individualwissenschaft" (Holzkamp 1985, S. 350).
4. Lernen als tätige Selbstveränderung Lernen ist ein Vorgang, der menschliches Handeln unablässig begleitet, zunächst in der Form einer passiv-inzidentellen Modifikation seiner Grundlagen (vgl. etwa
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Waldenfels 2000, S. 166 ff.)· Wo sich im Zuge des Handelns ein Problem ergibt, das durch bloße Anwendung bereits etablierter (und durch das passive 'Mitlernen1 ausgebauter) Fähigkeiten nicht bewältigt werden kann, tritt zusätzlich die Handlungsalternative einer gezielten Selbstveränderung in den Blick und es eröffnet sich die Möglichkeit eines aktiv-intentionalen Lernvorgangs. Für diesen gilt, was für das Durchführen aller Handlungen gilt und dies bedeutet zuallererst, dass er nur auf subjektive Gründe zurückgehen kann. Um plausibel zu machen, warum es theoretisch ergiebiger ist, die Formel von der Handlungsorientierung des Unterrichts nicht auf die Häufigkeit oder Intensität beobachtbarer Handlungsere/gn/'sse, auf 'praktische Aktionen' oder gar körperliche Bewegungen zu beziehen, sondern auf die Motivierung des Lernens in der handelnden Lebenspraxis der Lernenden, ist es notwendig, auch hier wieder die zentrale Rolle der Emotionen als Angelpunkt der subjektiven Sinnbildungsprozesse herauszustellen. Sie sind nicht nur dafür verantwortlich, dass Lernen überhaupt ausgelöst wird, sondern sie orientieren den Lernprozess inhaltlich während seines gesamten Verlaufs. Am Beginn eines Lernvorgangs kann sein Gegenstand nämlich zunächst nur unvollständig, oberflächlich und vorläufig bestimmt werden. Er wird dergestalt angepeilt, dass der lernende Zugang zu ihm selbst problematisch ist und im Lernfortschritt modifiziert wird (vgl. etwa Holzkamp 1995, S. 212-218). Dabei spielen emotionale Prozesse eine entscheidende Rolle: Da der Lernende nicht wissen kann, was er nach Beendigung seines Lernprozesses können wird, kann er seine jeweils aktuelle Lernperspektive nur entlang einer subjektiv erfahrbaren Diskrepanz zwischen seiner Bedürftigkeit angesichts der gegebenen Problematik einerseits und seinen aktuell verfügbaren Fähigkeiten, diese zu bewältigen andererseits entwickeln. Die Verringerung dieser Diskrepanz wird indiziert durch die erlebte Reduzierung der emotionalen Beeinträchtigung, die die Diskrepanz bewirkt. Sie zeigt ihm an, inwieweit ihn sein Lernen dem im Voraus nicht eindeutig identifizierbaren Ziel näher bringt (vgl. auch Hackl in Druck). Diese iterative Entwicklung der Lernperspektive zeitigt besonders dort ein strukturelles Problem, wo das Lernen auf qualitativ Neues gerichtet werden soll. Wenn das kontinuierliche Weiterlernen nämlich durch eine Schranke blockiert wird, die in den bereits erworbenen Fähigkeiten selbst verankert ist, kann nur weiter gelernt werden, wenn der jeweils vorhandene Erfahrungsbestand (Aspekte des überkommenen Wissens, festgefahrener Herangehensweisen, alter Gewohnheiten etc.) in Frage gestellt und einer Veränderung unterworfen wird. Einer solchen Revision des bereits etablierten Fähigkeitsbestandes eignet das strukturelle Moment einer 'Lernkrise': Mehr oder minder bewährte Strategien aufzugeben (worin der erste Schritt des Umlernens liegt), bedeutet ja, zunächst einmal auf schon verfügbares Problembewältigungspotential zu verzichten, also in einer Übergangsphase kurzfristig über weniger anstatt mehr Lösungsmöglichkeiten zu verfügen. Damit erfährt das zentrale Regulativ des Lernprozesses - die erlebbare Reduzierung der emotionalen Beeinträchtigung - quasi eine 'Schubumkehr'. Weiteres Lernen kann dann nur noch stattfinden, wenn die plötzliche Vertiefung der emotionalen Beeinträchtigung
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durch einen bewussten kognitiven Akt überbrückt wird, durch welchen eine später erwartbare Steigerung der Befriedigungsmöglichkeiten als aussichtsreich vorgestellt wird. Wo dieser Akt auf der Grundlage fehlender positiver Erfahrungen nicht vollzogen werden kann, sind Lernwiderstände die notwendige Folge. Lernwiderstände können aber auch darauf zurückgehen, dass der als Resultat des Lernens erwartbare Effekt in sich selbst widersprüchlich ist. In institutionell verhängten Lernarrangements (wie etwa im Schulalltag) sind solche Behinderungen und Bedrohungen häufig anzutreffen: Durch die emotionale Identifizierung des fremdsteuernden Zugriffs wird der durch das Lernen an sich erwartbare Zugewinn an Handlungsfähigkeit durch die dem Lernen vorausgesetzte Unterwerfung unter die Fremdbestimmung 'unter dem Strich' tendenziell wieder aufgehoben. Dass solcherart keine Erweiterung der insgesamten Realitätsverfügung und autonomen Lebensgestaltungsmöglichkeiten spürbar wird, neutralisiert gegebene Motivationspotentiale. Es wäre nun unzureichend, den Handlungsbezug des Lernens lediglich als Rekonstruktion jener Vorgänge anzulegen, die als Voraussetzungen, Perspektiven und Handlungen des individuellen Lernenden zu identifizieren sind. In Ergänzung zu solchen Sichtweisen destillieren etwa Jean Lave und Etienne Wenger (2002) unter Rückgriff auf reichhaltiges Material aus ethnologischen Feldstudien basale Grundelemente und Verlaufsformen menschlichen Lernens in sozialen Kontexten. Sie verallgemeinern diese zu einem Konzept 'situierten Lernens', welches das soziale Fundament einer konzeptuellen 'Handlungsorientierung' des Lernens begrifflich verfügbar macht. Als Angelpunkt ihrer Darstellung fungiert die Beobachtung, „that learners inevitably participate in communities of practitioners", dass Lernen also nicht anders als eingebettet in die laufende Handlungspraxis sozialer Einheiten denkbar sei, und dass der Prozess des Lernens im Grunde in nichts anderem besteht, als „to move toward full participation in the sociocultural practices" dieser Gemeinschaften (ebd., S. 29). Die gängige Vorstellung vom Lernenden als individuellem Akteur erscheint in dieser Sicht als erklärungsbedürftige Sonderform, nicht als paradigmatisches Modell. Die Position des Lernenden in der Praktikergemeinschaft, wird als jene einer legitimen peripheren Partizipation eingeführt. Deren wesentliche Charakteristika bestehen darin, dass ihm erstens eine Position zukommt, in welcher er in spezifisch eingeschränkter Weise in die laufende Praxis der Gemeinschaft integriert und an ihr aktiv beteiligt wird und ihm dabei zweitens der Zugang zu jenen Ressourcen offen steht, die ihm eine schrittweise Aufhebung dieser eingeschränkten Beteiligung in Richtung auf eine vollständige Beteiligung ermöglichen. Eine solche Form der sozialen Koordination unterscheidet sich grundsätzlich von anderen Formen, die als Voraussetzung für Lernprozesse dementsprechend ungeeignet sind, etwa einer Partizipation unter Ausschluss von der Mitbeteiligung und Mitverantwortung an der laufenden Praxis, oder einer Partizipation unter Blockierung des Zugangs zu den Ressourcen der fortschreitenden Integration durch Lernen. Peripherität meint also keinen restriktiven, sondern einen spezifisch produktiven - wenngleich transitori-
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sehen - Zustand, welcher durch den Zugang zur gemeinsamen Praxis, Wissensbasis und Verantwortung positiv definiert ist: „In this sense, peripherally, when it is enabled, suggests an opening, a way of gaining access to sources for understanding through growing involvement" (ebd., S. 37). Die herangezogenen Fallstudien zeigen, dass erst die Beteiligung an der tatsächlichen produktiven Tätigkeit der Gemeinschaft das Lernen aus der Sicht des Lernenden zu einer sinnvollen Aktivität werden lässt. Dies geht zum einen darauf zurück, dass das finale Handeln, auf das sich die Lernenden zubewegen, die ganze Zeit über als Orientierungsmarke unmittelbar einsichtig ist, zum anderen darauf, dass die lernend vollzogenen Beiträge zur laufenden Praxis tatsächlich benötigt, geschätzt und einbezogen werden. Sie repräsentieren einen Wert, „which increases as the apprentice becomes more adept" (ebd., S. 111). Ein besonderer Aspekt des 'Ernstcharakters' der Beteiligung liegt in der durch sie möglichen Selbstevaluation der Lernenden und der Rückkoppelung von Erfolgs- oder Misserfolgsereignissen. Sie ermöglicht eine zurückhaltende Didaktik, bzw. „sparsity of tests, praise, or blame" (ebd.). Zur Motivation durch bloß 'sachliche' Erfolgserlebnisse tritt der Erfolg, mit ihnen innerhalb der Gruppe zu reüssieren. Erfolgreiches Bewältigen der Anforderungen und Anerkennung in der Gemeinschaft werden so zu wechselseitig stimulierenden Effekten. Die innerkommunitäre Karriere trägt zu steigendem Selbstbewusstsein bei und führt zur Ausbildung einer 'kompetenten' Identität, das lernende Vorankommen „involves not just a greater commitment of time, intensified effort, more and broader responsibilities within the community, and more difficult and risky tasks, but, more significantly, an increasing sense of identity as a master practitioner" (ebd.).
5. Handlungsorientierung als didaktisches Prinzip Wenn die menschlichen Lebensaktivitäten mit dem hier notwendig holzschnittartig skizzierten Handlungsbegriff und der auf ihn gegründeten Auffassung von Lernen als subjektiv motivierte und sozial situierte Erweiterung von Handlungsfähigkeit sinnvoll erfasst sind, lassen sich daraus sowohl notwendige Voraussetzungen für handlungsorientierten Unterricht als auch hinreichende Bedingungen seiner Verunmöglichung ableiten: Überall dort, wo unterrichtliche Maßnahmen die Orientierung der Lernenden auf Sicherung und Erweiterung ihrer Handlungsfähigkeit in für sie subjektiv erfahrbarer Weise unterstützen und befördern, könnte man dann mit gutem theoretischem Recht von handlungsorientiertem Unterricht sprechen. Demgegenüber dürfte Unterricht, der um der Erreichung bestimmter individueller oder gesellschaftlicher Vorentscheidungen willen auf instrumentalisierende Fremdsteuerung der Lernenden angelegt ist, die intendierten Lernvorgänge nicht den Handlungsambitionen der Lernenden überantworten. Eine solche Herangehensweise könnte dann mit Blick auf das im vorliegenden Zusammenhang wesentliche Unter-
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scheidungskriterium als anpassungsorientierter Unterricht charakterisiert und untersucht werden. Die Ausgangsüberlegung unserer Unterscheidung besteht darin, dass jedes motivierte Lernen einen spezifischen Handlungszusammenhang voraussetzt, der ihm durch seine Merkmale Sinn und Orientierung verleiht. Dieser Handlungszusammenhang ist in gewisser Weise didaktisch unverfügbar, didaktisches Handeln kann ihn nicht herstellen, sondern nur auf ihn aufsetzen: Er ist Ausdruck der biografisch aktuellen Lebens- und Entwicklungsperspektiven der Lernenden und wird in potentielle Lernsituationen mitgebracht. Im außerinstitutionellen Lebensalltag fungiert er zumeist naturwüchsig-unproblematisch als Grundlage alltäglichen Lernens. Anders verhält sich dies in der Schule und vergleichbaren Wissensvermittlungsinstitutionen: In ihnen sollen Erziehung-/Schulungs-/Bildungsprozesse planmäßig und kontrolliert hervorgerufen werden. Die damit einher gehende Transformation implizitdidaktischer Konstellationen, die sich aus den Notwendigkeiten der Kooperation Vorauswissender ('Meister') und von diesen Lernender ('Novizen') ergeben, in eine verbindlich definierte 'Lernformation' (vgl. Schulze 1980, S. 116), in welcher das Lernen von den alltäglichen Handlungskontexten abgeschnitten ist, spitzt die Problematik der Handlungsorientierung in systematischerweise zu. Lave und Wenger zeigen dies an Fallbeispielen der organisierten Belehrung in formalisierten didaktischen Arrangements. Diese haben die Funktion, Lernende aus vorhandenen Handlungskontexten abzukoppeln und diese durch strategische Arrangements zu ersetzen. Sie bilden also in gewisserWeise den Versuch, die didaktische Unverfügbarkeit des Handlungskontexts zu ignorieren. Dies führt zu einer Verschiebung der didaktischen Problemstellung: Anstelle der zu lösenden Probleme rücken die Lernenden als Objekte der wissensvermittelnden Tätigkeit in den Vordergrund. „In such circumstances, the focus of attention shifts from coparticipating in practice to acting upon the person-to-be-changed" (Lave u. Wenger 2002, S. 112). Indem das Ziel des Unternehmens nun in der Veränderung der Person liegt, konzentriert sich auch der Lernende stärker auf 'sich' (und seine Entwicklung) als auf die Sache, gleichzeitig schwindet mit dem Verlust der Ausrichtung der ganzen Gruppe auf das Ziel, eine bestimmte Praxis gemeinschaftlich zu bewältigen, auch die motivierende Kraft der 'ernsthaften' Beteiligung des Lernenden, welche seine produktiven Beiträge unter verbindliche Ansprüche stellt. Diese Konstellation verschärft sich in dem Maße, in dem die Lernenden durch Sanktionen zu Lernprozessen gezwungen werden sollen, welche anzustreben sie von sich aus keine sinnvollen Gründe finden. Bei dieser Form des „defensiven Lernens" (Holzkamp 1995, S. 187 ff.) wird nicht nur auf andere Weise, sondern auch etwas anderes gelernt, als instrumentell vorgesehen: Nicht mehr der zugemutete Lerninhalt wird durch die Zwangsvorkehrung problematisch, sondern die strategische Abwehr der Sanktionen. An die Stelle des qualitativen Werts steigender Integration tritt die Orientierung am Tauschwert von Lob und Leistungsgratifikation und es entstehen die klassischen „conflicts between learning to know and learning
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to display knowledge for evaluation" (Lave u. Wenger 2002, S. 112, vgl. dazu auch Hackl 1992). Ein Großteil jener Verfahren und Techniken, die unter der Rubrik 'Didaktik' angeboten werden, ist ersonnen worden, um einerseits die Abkoppelung der Lernenden aus ihren autochthonen Handlungszusammenhängen und ihre Eingliederung in normativ geschlossene Lernsettings zu leisten und andererseits die dadurch entstehenden Kollateralschäden der Motivationslosigkeit und Desorientierung wieder abzufangen. Dennoch bleibt Didaktik auch unter handlungsorientierten Prämissen eine Aufgabe, denn es ist offensichtlich, dass der Prozess der lernenden Integration in die Gemeinschaft keineswegs identisch sein kann mit den Prozessen ihrer regulären Praxis. Dies verweist auf die Notwendigkeit einer spezifisch didaktischen Formatierung der Meister-Novizen-Beziehung. Allerdings begünstigt der Verzicht auf strategische 'Formung' der Lernenden eine gewissermaßen asketische Didaktik. Zunächst genügt, wie Lave und Wenger zeigen, bereits die Ermäßigung der regulären Ansprüche: „less intense, less complex" und „less vital tasks are learned before more central aspects" (2002, S. 96). Klassische Formen der 'hinführenden Aufbereitung' erscheinen weitgehend verzichtbar: Als Curriculum der Lernepisoden fungiert die Handlungspraxis der Gemeinschaft selbst, an welcher praktisch agierend teilgenommen wird: „Learning itself is an improvised practice: A learning curriculum unfolds in opportunities for engagement in practice. It is not specified as a set of dictates for proper practice" (ebd., S. 93). Selbstverständlich kann auch unter solchen Bedingungen die sequentielle Anordnung der Lernhandlungen nicht jener der normalen Durchführungshandlungen folgen. Dies impliziert jedoch keine normierende Vorzeichnung von Lernwegen, keine hypertrophen didaktischen Planungsgebilde, sondern lediglich einen Einstieg über die 'Randtätigkeiten' der finalen Praxis (etwa das Erbringen von Vorbereitungs-, Unterstützungs- und Nachbereitungsleistungen). Diese Strategie einer stufenweisen Integration von eher peripheren Beiträgen her „provides a first approximation to an armature of the structure of the community of practice" (ebd., S. 96). Die periphere Position weist dem Lernenden nicht bloß einen günstigen Beobachterposten zu, sondern involviert ihn in reduzierter Belastung in das laufende Geschehen. Dadurch wird sein Lernen zu einem Aspekt seines Kooperierens, er handelt nicht und lernt, sondern er lernt indem er handelt, „a way of learning - both absorbing and being absorbed in - the 'culture of practice'" (ebd., S. 95). Die von den von uns kritisierten Beiträgen zur Handlungsorientierung (s.o.) als eine Art Selbstzweck propagierte Durchführung 'praktischer' Aktivitäten ist um einer tatsächlich ausgebildeten Handlungsfähigkeit willen (die sich ja nicht in bloßer Kontemplation erschöpfen kann) zweifellos notwendig, sie ergibt sich aber im Rahmen eines intakten Handlungsbezugs von selbst.
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6. Grundstrukturen handlungsorientierten Unterrichts Abgesehen von der üblichen Praxis, den Lernenden das Lernen ohne nachvollziehbaren Handlungsbezug zuzumuten und die intendierte Anpassung an diese Zumutungen durch Sanktionen herbeizuführen, eröffnen sich nun zwei prinzipielle Alternativen: Zum einen kann versucht werden, das schulische Lernen an außerschulische Handlungszusammenhänge anzubinden, also quasi Motive einer exogenen Praxis zu importieren. Sie ist jedoch mit zwei Problemen behaftet: Erstens tendieren die von außen bezogenen Sinnentwürfe zu erheblichen Transportschäden. Die abgegriffene Formel des 'Lernens für das Leben' ist über den Verdacht eines ungünstigen Kosten-Nutzen-Verhältnisses kaum je erhaben. Zweitens können 'Alltagsmotive' aufgrund der Partikularität individueller Lebenspraxen zumeist nur relativ anspruchslose, unsystematische und einseitige Lernprozesse befördern, welche sich zufällig aus dem Streit mit Freunden oder der Reparaturbedürftigkeit des Fahrrads ergeben. Eine zweite Möglichkeit besteht darin, Lebensperspektiven der Lernenden im Rahmen des Schulunterrichts zu beherbergen, hier als eigenständige Handlungskontexte zu entfalten und damit endogene Motive zu mobilisieren. Diese Variante läuft darauf hinaus, den Unterricht selbst als eine Praxis der Grundlegung, Erprobung, Kritik und Ausarbeitung bedürfnisorientierter Weltzugänge zu interpretieren, anzulegen und mit allen Konsequenzen umzusetzen. In einer solchen Praxis lassen sich dann zum einen jene skizzierten subjektiven Motivationsvoraussetzungen kultivieren, ohne die keine Anstrengungsbereitschaften denkbar sind und zum anderen jene sozialen Funktionen etablieren, ohne die diese Bereitschaften ins Leere laufen müssen, wie etwa eine intakte soziale Kommunität aus 'masters' und 'peers', welche die sinnbezogenen Orientierungen kompetent verwaltet, sachliche Ressourcen bereithält und in einem Prozess der stufenweise fortschreitenden selbstkontrollierten Integration erobert werden kann. Das dazu erforderliche Ambiente lässt sich analytisch auf drei grundsätzliche didaktische Leistungen zurückführen, die zu erbringen sind, wenn handlungsorientierter Unterricht stattfinden können soll. Ihnen ist gemeinsam, dass sie einem Primat des Lernens vor dem Lehren verpflichtet sind, sich mithin als Unterstützung des Lernens verstehen, nicht als dessen Hervorbringung, Planung, Inganghaltung und Beurteilung. Die erste Leistung besteht in der Sicherung eines lernangemessenen Entfaltungsraumes: Sie muss eine Situation herbeiführen, die es ermöglicht, dass Lernende „selbsttätig am Erkennen und Begreifen ihrer Lebensbedingungen (arbeiten) und (...) ihre gewonnenen Erkenntnisse zu Wertungen, Motivationen und Begründungen um(arbeiten), die für ihr Lernen handlungsleitend werden" (Zimmer 1989, S. 56). Eine solche Situation kann als 'entspanntes Feld' charakterisiert werden, in dem Probe-, Fehl- und Übungshandlungen, Umwege, 'Hypothesenprüfungen' etc. mit entschärften Konsequenzen belastet werden und unter reduziertem Erfolgsdruck durchgeführt werden können. Prozesse aktiver Selbstveränderung benötigen unter entwicklungsbezogenen Gesichtspunkten ein ausreichendes Maß an verfüg-
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barer Zeit, gestaltbarem Raum und sozialer Integration, an Schutz vor existenziellen Bedrohungen, Muße und gewahrter Integrität. Diese Entlastungen ermöglichen eine ausreichende Distanz zu den Phänomenen, die lernend erschlossen werden sollen. Im Konzept der legitimen peripheren Partizipation (unter reduzierten Ansprüchen an die Beiträge zur gemeinsamen Praxis) ist diese Vorstellung exemplarisch konkretisiert. Die subjektiven Hauptaspekte eines solchen Schonraums bilden die Möglichkeit zur Entwicklung der inneren Bereitschaft, sich auf Lernkrisen einzulassen, d.h., überkommene Handlungsstrategien in Frage zu stellen und aufzugeben, noch bevor neue an ihre Stelle getreten sind und sich als bessere bewährt haben, sowie die Möglichkeit zur Entfaltung eines psychischen Umstrukturierungsvorgangs, den Holzkamp in Anlehnung an Frank Gallikers (1990) Konzept der Erinnerung in 'affinitiven Sätzen' als 'affinitives Lernen' bezeichnet hat. Dieses sei kennzeichenbar durch „einschließende Herangehensweise, ein 'Kommen-Lassen' von gegenständlichen wie sprachlichen Bedeutungsverweisen, ein 'Sich-Zurücklehnen', ÜbersichtGewinnen" (Holzkamp 1995, S. 328) und bilde einen notwendigen Bestandteil der lernenden Weltbegegnung. Eine zweite Leistung handlungsorientierten Unterrichts besteht in der Problematisierung bestehender Orientierungen: Unterricht muss durch spezifische Kommunikationsangebote Bedürfnisse wecken und stimulieren, die den je etablierten Stand subjektiver Weltbegegnung der Lernenden als erweiterungsbedürftig erfahrbar machen. Dazu muss er die Zufälligkeiten der biografisch bereits durchlaufenen Lernsituationen (soziale Herkunft, lebensweltliche Umstände etc.), die Willkürlichkeiten nicht-pädagogischer Einflussfaktoren (peer-groups, Medien etc.) und die Borniertheiten individueller Dispositionen (Gewohnheiten, etablierte Sichtweisen etc.) mit der Perspektive der Problematisierung, Erweiterung, Abwandlung etc. in Frage stellen. Frigga Haug hat diesen Aspekt so beschrieben: „Einen Lernprozess organisieren heisst Erfahrungen in die Krise führen. Dafür benötigen die Schüler ihre Lehrer - diese organisieren Verunsicherung, damit das SichEinrichten vermieden werden kann. Sie zerstören die friedliche Koexistenz widersprüchlicher Erfahrungen in den harmonisierenden Bemühungen der Schüler. Sie richten Erfahrung gegen Erfahrung." (1981, S. 73)
Beispiele dafür wären vielfältige und anregungsreiche Umgebungen, die Konfrontation mit gesellschaftlich relevanten Fragestellungen sowie das argumentative Stellen aller Arten von rationalen Geltungsansprüchen als Provokationen gegenüber homöostatischen Tendenzen der sich entwickelnden Weltorientierung. Bei intakter Handlungsorientierung ist hier damit zu rechnen, dass sich viele Problematisierungen aus der laufenden Aneignungspraxis zwanglos ergeben. Eine sparsame Didaktik kann sich hier auf Hinweise zu auftauchenden Widersprüchen beschränken und auf agitatorische Interventionen verzichten. Zum Dritten gründet handlungsorientierter Unterricht auf der Bereitstellung problemlösungsadäquaten Wissens: Unterricht muss Möglichkeiten der Aneignung von
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subjektiven Zugängen zu historisch akkumulierten gesellschaftlichen Erfahrungen schaffen. Dies kann er nur leisten, indem er exemplarisch nachvollziehbar werden lässt, dass Wissen als sinnvolle Lösung von Problemstellungen entwickelt wurde und als solche wieder eingesetzt werden kann. Dazu muss dieses Wissen problembezogen abrufbar zur Verfügung gehalten (und nicht wie im herkömmlichen Unterricht häufig der Fall - problemferne aufgedrängt) werden. Damit wird möglich, dass die Lernenden im Zuge der selbsttätigen Entfaltung ihrer Lernambitionen selbständig auf es zugreifen und es als Mittel zur Bewältigung der dabei entstehenden Lernproblematiken einsetzen können. Eine besondere Bedeutung hat in diesem Kontext die Aneignung kategorialen Wissens (etwa i.S. Klafkis 1996, S. 144), das geeignet ist, die allgemeinen Strukturen bestimmter Gegenstandsbereiche aufzuschließen sowie die Aneignung von Wissen über den Erwerb von Wissen ('Lernen über Lernen'). Wie man sich 'angebotsförmige' Vermittlungsformen vorstellen kann, illustrieren Lave und Wenger etwa, wenn sie an ihren Fallstudien die Bedeutung der peers herausarbeiten: In aller Regel widmet sich der Meister nicht primär der Vermittlungsaufgabe, sondern seiner Meistertätigkeit. Im Vordergrund der Aneignungsprozesse steht der informelle, improvisierende und in gewisser Weise 'autodidaktische' Austausch der Lernenden über ihre Erfahrungen, Einsichten und Probleme bei der Annäherung an das durch den Meister vorexerzierte Können. Wissen wird nicht demonstriert, sondern praktiziert. Eine Beteiligung an dieser Praxis ist möglich, doch verbleibt alle Verantwortung für den Lernprozess beim Lernenden.
7. Handlungsorientierter Unterricht: ein Beispiel Unsere bisher dargelegten Vorstellungen lassen sich anhand eines mediendidaktischen Ansatzes beispielhaft konkretisieren, der von dem amerikanischen Pädagogen und Kulturwissenschaftler Henry Giroux (1998) entwickelt wurde. Giroux's Ansatz stellt eine - wenn auch u.E. ebenso gelungene wie anspruchsvolle - Möglichkeit unter anderen dar, das zu realisieren, was wir hier als handlungsorientierten Unterricht konzeptuell darstellen möchten. Nach Giroux's Auffassung (vgl. aus neuerer Zeit Giroux 2000 u. 2003) ist Pädagogik bewusste Vermittlung von Wissen, Normen und gesellschaftlichen Identitäten. In allen gesellschaftlichen Bereichen, in denen hegemoniale Auseinandersetzungen ausgetragen werden, fände daher Pädagogik statt. Lehrerinnen bezeichnet Giroux als Kulturarbeiterinnen (cultural workefy sie seien einem politischen Projekt und normativen Diskurs zur Erweiterung demokratischer Möglichkeiten verpflichtet. Das Ziel von Bildung (literacy) sei kritische und demokratische Selbstbestimmung; Lernen sei dialogische Praxis, in der Wissen durch kritische Auseinandersetzung entstehe. Das erzeugte Wissen solle den Lernenden Möglichkeiten eröffnen, Gegendiskurse und Gegenöffentlichkeiten zu entwickeln.
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Medien tragen heute wesentlich zum kulturellen Sinnangebot bei. Welche Bedeutungsangebote und -Interpretationen wirksam werden, hängt davon ab, welche Chancen sie haben, öffentlich wahrgenommen und von den Menschen in ihren Alltag übernommen zu werden. „Medien wirken demnach nicht direkt durch die Inhalte, sondern durch die Passung ihrer Bedeutungsangebote für die jeweiligen Mediennutzer" (Vollbrecht 2001, S. 132). Indem Medien in ihren Darstellungen bestimmte Identitäten privilegieren, bestimmte Handlungsmöglichkeiten und Lebensmodelle zulassen und andere wiederum systematisch marginalisieren, wirken sie, so Giroux, pädagogisch. In konsequenter Fortführung seines Verständnisses von Pädagogik und Bildungsarbeit erweiterte Giroux seine politische Schulpädagogik6 in den 1980er Jahren zu einer Medienpädagogik (vgl. Neubauer 1998, S. 616). Dabei wandte er sich dem kultunwissenschaftlichen Ansatz der Cultural Studies in der Tradition der Birminghamer Schule zu. Das Forschungsprogramm der Cultural Studies besteht in der theoretischen Rekonstruktion kultureller Praktiken und Diskurse im Kontext gesellschaftlicher Machtverhältnisse7. Die Untersuchung von symbolischen Formen und Bedeutungen wird mit jener von Macht kombiniert, um zu erfassen wie einerseits Menschen ihr Alltagsleben durch und mittels Kultur artikulieren und wie andererseits es mit und durch die gesellschaftlichen Strukturen ökonomischer und politischer Macht artikuliert wird. Die Rekonstruktion derartiger .kultureller Texte' ermöglicht es, erweiternde und einschränkende Bedingungen der als subjektive Qualität erfahrenen Handlungsfähigkeit erkenn- und sichtbar zu machen. Am Thema der Medien manifestiert sich der Zusammenhang von Gesellschaft, Kultur und Macht in spezifischer Weise. In der Form, wie Bild-, Klang- und Textmedien eingesetzt werden, transformieren sie fortdauernd Wissen, Identität und Werte. Medien werden so zu einem bestimmenden Faktor innerhalb der komplexen und häufig widersprüchlichen ideologischen und materiellen gesellschaftlichen Prozesse. Und genau darin gründet Giroux's medienpädagogisches Interesse. Seine Aufmerksamkeit gilt insbesondere den Medien der Populärkultur. Populärkultur, so Giroux, soll als Ort pädagogischer Auseinandersetzung gewonnen werden (vgl. Simon u. Giroux 1989). Seine Analysen gelten etwa Werbekampagnen (Benetton/Toscanini, Calvin Klein etc.), Hollywoodfilmen („Pretty Woman", „Pulp Fiction", „Der Club der toten Dichter" etc.) und Disney-Trickfilmen (vgl. besonders zu „Mickey Mouse" Giroux 1999). Im Unterricht, so Giroux, könne es nicht darum gehen, Lernenden durch dogmatische Eintrichterung von Erklärungsmodellen political correctness beizubringen.
6
Giroux entwickelte bereits Ende der 1970er Jahre eine „Pädagogik des Widerstands", ein kritisch-pädagogisches Programm, das sich gegen die Entpolitisierung der Bildung in den Vereinigten Staaten wendet.
7
„Cultural studies can be seen as a contextual theory (and analysis) of how contexts are made, unmade changed etc. as structures of power and domination" (Grossberg 1999, S. 28).
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Vielmehr sollte im Dialog zwischen Lernenden, Lehrenden und kulturellen Texten entschlüsselt werden, inwieweit letztere gängige Vorstellungen von Identität und Differenz hervorbringen und inwieweit diese Konstrukte aktiv die Bedingungen unseres Daseins gestalten. Erst das Begreifen der Konstruiertheit der eigenen Subjektpositionen befördere ein tieferes Verständnis der eigenen historischen und kulturellen Verortung und bilde die Voraussetzung, um von ihr aus sprechen, handeln und Auseinandersetzungen führen zu können. Giroux benennt folgerichtig das zentrale Dilemma, vor dem alle Lehrenden stehen würden, wenn sie kulturindustrielle Erzeugnisse im Unterricht thematisieren: „(E)inerseits sollen Bedeutungsstrukturen und Affektmobilisierung kritisch hinterfragt werden, andererseits aber sollen die verschiedenen Bindungen, die (z.B.) der Film in den Lernenden mobilisiert, ihre Berechtigung behalten" (1998, S. 622). Daher sollte gemeinsam mit den Lernenden untersucht werden, „auf welche Weise der Film im Dienst bestimmter gesellschaftlicher Autoritäten Wissen erzeugt und Modelle gesellschaftlichen Handelns vermittelt, die bestimmte Gruppen bevorzugen, und welche widersprüchlichen und begrenzten Einsichten er (damit) vermitteln kann" (ebd.). Giroux trägt damit jene Fragen, die er als Kulturwissenschaftler an populärkulturelle Medien stellt, in den Unterricht hinein; Lehrende und Lernende praktizieren Cultural Studies. Giroux schlägt zwei Schritte der Vermittlung vor. Den ersten Schritt bezeichnet er als „Pädagogik der Darstellung (pedagogy of representation)". In diesem Schritt werden die Botschaften der Medien analysiert und entschlüsselt. Ziel dabei ist, dass die Lernenden einen kulturellen Text vor dem Hintergrund ethischer und politischer Diskurse kritisch hinterfragen können, um ein tieferes Verständnis ihrer eigenen Lebenslage und deren Eingebettetheit in einen spezifischen historisch gewordenen (und als solchen veränderbaren) kulturellen Kontext zu gewinnen. Fragen, die an den Text gestellt werden, sind etwa, welchen intertextuellen, ideologischen und kulturellen Bezügen der Text entspringt, wie der Text mit kulturellen Unterschieden und mit Problematiken wie gesellschaftliche Gerechtigkeit und menschliche Freiheit verfährt, welche gesellschaftlichen Gruppen er bevorzugt, wessen Interessen die Darstellungen in dem Text dienen, wie der Text bestimmte Machtverhältnisse bestätigt und welche Modelle gesellschaftlichen Handelns vermittelt werden, welche Sicht der Gegenwart bzw. Vergangenheit bestimmte Darstellungen motiviert, welche Sicht der Zukunft gesichert werden soll, wie der Text bestimmte Wünsche, Identifikationen oder Bedürfnisse mobilisiert und auf diese Weise bestimmte Subjektpositionen zulässt, und welche moralischen, ethischen und ideologischen Prinzipien die je eigenen Reaktionen auf solche Darstellungen bestimmen, auf welche Weise im Dienste welcher Autoritäten Wissen erzeugt wird, etwa inwieweit die Darstellungen die Interpretationsmöglichkeiten der Rezipientlnnen beschränken etc. Den zweiten Schritt nennt Giroux „Darstellende Pädagogik (representational pedagogy)". Hier sollen die Jugendlichen lernen, sich selbst in ihrer Lebenswelt darzustellen und ihre eigenen Perspektiven, Hoffnungen, Wünsche und Lebensmodelle
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zu artikulieren. Es erfolgt die konkrete Produktion eigener medial aufbereiteter Erzählungen, z.B. indem schriftliche Texte verfasst, Filme, Tondokumente etc. hergestellt werden. Das im ersten Schritt erarbeitete Wissen über die Funktion und .Machart' von Medien und die darin enthaltene Einsicht, dass Geschichte gestaltbar ist, können dann im zweiten Schritt in die eigene Textproduktion einfließen. Es wäre nun ein grobes Missverständnis, erst diesen zweiten Schritt als jenen zu betrachten, der die Präsentation des Konzepts von Giroux als Beispiel handlungsorientierten Unterrichts im Sinne unseres Argumentationsanliegens rechtfertigt. Bereits der erste Vermittlungsschritt der Textanalyse und -interpretation weist jene didaktischen Grundstrukturen auf, die es erlauben, von handlungsorientiertem Unterricht zu sprechen. Die Handlungsorientierung der Didaktik Giroux's erweist sich in vielfacher Hinsicht: Zunächst bezieht sie sich ganz allgemein darauf, dass das Ziel des Unterrichts in einer Erweiterung der Möglichkeiten und Fähigkeiten der Jugendlichen besteht, mediale Botschaften zu dechiffrieren und deren Wirkungen auf das gesellschaftliche Gesamtgefüge und die eigene Identitätsbildung zu erkennen. Die Lernenden erhalten Gelegenheit, den mythischen Wahrheitsanspruch von Bildern, Klängen und Texten zu dekonstruieren und in kritischer Praxis eigene Formen der Darstellung und Selbstdefinition zu finden. Den Ausgangspunkt des Unterrichts bilden die Erfahrungen der Jugendlichen mit populärkulturellen Medien. Giroux bezieht das Motivationspotential der schulischen Lernprozesse zunächst aus außerschulischen Problemstellungen, indem er Filme zum Gegenstand der Vermittlung macht, die die Schülerinnen aus Kino und Fernsehen kennen. Filme lösen zwar Identifikationsprozesse aus und erzeugen Affektbindungen; dennoch ist davon auszugehen, dass Schülerinnen gewöhnlich mit einem Film wenig .Probleme' haben. Deshalb ist es erforderlich, dass der Lehrende diesen als problematisierbar präsentiert und zum Untersuchungsgegenstand erklärt. Die Problematisierung des Films ist insofern eine Art .Verfremdung' des Gegenstands. Über sie konstituiert sich ein eigenständiger Handlungskontext der Rekonzipierung alltäglicher kultureller Praxis. Die bestehenden Affektbindungen können fruchtbar gemacht werden für die Entstehung subjektiver Sinnbildungsprozesse. Das von Giroux als solches benannte „Dilemma" (s.o.) entsteht hier. Die Problematisierung der auf Seiten der Lernenden bestehenden Deutungsmuster und Orientierungen, die zuerst vom Lehrenden angestoßen wird, erfordert einen Entfaltungsraum, in dem Fragen, Zweifel und Einstellungskrisen abgesichert durchlaufen und überwunden werden können. Während des gesamten Lehr-/Lernprozesses gilt es, Kritik und Selbstkritik einerseits und das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung, die eigenen Sichtweisen und Fähigkeiten andererseits auf eine Weise in Balance zu halten, welche ein stetiges Fortschreiten der Erschließungs- und Aneignungsprozesse ermöglicht.
Giroux's Ansatz ermöglicht sparsame didaktische Vorgangsweisen. In seinen Schriften findet man nahezu keine Hinweise zum Einsatz von Methoden. Lehrende und Lernende praktizieren kooperativ kulturwissenschaftliche Forschungsarbeit und produzieren kulturelle Texte. Dabei kommt den Lehrenden anfänglich die Rolle der masters zu: Sie verfügen über das Forschungswissen, sie zeigen, dass und in
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welcher Weise man an den Untersuchungsgegenstand Fragen herantragen kann und welche dies sein können. Die Lernenden sind von Beginn an beteiligt an der Untersuchung - zunächst mit Diskussionsbeiträgen - und bewegen sich mit zunehmender Forschungskompetenz und Kritikfähigkeit immer mehr ins Zentrum des Forschungsgeschehens. Auf diese Weise erweitert sich nicht nur der Handlungsund Gestaltungsspielraum der Lernenden, es steigen auch die Chancen dafür, dass der schulische Vermittlungsprozess tatsächlich den Bildungsbewegungen der Lernenden folgen kann. Freilich ist an dieser Stelle der Hinweis unerlässlich, dass es ein Missverständnis mit gravierenden Folgen wäre, das inhaltliche Konzept Giroux's bereits als Garant einer im von uns hier propagierten Sinne handlungsorientierten Unterrichtsgestaltung anzusehen. Selbstverständlich bedarf auch ein dem gelernten Pädagogen so faszinierend erscheinendes Betätigungsfeld wie die kulturwissenschaftliche Forschungsarbeit der organischen Anbindung an jene Gewohnheiten, Fragen, Probleme und Bedürfnisse, wie sie alleine die Lernenden selbst artikulieren und weiterentwickeln und ggf. auch - mit allem Recht der Selbstbestimmung der je eigenen Lernbiografie - ablehnen können.
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Handlungsorientiertes Lernen Konsequenzen für die Mediendidaktik Dietmar Treichel
1. Einleitung Menschliches Denken bewegt sich zwischen 2 Extremformen: dem autistischen und dem realistischen Denken (vgl. Zimbardo u. Gerrig 1999, S. 291ff). -
-
Das autistische Denken ist durch Phantasien, Tagträume und Einfalle, die aus denn Unbewussten kommen, charakterisiert. Dieses Denken versucht die eigenen Bedürfnisse und Wünsche dadurch zu erfüllen, dass es eine illusionäre Welt schafft, in der alles so ist, wie man es gerne hätte. Diese Art des Denkens ist bei allem schöpferischen Handeln beteiligt, kann aber gerade dadurch auch für sehr effektive Lernprozesse genutzt werden. 1 Das realistische Denken ordnet die persönlichen Wünsche und Bedürfnisse der äußeren Realität unter. Sind unsere Gedanken (und die daraus folgenden Handlungen) in der Realität nicht haltbar, so denken wir darüber nach, wie wir sie ändern können.
Unser Gehirn beschäftigt sich - normalerweise in einer Mischung dieser beiden Extreme - vorrangig mit Dingen, die ihm aufgrund der schon vorliegenden kognitiven Strukturen oder dringender situativer Erfordernisse wichtig sind. Mit Piaget und Inhelder können wir diese mentale Beschäftigung als Aktivitäten bestimmen (vgl. Piaget u. Inhelder 1986). Was aktuell oder zukünftig als unwichtig wahrgenommen wird, wird im kognitiven und realen Handeln übersehen, überhört, überlesen. Dieser Anforderung müssen sich alle Methoden des menschlichen Lehrens und Lernens stellen. Provokativ, aber vielleicht nicht ganz unrichtig könnten wir feststellen, dass die gegenwärtig vorherrschenden Formen des eLearning sich vor allem auf das autistische Denken stützen. Wir müssen jedoch, und das ist das Postulat dieses Beitrags, den Brennpunkt unserer didaktischen und methodischen Aufmerksamkeit auf den Lernenden und damit auf den im Lernprozess Handelnden richten. Der Lerngegenstand wird vor allem dann ins Arbeitsgedächtnis aufgenommen und eventuell ins Langzeitgedächtnis transferiert, wenn der Lernende die Motivation und die Möglichkeit hat, das Gelernte durch mentale oder reale Aktivitäten auch anzuwenden. Handlungsorientiertes Lernen verbindet kognitive und pragmatische, implizite und explizite Aspekte menschlicher Entwicklung. Im Folgenden werde ich versuchen, dieses begriffliche System detaillierter zu fassen und damit den handlungsorientierten Ansatz (nicht nur) des eLearning eine umfassende Grundlage zu geben. Hierzu werde ich mich zunächst mit dem Zusammenhang von Handeln und Lernen befassen und dabei zumindest implizit auf
1
Der Zusammenhang zwischen gestalterischem Akt und dem Aufbau einer selbst-reflexiven Handlungskompetenz wird in diesem Beitrag nicht näher betrachtet. Seine pädagogischen Möglichkeiten ergeben sich jedoch aus Doms Schilderung des Digital Story Telling (in diesem Band).
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Dietmar Treichel
den allgemein-pädagogischen Ausführungen von Babel u. Hackl (in diesem Band) bauen. Aus dem daraus folgenden Begriff des Könnens will ich dann Rahmenbedingungen für eine handlungsorientierte Konzeption des eLearning herleiten. Aufgrund des begrenzten Raums werde ich bei diesen Gedanken einen gewissen Eklektizismus in Kauf nehmen, um die unterschiedlichen und m.E. all zu oft vernachlässigten Aspekte einer umfassenden und menschlichen Mediendidaktik abzustecken. Dabei werden einzelne Begriffe und Gedanken spiralförmig immer wieder auf neuen Ebenen auftauchen.
2. Handeln und Lernen Handlungen bauen mentale und reale Strukturen und repräsentieren diese als mehr oder weniger komplexe Zeichen. Daher schlage ich vor, Handlungen im Sinne einer semiotischen Ordnung mit ihren Grundelementen Syntax, Semantik und Pragmatik zu beschreiben.2 Auf dieser Basis können dann Konsequenzen für die Mediendidaktik hergeleitet werden.
2.1 Syntax: Handlungsstrukturen und -prozesse Hans Aebli versteht unter Handlungen „(...) zielgerichtete, in ihrem inneren Aufbau verstandene Vollzüge, die ein fassbares Ergebnis erzeugen." (Aebli 1991, S. 182)
Handlungen sind also mehr als nur routinierte Fertigkeiten. Die konstruktive Handlung, die rekonstruktive Operation und der verknüpfende Begriff bilden gemeinsam die Entwicklungsgrundlage der menschlichen Wirklichkeit als gedankliche und kompetente Struktur. Auch wenn das menschliche Denken auf der Begriffsebene strukturiert wird, so wird dieser Prozess durch Handeln initiiert; auch innere, kognitive Abläufe sind nach Piaget u. Inhelder (1986) Aktivitäten. Das Lernen von begrifflichem Denken und reflektiertem Tun entsteht aus dem äußeren und inneren Handeln. Lernhandeln ist also einerseits Handeln in und an der Realität und andererseits auch gedankliches Handeln, also ihr geistiges Vor- und Nachvollziehen. Dabei werden unmittelbare Handlungen auch von Erwachsenen leichter erlernt und gründlicher verstanden als rein geistige Handlungen. Wir können allgemein drei Hauptmerkmale von Handlungen zusammenfassen: -
2
Eine Handlung ist eine zielgerichtete (intentionale) Tätigkeit, in der Personen versuchen, mittels Veränderung von Selbst- und/oder Weltaspekten einen für sie bedeutsamen, wertvollen Zustand zu erreichen oder aufrechtzuerhalten.
Vgl. hierzu vertiefend Nöth 2000 zur Semiotik sowie Nöths Erweiterung der Semiotik in die Medienwissenschaft in Nöth u. Wenz 1998.
Handlungsorientiertes Lernen - Konsequenzen für die Mediendidaktik -
-
2.2
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Handlungen sind proaktive oder reaktive Auseinandersetzungen mit einer Abfolge von Situationen, zwischen denen Beziehungen erkannt werden. Personen handeln im jeweiligen Kontext auf der Grundlage von mehr oder weniger komplexen Situationsdeutungen, der festgestellten oder extern gegebenen Dringlichkeit und dem Ausmaß der Ermöglichungschancen der Zielrealisierung. Eine Handlung kann verstanden werden als eine Auseinandersetzung der personalen Ganzheit mit einer Situation, das heißt, dass physische und psychische Bestandteile zusammenwirken.
Systemische Struktur Integration
Aktion f
Abb. 1: Aspekte des Handlungssystems 7 Evalu·
Aus der Ambivalenz von Absichten, vollzogenen Handlungen und erzielten Effekten wird zugleich deutlich, dass faktisches Kognition diese Situationen immer komplex strukturierte Systeme Problem darstellen. Hierin bilden die Handlungen die Knoten, die mit Hilfe von Kommunikation, Kooperation oder anderen, unplanbaren synergetischen Effekten3 zueinander in eine dynamische Beziehung gesetzt werden. Der handelnde Mensch agiert in solchen Systemen v.a. durch unterschiedliche Konstruktionen von Bedeutungen und Interaktionen, um so seinen Handlungen in ihrem Problemkontext einen Sinn zuweisen und sie auf dieser Grundlage in seine Wirklichkeit integrieren zu können. Daraus ergeben sich die konstitutiven Aspekte, die uns im Folgenden auch in der Herleitung einer handlungsorientierten Mediendidaktik leiten. ι Handeln /
ation
In dieses Modell muss allerdings auch einfließen, dass unser Gehirn den Wahrnehmungsprozess über einen emotionalen Filter steuert (vgl. den Beitrag von Reinmann in diesem Band sowie Markowitsch 2002 und Roth 2003). Eine rein kognitive Vermittlung von Wissen ist langsam und ermüdend, erhöht den Widerstand des Lerners und führt somit schnell zum Vergessen. So wichtig dieses Wissen auch sein mag, es wird vom Lernenden oft nicht angewandt. Ein nur emotionsgeladener Lernprozess kann dagegen zwar sehr eindringlich sein, führt jedoch dazu, dass v.a. die Emotion und nicht das erworbene Wissen erinnerbar ist. Demzufolge wird eine gelungene Informationsaufnahme und Informationsverarbeitung über das Gefühl der subjektiven Wichtigkeit des Lerngegenstandes und einer positiven, emotionalen Grundbefindlichkeit erreicht. Handeln ist die beste Möglichkeit, dieses Gefühl als eine Energiequelle des gesamten Kompetenzsystems zu nutzen. Diese systemische Sicht des Lemhandelns fordert die Mediendidaktik auf, positive und negative Rückkopplungen4 innerhalb des lernenden Systems sowie zwischen ihm und seiner Umwelt zu berücksichtigen. Die Leitfrage ist dabei seit Darwin und Piaget dieselbe geblieben:
3
Zur Wirkungsweise der Synergetik s. Haken 1995.
4
Vgl. hierzu vertiefend: Vester 1999, Dörner 1980/1996, Willke 1998.
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Dietmar Treichel
„Wie Kann ein System mit begrenzter Erkenntnis und begrenzten Verarbeitungskapazitäten eine Strategie entwickeln, um diese Begrenzungen zu überwinden?" (Edelstein u. Hoppe-Graff, S. 13)
Ansätze, die in Piagets „Äquilibrationsprinzip" gründen, versuchen, konstruktive Entwicklungsprozesse dadurch auszulösen, dass das Individuum mit einem Problem konfrontiert wird, vor dem sich die vorhandenen kognitiven Strukturen als ungenügend erweisen. Diesen Zustand des Ungleichgewichts empfindet das Individuum als Störung oder Konflikt, der überwunden werden muss. Hierbei sind Probleme oder gar Krisen der eigentliche Antrieb für eine konstruktive Entwicklung. Die Rolle des Pädagogen als „kognitiver Entwicklungshelfer" besteht darin, dem Lerner/Entwickler gute Möglichkeiten und Methoden zu bieten, praktische Problemlösungen zu erreichen, die Lösungen zu reflektieren und sie schließlich in ein neues, komplexeres Kompetenzschema zu integrieren. Diese Entwicklung entspricht weitgehend einem kybernetischen Rückkopplungsmodell. Abb. 2: Entwicklungsmodell Information
Systemische Beziehungen
Jd
Wenn die psychische Entwicklung allerdings über die Konstruktion kognitiver Konstruktionen hinaus gehen und Inforden Aufbau einer problemlösenden mation RefleKion Kompetenz beinhalten soll, dann verlangt dieses Ziel, dass das innere System der kognitiven Funktionen und Strukturen (z.B. nach Piaget) und das äußere System der Bedingungen und Beziehungen (z.B. nach Luhmann) im Lernprozess interagieren. In diesem Fall kann psychische Entwicklung am ehesten als systemische Herausforderung verstanden werden. Die situativ deutende Wahrnehmung, die selektive und möglichst zielgerichtete Aufnahme, individualisierende Verarbeitung von Informationen und die daraus hergeleiteten Aktivitäten verbinden dabei Aktion und Kognition zu immer komplexeren kognitiven Strukturen, operationalen Plänen und operativen Sequenzen.5 Information
Kognitive Konstruktion
τ
Problemlösung
Wir können mit Doerner (1981, 1996) in diesen Prozessen allgemein zwischen Einfachhandlungen und Mehrfachhandlungen unterscheiden. Einfachhandlungen sind sowohl funktional als auch kognitiv linear: Wenn wir ein Auto starten wollen, gibt es eine richtige Abfolge von Handlungsschritten, die in sich wiederum sehr einfache und sequenzielle Aktivitäten darstellen. Das Erlernen einer solchen Handlung folgt der realen Sequenz und es gibt ein klar definiertes und dauerhaft fixiertes Lernziel, das von der weiteren Entwicklung der Person weitgehend unabhängig ist. Viele eLearning-Programme repräsentieren dieses Modell: Wir erlernen eine Fähigkeit bzw. das dazu gehörige ebenso definierte Wissen, indem wir eine klar strukturierte Informations- sowie eine als richtig definierte Handlungssequenz schrittweise
5
Diese Argumentation leitet sich von Piaget u. Inhelder (1986) her, die in ihrer Beschreibung der psychischen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen immer eine Verbindung zwischen mentalen, operationalen und symbolischen „Aktivitäten" herstellen.
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nachvollziehen und die Wiedergabefähigkeit der Gradmesser der erworbenen Kompetenz ist. Mehrfachhandlungen sind demgegenüber in komplexen angesiedelt. Der Handelnde hat dabei zugleich mehrere lichkeit, Wichtigkeit oder Fähigkeit6 mehr oder weniger Die von Mehrfachhandlungen verlangte Kompetenz geht fachhandeln hinaus: -
dynamischen Umfeldern Ziele, die je nach Dringintensiv verfolgt werden. damit weit über das Ein-
Der Handelnde muss sich selbst in Abhängigkeit von seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten sowie nach Maßgabe der Situation entscheiden und Ziele setzen. Er muss ja nach gesetztem Ziel und vorhandenen Ressourcen die Vorgehensweise und sein Verhalten planen, ausführen und regulieren.
2.3 Semantik: Das Warum des Handelns Besonders bei Mehrfachhandlungen startet alles mit dem Handelnden selbst, mit seinen Bedürfnissen, Interpretationen und Möglichkeiten. Daraus ergibt sich ein jeweils spezifisches Motivationsprofil. Es bewegt sich zwischen: -
-
appetitiv und aversiv: „Das Zertifikat hätte ich gern." bzw. „Ich möchte wegen meiner fehlenden Fähigkeiten nicht zwangsversetzt werden." von außen und von innen induziert: „Ich lerne dies, weil der Lehrplan es vorschreibt." bzw. „Ich suche Informationen zu dieser Maschine, weil mich ihre Funktionsweise interessiert." konsumptorisch und periodisch wiederkehrend. „Ich habe ein akutes Problem und möchte herausfinden, wie ich es lösen kann." bzw. „Ich fahre immer dahin in die Ferien, wo ich dabei auch etwas Interessantes lernen kann."
Die Situation mit ihrer „objektiven" Aufgabe wird durch den Filter des aktuellen Motivationsprofils evaluiert und das Handeln entsprechend reguliert. Dies gilt sowohl für operatives als auch für lernendes Handeln. Beide Arten von Handeln können daraufhin aber immer noch drei grundlegend unterschiedliche Charaktere annehmen: Entweder wir wissen genau, was zu tun ist und tun einfach genau das oder wir planen und handeln entsprechend oder wir explorieren und entscheiden schrittweise neu. Das bedeutet, dass wir (nicht Andere für uns) aufgrund unserer Wahrnehmung, Erfahrung, unseres inneren Kompetenzempfindens sowie der Art und Weise der Ausführung (Feinheit der Betrachtungsweise, investierte Energie, Fokustiefe, Fehlerkorrektur etc.) unsere Handlungen so regulieren, dass sie möglichst gut zu unseren Interessen und Zielen passen.
Vgl. hierzu auch die Kompetenzniveaus in Dreyfus & Dreyfus (1987) und darauf aufbauend P. Baumgartner (z.B. 1995,1999).
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Dietmar Treichel
Auch wenn weitgehend akzeptiert ist, dass nur solche Verhaltensweisen, die mit einer bestimmten Absicht ausgeführt werden, als Handlungen zu bezeichnen sind,7 können wir bei Absichten und Handlungen - anders als bei Verhalten - dennoch nicht simpel von einem Ursache-Wirkung-Verhältnis ausgehen. Handlungen können andere Effekte als die beabsichtigten erzielen. Außerdem müssen wir zwischen solchen Absichten unterscheiden, die bewusst reflektiert und geplant, durch externe Regeln geleitet oder durch unbewusste mentale Programme initiiert zu bestimmten Handlungen führen. Was für die analytische oder empirische Wissenschaft allerdings ein tiefgreifendes Problem darstellt, nämlich dass Absichten und Handlungen weder begrifflich noch strukturell endgültig determiniert werden können, bedeutet für den Menschen sowie für sein Lehren und Lernen ein ungeheures Kreativitäts- und Entwicklungspotenzial. Gerade die Tatsache, dass Intentionen nicht immer zum Ziel führen, verschafft uns sozusagen die unverdiente Freiheit, besser zu werden als eigentlich beabsichtigt. D.h., obwohl die Absicht-Ziel-Diskrepanz von Lehrern und normgeleiteten Lernern zunächst oft bedauert wird, weil sie natürlich den kognitiven Aufwand erhöht, gehört sie im handlungsorientierten Lernen zu den essenziellen Wirkungsfaktoren und darf in einem Lernsystem nicht ausschließlich fremdgesteuert werden. In der Wirklichkeit8 von nicht völlig bewusst oder geplant lernenden Menschen ist es für Alltagshandlungen unvermeidlich, dass diese Komplexität auf eine ökonomisch handhabbare Erwartungs-Verständnis-Ausführung-Linearität gekürzt wird. Wenn wir jedoch Essers soziologische Analyse didaktisch weiterdenken, dann müssen wir auch die handlungsorientierte, selbstgesteuerte Interpretation und Reflexion in Lernprozesse einbeziehen: „Handeln ist daher alles andere als rein bloß auferlegtes, sondern ein im Prinzip immer reflektiertes, Zeichen interpretierendes, Bedeutungen zuschreibendes, Sinn erzeugendes, durchaus rationales, stets aber nur von vorlaufigen Sicherheiten umgebenes Tun. (...) Die Definition der Situation bzw. die Selektion einer Orientierung ist also nichts anderes als eine bestimmte innere Entscheidung, die der Akteur in der Situation auf der Grundlage der beobachteten Objekte trifft." (Esser 1999, S. 116 f.)
In unserer didaktischen Reflexion sind wir aufgefordert, Menschen durch automatische ebenso wie durch reflektierte Interpretationen und Handlungen innerhalb von dynamisch vernetzten Systemen lernen zu lassen. Jedenfalls dürfen wir Medien nicht nur dafür nutzen, bei Lernern lediglich die effiziente Rezeption und Reproduktion von Informationssequenzen zu automatisieren.
7
Vgl. Brandstätter u. Greve 1999. Siehe aber im Gegensatz zur intentionalen Position das Modell des impliziten Wissens von Polanyi (1958, 1966), umfassend referiert und kommentiert durch Neuweg (1999).
8
Ich folge hier von P. Watzlawick (1990, S. 142), „wonach es keine absolute Wirklichkeit gibt, sondern nur subjektive, zum Teil völlig widersprüchliche Wirklichkeitsauffassungen, von denen naiv angenommen wird, dass sie der .wirklichen' Wirklichkeit entsprechen." Allerdings glaube ich darüber hinaus, dass es uns durch reflektiertes Lehren und Lernen möglich ist, unsere Naivität zumindest teilweise zu überwinden, um auf der Grundlage einer weiter entwickelten Wirklichkeitsauffassung auch in der Realität, d.h. in Watzlawicks „Wirklichkeit erster Ordnung", wirkungsvoll handeln zu können.
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Verstehen Abb. 3: Verstehen
Handlungen äußern - materiell oder kommunikativ - die inneren Vorgänge in sozialen oder individuell-mentalen Systemen. Damit setzen Handlungen zum einen Verstehen voraus, damit wir überhaupt einen Grund haben zu handeln, und sie generieren Verstehensprozesse, weil sie neue Wirklichkeiten schaffen. Handlungen, anders als Texte, können aber nicht einfach aus sich heraus verstanden werden. Sie reflektieren so intensiv wie sonst nichts, wie der Handelnde Andere bzw. Anderes versteht. Sie zeigen aber auch an, wie der Handelnde sich selbst versteht, und sie entwickeln dieses Selbst-Verständnis unausweichlich weiter. Darüber hinaus sind Handlungen, soweit sie in einem gesellschaftlichen Kontext stattfinden, aber nur sinnführend, wenn sie auch von Anderen verstanden werden und bei diesen zu neuen Bedeutungskonstruktionen führen. Im Verstehensprozess verbindet Handeln so in dynamischer Weise Wissen, Sein und Werden zu einem kontinuierlichen Entwicklungsprozess, denn: „Nur vor dem Hintergrund allgemeinerer Strukturen, in ihrer Anverwandlung und Distanzierung wird Neues hervorgebracht und aufgenommen, und nur in ursprünglichen Akten der Produktion und Rezeption wird eine Struktur angeeignet, eine Sprache gelernt." (Angehrn 1999, S. 218)
Moral Handeln basiert auf und konstituiert um die alltägliche Welt herum ein moralisch geordnetes Universum. Handeln macht damit aus der realen Welt mit ihren „natürlichen Tatsachen des Lebens" eine Wirklichkeit, die die moralischen Tatsachen des Lebens mit umschließt. Dies gilt auch umgekehrt: Erst Handeln und sein Bewerten unter normativen Gesichtspunkten erlauben es, den Sinn des Tuns und der Wirklichkeit zu erkennen (vgl. Kohlberg 1996). Handeln besteht aus sehr unterschiedlichen Faktoren wie unseren Äußerungen, den Äußerungen von Anderen, den Änderungen in der Situation etc. Diese unterschiedlichen Ebenen verdecken einander leicht in der Praxis, doch für das eLearning bieten sich in ihrer bewussten Analyse, Synthese und Anwendung ideale Einstiegspunkte, an denen Handeln und Lernen zusammenfließen.
2.4
Pragmatik: Das Warum und Wofür des Handelns
Handeln wird nur dann als bedeutungsvolles, „richtiges" Verhalten verstanden (auch vom Handelnden selbst und also auch vom Lerner), wenn das verständige Handeln etwas Neues schafft. Eine reine Wiederholung wird nicht als bedeutungsvolles Handeln oder Lernen gesehen, selbst wenn es syntaktisch völlig korrekt sein sollte. Deshalb ist es z.B. für Englisch-Lerner so schwierig einzusehen, dass ein
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„How do you do?" mit einer exakten Wiederholung beantwortet werden soll. D.h., Handeln wird bedeutungsvoll als Teil einer Geschichte9, die schon vor und nach der Aktion verläuft, aber durch sie effektiv weiterentwickelt wird. Bewusstes Handeln macht „aus einem Bündel von aufeinander folgenden Ereignissen ein zusammenhangendes Geschehen (...), das als eine Episode des eigenen Lebens erfahren wird. In dieser Erfahrung stellt sich eine Identität des Handelnden mit seinem Handeln her. (...) Diese Metamorphose vollzieht sich aber nur dort, wo die sich zusammenschließende Form des Verhaltens für den Handelnden zugleich zur eigenen, durchaus persönlichen und individuellen, Ausdrucksform wird. (...) Die Identität einer Handlung wird durch deren Individuation erreicht." (Schwemmer 1991, S. 211 f.)
In diesem Prozess gewinnen Regeln ihren Sinn durch ihre soziale Kommunikation und ihr Lebendig-Halten in ihrem bewussten Anwenden. Somit können wir Handeln als symbolisches und generatives Kommunikations- und Kooperationsgeschehen charakterisieren, das zugleich nach außen und nach innen wirkt. In diesem Prozess kommt der sozialen Kommunikation schon aufgrund ihrer allgemeinen Konstitution eine zentrale Rolle zu. „Äußerungen werden nicht ihrem Wortlaut nach, sondern unter Bezug auf unausgesprochene und als gemeinsam unterstellte Voraussetzungen gedeutet. Vieles wird verstanden, indem bestimmte sprachliche Ereignisse jeweils als .Dokument für' oder als .Hinweis auf etwas gelesen werden, das wechselseitig als Gesprächsgegenstand unterstellt wird, über den die Äußerungen des Anderen etwas mitteilen. Jede Äußerung wird dabei als Element einer Interaktionssequenz interpretiert, in die sie eingebettet ist und mit der sie sowohl durch retrospektive wie auch prospektive Sinnbezüge verknüpft ist. (...) Die Bedeutung dieser Ausdrücke wird so von den näheren Umständen ihrer Verwendung abhängig." (Schneider 2002, S. 22 f.)
Habermas (1981, 1991) hat diese Position mit seiner Theorie der kommunikativen Handlung weiter ausgebaut. Dabei ist in unserem Zusammenhang allerdings seine Einschränkung wichtig, dass kommunikatives Handeln für seine erfolgreiche Durchführung den Akteuren ein gemeinsam vorhandenes und anerkanntes Wissen abverlangt. Wissen ist die Grundlage dafür, dass man sich im Diskurs überhaupt darüber einigen kann, was als gutes oder schlechtes Argument und Handeln anzusehen ist. Kommunikatives, lernendes Handeln ist die Grundlage, auf der Kooperation als gemeinsames reales Handeln koordiniert werden kann. Handeln, wenn wir es damit als praktisches und kommunikatives Denken verstehen, macht aus Wissen eine soziale Repräsentation kognitiver Strukturen, die eine wiederum erhöhte Basis für Kommunikation und Kooperation mit Anderen sowie damit auch für reale Wirkungen in der Wirklichkeit ist.10 Aufruhend auf Mead und
9
Vgl. Lübbes (1972) Argumentation, dass das menschliche Leben wesentlich durch narrative Strukturen geordnet wird.
10
vgl. die Kernaussagen des „Symbolischen Interaktionismus" nach G H. Mead (1968), der das Verhältnis Handeln-Wirklichkeitsbildung in der umgekehrten Richtung behandelt und doch zu sehr ähnlichen Schlussfolgerungen gelangt: Menschen handeln auf der Grundlage von Bedeutung. Bedeutung entsteht aus sozialer Interaktion bzw. wird aus ihr abgeleitet.
Handlungsorientiertes Lernen - Konsequenzen für die Mediendidaktik
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Habermas ist in diesem Sinne Handeln pragmatisches Wissen, das sich in sozialen Beziehungen sowie in realen oder symbolischen Produktionen realisiert und damit dem Individuum rückkoppelnd eine Art messbaren Werts zuerkennt. Dabei initiieren Handlungen, als ein weiteres Element ihres Wirkungsspektrums, sowohl individuelle als auch soziale Entwicklungsprozesse, in denen Lernen und Praxis unauflöslich verschmelzen: „Handeln unterliegt ähnlichen Modi der Veräußerlichung wie das Reden: Es löst sich vom Handelnden ab, hinterlasst Spuren, schreibt sich in den Lauf der Dinge ein, verselbständigt sich zur wiederholbaren, in neue Zusammenhänge integrierbaren, in anderen Werken fortsetzbaren Sinngestalt." (Flick 1991, S. 218 f.)
Gerade durch seine Unbestimmtheit ermöglicht Handeln dem Lemer, seinem Können wirklich etwas Neues hinzuzufügen anstatt nur zu reagieren.
3. Können Komplexe Aktivitäten werden realisiert durch Handlungsfolgen, die aus in den kognitiven Strukturen von Individuen und Gemeinschaften gespeicherten Schemata aufgebaut sind. Wenn wir eine Aufgabe bearbeiten wollen, werden vorhandene Handlungsschemata routiniert oder bewusst zu einer Handlungsfolge kombiniert und eventuell durch weitere Handlungsschemata aus dem Bestand ergänzt (Transfet) oder aus neuen Informationen erlernt. Handlungsschemata sind als (soweit möglich) konsistente Strukturen gespeichert. Wir können sie in ihrer Gesamtheit reproduzieren, auf neue Situationen übertragen und durch neue Informationen weiter aufbauen. Damit bilden Handlungen, die zu befähigenden kognitiven Strukturen führen, die Grundlage der Kompetenz bzw. der beruflichen Handlungskompetenz: „.Berufliche Handlungskompetenz' ist die strukturierte Gesamtheit der von einem Individuum erworbenen Handlungsschemata, die ihm teils durch Einsicht, teils automatisiert zum Erreichen der Ziele in beruflichen Situationen zur Verfügung stehen." (Söltenfuss 1983, S. 143, in Bader 1990, S. 7)
Der „kompetent Handelnde" weiß grundsätzlich, welche Diskrepanz zwischen der aktuellen Situation und dem Ziel besteht, wie er das Ziel erreichen kann und welche Möglichkeiten er dabei hat. Damit kann er (s)einen Weg zum Ziel entwerfen und geplant durchlaufen, wobei ihm bewusst ist, dass auf jeder Station das Verhältnis zwischen dem Handelnden und der Welt verändert wird. „Die Handlung beginnt also mit dem Ziel und endet mit ihm, oder anders ausgedrückt: sie beginnt mit der Feststellung einer Diskrepanz und endet damit, dass diese als nicht mehr vorhanden angesehen wird." (Volpert 1992, S. 15)
Bedeutungen werden in einem interpretativen Prozess erschlossen und verändert. S. auch David Vesseys kritischen Vergleich der Positionen von Mead, Henrich und Habermas zu diesem Thema.
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Können entsteht aus der Subjekt- und objektorientierten Integration von Handeln, Erfahrung, Emotion, Kognition und Persönlichkeit. Es bedeutet, dass wir auf Stimuli, mögen sie aus einem äußeren Ereignis oder aus uns selbst heraus entstehen, kompetent reagieren können. In diesem Konstruktionsprozess des Könnens erzeugt das Individuum nicht nur Wissen, sondern auch Konstruktionsprozeduren und -Strategien sowie Schemata von „richtigen" Vorgehensweisen und Problemlösungsansätzen. Der Mensch entwickelt so eine individuell ausgeprägte, aber immer mehrdimensionale Handlungskompetenz. Das bedeutet, die Konstruktion von Wissen, insbesondere wenn dieses explizit und implizit ist, führt zur Konstruktion von Kompetenzen, die weitere Entwicklungen fördern. Handlungskompetenz beinhaltet somit die Leistungsmotivation und seine situationsgemäße Zielspezifizierung, den gekonnten Umgang mit Risiken und Wahrscheinlichkeiten. Sie wirkt besonders in Interaktionen in komplexen sozialen Systemen und kann dabei in mannigfaltiger Weise zu konkreten Wirkungen führen. Alle diese Aspekte fördern als ein dynamisch strukturiertes und interaktiv vernetztes System wiederum die Persönlichkeitsentwicklung des kompetent Handelnden, (vgl. Fuchs 1995) Meisterschaft, als höchste Stufe, vereint große Geschicklichkeit mit einer hohen Fähigkeit zur bewussten und flexiblen Planung von komplexen und langfristigen Prozessen. Die Meisterschaft vereint sinnliche Anschauung, praktisches Handeln und Wissen als ganzheitliche, manchmal intuitive Einschätzung von Erfahrungen, Situationen und Personen, (vgl. Dreyfus u. Dreyfus 1987) Beide Aspekte sind im Lernprozess durch eine Ganzheitlichkeit des Handlungszusammenhangs zu vereinen. Dabei spielt die Kommunikation unter den Lernenden sowie zwischen Lernenden und Lehrer eine zentrale Rolle. Alle diese Aspekte fördern eine Grundhaltung, die offen und zugleich klar positioniert ist.
4. Konsequenzen für die Mediendidaktik Vor dem Schritt in die Mediendidaktik will ich das bisher Gesagte noch einmal kurz zusammenfassen: Im Verlaufe seiner kognitiven Entwicklung entwickelt jedes Individuum eine bewusste Wahrnehmung der Welt und macht in diesem Lernprozess aus „Realität" eine erfahrene „Wirklichkeit". Bewusstsein entfaltet sich in sozialen Handlungen und Beziehungen, die das Individuum wiederum charakteristisch prägen und sozialisieren. Dieser Entwicklungsprozess wird einerseits von inneren Strukturen und Wechselwirkungen aufrecht erhalten und geregelt. Andererseits hängt er von spezifischen Erfahrungen (v.a. den Erfahrungen in emotional besetzten Beziehungen) in der äußeren Realität ab, die die inneren Strukturen beeinflussen. Erkenntnis, Verstehen und Handlungskompetenz ergeben sich in diesem Entwicklungsprozess also durch eine evaluative und konstruktive und immer bewusstere Interaktion zwischen realen und kognitiven Abläufen.
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Die konkrete Erfahrung von realen Objekten, Ereignissen und Wechselwirkungen löst einen kognitiven Konstruktionsprozess aus, der wiederum die Erfahrung von Wirklichkeit sowie das Handeln in und das Lernen an der Realität beeinflusst, wie Jean Piaget klargestellt hat: „Das Wesen einer lebendigen Wirklichkeit wird weder durch ihre frühen noch durch ihre spaten Stufen offenbar, sondern durch den Prozess ihrer Transformation, durch das Gesetz der Konstruktion." (zit. von Inhelder 1993, S. 25)
In dieser konstruktivistischen Sicht ist Wahrnehmung, Erkenntnis, Verstehen oder Intelligenz nie eine Kopie der wahrgenommenen Wirklichkeit; vielmehr wird die Wirklichkeit immer wieder als Grundlage des Handelns neu als epistemisches und psychisches Objekt konstruiert.
4.1 Aspekte eines handlungsorientierten Lernprozesses Dieser Prozess kann sich aber nur entwickeln, wenn das Individuum sich in seinem Erkenntnisprozess auch in eine solche konstruktive Auseinandersetzung zwischen den epistemischen Weltangelegenheiten und seinen inneren Strukturen und äußeren Handlungen begeben kann, darf und will. Dabei ist es wichtig, das Augenmerk zunächst auf das Individuum zu legen. Einerseits sind die Weltangelegenheiten aufgrund der individuellen Wahrnehmungsperspektive jeweils spezifisch konfiguriert; andererseits trifft diese wahrgenommene Welt auf innere Erfahrungs- und Erkenntnisstrukturen, die ebenfalls individuell konfiguriert sind. Verstehen und Handlungskompetenz ergeben sich daher nicht durch ein standardisiertes Speichern der äußeren Realität oder eine autopoietische Konstruktion der inneren Wirklichkeit, sondern vielmehr durch die konstruktive, dynamische und systemische Vermittlung in den Beziehungen zwischen Realität -> Wahrnehmung -> Erfahrung -> Erkenntnis Reflexion Handlung Kompetenz. Wirklichkeit kann als das Ergebnis dieser individuellen Vermittlung angesehen werden und ist damit notwendigerweise ebenfalls individuell und dynamisch. Handeln, Erfahren und Reflektieren vermitteln in diesem Entwicklungsprozess zwischen Subjekt und Objekt, Kognition und Realität, Erkenntnis und Können. Handlungskompetenz ist also sowohl Auslöser wie auch Produkt von Interaktionen in der inneren-äußeren Wirklichkeit. Oder anders ausgedrückt: Konkretes Handeln führt auch im Sinne der kognitiven Entwicklung zu individualisierter Wirklichkeit. Ohne Handeln würden Erkenntnis und Realität nur theoretisch und damit immer nur hypothetisch miteinander verbunden sein. Ein Beispiel dafür sind die vielen Theorien - z.B. in der Didaktik - die trotz ihrer inneren (fast autopoietischen) Konsistenz keinen Einfluss auf das konkrete Handeln und damit auch nicht auf die Realität haben. Wenn wir dieser Erklärung folgen, dann bedeutet es aber auch, dass wir auch im Lernprozess nicht eine Wirklichkeit vorgeben können bzw. dürfen. Vielmehr muss
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die individuell Variante Entwicklung von Erkenntnis und K ö n n e n nicht nur z u g e l a s sen, sondern g e r a d e z u gefördert w e r d e n . D a r a u s ergibt sich a b e r sogleich die F r a g e , w i e förderliche Erfahrungen strukturiert sind. -
-
-
Der soziale Handlungskontext, in den das individuelle epistemische Erkenntnisobjekt (Objekt, Person, Beziehung, Ereignis...) verankert ist, fördert die Erfahrung, die eine Sozialisation bewirkt und dabei sowohl die Konstruktion einer bedeutungsvollen Wirklichkeit als auch - darin - die Entwicklung einer bewussten Handlungskompetenz fördert. Dabei scheint die Entwicklungswirksamkeit der individuellen Erfahrungen stark von der Dichte und Intensität an sozialen Interaktions- und Kommunikationsgelegenheiten mit wichtigen Anderen (anstatt von der Dichte der übermittelten Informationen) abzuhängen. In der konstruktivistischen Theorie Piagets ergibt sich die Entwicklung der Erkenntnis aus den Transaktionen des wahrnehmenden Individuums mit der eigenen inneren Objekterfahrung und -interpretation. Die Adaptation verläuft dabei durch die Prozesse der Assimilation und Akkommodation. Dieses Modell müssen wir aber um die sozialen, handlungsorientierten Prozesse der Konstruktion von Wirklichkeit ergänzen, denn diese beeinflussen - z.B. durch Erfolg oder Fehlschlag - sowohl die Wirkungsweise als auch die Ergebnisse der inneren kognitiven Prozesse. Erfolgreiche Handlungsergebnisse werden als überdauernde Erkenntnis- und Verhaltensschemata assimiliert. Auch hierbei führt die Struktur, Qualität und Funktion der Erfahrung notwendigerweise wieder zu individuell spezifischen Wirklichkeits, Verstehens- und Kompetenzstrukturen.
D i e s e 3 A s p e k t e führen g e m e i n s a m z u r Konstruktion und Funktion von erkenntnisund v e r h a l t e n s r e l e v a n t e n S c h e m a t a , die w i e d e r u m d y n a m i s c h a n die Anforderung e n in n e u e n „Weltangelegenheiten" adaptiert w e r d e n (sollten). A u f diese W e i s e entwickeln sich Wirklichkeit, H a n d l u n g s k o m p e t e n z und Kognition mit ihren Strukturen, P r o z e s s e n und E r g e b n i s s e n interaktiv.
Beilin ( 1 9 9 3 ) b e z e i c h n e t Piagets T h e o r i e als „dialektischen Konstruktivismus". Dialektik k a n n d a n a c h als ein konstruktives H a n d e l n mit G e g e n s ä t z e n , S y n t h e s e n und Entwicklungen v e r s t a n d e n w e r d e n : „Nur indem das Subjekt auf ein Objekt einwirkt, kann es sich selbst erkennen, wobei das Objekt nur in Folge des Fortschritts der Handlungen, die an ihm ausgeführt werden, erkannt werden kann...das erklärt die Harmonie zwischen Denken und Wirklichkeit, da Handlungen den Gesetzen eines Organismus entspringen, der gleichzeitig ein physikalisches Objekt unter vielen anderen sowie Ursprung des Handelns ist und später zum denkenden Subjekt wird." (Piaget, zit. in Beilin 1993, S. 46)
Abb. 4: Lernhandeln
Die
unterschiedlichen
Quellen
der
Performanz
stellen innere o d e r ä u ß e r e Einflüsse auf die Entwicklung von Kognition und H a n d e l n dar. (vgl. E delstein 1 9 9 3 , S. 1 0 1 ) Im S i n n e einer konstruktivistischen Erklärung dieser Entwicklung wird die Leistung v.a. durch die K o m p e t e n z bestimmt, die vor der aktuellen H e r a u s f o r d e r u n g e r w o r b e n w u r d e . D o c h die aktuelle H a n d l u n g
Handlungsorientiertes Lernen - Konsequenzen für die Mediendidaktik
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greift nicht nur auf die Kompetenz zurück, sondern entwickelt sie durch den kontinuierlichen Abgleich zwischen Antizipation, objektivem Ergebnis und Reflexion11 parallel weiter. Hierbei sind insbesondere die Strukturen und Prozesse in der Situation und Aufgabe sowie in der Kognition der handelnd-erkennenden Individuums wirksam. Wir sollten unserer eLearning-Didaktik also nicht einen „radikalen" oder „autopoietischen" Konstruktivismus zugrunde legen, sondern einen dialektischen Pragmatismus. Früher angelegte Erfahrungen und Kompetenzen, die in diesem dialektischen Lernprozess zwischen den Polen Verstehen und Aktion im Wege stehen, werden dabei in der Konfrontation mit einem relevanten Problem einer gründlichen Reflexion unterzogen. Dies kann - ohne Können, Wissen oder Beratung - zu Ängsten und dem Umsetzen der extern vorgeschriebenen Lösung wider besseres Wissen führen. Wenn solche Blockaden allerdings vermieden werden können, dann gründet sich in dieser konstruktiven Auseinandersetzung zwischen Person und Wirklichkeit die Entwicklung der Handlungskompetenz. In einem handlungsorientiertes Didaktik-Modell geht es zentral um das Ausnützen dieser konstruktiven Spannung für eine spiralförmige Entwicklung von Wissen und Können. Generell will jede Handlung gleichzeitig zwei Ergebnisse erreichen: Sie verfolgt ein Ziel und sie will einen vorgegebenen Zustand ändern oder ersetzen (vgl. vertiefend den Beitrag von Babel und Hackl in diesem Band). Handeln ist zunächst ein dialektisches Spiel in Zeit und Raum mit alten und neuen Möglichkeiten und Realisierungen. Damit verbindet der dialektische Pragmatismus die beiden grundlegenden kognitiven Systeme des Menschen: das präsentationale System, das mit stabilen Schemata und Strukturen die Welt verstehen will, und das prozedurale System, welches sich an der Erreichung von Zielen und der Befriedigung von Bedürfnissen orientiert. Die Verbindung dieser beiden Systeme im Handeln schafft neue Möglichkeiten, wobei zunächst das präsentationale System gebrochen und das prozedurale erweitert werden muss. In diesem didaktischen Modell sind Handlungen sowohl der Ursprung als auch das Produkt von kognitiv verstandenen, gefühlsmäßig als unbefriedigend erfahrenen und pragmatisch rekonstruierten Möglichkeiten. Das bedeutet, dass Lernhandeln zunächst nicht über eine äußere Vorgabe, sondern vielmehr durch seine eigenen Implikationen für das Individuum eine Bedeutung erhält. Im Sinne eines „dialektischen Pragmatismus" verläuft ein Wachstum, das sich aus diesem Handeln ergibt, weder stufenförmig noch linear, sondern in Spiralen, deren Stadien und Ebenen interaktiv miteinander verzahnt sind. Verstehen entwickelt sich in dieser Entwicklung dadurch, dass wir immer wieder die einzelnen äußeren und inneren Elemente miteinander in Bezug setzen und so die kognitiven und praktischen Prozesse auch untereinander koordinieren müssen. In diesem Handeln entstehen unsere kognitiven Strukturen und pragmatischen Prozeduren. Also, mit Hilfe von Piaget: „Es gibt keine Struktur ohne Konstruktion (...)" (in Beilin 1993, S. 37) und es gibt keine Konstruktion ohne Handlung.
11
vgl. vertiefend in diesem Zusammenhang v.a. Holzkamp 1996.
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Diese Art einer pragmatistischen Handlung verzahnt Wissen-dass mit Wissen-wie und Wissen-warum12 und entwickelt daraus als Synthese eine umfassende und bewusste Kompetenz als Grundlage für weitere Handlungen und Entwicklungen. Die bewusstmachende Reflexion kann durch Erfolg oder Scheitern der Handlung initiiert werden, falls beide eine Art Krise für die Alltagsroutinen und -theorien darstellen.13 Sie transformiert so also schon in der Praxis das Handlungsschema in ein Konzept. Erkenntnis, Verstehen und Kompetenz entstehen aus dem spiralförmigen Interaktionsprozess zwischen Subjekt und Objekt. Garfinkels (1967) experimentelle Schlussfolgerungen können wir auf dieser Grundlage didaktisch wenden. Menschen lernen besonders intensiv, wenn sie unter Bedingungen handeln, in denen die Normen „korrekten" individuellen oder interaktiven Handelns durch Störungen, die aufgrund der bisherigen Schemata zunächst eklatant regelwidrig erscheinen, zweifelhaft und gerade durch den Zweifel und die durch ihn initiierte Reflexion klar fokussierbar werden. Solche Störungen werden durch Probleme erzeugt, die zugleich kognitive und normative Strukturen zueinander in einen Widerspruch und damit in Frage stellen. Lernen geschieht hierbei dann, wenn im kognitiven und praktischen Handeln die normative Verbindlichkeit der Regeln sozusagen hypothetisch ausgeblendet und aktiv nach einer alternativen Deutungsgrundlage gesucht wird. Lernhandeln lebt also auch von seiner spezifischen Unsicherheit, wenn Bedeutungen und Regeln sich im Prozess weiterentwickeln können bzw. es einfach tun. Falls dies nicht möglich ist, werden Störungen des Vorhandenen nicht als Entwicklungsmöglichkeiten gesehen, sondern die Rezipienten werden versuchen, die Diskrepanz möglichst schnell und rückstandsfrei entweder durch regelgeleitete ReInterpretation oder Handlung zu „normalisieren" oder mit möglichst wenig Aufwand externen Qualitätsregeln zu entsprechen. So verlieren Lerner Lernchancen, wenn sie die gegebenen Beziehungen innerhalb der problematischen Struktur, zu anderen Ereignissen und zu „retrospektiven und prospektiven Möglichkeiten" (Garfinkel, in Schneider 2002, S. 24) nicht verantwortlich neu konstituieren und dadurch aktiv weiterentwickeln können.14
12
vgl. vertiefend Kohlberg 1996 zur Verbindung von moralischer und persönlicher Entwicklung sowie Dreyfus 1990 zur Verknüpfung von Moral und Kompetenzstadien.
13
Zum Konzept der lernfördernden Krise vgl. vertiefend Babel u. Hackl in diesem Band.
14
Etwas Provokantes aus meiner Erfahrung als Berater: Wissenschaftler und Lehrer sind paradoxerweise oft äußerst lern- und entwicklungsresistent, wenn es um neue Methoden wie eLearning geht. Ihre besonders starken kognitiven Strukturen, Schemata und Programme scheinen Neues nur zuzulassen, nachdem es normalisiert, d.h. ein- und angepasst, worden ist. Insistieren auf der „Störung" führt damit nicht immer zu handlungsorientiertem Lernen, sondern manchmal auch eher zur Abwehr einer unberechtigten Zumutung und in der Folge zu deutlich unwissenschaftlichen Argumentationen. So wird ein digital verbreitetes Skriptum oft viel eher als „eLearning" akzeptiert als die neuen Interaktionsmöglichkeiten.
Handlungsorientiertes Lernen - Konsequenzen für die Mediendidaktik 4.2
51
Forschendes Handlungslernen
Im Konzept der Handlungsforschung wirken Handeln, Forschen und Lernen angestoßen durch ein „relevantes" Problem gemeinsam in einem Gesamtprozess15. Angewandt auf das eLearning ist eine jeweils vorübergehend stabilisierte Lernumgebung zu schaffen. Ihre Medien initiieren Handeln und Reflexion, um das routinierte Alltagsbewusstsein und die entwicklungsresistente Alltagskommunikation aufzubrechen und damit das Verhalten in eine bessere Praxis zu überführen. Forschendes Handeln will vor allem Reflexionsmöglichkeiten schaffen - und auf dieser Grundlage die Möglichkeit, das gewohnte Denken und die gewohnte Praxis in einem kritischen Diskurs mit allen Beteiligten und Betroffenen gemeinsam weiterzuentwickeln. Denken über Handeln ist also Probehandeln, „ein Durchspielen von Handlungsmöglichkeiten mit hypothetischen Zielbildungen, Planerzeugungen, Rückmeldungen vorweggenommener Resultate, Prüfungen von Instrumentalsten etc." (Volpert 1992, S. 30)
Realistisches, unbedingtes Probehandeln kann das reale Handeln erleichtern. Dieser Ansatz mag, wie es oft an ihm kritisiert worden ist, dazu führen, dass die Wissenschaft durch die direkte Kontamination mit der Praxis zumindest einen Teil der ihr eigenen Professionalität aufgeben muss; er führt aber sicher auch dazu, dass die Lernenden sehr schnell einen höheren Grad professionellen Denkens und Handelns erreichen, da sie unter dieser Auspiz in einem mehrdimensionalen Prozess zu bewusstem Wissen und reflektiertem Können gelangen. Dies läuft der Vorgehensweise vieler eLearning-Programme zuwider. Das Lehrprogramm ebenso wie die traditionelle Lehrkraft nimmt die Schüler gern an der Hand und sagt ihnen genau, was sie tun müssen und was richtig oder falsch ist. Jedoch sollte nicht vorrangig oder gar ausschließlich ein wissenschaftlich einwandfreies Aufnehmen der vorgefertigten „Wahrheit" das Lernziel sein, sondern dem Lerner ist mehr geholfen, wenn er vor allem bei der wirksamen und reflektierten Lösung seines anstehenden Problems unterstützt wird und so eine tiefgehende Handlungskompetenz entwickelt.
15
vgl. Klafki 1973, Heinze u.a. 1975, Moser 1975; s.a. die kritische Zusammenfassung von Koring 1999.
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Dietmar Treichel
5. Konstruktion von handlungsorientierten eLearning-Systemen 5.1
Medium
Wir handeln, um Ziele zu erreichen, v.a. solche, die uns und unsere Wirklichkeit weiterentwickeln. Hierin geht der Begriff der Handlungsorientierung über Flussers Kommunikationsmodell hinaus, worin wir kommunizieren, um unseren Tod zu vergessen, unserer Einsamkeit zu entfliehen, der Welt einen Sinn zu geben und Ordnung herzustellen. (Flusser 1996, S. 9-15) Um diesen Schritt über Flusser hinaus gehen zu können, müssen wir allerdings Massenmedien durch Handlungsmedien ersetzen. Luhmann (1992, S. 53) definiert das „Medium" - in seinem gesellschaftlichen Kontext - wie folgt: „Medium in diesem Sinne ist jeder lose gekoppelte Zusammenhang von Elementen, der für Formung verfügbar ist, und Form ist die rigide Kopplung eben dieser Elemente, die sich durchsetzt, weil das Medium keinen Widerstand leistet."
Das Medium erhält seinen Wert nicht durch seine Form, sondern durch seine Formbarkeit. Kommunikation und Handlung fließen in Luhmanns „Medium" so zusammen, wie es nur in netzartigen Strukturen mit verteilten und komplementären Kompetenzen möglich ist. Damit kann dieses Bild als Metapher für ein handlungsorientiertes eLearning stehen; diese Art von Lernen beschränkt sich nicht auf die Rezeption und Reproduktion von Wissen mit Hilfe von Medien, sondern gibt der intersubjektiven Wirklichkeit eine jeweils adäquate Gestalt, Struktur und Vision. Ich würde sagen: eLearning verdient erst dann diesen Namen, wenn es eigenverantwortliche Konstruktionen von konkurrierenden, komplementären oder parallelen Wirklichkeiten unterstützt. Nur dieses, nicht aber die lineare und sequenzielle Verteilung von Informationen (besser: eDistribution), verbindet die Begriffe eLearning und Medium unter Ausreizung des möglichen Kompetenzspektrums. Auf den eingeführten Grundlagen können wir den Lernprozess systematisch in 4 Schritten konzipieren: 1.
2.
3.
16
Zunächst müssen wir uns über die konstitutiven Elemente von eLearningSystemen klar sein. Hierzu gehören: Medien, Mitteilungen, Menschen und Methoden. Auf der nächsten Ebene sind die verschiedenen Handlungsdimensionen zu betrachten. Jede Handlung hat wiederum mehrere Aspekte: Prozess, Situation, Rolle und Erwartungshaltung des Handelnden, Interaktion sowie die Einflüsse der Umwelt. Aus der Interaktion mehrerer komplementärer oder konkurrierender Handelnder (Individuen oder Gruppen) folgt die Herausbildung eines kulturellsozialen Handlungs- und Bedeutungssystems, das sich eng an E. Wengers Modell einer „Community of Practice" annähert. 16 Die dahinterstehen-
Vgl. Wenger 1998, S. 135 u. 138 f.: „(...) meaning arises out of a process of negotiation that combines both participation and reification. (...) For learning in practice to be possible, an experience of meaning must be in interaction with a regime of competence. (...) This two-way interaction of experience and competence is crucial to the evolution of practice. In its lies the po-
Handlungsorientiertes Lernen - Konsequenzen für die Mediendidaktik
4.
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de Gemeinschaft von Entwicklern, Lehrenden, Lernenden und Handelnden mit ihren normativen, enkulturierenden Mustern beeinflusst diese Entwicklung und wird von ihr beeinflusst. Wenn dieser Lernprozess beim Handelnden auch noch zu einem Lernerfolg führt, dann bildet dies die Grundlage für die Entwicklung eines Wissens-, problemlösungs- und/oder produktorientierten Kompetenzsystems, mit dem kognitive und fachliche Grenzen überschritten werden können."
Handlungen haben dabei ihren Ursprung im Normalfall in einem faktischen Problem, das durch die menschliche Kognition als Anlass für ein Verhalten oder für eine Aktion interpretiert wird. Wenn die Aktion durch eine Reflexion begleitet oder nachvollzogen wird, dann baut der Lernende sich mit der bewussten Evaluation eine Brücke, um Aktion und Kognition auf einer nächsthöheren Kompetenzstufe zu integrieren.
5.2
Technische Strukturen und Funktionen
Auf dieser konzeptionellen Grundlage kann nunmehr das eLearning-System mit seinen verschiedenen Ebenen und Funktionen konstruiert werden, das individuelle und kollaborative Lernhandlungen ermöglichen, fördern, fordern, integrieren und evaluieren soll. Dabei wird zu bedenken sein, dass eLeaming unter individuellen und/oder gemeinschaftlichen Rahmenbedingungen sowohl im eigenen System als auch im Austausch mit anderen Lern-, Informations- und Wissenssystemen abläuft mit reflexiv oder pragmatisch konstruktiven Effekten auf den administrativen, bereitstellenden, kommunikativen und kollaborativen Ebenen. Für die Diskussion bzw. fachorientierte Entwicklung der Mediendadaktik bedeutet dies leitbildartig, dass mögliche Systemkonstellationen durch die Filter Medien, Menschen und Methoden auf die Ermöglichung von wertschöpfenden Handlungen, die zu einem unmittelbaren Lernen und zu einem langfristig wirksamen Kompetenzgewinn führen, ausgerichtet werden müssen. Das Entwicklungs- und Integrationsprojekt eines effektiven eLearning-Systems ist entsprechend zu planen. Dies verlangt neben der Information vor allem auch die Kommunikation in Flussers Sinne eines Netzwerks. Kooperation (als arbeitsteilige Bearbeitung einer Aufgabe) und Kollaboration (als gemeinsame Bearbeitung einer Aufgabe) geben den Lernhandlungen eine Prozessorientierung sowie eine Systemkonfiguration. Mit diesen Methoden kann eLearning nicht nur dem Medium, sondern auch dem Lernen und Handeln Möglichkeiten eröffnen, integrierte Erkenntnis- und Entwicklungsformen
tential for a transformation of both experience and competence, and thus for learning, individually and collectively." Wenger betont, dass Lernen immer davon profitiert, wenn die Spannung zwischen Erfahrung und Kompetenz in spezifischen Kontexten aufrecht erhalten bleibt. 17
vgl. E. Wenger 1998, 140: „Crossing boundaries between practices exposes our experience to different forms of engagement, different enterprises with different definitions of what matters, and different repertoires - where even elements that have the same form ( e.g., the same words or artifacts) belong to different histories. By creating a tension between experience and competence, crossing boundaries is a process by which learning is potentially enhanced, and potentially impaired."
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zu verwirklichen. Mit handlungsorientiertem eLearning könnten wir z.B. Flussers (1996) Diskurs- und Dialogformen dadurch so miteinander statt gegeneinander arbeiten lassen, dass wir in der Lage sind, die Baum- und Netzstrukturen wie grafische Ebenen übereinander zu legen.
6. Resümee Aus diesen Elementen entwickelt sich der Gesamtkontext von handlungsorientiertem eLearning. Abgesehen von dem größeren Gewicht der Technik ist dieser Kontext gar nicht so verschieden von allgemeinen Lehr-Lern-Kontexten. Seine konstitutiven Elemente umfassen sowohl - und hier berufe ich mich immer noch auf Bruner18 - Wissen als auch die unterschiedlichen Lehr- und Lernwerkzeuge. Doch effektives eLearning darf sich nicht mit der Vermittlung gegebenen Wissens zufrieden geben. Vielmehr sind entsprechend der jeweiligen Zielgruppe konkrete Handlungsdimensionen so zu integrieren, dass sie Mehrfach-Lernhandlungen in Form von Mensch-System- und kollaborativen Interaktionen Raum und Mittel geben. Durch die interaktive Verknüpfung von Wissen und Handeln strukturieren Autoren, Lehrer und Lerner in virtueller oder realer Gemeinsamkeit einen Lernprozess, dessen Dynamik eine immer schon vorherige Definition von „richtigen" Antworten, Medien oder Schritten nur dann zulassen würde, wenn die formale Kontrolle des Lernens wichtiger wäre als sein praktischer Anwendungserfolg. Auf dieser handlungsorientierten Basis ist die Frage, nach welchem Lernmodell dieser Prozess strukturiert wird, zweitrangig - oder vielmehr: die Frage wird immer wieder neu beantwortet.19 Dass jede Lemgruppe bzw. jeder Lemertyp oder sogar jeder handelnd-lernende Mensch die Antwort jeweils selbst formulieren kann, ist eines der zentralen Mehrwertangebote von handlungsorientiertem eLearning.
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18
Bruner 1962, S. 56: „The good intuiter may have been born with something special, but his effectiveness rests upon a solid knowledge of the subject, a familiarity that gives intuition something to work with. Certainly there are some experiments on learning that indicate the importance of a high degreee of mastery of materials in order to operate effectively with them intuitively."
19
Deshalb bin ich in diesem Kontext, der sich natürlich eigentlich dafür anbietet, auch nicht auf die unterschiedlichen kognitivistischen oder konstruktivistischen eLearning-Schulen eingegangen.
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Multimediales Lernen Horst O. Mayer
1. Erlebniswelten Der Wunsch nach Erleben von Emotionen durchdringt immer weitere Lebensbereiche. War dies im Spiel schon immer eine essentielle Komponente, so ist die Forderung nach Erleben beim Einkauf, beim Besuch von Museen oder während der Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln erst seit wenigen Jahren zur Selbstverständlichkeit geworden bzw. gewinnt immer mehr an Bedeutung. Größere Buchhandlungen können es sich heute kaum mehr leisten, ihre Bücher ohne der gleichzeitigen Möglichkeit eines Kaffeekonsums anzubieten, in öffentlichen Verkehrsmitteln wird immer mehr die Installation von Bildschirmen zum Zeitvertreib für die Kunden erwogen und der Besuch von Einkaufszentren muss heute zu einem unvergesslichen Erlebnis und zum Durchleben immer stärkerer Emotionen werden. Dieser Wunsch nach Erleben macht auch vor dem Bereich Lernen nicht halt. Solange dahinter nicht ein verkürztes Verständnis von Edutainment steht, trifft er hier sogar auf fruchtbaren Boden. Dies insofern, als nicht erst seit Vordringen konstruktivistischer Lernansätze die Bedeutung des Zusammenhangs zwischen Erleben und Wissenserwerb erkannt wird. Man denke nur an Pestalozzis Trias von Kopf, Herz und Hand oder an die verschiedenen reformpädagogischen Ansätze des beginnenden 20. Jahrhunderts mit ihrer ausgeprägten Handlungsorientierung sowie Bruners Prinzip des entdeckenden Lernens aus den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, um nur einige Beispiele zu nennen, (vgl. Reble, A. 1987, Gudjons 1993 u. Bruner 1973) Unterstützt wird die Handlungsorientierung nicht zuletzt auch von Erkenntnissen aus den Bereichen der Neurobiologie. So weisen Untersuchungen aus der Hirnforschung eine Spezialisierung der beiden Hirnhälften in eine abstrakt-analytisch arbeitende und in eine eher konkret-synthetisierende Hemisphäre nach. Die Nutzung beider Hirnhemisphären führt zu einer Steigerung der Lernfähigkeit, (vgl. Edelmann 1993 sowie Metzig u. Schuster 1996) Die multimediale Gestaltung von Lernumgebungen ermöglicht es nun, verstärkt den neuen Anforderungen zu entsprechen. Dabei wird unter Multimedia die Einbindung verschiedener Technologien in ein anderes Medium, den Computer, verstanden1 (vgl. Beinghaus 1994, S. 137). Um dem Lerner effizientes Lernen zu ermöglichen, gilt es jedoch, die verschiedenen Möglichkeiten bei der multimedialen
1
Multimediales Lernen und eLearning werden oft synonym verwendet und bezeichnet i.A. elektronisch unterstütztes Lernen. Mit der Verwendung des Begriffs „multimediales Lernen" sollen hier v.a. die multimodalen und multikodalen Möglichkeiten durch den Einsatz von Computertechnologien hervorgehoben werden.
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Gestaltung der Lernumgebung auch richtig einzusetzen. Lernumgebungen haben eine Anregungs- sowie eine Unterstützungsfunktion für den Lerner (vgl. Arzberger u. Brehm 1994, S. 32). Durch die Präsentation von Lernanforderungen wird der Lerner angeregt und mit Lernhilfen wird der Lernprozess unterstützt. Bei der Gestaltung von Lernumgebungen sind neben didaktischen Aspekten v.a. auch lernpsychologische Erkenntnisse zu berücksichtigen.
2. Lernrelevanz multikodaler und multimodaler Präsentationen Neben der zeitlichen, örtlichen und oft inhaltlichen Unabhängigkeit ist es v.a. die Möglichkeit der multimodalen und multikodalen Präsentation des Lehrstoffes, die multimediales Lernen auszeichnet. Kodierung bezeichnet die Art und Weise der Verschlüsselung von Botschaften eines medialen Angebotes (Sprache, Bilder, Zahlen) und die Kategorie Sinneskanäle meint die verschiedenen eingebundenen physiologischen Rezeptionssysteme (visuelles und auditives). Mehrfachkodierungen wirken sich in der Regel günstig für das Behalten von Informationen aus (vgl. Paechter 1997, S. 225). Ein weiterer Vorteil bikodaler und bimodaler Informationsdarbietung ist ihre Redundanz, durch die Verstehensschwierigkeiten und eine fehlerhafte Informationsverarbeitung verringert wird. Auch zeigen alle Sinnesorgane bei längerer Beanspruchung eine Gewöhnung und Ermüdung, was das Sinken der Aufmerksamkeit zur Folge hat. Die Bedeutung einer simultanen oder sukzessiven Mehrfachkodierung der Informationen wird ebenfalls durch die Forschungen zur Hemisphärenspezialisierung des Gehirns unterstützt (vgl. Weidenmann 1997 u. Pavio 1986). Die Information sollte bei multimedialen Lernangeboten daher gezielt auf die auditive und visuelle Sinnesmodalität verteilt werden. So ist es nach Paechter besser, bei komplexen Bildern die entsprechenden Erläuterungen auditiv als ebenfalls visuell anzubieten (in Weidenmann 1997, S. 202). Zudem wird eine sinnvolle Abwechslung von auditiv und visuell präsentiertem Material von den Lernern als angenehmer erlebt und erhöht die Akzeptanz (vgl. Weidenmann 1997, S. 202). Auch werden bimodal vorgegebene Texte oft besser erinnert als ein ausschließlich auditiver oder visueller Text (vgl. Paechter 1997, S. 225 f.). Wobei Rickheit u. Strohner sowie Hron u.a. bei ihren Untersuchungen fanden, dass bei anspruchsvollen Botschaften gelesene Texte besser gelernt werden, als auditive (in Weidenmann 1997, S. 201 f.). Beide Informationsformen unterscheiden sich sowohl hinsichtlich ihrer Stabilität wie der angesprochenen Sinnesmodalitäten. Wird ein Text gelesen, so kann man selbst bestimmen, in welchem Tempo dies erfolgen soll. Auditive Texte hingegen sind flüchtige Informationsangebote, hier bestimmt das Lernprogramm das Tempo, in dem Informationen vorgegeben und verarbeitet werden sollen. Da auditive Texte
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jedoch als einzige das Gehör ansprechen, kommt ihnen im Vergleich zu visuellen Texten, Stand- oder Bewegtbildern eine besondere Rolle bei der Lenkung der Aufmerksamkeit zu (vgl. Paechter 1997, S. 224 ff.). Bei Bildern hängt die Art und Intensität des Lernens sehr stark von ihrer Gestaltung und ihrem Einsatz ab. Bilder sind lernwirksamer, wenn sie zur geistigen Verarbeitung herausfordern bzw. wenn wesentliche Informationen strukturell hervorgehoben werden (vgl. Schanda 1994, S. 132). Durch Gruppierungsprozesse erfolgt eine Zusammenfassung bestimmter grafischer Komponenten in einem Bild zu größeren Einheiten, wobei die Gestaltgesetze diese Prozesse im Wesentlichen beschreiben. So werden nach dem Gesetz der Nähe enger beieinander liegende Bildkomponenten und nach dem Gesetz der Ähnlichkeit gleiche Komponenten eher zusammengefasst, etc. Diese automatisierte Verarbeitung veranlasst den Betrachter zu einer bestimmten Interpretation des Wahrgenommenen (vgl. Schnotz 1997, S. 94). Dabei wird das Verstehen des Bildes unterstützt, wenn die wahrgenommene Struktur mit der zu vermittelnden übereinstimmt. Erschwert wird sie, wenn erst eine Reorganisation auf der Wahrnehmungsebene stattfinden muss, bevor eine adäquate Interpretation möglich ist. Zu beachten ist jedoch, dass nicht alles was möglich ist, auch zu einer Verbesserung des Lernens führt. Wie z.B. Weidenmann (1994) zeigt, können Bilder das Verstehen und Behalten von Texten deutlich unterstützen. Untersuchungen von Salomon (1984) zufolge hat der Lerner zum verbalen Kode aber eine andere Einstellung als zu Bildern. Texte gelten als „schwer", Bilder als „leicht" und entsprechend unterschiedlich gestalten sich oft die Verarbeitungsweisen. Dies kann dazu führen, dass Bilder vom Lemer unterschätzt werden, während er sich bei Texten mehr anstrengt. Verschiedene Untersuchungen zeigen auch, dass die Verwendung von bewegten im Vergleich zu statischen Bildern oft zu keiner signifikanten Verbesserung der Lernleistungen führen (vgl. Lewalter 1997, S. 218). In manchen Fällen ist der Einsatz von statischen Bildern völlig ausreichend. Möglicherweise kommt hier die unterstützende Wirkung der Animation durch deren geringeren Anregungsgehalt, effektive Lernstrategien einzusetzen, nicht zum Tragen. Vermutlich werden die in den Animationen dargestellten Abläufe vom Lernenden als so leicht verständlich wahrgenommen, dass der Eindruck entsteht, den Sachverhalt vollständig zu verstehen. In der Folge findet deshalb keine tiefere Auseinandersetzung mit den Hintergründen statt. Je vielfältiger - in Hinblick auf Kodierung, Sinnesmodalitäten, Inhalte, Strukturen ein multimediales Angebot ist, desto größer ist die Gefahr der Überlastung. Dieses Problem wird erheblich reduziert, wenn der Benutzer die Möglichkeit hat, den Ablauf in seiner Geschwindigkeit zu steuern, zu einzelnen Textpassagen oder Bildern Hilfen oder Zusatzinformationen abzurufen, bestimmte Stellen durch Suchbefehle rasch aufzufinden, Querverbindungen nachgehen zu können usw. (Weidenmann 1997, S. 202 f.). Moderne Lernprogramme zeichnen sich durch ein hohes Maß
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derartiger Steuerungsmöglichkeiten aus. Dabei sollte eine lineare Abarbeitung des Lernprogrammes durch zu betätigende Links erschwert werden, damit die in den zahlreichen Verzweigungen vorhandene Information vom Lerner auch aufgefunden wird (vgl. Schanda 1994, S.133). Eine hohe Steuerungsmöglichkeit unterstützt auch ein aktives Lernen. Die Lerner können ihre Lernprozesse eigenständig gestalten und den Bedingungen der Lernsituation entsprechend anpassen. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass aktives Lernen bereits im Konzept des Lernprogramms enthalten ist (indem der Lerner z.B. eigene Beispiele finden bzw. den neuen Lernstoff mit seinem Vonwissen verbinden muss) und nicht zufällig über Steuerungsmöglichkeiten erfolgt. Nicht zuletzt aus diesem Grunde ist es bei der Gestaltung von Lernumgebungen notwendig, eine Auffassung vom Lernen und damit ein theoretisches Lernmodell zu Grunde zu legen. Auch fehlt beim multimedialen Lernen der Lehrende, der sich ständig auf die aktuelle Situationen einstellen kann und die Lernumgebung jeweils dem Lerner anpasst. Das Verhalten des Lerners muss daher schon im Vorfeld unter Zuhilfenahme theoretischer Lernmodelle Berücksichtigung finden.
3. Lerntheoretische Grundlagen für eLearning Allgemein kann Lernen als ein relativ dauerhafter Erwerb einer neuen oder die Veränderung einer schon vorhandenen Fähigkeit, Fertigkeit oder Einstellung bezeichnet werden, wobei der Leistungszuwachs oder die Leistungsveränderung auf Erfahrung zurückgeht und somit weder eine Folge eines natürlichen Reifungs- bzw. Wachstumsprozesses ist, noch auf Drogeneinwirkungen beruht (vgl. Kaiser u. Kaiser 1991, Brezinka 1981 sowie Höger 1978). Ziel des Lernens ist eine optimale Anpassung an die vielfältigen Anforderungen der Umwelt. Wobei der Begriff Anpassung weit gefasst ist und auch im Sinne einer aktiven, planvollen Auseinandersetzung mit der Umwelt verstanden wird. Der Prozess des Lernens führt zum Neuerwerb oder zur Veränderung psychischer Dispositionen, d.h. zur Bereitschaft und Fähigkeit bestimmte Leistungen zu erbringen. Im Gegensatz zu Leistung, die von momentanen Bedingungen abhängt, ist Lernen durch relativ überdauernde Veränderungen gekennzeichnet. Lernen besteht also im Erwerb von Dispositionen, d.h. von Erlebens-, Verhaltens- bzw. Handlungsmöglichkeiten, wobei es unwesentlich ist, ob die Erfahrungen, die zur Änderung einer psychischen Disposition führen, gezielt vorbereitet und gelenkt oder ob sie ungelenkt und ohne Absicht gewonnen werden. Wird Lernen als relativ dauerhafter Erwerb einer neuen bzw. relativ dauerhafte Veränderung einer schon vorhandenen Fähigkeit, Fertigkeit oder Einstellung durch Erfahrungen definiert, so beschreiben Lerntheorien Bedingungen, unter welchen sich dieser Erwerb bzw. die Veränderungen im Sinne von Lernprozessen vollziehen. Sie liefern Modelle, die Zusammenhänge zwischen Lernprozessen und der
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Veränderung der Erlebens-, Verhaltens- oder Handlungsmöglichkeiten erklären sollen. In dem Maße, in dem die Gesetzmäßigkeiten, unter denen Lernen erfolgt, erkannt werden, verhelfen diese Erkenntnisse auf der einen Seite zur Entwicklung geeigneter Technologien, andererseits werden dadurch aber auch Möglichkeiten und Grenzen geplanter Einflüsse deutlich. Im Zusammenhang mit multimedialem Lernen sind es drei grundlegende lerntheoretische Positionen die hier eine entscheidende Rolle spielen. Es sind dies die behavioristische, die kognitivistische sowie die konstruktivistische Theorie (vgl. Tulodziecki 1996, S. 42, Issing 1997, S. 197 ff. sowie Blumstengel 1998, S. 107). Die behavioristische Sichtweise akzeptiert nur beobachtbares Verhalten als Gegenstand einer wissenschaftlichen Psychologie und betrachtet demensprechend Lernen unter dem Reiz-Reaktion-Aspekt. Kognitivistische Modelle beinhalten v.a. Informationsaufnahme-, Informationsverarbeitungs- sowie Problemlösungsprozesse. Bei all diesen Prozessen spielt das Bewusstsein bzw. die Kognition eine zentrale Rolle. Der konstruktivistische Ansatz wiederum geht davon aus, dass Wissen durch eine interne subjektive Konstruktion von Ideen und Konzepten entsteht. Dabei werden die Bedeutung individueller Wahrnehmung und Verarbeitung von Erlebnissen noch stärker betont als bei kognitionstheortischen Ansätzen. Die drei Grundpositionen wirken sich unterschiedlich auf die Gestaltung von Lernprogrammen aus. Je nachdem, ob der Reiz-Reaktions-, der Informationsverarbeitungs· oder der subjektive Konstruktionsaspekt im Vordergrund steht, führt dies zu unterschiedlichen Umsetzungen in Lernprogrammen.
3.1 Der behavioristische Ansatz Das behavioristische Lernmodell des sogenannten operanten Konditionierens stammt vom amerikanischen Psychologen B. F. Skinner. Dabei wird davon ausgegangen, dass Menschen ein bestimmtes Verhalten dann am wahrscheinlichsten zeigen, wenn sie dafür belohnt werden (vgl. Edelmann 1993, S. 120 ff.). Folgt einem Verhalten ein positives, belohnendes Ereignis, das als Verstärker bezeichnet wird, so resultiert daraus eine Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, dass dieses Verhalten unter ähnlichen Umständen wieder auftritt. Mit (positiver) Verstärkung sind also Maßnahmen bzw. Reize gemeint, die die Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines bestimmten Verhaltens erhöhen. Ein negativer Verstärker (Eintreten unangenehmer Konsequenzen) führt zu einer Verringerung der Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines bestimmten Verhaltens (vgl. Mayer 2000, S. 110ff.). Das Verhalten eines Individuums lässt sich danach durch äußere Hinweisreize und Verstärkung steuern. Internen Lernprozessen wird dabei keine Aufmerksamkeit geschenkt. Ein vorgegebenes Lernziel soll dadurch erreicht werden, indem man bestimmte Informationen und Aufgaben als Hinweisreize präsentiert und anschließend eine Belohnung von gewünschtem Lernverhalten erfolgt. Bei komplexen Lernzielen wird der Lernweg in kleine Lernschritte zerlegt.
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Auf der Grundlage dieser Überlegungen und einer Vielzahl von experimentellen Studien entwickelte Skinner das Konzept des programmierten Lernens und formulierte die folgenden sieben Prinzipien (vgl. Hasebrook 1995, S. 158 f.): 1. 2. 3. 4.
Auf jede Antwort muss eine Rückmeldung erfolgen. Der Lerner sollte in seinem persönlichen Lerntempo den Lernstoff bewältigen. Die Lernziele müssen für den Lerner klar definiert werden. Aufgaben sollten mit hoher Wahrscheinlichkeit (über 90 Prozent) gelöst werden können. 5. Der Lernstoff sollte in Abfolge von Frage-Antwort-Kombinationen gegliedert werden. 6. Die Aufgaben sollten so gestellt sein, dass sie vom Lerner möglichst aktiv bearbeitet werden können. 7. Engagiertes Arbeiten sollte durch Belohnung bekräftigt werden.
Das Konzept des programmierten Lernens fand unter dem Begriff „programmierter Unterricht" v.a. in den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts breite Anwendung an den Schulen. Auf der Grundlage des programmierten Lernens von Skinner und zum Teil unter Einfluss kybernetischer Ansätze wurden Lernunterlagen entwickelt, die dem Lerner einen genauen Weg für seine Denkoperationen vorzeichnen (Lernspur) und den dieser selbständig zu durchlaufen hat. Der Lerner wird dabei von einer bestimmten Ausgangslage des Wissens und Könnens durch einen minuziös vorhergeplanten (programmierten) Lernprozess zu einer genau definierten Endlage gebracht (vgl. Zielinski u. Schöler 1965, S. 23). Dazu sollen die einzelnen Lernschritte gerade so groß sein, dass der Lerner sie auf einmal verarbeiten kann und sie müssen so geordnet sein, dass sie für den Lerner in logischer Folge zum sicheren Ziel führen. Der Lernstoff muss aktiv verarbeitet werden und der Lerner soll bei jedem Lernschritt die Möglichkeit zur Erfolgskontrolle haben. Das Finden der richtigen Antwort wird als Verstärkung für den Lerner betrachtet. Fehler müssen daher vermieden werden, da sie einen negativen Verstärker darstellen. Deshalb sind die Aufgaben so zu gestalten, dass ihre Lösung von über 90 Prozent der Lerner erreicht wird (vgl. Kerres 1998, S. 49). Jeder Lernschritt beim programmierten Unterricht besteht dementsprechend aus drei Bestandteilen (vgl. Lipsmeier u. Seidl 1987, S. 55): 1. Einer sorgfältig ausgewählten Information, 2. einer Aufgabe, die zu aktivem Verarbeiten der Information veranlasst und 3. einer Erfolgskontrolle die zur Überprüfung des Lernerfolgs dient.
Der Beginn des Einsatzes von Computern zu Lehr- und Lernzwecken war durch den Behaviorismus geprägt. Auch heute noch ist die Mehrzahl der Lernprogramme überwiegend nach diesem Prinzip gestaltet und dieses Lernmodell beeinflusst trotz vieler Kritik weiterhin das mediengestützte Lernen ganz entscheidend (vgl. Kerres 1998, S. 45, Blumstengel 1998, S. 110 u. Tulodziecki 1996, S. 52). Die behavioristische Lerntheorie findet v.a. bei Übungsprogrammen und einfachen Tutorials Anwendung (vgl. Tulodziecki 1996, S. 43). Tutorielle Systeme sind systemgesteuerte Lernprogramme, die in ihren Anfängen linear eine vorgefertigte Übung nach der anderen präsentierten und Fragen vorgaben. Wurden die Fragen richtig beantwortet, so gingen sie zur nächsten Übung weiter. Weiterentwickelte Programme bein-
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halten Verzweigungen zu Subprogrammen, die je nach Bedarf angesteuert werden. Da e s jedoch unmöglich ist, alle möglichen Verzweigungen sinnvoll zu kontrollieren, muss deren Anzahl beschränkt werden (vgl. Schulmeister 1997, S. 96 f.). Kritisiert wird an behavioristischen Lemprogrammen u.a. die starke Atomisierung von Lerninhalten, die zusammenhangloses träges Wissen2 fördert. Dadurch erhalten die Lerner keine ausreichenden Fähigkeiten, um komplexe realistische Probleme zu lösen und haben nicht die Möglichkeit, sich Strategien z u m selbstgesteuerten, eigenverantwortlichen Lernen und Problemlösen anzueignen (vgl. Blumstengel 1998, S. 111 u. Kerres 1998, S. 51). Weiters kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine niedere Fehlerquote besser ist als eine hohe. Fehler können für den Lerner eine wichtige Informationsquelle sein und wie die Motivationspsychologie zeigt, haben Aufgaben mit einer Erfolgswahrscheinlichkeit um 50 Prozent zumindest für erfolgsmotivierte Personen einen höheren Anreiz als einfache Aufgaben (vgl. Heckhausen 1989, S. 176 f.). Ein grundsätzliches Problem behavioristischer Theorien ist, dass innere, nicht beobachtbare Lernvorgänge keine Berücksichtigung finden (vgl. Hasebrook 1995, S. 164). Obwohl das behavioristische Lernmodell vielfach kritisiert wird, gibt es durchaus sinnvolle Anwendungsmöglichkeiten. Lernen ist in weiten Bereichen auch durch operantes Konditionieren bestimmt. Dies gilt insbesondere bei einfachen Problemstellungen (vgl. Blumstengel 1998, S. 111). Innere Lernprozesse lassen sich jedoch nicht grundsätzlich ausblenden. Zur Erklärung komplexer intellektueller Vorgänge kann auf kognitive Konzepte nicht verzichtet werden.
3.2 Der kognitivistische Ansatz Im Gegensatz zum behavioristischen Ansatz sind geistige Prozesse wie Aufmerksamkeit, Denken, Gedächtnis, Planen, Erwartungen, Wünsche, Phantasien und Bewusstsein für die kognitive Psychologie von zentralem Interesse. Der Begriff Kognition bezieht sich auf alle Prozesse, durch die W a h r n e h m u n g e n transformiert, reduziert, verarbeitet, gespeichert, reaktiviert und verwendet werden (vgl. Neisser 1974). Lernen wird von der kognitiven Psychologie unter d e m Aspekt der Informationsaufnahme und Informationsverarbeitung betrachtet. Dabei wird betont, dass die Person bei diesen Prozessen aktiv beteiligt ist und das Ergebnis dieser Art des Lernens Strukturen und keine isolierte Verbindungen zwischen Reizen und Reaktionen sind. Der Lerner wird in der kognitiven Psychologie als Individuum betrachtet, das ä u ß e re Reize aktiv und selbständig verarbeitet und nicht einfach durch äußere Reize steuerbar ist (vgl. Tulodziecki 1996, S. 43 u. Mayer 2 0 0 0 , S. 125 f.). Er decodiert durch ein Medium übermittelte Informationen mit Hilfe vorhandener eigener Infor2
Darunter wird jenes Wissen verstanden, das beim Lerner zwar vorhanden, in relevanten Problem- und Anwendungssituationen jedoch nicht abrufbar ist. Dem Wissen fehlt der notwendige Anwendungsbezug.
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mationen und innerer Schemata. Unter Bildung wird in der kognitiven Psychologie die Aufnahme und Verarbeitung von Wissen (z.B. durch den Aufbau mentaler Modelle, Schemata etc.) verstanden (vgl. Blumstengel 1998, S. 112). Wesentliche Beiträge zur kognitiven Psychologie des Lernens sind neben der Analyse der höheren geistigen Prozesse von Neisser die Theorie des sinnvollen, verbalen Lernens von Ausubel und die Theorie des entdeckenden Lernens von Bruner (vgl. Edelmann 1993, S. 9).
mechanisches Lernen
sinnvolles Lernen
Die dargebotenen Informationen werden wortwörtlich gelernt und nicht mit dem Vorwissen assimiliert.
Die dargebotenen Informationen werden inhaltlich gelernt und mit dem Vorwissen assimiliert.
Ein vom Lerner entdeckter Sachverhalt wird wortwörtlich gelernt und nicht mit dem Vorwissen assimiliert.
Ein vom Lerner entdeckter Sachverhalt wird inhaltlich gelernt und mit dem Vorwissen assimiliert.
i
entdeckend j
rezeptiv
Verbales Lernen im Sinne von kognitivem Lernen bedeutet den Aufbau von kognitiven Strukturen, was zu einer sprachlich-symbolischen Repräsentation des Wissens führt. Ausubel (1974) unterscheidet zwischen sinnvollem und mechanischem Lernen. Beim mechanischen Lernen wird eine Information wortwörtlich und nicht inhaltlich gelernt, d.h. sie wird nicht auf das Vorwissen bezogen, weshalb sie nicht assimiliert werden kann. Diese Art des Lernens wird im Alltag Auswendiglernen genannt und z.B. zum kurzzeitigen Merken von Telefonnummern verwendet. Wichtig für das Behalten von neuen Informationen ist jedoch, dass diese zufallsfrei und inhaltlich auf vorhandene Wissens- bzw. Wertestrukturen bezogen werden. Das heißt, der neue Lernstoff wird in bereits vorhandenen Strukturen verankert. Ausubel bezeichnet ein solches Lernen als sinnvolles Lernen. Die beiden Lernformen teilt er wiederum in rezeptives bzw. entdeckendes Lernen ein, sodass sich folgende Grundformen ergeben:
Abb. 1: Die vier Grundformen des Lernens nach Ausubel (Edelmann 1993, S. 239)
Ausubel betont besonders das sinnvolle rezeptive Lernen und hebt dabei u.a. folgende Merkmale hervor (vgl. Edelmann 1993, S. 239 f.): -
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Der Lerner kann das erworbene Wissen auch mit eigenen Worten ausdrücken. Der neue Lernstoff wird mit relevanten Aspekten der kognitiven Struktur verbunden. Daher ist die Beachtung der Ausgangslage der Lerner von großer Bedeutung. Auch wenn der Lehrstoff in fertiger Form präsentiert wird, ist sinnvolles rezeptives Lernen ein aktiver Vorgang, da der Lerner zufallsfreie Beziehungen herstellen muss. Rezeptives Lernen tritt in der kognitiven Entwicklung erst spater auf. Kinder erwerben ihre Erfahrungen vor allem durch entdeckendes Lernen.
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Das Prinzip des sinnvollen entdeckenden Lernens wurde u.a. von Bruner wieder aufgegriffen, wobei folgende Aspekte des Lernens betont werden (vgl. Blumstengel 1998, S. 112 f., Edelmann 1993, S. 240 ff. u. Mayer 2000, S. 128): -
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Steuerung: Entdeckendes Lernen wird durch den Lerner selbst gesteuert. Transferförderung: Lernen fundamentaler Begriffe und Regeln als Modell für das Verstehen anderer, ahnlicher Sachverhalte. Der Lerner soll diese als Sonderfälle des ursprünglich Erlernten erkennen. Problemlösungsfähigkeit Die zu erwerbende kognitive Struktur umfasst nicht nur Wissen, Kenntnisse und Einsichten in Form von fundamentalen Regeln, sondern auch Techniken des Problemlösens, d.h. Fähigkeiten, Problemstellungen zu analysieren, Hypothesen zu formulieren und zu prüfen. Der Lerner erhält nicht alle relevanten Informationen fertig strukturiert, sondern er muss die notwendigen Informationen selbständig auffinden, priorisieren und neu ordnen, bevor er Probleme lösen kann. Intuitives Denken: Dieses ist eher bildhaft und konkret, es geht von einzelnen Erfahrungen aus, zielt auf die Erfassung des Problems in seiner Gesamtheit, ermöglicht neuartige Lösungen und ist relativ einfallsartig sowie sprunghaft. Intuitives Denken beruht gewöhnlich auf einer Vertrautheit mit dem fraglichen Wissensbereich. Das ermöglicht es herumzuspringen, Stufen auszulassen und Abkürzungen zu gehen (vgl. Bruner 1973, S. 66). Motivation: Beim entdeckenden Lernen bildet sich ein intrinsisches Bedürfnis, die Problemstellung zu lösen. Dadurch führt das sinnvolle entdeckende Lernen auch zum Aufbau einer intrinsischen Motivation, was sich als „Bereitschaft zum Lernen" bzw. „Wille zum Lernen" äußert.
Der durch intuitives Denken geförderte Aufbau einer allgemeinen Problemlösungsfähigkeit führt zu einem spezifischen und allgemeinen Wissenstransfer. Dies erleichtert späteres Lernen. Der Wissenserwerb soll möglichst häufig durch Interaktion mit einer didaktisch aufbereiteten Lernumwelt erfolgen. Das dabei entdeckte Sachwissen wird in Form fundamentaler Begriffe und Regeln gespeichert. Durch die intrinsische Motivation und relative Selbständigkeit erwirbt der Lerner eine zunehmende Kompetenz, das eigene Lernen zu steuern, (vgl. Edelmann 1993, S. 244.) Sowohl bei Ausubel, wie bei Bruner geht es darum, dass beim Lerner eine klar gegliederte kognitive Struktur aufgebaut wird. Dazu ist nach Gagne (1969) bei der Lernorganisation auf eine angemessene Lernstruktur zu achten. Begriffsbildung (Kategorisierung etc.), Wissensen/verb (Lernen der Kombinationen von Begriffen) sowie Problemlösung bilden danach einen hierarchischen Aufbau, der bei der Planung von Lernsequenzen zu berücksichtigen ist. Zuerst gilt es die für die Problemlösung relevanten Begriffe zu lernen, dann erst können die Regeln, wie diese Begriffe miteinander in Beziehung stehen, erworben werden und erst zum Schluss ist eine Anwendung dieser Regeln zur Problemlösung möglich. Der kognitivistische Ansatz führte einmal zur Entwicklung „intelligenter tutorieller Systeme". Solche Systeme versuchen aus Eingaben von Benutzern eine Diagnose deren Kompetenz bzw. Kompetenzdefizite zu erstellen. Diese dienen dann als Grundlage für Entscheidungen über das tutorielle Angebot. Dadurch sollte das Lernangebot besser an die aktuellen kognitiven Lernprozesse angepasst werden, als dies bei konventionellen Programmen mit festgelegten Lernwegen der Fall ist.
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Die Praxis zeigte jedoch u.a., dass Verhaltensweisen von Lernern bei der Bearbeitung von Lerneinheiten nur begrenzt Rückschlüsse auf deren Kompetenz zulassen. Da sich die psychologische Modellierung des Wissensprozesses als weitaus schwieriger erwiesen hat als ursprünglich angenommen, blieb die Entwicklung von ITS bislang auf einige wenige Projekte beschränkt, (vgl. Kerres 1998, S. 62 ff. u. Issing 1998, S. 164) Zum anderen führte die Anwendung des entdeckenden Lernens auf computerunterstützte Lernsysteme zur Entwicklung reicherer Lernumgebungen mit einer Vielzahl von Möglichkeiten (vgl. Blumstengel 1998, S. 113). Lernprogramme nach dem Frage-Antwort-Schema bieten den Lernern viel zu wenig Spielraum, ihre vorhandenen kognitiven Konzepte zu aktivieren und neue zu entwickeln. Aufgaben, die dem Suchen, Probieren und Explorieren weiten Raum geben sowie die Simulation kognitiver Prozesse sind hierfür besser geeignet (vgl. Schulmeister 1997, S. 72). Für ein solches Lernen am Computer ist die Freiheit des Lerners wichtig, Wege und Strategien selbst wählen zu können. Die Steuerung des Lernprozesses wird in die Hand des Lerners gelegt. Das heißt er kann weitgehend selbst die Reihenfolge und den Umfang der Präsentation von informationellen Einheiten - in textueller, grafischer oder audiovisueller Darstellung - interaktiv bestimmen (vgl. Issing 1998, S. 164). Ein Konzept dabei sind die Mikroweiten. Bei diesen Kunstwelten handelt es sich um explorative Lernumgebungen, in denen das zu lernende Wissen „versteckt" ist und die dem Lerner die Gelegenheit geben, dieses aufzufinden (vgl. Schulmeister 1997, S. 50 ff.). Im Mittelpunkt stehen hier das Erlernen von Strategien, Denken in Analogien und die Fähigkeit zur Verallgemeinerung von Erkenntnissen (vgl. Holzinger 2001, S. 200). Mikroweiten unterstützen das Modell des entdeckenden Lernens und sollen den Lerner in die Lage versetzen, erlernte Fähigkeiten auf neue Problemsituationen übertragen zu können. Kritisiert wird am kognitivistischen Ansatz neben einer Überbetonung kognitiver Informationsverarbeitungsprozesse u.a. die Annahme einer objektiv wahren und erkennbaren Realität und die damit verbundene Auffassung, dass Wissen extern und unabhängig vom Bewusstsein existiert (vgl. Blumstengel 1998, S. 114). Diese Kritik kommt v.a. von Vertretern eines konstruktivistischen Ansatzes, der die Bereitstellung von optimalen Methoden zur Erreichung von Lernzielen grundsätzlich in Frage stellt (vgl. Khazaeli u.a. 2000, S. 44).
3.3 Der konstruktivistische Ansatz Von extremen konstruktivistischen Positionen abgesehen, die die Existenz einer äußeren realen und objektiven Wirklichkeit gänzlich ausschließen3, geht der kon3
Nach der radikal konstruktivistischen Position stellt der Mensch ein in sich geschlossenes „autopoietisches" System dar, das aus sich heraus eine Vorstellung von Wirklichkeit immer nur als in-
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struktivistische Ansatz davon aus, dass eine externe Welt zwar existiert, diese aber nicht in einer objektiven Weise wahrgenommen werden kann (vgl. Holzinger 2001, S. 146). Sinneswahrnehmungen sind keine objektiven Abbilder einer Wirklichkeit, sondern individuelle Konstruktionen. Die eigentliche Wahrnehmung ist das Ergebnis kognitiver Prozesse und findet nicht in den Sinnesorganen statt. Dabei werden nie alle Signale verwendet, sondern durch unsere Aufmerksamkeit stets eine relativ kleine Auswahl, die zudem durch erinnerte Wahrnehmung je nach Bedarf ergänzt wird (vgl. Glasersfeld 1992, S. 22). Wissen entsteht nach konstruktivistischer Auffassung durch eine interne subjektive Konstruktion von Ideen und Konzepten und immer in Bezug auf das Vorwissen (vgl. Blumstengel 1998, S. 114). „Constructivists believe that knowledge is constructed, not transmitted. Individuals make sense of their world and everything with which they come in contact by constructing their own representations or models of their experiences." (Jonassen u.a. 1999, S. 3)
Wissen wird im Akt des Erkennens konstituiert, es existiert nicht unabhängig vom erkennenden Subjekt. Es wird dynamisch generiert und nicht fest gespeichert, wodurch es nicht einfach an andere übermittelt werden kann ohne deren eigene Rekonstruktion (vgl. Schulmeister 1997, S. 74). Lernen wird daher auch nicht wie von der kognitivistischen Psychologie als Informationsverarbeitungsprozess verstanden, sondern als individuelle Konstruktion eines aktiven Lerners in einem sozialen Kontext, wobei das Vorwissen des Lerners von entscheidender Bedeutung ist. Die Aktivierung von Vorkenntnissen, ihre Ordnung, Korrektur, Erweiterung, Ausdifferenzierung und Integration spielen beim Lernen eine entscheidende Rolle (vgl. Blumstengel 1998, S. 115). Da Repräsentationen keine statischen Symbole, sondern ständig neu interpretierte Darstellungsformen sind, ist beim Lernen der Prozess der aktiven Auseinandersetzung mit Aufgaben von zentraler Bedeutung. Nicht die Aufstellung von Lernzielen ist wichtig, sondern die Rückbindung an die Kontextgebundenheit der Lerninhalte (vgl. Schulmeister 1987, S. 74). Der Konstruktivismus lehnt es aus diesen Gründen auch ab, Lernprozesse extern und im Voraus zu planen und zu kontrollieren. Lernen ist individuell und ein Lernweg nicht voraussagbar. Lehrende können lediglich die Rolle eines Coaches einnehmen und den Lerner bei seiner Konstruktion begleiten. „Teaching is not a process of imparting knowledge, because the learner cannot know what the teacher knows and what the teacher knows cannot be transferred to the learner. W e believe that teaching is a process of helping learners to construct their own meaning from the experiences they have by providing those experiences and guiding the meaning-making process " (Jonassen u.a. 1999, S. 3)
terne Wirklichkeit innerhalb des Systems konstruiert. Eine äußere, objektive Wirklichkeit gibt es nicht.
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Auch wenn eine externe Planung und Kontrolle abgelehnt wird, ist Lernen zumindest aus Sicht eines gemäßigten Konstruktivismus dennoch ein Prozess, der sowohl intern wie extern initiiert werden kann. Wissen kann aus konstruktivistischer Sicht zwar nicht durch Instruktion oder Medien vermittelt werden, da der Lerner Wissen aktiv mit seinen mentalen Modellen und Wirklichkeitskonstrukten verknüpfen muss. Lehrende und Medien können jedoch mit Anregungen, Hilfestellungen und situativen Anlässen lernunterstützend wirken. Bei der Gestaltung von Lernumgebungen ist es v.a. wichtig, die kognitive Konstruktivität und Individualität der Lerner sowie die Notwendigkeit eines relevanten Kontextes und metakognitiver Strategien zur Selbstevaluation zu beachten. -
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„Lernende konstituieren ihr Wissen, indem sie wahrnehmungsbedingte Erfahrungen interpretieren, und zwar in Abhängigkeit von ihrem Vorwissen, von gegenwartigen mentalen Strukturen und bestehenden Überzeugungen. Was wir wissen, stammt also nicht aus irgendeiner externen Quelle, sondern ist vom Individuum generiert. Generative Verarbeitung beinhaltet, dass neue Informationen mit dem Vorwissen verknüpft werden, um elaborative Wissensstrukturen aufzubauen. Zentral für den Wissenserwerb ist das soziale Aushandeln von Bedeutungen, das auf der Grundlage kooperativer Prozesse zwischen Lehrenden und Lernenden erfolgen kann. Gestalter von Lernumgebungen sollten den Lernenden daher weniger eine normative und objektive Realität auferlegen, sondern vielmehr akzeptieren, dass jeder Lernende das gleiche Objekt oder Ergebnis etwas anders interpretiert. Dies impliziert auch unterschiedliche Lernergebnisse. Wenn Lernenden der Bezug zu einem relevanten Kontext fehlt, dann ist die Information für sie wenig bedeutsam. Zur Reflexion bzw. Kontrolle des eigenen Lernhandelns ist der Einsatz metakognitiver Fertigkeiten wichtig." (Gerstenmaier u. Mandl 1995, S. 874 f.)
Medien werden hier als "kognitive Werkzeuge" für den Lerner betrachtet, wobei hypermediale Lernumwelten sich in besonderer Weise zur Realisierung von aktivem sinnvollem Lernen eignen (vgl. Issing 1997, S. 198). Hypermedia bezeichnet ein System von audio-visuellen Angeboten (Texte, Bilder, Sprache, Musik, Videos, Simulationen, Animationen etc.), die nicht linear über Links verbunden sind. Der Lerner wird befähigt, die Lernsteuerung und die Lernkontrolle selbst zu übernehmen und einen kreierenden Einfluss auf das multimediale Medium auszuüben. Den Lernern sind Situationen anzubieten, in denen eigene Konstruktionsleistungen möglich sind und in denen kontextgebunden und sozial interaktiv gelernt werden kann. Die wesentlichen Gestaltungsprinzipien solcher Lernumgebungen bestehen darin, „dass sie auf authentische Aufgaben oder komplexen Anwendungskontexten beruhen, die Anwendung des Wissens in multiplen Kontexten und unter multiplen Perspektiven vorsehen und ein kooperatives Lernen in sozialen Kontexten fördern." (Schaper u.a. 2000, S. 210)
Ansätze zur Gestaltung von Lernumgebungen auf Grundlage konstruktivistischer Überlegungen sind (vgl. Gerstenmaier u. Mandel 1995, S. 875 ff. sowie Schaper u.a. 2000, S. 210) 1.
der Anchored Instruction Ansatz
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der Cognitive Flexibility Ansatz der Cognitive Apprenticeship Ansatz
Der Anchored Instruction Ansatz beschäftigt sich mit dem Problem des trägen Wissens. Es wird davon ausgegangen, dass die fehlende Anwendungsqualität dieses Wissens mit der Art des Wissenserwerbes zusammenhängt. Um träges Wissen zu verhindern, wird mit einem narrativen Anker gearbeitet, „der Interesse erzeugt, den Lernenden die Identifizierung und Definition von Problemen erlaubt sowie die Aufmerksamkeit der Lernenden auf das Wahrnehmen und Verstehen dieser Probleme lenkt." (Gerstenmaier u. Mandl 1995, S. 875)
Den Lernern werden z.B. anregende Geschichten in Form von Videos dargeboten und anschließend ein komplexes Problem gestellt. Die Lerner müssen dieses Problem eigenständig lösen, wobei alle notwendigen Informationen dem Lerner zur Verfügung gestellt werden 4 Vom Cognitive Flexibility Ansatz wird v.a. die Notwendigkeit betont, dass die Lerner multiple Perspektiven einnehmen sollen, um Übervereinfachungen zu vermeiden (vgl. Mandl u.a. 1997, S. 171). Es wird davon ausgegangen, dass z.B. bei der Lösung von Problemen Vorwissen nicht als geschlossene Einheit aufgerufen, sondern mit multiplen Konzeptpräsentationen zur Problemlösung geeignetes Wissen konstruiert wird. „Zur Induzierung des Aufbaus flexibler, multipler Präsentationen beim Lernenden wird dasselbe Konzept zu verschiedenen Zeiten, in veränderten Kontexten, unter veränderten Zielsetzungen und aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und zu anderen Konzepten in Verbindung gebracht." (Gerstenmaier u. Mandl 1995, S. 876)
Dem Cognitive Apprenticeship Ansatz liegen die anwendungsorientierten Vermittlungsprinzipien der traditionellen Handwerkslehre zu Grunde (vgl.Seel u.a. 1998, S. 91). Es werden hier jedoch anstelle von manuellen kognitive Fertigkeiten betont. Dazu gilt es, die nicht sichtbaren kognitiven Vorgänge sichtbar zu machen. Dies geschieht, indem zuerst ein Experte seine kognitiven Prozesse und angewandte Strategien bei der Lösung eines authentischen Problems verbalisiert. Anschließend bearbeitet der Lerner die Problemlösung selbständig, wobei er veranlasst wird, die Überlegungen ebenfalls auszusprechen und seine Vorgehensweise mit der des Experten zu vergleichen. Der Experte unterstützt ihn dabei. Ziel dieses Ansatzes ist es, strategisches Handlungswissen zu vermitteln. Der Lerner kann in authentischen Lernumgebungen situative Lernerfahrungen machen. Dabei wird nicht nur Wissen erworben, sondern auch die Anwendungsbedingungen dieses Wissens gelernt sowie die Fähigkeit zur flexiblen Nutzung und zum Transfer des Gelernten auf reale Situationen aktiv gefördert, (vgl. Gerstenmaier u. Mandl 1995, S. 877 sowie Reinmann-Rothmeier u.a. 1994, S. 48)
4
Zum Anchored Indstuction Ansatz siehe auch den Beitrag „Die Akustik Lern-CD Regelverstärker" von Mayer in diesem Band.
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Umstritten am konstruktivistischen Ansatz ist v.a. dessen radikale Ausprägung mit seiner Ablehnung instruktionaler Komponenten im Lernprozess (vgl. Tulodziecki 1996, S. 47). Ein weitgehender Verzicht auf Instruktion ist jedoch in vielen Fällen nicht anzuraten (vgl. Blumstengel 1998, S. 128). Auch sind komplexe Lernumgebungen v.a. für Anfänger oft nicht geeignet (vgl. Blumstengel 1998, S. 126). Von Vertretern der konstruktivistischen Position wird befürchtet, dass Vereinfachungen den Wissenstransfer in der Anwendungssituation erschweren. Demgegenüber wird von anderen Ansätzen wiederum betont, dass gerade das Abstrahieren einer Problemstellung deren Übertragung in andere Kontexte begünstigt. Die hier vorgestellten konstruktivistisch orientierten Ansätze zur Gestaltung von Lernumgebungen sind bereits Vertreter neuerer Konzepte, die als Instruktionales Design der zweiten Generation bezeichnet werden. „Diese übernimmt vom Konstruktivismus die Einsicht in die Bedeutung von handelndem Lernen in komplexen Situationen und Problemablaufen. Gleichzeitig wird unterstellt, dass ein Lerner hierfür adäquate mentale Modelle oder andere elaborierte kognitive Strukturen braucht, deren Erwerb sich durch Instruktion erleichtern lässt, welche das benötigte Wissen explizit darstellt und organisiert." (Strittmatter u. Mauel 1997, S. 55)
4. Zusammenfassung Der Einsatz neuer Medien in der Lehre bietet die Möglichkeit, eine stärkere Handlungsorientierung im Unterricht zu unterstützen. Handlungsorientierter Unterricht fördert eine umfassende Auseinandersetzung und aktive Aneignung eines Lerngegenstandes (vgl. Gudjons 1997, S. 10). Soll jedoch ein eLearning Produkt handlungsorientiertes Lernen unterstützen, so ist die Berücksichtigung dafür geeigneter theoretischer Lernmodelle von besonderer Bedeutung. In diesem Beitrag wurden die drei grundlegenden lerntheoretischen Positionen in Hinblick auf das multimediale Lernen vorgestellt. Es handelt sich dabei um den behavioristischen, den kognitivistischen sowie den konstruktivistischen Ansatz. Konstruktivistische sowie verschiedene kognitivistische Ansätze, wie z.B. das entdeckende Lernen von Bruner, berücksichtigen individuelle Unterschiede vielfach stärker und betonen die Handlungsorientierung deutlicher als andere Positionen. Die Vermittlung komplexer Fähigkeiten wie Problemlösungskompetenz, kritisches, vernetztes und ganzheitliches Denken sowie Selbständigkeit werden häufig besser gefördert (vgl. Blumstengel 1998, S. 112 f. u. S. 127). Bei neueren Ansätzen, die als instruktionales Design der zweiten Generation bezeichnet werden, finden auch kognitivistische Aspekte Beachtung. Der Lerner soll nicht mit dem komplexen Lehrstoff alleine gelassen werden, vielmehr sind entsprechend der kognitivistischen Auffassung Maßnahmen anzuwenden, die den Wis-
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senserwerb erleichtern. Die Bedeutung der Wissenskonstruktion mit Hilfe der Instruktion wird dabei besonders hervorgehoben. Die neueren Ansätze können m.E. auch als eine Wiederannäherung an kognitivistische Positionen verstanden werden (vgl. z.B. Blumstengel 1998, S. 113 ff.). Verschiedene (ältere) kognitivistische Ansätze, wie z.B. das entdeckende Lernen von Brunner, fördern eine geleitete Handlungsorientierung ebenso wie die Ansätze des instruktionalen Designs der zweiten Generation (vgl. Kohler 1998, S. 59 f.). Bei einfachen Problemstellungen und für Aufgaben, bei denen das Memorieren von Fakten im Vordergrund steht, bieten sich oft behavioristisch orientierte Lernprogramme an. Weiters eignen sich solche Lernprogramme auch dann, wenn die Lerner in relativ kurzer Zeit über ein ihnen völlig neues Gebiet oder über neue Wissenseinheiten informiert werden sollen und das Ziel lediglich darin besteht, den Lernern einen Überblick zu verschaffen oder ein gewisses Basiswissen bereitzustellen (vgl. Reinmann-Rothmeier u.a. 1994, S. 58 f.). Auch wenn heute in Zusammenhang mit handlungsorientiertem Lernen verstärkt kognitivistische und v.a. konstruktivistische Ansätze Beachtung finden, ist zu bedenken, dass jede Position in bestimmten Lernsituationen ihre Berechtigung hat. Es wäre daher unangemessen, bestimmte Positionen zu verabsolutieren (vgl. Tulodziecki 1996, S. 53).
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Pragmatismus als theoretische Grundlage für die Konzeption von eLearning Michael Kerres und Claudia de Witt
1. Einleitung Von Heranwachsenden und Erwachsenen wird erwartet, dass sie mit den zahlreichen durch elektronische Medien präsentierten Informationen umgehen und ihre Bedeutung beurteilen können, sie zu nutzen wissen und damit für „Bildung als lebenslangen Prozess" zunehmend selbst Verantwortung übernehmen können. Den Lernenden im und durch den Umgang mit digitalen Medien bei der selbstständigen Planung, Organisation und Durchführung von Entscheidungen im Umgang mit Information und Wissen und damit bei ihrem individuellen Wissensmanagement zu unterstützen, ist ein wesentliches Ziel von Bildungsangeboten - gerade mediengestützter Varianten. Bei der Konzeption von eLearning geht es aus dieser Sicht nicht nur darum, Wissen aufzubereiten und in medialer Form zur individuellen .Aneignung" anzubieten, sondern Individuen anzuleiten Wissen in ihrer Lebenswelt handelnd anzuwenden und somit an der Wissensgesellschaft gestaltend teilzuhaben. Dabei scheint eine am Pragmatismus orientierte didaktische Konzeption von Lernangeboten besonders geeignet, um solche Anforderungen von Wissensgesellschaft einzulösen. Dahinter steht die Vorstellung einer Lehr- und Lernkultur, der es nicht allein auf den „Erwerb" von Wissen ankommt, sondern die darauf abzielt, Erfahrungen in didaktischen Arrangements zu ermöglichen und Wissen in situationsbezogenes Handeln transformieren zu können. Der Ansatz des (pädagogischen) Pragmatismus wurde bislang in der Mediendidaktik nur rudimentär aufgegriffen und zum Teil - fälschlicherweise - lediglich als „Vorläufer" einer konstruktivistischen Didaktik rezipiert. Wir sehen den Pragmatismus dagegen als eine eigenständige Position, die zwar vielfältige Bezüge zum Konstruktivismus aufweist, jedoch einen eigenständigen Kern aufweist, der sich bei der Konzeption von (mediengestützten) Bildungsangeboten als ein überaus leistungsfähiges „Werkzeug" erweist. Im Folgenden wird zunächst ein allgemeines Rahmenmodell zur Beschreibung von eLearning-Angeboten erläutert, mit dem sich die didaktischen Implikationen der vorliegenden theoretischen Ansätze einordnen und vergleichen lassen. Die Auseinandersetzung mit der theoretischen Diskussion in der Mediendidaktik soll danach deutlich machen, dass die vorliegenden Modelle für die Didaktik nicht den Status von „Paradigmen" aufweisen, sondern als „Werkzeuge" für die Konzeption von Bildungsangeboten betrachtet werden können. Die Nützlichkeit dieser Werkzeuge wird in der Anwendung sichtbar: Entscheidend ist, ob es ihnen gelingt, zur Lösung bestimmter Bildungsanliegen bzw. -probleme beizutragen.
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Michael Kerres und Claudia de Witt
Damit beziehen wir uns auf den Pragmatismus nach John Dewey. 1 U m die Denkweise des Pragmatismus verständlich zu machen, wird dessen erkenntnistheoretischer Hintergrund skizziert und im Anschluss daran mit der Beschreibung des Inquiry-Prozesses die Bedeutung der pragmatisch-experimentellen Methode verdeutlicht. Abschließend werden didaktische Prinzipien vorgestellt, die auf einer pragmatistischen Handlungs- und Erfahrungstheorie basieren, und die Differenz zwischen konstruktivistischen und pragmatistischen Ansätzen erörtert.
2. Konzeption von eLearning Mit d e m Begriff eLearning sind alle Varianten von Lehr- und Lernaktivitäten gemeint, die das Internet für Information oder Kommunikation nutzen. Das Internet ermöglicht eine flexible Lernorganisation in hybriden (gemischten offline- und online·) Arrangements, die Aufbereitung, Präsentation, Recherche, Bearbeitung von Wissensobjekten, aber auch die Kommunikation und Kooperation zwischen Lernenden und Lehrenden. Einige der Potenziale des eLearning sind: die höhere Aktualität von Lerninhalten, die engere Verzahnung von Lernen mit Arbeitsprozessen, neue Kommunikations- und Kooperationsmuster, Flexibilisierung von Bildungsangeboten durch Trennung von Lemort und Lehrort sowie Lehr- und Lernzeit (vgl. Euler 2001). Damit lassen sich Lemmaterialien und die Betreuung individueller an die Bedürfnisse des Lernenden anpassen, gerade auch im Hinblick auf lebenslanges und arbeitsplatznahes Lernen. Lernende können Lernprozesse in höherem M a ß e auch selbst organisieren. Damit stellt eLearning hohe Anforderungen an die individuellen Metakompetenzen im U m g a n g mit Lernangeboten. Deshalb sind eLearning-Arrangements nur dann lernwirksam, wenn sie mit einer gut durchdachten didaktischen Konzeption einhergehen, die an den Voraussetzungen der Zielgruppen und den Rahmenbedingungen des didaktischen Feldes ansetzen. Es ist also notwendig, neue Medien und didaktische Konzeptionen „integrativ zu verzahnen" (vgl. Seufert u. Mayr 2 0 0 2 , S. 47). Ein eLearning-Angebot kann beschrieben werden als ein Arrangement, das aus folgenden drei Komponenten besteht:
1
Ausgehend von den Ursprüngen des Pragmatismus bei Peirce, James und Dewey gibt es mittlerweile eine Reihe von Ausdifferenzierungen, die z.B. als Neo-Pragmatismus und in Typologien wie normativer, semantischer und methodologischer Pragmatismus beschrieben werden, (vgl. dazu auch Sandbothe 2 0 0 0 u. Lehmann-Rommel 2000)
Pragmatismus als theoretische Grundlage für die Konzeption von eLeaming
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Content Information - medium? code? chanel? Distribution 7 timing? push/pull?
Communication local (FTF) - remote peer to peer ' ' % f | | | learner-tutor
Construction individual cooperative
1 :1,1 : Ν Abb. 1.: Komponenten eines eLearning-Arrangements (aus Kerres u. de Witt 2003)
Die Content-Komponente stellt Materialien für den Lernenden zur Verfügung und soll die erforderlichen kognitiven und motivational-emotionalen Prozessen beim Lernenden anregen. Die Konstruktions-Komponente unterstützt sowohl individuelle als auch kooperative Lernaktivitäten. Diese Lernaktivitäten sind dadurch charakterisiert, dass sie zu einem gegenständlichen Ergebnis führen, wie z.B. eine schriftliche Lösung als Ergebnis der Bearbeitung einer Lernaufgabe. Die KommunikationsKomponente bezieht sich auf den persönlichen Austausch zwischen Lernenden, Tutoren oder Lehrenden. Anders als auf den ersten Blick ähnliche Modelle (wie etwa Schneider u.a. 2002) ist das 3C-Komponenten-Modell deskriptiv angelegt und macht absichtlich keine Aussagen über die „richtige" Konzeption dieser Elemente. Content, Konstruktion und Kommunikation stehen in einem relationalen Verhältnis und müssen nicht notwendigerweise in allen eLearning-Arrangements in gleichem Maße und in gleicher Form vorkommen. Es hängt vielmehr von Randbedingungen des didaktischen Feldes ab, wie und in welchem Umfang die Komponenten in einem konkreten Angebot einzulösen sind. So benötigen learning communities keine didaktisch strukturierten Lernmaterialien, während die Content-Komponente ein wichtiger Bestandteil von Lernarrangements darstellt, bei denen Wissen über bestimmte Sachverhalte eine Voraussetzung für andere kommunikative oder konstruktive Lernaktivitäten darstellt (vgl. Kerres u. de Witt 2003). Für einen Lernerfolg kommt es darauf an, den „richtigen" Mix dieser Komponenten zu finden. Notwendig sind dafür mediendidaktische Konzeptionen, die auf dem Hintergrund von theoretischen Ansätzen begründet werden können. Bisher haben bei der Entwicklung von medialen Arrangements die „einflussreichsten Theoriesysteme der letzten Jahrzehnte - Behaviorismus, Kognitivismus und Konstruktivismus" Eingang gefunden (Baumgartner 2003, S. 3). Der Behaviorismus fokussiert insbesondere die Content-Komponente, und damit das Lernmaterial. Er fordert eine Aufbereitung der Lernmaterialien in möglichst kleinschrittige Lerneinheiten, damit der Lernfortschritt des Lernenden jederzeit möglichst präzise geprüft werden kann. Anders als oft behauptet, setzt der Behavi-
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orismus sehr wohl einen aktiven Lerner voraus: Nur durch Lernaktivitäten und die Bearbeitung von Lernaufgaben ist es möglich, die Performanz des Lernenden zu erfassen, d.h. der Lernfortschritt ist nur aus dem Verhalten des Lernenden im Umgang mit dem Lerninhalt zu erkennen. Eine Reduktion eines eLearning-Angebotes auf die Content-Komponente schließt ein behavioristischer Ansatz damit aus, es sind immer konstruierende Aktivitäten des Lerners - in kleinen Lernschritten - vorzusehen. Zutreffend ist dagegen, dass die konstruierenden Aktivitäten des Lernenden im behavioristischen Ansatz - absichtlich - vergleichsweise eng ausgelegt sind: Skinner selbst forderte FreitextAufgaben, die der Lernende nach Fertigstellung selbst auf Richtigkeit prüfen sollte. Zunehmend setzten sich jedoch Tests mit Auswahlverfahren durch, schlicht weil diese mit dem Computer wesentlich einfacher auszuwerten sind. Die Bearbeitung von ganzen Fällen oder komplexen Problemen wird im behavioristischen Ansatz dagegen - vor allem für Anfänger - als wenig günstig betrachtet, weil diese in der Regel „zu umfangreich" sind, als dass Rückmeldungen über die Bearbeitung vom Lerner angemessen verarbeitet werden können. Grundsätzlich wird eine analytische Zergliederung des Lernstoffs für sinnvoll erachtet, der erst sukzessiv zu größeren Sinneinheiten zusammengeführt werden sollte. Die kommunikative Komponente spielt im Behaviorismus eine untergeordnete Rolle, soweit es personale Kommunikation meint. Die Rückmeldung zu den Lernschritten sollte durch das interaktive Computersystem erfolgen, die zuverlässig, „emotionslos" und beliebig oft wiederholt abrufbar ist, und damit persönliche Kommunikation nicht zwingend erforderlich ist. Will man diejenigen Ansätze, die dem Label Konstruktivismus zugeordnet werden, zu den Komponenten zuordnen, ergibt sich eine größere Bandbreite. So betont der cognitive flexibility Ansatz (Spiro u.a. 1991), dass Lerninhalte unterschiedliche Sichtweisen präsentieren sollen, damit das Wissen in unterschiedliche Aufgabenkontexten und Anwendungssituationen flexibel eingebracht werden kann (zur Kritik s. Schulmeister 1997, S. 159). Auch der Ansatz der anchored instruction (Bransford u.a. 1990) bezieht sich auf die Inhaltskomponente: Es sollen Ankerreize gesetzt werden, die authentische Problemsituationen beinhalten und den Lernenden dazu anregen, sich mit einem Problem intensiv auseinander zusetzen. Dabei sollen die Probleme in zusammenhängende Geschichten eingebettet werden. Die Gestaltung der kommunikativen Komponente wird dabei wenig ausgearbeitet: „Es überrascht, dass nur so wenige Vertreter des Konstruktivismus, die alle die Relevanz der .negotiation of meaning' betonen, sich intensiver um den Akt des kommunikativen Aushandelns von Bedeutungen selbst kümmern." (Schulmeister 1996, S. 78)
Anders der Ansatz des cognitive apprenticeship (Brown u.a. 1989) und vor allem der communities of practice (Lave u. Wenger 1991), der sich primär auf die Kom-
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munikationskomponente bezieht, und Lernen als Partizipation an der Kommunikation einer Gemeinschaft von Expertinnen beschreibt. Ingesamt betonen alle diese Ansätze die Notwendigkeit eigenständiger konstruktiver Aktivitäten. Das 3C-Komponentenmodell unterscheidet allerdings zwischen rein kognitiv-konstruierenden Aktivitäten im Umgang mit Lernmaterial (die der ContentKomponente zugeordnet werden), und solchen konstruierenden Aktivitäten, bei denen durch individuelles oder kooperatives Handeln etwas Gegenständliches „hergestellt" wird: ein Text, ein Bild ... Am ehesten ist damit der Ansatz des Konstruktionismus sensu Papert (vgl. Harel u. Papert 1990) dieser Komponente zuzuordnen, da er die gegenständlich konstruierende Aktivität des Lernenden betont. Ganz allgemein kann für konstruktivistische Ansätze als charakteristisch gelten, dass der Bearbeitung von Fällen, Problemen und Projekten, sei es individuell oder in Gruppenarbeit, eine besondere Bedeutung zukommt (vgl. Reinmann-Rothmeier u. Mandl 2001). Um konstruierende Aktivitäten der Lernenden anzuregen, sollen möglichst authentische Situationen und komplexe Problemfälle vorgegeben werden. Aus didaktischer Sicht scheinen diese konstruktivistischen Ansätze insgesamt weniger eine bestimmte Erkenntnistheorie oder gar ein bestimmtes Menschenbild, sondern zunächst vor allem eine bestimmte Granularität des bevorzugten Lemschrittes zu einen, die sie von behavioristischen Ansätzen unterscheiden. Sie beziehen sich alle auf größere Lerneinheiten als die kleinen Lernschritte, in die der Lernstoff beim Behaviorismus „atomisiert" wird, und kommen damit Erkenntnissen der Kognitionspsychologie nach, wonach sinnhaftes Lernen sich nur in größeren Einheiten vollziehen kann, in denen der Lernende ein grundlegendes Verständnis der sachlichen Zusammenhänge entwickeln kann. Hieraus ergibt sich, dass auch für die konstruierenden Aktivitäten vor allem komplexere Arbeitsvarianten vorgeschlagen werden als im behavioristischen Ansatz, wenn es um Fälle, Probleme und Projekte geht.
3. Zur theoretischen Diskussion in der Mediendidaktik Als am meisten verbreiteter theoretischer Ansatz der mediendidaktischen Diskussion am Ende des 20. Jahrhunderts kann die Position des „gemäßigten Konstruktivismus" gelten (vgl. Baumgartner 2003; s.a. die Kritik hieran bei Kerres u. de Witt 2002). Ausgangspunkt war das bekannte pädagogische Problem des so genannten „trägen Wissens", das in Bildungsinstitutionen erworben wird, in anderen Kontexten aber schwer oder kaum anwendbar ist. Mit dem Begriff des Konstruktivismus hat sich ein Label entwickelt, das zu einer zunehmend vagen Floskel wurde für etwas Neues, Positives, das sich von etwas Altem, Überkommenem (dem „Behaviorismus") absetzt, und sich für nahezu alle
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gängigen Modelle strapazieren lässt (s.a. Terhart 1999). Mit dem „gemäßigten" Konstruktivismus wird anerkannt, dass „rein" konstruktivistische Ansätze - ohne jede instruktionelle Komponente - wenig problemadäquat sind, insbesondere weil sie der gesellschaftlichen Funktion von Bildung nicht gerecht werden. Der Konstruktivismus hat die theoretische Debatte der letzten Jahrzehnte in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen geprägt. Kein anderer Begriff ist gerade in der Mediendidaktik so präsent wie dieser. Konstruktivismus wurde zur Chiffre für die Abkehr von Modellen des computergestützten Lernens, bei der die optimale Steuerung und Regelung des Lernprozesses seitens eines technischen Systems angestrebt wird. Es rückten Ansätze in den Vordergrund, die komplexere individuelle und soziale Lernaktivitäten betonen. Doch die damit einhergehende Vorstellung einer „paradigmatischen Überwindung" des Behaviorismus durch den Konstruktivismus muss aus Sicht der Mediendidaktik in Frage gestellt werden. Der Mediendidaktik muss es um die Konzeption von Lernangeboten gehen, ihr muss daran gelegen sein, über ein möglichst breites Repertoire an methodischen Varianten in Abhängigkeit von Parametern des didaktischen Feldes zu verfügen. Die Vorstellung, dass es den einen besten Unterricht gibt, ist in der Allgemeinen Didaktik und Lehr-Lernforschung längst überwunden (vgl. Terhart 1997). Aus Sicht der Mediendidaktik erscheint die Suche nach dem einen richtigen Paradigma überraschend fragwürdig, ja obsolet. Die Konstellationen, in denen mit Medien gelernt wird, sind so vielfältig, dass didaktische Prinzipien wie authentische Einbettung, Kooperation beim Lernen oder Lernen durch Lehren genauso wie positive oder negative Verstärkung und shaping mögliche, aber nicht prinzipiell vorteilhafte Methoden darstellen. Bei einer theoretischen Fundierung von Mediendidaktik kann es nicht darum gehen, das eine, richtige Paradigma des Lernens oder Lehrens zu identifizieren. Die zentrale Frage der Mediendidaktik lautet vielmehr, unter welchen Bedingungen Menschen mit Medien erfolgreich lernen können. Es geht darum, den Prozess zu beschreiben, wie Lernmedien gestaltet werden können, um bestimmte Zielhorizonte zu erreichen. In der Beschreibung der Prozesse werden die vielfältigen Entscheidungsdimensionen sichtbar, die sich in einem solchen Gestaltungsproblem stellen („Didaktisches Design"). Die Suche nach dem einen überlegenen, paradigmatischen Ansatz für das Lernen und Lehren hat die theoretische Weiterentwicklung der Mediendidaktik mehr blockiert als befördert. Es müsste vielmehr darum gehen, die Komplexität sozialer Realität anzuerkennen, und damit auch anzuerkennen, dass die Suche nach dem „one best way" für die Frage der Gestaltung von Lernangeboten irreführend ist. Diese Sicht entspricht der Position des Pragmatismus, der damit perspektivisch eine Basis für eine alternative theoretische Fundierung von Mediendidaktik bietet.
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Aus Sicht des Pragmatismus kann es nicht um den Nachweis gehen, dass es bestimmte „überlegene" didaktische Modelle für die Gestaltung von Lernangeboten gibt. Der Pragmatismus betont zum einen die Vorläufigkeit aller Erkenntnis und zum anderen die Nützlichkeit als Kriterium zur Bewertung von Theorien und Modelle. Der Pragmatismus ist keine neu zu entdeckende Modeströmung, die die bisherigen Paradigmen um eine neue Variante bereichert oder gar in Konkurrenz zu den bisherigen Ansätzen, etwa des Behaviorismus oder Konstruktivismus, tritt. Es handelt sich eher um einen Ansatz, der „quer" zu bisherigen Konzepten liegt. Er bewertet die anderen Ansätze nicht als solches positiv oder negativ, sondern fragt jeweils in einer und für eine Situation, welches Konzept welchen Beitrag für eine Problemlösung liefert, und dabei die Perspektiven menschlichen Handelns und die Handlungsfähigkeit von Menschen erweitert. Reinmann-Rothmeier und Mandl (2001) stellen eine Nähe der konstruktivistischen Position zum Pragmatismus Deweys her: Sie bezeichnen ihn als einen „vielzitierten Vorlaufer der Konstruktivisten, (...) der sich als Vertreter des amerikanischen Pragmatismus für eine Unterrichtsgestaltung einsetzt, die 'verständiges Lernen' und darüber hinaus demokratisches Zusammenleben fördert. Nach Dewey (1981) lassen sich Lernprozesse nicht vom sozio-kulturellen und historischen Kontext trennen, weshalb handlungs- und erfahrungsorientierte Methoden wie das Lernen am Projekt besonders wichtig sind."
So wird Dewey auch als der wichtigste Vertreter des situierten Lernens gesehen (vgl. Duffy u. Cunningham 2001 sowie Hung 2002). Die Vorstellungen des Lernens aus Sicht des pädagogischen Pragmatismus sind u.E. bislang im Kontext der Diskussion über eLeaming nicht systematisch aufgegriffen und ausgearbeitet worden. Der Pragmatismus ist einerseits ein „altes" Konzept, das seine Wurzel im 19. Jahrhundert hat, aber mit seinem Denken in Relationen und der Anerkennung der situativen Kontingenzen als Grundlage von bildenden Erfahrungsprozessen durchweg als innovativ zu bezeichnen ist, und wichtige Impulse für die theoretische Weiterentwicklung der Mediendidaktik beinhaltet, jenseits der drei die Diskussion beherrschenden „Paradigmen" von Behaviorismus, Kognitivismus und Konstruktivismus. Dem Pragmatismus wurde teilweise eine „Nähe" zum Behaviorismus nachgesagt, was als Widerspruch zur Affinität zu konstruktivistischen Überlegungen interpretiert wurde. Tatsächlich besteht im Hinblick auf die erkenntnistheoretische Position eine weit reichende Affinität zwischen Konstruktivismus und Pragmatismus, wie bereits dargestellt wurde. Zur Frage der Ziele von Unterricht und Erziehung hat Dewey, etwa in einem seiner Hauptwerke „Demokratie und Erziehung", eine eigenständige pädagogische Position jenseits des Behaviorismus entwickelt. Allerdings betrachtet der Pragmatismus die Konzepte und Methoden, die Behaviorismus, Kognitivismus, Konstruktivismus und andere hervorgebracht haben, eben als einen gedanklichen „Steinbruch" für die Gestaltung von Bildungsangeboten:
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Michael Kerres und Claudia de Witt „Theorien sind, wie John Dewey dies prägnant formulierte, Werkzeuge. Wie im Falle aller Werkzeuge liegt ihr Wert nicht in ihnen selbst, sondern in ihrer Fähigkeit zu arbeiten, die sich in den Konsequenzen ihres Gebrauchs zeigt." (Gerstenmeier 2002, S. 165)
4. Pädagogischer Pragmatismus und Didaktik Die Philosophie des Pragmatismus entwickelte sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts in den USA vor allem durch die Arbeiten von Charles Peirce, William James, George H. Mead und John Dewey. Das Aufkommen des Pragmatismus korrespondiert mit gesellschaftlichen Umwälzungen infolge der heraufziehenden Industriegesellschaft. Dies ging einher mit der Forderung an Wissenschaft, praktisch umsetzbare Problemlösungen für die vielen gesellschaftliche Herausforderungen der Zeit zu entwickeln. Ein Begründer des amerikanischen Pragmatismus, Williams James, verlangte eine Orientierung von Wissenschaft und Erkenntnis an Nützlichkeit, Wert und Erfolg und definierte diese als Maßstab wissenschaftlichen Arbeitens: "Wahr ist das, was sich durch seine praktischen Konsequenzen bewährt" (Störig 1992, S. 596). John Dewey (1859-1952) hat diese Denkrichtung in pädagogische Zusammenhänge eingebracht. Als Gegenposition zum philosophischen Idealismus rücken mit dem Pragmatismus (vom griech. „pragma": das Getane; aber auch das, was zu tun ist; das Handeln; das Tun, die Tätigkeit) Handlungen in das Zentrum der Betrachtung. Angesichts der vielfachen gesellschaftlichen Verwertungen wird die mit dem Idealismus verbundene „Suche nach Gewissheit" aufgegeben zugunsten einer nüchterneren Auffassung von Wissenschaft als Prozess und Werkzeug (Dewey 1929, vgl. Sandbothe 2000 sowie Lehmann-Rommel 2000). Damit wird auch eine gänzlich andere Auffassung von Wissenschaft sichtbar und in der damit zusammenhängenden Forderung nach einem klaren Theorie-PraxisBezug. Statt Wahrheitsfindung geht es dem Pragmatismus auch in der Wissenschaft in einem auf die Lebenswelt ausgerichteten Handeln um „experimentelle Erkenntnis", das sich durch folgende Merkmale auszeichnet: -
Erstens verlangt sie keine kontemplative Stille, sondern offenes Handeln und bewusstes Verändern. Zweitens werden diese Verfahren von Ideen gesteuert, die zugleich erprobt werden. Drittens ist das Ergebnis der Forschung - die experimentelle Erkenntnis - weder etwas Eigenständiges noch etwas Kontemplatives, sondern es ist die praktische Beherrschung kontingenter, externer, instrumenteller Verhältnisse, durch die sich Veränderungen vorwegnehmen und Erfahrungen regulieren lassen. (vgl. Allen 2000, S. 196)
Ebenso wie der Behaviorismus lehnt der Pragmatismus es ab, den Menschen in erster Linie als ein „in sich" operierendes Wesen zu betrachten. Das Ich wird immer als ein sich in der Welt verhaltendes Ich gesehen. Allerdings reduziert der Pragmatismus in Abgrenzung zum Behaviorismus den Menschen nicht allein auf dessen beobachtbares Verhalten, sondern er versteht Handeln als Ausgangspunkt und
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gleichsam als Resultat von denkender Erfahrung. Nicht beobachtbares Verhalten interessiert ihn, und wie Denken, Fühlen, Wollen und Handeln kontinuierlich Erfahrungen begründen. Es geht bei dem Wirkungszusammenhang von Reiz und Reaktion nicht um eine unidirektionale Wirkungskette, sondern vielmehr um einen „komplexen Funktionskreis ('circuit"), in dem die Reaktion auf den Reiz nicht als passiv induziertes Produkt gesehen wird sondern (...) selbst, aktiv, auf den Reiz zurück (...) wirkt." (Nagl 1998, S. 118)
4.1
Zum Verhältnis von Wissen, Denken und Handeln
Für die Didaktik ist die Frage zentral, in welchem Verhältnis Wissen und Handeln stehen. Resultiert Wissen aus Handeln oder folgt Handeln dem Wissen zeitlich nach? Handlungstheorien gehen davon aus, dass der Mensch primär ein Handelnder ist und die Lebenswelt durch Handlungen konstituiert wird. Mit Konsequenz hat diese Position nach Kyrö (2000) keine der bisherigen Lernparadigmen ernsthaft verfolgt. Am ehesten tue dies noch der Konstruktivismus, aber er kategorisiere sich selbst als Nachfolger des kognitiven Paradigmas und gehe nicht in die Tiefen des Pragmatismus, sondern bleibe am „kognitivistischen Rand" stehen. Außerdem würde der Lernende in dem konstruktivistischen Paradigma als „Konstrukteur von Wissen" gesehen und nicht primär als handelndes Subjekt: „Kein Zeichen von gefühlvoller oder handelnder Ganzheit oder menschlicher Einzigartigkeit kann in den bisherigen Paradigmen gefunden werden. Die Konstruktivisten haben jedoch versucht die Einzigartigkeit zu erreichen, indem sie behaupten, dass jedes Individuum verschieden ist, seit er oder sie Wissen entsprechend seiner oder ihrer individuellen Vergangenheit konstruiert. Für die Pragmatisten, Dewey z.B., sind Emotionen selbstverständlich. Für ihn werden Bedeutung, Gefühle und Interessen in der Konfrontation mit Dingen in dem Interaktionsprozess geboren." (Kyrö 2000, S. 8; eigene Obersetzung)
Deshalb schlägt Kyrö vor, die Grundlagen für Wissen in der Philosophie des Pragmatismus zu suchen, der von Handlung - und nicht von Wahrnehmung - als essentieller Kategorie ausgeht. Der Pragmatismus sei noch nicht konsequent als Grundlage für eine Theorie des Lernens und Lehrens identifiziert worden, auch wenn er häufig in diesem Kontext zitiert wird. Für den Pragmatismus entsteht Wissen durch Handlung und wird evaluiert durch und für Handlung. Handlung ist Voraussetzung und Ziel jedes Erkennens. Und was Handlung und Evaluation leitet, sind sozial vereinbarte Bedeutungen und subjektive Interessen. Damit wird der Mensch ein außergewöhnlicher, Risiken übernehmender, kreativer, freier und verantwortlich Handelnder (vgl. Kyrö 2000). Auch Denken ist nicht Selbstzweck, sondern nach Dewey „ein Mittel, um das Verhalten weise zu ordnen. (Es wird zu praktischen Zwecken benutzt, hat aber auch) ein eigenes Ziel. Das ist Wissen." (Blanshard 1994, S. 19)
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Denken hat also sowohl ein theoretisches als auch ein praktisches Ziel. Wir lernen aber nicht von den Dingen an sich, sondern durch den Gebrauch der Dinge. Und Denken ist ein Instrument zur Hervorbringung von Neuem im Gegensatz zur Vorstellung von ontologisch (Vor-) Gegebenem, das im Denken nur rezipiert wird.
4.2
Rekonstruktion von Erfahrung
Erfahrung ist das „Herzstück" einer am Pragmatismus ausgerichteten Pädagogik und besteht aus den Prinzipien der Kontinuität und der Interaktion (Dewey 1938b). Das Prinzip der Kontinuität bedeutet, dass Menschen durch Lernerfahrungen verändert werden und diese Veränderungen ihrerseits die Qualität der folgenden Erfahrungen beeinflusst. Damit wird ein Lernprozess als Entwicklungsprozess beschrieben, der nur dann Wachstum bedeutet, wenn diese Entwicklung zu weiterem Wachstum anregt. So sollte jede Erfahrung als Motivation wirken, Interesse wecken und Initiative und Ziele entstehen lassen. Mit dem Prinzip der Interaktion wird das Wechselspiel von gegenständlichen und zuständlichen Bedingungen bezeichnet. Zusammen bilden sie die Situation. Es findet also immer eine Wechselwirkung zwischen Individuum und Umgebung statt. Die beiden Prinzipien der Kontinuität und Interaktion sind nicht voneinander zu trennen. Sie markieren den Längs- und den Querschnitt der Erfahrung. Verschiedene Situationen folgen aufeinander, aber durch das Prinzip der Kontinuität wird jeweils etwas von der früheren Situation auf die nachfolgende übertragen. Was ein Individuum an Wissen und Fertigkeiten in einer bestimmten Situation erworben hat, wird zum Instrument für ein wirksames Verstehen und Behandeln der nachfolgenden Situation (vgl. Dewey 1938b). Wesentlich dabei ist, dass damit ein zeitlich organisierter, fortlaufender Lernprozess anvisiert ist. In Lernsituationen werden vergangene, gegenwärtige und zukünftige Erfahrungen in Verbindung gebracht: „Erkenntnis und Wissen sind nicht Selbstzweck, sondern Teil einer zweckgerichteten Handlung; Erfahrung ist ein Ausschnitt der Handlungspraxis. Der Mensch ist nicht unbeteiligter Zuschauer sondern ein Handelnder, der in einem Erfahrungsprozess die Welt experimentierend gestaltet und zu diesem Zweck erkennt. Erfahrung steht dabei für den Vollzug des kognitivreflexiven Selbstbezugs, der durch das kontrollierte, experimentelle Handeln ermöglicht wird. In der Erfahrung kommen das Erfahrene und die Erfahrung des Erfahrenden in einer Einheit vor. Den Prozesscharakter von Erfahrung beschreibt Dewey mit der pragmatisch-experimentellen Methode (inquiry)." (Gimmler2002, S. 276)
Dieses fortlaufende Lernen ist immer auf bestimmte Situationen bezogen, und in diesen Situationen konstituiert sich eine Relation von vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Handeln: Gegenwärtiges Handeln kann nur dann beurteilt und sein Sinn abgeschätzt werden, wenn die Vergangenheit und die Zukunft mit gedacht werden. Das heißt aber z.B. nicht, dass die Zukunft gegenüber dem gegenwärtigen Handeln den Vorrang erhält. Dies bedeutet nämlich eine gleichwertige
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Anerkennung der Zufälligkeiten und relationalen Zusammenhänge, unter denen das gegenwärtige Handeln stattfindet. „An Zukunft zu denken ist die einzige Weise, Gegenwart zu beurteilen und ihren Sinn abzuschätzen. (...) Freiheit liegt darin, die Möglichkeiten der Gegenwart für das eigene Zielverfolgen auszuschöpfen." (Lehmann-Rommel 2001, S. 149)
Es ist die Fähigkeit zu unterscheiden zwischen unmittelbaren Bedürfnissen und der Reflexion von Bedingungen und möglichen Konsequenzen des jeweiligen Handelns. Damit geht es um das situationsbezogene Einschätzen von zukünftigen Konsequenzen für die eigenen Ziele. Hierbei hilft ein „temporaler Perspektivwechsel", mit dem das eigene Handeln von einer anderen Perspektive wahrgenommen wird, und der letztlich zur „Rekonstruktion von Erfahrung" führt. Erst durch das Erkennen, wie eigene Erfahrungen entstanden sind, wird ein „bildender Prozess" möglich, der Implikationen für Handeln in der Zukunft eröffnet.
4.3
Inquiry als pragmatisch-experimentelle
Methode des Lernens
In der Didaktik wurde der Pragmatismus vor allem durch die Methode des Projektunterrichts bekannt (vgl. Boutemard 1997, Meyer 1999, aber auch Bittner, 2001). Mit der Projektmethode sind die didaktischen Prinzipien der Selbsttätigkeit, Lebensnähe, Ganzheitlichkeit und Verantwortlichkeit verbunden. Es geht dabei nicht nur um eine sinnhafte Erfassung der Bedeutung von Gegenständen, sondern Erkenntnis fordert neben dem theoretischen Gehalt immer auch eine „Nützlichkeit" von Tätigkeiten und Gegenständen, aber auch die Einbeziehung sozialer Werte. Inhalt und Methode stehen dabei also in einem engen Verhältnis. Die Methode impliziert das Arrangement der Inhalte. Niemals besteht die Methode als etwas außerhalb des Materials. Und es geht auch nicht darum, ein fest strukturiertes Kanonwissen zu vermitteln, sondern Erkenntnis gewinnt der Lernende, in dem er sich mit der Welt auseinandersetzt und Erfahrungen macht. Erfahrung machen ist dabei kein gedankenloses Tun, sondern immer ein geistiger kreativer Prozess in Auseinandersetzung mit dem Gegenstand (vgl. Dewey 1916/2000). Es geht Dewey „um die Auseinandersetzung mit Problemen und die Erarbeitung möglicher Lösungsvorschlage, die immer hypothetischen Charakter besitzen und Teil eines fortlaufenden Prozesses der Weiterentwicklung sein sollen." (Speth 1997, 20 f.)
Deweys Lernziel orientiert sich an der Prozesshaftigkeit und Situationsgebundenheit von Ereignissen.
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Michael Kerres und Claudia de Witt „Eine spezialisierte ursprüngliche Fähigkeit sichert zwar unmittelbar Erfolge, aber sie ist wie ein Fahrschein, der nur für eine bestimmte Strecke gilt." (Dewey 1916/2000, S. 69)
Wenn aber beim Erlernen einer Handlung „Methoden entwickelt werden, die in anderen Situationen verwertbar sind, eröffnet (dies) die Möglichkeit dauernden Fortschreitens. Wichtiger noch ist die Tatsache, dass das menschliche Wesen die Gewohnheit zu lernen erwirbt: es lernt zu lernen." (Dewey 1916/2000, S. 69) Das Grundprinzip der experimentellen Methode erläutert Dewey 1916 in „Demokratie und Erziehung" (S. 170): „Die charakteristischen Merkmale der Methode sind identisch mit den charakteristischen Merkmalen des Denkens. Es sind folgende: Erstens, dass der Schüler mit wirklicher, situativer Erfahrung zu tun hat, dass eine kontinuierliche Aktivität vorhanden ist, an der er wirklich interessiert ist; zweitens dass sich in dieser Situation ein wirkliches Problem entwickelt, das zum Nachdenken anregt; drittens dass er die Informationen besitzt und Beobachtungen macht, die notwendig sind, um das Problem zu bewältigen; viertens dass er mögliche Lösungen oder Hypothesen in geordneter Weise entwickelt, für die er verantwortlich ist; fünftens dass er die Möglichkeit und die Gelegenheit hat, seine Ideen oder Hypothesen durch praktische Anwendung zu testen, ihre Bedeutung zu klären und ihren Wert selbstständig zu entdecken." Die pragmatisch-experimentelle Methode („inquiry") hat ein allgemeines Muster: Phasen
Strukturmuster
Merkmale der Erfahrung
1. Phase
Die unbestimmte Situation
2. Phase
Institution eines Problems
Verwunderung, Konfusion, Zweifel; Qualitäten der Situation sind noch unbestimmt Vermutende Antizipation: vorläufige Interpretation der gegebenen Situationselemente, denen das Bewirken gewisser Konsequenzen zugeschrieben wird
3. Phase
Konkretisierung einer Problemlösung
Sorgfältiger Überblick: Untersuchung, Inspektion, Exploration, Analyse zur Definition und Klärung des anstehenden Problems
4. Phase
Vernünftiges Begründen
Konsequente Ausarbeitung einer vorläufigen Hypothese, wird mit einer größeren Menge an Tatsachen in Einklang gebracht
5. Phase
Bewährung der Problemlösung
Gestaltung der ausgelegten Hypothesen als einen Handlungsplan und Anwendung auf den bestehenden Zustand der Situationsverhältnisse, um antizipiertes Ergebnis zu erreichen; Testen der Hypothese
Abb. 2: Strukturmuster der experimentellen Methode und Merkmale der Erfahrung (Dewey 1938a)
4.4
Die „experimentelle
Methode" nach Dewey beim
eLearning
Im Folgenden werden die Phasen des Inquiry auf ein typisches eLearning-Seminar im Hochschulkontext angewandt, um die Merkmale des Inquiry-Prozesses zu verdeutlichen:
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1. Phase: Die unbestimmte Situation Ein/e Studentin meldet sich in diesem Semester zu einem Seminar an, wie er/sie dies bereits für viele Seminare zuvor gemacht hat. Anders ist dieses Mal allerdings, dass dieses Seminar als eLearning-Seminar mit Präsenz- und Onlinephasen ausgewiesen ist. Als das erste reale Treffen stattfindet und der/die Dozentin die Seminarstruktur vorstellt, ist die Situation für den/die Studenten/in auch noch nicht problematisch. Dies ist eine durchaus vertraute Situation. Diese Ausgangslage ist demnach weniger von intellektuellen, reflexiven, vielmehr von intentionalen Handlungen bestimmt. Als aber thematisiert wird, dass die Gruppenarbeit mit Studierenden aus einer Partneruniversität online stattfinden soll, wird die gewohnte Lernsituation gestört, „problematisch". Der/die Studentin befindet sich in einer unbestimmten Handlungssituation, da er/sie noch keine Erfahrungen mit dieser Lernform gemacht hat. Die Störung ist weder nur durch den Lernenden noch nur durch seine Umgebung bedingt sondern durch deren wechselseitiges unsicheres Verhältnis. Die Interaktion zwischen dem Lernenden und seiner Lernumgebung ist unausgewogen. Um mit dieser unsicheren, problematischen Situation umzugehen, setzt ein Planungs- und Transformationsprozess ein. 2. Phase: Die Problemsituation In der zweiten Phase geht es um eine nähere Bestimmung des Problems. Die Problemsituation wird kognitiv wahrgenommen und es findet eine Intellektualisierung der Schwierigkeit statt, die zunächst unmittelbar erfahren wurde und nun gelöst werden muss. Erfolgreich ist man, wenn man das Problem definieren, also den Sinn des Problems entwickeln kann, der in der unbestimmten Situation gründet. Und die Art, wie das Problem begriffen wird, entscheidet, welche spezifischen Vorschläge für die Lösung beibehalten und welche fallengelassen werden. Die Art, wie das Problem begriffen wird, ist das Kriterium für die Relevanz und Irrelevanz der Hypothesen und begrifflichen Strukturen, die als nächstes folgen. So beobachten einige Teilnehmerinnen, dass noch keine Vorschläge für die schriftlich zu behandelnden Fragestellungen vorliegen und lokalisieren das Problem darin, dass im Gegensatz zu einem realen Seminar ein Online-Seminar ein viel größeres Maß an Selbstorganisation und an Verantwortung für das fachliche Gelingen erfordert. Sie stellen in dieser Phase des Lernprozesses fest, dass das netzbasierte OnlineSeminar von der kontinuierlichen Beteiligung und Kommunikation aller Teilnehmer abhängig ist. In dieser Situation wird das Problem in der mangelnden Selbstorganisation und Kooperation gesehen und die Erfahrung gemacht, dass in diesem Online-Seminar gegenüber einer Präsenzveranstaltung eine offenere Lernsituation vorherrscht, die nur durch die kontinuierlichen Aktivitäten der Teilnehmerinnen gestaltet werden kann. 3. Phase: Die Konkretisierung einer Problemlösung Der erste Schritt zu einem möglichen Lösungserfolg besteht darin, die festen Bestandteile der Situation herauszusuchen, d.h. solche, die geklärt sind. Es werden in dieser Phase Materialien gesucht und Informationen beschafft, es werden Beobachtungen gemacht, die zur Problemlösung notwendig sind. In dieser Phase kommt es auf eine gute Zusammenarbeit von Perzeption und Konzeption an. Die
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Perzeptionen betreffen die Beobachtung, Lokalisierung und Beschreibung des Problems. Die Konzeption betrifft die Entstehung einer aufblitzenden Idee als möglicher Lösung, in die die Beobachtungen eingehen. Das Problem wird also mit Hilfe solcher Informationen und Fakten präzisiert, die vorher keine Bedeutung für den Lernenden hatten. In unserem Fall sehen sich die Studierenden des OnlineSeminars beispielsweise die bisherige Arbeitsergebnisse an und stellen dabei fest, dass zwar gute Texte erstellt worden sind, dass aber über diese Texte keine Kommunikation stattfindet und damit auch keine Weiterentwicklung des Seminars. Außerdem wird festgestellt, dass sich der Dozent sehr stark zurückhält. Daher kommt eine Studentin auf die Idee, sich als Moderatorin einer Gruppe einzusetzen und in dieser Funktion die Diskussion über die Inhalte anzuregen und weiterzuführen. Sie besorgt sich für ihr erkanntes Problem weitere relevante Informationen über das Internet. 4. Phase: Das vernünftige Begründen und die rationale Durcharbeitung Wenn man durch die Verbindung von Beobachtung und Ideeentwicklung eine der möglichen Problemlösungen gefunden hat, ist man schnell verleitet, diese unmittelbar zu akzeptieren. Aber eine Schlussfolgerung bedarf der Begründung. Deshalb ist in dieser Prozessphase eine rationale Schlussfolgerung notwendig, die die Bedeutungsinhalte von Ideen, Hypothesen in ihren Verhältnissen zueinander entwickelt, oder aber die Modifikation der Hypothese ist erforderlich. Hypothesen werden aufgestellt, um die möglichen Entwicklungen der vorliegenden Tatsachen in die Zukunft zu projizieren, eine Lösung des Problems zu antizipieren, aber nicht zu garantieren. Informationen müssen dabei auf neue konstruktive Weise verknüpft werden. Es handelt sich hier um einen Denkprozess der Re-Organisation von Untersuchungsmaterial und von Bedeutungen. Die rationale Schlussfolgerung ist ein Prozess des Denkens oder vernünftigen Argumentierens, der zu neuen Tatsachen, Konzeptionen und Wahrheiten führt. Diese wird in unserem Beispiel dadurch deutlich, dass die Studentin die Hypothese aufstellt, dass der Kommunikationsfluss in der Gruppe größer würde, wenn die unterschiedlichen Leistungsniveaus der Teilnehmer als ein Vorteil für die aktive Aufgabenbewältigung genutzt werden. Die rationale Schlussfolgerung der Studentin besteht also darin, dass die Kommunikationssituation nicht nur durch die studentische Moderation verbessert wird, sondern diese dazu ermutigen kann, die unterschiedlichen Leistungspotentiale der Teilnehmer zu wecken. Die Moderatorin weiß jetzt z.B., dass es technisch erfahrene Teilnehmerinnen gibt. Sie schlussfolgert, dass die technische Unwissenheit und die damit verbundene Unsicherheit und Zurückhaltung der anderen Teilnehmerinnen verringert werden kann, wenn die technische Kompetenz an die anderen Teilnehmerinnen weitergegeben wird. Damit geht der Inquiry-Prozess in die letzte Phase. 5. Phase: Die Bewährung der Problemlösung Eine problematische Situation löst sich nur dann auf, wenn die Bedeutungen der Tatsachen, die in den Ideen zum Ausdruck gekommen sind, in Handlungen umgesetzt werden. Ideen müssen in Handlungen umgesetzt werden können, um Bedeutung zu bekommen. In dieser fünften Phase geht es deshalb um das Erproben der
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hypothetischen Lösung, um ein Bestätigen und Nachprüfen. Das neu erworbene Wissen muss sich in der Praxis bewähren. Dies ist dann der Fall, wenn die studentische Moderation die Kommunikation unter den Teilnehmenden tatsächlich belebt. Hier wird letztendlich auch die Bedeutung der studentischen Moderation geklärt. In Hinblick auf weitere Online-Seminare haben die Studierenden damit nicht nur inhaltliche Kompetenzen erworben, sondern die Erfahrung, Prozesse in OnlineSeminaren dynamisieren zu können.
5. Pragmatismus als theoretische Grundlage der Mediendidaktik Im Sinne des „gemäßigten" Konstruktivismus wird Lernen als ein selbst gesteuerter, aktiv-konstruktiver, situativer und sozialer Prozess aufgefasst, der unterschiedlicher Formen und Intensitäten der Anleitung oder Instruktion bedarf (vgl. Reinmann-Rothmeier u. Mandl 2001). In der Auffassung des gemäßigten Konstruktivismus mit seiner Balance von Instruktion und Konstruktion finden sich verschiedene Prinzipien für die Gestaltung von Lernumgebungen. Diese Prinzipien gelten im Wesentlichen auch für Lernangebote, die sich am Pragmatismus orientieren. Es ergeben sich jedoch teilweise andere Nuancierungen bzw. Begründungen, die in der folgenden Übersicht erläutert werden. Konstruktivismus
Pragmatismus
Komplexes Ausgangsproblem
Ermöglichen von Erfahrung durch Interaktionsprozesse
Authentizität und Situiertheit
Bezug zur Lebenswelt: Situation, in der der Lernende sieht tatsächlich befindet, ist der Ausgangspunkt.
Multiple Perspektiven
Temporaler Perspektivwechsel durch den Lernenden
Artikulation und Reflexion
Inquiry-Prozess, Rekonstruktion von Erfahrung: Vergangene, gegenwärtige und zukünftige Erfahrungen sind in Verbindung zu bringen.
Lernen im sozialen Austausch
Lernende Gemeinschaft
Beim Konstruktivismus wird der Lernende mit einem komplexen Ausgangsproblem konfrontiert. Dies entspricht der Forderung des Pragmatismus, dass Lernangebote Probleme beinhalten sollen, die „Erfahrungen" ermöglichen, und dies ist mehr als der alltägliche Gebrauch des Begriffs vermuten lässt. „Erfahrungen" verknüpfen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Menschen, nach einer „Erfahrung" ist der Mensch ein anderer als zuvor. Bildung ist Ergebnis solcher Erfahrungsprozesse, die in Interaktion mit der Umwelt und anderen Personen möglich werden und kontinuierlich - lebenslang - und damit immer in einer Zeitperspektive angelegt sind. Dewey hat mit den Phasen des Inquiry-Prozesses Hinweise gegeben, wie solche Erfahrungen ermöglicht werden können.
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Während in der Literatur nahezu jede Lernaufgabe, die einen Situations- oder Fallbezug hat, als „problembasiert" bezeichnet wird, ist damit bei Dewey etwas sehr viel Spezielleres gemeint (s.a. Koschman 2001). Dewey beschränkt dies auf Situationen, in denen Lernende selbst eine Unsicherheit, Störung, Irritation etc. erleben können (Dewey 1938a, S. 113), wie dies auch in der Darstellung des Inquiry-Prozess beschrieben wird. Die Forderung nach .Authentizität" von Lernangeboten ist in der konstruktivistischen Didaktik umstritten, da es schwierig zu entscheiden ist, woran .Authentizität" festgemacht werden soll: Wären damit alle schulischen Lernsituationen und alle für Lernzwecke aufbereiteten Medium „nicht authentisch"? Eindeutiger ist die Forderung des Pragmatismus, dass ein Lernangebot einen Bezug zur Lebenswelt der Lernenden herstellen sollte, wobei sich dies auch auf zukünftige Situationen beziehen kann. Das Prinzip „Multiple Perspektiven" wird aus Sicht des Pragmatismus durchaus positiv gewertet, allerdings ist für die „Rekonstruktion von Erfahrungen" der eigene Perspektivwechsel des Lernenden in der Interaktion mit seiner Umwelt wichtiger als die Präsentation unterschiedlicher Sichtweisen durch Andere. Zu dem Prinzip der Artikulation und Reflexion liefert der Pragmatismus mit den Phasen des Inquiry-Prozesses eine Präzisierung, wie eine solche Reflexion in Handlungskontexten anzulegen ist, um sie pädagogisch - und damit für zukünftiges Handeln - wertvoll zu machen. Damit werden Hinweise gegeben, wie solche Erfahrungen angeleitet werden können. Die Forderung nach Lernen im sozialen Austausch hat im Pragmatismus einen besonderen Stellenwert. Der Pragmatismus zeigt - anders als konstruktivistische Ansätze - jedoch deutlicher auf, wozu das Lernen in Gemeinschaften sinnvoll ist: Er beschreibt Ziele, die über den Lerngegenstand im engeren Sinne hinausgeht. Im Konstruktivismus wurde Lernen als ein selbst-gesteuerter, aktiv-konstruktiver, situativer und sozialer Prozess beschrieben. Eine Position, die sich auf den Pragmatismus beruft, würde Lernen entsprechend als eine Handlung definieren, die bildende Erfahrungen ermöglicht, die immer an die konkrete Situation und Lebenswelt des Lernenden gebunden ist und damit an einen bestimmten zeitlichen und sozialen Kontext. Im Folgenden wollen wir Unterschiede zwischen Konstruktivismus und Pragmatismus in der Mediendidaktik noch einmal genauer herausarbeiten. Diese sind nicht fundamental oder „paradigmatisch", sie zeigen aber wichtige Nuancierungen, die u.E. für die zukünftige theoretische Diskussion in der Mediendidaktik bedeutsam sein könnten (vgl. zur Charakterisierung des Pragmatismus auch Tolsby 2002).
Pragmatismus als theoretische Grundlage für die Konzeption von eLeaming 5.1
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Primat der Handlung statt Wahrnehmung
Im Mittelpunkt des Kognitivismus steht die Idee, dass Handeln ein Resultat komplexer Prozesse kognitiver Informationsverarbeitung darstellt. Am Anfang der geistigen Entwicklung steht der Erwerb von „Begriffen", mit denen Umwelt sprachlich erfasst werden kann, dann entwickeln Menschen immer komplexer werdende kognitive Schemata über Umwelt, die sie schließlich zu zielgerichtetem Handeln befähigen. In der Betonung des Primats des Handelns - noch vor dem Wahrnehmen - im Pragmatismus wird eine Differenz nicht nur zum Kognitivismus, sondern auch zu verschiedenen Ansätzen konstruktivistischer Didaktik sichtbar. In dieser Tradition, die auch in den Arbeiten Piagets und Aeblis aber auch bei Wygotski und Leontjew sichtbar ist, wird betont, dass menschliche Erkenntnis stets auf dem Hintergrund handelnden Umgangs von Menschen in ihrer Lebenswelt stattfindet und nicht alleine Ergebnis von Prozessen der Wahrnehmung des menschlichen Sinnesapparates ist. Das Primat des Handelns vor der Kognition hat weit reichende Implikationen: Denn das, was ich wahrnehme, ist dann Ergebnis von Handeln; es ist z.B. Ergebnis der Position, die ich einnehme, um etwas wahrzunehmen. Durch mein handelndes Wahrnehmen verändere und erzeuge ich im Akt der Perzeption auch den Gegenstand der Wahrnehmung. Dies geschieht aber auch nur dadurch, dass ebenfalls der Gegenstand auf mich einwirkt und zu einer Veränderung meiner Wahrnehmung beiträgt. Dies ist auch ein Grund, warum der handelnden Auseinandersetzung mit Lerngegenständen in der Position der pragmatistischen Didaktik ein besonderer Stellenwert zukommt. Mit dem Pragmatismus wird einerseits eine einseitige Theorieorientierung ohne lebensweltlichen Handlungsbezug wie anderseits eine Ausrichtung an beliebigen Forderungen der Praxis nach möglichst praktisch verwertbaren Kompetenzen vermieden.
5.2 Erfahrung statt Kognition Erfahrung basiert auf Sinneseindrücken, dennoch ist damit bei Dewey etwas anderes gemeint als wenn in der Kognitionspsychologie über Wahrnehmung als Resultat von kognitiver Informationsverarbeitung gesprochen wird. Erfahrung entsteht nicht als Ergebnis der Aktivität von Sinnesorganen und der Verarbeitung von Informationen über Nervenzellen und Synapsen, sondern als Ergebnis von handelnder Interaktion des Individuums in Relation zu seiner Umgebung und seiner Geschichte. Aus Sicht des Pragmatismus reicht es nicht aus, Lernende zur eigenständigen oder kooperativen (Re- oder Ko-) Konstruktion anzuregen. Es bleibt „ohne Bedeu-
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tung" für den Lerner. Entscheidend ist, dass die Lernaktivitäten Bedeutung für den Lernenden erlangen. Bedeutungen können nicht von dem Lernangebot, dem Thema oder der lehrenden Instanz erzeugt werden, sondern dies ist es, was die Lernenden selbst entwickeln müssen und dies macht Engagement in der Thematik erforderlich. Erfahrungen entstehen damit, wenn Menschen einem Erlebnis Bedeutung zumessen und genau dies wäre ein Kriterium, das an ein Lernangebot zu stellen wäre. Gleichwohl wird auch deutlich, dass sich die Leistung eines Lernangebotes, solche Erfahrungen zu eröffnen, nicht a priori und unabhängig von der konkreten Lernsituation bestimmt werden kann. Sie ergibt sich erst, wenn sich eine Person dem Lernangebot in einer bestimmten Weise zuwendet.
5.3
Rekonstruktion von Erfahrung statt Metakognition
Im Kognitivismus ebenso wie im Konstruktivismus wird ganz wesentlich das methodische Element beim Lernen betont, d.h. wesentlich für den nachhaltigen Lernerfolg ist der Aufbau von Kompetenzen beim Umgang mit Lernmaterialien. Weinert (2000) spricht von deklarativen und prozeduralen Metakompetenzen, die für erfolgreiches Lernen wesentlich sind. Für Dewey ist Bildung eng mit dem Begriff der Erfahrung verknüpft, ganz wesentlich ist jedoch die Forderung nach der „Rekonstruktion" von Erfahrungen. Damit ist gemeint, dass Erfahrungen, wie sie etwa in der Projektarbeit gewonnen werden, nur dann für zukünftiges Handeln einen angemessenen Stellenwert erlangen, wenn die gemachten Erfahrungen reflektiert werden, d.h. auf bisherige Erfahrungen und zukünftige Situationen bezogen werden. Es geht dem Pragmatismus letztlich nicht um Vermittlung und auch nicht nur um Konstruktion von Wissen, sondern um den Erwerb einer Methode der Wissensentwicklung, -formulierung und -generierung. Die „experimentelle" Methode des Umgangs mit Wissen fordert Metakognitionen wie Prüfen, Urteilen, Konsequenzen abschätzen usw. Bei dem planenden Handeln werden Unsicherheiten antizipiert und mit einbezogen. Auf den ersten Blick konvergiert der Pragmatismus hier mit kognitionspsychologisch ausgerichteten Überlegungen zu Metakompetenzen (Weinert 2000). Allerdings wird doch eine Nuance sichtbar, die die pädagogische Orientierung des Pragmatismus kenntlich macht: In der Rekonstruktion von Erfahrung geht es immer um Erfahrungen einer Person, d.h. Dewey beschreibt keine abstrakten Strategien eines Wissensmanagements, die Lernende erwerben sollten. Es geht vielmehr immer darum, einen Bezug zur Erfahrungswelt der Lernenden herzustellen und einen Bezug zu zukünftigem Handeln zu eröffnen.
Pragmatismus als theoretische Grundlage für die Konzeption von eLearning 5.4
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Lernende Gemeinschaft statt Lernen in der Gemeinschaft
Lange Zeit blendeten Lernarrangements, die nach „konstruktivistischen" Lernprinzipien entwickelt worden sind, soziale Interaktion zwischen Lernenden und Lehrenden aus. Bei dem Ansatz der anchored instruction sollen z.B. durch authentische Problemsituationen Ankerreize gesetzt werden, die dazu anregen, sich mit Problemen intensiv auseinander zu setzen. Für deren Bearbeitung werden zusammenhängende Geschichten präsentiert, die möglichst multimedial aufbereitet sind. Erst mit der intensiveren Nutzung des Internet als Kommunikationsmedium wurde die persönliche Interaktion in der Gruppe der Lernenden und die Betreuung durch Tutorinnen über das Netz von konstruktivistischen Ansätzen „entdeckt" und in verschiedenen Ansätzen zum computer supported cooperative learning (CSCL) aufgegriffen (vgl. Haake, Schwabe u. Wessner 2004). Dabei kann die Bedeutung von sozialer Interaktion für das Lernen ganz unterschiedlich konzeptualisiert werden: In den meisten CSCL-Ansätzen bleibt die soziale Interaktion funktional dem Ziel verhaftet, das Lernergebnis des individuellen Lerners zu sichern, d.h. das Lernen in der Gruppe dient dazu, dass die Gruppenmitglieder als einzelne Individuen jeder für sich einen Lernzuwachs erzielen. Genau dies ist auch ein wesentlicher Grund, dass Gruppenarbeit oft nicht den erhofften Nutzen für das Lernen bringt, nämlich wenn die einzelnen Individuen in der Gruppenarbeit den Vorteil für die Erreichung ihres individuellen Lernzieles nicht zuverlässig wahrnehmen. Dem Lernen „in" der Gemeinschaft stellt der Pragmatismus die „lernende Gemeinschaft" entgegen. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass der Gruppe als Ganzes ein Lernpotenzial zugeschrieben wird und nicht nur dem Individuum als Mitglied der Gruppe. Auch wenn in der CSCL-Literatur zunehmend von learning communities gesprochen wird, impliziert dies nicht unbedingt die hier skizzierte Differenz. Wenn Dewey jedoch von Zielen zwischenmenschlicher Interaktion und Erziehung spricht, dann weist dies über den „Wissenszuwachs" Einzelner hinaus und bezieht sich auf Perspektiven für das Zusammenleben von Menschen und die Gesellschaft als Ganzes. Dewey geht es letztlich um die Gestaltung des Zusammenlebens von Menschen in einer Gemeinschaft (vgl. Dewey 1927). Lerngruppen können damit durchaus funktional als unterstützendes Element des Wissenserwerbs für Individuen „genutzt" werden, aus Sicht des Pragmatismus kommt der Interaktion beim Lernen jedoch eine wesentlich weiter reichende Perspektive zu, die allerdings durch eine entsprechender Gestaltung solcher Arrangements eingelöst werden muss.
6. Zusammenfassung Lernen ist im Sinne des Pragmatismus eine Handlung, die bildende Erfahrungen ermöglicht, die immer an die konkrete Situation und Lebenswelt des Lernenden
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gebunden ist, und damit an einen bestimmten zeitlichen und sozialen Kontext. Erkenntnistheoretisch besteht eine Affinität zur Philosophie des Konstruktivismus, es werden allerdings folgende Konzepte akzentuiert: -
Primat der Handlung statt Wahrnehmung Erfahrung statt Kognition Rekonstruktion von Erfahrung statt Metakognition Lernende Gemeinschaft statt Lernen in der Gemeinschaft
Damit kommen wir auf das allgemeine 3C-Komponontenmodell zurück, das - unabhängig von einer theoretischen Position - die Konzeption eines eLearningAngebots zu beschreiben erlaubt. Es wären folgende Aussagen aus Sicht des Pragmatismus zu den einzelnen Komponenten ableitbar: (1) Ein Lernangebot, das nur aus einer Lernmaterial-Komponente besteht, ist als defizitär zu werten. Es stellt nicht sicher, dass die Lernenden tatsächlich „Erfahrungen" machen, und nicht lediglich vorgefertigtes Wissen nachvollziehen. Gleichzeitig betont Dewey, dass verfügbares Wissen, z.B. in medialisiertere Form, eine wichtige Ressource für eigene Lernaktivitäten sein kann: als Grundlage für Erfahrungen. (2) Ein besonderes Gewicht legt der Pragmatismus auf kommunikative und konstruktive Lernaktivitäten, durch die Lerninhalte für den Einzelnen Bedeutung gewinnen können und Erfahrungen entstehen. Mit der Beschreibung des InquiryProzesses ist ein Modell für problembasiertes Lernen beschrieben, das relativ hohe Ansprüche sowohl an die Lehrenden / didaktischen Designer von Lernangeboten als auch an die Lernenden und die Rahmenbedingungen des Lernens stellt. (3) Für die Rekonstruktion und damit auch Dekonstruktion von Erfahrungen ist die Kommunikation mit Anderen wesentlich, da in ihr und mit dem temporalen Perspektivwechsel Einsichten über das eigene Handeln gewonnen werden können. Im Weiteren wäre zu klären, ob und unter welchen Bedingungen diese Forderungen des Pragmatismus umsetzbar sind. Insbesondere sind der Kontext des Lernens, die individuellen Lernziele und die Lehrinhalte zu berücksichtigen. Im Hochschulkontext finden sich beispielsweise eher selten Ansatzpunkte, wo sich der beschriebene Inquiry-Prozess in Gänze umsetzen lässt. Auch die Ermöglichung von Lernerfahrungen, die für den Einzelnen „Bedeutung" gewinnen, und Bezüge zur Lebenswelt der Lernenden finden, ist - so wie Hochschullehre in der Regel organisiert ist - nicht grundsätzlich und einfach einlösbar. Insofern wird auch hier deutlich, dass der Pragmatismus nicht als grundlegend überlegenes „Paradigma" für die Konzeption von Lernangeboten präsentiert werden sollte. Aus Sicht des Pragmatismus sind die Konzepte, die im Kontext von Behaviorismus, Kognitivismus oder auch Konstruktivismus entwickelt worden sind, als Werkzeuge zu betrachten, deren Tauglichkeit in der Anwendung - bei der Konzeption von Lernarrangements - mit konkreten situativen Bezügen sichtbar wird. Es ist
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zentrales Forschungsanliegen der gestaltungsorientierten Mediendidaktik (Kerres 2004) die Tragweite und Reichweite dieser didaktischen Implikationen solcher theoretischen Modelle bei der Lösung bestimmter Bildungsanliegen und -probleme zu eruieren.
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Die vergessenen Weggefährten des Lernens: Emotionen beim eLearning Gabi Reinmann
„Ich habe nicht gelacht, ich habe nicht geweint - das ist kein guter Film" - soll Alfred Hitchcock, der Großmeister des Films gesagt haben. Dass diese „Regel" aus dem Filmgeschäft auch für die pädagogisch-didaktische Gestaltung von Lernumgebungen im Allgemeinen und von eLearning-Umgebungen im Besonderen gilt - das will ich in diesem Beitrag zeigen.
1. Was wir über Emotionen wissen 1.1 Emotionen als vergessene Weggefährten des Lernens Emotionen wie Ärger, Angst, Wut oder Langeweile sowie Freude, Erstaunen, Erleichterung oder Begeisterung gehören zum Lernen dazu. Eine Alltagserkenntnis, die in der Forschung Bestätigung findet: Sowohl die aktuelle Hirnforschung (z.B. Spitzer 2000) als auch die Entwicklungspsychologie (z.B. Oerter 1995) „lehren" uns, dass der Mensch von Natur aus neugierig ist und lernen will, dass Lernen gar mit Lust verknüpft ist und unser Gehirn nichts lieber tut als lernen. Aber auch Antagonisten der Lust sind vom Lernen kaum wegzudenken: Ausgiebig untersucht ist das Phänomen der Angst, das sich als Hemmnis für Lernprozesse erwiesen hat (Pekrun 1992). Aus der Forschung zur Entstehung von Expertise ist bekannt, dass Unsicherheit durch kognitive Konflikte oder Frustration beim Lernen aus Fehlern ebenfalls eine wichtige Rolle beim Aufbau neuen Wissens spielen. Negative Gefühle sind also - unter bestimmten Umständen - keineswegs nur Feinde des Lernens. Emotionen mobilisieren oder hemmen Wahrnehmungs-, Erkenntnis-, Motivations- und Gedächtnisprozesse; sie schaffen (biografische) Kontinuität und helfen bei der Ordnung und Hierarchisierung von Denkinhalten und beim Reduzieren von Komplexität (z.B. durch Auswählen, Ausblenden, Vergessen); damit sind sie für das Lernen von besonderer Bedeutung (Ciompi 1997, Overmann 2002). Trotz dieser offenkundigen Bedeutung der Emotionen unterschiedlicher Couleur beim Lernen ist dieses Phänomen - verglichen etwa mit Fragen der Kognition und der Motivation - ein vergleichsweise vernachlässigtes Thema, was vor allem für das eLearning gilt: Mit Ausnahme der bereits erwähnten Angst werden emotionale Aspekte des Lernens entweder nur als Begleitphänomen der Lernmotivation gestreift oder gar nicht weiter behandelt. Über die Dynamik von emotionalen Prozessen beim Lernen ist ebenfalls wenig bekannt. Das ist auch in der Praxis nicht viel anders: Gerade beim eLearning dominieren bei der Auswahl und Aufbereitung der Inhalte kognitive Kriterien, kommunikative Prozesse finden meist in reduzierter
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Form statt und Schnittstellen zwischen Mensch und Computer (Lernplattformen, spezielle Umgebungen, Webseiten) entbehren in den meisten Fällen jegliche Form der emotionalen Ansprache und/oder sind bisweilen dergestalt, dass sie (unnötige) negative Emotionen hervorrufen. Es mangelt an Modellen, die auch dem Praktiker Hilfestellungen darin geben könnten, emotionale Prozesse nicht nur zu berücksichtigen, sondern auch aktiv mit ihnen umzugehen (Kort u. Reilly 2002).
1.2 Der Emotionsbegriff Gefühl, Affekt, Emotion, Stimmung - all diese verschiedenen Begriffe machen deutlich, dass auch innerhalb der Wissenschaft keine einheitliche Handhabung des Emotionsbegriffs vorhanden ist. Die Begriffe „Emotion" und „Gefühl" werden bisweilen gleichgesetzt1, bisweilen werden sie unterschieden; im letzteren Fall gelten Gefühle als eine (subjektive) Komponenten der Emotion neben Kognitionen, neurophysiologischen Prozessen, Motivation und Ausdruck (z.B. Scherer 1990). Eine allgemein anerkannte Definition von Emotion gibt es nicht. Relativ einig ist man sich aber über einige grundlegende Merkmale von Emotionen (vgl. Wild, Hofer u. Pekrun 2001, Kleinginna u. Kleinginna 1981): (a) So kann der Begriff der Emotion sowohl momentane Zustände als auch überdauernde Reaktionstendenzen umfassen. (b) Emotionen sind komplexe Interaktionsgefüge subjektiver und objektiver Faktoren, in denen neuronale und endokrine Systeme eine vermittelnde Funktion haben, (c) Emotion ist ein Geschehen, das mit kognitiven Prozessen (Wahrnehmungseffekte, Bewertungen, Klassifikationen), physiologischen Abläufen der Erregung und meist expressivem, zielgerichtetem und adaptivem Verhalten verknüpft ist. (d) Emotionen ermöglichen es dem Menschen, rasch und flexibel auf Ereignisse zu reagieren. Die verschiedenen Funktionen, die Emotionen zugesprochen werden, reichen von der Handlungsregulation über Motivierung und reflexhaftem Verhalten bis zur komplexen Anpassung. Emotionen lassen sich aus verschiedenen Perspektiven betrachten: aus der subjektiven Perspektive des Erlebens, das infolge von Selbstbeobachtung mitgeteilt werden kann, aus der Perspektive des Verhaltens, das sich beobachten lässt (am Ausdruck, an unmittelbaren Reaktionen und am Handeln) und aus der physiologisch-biochemischen Perspektive durch Messungen am zentralen und vegetativen Nervensystem sowie am endokrinen System. Innerhalb und zwischen der Ebene des Erlebens, des Verhaltens und des körperlichen Geschehens finden zahlreiche und vielfältige Interaktionen statt, beeinflusst durch situative und kulturelle Bedingungen. Man kann heute davon ausgehen, dass Kognition und Emotion eng aufeinander bezogen und oft nur analytisch trennbar sind (Ulich u. Mayring 1992). Emotionale Prozesse spielen beim Denken und Handeln immer eine Rolle, sodass Emotionen eine querliegende psychische Dimension sind, die vielschichtige und vielgestaltig-aktivierende Funktionen erfüllen (vgl. Ciompi 1997).
1
Im vorliegenden Beitrag werden der Fachbegriff „Emotion" und der alltagssprachliche Begriff „Gefühl" ebenfalls synonym verwendet.
Emotionen beim eLeaming
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2. Emotion und eLearning Einige wenige Ansätze zur Integration emotional-motivationaler Fragen bei der Gestaltung von Lernumgebungen gibt es seit den 1980er Jahren. Für den noch jungen Bereich des eLearnings stehen Lehrenden/Mediengestaltern noch weniger Hilfestellungen und wissenschaftlich untersuchte Strategien zur Verfügung, Emotionen in medialen Umgebungen einzubinden. Ein paar Modelle sollen im Folgenden kurz skizziert werden.
2.1 Das ARCS-Modell Das sogenannte ARCS-Modell macht konkrete Vorschläge, wie man im Kontext des Instruktionsdesigns die Motivierung integrieren kann. Keller (Keller 1983, Keller u. Kopp 1987) postuliert hierzu vier Hauptelemente, deren Anfangsbuchstaben dem Modell seinen Namen geben, nämlich attention, relevance, confidence und satisfaction: a) Attention: Zunächst einmal ist es wichtig, Aufmerksamkeit zu erlangen, indem man Orientierungsverhalten durch überraschende oder widersprüchliche Ereignisse provoziert, Neugier durch geeignete Fragen und Probleme anregt und/oder Abwechslung durch Variation der Instruktionselemente bietet, b) Relevance: Zum Zweiten sollte die Bedeutsamkeit der Lerninhalte vermittelt werden, indem man Vertrautheit durch anschauliche Begriffe, Beispiele und Erfahrungsbezug herstellt, die Ziele und Nützlichkeit der Instruktionen deutlich macht und/oder verschiedene motivational Profile der Lernenden durch Anpassung der Lehrstrategien berücksichtigt, c) Confidence: Sodann ist Erfolgszuversicht zu fördern, indem man Leistungsanforderungen und Bewertungskriterien transparent macht, Gelegenheiten für Erfolgserlebnisse eröffnet und/oder Selbstkontrolle zulässt etwa durch informative Rückmeldungen und Feedbacks, die Fähigkeit und Anstrengung als Erfolgsursache erkennbar machen, d) Satisfaction: Schließlich sollte Zufriedenheit ermöglicht werden, indem man etwa Chancen gibt, neu erworbenes Wissen und Können in „echten" Situationen anzuwenden, positive Verstärkung anbietet und auf Gleichheit bzw. Gerechtigkeit achtet. Inzwischen wurde versucht, die skizzierten Kategorien zur Motivierung in eLearning-Umgebungen umzusetzen (vgl. Niegemann 2001): So werden z.B. aufmerksamkeitssteuernde und -fokussierende Formen der Bildschirmgestaltung, interaktive Feedback-Varianten und automatische Test-Rückmeldungen, aber auch der Einsatz sympathischer Figuren und Stimmen empfohlen. Weitere Empfehlungen beziehen sich auf mögliche Spiel- und Gruppenkomponenten und Besonderheiten in Navigation und Kontrolle des (technischen) Geschehens. Diese Empfehlungen bleiben jedoch wenig konkret und sind wenig systematisch.
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Gabi Reinmann DerFEASP-Ansatz
Während das ARCS-Modell im Rahmen der Instruktionspsychologie erstmals Fragen der emotionalen Beteiligung explizit thematisiert, dabei aber die Motivierung ins Zentrum des Interesses rückt, bilden im FEASP-Ansatz primäre Emotionen den Dreh- und Angelpunkt. Zum Teil in Anlehnung an sowie unter Rückgriff auf Konzepte zur „emotional/affective education" hat Astleitner (2000) den - stellenweise bereits empirisch untersuchten - FEASP-Ansatz zur Gestaltung eines „emotional stimmigen Unterrichts" entwickelt. In einem ersten Schritt werden Emotionen als bedeutsam für Lernprozesse postuliert; in einem zweiten Schritt werden Lehrstrategien empfohlen, die negative Emotionen, nämlich Angst, Neid und Ärger, verringern und positive Emotionen, nämlich Sympathie und Vergnügen, fördern sollen. Der FEASP-Ansatz - ein Akronym für „fear, envy, anger, sympathy, pleasure" basiert auf den Primäremotionen von Plutchik (1980), die jedoch auf lernrelevante Emotionen „gestutzt" wurden, a) Zur Senkung von Angst werden im FEASP-Ansatz folgende Strategien empfohlen: Erfolge beim Lernen sicherstellen, Fehler als Chancen zum Lernen akzeptieren, eine entspannte Situation erzeugen, kritisches Denken anregen, aber eine positive Orientierung aufrecht erhalten, b) Um Neid zu reduzieren wird angeraten, Vergleiche unter individuellen und kriteriumsorientierten (nicht sozialen) Bezugsnormen anzustoßen, eine konsistente und transparente Leistungsbewertung zu installieren, Echtheit und Offenheit anzuregen und ungleich verteilte Privilegien zu vermeiden, c) Strategien zur Reduktion von Ärger sind: Ärgerkontrolle stimulieren, flexible Sichtweisen aufzeigen, konstruktiven Ärgerausdruck zulassen und keine Form von Gewalt zeigen und akzeptieren, d) Zur Erhöhung der positiven Emotion Sympathie kommen folgende Strategien zum Einsatz: Beziehungen intensivieren, sensitive Interaktionen installieren, kooperative Lernstrukturen etablieren und Hilfen anbieten, e) Und um das Vergnügen zu steigern, wird empfohlen, das allgemeine Wohlbefinden zu erhöhen, offene Lernumgebungen einzurichten, humorvoll zu sein und spielähnliche Aktivitäten zu nutzen. Auch für den FEASP-Ansatz gibt es inzwischen Versuche, die konzipierten Strategien in eLearning-Umgebungen einzusetzen (Astleitner u. Leutner 2000): Die vorgeschlagenen Maßnahmen reichen - in ähnlicher Weise wie beim ARCS-Modell von kognitiven Designempfehlungen (z.B. FAQs und Erfolgsstatistiken einbauen und kognitive Werkzeuge anbieten) über automatische Leistungsbewertungen und Belohnungssysteme bis zur Implementation von verschiedenen Kommunikationsformen, die soziale Prozesse fördern, und eine benutzerfreundliche Interface-Gestaltung, die ebenfalls Spielkomponenten enthalten kann.
2.3 Das Modell vom emotionalen Lernzyklus Kort, Reilly und Picard (2001a) schlagen für das Thema eLearning und Emotion ein auf den ersten Blick ähnliches Modell wie Astleitner vor, da ebenfalls fünf primäre Emotionen als lernrelevant postuliert werden. Im Gegensatz zum FEASPAnsatz aber handelt es sich um fünf Achsen mit jeweils zwei Polen (und mehreren
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Zwischenschritten): Ängstlichkeit-Zuversicht, Langeweile-Faszination, Enttäuschung-Euphorie/Freude, Hoffnungslosigkeit-Mut sowie Schrecken-Begeisterung. Es gibt also einen eher positiven Pol, der nach Kort et al. (2001a) die aktive Wissenskonstruktion begünstigt, und einen eher negativen Pol, der eher zum Dekonstruieren von Wissen bzw. zum Umlernen zwingt. Wichtig und ein zentrales Unterscheidungsmerkmal zum FEASP-Ansatz ist die Annahme, dass man beim Lernen auch unangenehme Gefühle erleben kann, was insgesamt betrachtet förderlich ist: Das Modell postuliert einen normalen Lernzyklus - dargestellt als Kreis mit vier Quadranten - , in dem der Lernende sowohl durch positive als auch durch negative Emotionen geht: Im Quadrant I sind z.B. Neugierde, das Gefühl der Befriedigung (z.B. über erste Lernerfolge) verortet. Quadrant II beinhaltet Verwunderung oder Verwirrung, allerdings mit der Motivation, die Unsicherheit zu reduzieren. In Quadrant III befinden sich Enttäuschung oder Entmutigung negative Gefühle, die entstehen können, wenn man im Lernprozess nicht weiterkommt, Fehleinschätzungen oder Misserfolge erlebt oder auch unterfordert ist. Wieder Hoffnung und Lust befinden sich in Quadrant IV, was voraussetzt, dass der Lernende Fehler oder Missverständnisse erkennt, falsche Annahmen fallen lässt und neue Ideen generiert; damit kann wieder Neugier aufkommen und ein neuer Lernzyklus beginnen (Kort, Reilly u. Picard 2001b). Die vertikale Achse des Lernens dreht sich gemeinsam mit der horizontalen Achse der Gefühle, wobei es sein kann, dass sich Lernende in Bezug auf verschiedene Gefühlsachsen in mehreren Quadranten gleichzeitig befinden. Zu den beiden Dimensionen des Lernens und der Emotionen kann eine dritte Wissensachse angenommen werden. Diese Achse entsteht durch die kontinuierliche Drehung wie eine Spirale aus der zweidimensionalen Ebene; das heißt: Im Idealfall begibt sich der Lernende nach einem Lernzyklus in einen qualitativ neuen Zyklus; er dreht sich nicht im Kreis, sondern erhöht sein Wissensniveau, auf dem er weiterlernt. Aus dem Modell werden - im Gegensatz zum ARCS- und zum FEASP-Ansatz — keine Lehrstrategien zur Erhöhung positiver und zur Reduktion negativer Emotionen abgeleitet. Vielmehr postulieren die Autoren, mit Hilfe des Modells die Sensibilität für emotionale Prozesse positiver wie negativer Art seitens der Lehrenden und der Lernenden zu erhöhen und - im Sinne der emotionalen Intelligenz2 - Fähigkeiten zu entwickeln, mit diesen Gefühlen sinnvoll - und das heißt im gegebenen Kontext: lernförderlich - umzugehen. Lehrende bzw. Gestalter von eLearningUmgebungen, aber auch die gesamte Konzeption und Gestaltung von „cognitive machines" beim eLearning können und sollen nach Kort et al. (2001b) dabei helfen.
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Nach Mayer und Salovey (2000) beinhaltet emotionale Intelligenz a) die Fähigkeit, Emotionen korrekt wahrzunehmen, zu bewerten und auszudrücken, b) die Fähigkeit Zugang zu seinen Gefühlen zu haben bzw. diese zu entwickeln, um gedankliche Prozesse zu erleichtern, c) die Fähigkeit, Emotionen zu verstehen und ein emotionales Wissen zu besitzen, sowie d) die Fähigkeit, Emotionen zu regulieren, um emotionales und intellektuelles Wachstum zu unterstützen.
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3. Entwicklung eines Modells zur Integration von Emotion und Motivation beim eLearning (lEMEL-Modell) 3.1 Emotionsbezogene Konstrukte aus der Motivationsforschung Lernen setzt Motivation voraus, das heißt: Wer lernt, der zeigt auch ein Mindestmaß an Bereitschaft, Einstellungen, Wissen und/oder Verhalten zu verändern, und er hat wohl ein Mindestmaß an Eigeninteresse an den Zielen und Inhalten des Lernens. Wenn Menschen aus sich heraus (also selbstbestimmt) motiviert sind, spricht man auch von intrinsischer Motivation. Nach Deci und Ryan (1993) sind Selbstbestimmung und intrinsische Motivation auf drei grundlegende Bedürfnisse zurückzuführen: auf das Bedürfnis nach Autonomie, nach Kompetenz und sozialer Bezogenheit. Oerter (1995) fügt diesem Dreiergespann noch das Bedürfnis nach Umweltbezug an, das sich in Neugier und Interesse manifestiert. Bereits in den 1940er Jahren hat Berlyne (1949) das sogenannte epistemische Neugierverhalten untersucht - ein intrinsischer und emotionaler Impuls, wie ihn z.B. auch Kort et al. (2001a) in ihrem emotionalen Lernzyklus aufgreifen (s.o.): Dinge oder Ereignisse, die unerwartet auftreten und relativ unbekannt sind, rufen Aufmerksamkeitszuwendung, Orientierungsreaktionen und Explorationsverhalten hervor, weil das Neue, Unerwartete nicht eingeordnet werden kann oder weil Erwartung und Wahrnehmung nicht kongruent sind. Erkundungsverhalten dient dann dazu, Informationen zu gewinnen, die erlebten Widersprüche aufzulösen und/oder Unsicherheiten zu beseitigen. Neugier und Freude am eigenen Tun lassen sich besonders gut an Kindern beobachten, sind aber keineswegs auf die Kindheit beschränkt, sondern bestimmen das Verhalten des Menschen zeitlebens (Oerter 1995). Neugierig wird man, wenn etwas nicht zusammenpasst, wenn ein kognitiver Konflikt vorliegt: Dazu gehört z.B., dass man an der Wahrheit eines Sachverhalts zweifelt oder durch mehrere konkurrierende Überzeugungen oder begriffliche Ungereimtheiten verwirrt wird. „Je mehr Wissen jemand im Laufe seiner Entwicklung erwirbt, desto neugieriger wird er, da er viel häufiger kognitiven Konflikten ausgesetzt ist." (Oerter 1995, S. 769)
Neugier ist also sehr eng mit der kognitiven Entwicklung und dem eigenen Wissensstand verknüpft. Neben der Neugier gibt es noch das Interesse - und Interessen steuern ebenfalls einen ganz erheblichen Teil unseres Handelns. Während Neugier eine eher kurzfristige Phase der Erkundung auslöst, versteht man unter Interessen längerfristige und relativ stabile Beziehungen zu bestimmten Inhalten, Gegenständen, Tätigkeiten (Krapp 1998). Welche Interessen ein Mensch ausbildet, hängt davon ab, wie attraktiv seine Umgebung ist (also welche Dinge ihn „anziehen"), wie er sich selbst (und seine Autonomie) entwickelt und welche eigenen Aktivitäten und deren Wirkungen er lustvoll erleben kann. Dass gerade für das Lernen diejenige Motivation von besonderer Bedeutung ist, die man aus Tätigkeiten und Inhalten selbst schöpft, ist eine Plausibilität mit wis-
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senschaftlicher Bestätigung. Die intrinsische Motivation ist ein Antriebszustand, der nach Piaget (1969) auf menschlicher Neugier und Funktionslust basiert und damit auch mit Glücksgefühlen über das Erleben eigener Selbstwirksamkeit begleitet ist. In den 1970er Jahren hat Csikszentmihalyi (1975) bei Freeclimbern, Motorradfahrern und Schachspielern ein spezielles Phänomen der intrinsischen Motivation untersucht, das mit hoher Zufriedenheit und freudvollem Erleben verknüpft ist: das Flow-Erleben. Flow entsteht - einfach formuliert - wenn man in eine Tätigkeit, die man beherrscht und die einen doch herausfordert, so vertieft ist, dass man in dieser Tätigkeit aufgeht, alles andere um sich herum - auch die Zeit - vergisst. Flow entsteht bei kreativem Arbeiten, beim Spielen oder bei Aktivitäten, die volle Konzentration erfordern. Flow ist eine positive Erfahrung, die sich aus dem Mix aus Anstrengung und spielerischer Leichtigkeit ergibt (Csikszentmihalyi u. Schiefele, 1993). Komponenten des Flow-Erlebens, die gleichzeitig notwendige Bedingungen darstellen, sind: a) Gleichgewicht wahrgenommener Anforderungen und wahrgenommener Fähigkeiten, woraus das Gefühl einer optimalen Beanspruchung entsteht; b) Klarheit von Zielsetzungen, Handlungsanforderungen und Rückmeldungen; c) Unterbrechungsfreiheit der Aktivität mit der Folge, dass der Handlungsablauf als flüssig (einer inneren Logik folgend) erlebt wird; d) beeinträchtigtes Zeiterleben zusammen mit einer fast automatischen Konzentration, bei der alle unwichtigen Gedanken ausgeblendet sind und Selbst und Tätigkeit miteinander zu verschmelzen scheinen. Rheinberg (1995) weist anhand der Merkmale des FlowErlebens nach, dass es einige Parallelen zur Leistungsmotivation gibt: Auch für das Entstehen von Leistungsmotivation ist eine optimale Passung zwischen Anforderungen und Fähigkeiten ideal; andere Anregungsbedingungen sind für Flow und Leistungsmotivation zumindest ähnlich. Csikszentmihalyi (1990) zufolge entsteht Flow nur, wenn Anforderungen und Fähigkeiten im Gleichgewicht, aber auch hoch sind. Hohe Fähigkeit und geringe Anforderung dagegen führt zu Langeweile, hohe Anforderung und geringe Fähigkeit zu Angst. Ist beides gering, kommt es zu keiner besonderen Erfahrung und Emotion.
3.2 Das Spielkonzept Wenn von Neugier oder auch Funktionslust (Bühler 1918), von Flow-Erleben und anderen tief sitzenden Bedürfnissen nach Autonomie, Kompetenzaufbau und sozialer Einbindung die Rede ist, wird immer auch die große Bedeutung des Spiels betont. Bestimmungsstücke des Spiels sind nach Huizinga (1956) die freiwillige Handlung, das Merkmal „nicht so gemeint"(?), die Regelgeleitetheit und die Eigenschaft, dass das Ziel in sich selbst liegt; zudem ist das Spiel begleitet vom Gefühl der Spannung und der Freude. In der angloamerikanischen Literatur werden zusätzlich noch die intrinsische Motivation, das aktive Engagement und die Flexibilität als weitere Charakteristika betont (vgl. Einsiedler 1991). Schwierig bis unmöglich ist eine Spieldefinition, die für alle Lebensalter und Situationen gleichermaßen gilt. Einsiedler (1991) schlägt vor diesem Hintergrund eine Zusammenstellung von Merkmalen vor, die nicht immer alle zusammen auftreten müssen, um eine Tätigkeit als Spiel bezeichnen zu können: So-tun-als-ob, Flexibilität, positive Emotionen
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und Mittel-vor-Zweck. Beispiele für positive Gefühlsregungen und Erlebnistönungen im Spiel sind etwa die Lust an gelungenen Bewegungen im Funktionsspiel, die Freude am Explorieren im Informationsspiel, die Zufriedenheit durch Herstellen eigener „Produkte" im Konstruktionsspiel, der Spaß am fiktiven „Als-ob" im Symbolspiel, das Vergnügen an der Übernahme neuer Rollen im sozialen Spiel und die positive Spannung im Wettkampf und Leistungsvergleich im Regelspiel (vgl. Oerter 1995). Aber auch negative Emotionen gehören zum Spiel: Wut bei Niederlagen, Enttäuschung bei Regelverletzung, Traurigkeit bei erlebten Defiziten etc. „Beim Spielen wird gelernt, wird Verhalten eingeübt bzw. verstärkt. Es wird bestätigt, gefragt, in Frage gestellt, gewonnen und verloren, kooperiert und konkurriert, entwickelt und erprobt. Die materielle und die menschliche Umwelt wird entdeckt, erfahren und gestaltet. Es werden Werte, Grundhaltungen, Regeln und Botschaften vermittelt - zumeist jedoch unbewusst. Es wird darüber hinaus ganzheitlich gelernt: Kognitiv und affektiv, mit allen Sinnen, über Verstand, Körper und Gefühl." (Barth 2001, o.S.)
Für viele Erwachsene gelten Aussagen dieser Art allenfalls für die Kindheit; teilweise werden aber auch in der wissenschaftlichen Diskussion (z.B. Ohler u. Nieding 2000) Spielen und Lernen als zwei verschiedene, zum Teil sich gar ausschließende Tätigkeiten bewertet. Spielen hat jedoch - das dürfte inzwischen als erwiesen gelten - biologische und entwicklungspsychologische Funktionen, die natürlich von der Art des Spiels abhängig sind. Piaget (1969) sieht das Spiel in enger Verbindung mit der Denkentwicklung. Die Lernfunktion bestimmter Spielformen konnte in den 1970er und 1980er Jahren auch empirisch nachgewiesen werden (vgl. Einsiedler 1991). Spielen ist also nicht nur entwicklungsfördernd, sondern auch eine potentielle „Plattform" für Lernprozesse: Lernen erfolgt im Spiel meist beiläufig; möglich ist aber auch ein intentionales Lernen im Spiel (vgl. Scheuerl 1994); selbst Lernspiele gibt es, deren Funktionieren zeigt, dass Lernen und Spielen keine Gegensätze sind, sondern eine enge Verbindung eingehen können (z.B. Oerter 1996).
3.3 Prämissen und Thesen des lEMEL-Modells Grundlage für das lEMEL-Modell sind zum einen Kernideen und Folgerungen, die aus der bisherigen wissenschaftlichen Beschäftigung mit Emotionen generell sowie mit Emotionen und deren Bedeutung für das Lernen entnommen werden können, und zum anderen die erörterten emotionsbezogenen Konstrukte „Neugier" und „Flow-Erleben", die als zentrale Komponenten des Modells herangezogen werden sollen3. Aus dem bisher Erarbeiteten lassen sich eine Reihe von Aussagen ableiten, die als Prämissen des lEMEL-Modells gelten: Prämisse 1. Lernen setzt Motivation im Sinne einer Mindestaktivierung und einer gewissen Bereitschaft zur Anstrengung voraus. Auch beim eLearning müssen 3
Eine ausführliche Darstellung der Herleitung des Modells findet sich in Reinmann-Rothmeier (in Druck).
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demnach eine primäre Motivationsquelle und der „Antrieb" vorhanden sein, sich mit einem eLearning-Angebot überhaupt auseinander zu setzen. Ohne ein Minimum an Motivation und emotionalen Engagement gibt es kein Lernen. Prämisse 2. Motivation und Emotion sind zwei Seiten einer Medaille, wenn es um Lernen geht. Auch beim eLearning lassen sich kognitive, motivationale und emotionale Prozesse im Prinzip nicht trennen - der Lernende freut sich über gute Aufmachungen und Erfolge, er ärgert sich über Wartezeiten und unlogische Navigationen, er langweilt sich oder wird ängstlich, wenn er unter- oder überfordert ist etc.; all das beeinflusst die Bereitschaft zum Lernen und den Prozess des Lernens. Prämisse 3. Positive und negative Emotionen sind „Weggefährten" des Lernens in dem Sinne, als dass beide Pole verschiedener Gefühlsachsen zum Lernen dazugehören. Lernen und Wissensentwicklung finden in elektronischen Umgebungen nur statt, wenn emotionale Beteiligung vorhanden ist, die neben Freude, Überraschung und anderen positiven Gefühlen auch negative Emotionen umfasst. Prämisse 4. Angst und mangelndes Vertrauen reduzieren die Lernmotivation und verschlechtern Lernergebnisse. Grundsätzliches Wohlbefinden und ein Mindestmaß an Vertrauen (auch bei zeitweiligen negativen Gefühlsregungen) sind beim eLearning nicht eliminierbare Erlebnistönungen, damit Lernen stattfinden kann. Prämisse 5. Die Art der Motivierung beeinflusst das emotionale Geschehen. Die Aufforderungsreize, die ein eLearning-Angebot hat, wirken auf Gefühlsregungen und Erlebnistönungen des Lernenden. Emotionen beim eLearning sind also - bis zu einem gewissen Grad - von außen durch Gestaltungsmaßnahmen veränderbar. Abbildung 1 fasst noch einmal die Prämissen des lEMEL-Modells zusammen.
Abb.1: Prämissen des iEMEL-Modells Das lEMEL-Modell nimmt - wie alle anderen Emotionsmodelle auch - eine Komplexitätsreduktion vor, allerdings weniger mit dem Anspruch, Emotionen beim Lernen dadurch besser erklären oder gar vorhersagen zu können, sondern mit der
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Erwartung, konkrete Maßnahmen zur Verbesserung des Lernens entwickeln zu können. Die erste Gruppe von Kernthesen des lEMEL-Modells stellt die emotionsbezogenen Konstrukte Neugier und Flow-Erleben in den Mittelpunkt; die zweite Gruppe von Thesen dreht sich um den Begriff der Kohärenz als wichtiges Gestaltungskriterium. These 1. Neugier (und darauf aufbauend die Entwicklung von Interessen) und Flow-Erleben (und die damit verbundene Kompetenzerweiterung) sind für das eLearning entscheidende motivationale Konstrukte mit unmittelbarer emotionaler Bedeutung. Beiden Konstrukten ist gemeinsam, dass sie sowohl eine Lust- als auch eine Spannungskomponente im Erleben beinhalten und damit in besonderer Weise die Komplementarität positiver und negativer Gefühlsregungen aufzeigen. These 2. Sowohl bei der Entstehung von Neugier als auch bei der Entwicklung von Flow-Erleben sind neben den resultierenden positiven Gefühlsregungen und Erlebnistönungen auch negative Emotionen möglich bzw. stellenweise notwendig: Neugier entsteht aus dem Erleben von Unsicherheiten und/oder kognitiven Konflikten (was erst einmal unangenehm ist) und Flow-Erleben setzt ein gewisses Kompetenzniveau bereits voraus, das nur infolge des Durchlaufens von Lernzyklen erreicht werden kann, die auch negative Emotionen beinhalten. These 3. Neugier und Flow-Erleben sind Phänomene, die durch die Gestaltung von eLearning-Umgebungen relativ gut beeinflussbar sind: Gestaltungsspielräume ergeben sich vor allem beim Oberflächen-Design (Screen-, Web-Design), bei der Inhaltsaufbereitung, bei der instruktionalen Gestaltung und bei der Betreuung durch Lehrende, eTutoren u.a. These 4. Sind Neugier und Flow-Erleben integrale Bestandteile von eLearningProzessen, erhöhen sich beim Lernen Effektivität und Nachhaltigkeit (z.B. im Sinne der Anwendungswahrscheinlichkeit des Gelernten). These 5. Gleichzeitig steigt die Chance, dass auch Fähigkeiten im Umgang mit lernbegleitenden Emotionen (im Sinne der emotionalen Intelligenz) entwickelt werden. Gemeint sind z.B. die Fähigkeit, Emotionen als Weggefährten des Lernens zu erkennen und zu akzeptieren, die Fähigkeit, negative wie auch positive Emotionen bezogen auf den Lernprozess „richtig" zu interpretieren, und die Fähigkeit, negative Emotionen im Lernprozess zu überwinden. These 6. eLearning-Umgebungen, die Neugier und Interesse anregen, Flow-Erleben und Kompetenzaufbau ermöglichen sowie grundsätzliches Wohlbefinden und Vertrauen sicherstellen, können die Einstellung zum eLearning positiv beeinflussen und damit einen wesentlichen Beitrag zum Aufbau einer positiven Gefühlshaltung gegenüber dem Lernen mit neuen Medien leisten. Abbildung 2 fasst noch einmal die Kernthesen des lEMEL-Modells zu Neugier und Flow-Erleben beim Lernprozess zusammen.
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Abb. 2: Thesen zu Neugier und Flow-Erleben im lEMEL-Modell
Kohärenz 4 gilt als wichtiges Prinzip der Bedeutungskonstruktion beim Menschen (Thagard 2000): Bedeutung entsteht, wenn etwas zunächst Unstimmiges in ein kohärentes Muster mentaler Repräsentationen (Konzepte, Überzeugungen, Ziele, Handlungen) eingefügt wird. Kohärenz ist vor diesem Hintergrund ein sehr abstraktes, aber konkretisierbares Kriterium für die Gestaltung von eLearning-Umgebungen, die dem emotionalen Geschehen nicht nur als Randphänomen, sondern als einem zentralen Bestandteil des Lernens Rechnung tragen will. These 7. Das für das eLearning notwendige Mindestmaß an Wohlbefinden und Vertrauen setzt voraus, dass das eLearning-Vorhaben für die Zielgruppe der Lernenden und deren Ziele sowie in Bezug auf vorhandene Ressourcen (Technik, Infrastruktur, personeller Aufwand etc.) geeignet ist - das heißt: dass eine Passung zwischen dem eLearning-Konzept und dem Kontext seines Einsatzes besteht. Fehlt eine solche Passung, stellen sich Akzeptanzprobleme ein, die mit entsprechenden negativen Emotionen verbunden sind und zu den relativ hohen Abbrecherquoten beim eLearning beitragen (vgl. Reinmann-Rothmeier 2003a). These 8. Neben der grundsätzlichen Passung ist es wichtig, dass eLearning-Umgebungen der Bedeutung von Emotionen beim Lernprozess überhaupt Rechnung tragen - das heißt: dass die bisher dominierende kognitive Ausrichtung der Gestaltung von eLeaming-Umgebungen aufgegeben und durch eine „emotional stimmige" Gestaltung (Astleitner 2000) ergänzt wird. 4
lateinisch cohaerere: zusammenhängen, (in sich) verbunden sein, zusammenhalten.
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These 9. Schließlich ist zu bedenken, dass positive und negative Emotionen zusammen die Weggefährten des Lernens bilden und es letztlich nicht auf die Elimination bestimmter Gefühlsregungen und Erlebnistönungen, sondern darauf ankommt, Emotionen als solche zu erkennen und für den Lernprozess zu nutzen. Man könnte auch von einer „emotionalen Ganzheit" sprechen, deren Fragmentierung langfristig die Entwicklung emotionaler Intelligenz verhindert. Die Passung zwischen Konzept und Kontext, die emotionale Stimmigkeit in der Gestaltung und die Berücksichtigung der emotionalen Ganzheit beim Lernen stellen meiner Einschätzung nach drei Dimensionen für ein „kohärentes Lernen" dar, bei dem die Art des Lernens mit den Rahmenbedingungen, kognitiven und emotionalen Prozessen sowie positiven und negativen Emotionen jeweils im Einklang stehen. Abbildung 3 fasst die Thesen zur Kohärenz als Gestaltungskriterium noch einmal zusammen.
Emotionale Stimmigkeit Passung als Grundvoraussetzung
Positive und negative Emotionen Kriterium der Kohärenz
Abb. 3: Thesen zur Kohärenz im lEMEL-Modell
4. Gestaltung von eLearning-Umgebungen nach dem lEMEL-Modell 4.1 Verschiedene Gestaltungsebenen Auf die grundlegende Passung eines eLearning-Konzepts zum Kontext seines Einsatzes soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden, da dies an anderer Stelle ausführlich dokumentiert ist (siehe Reinmann-Rothmeier 2003a). Um emotionale Stimmigkeit und emotionale Ganzheit im oben beschriebenen Sinne zu erreichen, stehen dem Lehrenden bzw. dem Mediengestalter mehrere Gestaltungsebenen zur Verfügung, die man unter die Begriffe „Oberfläche", „Struktur" und „Prozess" subsumieren kann. Oberflächengestaltung. Bildschirmseiten bzw. Webseiten bilden sozusagen die „Haut" der eLearning-Umgebung und stellen damit die erste und entscheidende Kontaktfläche zwischen Lernendem und System dar (vgl. Thissen 2000). Wie
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bereits bei der Vorstellung des ARCS-Modells und stellenweise auch des FEASPAnsatzes gezeigt wurde, setzen heutige Bemühungen um die Anregung oder Reduktion bestimmter Gefühle unter anderem an der Oberfläche und verschiedenen Designmöglichkeiten an5: So postuliert Keller (1983) für eine explizite Aufmerksamkeitslenkung, die allem voran durch Oberflächengestaltung erreichbar ist. Fritz (1995) spricht in dem Zusammenhang von primären Aufforderungsreizen (z.B. bei Computerspielen), die zur Verstärkung vorhandener Motive wichtig sind. Das sogenannte Informationsdesign (Thissen 2000) nimmt eine Zwischenstellung zwischen Oberflächen und Strukturgestaltung ein, worauf an dieser Stelle allerdings nicht näher eingegangen werden kann. Strukturgestaltung. Unter Strukturgestaltung sollen sowohl die (didaktische) Aufbereitung von Inhalten als auch die gesamte instruktionale Gestaltung verstanden werden: Nicht nur der Bildschirm und die Aufmachung von Webseiten, sondern auch der Inhalt und dessen Gestaltung sind vom ersten Kontakt an für den Lernenden eine Lust- oder Unlustquelle. Informationsauswahl, -strukturierung und darstellung, aber auch deren inhaltliche Relevanz werden - wie bereits Keller (1983) gezeigt hat - in den letzten Jahren als zunehmend wichtiges Gestaltungsmoment erkannt. Die instruktionale Gestaltung einer eLearning-Umgebung kann aus pädagogisch-didaktischer Sicht als das „Herz" innerhalb der Strukturgestaltung bezeichnet werden, weil hier diejenigen Aktivitäten angeregt (oder auch verhindert) werden, die ein Lernender mit den angebotenen Inhalten ausführt: Hierher gehören die Sequenzierung und Anordnung von Inhalten ebenso wie Anleitung, Szenarien und Aufgabenstellungen. Auf Letzteres hat ebenfalls bereits Keller (1983) hingewiesen, um Möglichkeiten für das Erleben von Zufriedenheit (etwa durch Bewältigung von Aufgaben) zu eröffnen. Prozessgestaltung. Eine unmittelbare Gestaltung von Prozessen in eLearningUmgebungen erfolgt zum einen durch verschiedene Interaktionsformen, wie sie z.B. das System dem Lernenden anbietet (vgl. Schulmeister 2003). Zum anderen gehört zur Prozessgestaltung die Betreuung durch den Lehrenden. Die Betreuung beim eLearning stellt eine wichtige emotionale Gestaltungsebene dar, bei der zwischenmenschliche Beziehungen (medial vermittelt) eine Rolle spielen. Zu nennen sind hier die Feedbackgestaltung, die Unterstützung durch Tutoring beim individuellen Lernen oder die Moderation beim Lernen in der (virtuellen) Gruppe. Das oben skizzierte Kriterium der Kohärenz bedeutet auf den verschiedenen Ebenen Unterschiedliches: So wird man bei der Oberflächengestaltung vor allem auf die Gestaltwahrnehmung achten und ästhetische Kriterien berücksichtigen müssen. Bei der Strukturgestaltung ist die Feinabstimmung der einzelnen Elemente zu einer stimmigen Gesamtkonzeption von Bedeutung, deren Inhalte, Anleitungen, Aufgaben, Szenarien etc. eine in sich schlüssige Komposition ergeben sollten. Bei der Prozessgestaltung wiederum wird man - abhängig von der Zielgruppe - ande5
Hier tut sich in den USA, zunehmend aber auch in Deutschland, ein großer Markt auf, der bislang aber wenig wissenschaftlich fundiert vorgeht.
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re (eventuell auch komplementäre) Maßnahmen ergreifen müssen, um Kognition und verschiedene Emotionen in einer lernförderlichen Balance zu halten. Zwar sind die hier vorgeschlagenen Gestaltungsdimensionen nicht trennscharf, da natürlich die Oberflächengestaltung auch tiefer liegende Strukturen mitbedingt (und umgekehrt) und die Art der Strukturgestaltung Einfluss auf ablaufende Prozesse hat (und umgekehrt). Dennoch kann und soll diese Einteilung eine heuristische Hilfe für Analyse- und Gestaltungsmaßnahmen sein, was in der folgenden Abbildung 4 noch einmal zusammengefasst wird.
Oberflächengestaltung •Bildschirmdesign •Web-Design •Info-Design
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Strukturgestaltung »Inhaltsaufbereitung »Instruktionele Gestaltung
Prozessgestaltung •Interaktionen »Betreuung
Abb. 4: Gestaltungsebenen nach dem lEMEL-Modell
4.2 Forschungsprogramm zum lEMEL-Modell Die in diesem Text skizzierte Aufarbeitung verschiedener Theorien und Modelle zum Thema Emotion und Lernen sowie die Herleitung eines Modells zur Integration von Emotion und Motivation beim eLearning (das lEMEL-Modell) ist der Auftakt eines Forschungsprogramms, mit dem wir uns an der Professur für Medienpädagogik in den nächsten Jahren beschäftigen wollen. Im Vordergrund steht dabei ein forschungsmethodischer Ansatz, der der Frage nach Entwicklungsmöglichkeiten im eLearning-Bereich besonders entgegenkommt: der Design-based Research-Ansatz: „Design-based research is an emerging paradigm for the study of learning in context through the systematic design and study of instructional strategies and tools." (The Design-Based Research Collective 2003)
Mit dieser Form von Forschung lassen sich innovative und medienbasierte Wissens- und Lernumgebungen gestalten, dabei gleichzeitig reale Probleme lösen und einen theoretischen Beitrag leisten; Design-based Research ist demnach pragmatisch und theoretisch zugleich. Untersuchungen und Projekte im Rahmen des Design-based Research verfolgen das Ziel, die Ökologie des medienbasierten Wissens und Lernens besser zu verstehen (Erkenntnisziel wie in der Grundlagenforschung) und Prozesse des Wissens und Lernens mit Medien zu unterstützen
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(Nutzungsziel wie in der angewandten Forschung). Ein wichtiges Merkmal des Design-based Research besteht darin, dass Gestaltung, Implementation, reflektierte Analyse und erneute Gestaltung kontinuierlich und iterativ (in Zyklen) durchlaufen werden, um Theorien durch und mit der Praxis zu entwickeln und die Praxis mit Hilfe theoriegeleiteter Projekte zu verbessern. Erste Entwicklungsarbeiten wurden bereits beim Thema instruktionale Gestaltung mit der Erarbeitung verschiedener Aufgabentypen für eLeaming- und Blended Learning-Umgebungen durchgeführt (Reinmann-Rothmeier 2003b). Hier lassen sich weitere Aufgabentypen konstruieren, die verstärkt Thesen aus dem IEMELModell umsetzen. Über die Aufgabengestaltung hinausgehend ist die Entwicklung von Lernszenarien möglich, in denen bestehende Modelle aus dem Instructional Design-Bereich herangezogen und für eLearning-Zwecke umgesetzt werden (z.B. Goal-based Scenario-Ansatz von Roger Schänk). Ein weiterer Schwerpunkt stellt die Betreuung beim eLeaming aus der Perspektive des lEMEL-Modells dar: Insbesondere die Art der Initiierung und Begleitung individueller und kooperativer Lernprozesse sowie die Feedbackgestaltung sind hier von hohem Interesse. In diesem Bereich ist ebenfalls eine Sichtung und Analyse bestehender eTutoring-, eModerating-, eCoaching-Modelle etc. der erste Schritt, nach dem neue Ideen für emotional stimmige und emotional ausgewogene Betreuungsformen beim eLeaming erarbeitet werden können. Schließlich stellt die Oberflächengestaltung eine eigene Zielrichtung für künftige Entwicklungen im Bereich des eLeaming dar. Notwendig wird hier in Zukunft eine enge Forschungs- und Entwicklungskooperation zwischen Designer und Didaktikern sein.
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Emotionen beim eLeaming
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Gabi Reinmann
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Anwendungskonzepte
In diesem Kapitel geht es um die Rahmenbedingungen für handlungsorientiertes eLearning. Zuerst wird die Bedeutung von selbstgesteuertem Lernen behandelt und die damit notwendigen geänderten Anforderungen an Lerner, Lehrende und Institutionen hervorgehoben. Die weiteren Beiträge zeigen anhand verschiedener Beispiele Möglichkeiten auf, wie handlungsorientiertes eLearning didaktisch und organisatorisch gestaltet werden kann.
Selbstgesteuertes Lernen als Herausforderung in der Informationsgesellschaft Horst O. Mayer
1. Handlungsorientiertes Lernen und „lifelong learning" Qualifikationsanforderungen einer (post)modernen Arbeitswelt gestalten sich zunehmend komplexer und sind einem immer stärkeren Wandel unterzogen. Ein flexibles „Reagieren-können" in neuen, unvorhersehbaren Situationen wird immer mehr gefordert (vgl. Riedl u. Schelten 1997). „Handlungsorientiertes Lernen hat sich in diesem Zusammenhang seit einigen Jahren als modernes Unterrichtskonzept etabliert, das ein selbstorganisiertes, aktiv-entdeckendes, eigenverantwortliches und kooperatives Lernen fördert. Lernprozesse in konkreten Handlungsvollzügen sollen zu einem Erlernen von Fakten, Verfahrensweisen und besonders Begründungszusammenhängen führen". (Riedl u. Schelten 1997)
Handlungsorientiertes Lernen beinhaltet den Aspekt des selbstorganisierten bzw. selbstgesteuerten Lernens. Der Lerner muss also, will man handlungsorientiertes Lernen erfolgreich durchführen, zu selbstgesteuertem Lernen befähigt werden. Selbstgesteuertes Lernen stellt aber nicht nur geänderte Anforderungen an den Lerner, sondern auch an den Lehrenden sowie an die wissensvermittelnde Institution. Besonders für eine Gesellschaft, die durch eine immer komplexer werdende Arbeitswelt sowie durch eine zunehmende Informationsfülle geprägt ist, stellt das selbstgesteuerte Lernen eine große Bedeutung dar. Zusätzlich zur zunehmenden Komplexität von Qualifikationsanforderungen veralten berufliche Qualifikationen und insbesondere das Wissen im beruflichen Kontext in ständig kürzeren Abständen. Nach Angaben der Firma IBM lagen die „Halbwertszeiten" des Wissens im Berufsleben Mitte der neunziger Jahre bei folgenden Werten (vgl. Blumenstengel 1998, S. 26):
0
10
Jahre
Schulwissen 10
Hochschulwissen
EDV-Wissen
20 1 20
5
Berufliches Fachwissen Technologie-Wissen
15
i M M M 3 Μ 1
Abb. 1: „Halbwertszeit" des Wissens in Jahren
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Horst Ο. Mayer
Einerseits veraltert das vorhandene Wissen immer schneller und andererseits nimmt die Menge an angebotenen Informationen ständig zu. So verdoppelte sich die wissenschaftliche und technische Informationsmenge Anfang der 90er Jahre etwa alle 5,5 Jahre (vgl. Hasebrook 1995, S. 13). Diese gravierenden Veränderungen bezüglich der Produktion sowie die Bedeutung von Information und Wissen legen es nahe, von der heutigen Gesellschaft als einer Informationsgesellschaft (z.B. Toffler 1980) oder einer Wissensgesellschaft zu sprechen1. Information und Wissen gelten heute allgemein als grundlegendes Kapital einer postindustriellen Gesellschaft. Wissen wird immer mehr zur strategischen Ressource. In diesem Zusammenhang wird vielfach auf die Notwendigkeit eines „lifelong learning" verwiesen. Lifelong learning widerum ist unabdingbar mit selbstgesteuertem Lernen verbunden. Effizientes lifelong learning ist ohne Selbstorganisation und Selbststeuerung nicht möglich. Der Befähigung zum selbstgesteuerten Lernen kommt also sowohl im Kontext mit handlungsorientiertem Lernen als auch in Hinblick auf die Notwendigkeit zum „lifelong learning" eine immer wichtigere Bedeutung zu.
2. Selbstgesteuertes Lernen und eLearning Für den Begriff „Selbstgesteuertes Lernen" existiert keine einheitliche Definition. Vielmehr kursieren eine Reihe weiterer Begriffe in der Diskussion, die ebenfalls nicht einheitlich definiert sind: selbstorganisiert, selbstbestimmt, selbstreguliert, autonom, nicht-organisiert, autodidaktisch, selbstgestaltet oder einfach Selbstlernen. Teilweise werden die Begriffe synonym benutzt, teilweise wird unter dem gleichen Begriff Unterschiedliches verstanden. Häufig wird mit dem Begriff „selbstgesteuert" der Aspekt der Steuerung des Lernprozesses hervorgehoben. Zu steuernde Faktoren im Lernprozess sind im Wesentlichen (vgl. Dietrich 1999a u. Neber 1978): 1. 2. 3. 4.
das Ziel des Lernprozesses (woraufhin) die Inhalte des Lernprozesses (was) die Lernregulierung (wann, wo, wie lange) der Lernweg (wie, auf welche Weise, mit welchen Hilfsmitteln, allein oder gemeinsam mit anderen ...).
Der Lerner soll hier die Rolle des sich selbst Lehrenden übernehmen, indem er z.B. den Lernvorgang eigenständig plant, seinen Lernfortschritt überprüft und sich die notwendigen Informationen beschafft.
1
Die Begriffe „Informationsgesellschaft" sowie „Wissensgesellschaft" heben lediglich die Bedeutung von Information bzw. Wissen hervor und sind sicher nicht ausreichend, um die Gesellschaft als komplexes System zu beschreiben. Dennoch ist zu beobachten, dass der industrielle Sektor in seiner Rolle als entscheidender Wertschöpfungsbereich der Gesellschaft vom Informationssektor abgelöst worden ist und die gegenwärtige technologische Entwicklung, insbesondere die der Informations- und Kommunikationstechnologien, die Gesellschaft sehr stark prägt.
Neue Anforderungen in der
Informationsgesellschaft
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„Er erlebt die lernrelevanten Entscheidungen zumindest teilweise subjektiv als persönliche Verursachung von Lernaktivitäten und -ergebnissen und empfindet so ansatzweise Selbstverantwortlichkeit für das Lernen." (Deitering 2 0 0 1 , S. 92)
Die Methode des Lernens durch Lehren wird zudem vielfach als effektive Lernart angesehen (vgl. Tausch und Tausch 1979, S. 292 f.). Der Selbststeuerungsanteil wird jedoch schon wegen des interaktiven Charakters des Lernens und der kulturell vorhandenen und vermittelten Ziele, Strategien und Regelungstechniken nie die gesamte Bandbreite der Möglichkeiten umfassen (vgl. Neber 1978). eLearning kann als mit Kommunikations- und Informationstechnologien unterstütztes bzw. ermöglichtes Lernen oder kurz als elektronisch unterstütztes Lernen verstanden werden. Meist handelt es sich dabei um computerunterstützte Offline(z.B. CD-ROM) wie Online-Lernsysteme (Internet). eLearning ist geradezu prädestiniert für selbstgesteuertes individuelles Lernen. In multimedialen Lernsituationen treten der individuelle sowie der dezentrale Aspekt stärker in den Vordergrund, wobei der zeitliche seine Bedeutung verliert. eLearning kann jederzeit und an jedem beliebigen Ort individuell angeboten und durchgeführt werden. Der Lerner trifft selbst die Entscheidung, wann, wie lange, wo und manchmal sogar was er wie lernen möchte. Diese Wahlfreiheit stellt jedoch hohe Anforderungen an den Lerner. Aber nicht nur die Lerner sind den durch eLearning geänderten Anforderungen unterworfen, dies gilt ebenso für die Lehrenden und die Bildungsinstitutionen.
3. Geänderte Anforderungen durch eLearning bzw. selbstgesteuertes Lernen 3.1 Der Lemer Wird eLearning als eine Unterstützung für die Gestaltung selbstgesteuerten Lernens verstanden, so muss der Lerner in der Lage sein (vgl. Dietrich 1999a u. Hauff 2003) 1. seinen Lernbedarf zu erfassen und für sich Ziele zu entwickeln, 2. den eigenen Lernprozess zu planen und vorzubereiten, 3. zu entscheiden, welche Dinge er selbstorganisiert lernen will und kann und wo es sinnvoll ist, institutionalisierte Lernangebote wahrzunehmen, 4. den Lernprozess mit Hilfe geeigneter Lernstrategien durchzuführen und das Lernen mit Hilfe von Kontroll- und Eingreifstrategien zu regulieren sowie die Lernleistung zu bewerten, 5. Motivation und Konzentration aufrecht zu erhalten.
Dazu ist es erforderlich, dass der Lerner 1. ein verändertes Selbstverständnis bei selbstgesteuertem und selbstverantwortetem Lernen entwickelt, 2. die eigenen Lernmuster, -Verhaltensweisen und individuell passenden Lernstrategien kennt, 3. möglichst viele Lernmedien und - w e g e kennt und kompetent nutzen kann.
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Horst Ο. Mayer
Die eigene Lernfähigkeit der Lerner ist also durch Metalernen (Lernen lernen) auszubauen. Fehlen die hier beschriebenen Kompetenzen, so endet selbstgesteuertes Lernen schnell in Frustration oder verliert sich in Beliebigkeit (vgl. z.B. Simos 1992).
3.2 Die Lehrenden Wenn der Einzelne die Verantwortung für sein Lernen selbst übernimmt, hat dies Auswirkungen auf die Bedeutung und Funktion der Bildungseinrichtung und der Lehrenden. Die Veränderungen für die Lehrenden sind sehr weitreichend. Sie sind nicht mehr vorrangig für die Wissensvermittlung zuständig, sondern unterstützen und fördern die Lerner in ihrem selbstgesteuerten Lernprozess. Ihre Aufgabe beim selbstgesteuerten Lernen ist das Ermöglichen von Lernprozessen. Der Fokus der Betrachtung wandelt sich vom Lehrprozess zum Lernprozess. Dieser Wandel des Leitbildes für den Lehrenden ist bereits seit mehreren Jahren festzustellen. Im Zusammenhang mit eLearning in Form des selbstgesteuerten Lernens kommt ihm jedoch ein besonderer Stellenwert zu. Dabei erhält Beratung eine wichtige Bedeutung: Gefordert sind nicht mehr traditionell Lehrende, sondern benötigt werden Lernberater, die die selbstgesteuerten Lerner in ihrem Lernprozess begleiten. Aufgabe der Lernberater ist es z.B. (vgl. Dietrich 1999a u. Dietrich 1999b) 1. die Lerner mit eLearning vertraut zu machen, 2. die Lerner bei der Entscheidung über Lerninhalte und Lemwege zu beraten und Orientierung zu geben, 3. die angemessenen Lernarrangements zur Verfügung zu stellen, 4. die Auseinandersetzung der Lernenden mit dem Lernangebot zu fördern, 5. kooperatives Lernen zu fördern 2 , 6. alte Lernstrategien gegebenenfalls verandern zu helfen, 7. die Lerner bei der Kontrolle der Lernergebnisse zu unterstützen.
з.3 Die Hochschule Der Einsatz von eLearning unterstützt diese Wissensaneignung in konkreten Situationen, wodurch träges Wissen verhindert wird. Dabei ist zu beachten, dass eLearning konventionelles Lernen nicht vollständig ersetzen kann. Nach heutigen Erkenntnissen ist eine Kombination von face to face-Lernen und eLearning, das sogenannte „Blended Learning", sehr erfolgreich (vgl. z.B. Kerres u.a. 2002, Sauter и. Sauter 2002). 2
Das Lernen in Gruppen führt vielfach zu besseren Lernergebnissen. Im kooperativen Lernhandeln ist der Einzelne gezwungen seine Gedanken zu verbalisieren, wodurch der Bewusstseinsgrad der Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsprozesse gesteigert wird (vgl. Deitering 2001, S. 100 f. sowie Hesse u.a. 1997).
Neue Anforderungen
in der
Informationsgesellschaft
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Bei der Implementierung von eLearning an Hochschulen ist es wichtig zu betonen, dass eLearning nicht dazu dient, Präsenzlernen zu verdrängen, sondern vielmehr darauf abzielt: 1. das Wissen der Studenten zu homogenisieren, 2. die Vorkenntnisse der Studierenden zu erweitern, um den Anspruch in Präsenzveranstaltungen zu heben, 3. die Möglichkeiten, die eLearning zur Lernverbesserung allgemein (z.B. Unterstützung von handlungsorientiertem Lernen) sowie zur Unterstützung selbstgesteuerten Lernens bietet, zu nutzen und 4. kooperatives Lernen sowie 5. fächerübergreifende Lehre zu fördern.
Der Einsatz von eLearning mit dem Ziel der Förderung von handlungsorientiertem und selbstgesteuertem Lernen führt auch zu geänderten Anforderungen an die Hochschulen (vgl. Faulstich 1999). 1. Individualisierung: Selbstgesteuertes Lernen erfordert eine Individualisierung der Lernprozesse. 2. Deinstitutionalisierung: Durch die Erweiterung der Lernperspektive wird organisiertes Lernen in Institutionen, wie es dem hergebrachten Begriff von institutionalisierter Bildung entsprach, ergänzt durch Lernen am Arbeitsplatz, im sozialen Umfeld, mit Medien usw. Bildung wandert aus den Institutionen aus. Die Hochschulen müssen die dafür notwendigen Rahmenbedingungen zur Verfügung stellen. Dies wird verstärkt, wenn den Absolventen nach ihrem Studienabschluss Weiterbildungsmöglichkeiten angeboten werden sollen. 3. Deregulierung: Eine Individualisierung der Lernprozesse erfordert ihre Deregulierung. Die Hochschulen müssen dabei jedoch das richtige Mittelmaß finden, damit der deregulierte Lernprozess nicht zu einer unvertretbaren Steigerung der DropOut-Rate führt, da keine institutionelle Regulierung mehr vorhanden ist, die die Studenten durch ihr Studium führt.
Neben der Verbesserung des Wissenserwerbes steht vielfach in Bildungsinstitutionen, so auch an Hochschulen, zusätzlich die Verringerung der Bildungskosten im Vordergrund des Interesses. Dies mag in manchen Fällen wie z.B. den Raumressourcen teilweise auch zutreffen. Zu beachten ist jedoch, dass die Entwicklung von eLearning-Materialien meist einen deutlich größeren Aufwand benötigt wie dies bei konventionellen Methoden der Fall ist. Wollen Hochschulen die an sie gestellten Anforderungen weiterhin erfüllen und gegen die in Zukunft sicherlich stärker werdende Konkurrenz anderer Bildungseinrichtungen bestehen, so müssen sie u.a. auch für die dazu notwendigen Ressourcen sorgen.
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eLearning in der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung Thomas Baumann
1. Einleitung Die Pädagogische Hochschule Zürich (PHZH) entwickelt und evaluieri für das Lehren und Lernen mit und im Internet - dem eLeaming - einen methodischdidaktischen Baukasten, der in das Konzept des „Blended Learning" eingebettet ist. Im ersten Teil des vorliegenden Beitrages werden aus diesem Baukasten drei Bausteine - „Vorbereiten statt Nachbereiten", „Sandwich" und „Umkehrung der Didaktik" - vorgestellt und in Anlehnung an Seufert (2001) begründet. Dieser Baukasten bildet das Rückgrat des „Zürcher eLearning Ansatzes". Zudem wird an diversen Stellen auf die für die Lehrerinnen- und Lehrerausbildung relevante Handlungsorientierung hingewiesen. Im zweiten Teil werden erste Erfahrungen aus einer Veranstaltung mit eLearning-Anteilen diskutiert. Das Internet als Flaggschiff, als Ikone der neuen Medien bzw. der neuen Informations· und Kommunikationstechnik hat erneut die öffentliche Bildungsdiskussion angeregt. Auch die Pädagogische Hochschule Zürich (PHZH) hat sich dieser Diskussion angeschlossen und eine Infrastruktur für das Online-Lernen aufgebaut, die es erlaubt, Teile des Lehrens und Lernens im und mit dem Internet - dem eLearning 1 - zu unterstützen. eLearning an der PHZH soll die Präsenzveranstaltungen der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung aber auch die Weiterbildung von Lehrkräften mittels eLearning-Lerneinheiten ergänzen, und es so den Studierenden und Dozierenden ermöglichen, wesentliche Anteile des Lernens Ort und Zeit unabhängig an einem Computer zu absolvieren. eLearning per se ist jedoch nicht automatisch der Königsweg zu einem qualitativ hoch stehenden Lernangebot. Primär ist eLearning nur eine neue mediale Form bzw. Technik, über welche Inhalte präsentiert werden; die Qualität der Inhalte und die didaktische Vermittlung sind damit nicht präjudiziert. Zurzeit werden im Bereich eLearning eine Vielzahl von Strategien und Methoden vorgeschlagen und in der Praxis umgesetzt. Aber sind diese neuen Formen von Lernen tatsächlich auch effizienter oder wenigstens so effizient wie das klassische Lernen? Diese Frage zu beantworten ist schwierig, da es an konkreter Erfahrung mangelt. So wird in diesem Zusammenhang auch vom typischen „Non Significant Difference" Problem
1
Die Pädagogische Hochschule Zürich definiert eLearning wie folgt: „Unter eLearning werden strukturierte Lernumgebungen bezeichnet, deren Lehr- und Lernangebote das Inter- oder das Intranet als Plattform für das Lernen einsetzen" (vgl. Moser 2001, S. 1). Ähnlich definiert auch Kerres (vgl. 2001, S. 14) eLearning als Oberbegriff für alle Varianten internetbasierter Lehr- und Lernangebote. Hinzuzufügen wäre, dass auch Lernprozesse in Intranets darunter zu subsumieren wären.
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Thomas Baumann
gesprochen. Im Internet findet man dazu beispielsweise folgende Aussage: „Distance learning vs. classroom learning - which is better? Neither, says Thomas L. Russell, director emeritus of instructional telecommunications at North Carolina University. Russell has studied more than 400 studies of distance-education methods. He began his research hoping to find evidence for his belief that distance education was superior; he found that most studies showed