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German Pages 600 [602] Year 2018
Handbuch Text und Gespräch HSW 5
Handbücher Sprachwissen
Herausgegeben von Ekkehard Felder und Andreas Gardt
Band 5
Handbuch Text und Gespräch Herausgegeben von Karin Birkner und Nina Janich
ISBN 978-3-11-029572-6 e-ISBN [PDF] 978-3-11-029605-1 e-ISBN [EPUB] 978-3-11-039386-6 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Names: Birkner, Karin, editor. | Janich, Nina, 1968- editor. Title: Handbuch Text und Gespräch / herausgegeben von Karin Birkner, Nina Janich. Description: Boston : De Gruyter Mouton, 2018. | Series: Handbücher Sprachwissen (HSW) ; Band 5 | Includes bibliographical references. Identifiers: LCCN 2018008904 | ISBN 9783110295726 (hardback) Subjects: LCSH: Written communication. | Conversation analysis | Discourse analysis. | BISAC: LANGUAGE ARTS & DISCIPLINES / Communication Studies. | LANGUAGE ARTS & DISCIPLINES / Linguistics / General. Classification: LCC P211 .H33 2018 | DDC 302.2/244--dc23 LC record available at https:// lccn.loc.gov/2018008904 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Typesetting: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printing and binding: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Karin Birkner/Nina Janich IX Einleitung in den Band
I
Text und Gespräch – Grundlegendes
Stephan Stein 1. Oralität und Literalität Kirsten Adamzik 2. Was ist ein Text?
3
26
Andreas Gardt 3. Wissenskonstitution im Text Johannes Schwitalla 4. Was ist ein Gespräch? Arnulf Deppermann 5. Wissen im Gespräch
52
80
104
Constanze Spieß 6. Wissenskonstitution im Diskurs
143
II Wissen in Sprachproduktion und -rezeption Katrin Lehnen 7. Schreiben und Lesen
171
Katharina Bremer 8. Sprechen und Hören
200
Susanne Göpferich-Görnert 9. Textverständlichkeit 229 Ulrich Schmitz 10. Visualisierung in Text und Gespräch
249
VI
Inhalt
III Wissen in Text und Gespräch – domänenspezifische Perspektiven Jörg Kilian 11. Text und Gespräch in der Schule
279
Christian Efing 12. Wissen(-svermittlung) in der Ausbildung Andrea Bachmann-Stein 13. Wissenskommunikation in der Hochschule
298
323
Thomas Gloning 14. Wissensorganisation und Kommunikation in den Wissenschaften Monika Hanauska/Annette Leßmöllmann 15. Dialogizität im Wissenschaftsjournalismus Angelika Storrer 16. Web 2.0 – das Beispiel Wikipedia
372
398
Eva-Maria Graf/Thomas Spranz-Fogasy 17. Helfende Berufe – helfende Interaktionen Eva-Maria Jakobs 18. Wissen in Organisationen und Unternehmen Markus Nickl 19. Technische Kommunikation
344
419
444
467
Kersten Sven Roth 20. Didaktisierung von Wissen in der politischen Kommunikation
486
IV Wissenskonflikte in Texten, Gesprächen und Diskursen Werner Holly 21. Streit und Dissens Thomas Niehr 22. Normenkonflikte
509
533
Inhalt
Nina Janich 23. Nichtwissen und Unsicherheit Register
585
555
VII
Karin Birkner/Nina Janich
Einleitung in den Band Das Anliegen des Handbuchs „Text und Gespräch“ ist es, seinem Titel gemäß wesentliche Traditionslinien und zentrale Erkenntnisse der Textlinguistik und der Gesprächsforschung aufzugreifen und im Überblick darzustellen. Dabei sollen jedoch zugleich neue Akzente gesetzt werden: Erstens wird die dichotomische Trennung zwischen Texten und Gesprächen aufgehoben, wie sie noch das grundlegende Handbuch „Text- und Gesprächslinguistik“ (Brinker u. a. 2000/2001) mit je einem Band zur Text- bzw. zur Gesprächslinguistik prägte. Zweitens existieren Texte und Gespräche nicht unabhängig in kommunikativen Haushalten von Gesellschaften, sondern dienen im Gegenteil in vielfältiger Verflechtung der gesellschaftlichen Organisation. Deshalb liegt der zweite besondere Akzent dieses Handbuchs auf der Frage, wie mit Hilfe von Texten und Gesprächen gesellschaftlich relevantes Wissen ausgehandelt, konstruiert, vermittelt und tradiert wird. Zum ersten Punkt: Die Autorinnen und Autoren dieses Handbuchs waren aufgefordert, text- und gesprächslinguistisch die Besonderheiten von (prototypisch geschriebenen, monologischen) Texten und (prototypisch gesprochenen, dialogischen) Gesprächen durch spezifische theoretische Ansätze und Methoden im Blick zu behalten, ihre analytische Trennung aber zugleich gezielt zu überwinden. Sie sollten den Blick also stärker auch auf das Verbindende, das Gemeinsame, die Übergänge und die Verschränkungen zwischen beiden werfen (exemplarisch z. B. bei Wichter 2011 im Konzept der Kommunikationsreihe vorgeführt). Ein terminologisches Angebot hierfür war, begrifflich nicht mehr in erster Linie zwischen Text und Gespräch, sondern zwischen (medial) geschriebenem und (medial) gesprochenem Text zu unterscheiden. Im Vordergrund steht demnach der verbale Text, doch sollte auch seine para- und nonverbale Konstituiertheit, d. h. seine Multimodalität berücksichtigt werden. Um Übergänge und Verschränkungen zwischen gesprochenen und geschriebenen Texten verdeutlichen zu können, wurde den Autorinnen und Autoren daher ergänzend vorgeschlagen, mit dem Begriff der kommunikativen Praktik zu arbeiten. Stein (2011) schlägt in Anlehnung an Fiehler (z. B. 2000, 2005) den Terminus kommunikative Praktik als Überbegriff für (medial) gesprochene und geschriebene Texte vor und diskutiert die Anknüpfungspunkte zwischen dem textlinguistischen Konzept der ‚Textsorte‘ und dem gesprächslinguistischen Konzept der ‚kommunikativen Gattung‘ (zum Begriff der kommunikativen Praktik ähnlich auch Feilke 2012; Deppermann/Feilke/Linke 2016). Zum Zweiten ist die im Handbuch eingenommene Perspektive durchgängig von der Frage nach dem wechselseitigen Verhältnis von Text (im obigen Sinne) und Wissen geprägt. Seit Jahrzehnten wird in Text- und Gesprächslinguistik intensiv untersucht, welches Wissen über (gesprochene und geschriebene) Texte notwendig ist, um Wissen in (gesprochenen und geschriebenen) Texten adäquat zu verstehen https://doi.org/10.1515/9783110296051-203
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Karin Birkner/Nina Janich
bzw. zu vermitteln (vgl. Überblick bei Janich/Birkner 2015). Begründet wird der starke Fokus des vorliegenden Handbuchs auf das Verhältnis von Wissen und Text damit, dass Texte „soziale Werkzeuge“ sind, d. h. „Werkzeuge zur Wissensgenerierung, Wissensorganisation, Wissensakkumulation und Wissensvermittlung“ (Fritz 2013, 14 f.). Dementsprechend dienen auch kommunikative Praktiken mit ihren Verschränkungen von geschriebenen und gesprochenen Texten dem Zweck der gesellschaftlichen Wissensorganisation: Das im kommunikativen Haushalt einer Gesellschaft verfügbare kollektive Repertoire kommunikativer Praktiken wird von den Mitgliedern einer Sprach- und Kulturgemeinschaft auf der Grundlage individueller, aber in wesentlichen Teilen intersubjektiv vergleichbarer Wissensbestände aktualisiert, um für die Lösung rekurrenter kommunikativer Probleme auf sozial verfestigte Strukturen und Handlungsmuster unterschiedlicher Komplexität zurückgreifen zu können. (Stein 2011, 24)
Der dem Handbuch zugrunde gelegte Wissensbegriff soll hier nur kurz angedeutet werden – er wurde bei Janich/Birkner (2015) ausführlich dargelegt und wird auch in einigen Beiträgen des vorliegenden Handbuchs noch einmal explizit aufgegriffen (vgl. z. B. die Beiträge von Deppermann, Jakobs oder Janich in diesem Band). Zwei Perspektiven sind in jedem Fall zu unterscheiden: das Wissen über gesprochene und geschriebene Texte: über ihre Funktion, über prototypische Struktur- und Stilmuster, über Leser/Hörer/Gesprächspartner usw.; und das Wissen in Texten, d. h. die grammatische und semantische Wissensorganisation, die didaktische Wissensaufbereitung, die unterschiedlich perspektivierende und fokussierende Wissenstransformation und der diskursive Status. Beide Ebenen versucht das Handbuch explizit aufzugreifen und unter verschiedenen (spezifischen) Perspektiven zu diskutieren. Zudem wurde den Autorinnen und Autoren des Handbuchs vorgeschlagen, in ihrer Auseinandersetzung mit gesprochenen und geschriebenen Texten quer zu der genannten Doppelperspektive (‚in und über Texte‘) zusätzlich vier Beschreibungsdimensionen von Wissen zu unterscheiden: Erstens lässt sich nach den Trägern von Wissen fragen, d. h., wer etwas weiß (und wie er/sie dazu kommt). Zweitens lässt sich nach der Referenz von Wissen fragen, d. h., was gewusst wird. Drittens lässt sich dieses ‚Was‘ auf seine epistemische Qualität hin untersuchen, d. h., wie sicher es gewusst wird. Und viertens interessieren gerade im Hinblick auf Text und Gespräch die Manifestationsformen von Wissen, d. h., wie und wo sich Wissen (im Text) manifestiert. Das Handbuch versucht demnach – gemäß dem programmatischen Beitrag von Janich/Birkner (2015) –, die diskursive Konstitution und Vermittlung von Wissen in Texten und Gesprächen sowie das Wissen über geschriebene und gesprochene Texte in den Blick zu nehmen. Dabei wird bewusst versucht, zwischen den ‚Welten‘ der Textlinguistik und der Gesprächsforschung zu vermitteln und, wo immer möglich, die verbreitete theoretisch-methodische Trennung von (medial geschriebenen, tendenziell monologischen) Texten und (medial gesprochenen, tendenziell dialogischen) Gesprächen zu überwinden.
Einleitung in den Band
XI
Das Handbuch ist in vier Teile gegliedert: Der erste Teil dient dem grundlegenden Überblick und der Auseinandersetzung mit den oben skizzierten Begriffen ‚Text‘, ‚Gespräch‘ und – jeweils darauf bezogen – ‚Wissen‘ sowie der Verschränkung von Text und Gespräch im Diskurs. In diesem ersten Teil finden sich folgende Beiträge: Stephan Stein klärt einleitend und vorbereitend das grundsätzliche Verhältnis von „Oralität und Literalität“. Es folgen zwei parallel strukturierte Beitragsstränge: Zunächst erläutert Kirsten Adamzik den Begriff des Textes („Was ist ein Text?“) vor dem Hintergrund der textlinguistischen Forschung, während Andreas Gardt darauf aufbauend einen spezifischen Blick auf die „Wissenskonstitution im Text“ wirft. Ähnlich klärt dann Johannes Schwitalla den Gesprächsbegriff („Was ist ein Gespräch?“), während sich Arnulf Deppermann im Anschluss dem Thema „Wissen im Gespräch“ widmet; beide unter Einbeziehung zentraler Erkenntnisse der Gesprächsforschung. Um schon hier die beabsichtigte Zusammenführung beider Forschungsgegenstände in Form kommunikativer Praktiken vorzubereiten, schließt der erste Teil des Handbuchs mit dem Beitrag von Constanze Spieß zur „Wissenskonstitution im Diskurs“. Der zweite Teil des Handbuchs beschäftigt sich mit Fragen der Textproduktion und -rezeption. Diente der erste Teil vornehmlich einer produkt- bzw. ergebnisorientierten Perspektive, werden im zweiten Teil also nun die Prozesse des Schreibens und Lesens, des Sprechens und Hörens in den Blick genommen, auch unter Einbeziehung von Aspekten wie Verständlichkeit und Multimodalität. In diesem zweiten Teil finden sich dementsprechend grundlegende Überblicksbeiträge von Katrin Lehnen zu „Schreiben und Lesen“ sowie von Katharina Bremer zu „Sprechen und Hören“. Ergänzt werden diese Übersichten durch einen Beitrag von Susanne Göpferich-Görnert zur „Textverständlichkeit“ und von Ulrich Schmitz zur „Visualisierung in Text und Gespräch“. Der dritte Teil des Handbuchs versammelt domänenspezifische Perspektiven auf den Zusammenhang von ‚Wissen und gesprochenen/geschriebenen Texten‘. Hier folgt die Ordnung der Beiträge einer Sach-, Fach- und Medienlogik. Dieser dritte Teil dient damit einer nach Möglichkeit typologisch orientierten, insgesamt aber natürlich exemplarischen Aufbereitung der Wissenskonstitution, -strukturierung, -didaktisierung und -diskursivität in Texten und Gesprächen in unterschiedlichen Domänen. Zentral für die Beiträge dieses Teils ist es, dass die einführende Trennung in Text und Gespräch aufgehoben wird und aus der Perpektive der Domäne unterschiedliche Schwerpunkte auf Gesprochenes und Geschriebenes gelegt werden können, bei Bedarf auch unter diachronem Blickwinkel. Die erste Gruppe von Beiträgen legt einen Schwerpunkt auf die Wissensdidaktisierung: Es beginnt Jörg Kilian mit einem Beitrag zu „Text und Gespräch in der Schule“, gefolgt von einem Beitrag von Christian Efing zu „Wissen(svermittlung) in der Ausbildung“ sowie von einem Beitrag von Andrea Bachmann-Stein zur „Wissenskommunikation in der Hochschule“. Nach diesen Beiträgen zu unterschiedlichen Institutionen und Interaktionszusammenhängen der Wissensdidaktisierung bearbeiten die folgenden drei
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Karin Birkner/Nina Janich
Beiträge zentrale Domänen bzw. mediale Kontexte der Wissenskonstitution, nämlich Wissenschaftskommunikation, journalistische Massenmedien und Onlinekommunikation: Thomas Gloning widmet sich der „Wissensorganisation und Kommunikation in den Wissenschaften“, während Monika Hanauska und Annette Leßmöllmann ihren Schwerpunkt auf die „Dialogizität im Wissenschaftsjournalismus“ legen. Andrea Storrer folgt mit einem exemplarischen Beitrag zum „Web 2.0 – das Beispiel Wikipedia“. Die letzten vier Beiträge dieses dritten Teils nehmen konkrete gesellschaftsrelevante Berufsfelder in den Blick: Eva-Maria Graf und Thomas Spranz-Fogasy diskutieren Phänomene der Wissenskonstitution, -vermittlung und -diskursivität im Hinblick auf „Helfende Berufe – helfende Interaktionen“ und nehmen damit Domänen wie Medizin, Psychotherapie und Coaching/Beratung in den Blick. Eva-Maria Jakobs diskutiert in ihrem Beitrag die Relevanz von „Wissen in Organisationen und Unternehmen“ und widmet sich damit der gesprochenen und geschriebenen Kommunikation in der Domäne der Wirtschaft. Markus Nickl stellt in seinem Beitrag einen für den Zusammenhang von ‚Text und Wissen‘ zentralen professionellen Bereich vor, den der „Technischen Kommunikation“. Kersten Sven Roth beschließt diesen Abschnitt mit einem Beitrag zur „Didaktisierung von Wissen in der politischen Kommunikation“ und damit zur Domäne der Politik. Der vierte und letzte Teil des Handbuchs nimmt mit der Behandlung von Wissenskonflikten eine Art Metaperspektive ein, zumindest eine, die quer zu den domänenspezifischen Beiträgen liegt. Hier behandelt Werner Holly „Streit und Dissens“, d. h. sprachliches Wissen über und in agonaler Kommunikation. Thomas Niehr gibt einen Überblick über „Normenkonflikte“, wie sie insbesondere zwischen Laienlinguistik und linguistisch fundierter Sprachkritik entstehen. Nina Janich diskutiert mögliche Forschungsfragen und erste Ergebnisse zu „Nichtwissen und Unsicherheit“, wie sie in Text, Gespräch und Diskurs thematisiert bzw. zugeschrieben werden. Wir als Herausgeberinnen hoffen, dass Leserin und Leser damit sowohl Kerninhalte aus Text- und Gesprächslinguistik wiederfinden, dass sie sich aber auch anregen lassen durch die vielfältigen neuen Perspektiven auf kommunikative Praktiken, mit denen wir in Alltag und Beruf unser individuelles wie gesellschaftliches Wissen immer neu organisieren. Unser herzlicher Dank geht an die Autorinnen und Autoren, die sich auf unser Konzept eingelassen und dann größte Geduld mit unseren Arbeitsabläufen bewiesen haben. Zudem danken wir herzlich dem Team, das uns bei Korrektur und Redaktion unterstützt hat, namentlich Lukas Daum, Anna Diehl, Lena Heeg, AnnKathrin Müller, Anne Simmerling und besonders Anja Fischer. Auch den Reihenherausgebern und dem Verlag sei für Unterstützung und Geduld vielmals gedankt. Bayreuth und Darmstadt, im Oktober 2017
Karin Birkner und Nina Janich
Einleitung in den Band
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Literatur Brinker, Klaus u. a. (Hg.) (2000/2001): Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 2 Bde. Berlin/New York. Deppermann, Arnulf/Helmuth Feilke/Angelika Linke (2016): Sprachliche und kommunikative Praktiken: Eine Annäherung aus linguistischer Sicht. In: Arnulf Deppermann/Helmuth Feilke/ Angelika Linke (Hg.): Sprachliche und kommunikative Praktiken. Berlin/Boston, 1–23. Fiehler, Reinhard (2000): Über zwei Probleme bei der Untersuchung gesprochener Sprache. In: Sprache und Literatur 31.85, 23–42. Fiehler, Reinhard (2005): Gesprochene Sprache. In: Dudenredaktion (Hg.): Duden – Die Grammatik. 7., völlig neu erarb. und erw. Aufl. Mannheim u. a., 1175–1252. Feilke, Helmuth (2012): Was sind Textroutinen? Zur Theorie und Methodik des Forschungsfeldes. In: Helmuth Feilke/Katrin Lehnen (Hg.): Schreib- und Textroutinen. Theorie, Erwerb und theoretisch-didaktische Modellierung. Frankfurt am Main, 1–31. Fritz, Gerd (2013): Dynamische Texttheorie. Gießen. http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2013/9243/ (29. 09. 2017). Janich, Nina/Karin Birkner (2015): Text und Gespräch. In: Ekkehard Felder/Andreas Gardt (Hg.): Handbuch Sprachwissen. Berlin/Boston, 275–296. Stein, Stephan (2011): Kommunikative Praktiken, kommunikative Gattungen und Textsorten. Konzepte und Methoden für die Untersuchung mündlicher und schriftlicher Kommunikation im Vergleich. In: Karin Birkner/Dorothee Meer (Hg.): Institutionalisierter Alltag: Mündlichkeit und Schriftlichkeit in unterschiedlichen Praxisfeldern. Mannheim, 8–27. Wichter, Sigurd (2011): Kommunikationsreihen aus Gesprächen und Textkommunikaten. Zur Kommunikation in und zwischen Gesellschaften. Berlin/Boston.
I Text und Gespräch – Grundlegendes
Stephan Stein
1. Oralität und Literalität Abstract: Im Mittelpunkt des Beitrags stehen grundlegende Perspektiven auf die Unterscheidung zwischen den beiden linguistischen Grundeinheiten ‚Text‘ und ‚Gespräch‘. Ausgehend von den verschiedenen Betrachtungsaspekten, die sich mit den drei Begriffspaaren ,gesprochene Sprache und geschriebene Sprache‘, ,Mündlichkeit und Schriftlichkeit‘ sowie ,Oralität und Literalität‘ verbinden, werden kulturund sprachhistorische, sprachtheoretische und sprachgebrauchsbezogene Unterscheidungsansätze vorgestellt. Vor dem Hintergrund des prominenten Modells der ,Sprache der Nähe‘ und der ,Sprache der Distanz‘ werden Vergleichsperspektiven aufgezeigt und Übergangs- und Mischphänomene angesprochen. Der Beitrag verfolgt auf diese Weise das Ziel, Möglichkeiten und Grenzen für die Gegenüberstellung von Text und Gespräch zu verdeutlichen.
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Forschungstraditionen Orale und literale Sprachkultur: Brennpunkte Vergleichsperspektiven für orale und literale Sprachkulturen: mediale und konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit Oralität und Literalität – und das Verhältnis zwischen Text und Gespräch Übergangs- und Mischphänomene Fazit Literatur
1 Forschungstraditionen 1.1 Grundlegendes zu Kommunikationsprozessen Das Funktionieren des Zusammenlebens von Menschen setzt Kommunikation voraus. Die Angehörigen von Sprach- und Kulturgemeinschaften bringen (verbal konstituierte) kommunikative Praktiken hervor, um (sich wiederholende) kommunikative Aufgaben zu bewältigen. Diese kommunikativen Praktiken stellen „Grundformen der Verständigung“ (Fiehler 2005, 1181) dar, die auf mündlichen und – in literalen Sprachgemeinschaften – auch auf schriftlichen Realisationsformen von Sprache beruhen. Es ist – sowohl in den Alltagsvorstellungen der Sprachverwender als auch in (sprach)wissenschaftlichen Modellierungen – weit verbreitet, allein die Art der Produktion (Sprechen oder Schreiben) zum Unterscheidungsmerkmal zu machen, obwohl dafür soziale Aspekte der Kommunikation ausgeblendet werden müssen (vgl. Fiehler 2005, 1181). Gestützt wird eine solche einseitige und verkürzte Sehweise allerdings dadurch, dass mündliche und schriftliche Kommunikation https://doi.org/10.1515/9783110296051-001
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Stephan Stein
„weitgehend unterschiedliche Domänen und Funktionen“ (Fiehler 2005, 1183) haben: Bestimmte kommunikative Anliegen werden bevorzugt oder ausschließlich mithilfe von Texten als „Resultat[e] des schriftlichen Fixierens von Äußerungen“ (Dürscheid 2012, 19), andere dagegen mittels Gesprächen als Resultate der mündlichen Hervorbringung von Äußerungen bearbeitet. Das schließt nicht aus, dass zur Bearbeitung eines kommunikativen Anliegens mündliche und schriftliche Realisationsformen von Sprachen miteinander kombiniert werden oder dass mediale Wechsel stattfinden. Es ist dennoch naheliegend, dass sich die Affinität zwischen kommunikativem Anliegen bzw. Zweck und Wahl der sprachlichen Äußerungsform mit funktionalen Differenzen verbindet: Gespräche finden statt, um kommunikative Anliegen interaktiv zu bewältigen. „Zentrale Funktionen sind dabei die unmittelbare wechselseitige Beeinflussung und Steuerung und die Vermittlung von Wissen“ (Fiehler 2005, 1183). Texte dagegen entstehen, um „sprachliche Handlungen der Flüchtigkeit zu entheben“ (Fiehler 2005, 1183) und ihnen eine mehr oder weniger dauerhafte materialisierte Grundlage zu verschaffen; ihre wesentliche Funktion liegt deshalb „in der raum-zeitlichen Distribution und Tradierung“ (Fiehler 2005, 1183) von Wissen (Wissensspeicherung, Wissensorganisation und Wissensvermittlung). Texte und Gespräche können also grundsätzlich als verschiedene Modi praktikengebundener Verständigung mit jeweils spezifischen Domänen und Funktionen verstanden werden. Angesichts der unüberschaubaren Zahl Tag für Tag im Großen und Ganzen reibungslos ablaufender kommunikativer Ereignisse ist es plausibel, davon auszugehen, dass sich Sprachteilhaber auf der Grundlage ihrer kommunikativen Erfahrungen und im Interesse größtmöglichen kommunikativen Erfolgs in konkreten Verständigungssituationen zwischen den beiden Modi entscheiden, sie miteinander verknüpfen oder zwischen ihnen wechseln und so geeignete kommunikative Praktiken und Strategien wählen. Dass Sprachverwender – bei allen individuell bedingten Unterschieden – in Situationen, in denen medial mündlich kommuniziert wird, von den Möglichkeiten des Sprachsystems und den verfügbaren Äußerungsressourcen im Ergebnis einen z. T. anderen Gebrauch machen als in Situationen, in denen medial schriftlich kommuniziert wird, ist auf die jeweiligen Kommunikationsbedingungen zurückzuführen.
1.2 Untersuchungs- und Abgrenzungsperspektiven Für die Untersuchung der im Fokus stehenden Grundeinheiten ,Text‘ und ,Gespräch‘ und die mit ihrer Konstitution verbundenen kommunikativen Aktivitäten, Grundhaltungen, Wissensvoraussetzungen usw. haben sich mehrere, aus verschiedenen Wissenschaftstraditionen stammende Konzepte und Begrifflichkeiten etabliert. Das titelgebende Begriffspaar ist dabei nur eines von mehreren terminologischen Gegensatzpaaren, die verschiedenen Forschungstraditionen entstammen und daher mit verschiedenen Ausgangspositionen, Erkenntnisinteressen und methodischen Ansätzen verbunden sind:
Oralität und Literalität
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1. Die Begriffe ,Oralität‘ und ,Literalität‘ sind allein auf die mediale Dimension bezogen (vgl. dazu auch Abschnitt 3). Sie stehen in kulturhistorischen und kulturwissenschaftlichen Forschungskontexten einerseits für gesellschaftliche Zustände und Entwicklungsstufen von Sprachgemeinschaften, andererseits für eine „individuelle Verfasstheit“ (Dürscheid 2012, 61). Literalität bezeichnet den Umstand, dass eine Sprachgemeinschaft über Schrift und ein Schriftsystem als Kommunikationsmittel verfügt, sowie die individuelle Fähigkeit, lesen und schreiben, also an schriftbasierter Kommunikation teilhaben zu können; (primäre) Oralität dagegen bezeichnet den phylogenetischen Primat eines gesellschaftlichen Zustands und den ontogenetischen Primat eines menschlichen Entwicklungsstandes, der „durch die Unkenntnis von Schrift charakterisiert ist“ (Dürscheid 2012, 61). Das Interesse richtet sich also auf die Fragen, über welche Kommunikationsmittel und Verständigungspraktiken eine Sprachgemeinschaft und die ihr angehörenden Menschen verfügen, welchen medial verursachten Veränderungen die Kommunikationspraxis ausgesetzt ist und inwiefern von einer „unterschiedliche[n] ‚Mentalität‘ oraler und schreibender Kulturen“ (Ong 1987, 11) auszugehen ist. 2. Die Begriffe ,Mündlichkeit‘ und ,Schriftlichkeit‘ haben ihre Domäne in sprachhistorisch und sprachtheoretisch ausgerichteten Forschungskontexten. Es handelt sich um mehrdeutige Begriffe, da sie (mindestens) auf die beiden Ebenen der Realisierung und der Konzeption sprachlicher Äußerungen bezogen werden können. Beide Ebenen sind mit zahlreichen historisch und systematisch wichtigen Untersuchungsperspektiven verbunden, wie sie in dem von Koch/Oesterreicher in mehreren Arbeiten (1986, 1994, 2007, 2008) publik gemachten Modell für die Beschreibung und Situierung von Äußerungsformen und in der metaphorischen Redeweise von Sprache der Nähe und Sprache der Distanz zum Ausdruck kommen (vgl. Abschnitt 3). Will man über die eingangs skizzierte basale Unterscheidung kommunikativer Praktiken allein auf der Grundlage der Art der Produktion hinauskommen, setzt das eine Analyse konzeptioneller Äußerungsmerkmale der verschiedenen kommunikativen Praktiken voraus, die auf der Unterscheidung (proto)typischer Merkmale gesprochener und geschriebener Sprache aufbaut. 3. Auch ,gesprochene Sprache‘ und ,geschriebene Sprache‘ erweisen sich – jenseits ihrer Alltagsverwendungen – als mehrdeutige Begriffe, die verschiedenen Forschungskontexten angehören. Trotz des phylo- wie ontogenetischen Primats des Sprechens haben sich erst im Rahmen der jüngeren Sprachwissenschaft seit der kommunikativ-pragmatischen Wende verschiedene Forschungsrichtungen etabliert (u. a. Gesprochene-Sprache-Forschung, verschiedene Ausprägungen der Gesprächsbzw. Dialoganalyse), die mit der Redeweise von ,gesprochener Sprache‘ eine Ausweitung des Untersuchungsgegenstandes in Richtung auf mündlich vollzogene Kommunikationsprozesse jedweder Art erreicht und zugleich einen Gegenbegriff zur (stark in der Tradition der Grammatikschreibung verhafteten und durch sie sehr gut erforschten) geschriebenen Sprache geprägt haben. In den Blick kommen so jeweils charakteristische Äußerungseigenschaften auf den verschiedenen
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Stephan Stein
Ebenen der Sprachbeschreibung (vgl. dazu Schwitalla 1994, 2012; Fiehler u. a. 2004, Kap. II–III, 2005, Kap. 5.3).
1.3 Zur Konstitution des Untersuchungsgegenstandes Es ist zu beobachten, dass die Bezeichnungen gesprochene Sprache und geschriebene Sprache einerseits auf rein mediale, andererseits auf rein konzeptionelle Äußerungseigenschaften verweisen: Dürscheid (2012, 19, 61) beispielsweise versteht die beiden Bezeichnungen „per definitionem ausschließlich auf die zwei medialen Realisationsformen von Sprache“ (Dürscheid 2012, 61), d. h. auf die Alternative zwischen phonischer und graphischer Realisierung, bezogen; Koch/Oesterreicher (1986, 17) dagegen verwenden sie, um gerade die konzeptionelle Verfasstheit, d. h. den Aufbau und Duktus von Äußerungen zu charakterisieren und von der medialen Seite abzuheben. Schwerer als diese begriffsinhaltliche Divergenz wiegt, dass die Redeweise von ,gesprochener Sprache‘ bzw. von ,geschriebener Sprache‘ aus konzeptioneller Sicht suggeriert, man habe es mit zwei homogenen Untersuchungsbereichen zu tun. Zurückzuführen ist diese weit verbreitete „Konstruktion von Einheitlichkeit“ (Fiehler 2000, 35) darauf, dass die Konstitution der Untersuchungsgegenstände nachhaltig beeinflusst ist durch die von Fiehler (2000, 34) als „Prototypisierung“, „Homogenisierung“ und „Abstraktion von der Praktikengebundenheit des Sprechens“ (und auch des Schreibens) charakterisierten Prozesse: Prototypisierung besteht darin, dass – unter Marginalisierung oder sogar Ausblendung bestimmter Äußerungsformen – die Untersuchung beider Bereiche durch die Vorstellung geprägt ist, dass bestimmte kommunikative Praktiken „bessere, genuinere Fälle von Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit zu sein [scheinen] als andere“ (Fiehler 2000, 35). Aus dieser zwar realitätsfernen, aber wissenschaftsmethodisch begründbaren (vgl. Hennig 2000, 111–114) Vorstellung resultiert die Annahme, dass jeder Bereich „für sich eine gewisse Homogenität besitzt“ (Fiehler 2000, 36); d. h., die „begriffliche Gegenüberstellung wirkt intern jeweils homogenisierend und zugleich extern differenzverstärkend“ (Fiehler 2000, 36). Aus dieser ebenfalls realitätsfernen Vorstellung resultiert schließlich die „Abstraktion von der Praktikengebundenheit“ (Fiehler 2000, 36), die suggeriert, dass beim Sprechen und beim Schreiben unabhängig von den genutzten kommunikativen Praktiken gleiche kommunikative Bedingungen anzunehmen und gleiche Äußerungseigenschaften zu beobachten seien (vgl. Fiehler 2000, 36). Ergebnis dieser „Konstruktion eines grundlegenden, polaren Gegensatzes“ (Fiehler 2000, 36) ist, dass die Gegenüberstellung von „gesprochen“ und „geschrieben“ als „ubiquitär konkurrierend“ (Fiehler 2000, 36) erscheint und den Blick dafür versperrt, dass Befunde empirischer Studien – will man der Gefahr der (Über-)Generalisierung entgehen – nur Gültigkeit für das zugrunde gelegte Sprachmaterial und die analysierten kommunikativen Praktiken beanspruchen können. Mit anderen Worten: Der Beobachtung und Analyse zugänglich ist weder ,die‘ gesprochene noch ,die‘ geschriebene Sprache, sondern sind
Oralität und Literalität
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lediglich die Resultate der Anwendung kommunikativer Praktiken bzw. die Exemplare von Text- und Gesprächssorten (vgl. auch Hennig 2000, 108, 114–119). Der kursorische Blick auf Begrifflichkeiten und Forschungstraditionen zeigt, dass in dem hier zur Diskussion stehenden Forschungsfeld eine bemerkenswerte begriffliche wie methodische Fülle und Heterogenität vorherrscht und dass es erforderlich ist, die jeweiligen Begrifflichkeiten stets an theoretische Ansätze zu koppeln und zu berücksichtigen, dass es nicht nur im Sprachvergleich, sondern auch im Blick auf ein Einzelsprachsystem und seine Verwendung wie auch durch die Kultur- und Sprachgeschichte begründete Betrachtungsunterschiede gibt.
2 Orale und literale Sprachkultur: Brennpunkte 2.1 Einzelsprachsystem- und -verwendungsbezogene Perspektive: zur Frage nach Unterschieden zwischen gesprochenem und geschriebenem Deutsch Das Gegensatzpaar ,gesprochene Sprache‘ – ,geschriebene Sprache‘ scheint also auf eindeutig voneinander abgrenzbare Untersuchungsgegenstände zu verweisen, die es so in der Kommunikationspraxis jedoch nicht gibt. Dass es sich trotzdem in der Forschung durchgesetzt hat und großer Beliebtheit erfreut, ist darauf zurückzuführen, dass sich mit dieser Opposition – orientiert an prototypischen Manifestationen für beide Realisierungsformen (wie z. B. Zeitungstext und Alltagsgespräch) – grundlegende Unterschiede der beiden Existenzformen von Sprache am besten verdeutlichen lassen (vgl. Dürscheid 2012, 25; stellvertretend sei zum einen auf die tabellarische Übersicht von Schwitalla 1994, 17 f., zum anderen auf die Zusammenstellung und Erläuterung prototypischer Merkmale gesprochener und geschriebener Sprache bei Dürscheid 2012, 26–34 verwiesen). In den Blick kommen auf diese Weise charakteristische Unterschiede zwischen den Kommunikationsbedingungen, den Produktions- und den Rezeptionsprozessen sowie den Äußerungsprodukten selbst (vgl. dazu Stein 2003, 26 ff.), die eine Gegenüberstellung von ,Text‘ und ,Gespräch‘ sowie eine entsprechende, auch methodisch begründete Arbeitsteilung zwischen ,Textlinguistik‘ und ,Gesprächslinguistik‘ zu rechtfertigen scheinen. Umso erstaunlicher ist es, dass sich abgesehen von Unterschieden in der Äußerungsproduktion kaum wirklich tragfähige Unterscheidungsmerkmale finden. Dass sich im Vergleich der Äußerungsproduktion Unterschiede ausmachen lassen – nach Dürscheid (2012, 34) die Körpergebundenheit der Produktion gesprochener gegenüber der Gebundenheit der Produktion geschriebener Sprache an ein Schreibwerkzeug sowie die zeitliche Dimension der gesprochenen gegenüber der räumlichen Dimension geschriebener Sprache –, liegt in der Natur der Sache. Fiehler (2005, 1182 und Kap. 5) geht hier insofern weiter, als er mündliche Kommunikation als „verbal, körperlich und/oder auf der Grundlage visueller Wahrnehmungen und
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Inferenzen“ (Fiehler 2005, 1182) erfolgende, also als eine durch Multimodalität (vgl. Fiehler 2005, 1201) geprägte Verständigung mittels kommunikativer Praktiken charakterisiert und sich mit der Bezeichnung gesprochene Sprache auf die verbalsprachlichen Anteile bezieht, die gegenüber der geschriebenen Sprache Besonderheiten auf lautlicher, morphosyntaktischer und lexikalisch-semantischer Ebene aufweisen (vgl. Fiehler 2005, 1208). Die Versuche, Äußerungseigenschaften zu bestimmen, die sich nicht allein in ihrer jeweiligen Gebrauchsfrequenz unterscheiden, sondern genuin gesprochensprachlicher oder genuin geschriebensprachlicher Natur sind (vgl. schon die frühen Arbeiten von Coulmas 1985 und Klein 1985, außerdem Hennig 2006, 109–116 und Schneider 2011), konnten jedoch nur wenig verlässlich Differenzierendes aufdecken. Angesichts einer solchen Bilanz der umfangreichen Gesprochene-Sprache-Forschung sollten die Gemeinsamkeiten also nicht übersehen werden.
2.2 Sprachtheoretische Perspektive: Systemdebatte Die skizzierte Auseinandersetzung um das Verhältnis und um die Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache hat zu einer intensiven sprachtheoretischen Diskussion über den Status von Schrift und Schriftlichkeit geführt, die oft schlagwortartig und durchaus negativ konnotiert als Systemdebatte bezeichnet wird. Diese Debatte kann und soll hier nicht detailliert nachgezeichnet werden (vgl. dazu Klein 1985, 26 ff.; Glück 1987, 57–110; Rath 1994, 385–387; Stein 2003, 438–441; Fiehler u. a. 2004, 118–125; Hennig 2006, 102–109; Dürscheid 2012, 35– 42), zumal sie auf verschiedenen Ebenen bzw. aus verschiedenen Perspektiven (u. a. sprachstrukturell, sprachfunktional, phonologisch-graphematisch, insbesondere aber entwicklungsgeschichtlich) geführt wird. Vertreten werden im Wesentlichen die Hypothesen – der Dependenz, wonach die geschriebene Sprache – im Anschluss an die berühmt-berüchtigte Auffassung von Ferdinand de Saussure (Schrift als sekundäres Zeichensystem) – in Abhängigkeit von der gesprochenen Sprache steht, – der Autonomie, wonach vor allem aus entwicklungsgeschichtlicher Perspektive von einer relativen Autonomie der geschriebenen Sprache als eigenständiger Realisationsform auszugehen ist, – und der – am weitesten verbreiteten – Interdependenz, wonach die Autonomiehypothese zu relativieren und der gesprochenen Sprache zwar eine relative Dominanz über die geschriebene Sprache zuzusprechen, aber auch von wechselseitigen Beeinflussungsmöglichkeiten auszugehen ist. Wie Dürscheid (2012, 41) zu Recht betont, hängt es von der gewählten Perspektive ab, wie bestimmte Argumente gewichtet werden und welche Position man in dieser Debatte einnimmt. Unabhängig aber von der sprachtheoretischen Diskussion hat sich in der heutigen Sprachwissenschaft die erwähnte Arbeitsteilung durchgesetzt,
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nach der es zumindest plausible wissenschaftspraktische Gründe dafür zu geben scheint, gesprochene und geschriebene Sprache methodisch differenziert zu untersuchen.
2.3 Kultur- und sprachhistorische Perspektive: Ausprägungen von Oralität, Konsequenzen von Literalität und Formen wechselseitiger Inszenierung 2.3.1 Primäre, elaborierte und sekundäre Oralität Als Mitglieder einer literalen Sprachkultur sind wir es gewohnt, von Schriftkulturen auszugehen. Im Prozess historisch-kultureller wie auch individueller Schriftaneignung wird jedoch erst deutlich, dass Schrift(aneignung) und Schreiben als kommunikative Tätigkeit das menschliche Bewusstsein verändern (vgl. Ong 1987, 81): „Das Schreiben konstruiert das Denken neu“ (Ong 1987, 81) und verändert nachhaltig und irreversibel auch unsere Sicht auf die Sprache. Sich in eine Sprachkultur hineinzuversetzen, die im Sinne Ongs durch „primäre Oralität“, im Sinne Koch/ Oesterreichers (1986, 29) durch „primäre Mündlichkeit“ oder im Sinne Glücks (1987, 182) durch „Aliteralität“ geprägt ist, d. h. die sich „unberührt von jeder Kenntnis des Schreibens oder Druckens entfaltet“ (Ong 1987, 18), ist für literalisierte Sprachverwender daher kaum möglich. Kommunikationssituationen, in denen man sich wie in einer rein oralen Kultur verhält, sind denn auch allenfalls in Extremsituationen denk- und beobachtbar, wenn die Äußerungsproduktion in besonderem Maße durch das Wirksamwerden von Basisemotionen (Wut, Angst usw.) beeinflusst wird (Fluchen, Hilferufe usw.). Aus kultur- und sprachhistorischer Sicht ist bemerkenswert, dass orale Kulturen trotz fehlender Schrifttechnologie in der Lage sind, in Gestalt von Spruchweisheiten, Beschwörungs- und Zauberformeln, Rechtsformeln, Rätseln, Sagen und Heldenliedern usw. Formen einer „elaborierten Mündlichkeit“ (Koch/Oesterreicher 1986, 30, 1994, 593) und Strategien einer Gedächtniskultur zu entwickeln, um Wissen zu bewahren und zu tradieren (durch memorisierungserleichternde Techniken wie u. a. Rekurs auf vorgefertigte Ausdruckseinheiten und Formelhaftigkeit). Man kann solche Errungenschaften als „Spuren distanzsprachlicher […] Mündlichkeit“ (Koch/Oesterreicher 1986, 31) auffassen. Die Kommunikationspraxis hochliteralisierter und hochtechnisierter Sprachkulturen zeichnet sich dagegen nicht nur durch Literalität, sondern auch durch eine „sekundäre Oralität“ aus. Ong (1987, 18) bezeichnet damit eine aus der Existenz von Schrift und Druck hervorgegangene, durch Massenkommunikationsmittel und elektronische Übertragungstechniken entstandene neue Oralität, die maßgeblich zu einer erheblichen Ausweitung des Kommunikationsradius und der Größe der an der Kommunikation beteiligten Parteien beiträgt. Im Blick auf die rasanten
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und weitreichenden Neuerungen im Bereich der Kommunikationstechnologien im Internet- und Mobilfunkzeitalter scheinen die Grenzen zwischen gesprochener und geschriebener Kommunikation überdies zunehmend zu verschwimmen. Die Implikationen des Begriffs ,sekundäre Oralität‘ reichen jedoch weiter und schließen den grundlegenden Umstand mit ein, dass es in Schriftkulturen keine wirklich primäre, d. h. nicht in irgendeiner Weise durch Schrifteinflüsse geprägte Form von Oralität mehr gibt.
2.3.2 Literalität und ihre Konsequenzen Der Übergang zur Schriftkultur (vgl. dazu Goody/Watt 1981) und die damit verbundenen Ausbauprozesse (vgl. dazu Koch/Oesterreicher 1994, 593–600) haben einzelsprachspezifisch erhebliche Konsequenzen auf den verschiedenen sprachlichen Ebenen; dazu zählen insbesondere – Veränderungen im Repertoire kommunikativer Praktiken (u. a. Herausbildung, funktionale Differenzierung, Ablösung und Verschwinden von Praktiken), – Veränderungen im Varietätenraum und Verschiebungen in einzelnen Varietätendimensionen einschließlich einer „Reorganisation des Nähebereichs“ (Koch/ Oesterreicher 1994, 600), d. h. der Ausbildung neuer tendenziell nähesprachlicher Varietäten wie Regiolekte unter Zurück- oder Verdrängung von Dialekten, – Standardisierungsprozesse durch Selektion (einschließlich u. U. veränderter diasystematischer Markierung) sprachlicher Mittel, durch deren Kodifizierung und in Verbindung damit meist auch durch deren Normierung u. U. mit der Folge einer „Erstarrung im Distanzbereich“ (Koch/Oesterreicher 1994, 599). Klein (1985, 25) spricht im Hinblick auf die Sprachmittel und das zugrunde liegende System zusammenfassend davon, dass es zu einer „‚Verschriftlichung‘ der gesprochenen Sprache“ kommt. All dies hat wissenssoziologische und -kulturelle Konsequenzen: Sie betreffen […] die Organisation und Tradierung von Wissensbeständen, den grundsätzlich unterschiedlich geregelten Zugang zum Wissen, das Verhältnis des Individuums zu Wissensbeständen, zur Wirklichkeit von Tradition und Geschichte. (Koch/Oesterreicher 1986, 31; vgl. auch Klein 1985, 10)
mit individualpsychologischen Folgen für die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft: […] [F]ür die Sprachteilnehmer geht es um nichts Geringeres als um den zivilisatorisch fundamentalen, gerade auch gesellschaftspolitisch relevanten Wert der Fähigkeit, maximaler kommunikativer Distanz genügen zu können. (Koch/Oesterreicher 1986, 32)
Es verwundert daher nicht, dass daraus didaktische Implikationen erwachsen bzw. abgeleitet werden und sich Bildungsinstitutionen auf die Vermittlung jener Varie-
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tät(en) konzentrieren, die gesellschaftlichen Erfolg und Aufstieg idealerweise mitermöglichen, zumindest aber nicht behindern.
2.3.3 Formen wechselseitiger Inszenierung Hinzuweisen ist schließlich darauf, dass das Verfügenkönnen über Schrift und Schriftlichkeit verschiedene Formen der Inszenierung erlaubt. Inszenierte Oralität bezieht sich vorrangig auf die mediale Ebene und resultiert aus der z. T. kaschierten (z. B. Ablesen von Texten auf dem Teleprompter), z. T. offenen und erkennbaren (z. B. Verlesen eines Redemanuskripts) mündlichen Realisierung zuvor schriftlich fixierter Äußerungen. Davon abzugrenzen sind Verschiebungen auf konzeptioneller Ebene, die auf der Imitation bestimmter sprachlicher Ausdrucksmittel beruhen und zu einer „inszenierten Schriftlichkeit“ (Dürscheid 2012, 60), zuweilen auch einer inszenierten Mündlichkeit führen; anders ausgedrückt: Kommunikationspartner entscheiden sich in bestimmten Situationen zum einen für ein Schreiben im ,Sprechduktus‘, bei dem in medialer Schriftlichkeit auf typisch sprechsprachliche Ausdrucksmittel und -strukturen zurückgegriffen wird (vgl. dazu auch Abschnitt 5), um den Eindruck mündlicher Kommunikation und kommunikativer Nähe hervorzurufen, zum anderen für ein Sprechen im ,Schreibduktus‘, bei dem in medialer Mündlichkeit im Interesse stilistischer Effekte typisch schriftsprachliche Ausdrucksmittel und -strukturen eingesetzt werden.
2.4 Konsequenzen für Sprachkultur und Wissenschaftspraxis 2.4.1 Das ,written language bias‘ und seine Überwindung Der Prozess der Aneignung von Schrift und Schriftlichkeit stellt damit einen in seinen Auswirkungen auf die Natur einer Sprachgemeinschaft und den individuellen Umgang mit Sprache kaum zu unterschätzenden Faktor dar. Denn historisch gesehen hat der Übergang von Oralität zur Literalität folgenschwere Konsequenzen nicht nur für den individuellen Sprachteilhaber, sondern auch für eine Sprachgemeinschaft insgesamt: „Once a society has become literate, it can never return to ‚authentic‘ orality“ (Raible 1994, 14). So sind wir es aufgrund des Entwicklungsstandes unserer Sprachgemeinschaft und unserer Sprachkultur und aufgrund unserer sprachlichen Sozialisation gewohnt, Sprachphänomene vornehmlich durch die ,Brille der Schriftlichkeit‘ zu betrachten – und oft auch zu bewerten: „written language bias“ (Linell 1982; Fiehler 2000) bzw. „Skriptismus“/„Skriptizismus“ (Coulmas 1985). Das Verfügenkönnen über Schrift und Schriftlichkeit hat aber nicht nur zur Folge, dass das allgemeine Sprachbewusstsein nachhaltig schriftsprachlich
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geprägt ist, sondern hat auch dazu geführt, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit Sprache, insbesondere die Analyse- und Beschreibungskategorien für Sprache schlechthin in großen Teilen schriftlichkeitsdominiert sind (vgl. dazu auch Fiehler 2005, 1176 f.). Wenn Fiehler (2005, 1178) schreibt, „Gesprochene Sprache wird durch die Brille der geschriebenen wahrgenommen, sie ist das Modell für das Verständnis von Mündlichkeit“, charakterisiert das jedenfalls einen z. T. noch immer andauernden Zustand und verweist auf einen lang währenden, mühsamen Prozess der sukzessiven Loslösung von Forschungskonzepten aus den terminologischen und methodischen Fangarmen insbesondere der Grammatikographie und ihrer nach wie vor weitverbreiteten Schriftlastigkeit.
2.4.2 Normierung, Normfragen und Normprobleme Grundsätzlich unterscheiden sich gesprochene und geschriebene Sprache „deutlich in Hinblick auf ihre Normierung und Normierbarkeit“ (Fiehler 2005, 1185). Die mit der Herausbildung einer Schriftsprache verbundene Standardisierung hat in einem historischen Prozess zur Reduktion von Varianz geführt, die sich vor allem in der Orthographie und Interpunktion sowie der Grammatik niederschlägt. Die Ergebnisse der Normierung und Normkodifizierung (in Wörterbüchern, Grammatiken und Regelwerken) genießen hohes Ansehen im Kontext der Sprachvermittlung – im Ergebnis oft verbunden mit einem problematischen Normverständnis und mit einer übersteigerten Erwartung von Normerfüllung, was sicherlich durch die Neigung verstärkt wird, deskriptiv intendierte Aussagen normativ auszulegen: Durch die explizite Kanonisierung einer Sprachform wird eine Art zu reden oder zu schreiben für richtig erklärt, die anderen für falsch. Dies führt in extremen Fällen zu Absurditäten wie beispielsweise dem Wert, dem in unserer Gesellschaft der korrekten Beherrschung der Orthographie beigemessen wird. (Klein 1985, 24)
Von einer vergleichbaren kodifizierten Normierung gesprochener Sprache kann allenfalls im Bereich der Standardaussprache die Rede sein, ansonsten unterliegt sie einer weitaus weniger starken Normierung und zeichnet sich durch mehr Varianz aus. Dennoch „kommt es aber – auf der Grundlage von normativen Vorstellungen über (gesprochene) Sprache – zu Versuchen, die Varianz zugunsten von Gleichförmigkeit zu reduzieren“ (Fiehler 2005, 1187). Verantwortlich zu machen sind dafür maßgeblich die aus der schulischen Sozialisation resultierenden Korrektheitsvorstellungen für geschriebene Sprache, die unreflektiert übertragen werden. Sie zeigen sich weniger in Verständigungsprozessen als vielmehr bei Anlässen für Sprachreflexion und Sprachkritik. So stellen sich im Zusammenhang mit Oralität und Literalität aus einer sprachkulturellen oder, enger gefasst, einer sprachkritischen Perspektive immer wieder Normfragen bzw. Normprobleme, die im Einzelfall oft nur schwer zu lösen sind, da sich hinter fast allen Anlässen für Normreflexion
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Phänomene des Sprachgebrauchswandels verbergen. Für eine ausführliche Diskussion muss hier auf die entsprechende Forschungsliteratur verwiesen werden (vgl. stellvertretend die Beiträge in Denkler u. a. 2008), ich nenne zur Illustration lediglich einige typische Zweifelsfälle, die sich mit der Opposition von Mündlichkeit und Schriftlichkeit verbinden: am-Progressiv, wo als Relativpronomen mit Bezug auf Nominalgruppen, Verbzweitstellung nach weil, obwohl, wobei, dass u. v. a. Nur selbst ernannte oder von den Massenmedien auserkorene Sprachautoritäten wie Wolf Schneider und Sprachhüter wie Bastian Sick fühlen sich bei solchen Phänomenen dazu berufen, dem in der Sprachgemeinschaft vor allem durch die schulische Sozialisation evozierten Bedürfnis nach Anwendung einer einfachen ‚richtig‘ vs. ‚falsch‘-Dichotomie zu entsprechen. Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive verbieten sich solche einseitigen normsetzenden Empfehlungen zugunsten einer differenzierteren Betrachtung, die im Blick auf Dimensionen und Faktoren der Sprachvariation (einschließlich der groben medialen Differenzierung) Verbreitungs- und Verwendungsunterschiede (z. B. im regionalen Vergleich, im Vergleich des Alters von Sprechergruppen usw.) dokumentiert und auf dieser Grundlage varietätenbezogene Aussagen über mehr oder weniger stark ausgeprägte situative Angemessenheit macht. Dass sich die Grammatikographie mit solchen Fragen schwer tun muss und sich vor allem bei der Bewertung von Phänomenen eines meist in mündlicher Kommunikation beobachtbaren vermeintlichen ,Sprachverfalls‘ normkonservativ zeigt, ist darauf zurückzuführen, dass sie sich – auch trotz anders lautender Selbstansprüche – in der Regel am Konstrukt der geschriebenen Standardsprache orientiert und Sprachwandelphänomenen nur mit zeitlicher Verzögerung gerecht werden kann (vgl. stellvertretend die Aussagen zur weilVerbzweitstellung in den Duden-Grammatiken seit der 5. Auflage von 1995).
3 Vergleichsperspektiven für orale und literale Sprachkulturen: mediale und konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit 3.1 Medium und Konzeption, Nähe und Distanz Das maßgeblich von Koch/Oesterreicher (in verschiedenen Arbeiten seit 1986) im Anschluss an Söll (1974) ausgearbeitete Modell von „Sprache der Nähe“ und „Sprache der Distanz“ hat sich zu einer Art Common Sense für die sprachtheoretische Modellierung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit entwickelt. Ein wesentlicher Grund für die Prominenz des Modells dürfte die Auflösung der weithin verbreiteten Mehrdeutigkeit der Begriffe ‚mündlich‘ und ‚schriftlich‘ sein und die damit verbundene systematische Trennung zwischen Medium (unter Ausblendung von Gebärdensprache verstanden als Dichotomie zwischen phonischer und gra-
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phischer Realisierung von Sprache) und Konzeption (modelliert als Kontinuum zwischen extrem mündlicher und extrem schriftlicher Beschaffenheit bzw. Formulierungsweise) von Äußerungen. Die Abgrenzung zwischen medialer Mündlichkeit und Schriftlichkeit auf der einen und konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit auf der anderen Seite schärft gleichzeitig den Blick sowohl für nahe liegende Affinitäten (z. B. zwischen medialer und konzeptioneller Schriftlichkeit), aber auch für Möglichkeiten der medialen Transkodierung (Verlautlichung und Verschriftung) und der konzeptionellen Verschiebung (Vermündlichung und Verschriftlichung): Die medium-transferability widerspricht nicht der auch intuitiv nachvollziehbaren Erfahrung, daß jede einzelne Kommunikationsform – mit ihrem jeweiligen konzeptionellen Profil – klare Affinitäten zu einem der beiden Medien aufweist. Insofern ergibt sich […] eine Affinität zwischen ‚gesprochener‘ Konzeption und phonischer Realisierung einerseits und zwischen ‚geschriebener‘ Konzeption und graphischer Realisierung andererseits […]. (Koch/Oesterreicher 2007, 349; Hervorhebung im Original; vgl. auch Koch/Oesterreicher 2008, 200)
In der Unterscheidung von Medium und Konzeption spiegelt sich so zugleich die alltagsweltliche Erfahrung, dass man sich in Abhängigkeit von den Faktoren der Situation, in der man ein kommunikatives Anliegen bewältigen möchte, für eine geeignet erscheinende Äußerungsform bzw. Text- oder Gesprächssorte entscheidet, dass sich die sprachlichen Mittel, die man wählt, von Äußerungsform zu Äußerungsform unterscheiden (können) und dass mit der Wahl einer Äußerungsform meist auch eine Entscheidung für die Form der medialen Realisierung einhergeht. Über die grundlegende Unterscheidung zwischen Medium und Konzeption hinaus lautet eine der Kernaussagen des Modells, dass sich in Abhängigkeit von den jeweiligen Kommunikations- bzw. Produktionsbedingungen (Koch/Oesterreicher 2008, 201) – Kommunikative Nähe Privatheit Vertrautheit der Kommunikationspartner starke emotionale Beteiligung Situations- und Handlungseinbindung referenzielle Nähe raum-zeitliche Nähe (face-to-face) kommunikative Kooperation Dialogizität Spontaneität freie Themenentwicklung
Kommunikative Distanz Öffentlichkeit Fremdheit der Kommunikationspartner geringe emotionale Beteiligung Situations- und Handlungsentbindung referenzielle Distanz raum-zeitliche Distanz keine kommunikative Kooperation Monologizität Reflektiertheit Themenfixierung
– unterschiedliche Produktions- bzw. Versprachlichungsstrategien wie geringere/ größere Informationsdichte, Kompaktheit, Integration, Komplexität, Elaboriertheit oder Planung beobachten (vgl. Koch/Oesterreicher 1986, 23) und mit ihnen Unterschiede in den jeweils hervorgebrachten Äußerungsformen, also in den sprachlichen Produkten, erklären lassen. Es ist offenkundig, dass es sich sowohl bei den
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Kommunikationsbedingungen als auch bei den Versprachlichungsstrategien überwiegend um skalar ausgeprägte Eigenschaften handelt, die „vielfältig abgestufte Kommunikationsformen“ (Koch/Oesterreicher 2008, 202) zulassen: Derartige Abstufungen auf dem Nähe-Distanz-Kontinuum gehören zum sprachlich-kommunikativen Wissen, das es den Produzenten erlaubt, die jeweils angemessenen Versprachlichungsstrategien zu wählen und damit den Äußerungen einen passenden „Duktus“, einen unterschiedlichen Elaboriertheits- und Formalitätsgrad zu verleihen; die Rezipienten nehmen diese Unterschiede ebenfalls wahr und gleichen sie mit ihren Erwartungen ab. (Koch/Oesterreicher 2008, 202)
Solche Wissensbestände weisen nicht nur eine einzelsprachspezifische Prägung auf, sondern sie unterliegen auch historischen Veränderungen und differieren je nach Varietät (vgl. zur sprachhistorischen und zur varietätenlinguistischen Dimension des Modells z. B. Koch/Oesterreicher 1994, 2008, 210–213).
3.2 Weiterentwicklung(sbedarf ) und Modellkritik Das ursprüngliche Modell ist vor 1986 entstanden, also noch vor den Zeiten massenhaft verbreiteter Formen elektronisch vermittelter Kommunikation. Es wäre daher ein Anachronismus, die Adaptation des Modells auch für Formen quasi-synchroner Kommunikation z. B. beim Freizeit- und Plauder-Chat als Kritik zu verstehen. Vielmehr handelt es sich dabei um eine notwendige Weiterentwicklung, die die Leistungsfähigkeit der Modellannahmen unterstreicht. Daher überrascht es in diesem Zusammenhang auch, dass Koch/Oesterreicher in jüngeren Arbeiten selbst den Anspruch vertreten, dass das Modell ohne Adaptation auch auf neuere Kommunikationsformen angewendet werden könne: In den letzten Jahren werden verstärkt computergestützte Kommunikationsformen diskutiert: E-Mail, SMS, Chat usw. […]. Man könnte auf den Gedanken kommen, daß das Schema in Fig. 3 [= Darstellung des konzeptionellen Kontinuums], […] nicht ausreicht, um neueste, elektronisch gestützte mediale Entwicklungen zu erfassen. […] Selbst die neuesten elektronischen Entwicklungen bei Speicherung und Übertragung bauen […] letztlich immer nur auf dem akustischen Prinzip der Phonie oder auf dem visuellen Prinzip der Graphie auf. Es können daher selbstverständlich auch neueste Kommunikationsformen und Diskurstraditionen wie Chat oder E-Mail mit den anthropologisch fundierten Kategorien [= Medium und Konzeption, Nähe und Distanz] […] erfaßt werden. Der Chat ist sogar eines der schönsten Beispiele dafür, daß im graphischen Medium eine relative, natürlich immer limitierte Annäherung an dialogische, spontane Nähesprachlichkeit möglich ist. (Koch/Oesterreicher 2007, 358 f.; Hervorhebungen im Original)
In dieser Frage werden m. E. zu Recht dezidiert andere, empirisch gestützte Positionen vertreten, die die Annahme plausibel machen, dass die technischen Rahmenbedingungen einen maßgeblichen Einfluss auf die Kommunikation selbst und die Art der sprachlichen Gestaltung ausüben (vgl. dazu Thaler 2007; Dürscheid/Brommer 2009). Moniert wird in diesem Zusammenhang auch, dass die für konzep-
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tionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit jeweils als charakteristisch angesehenen sprachlichen Merkmale „nur ein Reflex der Kommunikationsbedingungen“ (Dürscheid 2012, 53) sind, z. T. aber überhaupt nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit bestimmten Kommunikationsbedingungen stehen, sondern allein auf die medialen Bedingungen zurückzuführen sind, so dass die von Koch/Oesterreicher (z. B. 2007, 357) vorgenommene Ausklammerung des Medialen fragwürdig erscheint. Begründete Kritik am Nähe-Distanz-Modell richtet sich in theoretischer Hinsicht darüber hinaus insbesondere auf folgende Aspekte: Die für die Endpunkte der Kontinuumsskala genannten Kommunikationsbedingungen treffen nicht auf alle Äußerungsformen zu (vgl. Dürscheid 2012, 46 f.), d. h., die Bezeichnungen Sprache der Nähe und Sprache der Distanz suggerieren Kommunikationsbedingungen, die nicht zwangsläufig gegeben sind, so dass die konzeptionelle Situierung von Äußerungsprodukten nicht, zumindest nicht allein an bestimmten Kommunikationsbedingungen, sondern vielmehr am Vorliegen bzw. am Nicht-Vorliegen bestimmter (z. B. morphologischer oder syntaktischer) Äußerungseigenschaften festgemacht werden kann. Hier zeigt sich „das generelle Problem der logisch heterogenen Bezüge bei der Modellierung der einzelnen Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien“ (Ágel/Hennig 2007, 182), außerdem ihre jeweils fehlende Gewichtung sowie die nur „vage Differenzierung“ zwischen diesen beiden Ebenen (vgl. Ágel/Hennig 2007, 183), sofern man zudem davon absieht, „dass unklar bleibt, was eine Versprachlichungsstrategie eigentlich ist“ (Ágel/Hennig 2007, 183). Bezogen auf die beiden grundlegenden Dimensionen des Modells verdeutlichen diese Kritikpunkte, dass es Koch/Oesterreicher „nicht gelungen ist, die zwei Ebenen und deren interne und externe Relationen befriedigend zu begründen“ (Ágel/Hennig 2007, 183). Häufig wird ferner – wie beispielsweise im Zitat zur „medium-transferability“ ersichtlich – ‚Äußerungsform‘ (im Sinne von Text- und Gesprächssorte) mit ‚Kommunikationsform‘ (wie Brief, Telefongespräch, E-Mail usw.) vermischt, d. h. die Autoren setzen auf unterschiedlichen Ebenen der Abstraktion bei der Hierarchisierung und Erfassung von Äußerungsprodukten an. In praktischer Hinsicht wird die Revisionsbedürftigkeit des Modells damit begründet, dass die Situierung von Äußerungsformen im Kontinuum von konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit nicht eindeutig bzw. „verlässlich“ (Ágel/ Hennig 2007, 183) durch Orientierung an den zugrunde gelegten Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien möglich ist, etwa wenn Stilwechsel erfolgen, wenn Geschriebenes und Gesprochenes simultan als „Medienmix“ (Dürscheid 2012, 51) genutzt werden oder wenn in der Äußerungsgestaltung bewusst von den Affinitäten zwischen Medium und Konzeption abgewichen wird. Eine vor allem aus dem letzten Kritikpunkt resultierende maßgebliche Modellerweiterung und -verfeinerung zielt daher auf eine intersubjektiv überprüfbare Anwendbarkeit und Operationalisierbarkeit der verschiedenen Faktoren ab, um über eher impressionistische Situierungen von Kommunikationsformen zwischen den
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beiden Polen der Kontinuumsskala hinauszukommen. So richten sich die Überlegungen von Ágel/Hennig (2006a, 2006b, 2007) darauf, das Modell für die kommunikationstheoretische Verortung von Text- und Gesprächssorten zwischen den Polen der Nähe und der Distanz dadurch zu operationalisieren, dass hierarchische Beziehungen zwischen empirisch nachweisbaren einzelsprachlichen Merkmalen und den zu ihnen führenden Kommunikationsbedingungen offengelegt werden. Aus einer stärker didaktisch, d. h. auch an der Gewährleistung einer bestimmten Textqualität und adressatenbezogener Verständlichkeit orientierten Perspektive wird schließlich die gesamte Modellkonstruktion um das Kontinuum im Bereich der Konzeption abgelehnt: Die Idee vom Kontinuum zwischen konzeptioneller Schriftlichkeit und konzeptioneller Mündlichkeit ist falsch. Ein Schrifttext muss in jedem Fall den Bedingungen konzeptioneller Schriftlichkeit genügen, wenn eine Form der Distanzkommunikation vorliegt. Genügt er diesen Bedingungen nicht, ist er einfach ein schlechter Text. Er wird im Extremfall unverständlich. (Feilke 2007, 34)
4 Oralität und Literalität – und das Verhältnis zwischen Text und Gespräch 4.1 Mündliche und schriftliche Verständigung – Prozess- vs. Produktorientierung Aus den bisherigen Überlegungen lässt sich eine wissenschaftspraktisch begründbare Arbeitsteilung zwischen Textlinguistik und Gesprächslinguistik ableiten. Sie gründet sich auf unterschiedliche Fragestellungen und Analysemethoden, die auf die unterschiedlichen konstitutiven Merkmale der beiden Gegenstandsbereiche zurückzuführen sind. Eine herausragende Rolle spielt dabei, dass Verantwortung für den Verständigungserfolg und die jeweilige Äußerungsproduktion bei Texten auf den Schultern meist einer Person liegt, sich bei Gesprächen dagegen auf die Schultern mindestens zweier Personen verteilt, und dass man daraus als gesprächskonstitutives Merkmal die Notwendigkeit des Rollentausches ableiten und diese Notwendigkeit bzw. ihr Fehlen als text-/gesprächsdifferenzierendes Merkmal verstehen kann. Wesentliches Merkmal mündlicher Kommunikation und Verständigung ist die Möglichkeit wechselseitiger Wahrnehmung: In der mündlichen Verständigung wird wechselseitig der Prozess der Äußerungsproduktion in seiner zeitlichen Abfolge wahrgenommen und mental repräsentiert. Dies und die Tatsache, dass es keine externen, dauerhaften materiellen Produkte gibt, lässt mündliche Verständigung wesentlich als zeitlichen Prozess erscheinen und unterscheidet sie deutlich von schriftlicher Verständigung. (Fiehler 2005, 1182)
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Schriftliche Kommunikation und Verständigung vollziehen sich dagegen in Einheiten, die als abgeschlossene Produkte erscheinen, in denen meist alle Bestandteile räumlich gleichzeitig präsent sind: Schriftliche Verständigung ist also wesentlich die Herstellung und dann die Rezeption eines externen gegenständlichen Produktes, des Textes, der als solcher dauerhaft und zeitlich konstant ist. (Fiehler 2005, 1183)
Die mit der Möglichkeit wechselseitiger Wahrnehmung verbundene Multimodalität mündlicher Verständigung in Gesprächen erfolgt gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen (nonverbal, verbal, vokal) und damit in optischer und akustischer Vermittlung bzw. in visueller und auditiver Wahrnehmung. Diese Multimodalität unterscheidet mündliche Verständigung grundlegend von der Verständigung mittels Texten. Körperliche und wahrnehmungs-/inferenzgestützte Kommunikation haben dort keine Entsprechung. Textbasierte Verständigung ist ausschließlich verbal. Sie erfolgt nur visuell. (Fiehler 2005, 1201)
Man muss die Ausnahmslosigkeit dieser Position in Anbetracht der jüngeren Diskussionen über die Notwendigkeit einer Erweiterung des Textbegriffs (Typographie und Textdesign, Text-Bild-Relationen usw.) zwar sicher etwas relativieren, sie unterstreicht aber im Blick auf das Typische die wesentlichen Unterscheidungsgründe. Die darauf gestützte linguistische Arbeitsteilung sollte also nicht so verstanden werden, als sei sie durch grundlegende Unterschiede in den jeweiligen Äußerungsprodukten bedingt. Vielmehr resultiert sie daraus, – dass Äußerungsprodukte im Rahmen schriftlicher Verständigung in der Regel als Endprodukte anzusehen sind, für die der Herstellungsprozess nicht konstitutiv ist, sodass in der Analyse normalerweise eine Produktorientierung ausreicht, – dass für Äußerungsprodukte im Rahmen mündlicher Verständigung dagegen die Zeitlichkeit des Interaktionsprozesses eine herausragende Rolle spielt, sodass in der Analyse eine Prozessorientierung erforderlich ist (vgl. dazu Fiehler u. a. 2004, 26 f.). Es ist vor diesem Hintergrund eine Frage der Perspektive, ob man das Trennende betont und die Zuständigkeiten von Text- und Gesprächslinguistik sauber auseinanderhält (Text vs. Gespräch) oder ob man – wie Janich/Birkner (2015) – das Verbindende betont, die analytische Trennung aufgibt (Text und Gespräch) und zwischen (medial) gesprochenem und (medial) geschriebenem Text unterscheidet.
4.2 Bezugspunkt: Kommunikative Praktiken Der Verlauf der Forschung seit der Etablierung der Text- und der Gesprächslinguistik hat – auch als Folge fehlender oder nur ausschnitthafter wechselseitiger Wahrnehmung (vgl. dazu Stein 2011) – zu einem Nebeneinander verwandter Analysever-
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fahren und begrifflicher Konzepte geführt. Hier besteht Nachholbedarf auf beiden Seiten. Dreh- und Angelpunkt sollte die Frage nach dem Wissen sein, das Sprachteilhaber benötigen, um erfolgreich an mündlicher und an schriftlicher Kommunikation teilhaben und aktiv alle relevanten Aspekte gesellschaftlichen Lebens auch mittels Texten und Gesprächen (mit)gestalten zu können. Ein geeigneter Ausgangspunkt für die Beantwortung dieser Frage ist das gesprächslinguistische Konzept der ‚kommunikativen Praktik‘, das Anknüpfungsmöglichkeiten sowohl für das textlinguistische Konzept der ‚Textsorte‘ als auch für das wissenssoziologische Konzept der ‚kommunikativen Gattung‘ bietet (vgl. dazu Stein 2011 für eine detaillierte Diskussion mit entsprechenden Literaturhinweisen). Kommunikative Praktiken (vgl. zum Konzept Fiehler u. a. 2004, 15 ff., 99–104) sind „Grundformen der Verständigung“ (Fiehler u. a. 2004, 16, 99), die – als Ergebnis historischer Entwicklung und ständiger Anpassung an veränderte kommunikative Bedürfnisse – wesentlich gekennzeichnet sind durch ihre kulturelle Prägung, ihre Zweckorientiertheit, ihre Präformiertheit und ihre Regelhaftigkeit: Verständigung erfolgt nicht ‚frei‘, sondern immer nur im Rahmen der uns verfügbaren kommunikativen Praktiken, indem wir ein Exemplar einer solchen Praktik intendieren und realisieren – und dadurch die Praktik zugleich auch fortschreiben und weiterentwickeln (Fiehler u. a. 2004, 15),
und zwar unabhängig von der medialen Seite. Daran, dass die Art der medialen Ausführung irrelevant ist, […] wird deutlich, dass die Unterscheidung von gesprochener und geschriebener Sprache eine Abstraktion darstellt, die von den verschiedenen Formen der sozialen Einbettung des Sprechens und Schreibens absieht (Fiehler u. a. 2004, 16 f.; Hervorhebung im Original).
Obwohl kommunikative Praktiken in der Regel mit einer bestimmten medialen Realisierung verbunden sind (z. B. einen Heiratsantrag machen vs. ein Protokoll anfertigen), zeigt sich die grundsätzliche Unabhängigkeit des Praktikenkonzepts vom Medialen auch daran, dass kommunikative Praktiken nicht notwendigerweise auf eine bestimmte Realisierungsweise festgelegt sein müssen (z. B. eine Einladung aussprechen) oder dass für sie mündlich und schriftlich auszuführende Komponenten konstitutiv sind (z. B. einen Kostenvoranschlag einholen). Fiehler u. a. (2004, 105) weisen zu Recht darauf hin, dass die beliebte mediale Differenzierung zu äußerst heterogenen Klassen von Kommunikaten führt, die als Gemeinsamkeit lediglich die jeweilige Art der Produktion haben. Oppositionen wie ,oral vs. literal‘, ,gesprochen vs. geschrieben‘ oder ,mündlich vs. schriftlich‘ erscheinen jedoch, werden sie, wie oben ausgeführt, medial ausgelegt, von den jeweiligen Praktiken losgelöst, blenden deren Funktions- und Domänenspezifik aus und wirken homogenisierend, da sie gesprochene und geschriebene Sprache als „monolithische Gebilde in den Vordergrund [treten lassen], die zum Vergleich und zur Ausarbeitung ihrer Unterschiede herausfordern“ (Fiehler u. a. 2004, 110). Vergleiche aber, die auf die Eigenschaften der beiden monolithischen Gebilde abzie-
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len, sind für das Verständnis von Text- und Gesprächssorten nur bedingt erhellend und leiden erheblich unter der starken „Verbalitätsorientierung“ (Fiehler u. a. 2004, 109) bei der Analyse schriftlicher Kommunikation, die die Multimodalität mündlich ausgeführter Praktiken wiederum in den Hintergrund treten lässt. Es bedarf also eines vom Medialen (zunächst) unabhängigen text- und gesprächssortenübergreifenden Konzepts, wie es in Form der kommunikativen Praktiken vorliegt. Die Aufgabe besteht darin, das in einer Sprachgemeinschaft vorhandene und intersubjektiv geteilte Wissen über kommunikative Praktiken zu rekonstruieren, das für erfolgreiche Kommunikationsprozesse erforderlich ist. Textund Gesprächslinguistik sind dabei konkret mit der Forderung konfrontiert, der Verschiedenartigkeit der kommunikativen Praktiken gerecht zu werden und herauszuarbeiten, inwieweit Eigenschaften der Äußerungsprodukte zum einen auf allgemeine (praktikenübergreifende) Grundbedingungen der mündlichen und der schriftlichen Verständigung, zum anderen auf die Spezifika einzelner kommunikativer Praktiken zurückzuführen sind. Dem entspricht die individuelle kommunikative Erfahrung, dass gesprochene und geschriebene Sprache zwischen einzelnen Praktiken, aber auch zwischen Exemplaren ein und derselben Praktik mehr oder weniger stark variieren können. Dabei muss der Versuchung widerstanden werden, dass Ergebnisse, die in der Analyse einzelner oder mehrerer kommunikativer Praktiken gewonnen wurden und für diese gelten, ungeprüft und vorschnell zu generellen Eigenschaften gesprochener oder geschriebener Sprache verallgemeinert werden (Fiehler u. a. 2004, 97).
5 Übergangs- und Mischphänomene 5.1 Hintergründe Wie erwähnt, sind kommunikative Praktiken zwar oft von vornherein auf bestimmte Arten der Äußerungsproduktion mehr oder weniger festgelegt (wie z. B. einen Termin für einen Arztbesuch vereinbaren). Darin zeigt sich auch, dass medial gesprochene und medial geschriebene Texte spezifische, wenn auch nicht trennscharfe kommunikative Domänen haben. Unsere Kommunikationspraxis ist aber auch dadurch bestimmt, dass die Anwendung bestimmter kommunikativer Praktiken in vielen Fällen auf einer Kombination medial mündlicher und medial schriftlicher Äußerungen beruht oder dass sich ein medialer Wechsel an einer Verkettung verschiedener Äußerungsformen zeigt (z. B. auf eine mündliche Anfrage hin ein schriftliches Angebot für eine bestimmte Dienstleistung unterbreiten). Außerdem weiß jeder Sprachteilhaber aus eigener Erfahrung, dass es z. B. Situationen gibt, in denen ein Text – in konzeptioneller, nicht zwangsläufig auch graphomotorischer Hinsicht – von mehreren Personen gemeinsam geschrieben wird oder in denen in einem Gespräch über längere Zeit nur ein Beteiligter spricht: gleichsam dialogische Aktivitäten im Rahmen schriftlicher und monologische Aktivitäten im Rahmen
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mündlicher Textproduktion. Hinzuweisen ist auch noch einmal auf die bereits erwähnten Phänomene inszenierter Mündlichkeit und inszenierter Schriftlichkeit. Scheinbar eindeutige Abgrenzungsmöglichkeiten geraten also im Licht der realen Kommunikationspraxis schnell ins Wanken. Das gilt erst recht vor dem Hintergrund jüngerer Veränderungen der Kommunikationspraxis; im Rahmen „elektronischer Schriftlichkeit“ (Dürscheid 2012, 52) haben sich solche Kommunikationsformen (E-Mail, SMS, Chat u. a.) etabliert, die nicht ohne Weiteres zwischen den Polen der Nähe- und der Distanzkommunikation situiert werden können, sondern die einen Rahmen bieten für unterschiedliche Ausgestaltungen konkreter kommunikativer Praktiken. Aber längst nicht nur in bestimmten Bereichen computervermittelter Kommunikation (wie dem Freizeit- oder Plauder-Chat) ist zu beobachten, dass typisch mündliche Äußerungsmittel und -strukturen in die Domäne schriftbasierter Kommunikation Eingang finden und medial schriftliche Äußerungsformen nicht nur konzeptionell schriftliche, sondern auch, u. U. zum größeren Teil, konzeptionell mündliche Merkmale aufweisen. In anderen Fällen zeitgenössischer massenmedial vermittelter Kommunikation wiederum bilden gesprochene und geschriebene Äußerungsprodukte simultan ein komplexes Informationsangebot (z. B. gleichzeitiges Verlesen von Fernsehnachrichten und Durchlaufen eines Nachrichtentickers, vgl. Dürscheid 2012, 51), sodass im Ergebnis ein „Medienmix“ entsteht, in dem sich die „Mündlichkeits-/Schriftlichkeitsdichotomie [aufzulösen] scheint“ (Dürscheid 2012, 51). Allgemeiner ausgedrückt: Zu den sprachhistorisch durch Entwicklung einer Schriftkultur ausgelösten umfassenden Verschriftlichungstendenzen ist – neben allen damit verbundenen Konsequenzen wie z. B. einer „Erstarrung im Distanzbereich“ (Koch/Oesterreicher 1994, 599), sichtbar am deutlichsten in der Frage der Normierung der deutschen Rechtschreibung – in hochliteralisierten Kulturen und hochtechnologisierten Einzelsprachen eine ,Gegenbewegung‘ zu beobachten: Vermündlichungstendenzen in der deutschen Gegenwartssprache.
5.2 Vermündlichungstendenzen und Motive Vermündlichungstendenzen lassen sich in verschiedenen kommunikativen Bereichen beobachten und entspringen unterschiedlichen Motiven der Textproduzenten. Imo (2012) weist am Beispiel von Produktbeschreibungen privater Verkäufer in Internet-Plattformen eine auffällige Verwendung von Ausdrucksstrukturen alltäglicher Kommunikation im Bereich des (erst durch das Internet sichtbar gewordenen) informellen Schreibens nach und erklärt sie damit, dass sie „bestimmte Funktionen besser erfüllen als schriftsprachliche Muster“ (Imo 2012, 241). Besonders deutlich sind solche Verschiebungen schon von Sieber (1998), der von „Parlando“ spricht, im schulischen Schreiben nachgewiesen worden. Sie schlagen sich nieder als Verschiebungen […] zwischen den traditionell geschriebenen und gesprochenen Formen des Sprachgebrauchs […], die in Richtung eines zunehmenden Einflusses der gesprochenen auf die geschriebenen Formen weisen (Sieber 1998, 197).
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Gemeint sind durch starke Orientierung an konzeptioneller Mündlichkeit verursachte „spezifische Abweichungen von herkömmlichen Mustern der entfalteten Schriftlichkeit“ (Sieber 1998, 51). Parlando-typische Phänomene manifestieren sich an der Textoberfläche vor allem in der Lexik (z. B. gehäufte Verwendung einfacher Wortschatzeinheiten, sprachlicher Versatzstücke oder bestimmter Partikeln), in der Syntax (z. B. nicht streng durchkomponierte Satzstrukturen, unklare Satzgrenzen) und in der Textstruktur (z. B. weniger komponierter Textaufbau) (vgl. Sieber 1998, 191) – in Textmerkmalen also, die als Indiz für Veränderungen der kommunikativen Grundmuster bzw. für einen „soziokommunikativen Sprachwandel“ (Sieber 1998, 181) gewertet werden können. Phänomene, die tendenziell mit den von Sieber in Matura-Aufsätzen beobachteten Verschiebungen vergleichbar sind, zeigen sich auch in anderen Kommunikationsbereichen massenmedialer Öffentlichkeit; empirisch gut belegt sind entsprechende Veränderungen im Sprachgebrauch in der Presse. So hat Schäfer (2006) am Beispiel von Texten aus der Regionalpresse charakteristische „Verfahren der Nähekommunikation“ (vgl. Sieber 1998, Kap. 3) analysiert, denen er u. a. folgende Funktionen zuspricht: „Gestaltung einer sozialen und affektiven Nähe-Beziehung zwischen dem Leser und den Akteuren der Berichterstattung“, „Markierung eines informellen, privaten Interaktionstyps“ und „Simulation einer unvermittelten direkten Kommunikation“ (Sieber 1998, 138 f.). Sie dienen also dazu, die durch das Kommunikationsmedium bedingte Distanz […] ab[zu]bauen, perspektivische sowie interaktive Nähe [zu] signalisieren und damit eine Annäherung an das Ideal ‚natürlicher‘ Kommunikation [zu] erreichen (Sieber 1998, 32).
Das entscheidende Motiv für entsprechende Vertextungsverfahren ist also darin zu sehen, dass Nähe für die Regionalpresse einen „attraktivitätssteigernden Faktor“ (Sieber 1998, 26) darstellt. Die übereinstimmenden Befunde und fast gleichen Erklärungsversuche von Betz (2006) für die Verwendung gesprochensprachlicher Elemente in Zeitungen belegen, dass das auch für die überregionale Presse gilt (vgl. Betz 2006, 195 ff.): Gesprochensprachliche Elemente in Zeitungen sind je nach Kontext manchmal Ausdruck einer fingierten Mündlichkeit, öfter aber Ausdruck eines veränderten Registers in medial schriftlich realisierten, öffentlichen Textsorten. Dieses Register nutzt die Vorteile der konzeptionellen Mündlichkeit (sprachliche Nähe, Emotionalität, Aktualität, Dialogizität, Personalisierung) und verbindet sie mit den Vorteilen der medialen Schriftlichkeit (Seriosität, Tradierung, […]). (Betz 2006, 199)
Es ist also offensichtlich, dass sich in solchen Vermündlichungstendenzen in der Gegenwartssprache offenbar das Bedürfnis äußert, die medial bedingte Distanz von Kommunikation in bestimmten Domänen bislang konzeptioneller Schriftlichkeit zu verringern. Das Diagnostizieren und Belegen zunehmender Annäherung der geschriebenen und der gesprochenen Sprache (vgl. dazu schon Eggers 1973, 125 f.) und der
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stärkeren Orientierung an Mündlichkeit im Interesse einer Attraktivitätssteigerung kann aber nur ein erster Schritt einer Erklärung sein. Sieber (1998) hat für die von ihm analysierten Textexemplare mit der Rede von einem „soziokommunikativen Wandel“ darauf aufmerksam gemacht, dass stärker ausgeprägte Individualisierungsprozesse in Verbindung mit veränderten „Ansprüchen an authentische (Selbst-)Darstellung“ (Sieber 1998, 202) mit den formalen Ansprüchen an geschriebene Texte in Einklang zu bringen sind (vgl. Sieber 1998, 262) – wobei seine Probanden dazu tendieren, „subjekt-orientierten Ansprüchen gegenüber den formalen den Vorzug zu geben“ (Sieber 1998, 262). Die von Imo als Fazit aus seiner Analyse abgeleitete Schlussfolgerung, „[d]ass es dringend notwendig ist, Normbewusstsein zu vermitteln“ (2012, 242), erscheint von daher zwar verständlich, aber vermutlich aussichtslos.
6 Fazit Text und Gespräch in einem Atemzug zu nennen erscheint plausibel, wenn man beide Begriffe in Opposition zueinander sieht und damit zwei Grundtypen der Art der Produktion und der Äußerungsprodukte zu erfassen glaubt, die auf eine trennscharfe Varietätendimension ‚gesprochen – geschrieben‘ zu verweisen scheinen. So sehen Modelle der Beschreibung des deutschen Varietätenraums (vgl. z. B. Löffler 1994, 88–103), aber auch das Nähe-Distanz-Modell (vgl. Koch/Oesterreicher 1994, 594, 596) eine eigene mediale Varietätendimension vor, die sich letztlich jedoch nur mit unterschiedlichen Gebrauchsfrequenzen für bestimmte Äußerungsmerkmale in den jeweiligen Äußerungsprodukten stützen lässt. In den Blick kommt so das Trennende, das eine entsprechende, methodisch fundierte Arbeitsteilung zwischen Text- und Gesprächsanalyse nahelegt – und rechtfertigt. Aus dem Blick gerät aber das Verbindende und Gemeinsame, das die Opposition infrage stellt und verdeckt, dass gesprochene Texte und geschriebene Texte weitaus mehr Gemeinsamkeiten haben können, als manche Vergleiche zwischen gesprochenen oder zwischen geschriebenen Texten zunächst offenbaren. Aus diesen Gründen kann und sollte das Konzept der kommunikativen Praktiken als Leitlinie und Rahmen genutzt werden, um die begrifflich wie methodisch stark isolierten Konzepte von Textsorten und Gesprächssorten bzw. kommunikativen Gattungen so weit wie möglich und bei aller Verschiedenheit ihrer methodischanalytischen Verfahrensweisen in ihren Grundgedanken zusammenzuführen. Denn Differenzen zwischen Textsorten- oder Textmusterwissen und Gesprächssortenbzw. Gattungswissen sind nicht prinzipieller Natur, sondern resultieren vor allem aus den unterschiedlichen kommunikativen Rahmenbedingungen. Aufgabe muss es daher sein, in empirischen Studien diejenigen Äußerungseigenschaften zu bestimmen, die auf Grundbedingungen mündlicher bzw. schriftlicher Verständigung
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zurückzuführen sind, und sie von jenen abzuheben, die spezifisch sind für und verursacht werden durch bestimmte kommunikative Praktiken.
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2. Was ist ein Text? Abstract: Der Beitrag geht davon aus, dass die Frage nach dem Textbegriff inzwischen ganz in den Hintergrund textlinguistischer Beiträge getreten ist, im Rahmen der Profilierung bestimmter Fragestellungen und Forschungsrichtungen aber immer wieder bestimmte Merkmale von Untergruppen des überaus heterogenen Gesamtbereichs hervorgehoben oder auch ausgeblendet werden. Zu den alten Entgegensetzungen ,mündlich-schriftlichʻ und ,sprachlich-nichtsprachlichʻ sind insbesondere ,materiell-virtuellʻ und ,interaktiv-nichtinteraktivʻ hinzugetreten. Im Zuge der Fokussierung solcher Eigenschaften kommt es teilweise zu einer scharfen Trennung von Text und Gespräch bis hin zu einer Polarisierung im Sinne von Produkt vs. Prozess. Demgegenüber wird hier betont, dass es sich dabei ebenso wie bei der Mustergeprägtheit (Praktik) nur um verschiedene Facetten eines Phänomens handelt und statt Polarisierungen die Arbeit mit Skalen angezeigt ist. Bei den Prozessen stehen bislang solche im Vordergrund, die die individuelle Ebene (Produktion und Rezeption) und die Interaktion in Kleingruppen (Gespräche) betreffen. Der Beitrag stellt dem an die Seite Praktiken im Umgang mit Texten, die von mehr oder weniger großen Kollektiven getragen werden. Dazu gehört insbesondere die Zuschreibung von Überlieferungswert durch intertextuelle Verfahren, die Texte zu Bestandteilen des kollektiven Gedächtnisses macht.
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Zur Entwicklung der Diskussion um den Textbegriff Von Dichotomien zu Skalen (und zurück?) Produkte, Prozesse, Praktiken Textwissen Schlussbemerkung Literatur
1 Zur Entwicklung der Diskussion um den Textbegriff „Zu den markantesten Veränderungen in der textlinguistischen Diskussion der letzten 15 bis 20 Jahre gehört eine gewandelte Einschätzung der Bedeutung einer Definition des Begriffs Text“ (Adamzik 2016, 40; Hervorhebungen im Original, die erste dort fett). Als die Textlinguistik sich zu konsolidieren begann, also in den 1970erJahren, galten zwei Fragen (und Aufgaben) als absolut zentral: die nach der Definition von Text und die nach der Klassifikation von Texten. Dies hat sich grundlegend geändert: Während „nahezu jeder, der sich in den 70er und 80er Jahren zu https://doi.org/10.1515/9783110296051-002
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Texten äußerte, zu verstehen gab, wie er den Textbegriff verstanden wissen wollte“ (Heinemann/Heinemann 2002, 96), verzichten heute „viele Textlinguisten auf den Versuch einer übergreifenden Bestimmung des Begriffs“ (ebd., 102). Es hat sich die schon von Brinker (1973) vertretene Auffassung durchgesetzt, dass es unmöglich ist zu bestimmen, „was immer und überall als Text zu gelten hat“ (Heinemann/ Heinemann 2002, 102; vgl. auch Brinker 2010, Kap. 2.2., zuerst 1985). Gleichwohl wird – gerade heute – auch immer wieder ein „erweiterter“ Textbegriff angemahnt. Dies dient in der Regel allerdings hauptsächlich dazu, den eigenen Untersuchungsgegenstand oder -schwerpunkt abzustecken, ggf. auch dazu, bestimmte Phänomene zu Forschungsdesiderata zu erklären, die (bislang) nicht hinreichend berücksichtigt worden seien. Derzeit geschieht dies insbesondere von Seiten der sog. Bildlinguistik, die das Zusammenwirken von schriftlichen und nichtsprachlichen, aber ebenfalls visuell wahrnehmbaren Gestaltungsmitteln in den Vordergrund stellt. Visualität wird dabei als konstitutives Merkmal von Textualität betrachtet (einen guten Einblick in die Diskussion bietet das Themenheft 1/ 2013 der „Zeitschrift für Germanistische Linguistik“ zu „Textualität – Visualität“). Im gleichen Zuge rücken die Verwandtschaft und das Zusammenwirken von schriftlichen und mündlichen Äußerungen in den Hintergrund, der Gegensatz zwischen Texten und Gesprächen, die andere Analyseverfahren erforderten, wird also prononciert herausgestellt. In der Frühzeit der Textlinguistik wurde demgegenüber gerade die getrennte Betrachtung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit kritisiert, als Spezifikum des sprachwissenschaftlichen Textbegriffs wurde sogar die Indifferenz gegenüber der medialen Verfasstheit betont (vgl. Brinker 2010, Kap. 2.3). Semiotisch orientierte Ansätze bezogen dabei auch nichtsprachliche Elemente ein, sodass Text synonym zu kommunikatives Signal oder Zeichen erscheint. Zwei Definitionen mögen diese Positionen exemplifizieren: Text ist die Gesamtmenge der in einer kommunikativen Interaktion auftretenden Signale. (Kallmeyer u. a. 1974, 45) Wir gehen von einem erweiterten Begriff des Textes aus, der linear, flächig oder auch räumlich angeordnete Mengen von Material und diskret gegebenen Elementen, die als Zeichen fungieren können, auf Grund gewisser Regeln zu Teilen oder zu einer Ganzheit zusammenfaßt. (Bense 1969, 76)
Sie sollen hier nicht näher besprochen und in den jeweiligen Diskussionskontext eingebettet werden, sondern nur zwei Ausprägungen eines (sehr) weiten Textbegriffs repräsentieren. Beide wählen allerdings unterschiedliche Größen als Oberkategorie, nämlich kommunikative Interaktion bzw. Zeichenkomplex. Bei Ersterem denkt man zweifellos eher an flüchtige Zeichen und muss sicher auch Winken, Fahnenschwingen oder Klatschen dazurechnen. Mit „Mengen von Material“ wird man dagegen eher dauerhaftere Objekte assoziieren. Interaktion bzw. Interpretation spielt dagegen bei der zweiten Definition offenbar keine entscheidende Rolle, da nur die Möglichkeit gegeben sein soll, dass das Material als Zeichen fungiert.
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Hierher gehören also zweifellos Bilder, aber auch mathematische Formeln, Partituren, nicht (mehr) entzifferbare Schriftstücke usw. Zu den engeren Definitionen ist Hartmanns frühe Bestimmung zu rechnen, denn er setzt als Oberkategorie Sprachlichkeit, bleibt also bei einem genuinen Phänomen der Linguistik. Dies kombiniert er allerdings mit Kommunikativität, und zwar gegen eine Position, die die Sprachverwendung nicht für linguistisch relevant hält. Er nimmt jedoch keine Einschränkung vor, sei es entsprechend der Medialität (Schrift), sei es entsprechend der Komplexität. Zu Texten gehören also auch Hallo oder WC auf einer Tür: Mit Text kann man alles bezeichnen, was an Sprache so vorkommt, daß es Sprache in kommunikativer oder wie immer sozialer, d. h. partnerbezogener Form ist. (Hartmann 1972, 5; zuerst 1964)
Sucht man nach einer extrem engen Auffassung, so stellt sich meist als erstes Harwegs Formel vom „durch ununterbrochene pronominale Verkettung konstituierten Nacheinander sprachlicher Einheiten“ (Harweg 1979, 148; zuerst 1968; im Original gesperrt) ein. Hier handelt es sich um eine festsetzende Definition, die einen bestimmten wissenschaftlichen Zweck verfolgt. In einer normativ geprägten Variante ist sie allerdings sehr geläufig und wird sogar häufig als die alltagssprachlich übliche vorgestellt. Neben dem Kriterium, dass es sich um Folgen von Sätzen handelt, gelten Monologizität und Schriftlichkeit als wesentliche Merkmale für solche Texte i. e. S. Diese Position sei hier durch Nussbaumers Definition repräsentiert, die in einen sprachdidaktischen Kontext gehört und daher normative Vorstellungen nicht ausblenden kann: Ich verstehe im folgenden unter Text immer eine monologische geschriebene sprachliche Äusserung von mehreren Sätzen Länge, wobei die Sätze untereinander einen – noch zu spezifizierenden – Zusammenhang haben. (Nussbaumer 1991, 33)
Mit einer solchen Vielfalt von Definitionen eines Begriffs – die auch für andere sprachwissenschaftliche Grundbegriffe charakteristisch ist – kann man recht gut leben, so lange kontextuell klar ist, wovon jeweils die Rede ist. Und gerade darauf kommt es an, wenn man den eigenen Untersuchungsgegenstand präzisiert. Gegenwärtig schränken die meisten einführenden oder Überblicksarbeiten zur Textlinguistik den ihren auf Geschriebenes bzw. visuell Wahrnehmbares ein (vgl. Sandig 2006; Hausendorf/Kesselheim 2008; Habscheid 2009; Gansel/Jürgens 2009; Fandrych/ Thurmair 2011; Averintseva-Klisch 2013). Dies gilt selbst dann, wenn man explizit zugesteht, dass „schriftlich und mündlich Verfasstes nicht scharf zu trennen sind“ (Sandig 2006, V) bzw. „eine klare und an allen Stellen eindeutige Trennung in Diskurse bzw. Gespräche einerseits, Texte andererseits nicht“ möglich ist (Fandrych/ Thurmair 2011, 17). Die unterschiedlichen Interessenfoki seien vorläufig durch die Abbildung 1 verdeutlicht.
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Abb. 1: (Potenzielle) Eigenschaften von Texten und linguistische Arbeitsfelder.
Den weitesten Phänomenbereich erfasst der Kasten 1, in dem Zeichen jedweder Art (also z. B. auch Gerüche) unter Text subsumiert werden (können); den engsten repräsentiert die Schnittmenge von Kasten 3, nämlich Satzfolgen (eine Teilmenge von 2 ,sprachlichʻ) und 5 ,visuellʻ, die der Normalerwartung an einen Text aus dem Gutenberg-Zeitalter entsprechen dürfte. Der Gesprächslinguistik ordne ich den Kasten 4 zu: Ihren Gegenstand bilden Interaktionen, womit der Prozesscharakter in den Vordergrund rückt. Dass in Gesprächen (bei raum-zeitlicher Kopräsenz) auch Nichtsprachliches bedeutsam ist und auf multimodale Ressourcen (Körpersprache usw.) zurückgegriffen wird, stand wohl nie außer Frage (was nicht bedeutet, dass es auch immer in die Analyse einbezogen wurde). Die Bildlinguistik (Kasten 5) tritt gewissermaßen gegen die Annahme an, dass, wie es etwa bei Fiehler u. a. (2004, 109) heißt, „bei Schriftlichkeit nur die Verbalsprache für die Verständigung eine Rolle spielt“, und unterstreicht, dass Schriftsprache ebenso fundamental multimodal sei wie Gesprochenes. Neben eigentlichen Abbildungen als Bestandteilen etwa von gedruckten Dokumenten (die wohl kaum als erst neuerdings berücksichtigte Komponenten gelten können) wendet sich die Bildlinguistik nämlich auch den materiellen Eigenschaften visuell wahrnehmbarer Zeichenkomplexe zu (vgl. auch den Beitrag von Schmitz in diesem Band). Dabei geht es insbesondere um typografische Dispositive (Layout), Schriftfarbe, -typ, -größe usw. Sie bezieht damit auch parasprachliche Phänomene ein, die in der Gesprochene-Sprache-Forschung (darunter sei der Kasten 2 abzüglich der Überschneidung mit 5 verstanden) seit langem berücksichtigt werden (Pausen, Lautstärke, Geschwindigkeit usw.). Insgesamt zeigt die Abbildung, dass höchst heterogene Phänomene als potenzielle Referenten von Text infrage kommen, und verdeutlicht die allenthalben zugestandene Unmöglichkeit anzugeben, „was immer und überall als Text zu gelten hat“ (Brinker 1973, s. o.). Dies ruft unweigerlich Wittgensteins Überlegungen zu den (Sprach-)Spielen ins Gedächtnis:
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[…] Statt etwas anzugeben, was allem, was wir Sprache [Text] nennen, gemeinsam ist, sage ich, es ist diesen Erscheinungen garnicht Eines gemeinsam, weswegen wir für alle das gleiche Wort verwenden, sondern sie sind miteinander in vielen verschiedenen Weisen verwandt. […] 66. Betrachte z. B. einmal die Vorgänge, die wir ‚Spiele‘ nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiel, Kampfspiele, usw. […] wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe. […] 67. Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort ‚Familienähnlichkeiten‘. (Wittgenstein 1971, I)
Die Vorstellung, dass verschiedene Phänomene nicht unbedingt Eigenschaften gemeinsam haben müssen, um in dieselbe Kategorie zu fallen, hat in die Textlinguistik insofern Eingang gefunden, als man hier seit geraumer Zeit mit dem Prototypenkonzept arbeitet (vgl. Adamzik 2016, Abb. 1); dieses präsentieren auch Heinemann/ Heinemann (2002, 102 ff.) als Lösung des Definitionsproblems. Es wirkte sich geradezu befreiend aus gegenüber der Annahme, Phänomene müssten bestimmte Kriterien erfüllen, um als Texte gelten zu können.
2 Von Dichotomien zu Skalen (und zurück?) 2.1 Textualitätskriterien: Texte vs. Nichttexte Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sich die relativierende Auffassung bzw. ein prototypischer Textbegriff gerade in der Auseinandersetzung mit einem Konzept durchgesetzt hat, das – zumindest auf den ersten Blick – einen besonders engen Textbegriff zugrunde legt. Dabei handelt es sich um die Definition von Beaugrande/Dressler: Wir definieren einen Text als eine kommunikative Okkurrenz (engl. ,occurrence‘), die sieben Kriterien der Textualität erfüllt. Wenn irgendeines dieser Kriterien als nicht erfüllt betrachtet wird, so gilt der Text nicht als kommunikativ. Daher werden nicht-kommunikative Texte als Nicht-Texte behandelt. (Beaugrande/Dressler 1981, 3; Hervorhebungen im Original als Kapitälchen)
Diese Bestimmung ist (trotz ihrer inneren Inkohärenz, vgl. Adamzik 2004, 3.1) bis auf den heutigen Tag sehr prominent (vgl. für neuere Stellungnahmen in diesem Sinne z. B. Habscheid 2009, 29 ff.; Gansel/Jürgens 2009, 23 ff.; Rothkegel 2010, 4.1.3.; Schubert 2012, 20 ff.; Averintseva-Klisch 2013, 4 ff.). Zugleich wird sie jedoch einhellig verworfen. Es habe sich nämlich erwiesen, dass die Kriterien keineswegs alle gegeben sein müssten und außerdem als relative Größen zu verstehen seien. Damit ist die Verbindung zum Prototypenkonzept hergestellt: Ein Text kann mehr oder weniger kohäsiv, kohärent usw. sein (vgl. für die anderen Kriterien die unten folgenden Zitate von Beaugrande) – kurz gesagt: Er könne ein mehr oder weniger guter Vertreter der Kategorie ‚Text‘ sein.
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Diese Redeweise ist geläufiger und klingt auch weniger befremdlich als die Dichotomie ‚Text vs. Nichttext‘, in der die Suche nach einer theoretisch fundierten, expliziten und eindeutigen Definition fortlebt, wie sie für die frühen textgrammatischen Ansätze der 1960er- und 1970er-Jahre charakteristisch ist. Wenig geeignet ist eine solche theoriegebundene Definition, wenn man von empirisch vorfindlichen Phänomenen ausgeht, etwa um Arbeitsgebiete von (Sub-)Disziplinen abzustecken. Das Buch von Beaugrande/Dressler steht nun gerade auf der Grenze zwischen diesen beiden Herangehensweisen und verortet sich mit dem Oberbegriff kommunikative Okkurrenz eigentlich eindeutig im zweiten Lager. Beaugrande hat denn auch die Bezüge zu einem theoriegebundenen, restriktiven Textbegriff rückblickend zu einem Missverständnis erklärt: These seven principles of textuality – cohesion, coherence, intentionality, acceptability, informativity, situationality, and intertextuality – demonstrate how richly every text is connected to your knowledge of world and society, even a telephone directory. Since the appearance of the Introduction to Text Linguistics in 1981, which used these principles as its framework, we need to emphasize that they designate the major modes of connectedness and not (as some studies assumed) the linguistic features of text-artifacts nor the borderline between ,textsʻ versus ,non-textsʻ (cf. II. 106 ff, 110). The principles apply wherever an artifact is textualized, even if someone judges the results ,incoherentʻ, ,unintentionalʻ, ,unacceptableʻ, and so on. Such judgements indicate that the text is not appropriate (suitable to the occasion), or efficient (easy to handle), or effective (helpful for the goal) (I. 21); but it is still a text. Usually, disturbances or irregularities are discounted or at worst construed as signals of spontaneity, stress, overload, ignorance, and so on, and not as a loss or a denial of textuality. (Beaugrande 1997, I. 52; Hervorhebungen im Original) Today, our conception of the co-text as a concrete empirical entity is being sharpened and deepened by large corpuses of real texts (cf. II. 64–79). And since these real texts are empirically given in vast quantities, we can dispense with the intractable requirement for a stringent formal definition to identify them all and to separate them from an imaginary set of ,nontextsʻ. (Beaugrande 1997, II. 108)
Was dem Beitrag von Beaugrande/Dressler die anhaltende Prominenz sichert, sind somit die sieben – jetzt als Prinzipien bezeichneten – Kategorien, die beim Umgang mit empirisch vorfindlichem Material wichtig sind: „[They] apply wherever an artifact is textualized“ (s. o.), d. h., sie werden wirksam, sobald man ein Phänomen als Text behandelt. Es geht also nicht mehr um die Frage, ob ein Etwas (,objektivʻ gesehen) bestimmte Eigenschaften aufweist und welche von diesen Eigenschaften dann Wissenschaftler als konstitutiv für ein theoretisch motiviertes Konzept betrachten. Vielmehr geht es um Fragestellungen, die man an ein Phänomen heranträgt. Dies entspricht dem Wandel von einer produktorientierten zu einer verwenderbezogenen Sicht. Das macht es natürlich notwendig zu akzeptieren, dass verschiedene Sprachteilhaber ein und demselben Artefakt unterschiedlich begegnen (können). Auf diese Weise lässt sich vielleicht sogar die Eingangsdefinition von Beaugrande/Dressler (1981, 3; s. o.) retten, sofern man die passivischen Formulierungen in geeigneter Weise auflöst:
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Ein Text ist eine kommunikative Okkurrenz, die Sprachteilhaber unter sieben Kriterien der Textualität beurteilen. Wenn sie diese Kriterien als nicht hinreichend erfüllt betrachten, so ist der Text für sie kommunikativ nicht relevant. Daher behandeln sie ihn nicht als Text.
Etwas nicht als Text zu behandeln, bedeutet normalerweise, dass man es nicht liest, die Lektüre abbricht, sich nicht an einer Konversation beteiligt o. Ä. Dass man ihm die Textualität abspricht und es als Nichttext qualifiziert, dürfte in der Alltagspraxis eher selten vorkommen und vor allem für Sprachspiele der Textbewertung, also metakommunikative Zusammenhänge, charakteristisch sein.
2.2 Skalen Der Erfolg der Textualitätskriterien von Beaugrande/Dressler (1981) geht, so lässt sich bisher festhalten, darauf zurück, dass sie ein Set von Dimensionen anbieten, unter denen sich Texte beurteilen lassen, und zwar graduell. Dies gilt für jedes einzelne Kriterium, wenngleich diese natürlich auch untereinander verbunden und voneinander abhängig sind. Kaum denkbar ist allerdings eine Art allgemeines Verrechnungsschema, das es erlaubte, ein Textualitätsausmaß zu bestimmen. So bleibt die Verortung in einem Prototypenmodell in der Regel eine Angelegenheit der intuitiven Einschätzung – und natürlich der Frage, wer eine solche Bewertung zu welchem Zweck vornimmt. Dies lässt sich am besten am Kriterium der Akzeptabilität verdeutlichen, das ja direkt die Rezipientenperspektive betrifft. Zu Texten, die ein sehr hohes Maß von Intertextualität, Informativität und Kohäsion aufweisen, gehören Fachtexte, die sich von vornherein nur an einen bestimmten Adressatenkreis richten. Für Laien sind sie kommunikativ nicht relevant und insofern nicht akzeptabel, als sie sie gar nicht entschlüsseln können. Denn sie setzen sowohl Sach- als auch Textsortenwissen voraus, über das nur ein kleiner Teil der Sprachgemeinschaft verfügt. Zusätzlich setzen sie aber auch die Kenntnis konkreter Texte voraus, nämlich mindestens eines Teils derer, auf die intertextuell verwiesen wird. Ohne solches Vorwissen ist die Kohärenz des Textes nicht erschließbar. Der Adressatenkreis stellt zweifellos einen Faktor dar, der in die Dimension der Situationalität gehört: Wer wendet sich an wen, wo und wann geschieht dies? Situationalität ist also – ebenso wie die anderen Kriterien, Prinzipien oder eben Dimensionen – eine höchst abstrakte Größe bzw. eine Oberkategorie. Sie muss noch in weitere Kriterien ausbuchstabiert werden. Das Ausmaß der Situationsverschränktheit ist ein solches Kriterium, das wahrscheinlich in irgendeiner Weise mit der Größe des Adressatenkreises korreliert, aber davon doch grundsätzlich verschieden ist. Auch über das Ausmaß von Kohäsion lässt sich kaum global entscheiden; vielmehr ist zunächst relevant, welche Zeichen überhaupt eingesetzt werden und welche Kohäsionsmittel damit möglich bzw. notwendig sind. Für rein linear präsentierte Satzfolgen sind das andere als für hypertextuell organisierte oder solche, die mit Bildern oder tabellarischen Darstellungen kombiniert sind.
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Über den Grad, in dem Kriterien solch niederer Abstraktionsstufen gegeben sind, bzw. über dabei relevante Ausprägungen dürfte sich viel eher intersubjektives Einverständnis herstellen lassen als über globale Bewertungen der Typikalität. Im besten Fall lassen sich Operationalisierungen vornehmen: Welchen Anteil machen linear präsentierte Satzfolgen aus – gegenüber nichtlinear dargebotenem sprachlichen Material, verschiedenen Arten von Abbildungen usw.? So ist es ja auch in der Gesprächsanalyse üblich, den Grad der Interaktivität zu bestimmen unter Rückgriff auf die Zahl der aktiven Akteure, die Länge ihrer Beiträge, die Häufigkeit der Sprecherwechsel usw.
2.3 Neue Dichotomien: Text vs. Gespräch, Produkt vs. Prozess Es ist bemerkenswert, dass es zwischen den Textualitätskriterien von Beaugrande/ Dressler (1981) und denen, die in die Abbildung 1 eingegangen sind, keinen Überschneidungsbereich gibt. Während es in der Abbildung um die Abgrenzung von Phänomenen (und zugehörigen Arbeitsfeldern) geht, nehmen Beaugrande/Dressler das Gesamtfeld in den Blick und schlagen vor, alle Okkurrenzen denselben Untersuchungsaspekten zu unterwerfen. Insbesondere spielt die mediale Verfasstheit für sie im Prinzip keine Rolle – weder im Sinne eines Zeichensystems (sprachlich vs. nichtsprachlich) noch im Sinne von Wahrnehmungskanälen (visuell vs. auditiv). Im Vordergrund steht die Prozessorientierung: Die Einheit der Zeichen (und der Semiotik) liegt in der systematischen Natur ihres Auftretens im Kontext menschlicher Tätigkeiten […]. Im weitesten Sinn könnte jede bedeutungshafte Zeichenkonfiguration ein Text genannt werden, der sich dann notwendigerweise durch Textualität auszeichnet. (Beaugrande/Dressler 1981, 229)
Das Gesamtfeld ist extrem breit, sodass sich eine Arbeitsteilung tatsächlich aufdrängt. Bei einer genaueren Ausdifferenzierung der Beschreibungsdimensionen und einer Operationalisierung einzelner Parameter sollte es auch gut möglich sein, die verschiedensten Konstellationen gegeneinander abzuheben und einzelnen Kommunikaten oder auch Kommunikationsformen Werte auf den verschiedenen Skalen zuzuweisen (mehr oder weniger kohäsiv, kohärent, situationsverschränkt usw.). Da es Kommunikationsformen gibt, die sehr verschiedene Medien miteinander kombinieren, lassen sich Art und Anteil verschiedener Komponenten auch zur Differenzierung heranziehen. Den i. e. S. multimedialen Kommunikaten widmet sich insbesondere die sog. Medienlinguistik mit Untergebieten, die etwa speziell Fernsehnachrichten, Talkshows, Dokusoaps usw. untersuchen, also technisch vermittelte massenmediale Kommunikation mit eingelagerten (inszenierten) Anteilen von Face-to-Face-Kommunikation, eingeblendeten und/oder abgelesenen Schriftstücken usw. Das Denken in Dichotomien hat allerdings offenbar eine ungebrochene Anziehungskraft und das Prototypenkonzept, das daraus eigentlich herausführen sollte,
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scheint diesem sogar neue Attraktivität zu verleihen. Es geht dabei nicht mehr darum zu beurteilen, wo sich ein Etwas auf einer Skala zwischen prototypischem ‚Text‘ und der Kunstkategorie ‚Nichttext‘ befindet, sondern darum, prototypisch Schriftliches (Druckwerk) von prototypisch Mündlichem (spontanes Alltagsgespräch) zu unterscheiden. Dass die Dichotomie ‚geschrieben‘ vs. ‚gesprochen‘ prägend bleibt, ergibt sich aus der ,medialen Lesartʻ, denn es gibt keinen fließenden Übergang zwischen auditiv und visuell Wahrnehmbarem. Fließende Übergänge gibt es dagegen sowohl in Bezug auf die einzelnen Situationsparameter als auch in Bezug auf die sprachstilistische Prägung, die mehr oder weniger normorientiert und elaboriert sein kann. Dieses Kontinuum haben Koch/ Oesterreicher (z. B. 2008) bekanntlich als konzeptionelle Lesart von Schriftlichkeit/ Mündlichkeit zu erfassen versucht, die sich in Gestalt der Entgegenstellung von ‚Sprache der Nähe‘ gegenüber ‚Sprache der Distanz‘ „zu einer Art Common Sense für die sprachtheoretische Modellierung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit entwickelt“ (Stein in diesem Band, 13) hat. Trotz der ausdrücklichen Betonung der skalaren Natur dieses Parameters leistet das Modell aber anscheinend der Vorstellung Vorschub, „man habe es mit zwei homogenen Untersuchungsbereichen zu tun“ (Stein in diesem Band, 6). Jedenfalls konstatiert Stein (im Anschluss insbesondere an Fiehler) eine Tendenz zur Homogenisierung von Schriftlichkeit auf der einen und Mündlichkeit auf der anderen Seite, die Rückkehr zur Dichotomie also. Zu diesem Befund gelangt auch Albert (2013, 60) in seiner Kritik am Modell von Koch/Oesterreicher: Es bleibe bezogen „auf Idealtypen dialogischer mündlicher Rede einerseits und standardsprachlicher Druckerzeugnisse andererseits“. Für eine genauere Erläuterung dieser Kontroverse sei auf Steins Beitrag verwiesen. Er schließt sich der Auffassung Fiehlers an, dass die Homogenisierungstendenz wesentlich auf die Abstraktion von kommunikativen Praktiken zurückgehe. Mache man solche dagegen zum Ausgangspunkt, so erschließe sich unmittelbar die große Varianz innerhalb des gesprochenen wie auch innerhalb des geschriebenen Bereichs. Kommunikative Praktiken bildeten Anknüpfungspunkte sowohl für Textsorten als auch für kommunikative Gattungen, seien nämlich grundsätzlich unabhängig vom Medialen zu konzipieren. Trotzdem wird an der Annahme festgehalten, dass „kommunikative Praktiken in der Regel mit einer bestimmten medialen Realisierung verbunden sind“ (Stein in diesem Band, 19), dass es deutlich unterschiedliche Domänen und Funktionen für Mündlichkeit und Schriftlichkeit gebe. Diese sieht Fiehler (2009, 1173) in der interaktiven Bewältigung aktueller Situationen auf der einen Seite und der raum-zeitlichen Distribution und Tradierung von Texten auf der anderen Seite. Es stellt sich die Frage, inwieweit die homogenisierende These von Koch/ Oesterreicher damit überwunden und nicht eher perpetuiert oder sogar verschärft wird. Fiehler u. a. (2004) sprechen tatsächlich alle möglichen Konstellationen an – Notizzettel, Selbstgespräch, Reproduktion von Auswendiggelerntem, technische Speicherung von Gesprächen, technisch vermittelte Interaktion, Kombination von
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Gesprochenem und Geschriebenem usw. Dennoch bleiben sie bei einer scharfen Entgegensetzung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit und nehmen für Letztere Kurzlebigkeit/Flüchtigkeit und Zeitlichkeit als Grundbedingungen an, die „für alle [!] mündlichen kommunikativen Praktiken“ (Fiehler u. a. 2004, 57) gelten. Während Koch/Oesterreicher tatsächlich nur den Wahrnehmungskanal (auditiv vs. visuell) zur Grundlage einer Dichotomie machen und die Situationsfaktoren gerade skalar fassen, erscheinen Letztere nun also (auch) als Abgrenzungsparameter. Die Argumentation mündet in die These, gesprochene Sprache müsse als Prozess begriffen werden, während das für Texte Spezifische sei, dass sie sich als Produkte materialisieren.
3 Produkte, Prozesse, Praktiken Nun ist es offenkundig, dass auch gesprochene Sprache als Produkt betrachtet werden kann. Dies ist sogar charakteristisch für die ältere Forschung zur gesprochenen Sprache, die an den sprachlichen Merkmalen von mündlichen gegenüber schriftlichen Produkten interessiert war und von der sich Fiehler u. a. abheben wollen. Damit situieren Letztere ihren Schwerpunkt im Forschungsbereich der Gesprächsanalyse, also im Kasten 4 aus Abbildung 1, blenden dabei allerdings zwar nicht alles Visuelle, wohl aber Schriftsprache aus: Für eine angemessene Analyse gesprochener Sprache bedarf es anstelle einer Produktorientierung einer Prozessorientierung. (Fiehler u. a. 2004, 27 [These (10)]; im Original fett)
Offenkundig ist allerdings ebenso, dass auch Schriftliches unter prozessualem Gesichtspunkt analysiert werden kann und nur mehr oder weniger dauerhaft ist, ja sogar extrem flüchtig sein kann (elektronische Statusanzeigen, Himmelsschrift, in den Schnee geschriebene Worte, Tafelanschriebe usw.). Bei Prozessen im Zusammenhang mit Schrift denkt man zunächst meist an die individuellen Akte von Herstellung und Rezeption. Diese sind inzwischen der Analyse auch viel besser zugänglich geworden. Die neuen technischen Möglichkeiten – Aufzeichnung von Aktivitäten bei der Herstellung eines Textes am Computer, Aufzeichnung von Blickbewegungen usw. – sind für entsprechende Forschungsfelder ebenso konstitutiv, wie es die ausgereifteren Tonträger für die Gesprochene-Sprache-Forschung und die Videogeräte für die Gesprächsanalyse waren. Dass Gespräche eher das Interesse an Prozessualität auf sich ziehen, während Texte in erster Linie als Produkte genommen werden (sollen), erklärt sich zwar relativ leicht daraus, dass Gesprochenes erst (technisch) konserviert werden muss, um als Produkt verfügbar zu sein. Geschriebenes liegt demgegenüber als Produkt vor und hier sind ganz besonders aufwendige technische Prozeduren erforderlich, um die Prozesse von Herstellung und Rezeption der Beobachtung zugänglich zu machen. Dennoch ist es unangemessen, Produkt und Prozess in irgendeiner Weise mit unterschiedlichen Arten des Sprachgebrauchs zu korrelieren.
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Einer solchen Sichtweise widersetzen sich nicht zuletzt neue Kommunikationsformen. Auch solche sind an technische Voraussetzungen und Kompetenzen gebunden. Die interaktive Bewältigung aktueller Situationen geschieht bekanntlich heute in ganz erheblichem Ausmaß im Schriftmedium und schlägt sich in Produkten wie SMS, E-Mails, Chats usw. nieder, aber natürlich auch in der Erledigung von Alltagsgeschäften mithilfe von Online-Diensten. Die technisch vermittelten Formen haben für viele Sprachteilhaber gegenüber der Face-to-Face-Kommunikation derartig an Bedeutung gewonnen, dass man sie mindestens als eigenständigen Prototyp ansetzen müsste. Tatsächlich hat sich ja auch ein eigenes Forschungsfeld konstituiert, das genau diese Formen fokussiert, sich also speziell dem Überschneidungsbereich der Kästen 4 und 5 widmet. Spuren der bei interaktiver Schriftlichkeit ablaufenden Prozesse werden automatisch generiert, das Produkt wird mehr oder weniger langfristig gespeichert (oder lässt sich zu wissenschaftlichen Zwecken speichern) – hier liegen also produkt- und prozessorientierte Fragestellungen gleichermaßen nahe. Prozesse unterliegen grundsätzlich der Bedingung der Zeitlichkeit, gleichgültig, ob es sich um interaktive Prozesse, um solche der Wahrnehmung, Kognition oder anderes handelt. Produkte dagegen sind statisch. Einen ganz anderen ontologischen Status haben gegenüber beidem kommunikative Praktiken. Es handelt sich hier um virtuelle Einheiten, um „präformierte Verfahrensweisen, die gesellschaftlich zur Verfügung stehen“ (Fiehler u. a. 2004, 99). Sie liegen auf der Ebene von Mustern oder Schemata. Es sind also kognitive Einheiten, die sich nicht direkt beobachten lassen, sondern aus Prozessen als Ausführungen bzw. Instantiierungen der Muster zu rekonstruieren sind. Kognitive Schemata gibt es natürlich auch auf anderen Ebenen, von den typografischen Dispositiven war schon eingangs die Rede. Als allgemeiner Ausdruck, der die verschiedenen Ebenen integrieren kann, wird der Ausdruck Frame propagiert (vgl. bes. Busse 2012). So kann man etwa mit einem Lotto-Frame rechnen, der sowohl die Vorstellung eines Lottoscheins umfasst wie Wissen darüber, wie man ihn ausfüllt, sich einen eventuellen Gewinn auszahlen lässt, wie die Ziehung der Lottozahlen abläuft usw. Der Ausdruck Verfahrensweise unterstreicht die auch mit Praktik verbundene dynamische Seite und rückt den statischen Aspekt in den Hintergrund. Da für Texte gegenüber Gesprächen (bzw. Gesprochenem) allerdings gerade der Produktcharakter relevant sein soll, versteht es sich nicht von selbst, beide unter das gemeinsame Dach der kommunikativen Praktik zu bringen oder auch zu unterstellen: „An der Ausführung einer Praktik sind immer mindestens zwei Parteien beteiligt“ (Fiehler u. a. 2004, 100). Die Differenz zwischen dem Produkt und seiner (rezeptiven) Prozessierung wird hier ja gerade übergangen. Dies lässt sich als ein Erbe aus der sog. kommunikativen Wende verstehen, die jedweden Sprachgebrauch mit Kommunikation gleichsetzt, so als ließe sich nichtkommunikativer Sprachgebrauch oder kommunikativ nicht erfolgreiches Reden und Schreiben nicht einmal denken. Zwar müssen Sprachprodukte in einem Prozess hervorgebracht worden sein. Wenn sie einmal
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als solche existieren, so ist dies allerdings unabhängig davon, ob auch (weitere) Verarbeitungsprozesse stattfinden. Wenn man Gespräche und Texte auch voneinander unterscheiden (und Letzteren eine stärkere Produktaffinität zuerkennen) will, dann ist es ratsam, diese nicht einfach mit Kommunikation – einer essenziell prozesshaften Einheit – gleichzusetzen. Einen solchen produktorientierten Textbegriff legt Sigurd Wichter zugrunde, der in Texten nur potenzielle Kommunikate sieht: Da […] ein Text nicht notwendig in die Kommunikation eingehen und mithin nicht die diesbezügliche Eigenschaft einer Kommunikationseinheit haben muss, oder anders gesagt: da eine Textproduktion ohne Rezeption bleiben kann, reicht die Formulierung ,Textʻ nicht hin, wenn von einer Kommunikationseinheit die Rede ist. Der Text als solcher ist noch keine Kommunikation. Erst der produzierte und rezipierte Text, kurz: erst das Textkommunikat ist ein Teil dieser. (Wichter 2011, 100, Anm. 26; Hervorhebungen im Original unterstrichen)
Jede einzelne Textrezeption stellt in Wichters Sicht ein gesondertes Textkommunikat dar, während (nicht aufgezeichnete) Gespräche per se genau einer Kommunikationseinheit entsprechen. Nun sind allerdings die meisten Rezeptionsprozesse nur den jeweiligen Individuen zugänglich. Gesellschaftlich (und wissenschaftlich) relevant sind sie nur, insofern sie auch Spuren hinterlassen. Wichter konzentriert sich denn auch auf intertextuell miteinander verbundene Kommunikate, wie sie auch die Diskursanalyse in den Blick nimmt. Es geht ihm also um längerfristige Prozesse, die mehrere Texte und/oder Gespräche umfassen. Er spricht hier von Kommunikationsreihen. Aber auch die Interaktion von Paaren oder Kleingruppen betrachtet er als durch solche Kommunikationsreihen geprägt, auch hier können sich Muster ausbilden, die nur den Beteiligten bekannt sind. Kommunikative Praktiken stehen also nicht generell gesellschaftlich zur Verfügung, sondern das Wissen darüber ist unterschiedlich verteilt. Während Wichter den Gegensatz von Texten und Gesprächen dadurch überbrückt, dass er sie gleichermaßen als Bestandteile übergreifender kommunikativer Ziele und Prozesse präsentiert, hat die Prozessorientierung auch auf anderem Wege Eingang in die Textlinguistik gefunden. Ein gewisses Prestige hat sie sicher auch aus wissenschaftstheoretischen Gründen (Konstruktivismus) erlangt, die Gesprächsanalyse fungiert aber zweifellos als spezielles Vorbild. Die beiden Disziplinen stehen sich also nicht so fremd gegenüber, wie dies oft unterstellt wird. Der Einfluss der Konversationsanalyse zeigt sich besonders ausgeprägt bei Hausendorf/Kesselheim: Für sie sind auch Texte grundsätzlich das Dokument einer Kommunikation zwischen Autor und Leser, das im Moment der Lektüre entsteht. Einen Text als ein lesbares Etwas zu verstehen, heißt also auch, ihn in seiner Eigenschaft als kommunikative Erscheinungsform zur Geltung zu bringen. (Hausendorf/Kesselheim 2008, 17)
Hausendorf/Kesselheim marginalisieren also den Produktcharakter von Texten und betrachten auch diese als etwas gemeinsam Hervorgebrachtes. Damit wird die sonst oft schlicht unterstellte Identität von Text und Kommunikation überwunden,
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der Text nicht global als kommunikativer Akt behandelt, sondern auf Prozessindikatoren abgesucht. An die Stelle der Textualitätskriterien von Beaugrande/Dressler treten dabei Textualitätshinweise. Diese sind zu verstehen als eine Analogie zu den Kontextualisierungshinweisen aus der Konversationsanalyse, mit denen die Interaktanten in einem Gespräch einander signalisieren, wie ihre Äußerungen zu verstehen sind, sodass sie sich ständig aufeinander abstimmen können. Das gilt zwar für monologische Schrifttexte gerade nicht, lässt sich aber in gewissem Ausmaß adaptieren: Kommunikativ Handelnde müssen zugleich Inszenierende ihrer Handlungen sein und in ihren Texten systematisch anzeigen, wie die Kommunikationspartner die Handlungen verstehen sollen. (Habscheid 2009, 8)
Untersucht werden sollen nun in diesem Zusammenhang nicht die konkreten Prozesse von Herstellung und/oder Rezeption, sondern sehr wohl das Produkt, dies allerdings vor allem insofern, als es Hinweise auf Muster und Praktiken enthält, die es dem Leser ermöglichen, seinen Part im kommunikativen Handlungsspiel zu realisieren. Der Rezipient wird also als eine Art impliziter oder idealer Leser konzeptualisiert, die Verarbeitungsprozesse als konventionalisierte Schemata. Im Zusammenhang mit den Intertextualitätshinweisen heißt es etwa ausdrücklich, Textualität erweise sich in schwierigen Fällen als ein Potenzial – ob und in welcher Weise dieses Potenzial bei der Textproduktion und -rezeption empirisch ausgeschöpft wird, hängt von vielen Umständen ab, braucht uns aber in der Textlinguistik nicht weiter zu interessieren (Hausendorf/Kesselheim 2008, 188; Hervorhebung im Original).
Mit dieser geradezu prononciert anti-empiristischen Haltung positionieren die Autoren die Textlinguistik methodisch denn doch wieder in einem der Gesprächsanalyse entgegengesetzten Feld. Gemeinsam ist beiden Ansätzen jedoch das Interesse an kommunikativen Praktiken und Prozessen – die sich in Produkten niederschlagen und durch solche auch immer wieder neu ausgelöst werden.
4 Textwissen Die bisherigen Ausführungen seien als Grundlage für das Folgende zunächst noch einmal zusammengefasst: Produkte, Prozesse und Praktiken stellen unterschiedliche Facetten derselben Phänomene dar. Der fragliche Phänomenbereich ist extrem groß und in sich heterogen, sodass Differenzierungen notwendig sind. Dabei hat das Modell von Koch/Oesterreicher den bislang größten Erfolg gehabt, wird aber zunehmend als unzureichend kritisiert (vgl. als Zusammenfassung der Kritik Albert 2013, Kap. 3). Der Erfolg des Modells erklärt sich daraus, dass die Autoren
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mit der Komponente Konzeption ein Kontinuum präsentieren, das es erlaubt, in Skalen statt in Dichotomien zu denken. Die Kritik betrifft u. a. den Tatbestand, dass sie für die Pole dieses Kontinuums dieselben Begriffe wie für die mediale Dichotomie wählen (konzeptionelle Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit). Dies ist insbesondere in Bezug auf die neuen Medien problematisch, die Vermischung der verschiedenen Aspekte erscheint aber auch grundsätzlich als unangemessen. Gefragt ist also ein Vorgehen, das an der Arbeit mit graduellen Differenzen festhält und dies auch für verschiedene Kriterien konkretisiert, um der Tendenz zu vereinfachenden Gegenüberstellungen zu entgehen. Als graduell ist auch Textwissen zu betrachten, und zwar in mindestens folgenden Hinsichten: Erstens sind Texte mehr oder weniger vielen Personen bzw. größeren oder kleineren Kollektiven zugänglich, zweitens bleiben sie mehr oder weniger lange im Gedächtnis, und drittens kann man mehr oder weniger viel über sie wissen bzw. sie mehr oder weniger gut kennen. In der Text- und Gesprächslinguistik stehen an Wissenselementen bislang die kommunikativen Praktiken, Gattungen, Textsorten usw. im Vordergrund, also virtuelle Einheiten bzw. Muster oder Schemata auf relativ komplexem Niveau. Zum geteilten Wissen gehören aber selbstverständlich auch elementarere Einheiten – grammatische Konstruktionen und lexikalische Einheiten – sowie komplexere Einheiten, also bestimmte Produkte des Sprachgebrauchs. Denn die Grenze zwischen lexikalischem Material, Kurztexten und Textfragmenten ist keineswegs scharf. Das Wissen über diverse Muster, sprachliche Einheiten und auch Produkte ist gesellschaftlich sehr ungleich verteilt: Jeder beherrscht nur einen Teil seiner Sprache, kennt viele Elemente nur passiv oder überhaupt nicht, weiß von vielen kommunikativen Praktiken, ohne je aktiv an ihnen teilzunehmen usw. Erst recht rezipieren nicht alle dieselben Produkte, und wenn sie es tun, dann nicht unbedingt in derselben Weise. Vielmehr unterscheiden sich gesellschaftliche Subgruppen gerade darin, über welches Muster- und Textwissen sie gemeinsam verfügen und welche Praktiken und Produkte ihnen zugänglich sind. Hier soll nun das Wissen über die Produkte fokussiert werden: Was kann man von Texten wissen und wie gelangt man zu diesem Wissen? Hierfür spielen gesellschaftliche Praktiken des Umgangs mit Texten eine besondere Rolle. Sie machen diese zugänglich (oder auch unzugänglich). Im Einzelnen geht es um Praktiken der Präsentation und Verbreitung, der Konservierung und Archivierung und schließlich um solche der Tradierung. Alle diese Praktiken hängen zwar zusammen, es dürfte aber offensichtlich sein, dass Konservierung und Archivierung eher die materielle Seite betreffen, während bei der Tradierung Texte als kulturelle Produkte behandelt bzw. zu solchen gemacht werden, die ins kollektive Gedächtnis eingehen (sollen). Dass Texte auf Verdauerung angelegt sind, ist das Standardkriterium, das genannt wird, wenn man Textualität nicht an Schriftlichkeit bindet. Eine frühe Definition dieser Art stammt von Hans Glinz: [U]nter Text verstehen wir ein von seinem Hersteller von vorneherein als mehr oder weniger dauerhaft intendiertes (oder, wenn es von einem anderen stammt, dauerhaft gemachtes)
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sprachliches Gebilde. Dieses Gebilde kann in Schrift aufbewahrt sein (wie heute die Regel), es kann als Tonkonserve aufbewahrt sein oder es kann auch nur im Gedächtnis von Menschen aufbewahrt sein (wie in schriftlosen Kulturen und den mündlich tradierten Literaturen). (Glinz 1974, 122; Hervorhebung im Original)
Besonders großen Einfluss hat Konrad Ehlichs Position ausgeübt, der den Zweck von Texten in der Überlieferung sieht. Beide, Glinz und Ehlich, führen also den Überlieferungswert als Kriterium ein und sprechen mit den mündlich tradierten Literaturen (und anderen kulturell bedeutsamen Texten) den einen Pol eines Kontinuums an. Der andere Pol lässt sich unter dem Aspekt der materiellen Haltbarkeit von Textträgern leicht benennen, er betrifft die nur flüchtigen Produkte. Das sagt allerdings nichts darüber, inwieweit sie der Erinnerung wert sind. Bemerkenswerterweise sprechen Fiehler u. a., die Flüchtigkeit mit Mündlichkeit assoziieren, diesen Aspekt durchaus an: Über die Dauer ihrer physikalischen [sic: physischen] Existenz hinaus haben die [mündlichen] Hervorbringungen lediglich als Repräsentationen im Gedächtnis bzw. in der Erinnerung derjenigen Personen Bestand, die sie produziert bzw. wahrgenommen haben. Kurz- und dann Langzeitgedächtnis sind so der Ort, wo die Hervorbringungen, die in der Zeit einander ablösen […], kopräsent sind. (Fiehler u. a. 2004, 58)
Das Gedächtnis ist allerdings ein ganz besonderer Aufbewahrungsort, und er ist nicht etwa auf Mündliches spezialisiert. Auch von dem, was man im Prozess der Lektüre wahrnimmt, geht nur Weniges ins Langzeitgedächtnis ein. Nur wenn hinreichend viele Personen gleichermaßen Spuren eines Produkts in ihrem Langzeitgedächtnis aufweisen, kann man von kollektivem, gesellschaftlich verfügbarem Wissen sprechen.
4.1 Was man von einem Text wissen kann Geht man auch diese Frage konsequent mit einem skalaren Denkmodell an, so lässt sich zumindest der eine Pol klar bestimmen: Im Extremfall weiß man nämlich von einem Produkt gar nichts, man hat es entweder gar nicht wahrgenommen oder nichts davon in seinem Langzeitgedächtnis bewahrt. Schwieriger ist es, den anderen Pol zu bestimmen. Auf den ersten Blick liegt es wohl nahe, von maximaler Kenntnis auszugehen, wenn jemand einen Text wortwörtlich aus dem Langzeitgedächtnis abrufen kann, ihn also auswendig kennt. Dagegen sprechen allerdings mindestens die drei folgenden Überlegungen: Erstens garantiert das Auswendigkennen bekanntlich nicht, dass man einen Text auch (gut) verstanden hat. Zum Verstehen im weiteren Sinne gehört, zweitens, etwas über den Stellenwert zu wissen, den das Produkt (gehabt) hat, über sein Zustandekommen und seine Folgen. Wer etwa den Wortlaut der Emser Depesche kennt oder zur Kenntnis nimmt, weiß noch nichts davon (und käme allein auf
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dieser Grundlage auch nicht auf die Idee), ihr eine Bedeutung für den deutschfranzösischen Krieg von 1870/71 zuzuweisen. Drittens wird bei diesem Kriterium das Produkt auch insofern auf den Wortlaut reduziert, als man es ablöst von den konkreten Umständen und Qualitäten seiner Hervorbringung. Wer etwa einer Rede beigewohnt hat oder mindestens eine Konserve davon gesehen und gehört hat, erinnert sich an ganz anderes als an den genauen Redetext. So stellen sich z. B. für viele zu den Sätzen „I have a dream“ (Martin Luther King) und „Ich bin ein Berliner“ (John F. Kennedy) nicht nur Bilder ein, sondern sie verbinden damit auch Stimm- und Aussprachequalitäten, aber nicht unbedingt weitere Textfragmente. Entsprechendes gilt auch für Schriftstücke. Von einem Buch bleibt wörtlich vielleicht gerade einmal der Titel im Langzeitgedächtnis, daneben aber möglicherweise sehr wohl das Format, das Gewicht oder die Farbe. Nur relativ kurze Texte haben die Chance, wörtlich in das Langzeitgedächtnis einer relevanten Zahl von Personen einzugehen. Wenn man dennoch davon spricht, dass Texte zum kollektiven Gedächtnis gehören, so bezieht man sich dabei auf ein Wissen, das individuell höchst fragmentarisch sein kann. Hier könnte man einerseits als Minimalbedingung ansetzen, dass man von der Existenz eines Produkts und/oder Prozesses weiß (jemand hat eine Rede gehalten, es haben Waffenstillstandsverhandlungen stattgefunden usw.). Andererseits haben viele Menschen Textfragmente im Kopf, u. a. die sog. geflügelten Worte, ohne zu wissen, aus welchem Text sie stammen. Es scheint mir daher fraglich, ob sich eine klare Skala für mögliche Antworten auf die Frage konstruieren lässt, ob jemand einen Text kennt, ob also irgendwelche Wissensbestände dazu in seinem Langzeitgedächtnis verfügbar sind. Man muss wohl eher mit individuell recht unterschiedlichen Bündeln von Wissensbestandteilen rechnen. Zwischen dem Wissen um die Existenz eines Textes und (Fragmenten vom) Wortlaut liegt aber sicher die mehr oder weniger genaue Kenntnis des Inhalts. Je eher man einen Text als zum kollektiven Gedächtnis gehörig rechnen kann, desto wichtiger wird die Kenntnis des Inhalts, während sowohl die materielle Realisierung als auch der Wortlaut an Bedeutung verlieren, und zwar u. a. deswegen, weil solche Texte in viele Sprachen übersetzt werden. Derselbe Text existiert dann in verschiedenen Versionen. Solche Produkte lassen sich am ehesten mit lexikalischen Internationalismen parallelisieren. Wie ein entsprechendes Textwort nicht unmittelbar die Kategorie Internationalismus repräsentiert, sondern zunächst ein einzelsprachliches Lexem (in einer bestimmten Lesart), das zu einer Gruppe ähnlicher Lexeme verschiedener Sprachen gehört, so repräsentiert ein materiell vorliegendes Druckerzeugnis nicht etwa unmittelbar eine bestimmte Textsorte, sondern ist zunächst eines von mehr oder weniger vielen Exemplaren eines bestimmten Werks bzw. einer Ausgabe oder Bearbeitung davon. Es kann also von einem Text auf verschiedenen Abstraktionsebenen die Rede sein, und es muss dementsprechend der materialisierte Text vom virtuellen Text unterschieden werden. Dabei sind verschiedene Stufen gegeneinander abzugrenzen.
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Dies sei versuchsweise konkretisiert am Beispiel von Märchen. Sie werden immer noch auch mündlich tradiert, wobei wie bei allem mündlich Tradierten der Wortlaut sehr stark variieren kann (die sieben Stufen sind nicht als ein definitives Raster zu verstehen):
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Prozess der Rezeption materielles Produkt: Exemplar Ausgabe Sprachversion (Wortlaut) Version Werk/Stoff/Fragmente des Wortlauts Textsorte
Beispiel stille Lektüre vs. Vorlesen Buch vs. PDF Reclam vs. Klassiker Verlag Original vs. Übersetzung Grimm vs. Perrault vs. Disney Rotkäppchen vs. Schneewittchen Märchen vs. Roman
Man kann den Text selbst gelesen oder gehört haben (1), nur eine Ausgabe einmal in der Hand gehabt (2), mehrere Ausgaben in seinem Bücherregal stehen (3), mehrere Versionen parallel gelesen haben (4 und 5), nur den Stoff oder Motive wie die sieben Zwerge oder „Spieglein, Spieglein an der Wand …“ kennen (6). Schließlich wird es auch Leute geben, die nur die Textsorte Märchen (7), aber nicht die europäischen Stoffe kennen. Märchen sind sehr verbreitet, es gibt aber auch viele Textsorten, die nicht allgemein bekannt sind. Text als im Wortlaut festgelegte Einheit (4) zu betrachten, entspricht ganz dem Verständnis, das für die Textgrammatik konstitutiv ist. Ihr geht es nur um Folgen von sprachlichen Zeichen, unabhängig von ihrer materiellen Gestalt und ihrem kommunikativen Einsatz. Damit sind zugleich einige Nachteile dieses Ansatzes genannt: Er lässt sich erstens nur schwer auf nichtlinear präsentiertes Sprachmaterial anwenden und reduziert den Text eben auf das Sprachliche. Das ist allerdings nicht nur als Spezifizierung eines Forschungsgebietes völlig zulässig, sondern sogar das angemessenste Vorgehen, wenn es um virtuelle Texte geht, die (über einen langen Zeitraum) im Wortlaut tradiert werden. Es ist aber grundsätzlich auch für alle Produkte angemessen, die nicht konstitutiv multimodal sind, bei denen die Materialität keine besondere Rolle spielt und die tatsächlich aus umfangreichen Folgen von Sätzen bestehen. Zu den konstitutiv bimodalen Produkten gehört etwa der Satz des Pythagoras. Dies ist eine virtuelle Einheit, bei der es wenig Sinn hat, nach einem (materialisierten) Original zu fragen – zumal umstritten ist, welche Bedeutung Pythagoras dabei überhaupt zukommt. Auch Partituren von Liedern oder Opern stellen virtuelle Einheiten dar, bei denen eine Medienkombination, nämlich die von Text und Melodie bzw. Musik, konstitutiv ist. Konkrete Aufführungen in ihrer Einzigartigkeit repräsentieren gegenüber Partitur und Libretto eine andere Schicht. Die Möglichkeit, diese technisch zu konservieren, hält eine Vielzahl von Eigenschaften zugänglich, die der virtuellen Einheit der Stufe 4 abgehen. Doch auch sie können ins Langzeitgedächtnis eingehen und wiedererkannt werden.
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Damit ist eine weitere Skala angesprochen, nämlich die der Abrufbarkeit eines Elements aus dem Langzeitgedächtnis. Dass man nur einen Teil der lexikalischen Elemente einer Sprache aktiv beherrscht, ist ein Gemeinplatz. Entsprechendes gilt aber natürlich auch für Texte und Textfragmente. Sind sie leicht zugänglich, kann man sie spontan für die eigene Produktion einsetzen. Das betrifft u. a. Routineformeln, sprachliche Versatzstücke, Schlüsselwörter und -formulierungen, Inhaltselemente, Topoi u. a. m. Gerade Alltagsgespräche laufen oft recht stereotyp ab, und manche Menschen erzählen dabei tatsächlich immer wieder die gleichen Geschichten oder Witze. Politiker sind dafür bekannt, dass sie gut in Leerformeln sprechen können, und in institutionellen Kontexten ist die Reproduktion mehr oder weniger umfangreicher Texte z. T. Voraussetzung für den erfolgreichen Vollzug einer kommunikativen Praktik. Die Frage, inwieweit Sprachprodukte vorformulierte Elemente enthalten, entspricht einem klar graduell zu fassenden Kriterium. Insofern lässt sich weder nachvollziehen, dass Fiehler u. a. (2004, 74) meinen, die Bedingung der Vorformuliertheit von Beiträgen sei bei schriftlichen Praktiken „nicht einschlägig“, noch ihrer Annahme folgen, sie differenziere „im Wesentlichen zwei große Klassen von kommunikativen Praktiken, die sich deutlich unterscheiden“ (Fiehler u. a. 2004, 72). Dies passt auch nicht zu der später präsentierten Annahme: „Die Ausprägungen dieser Grundbedingung reichen vom situativen Formulieren bis zur mündlichen Reproduktion schriftlicher Texte“ (Fiehler u. a. 2004, 95). Zuzustimmen ist dagegen ihrem Hinweis, dass „Vorformulierungen häufig in schriftlicher Form festgehalten werden (vom Stichwortzettel bis zum ausformulierten Text)“ (Fiehler u. a. 2004, 72). Diese Praktiken überbrücken damit aber gerade die vermeintlich klare Opposition Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit. Ebenso wie der Sprecher sich auf Schriftliches stützen kann, braucht der Hörer sich nicht allein auf sein Gedächtnis zu verlassen, um dem Wahrgenommenen Bestand über die Dauer seiner physischen Existenz hinaus zu sichern: Er macht sich beim Zuhören Notizen und schreibt mit. Dieselben Praktiken sind im Umgang mit schriftlichen Produkten üblich. Dem irgendwann als fertig gesetzten Text gehen Notizen, Skizzen, Formulierungsversuche usw. voraus, das Lesen wird von Anstreichungen, Randbemerkungen oder Exzerpten begleitet. Haben wir es nun bei diesen materialisierten Spuren der Vorbereitung und Wahrnehmung von mündlich Präsentiertem bzw. der Produktion und Rezeption von Geschriebenem mit Texten zu tun? Manches ist selbst für den Schreiber nach kürzester Zeit nicht mehr lesbar, anderes wird zur Grundlage von Büchern (wie etwa dem Hauptwerk von Saussure oder Austin), als Fragment veröffentlicht usw. Es handelt sich also um ein sehr breites Kontinuum, und es ist anzunehmen, dass Individuen damit verschieden umgehen. Wer etwas gleich wieder wegwirft, wenn es nicht mehr relevant ist, behandelt es nicht als Text, nicht weil es nicht kommunikativ wäre – das sind solche persönlichen Aufzeichnungen sowieso kaum –, sondern weil er es nicht der Aufbewahrung für wert hält.
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4.2 Gesellschaftliche Praktiken des Umgangs mit Texten Bei der Frage, was von Texten und Gesprächen im Langzeitgedächtnis gespeichert wird, steht erstens die individuelle Seite im Vordergrund, zweitens ein Prozess, den man nur teilweise kontrolliert: Manches kann man sich nicht merken, anderes nicht aus dem Gedächtnis verbannen. Einem individuellen, aber intentionalen Akt entspricht es, sich Notizen zu machen und diesen dann die Qualität der Textualität zuzuschreiben oder nicht, indem man sie etwa neuerlich rezipiert oder wegwirft. Intersubjektive Qualität gewinnen Akte, wenn jemand etwas als Text für einen anderen deklariert, indem er es ihm zukommen lässt, was noch nicht garantiert, dass der andere es auch liest. Textualität ist in diesem Sinne nicht ein Merkmal, das dem Produkt zukommt, sondern eine Eigenschaft, die zugeschrieben wird. Der Prototyp von Texten, eben jene, die zur längerfristigen Überlieferung gedacht sind, kann nun als solcher gar nicht von einem Individuum hervorgebracht werden, sondern ist notwendig das Ergebnis kollektiven Handelns. So lässt sich das Gemeinsame von prototypischen (!) Gesprächen und Texten wohl am besten erfassen: Es handelt sich bei beiden um gemeinschaftliche Hervorbringungen. Auch der Unterschied ist so klar fassbar – im einen Fall wird das Produkt von einer raum-zeitlich kopräsenten Kleingruppe hervorgebracht, im anderen Fall haben Raum und Zeit eine maximale Ausdehnung. Bei Letzteren handelt es sich um Hervorbringungen, die zum Weltkulturerbe gerechnet werden, deren Geltung also weder zeitlich noch räumlich beschränkt ist. Welche konkret dazugehören, unterliegt einem gesellschaftlichen Aushandlungsprozess, in dem „Definitionsagenturen: Schulen, Universitäten, Feuilletons, Museen“ (Schulze 1992, 142 f.) als Akteursinstanzen und Praktiken der Verbreitung und Verdauerung eine besondere Rolle spielen. Es empfiehlt sich also, die Dichotomie ± raum-zeitliche Kopräsenz durch die Skalen Verbreitungs-/Gültigkeitsradius und Bestands-/Gültigkeitsdauer zu ersetzen, also danach zu fragen, wie weit Ort und Zeit der (Erst-)Produktion und der Rezeption auseinander liegen. Ein qualitativer Sprung liegt sicher vor, wenn Produzent und Rezipient nicht im selben Bezugssystem agieren, wenn sich ihre Lebenszeiten nicht überschneiden, besser noch: wenn es niemanden mehr gibt, der Zeitgenosse des Produzenten war. Betrachtet man Textualität als zugeschriebenes Merkmal, so tritt die Dauer der physischen Existenz, also die materielle Haltbarkeit eines Sprachprodukts, in den Hintergrund. Tatsächlich sind andere Aspekte der Zeitlichkeit wichtiger. Für die prototypischen Texte ist dies zunächst die große Zeitspanne, über die hinweg Prozesse der neuerlichen Rezeption stattfinden. Nur flüchtig Existentes, das technisch nicht aufgezeichnet wird, kann dagegen gar nicht mehrfach rezipiert werden. Wenn auch keinerlei vor- oder nachbereitende Notizen existieren und nur situativ formuliert wird, haben wir es mit prototypischen, nämlich nur für den Augenblick gedachten mündlichen Hervorbringungen zu tun.
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Was nun Koch/Oesterreicher (1985 und ff.) konzeptionelle Schriftlichkeit/ Mündlichkeit nennen, kann man als Aufwand für die Herstellung des Produkts operationalisieren (vgl. dazu ausführlicher Adamzik 2015). Im prototypischen Gespräch fällt der zeitliche Aufwand für die Herstellung des Produkts mit der Dauer der Interaktion zusammen. Die graduelle Annäherung an den Distanz-Pol geht einher mit höherem Herstellungsaufwand, der Abstand zwischen der ersten Planung und dem Endprodukt wird größer. Man investiert in die Strukturierung, die Formulierungssuche, die Überarbeitung. Kommen dann noch letzte Korrekturgänge und kalligrafische Materialisierung oder Phasen des endgültigen Formatierens, der Erprobung verschiedener Designelemente usw. hinzu, und dies auch noch delegiert an professionelle Akteure, die man bezahlen muss, sind wir bei den Druckerzeugnissen angekommen. Einen entsprechenden, eher noch größeren zeitlichen und materiellen Aufwand benötigt man für die Herstellung multimedialer Produkte, für Webauftritte, Fernsehsendungen, Filme, Theateraufführungen usw. Eben deswegen ist die Parallelisierung mit verschiedenen medialen Ausprägungen von Sprache unangemessen verengend und trifft auch nicht den Kern des gemeinten Kontinuums. Die bisher genannten Kriterien, insbesondere Verbreitung, Zugänglichkeit, Geltungsdauer und Herstellungsaufwand, stehen zwar miteinander in Zusammenhang, sie lassen sich aber nicht in einer Skala anordnen, da Produkte gegenläufige Eigenschaften aufweisen können: Entsprechend dem einen Parameter müsste man sie weit unten, entsprechend einem anderen weit oben auf der Skala verorten. So gehört es zu den Topoi der Kulturkritik, die geringe Verbreitung der Kenntnis von Texten mit höchster kultureller Relevanz zu beklagen. Dafür, dass das Wissen nicht unwiederbringlich verloren geht, sorgen Praktiken der Tradierung, die die Produkte zugänglich halten. Zugänglichkeit ist selbstverständlich eine skalare Größe und bemisst sich zunächst an der Anzahl der Personen, die das Produkt wahrnehmen können. Minimal ist das eine Person. Auf die innere Sprache sei nur am Rande hingewiesen, sie ist (bis auf Weiteres) nur der Introspektion zugänglich, was nichts an ihrer Bedeutsamkeit ändert. Von Selbstgesprächen kann man dagegen sehr wohl Zeuge werden, relevanter ist in diesem Zusammenhang aber die in literalen Gesellschaften vollkommen übliche, ja geradezu unverzichtbare Praktik, das, was einem durch den Kopf geht, auch auf Papier festzuhalten, selbst wenn daraus kein ,echterʻ Text werden soll. In diesem Fall liegt kein kommunikativer Sprachgebrauch vor, diese Produkte werden anderen normalerweise nicht zugänglich gemacht. Gibt es nun auch Produkte am anderen Pol, die tatsächlich alle Mitglieder der Gesellschaft zumindest passiv kennen, an denen sie gewissermaßen nicht vorbeikommen? Um ins Langzeitgedächtnis aller Mitglieder zu gelangen, müssen sie wiederholt wahrgenommen, daher immer wieder präsentiert bzw. vorgeführt werden. Solche Produkte gehen dann ebenso unwillkürlich ins Langzeitgedächtnis ein wie häufig gehörte/gelesene Wörter und Wendungen. Dazu gehören insbesondere Elemente von Zeremonien und (nicht zuletzt religiösen oder politischen) Ritualen, an
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denen alle teilnehmen müssen. Für unsere Gesellschaft sind solche Praktiken aber ganz und gar untypisch und differenzieren nur noch subkulturelle Gruppen. Dennoch ist auch für durch Massenmedien geprägte säkulare Gesellschaften charakteristisch, dass bestimmte Produkte einem sehr breiten Publikum immer wieder präsentiert werden, und zwar (auch) im öffentlichen Raum. Zu den Produkten, denen man sich in westlichen Gesellschaften kaum entziehen kann, gehören z. B. Werbelieder, -spots, -sprüche, Logos und Slogans aller Art. Sie werden in unterschiedlichen Medien präsentiert, und alles ist darauf angelegt, den Markennamen, Melodien und sonstige Klangelemente, aber auch bewegte Bilder zu einem Assoziationskomplex zu verbinden. Man muss diesen Produkten seine Aufmerksamkeit nicht zuwenden, kommt jedoch kaum daran vorbei, von ihrer Existenz Kenntnis zu nehmen. Die Verbreitung solcher Texte ist also extrem hoch, die Zeitspanne, über die hin sie massenweise präsentiert werden, jedoch meist relativ kurz, sie entspricht etwa der von Moden. Ebenso wie bei Modeprodukten besteht an ihrer Archivierung kein ausgeprägtes gesellschaftliches Interesse. Noch kürzer ist die Geltungsdauer von journalistischen – im ursprünglichen Sinne: tagesaktuellen – Texten, einem Kernelement massenmedialer Kommunikation. Die Haltbarkeit von Zeitungspapier ist zwar beachtlich und Zeitungen werden auch archiviert – nur liest kaum jemand (außer Wissenschaftlern) alte Zeitungen. Tagesaktuelle Texte dienen zur Verbreitung von Inhalten, und diese dürften in der Regel auch das einzige sein, an das man sich allenfalls erinnert. Insofern dieselben Inhalte und großenteils auch dieselben Texte oder Textfragmente in allen Medientypen und den entsprechenden Organen (Druck- und Online-Zeitungen, Fernseh- und Radiosender) erscheinen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass man sich nicht einmal mehr daran erinnert, wo man etwas gelesen und/oder gehört hat. Nur aus dem Rahmen des Gewohnten irgendwie herausfallende Kommunikate haben die Chance, immer wieder neu rezipiert zu werden. Das sind natürlich eher die, die nicht bloß tagesaktuellen Wert haben oder die dabei eine spezifische Sichtweise präsentieren (Reportagen, Kommentare, Karikaturen usw.). Dass sie zugänglich bleiben, wurde früher – und wird auch heute noch – weniger dadurch sichergestellt, dass man das Exemplar aufbewahrt (das Ausschneiden und Sammeln von Zeitungsausschnitten ist eher eine individuelle Praktik), als dadurch, dass das Kommunikat an anderen Orten reproduziert wird, teilweise in seiner originalen Gestalt, teilweise auf den Wortlaut oder Fragmente reduziert. Die Zuschreibung eines gewissen Überlieferungswerts geschieht also über die Praktiken der Reproduktion, Bezugnahme oder anderer intertextueller Verfahren. Durch die neuen Texttechnologien hat sich allerdings die Zugänglichkeit zu Produkten erheblich verschoben. Während es recht mühsam ist, auch erst kürzlich erschienene Artikel an Orten aufzufinden, wo Zeitungen materiell aufbewahrt werden, lässt sich vieles schnell auf den Bildschirm holen. Dokumente, die in virtueller Form existieren, sind beliebig oft und an beliebigen Orten abrufbar. So verlieren die konkreten raum-zeitlichen Situationsbedingungen von Produktion und Distri-
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bution an Bedeutung und es werden zumeist auch Zeitspanne und geografischer Radius größer, über die hinweg tagesaktuelle Kommunikate rezipiert werden. Mit Unidirektionalität ist die massenmediale Kommunikation daher nicht mehr angemessen charakterisiert. Die Frage nach der Zugänglichkeit verschiebt sich auf die, wie viele Personen sich aktiv Zugang zu einem Produkt verschaffen, wenn es eben nicht zu denen gehört, die im öffentlichen Raum omnipräsent sind und bei denen man gar nicht ermitteln kann, wie oft sie wahrgenommen werden. Angaben über die Anzahl von Abrufen, Likes, Kommentaren usw. sind eine neue Form der Zuschreibung von Rezeptions- und ggf. auch Überlieferungswert. Daneben geben sie Aufschlüsse über überindividuelle Rezeptionsprozesse, die in der Textlinguistik bislang bemerkenswert wenig Aufmerksamkeit gefunden haben. Selbst die in der Medien- und Literatursoziologie breit berücksichtigten Fragen gehören nicht zum Standard: Wie hoch ist die Einschaltquote für Sendungen, wie groß ist die Reichweite bestimmter Presseorgane, welchen Erfolg haben Kommunikate? Für öffentlich zugängliche Texte sind zumindest elementare Angaben wie Zahl und Höhe von Auflagen, Übersetzungen, Verfügbarkeit in Bibliotheken usw. leicht eruierbar. Bei von vornherein eine breite Öffentlichkeit ansprechenden Texten scheinen dementsprechend Praktiken der Konservierung gegenüber solchen der Verbreitung durch Reproduktion weniger gewichtig. Bezieht man prototypische Mündlichkeit ein, so ist es zweifellos sinnvoll, Sprachgebrauchsprodukte in einem ersten Schritt einzuteilen in solche, die nicht konserviert werden und tatsächlich allenfalls Spuren im individuellen Gedächtnis hinterlassen, und solche, die materiell gespeichert werden. Bei den konservierten Produkten ist es jedoch unumgänglich, mit einer Skala zu rechnen und auch die gesellschaftlichen Praktiken in den Blick zu nehmen, die den Zugang zu Kommunikaten beschränken. Den massenmedialen Kommunikaten stehen am anderen Pol Produkte gegenüber, die nur in einem einzigen oder sehr wenigen Exemplaren existieren. Dazu gehören zunächst die schon erwähnten persönlichen Notizen und Privatkorrespondenz. Nur wenn man so etwas in einigermaßen geordneter Form aufbewahrt, lässt es sich wiederfinden und bleibt damit dem Produzenten bzw. Adressaten selbst zugänglich. Ob es nach dessen Tod von anderen gesichtet, archiviert und ggf. sogar veröffentlicht wird, hängt davon ab, welche Bedeutung der Person zugeschrieben wird. Neben solchen, die überlieferungswürdige Texte auch publiziert haben, insbesondere Schriftstellern, sind es vor allem Akteure des Zeitgeschehens, deren Produkte als potenziell bedeutsam gelten. Die eigentliche Domäne der Archivierung betrifft jedoch eine andere Gruppe von Texten, nämlich solche, bei denen von vornherein ein Archivierungszwang besteht. Sie dienen zwar der interaktiven Bewältigung von Aufgaben, allerdings solcher, die über aktuelle Situationen hinausreichen. Darauf sind bestimmte Akteursinstanzen spezialisiert, nämlich die sog. juristischen Personen. Es handelt sich also nicht um Kommunikation zwischen Individuen, sondern um die innerhalb von Institutionen –
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von den Staatsorganen und den Verwaltungsträgern über Parteien, Vereine, Firmen bis hin zu kleinen Gremien, die unter Umständen auch ad hoc zur Behandlung und Entscheidung in Einzelfragen konstituiert werden. Die konkret an der Interaktion beteiligten Individuen agieren als Vertreter der juristischen Person, d. h. in ihrer Berufs- oder Funktionsrolle. Privatpersonen nehmen als Bürger oder Klienten teil oder sind von den Entscheidungen betroffen. Da an der Herbeiführung von Beschlüssen und der Hervorbringung entsprechender Dokumente in der Regel mehrere Instanzen beteiligt sind, ist der Herstellungsprozess sehr aufwendig und langwierig. Entsprechende Texte sind daher ein besonders gutes Beispiel für zerdehnte Interaktionen, in denen ein gemeinsam getragenes Ergebnis ausgehandelt wird (vgl. Adamzik 2016, Kap. 4.3.3). Für die Abgrenzung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit eignet sich diese Gruppe von Texten dagegen nicht, da die Verfahren regulär mündliche Komponenten umfassen, deren Ergebnisse in Protokollen festgehalten werden müssen. Texte, die die Regeln für die mittel- und langfristige Organisation des gesellschaftlichen Miteinanders festlegen (Gesetze, Statuten, Geschäftsordnungen usw.), sind im Prinzip öffentlich zugänglich und heutzutage auch tatsächlich in digitaler Form leicht einsehbar. Die Dokumente, in denen sich die institutionsinterne Arbeit niederschlägt, sind dagegen großenteils nur intern (etwa über das Intranet) einsehbar, und der Zugang zu archiviertem Material kann auf eine enge Personengruppe begrenzt sein. Das gilt natürlich erst recht für Dokumente, die die Privatsphäre tangieren und dem Datenschutz unterliegen. Die Praktiken der Sperrung des Zugangs für Unbefugte mithilfe von Passwörtern usw. sind in voller Entwicklung und müssen ständig an die technischen Veränderungen angepasst werden. Damit verbleibt noch die Art von Texten, die nicht nur aufbewahrt und archiviert, sondern Gegenstand der Tradierung werden. Dazu gehören durchaus die bisher genannten: Die in Archiven lagernden Dokumente stellen für Historiker Quellen dar, die ausgewertet werden und auch ausschnitthaft und exemplarisch in neue Texte eingehen, nämlich solche, die die Vergangenheit erzählen, dokumentieren und analysieren. Die Tradierung im Sinne einer popularisierenden Verbreitung erfolgt also nur in verschwindend geringem Maß über die neuerliche Rezeption oder die Reproduktion des Wortlauts, sondern entscheidend über die Nennung der Texte, ihre Interpretation und Situierung (vgl. das Beispiel der Emser Depesche). Dadurch, dass sie immer wieder genannt werden und z. B. in Zeittafeln eingehen, schreibt man ihnen Erinnerungswert zu. Es mag etwas ungewöhnlich erscheinen, dies überhaupt als Tradierung von Texten zu betrachten. Allerdings sind diese Praktiken eigentlich der beste Beleg dafür, dass sprachliches Handeln die Welt verändert. Die archivierten Texte sind gewissermaßen das Rohmaterial, das geschichtliche Entwicklungen konstituiert, ihre Aufbereitung stellt das Mittel dar, mit dem wir daraus unsere Geschichte(n) machen. Dieselben Praktiken sind auch für die Tradierung und Verbreitung des Wissens einschlägig: Die in Forschungstexten niedergelegten Erkenntnisse werden gefiltert
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und das dabei als überlieferungswürdig Identifizierte in popularisierende und wissensaufbereitende Texte wie insbesondere enzyklopädische Werke überführt. Dies ist ein permanenter Prozess, in dessen Verlauf einige Werke zu Klassikern gemacht werden. Nur solche werden dann immer wieder reproduziert, übersetzt, neu aufgelegt – und von einigen auch gelesen. Die breite Tradierung erfolgt aber über die Texte, die in diesem Filterprozess an sehr nachgeordneter Stelle stehen, neben Enzyklopädien und populärwissenschaftlichen Texten sind das vor allem didaktische wie Schulbücher oder sonstiges Lehrmaterial. Solche Texte sind dazu gedacht, Grundlage für Unterrichtsgespräche zu bilden. Diese gehören zu einer besonderen Art kommunikativer Praktiken, mit denen die inhaltliche Zugänglichkeit gesichert wird, denn das Verstehen drückt sich eben nicht darin aus, den Wortlaut von Texten zu kennen. Bei der gemeinsamen Behandlung von Texten im Gespräch werden Passagen vorgelesen, reformuliert, evtl. in Schemata umgesetzt, Anschlussfragen gestellt usw. Solche textzentrierten Gespräche, in denen Schriftliches und Mündliches engstens aufeinander bezogen sind, entsprechen natürlich am allerwenigsten dem prototypischen Gespräch – eben deswegen sind sie besonders geeignet, die große Varianz und das Ineinander von Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu illustrieren. Auch für die ganz großen Texte, die zum Weltkulturerbe zählen – vor allem mythologische, religiöse, literarische und philosophische –, sind die Tradierungsinstanzen von besonderer Bedeutung. Und hier ist die (enzyklopädische) Aufbereitung ebenso zentral: Sie speichert Texte in kondensierter Form und erlaubt damit, Zugang zu einer Unmenge von ihnen zu gewinnen. Dieser bleibt zwar sehr fragmentarisch (Wissen über Existenz, Inhalt, Stellenwert, Wirkung), da aber jedes Individuum in seiner Lebensspanne nur einen Bruchteil von ihnen tatsächlich vollständig rezipieren kann, ist dies eine unverzichtbare Praktik, um sie im kollektiven Gedächtnis zu halten. Charakteristisch für diese Gruppe – und ein Unterscheidungsmerkmal gegenüber den zuvor genannten – ist jedoch, dass sie über einen langen Zeitraum (bis hin zur irdischen Ewigkeit) auch im vollständigen Wortlaut (vieler Sprachversionen) in vielen Ausgaben, Auflagen und Exemplaren existieren und ferner die Stoffe immer wieder neu re-aktualisiert werden, nicht zuletzt durch intermediale Umsetzungen (Hörbuch- oder Comicfassungen, Verfilmungen usw.).
5 Schlussbemerkung Ein noch immer tradierter Topos besagt, dass der Text die oberste Einheit der linguistischen Analyse sei. Dagegen ist schon früh eingewandt worden, dass jeder Text auch über sich selbst hinausweist. Spätestens seit Beaugrande/Dressler (1981) besteht Einigkeit darüber, Intertextualität als wesentliches Textmerkmal zu betrachten (vgl. Adamzik 2016, Kap. 8).
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Durch das Internet hat die Textvernetzung eine neue Tragweite gewonnen, und auch andere tradierte Vorstellungen über Kommunikate, ihre Hervorbringung und Rezeption sind ins Wanken geraten. Es ist daher verständlich, dass in den letzten Jahren die neuen Möglichkeiten – v. a. Hypertextualität, interaktive Schriftlichkeit, Multimedialität und aufwendige materielle Gestaltung – besonderes Interesse auf sich gezogen haben (vgl. zum Beispiel die Beiträge von Storrer, Hanauska/Leßmöllmann oder Schmitz in diesem Band). Die empirische Untersuchung von Kommunikationsformen macht es notwendig, einigermaßen homogene Korpora zusammenzustellen. Problematisch ist es allerdings, aus solch forschungspraktisch bedingten Verengungen kategoriale Dichotomien abzuleiten und dabei ganz unterschiedliche Beschreibungsdimensionen miteinander zu vermischen. Dies geschieht insbesondere, wenn ,mündlichʻ mit ,Gesprächʻ und ,schriftlichʻ mit ,Textʻ gleichgesetzt wird. Aktuellen (technischen) Entwicklungen wird man damit gerade nicht gerecht, dient doch interaktive Schriftlichkeit nicht zuletzt der Vorbereitung, Begleitung, Kommentierung und diskursiven Bearbeitung von ,monologischen Textenʻ; man denke z. B. an die Diskussionsseiten von Wikipedia und Leserkommentare bzw. -diskussionen in Onlinemedien. Besonders abwegig ist es ferner, ausgerechnet im digitalen Zeitalter der Materialität eine besonders große Bedeutung zuzumessen und sie gegen die Virtualität von Texten ausspielen zu wollen. Gerade die leichte und vielfältige Manipulierbarkeit der materiellen Oberfläche – bis hin zu automatischer Umsetzung von Geschriebenem in Gesprochenes und umgekehrt – zwingt dazu, zugleich den Gegenpol, d. h. verschiedene Abstraktionsebenen, in den Blick zu nehmen. Der Wortlaut, das genuine Objekt der Textgrammatik, entspricht nur einer virtuellen Schicht. Aus soziopragmatischer und kulturwissenschaftlicher Sicht sind Produktionsumstände, Inhalt, Wirkung und Überlieferungsgeschichte oft wichtiger. Das Internet hat nicht nur die Bedingungen für interpersonale Kommunikation fundamental geändert, sondern ist mindestens ebenso wichtig als Speichermedium, das neue Formen der Langzeitarchivierung ermöglicht. Die technische bzw. materielle Speicherung ist allerdings weder notwendig noch hinreichend für Tradierung. Eine solche können nur menschliche Akteure hervorbringen, insofern sie als Teilhaber von Kollektiven Texten Überlieferungswert zuschreiben.
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3. Wissenskonstitution im Text Abstract: Die Frage nach der Korrelation von Texten und Formen des Wissens legt eine Unterscheidung in einen engen und einen erweiterten Wissensbegriff sowie in deklaratives und prozedurales Wissen nahe. Einem engen Wissensbegriff, der auf das Gesicherte, definitiv Bestimmbare des Wissens abhebt, entsprechen prototypisch Fachtexte, während ein erweiterter Wissensbegriff all das berücksichtigt, was im Vollzug der Rezeption schriftlicher Texte gleich welcher Art vom Leser als Bedeutung (einschließlich der im Text angelegten Wirkungsintention) konstruiert wird. ‚Wissen in Texten‘ umfasst dann alles, was im Bewusstsein des Verstehenden durch die textuelle Evokation entsteht. Im Hinblick auf die Dichotomie von deklarativem und prozeduralem Wissen dominiert in Texten deutlich Ersteres über Letzterem. Wissen in Texten wird – legt man einen erweiterten Wissensbegriff zugrunde – durch die Bedeutungen der textuellen Zeichen geschaffen: In der Textrezeption erfahrene Bedeutung ist Wissen. Eine Beschreibung der Wissenskonstitution in Texten heißt also, die Formen textueller Bedeutungskonstitution zu beschreiben. Eine besondere Rolle spielen dabei: die semantische Emergenz (Übersummativität) von Texten, der konstruktive Charakter der Bedeutungs-/Wissensbildung, das Verhältnis einzelner Textkonstituenten zum Ganzen der Textbedeutung (hermeneutischer Zirkel/Rezeptionsverlauf bottom up – top down), die Spezifik punktueller vs. flächiger Formen der Bedeutungs-/Wissenskonstitution, die Rolle der Verfasserintention, die Spezifik von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die Methoden textueller Bedeutungs-/Wissensanalyse. 1 2 3 4
Formen des Wissens in Texten Wissen und Textbedeutung Resümee Literatur
1 Formen des Wissens in Texten 1.1 Enger und erweiterter Wissensbegriff Texte und Wissen bedingen und stützen sich in mehrfacher Hinsicht: Texte versammeln ihnen vorgängiges Wissen und sichern es, bringen neues Wissen hervor und vermitteln es in den gesellschaftlichen Raum. Im Selbstverständnis moderner Gesellschaften erscheint Wissen nicht selten als eine Art Kapital, das zu mehren ist, weil es unabhängiger von natürlichen Ressourcen macht und im globalen Konkurrenzkampf als Voraussetzung für erfolgreiches gesellschaftliches (politisches, ökonomisches) Handeln gilt. Texte wiederum gelten nach wie vor als klassische https://doi.org/10.1515/9783110296051-003
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Orte der Konzentration und Medien der Vermittlung von Wissen, eine Tatsache, die sich nicht zuletzt in den Diskussionen über Bildung und Ausbildung spiegelt. So findet sich etwa in den „Bildungsstandards für das Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife“ der Kultusministerkonferenz an zentraler Stelle die Forderung nach einem Ausbau der Kompetenz, „Texte [zu] verstehen“ und sie „mit externen Wissensbeständen [zu] verbinden“ (Kultusministerkonferenz 2012, 12). Auch von der Entwicklung neuer Medien ist dieser Sachverhalt (noch) nicht wesentlich beeinflusst worden, zumal das Internet zu entscheidenden Teilen textbasiert angelegt ist, auch wenn sich die Gestaltung der dort anzutreffenden Texte von denen traditioneller Printtexte oft stark unterscheidet (Hypertextstrukturen, Formen interaktiver Gestaltung, Unabgeschlossenheit in Blogs, Foren usw.; dazu Storrer 2008, 2009 sowie im vorliegenden Band). Soll der Frage einer Korrelation von Texten und Formen des Wissens nachgegangen werden, bieten sich je nach Disziplin und Forschungsinteresse unterschiedliche Arten der Gliederung der Wissensformen an (aktuelle Zusammenstellungen bei Konerding 2015 und Janich/Birkner 2015). Für das Folgende besonders relevant ist zum einen die Unterscheidung in einen engen und einen erweiterten Wissensbegriff sowie in deklaratives und prozedurales Wissen. Ein enger Wissensbegriff setzt Wissen in den Gegensatz zum bloßen Meinen, Glauben, Vermuten. Wissen ist dann das Gesicherte, intersubjektiv Verifizierbare, durch anerkannte Verfahren Nachweisbare. Insbesondere in der Philosophie ist diese Sicht verbreitet und kann sich dort auf die schon antike Unterscheidung in episteme (Wissen im engeren Sinne), doxa (Meinen) und techne (Fertigkeit) berufen. Wissen gilt dann als „‚sichere‘, abgeschlossene und objektive Erkenntnisform“ (Handwörterbuch Philosophie). Prototypisch werden die modernen Wissenschaften als Orte angesehen, die ein solches Wissen hervorbringen, indem sie sich dazu verpflichten, auf der Basis eines aufklärerischen Ideals voraussetzungslosen Forschens ihre Erkenntnisse von ideologischen, metaphysischen und ähnlichen Einflüssen freizuhalten. Dass zugleich spätestens seit dem 18., verstärkt seit dem 19. Jahrhundert eine epistemologische Skepsis begegnet, die die Möglichkeit objektiver Erkenntnis und eines vom erkennenden Subjekt unberührten, ‚reinen‘ Wissens infrage stellt – aktuell etwa in den unterschiedlichen Spielarten des Konstruktivismus –, ändert nichts an diesem verbreiteten Verständnis von Wissenschaft. Es herrscht innerhalb weiter Teile der Wissenschaften selbst vor und ist zugleich das in der Gesellschaft insgesamt gängige. Ihm entspricht die standardsprachliche Bedeutung des Wortes Wissen, die etwa im Duden-Universalwörterbuch (2003) als „Gesamtheit der Kenntnisse, die jmd. [auf einem bestimmten Gebiet] hat“ beschrieben wird, wobei die Verwendungsbeispiele bezeichnend sind: „ein umfangreiches, umfassendes, gründliches, gesichertes W.“ Auf der Seite der Texte entspricht dieser Auffassung vom Wissen als dem sicher Erkannten der Fachtext. Er ist das prototypische Medium, in dem dieses Wissen sprachliche Gestalt erhält. Die ihm zugrunde liegende Fachsprache wird in der einschlägigen Literatur traditionell so beschrieben: Sie dient der „Abgrenzung, geistige[n] Erschließung, Ordnung und Systematisierung eines [...] Sachbereiches“
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(Drozd/Seibicke 1973, 3), „der Erkenntnis der jeweiligen Sache“ (Gauger 1986, 120), und das Denken der sie Verwendenden ist auf das „Ding als solches“ (Jahr 1993, 43) gerichtet. Die Bedeutungen von Termini müssen „millimetergenau treffen“ (Steger 1962, 197), ihre Kennzeichen sind „Präzision, Systematik, Eindeutigkeit, Ökonomie“ (Bungarten 1981, 41), „Eindeutigkeit, Bestimmtheit und Genauigkeit“ (Schippan 1987, 245) usw. Diese Konzentration auf die präzise, in der Sache gesicherte Beschreibung fachlicher Zusammenhänge ist in der neueren, pragmatisch orientierten Fachsprachen- und Fachtextforschung zwar durch den Gedanken des erfolgreichen kommunikativen Abgleichs unter Experten (bei faktischer Vagheit vieler fachsprachlicher Äußerungen) ergänzt und zum Teil überlagert worden (vgl. etwa Roelcke 2010; zu Fachwissen auch Felder 2009), doch wird der hier angesprochene enge Wissensbegriff und das Ideal der präzisen Fachsprache nicht aufgegeben. Ein Beispiel für die aktuelle praktische Umsetzung ist die Terminologiearbeit des Deutschen Instituts für Normung. Insgesamt lassen sich die Forderungen an Fachsprachen und Fachtexte unter den Kategorien von Exaktheit, Explizitheit, Ökonomie und Anonymität zusammenfassen (vgl. Kap. V von Hoffmann/Kalverkämper/Wiegand 1998). Auf der Grundlage eines engen Wissensbegriffs würde eine Beschreibung der sprachlichen Eigenschaften von Fachtexten Aspekte wie diese umfassen: – Lexik: Umsetzung der Forderung nach Eindeutigkeit (bis hin zur Eineindeutigkeit) durch genaue zeichenrelationale Festlegungen, d. h. der kontrollierte Umgang – auch durch wortbildungsmorphologische Mittel – mit Phänomenen wie Polysemie, Homonymie, Synonymie, Hypo- und Hyperonymie usw., auch mit Metaphorik und anderen Formen uneigentlicher Rede; innerhalb der Fachlexik Berücksichtigung facheigener Notationssysteme, außerhalb der Fachlexik Orientierung an der Standardsprache, insbesondere im Hinblick auf die Ausblendung geografischer, sozialer, historischer und gruppenspezifischer Varietäten; im stilistischen Register Bevorzugung nicht markierter Formen usw. – Supralexikalische Ebene: Verwendung fachspezifischer Funktionsverbgefüge, Phraseologismen, Kollokationen, Formeln usw. – Syntax: überwiegend standardsprachliche Orientierung, bei Berücksichtigung fachspezifischer Normen und Notationssysteme; syntaktische Komprimierungen zur Vermeidung von Redundanz; bestimmte Formen der Attribuierung; Bevorzugung des Präsens; Deagentivierung durch Passivierung, man- und InfinitivKonstruktionen usw. – Textstruktur: klare Binnengliederung des Textes; hohes Maß an transphrastischer Kohäsion und Kohärenz; Beachtung fachspezifischer Textsortenmuster und Formen der Themenentfaltung (informativ, explikativ, instruktiv usw.; spezifische Thema-Rhema-Folge); argumentative Schlüssigkeit; genaue Angabe intertextueller Bezüge (Zitate, Paraphrasen etc.) usw. Tatsächlich enthalten Fachtexte weit mehr als die hier genannten Gestaltungselemente, von Spezifika des Layouts und der Typografie über Text-Bild-Formationen bis zum Einsatz elektronischer Komponenten und des Internets mit den entspre-
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chenden Hypertextstrukturen. Unberücksichtigt blieben hier auch die Unterschiede zwischen den Charakteristika natur- und geisteswissenschaftlicher Fachtexte, die zugleich Unterschiede im Wissenschaftsverständnis spiegeln, mit den damit einhergehenden divergierenden Vorstellungen von Exaktheit und Objektivität (ausführlich zum Verhältnis von Sprache und Wissen in den Wissenschaften vgl. Gloning in diesem Band, ferner Atayan/Metten/Wilton 2015 sowie die auf Wissensdomänen bezogenen Bände der Reihe „Handbücher Sprachwissen“; zur sprachlichen Gestaltung von Fachtexten siehe auch die einschlägigen Beiträge in Fix/Gardt/ Knape 2009, insbes. Kap. X u. XII, sowie Hoffmann/Kalverkämper/Wiegand 1998). Auch müssen bei Zusammenstellungen dieser Art die unterschiedlichen Grade der Fachlichkeit berücksichtigt werden, d. h. es muss eine spezifischere Fachsemantik für Experten von einer hinsichtlich der Rezipientenkreise weiter reichenden (fachlichen) Alltagssemantik unterschieden werden (dazu Felder 2009, 42; Becker 2001; zur Experten-Laien-Kommunikation siehe die Beiträge in Wichter/Antos 2001). Legt man bei der Beschreibung der Wissensformen in Texten dagegen einen erweiterten Wissensbegriff zugrunde, so wäre nicht nur im oben genannten Sinne klar konturiertes Wissen von Interesse, sondern all das, was im Vollzug der Rezeption schriftlicher Texte vom Leser als Bedeutung und im Text angelegte Wirkungsintention konstruiert wurde. Die Unterscheidung zwischen Bedeutung und Wirkungsintention, also beabsichtigter Wirkung, ist notwendig, da beide Kategorien für das Verstehen eines Textes relevant sind, dabei aber in einem Verhältnis der logischen Nachordnung stehen: Inhalte und Art und Weise der textuellen Bedeutungskonstitution erlauben – bei Berücksichtigung des kommunikativ-pragmatischen Rahmens eines Textes (also der Frage, wer den Text in welcher Situation für welche Rezipienten verfasst hat) – ein Urteil über die Wirkungsintention, die im Text zum Ausdruck kommt. Um es am Beispiel eines einzelnen Sprechakts zu illustrieren: Bei der Rezeption einer Äußerung wie „Es ist acht Uhr“ kommt das vermittelte Wissen (was hier immer meint, ohne künftig explizit ausgeführt zu werden: das durch die Äußerung beim Rezipienten evozierte und durch ihn konstruierte Wissen) nicht nur durch die propositionale Bedeutung der Äußerung zustande, sondern auch durch die kognitive Realisierung einer Illokution, z. B. der der Aufforderung (eine Veranstaltung zu beenden, zum Bahnhof aufzubrechen o. Ä.). Ein Rezipient hat die Äußerung erst dann verstanden, wenn er weiß, was sie bewirken soll. Auf einen ganzen Text erweitert bedeutet dies, dass auch seine pragmatische Dimension als sein Wozu, d. h. als die im Text angelegte Wirkungsintention, Teil des durch ihn vermittelten Wissens ist. Ein erweiterter Wissensbegriff begegnet etwa in der Wissenssoziologie: Unter dem Begriff des Wissens werden sehr unterschiedliche Phänomene verstanden: elaborierte gesellschaftliche Ideensysteme wie Religionen oder politische Weltanschauungen, naturwissenschaftliche Faktizitätsbestimmungen, implizites, inkorporiertes Können, alltägliche Klassifikationsschemata etc. Wissen bezeichnet also nicht nur sach- oder faktizitätsbezogene, durch Erfahrung gewonnene und revidierbare Kognitionen, sondern auch Glaubensvorstellungen, Körperpraktiken, Routinen alltäglicher Lebensführung usw., die als Kenntnisse aufge-
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zeichnet sein können, als Vermögen den Individuen zukommen oder als gesellschaftlicher Bestand bspw. in Institutionen tradiert werden. (Keller 2011, 19; Hervorhebungen im Original)
Die folgenden Ausführungen setzen einen solchen erweiterten Wissensbegriff voraus. Nicht nur Fachtexte, sondern grundsätzlich alle Sorten von Texten können so in die Betrachtung einbezogen werden. Da ‚Wissen in Texten‘ dann immer all das meint, was im Bewusstsein des Verstehenden durch die textuelle Evokation entsteht, bedeutet eine Beschreibung der Wissenskonstitution in Texten zugleich eine Beschreibung des verstehensrelevanten Wissens (Busse 2008). Auf der Basis seines verstehensrelevanten Wissens kann der Leser das für ihn Neue in einem Text verstehen. Weiß er z. B. bereits vor der Lektüre, was „Stadt“, „Guildford“, „liegen in“, „England“ usw. bedeutet, kennt auch die flexionsmorphologischen und syntaktischen Regeln des Deutschen (zumindest passiv), weiß aber nicht, dass Guildford in England liegt, dann versteht er einen Satz wie „Guildford ist eine Stadt, die in England liegt“ als eine Kombination aus verstehensrelevantem Vorwissen und neu erfahrenem Wissen. Diese Erklärung des Verstehensvorgangs als eine Fusion aus Vorwissen und dem im Text angelegten Bedeutungshorizont (Gadamer 1986) ist in der Hermeneutik ebenso selbstverständlich wie in der pragmasemantisch orientierten Textlinguistik und in kognitivistischen Beschreibungen des Textverstehens (dazu siehe Kap. 2).
1.2 Deklaratives und prozedurales Wissen Die gängige Unterscheidung in deklaratives und prozedurales Wissen ist für die Frage der Wissenskonstitution in Texten insofern weniger drängend, als jedes vertextete Wissen bereits zu weiten Teilen deklarativ ist. Ist prozedurales Wissen ein praktisches Wissen, ein Können, dann kann es nicht unmittelbar bei der Lektüre von Texten entstehen. Über Gegenstände praktischen Wissens kann in Texten lediglich auf einer Metaebene berichtet werden, aber das Können selbst kann nur in praktischer Tätigkeit erworben werden. Das Wissen über die Technik des Skifahrens etwa, z. B. die Regeln der richtigen Abfolge der Belastung von Bergski und Talski bei den verschiedenen Arten des Schwungs, lässt sich zwar einem Lehrbuch entnehmen, doch tritt es im Verlauf der praktischen Aneignung der Fähigkeit immer mehr zurück. Wenn wir schließlich erfolgreich Ski fahren, dann lässt sich dieses Können nicht mehr sinnvoll als intentionale Anwendung von Regeln bezeichnen. John Searle (1987) hat dafür die Kategorie des Background als desjenigen Ortes im Bewusstsein entwickelt, in dem die Regeln für viele alltägliche oder auch gezielt angeeignete Fertigkeiten angelegt sind, ohne dass die Anwendung dieser Fertigkeiten intentional geleitet wird („ganz bei den ‚Sachen‘ selbst [sein]“ nennt es Konerding 2015, 66; vgl. auch Barsalou 2008). Nicht in allen Fällen jedoch ist eine scharfe Trennung zwischen deklarativem und prozeduralem Wissen in Bezug auf ihre Präsenz in Texten möglich. So ist, um Texte verstehen zu können, ein vorgängiges Wissen über die Formen textueller
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Gestaltung notwendig. Textsorten sind (sprach)kulturgebunden, das Wissen über ihre Gestaltung und die Art und Weise der angemessenen Rezeption eines Exemplars einer jeweiligen Sorte ist eher Teil des prozeduralen Wissens (vgl. Janich/ Birkner 2015; zu den kommunikativen Routinen vgl. Felder 2009, 25; aus romanistischer Sicht ist hier die Kategorie der Diskurstraditionen als der Art und Weise des Formulierens relevant, dazu Schrott 2015).
2 Wissen und Textbedeutung Wissen in Texten wird durch die Bedeutungen der textuellen Zeichen geschaffen, vor dem Hintergrund der Kenntnis des pragmatisch-kommunikativen Rahmens, in dem der Text steht. Aus umgekehrter Perspektive: In der Textrezeption erfahrene (d. h. konstruierte) Bedeutung ist Wissen. Wissenskonstitution in Texten zu beschreiben heißt also, die Formen textueller Bedeutungskonstitution zu beschreiben. Das ist auch deshalb schlüssig, weil nicht nur Bedeutung, sondern auch Wissen sozial geprägt ist, auch wenn über Wissen individuell verfügt werden kann. In diesem Sinne argumentiert auch Busse und fährt fort: Hier ergibt sich also ein enger, wenn nicht untrennbarer, Zusammenhang von Zeichen, Bedeutung, Wissen, Konventionalität und sozialer Interaktion. Schon dies macht deutlich, warum es so verfehlt ist, Phänomene wie Wissen und die Wissensabhängigkeit der Bedeutung als rein private, subjektive Phänomene zu sehen [...]. (Busse 2015, 41; Hervorhebungen im Original)
Textverstehen ist damit nichts anderes als „epistemische Kontextualisierung (Verortung im Wissen)“ (Busse 2015, 45; Hervorhebung im Original), ergänzt durch das Neue, das man in der Lektüre erfährt. Im Folgenden sollen wichtige Spezifika textueller Wissens-/Bedeutungskonstitution aufgezeigt werden (vgl. Gardt 2012, 2013).
2.1 Texte als semantisch emergente Einheiten Wie sich bei emergenten Systemen die Eigenschaften des Gesamtsystems grundsätzlich nicht additiv aus den Eigenschaften der einzelnen Komponenten ergeben, vielmehr als etwas qualitativ Neues auf der Makroebene des Systems erscheinen, so ergibt sich auch die Bedeutung von Texten nicht additiv aus den Einzelbedeutungen ihrer Konstituenten. Von Texten als emergenten Einheiten oder gar Systemen zu reden und ihnen damit eine gewisse Geschlossenheit zu unterstellen, ignoriert keineswegs ihre pragmatische und kulturelle Einbindung: Texte verhalten sich offen zu ihrem Verfasser, den Umständen ihres Entstehens und dem kulturellen Horizont, in dem sie verortet sind. Erst in der Rezeption werden sie durch die Einbeziehung all dieser Faktoren in einer Weise als ‚bedeutend‘ erfahren, die ihnen angemessen ist. Der Gedanke der Emergenz betont vielmehr, dass sich die Kompo-
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nenten des Textes gegenseitig semantisieren, auf eine äußerst komplexe Weise, und dabei über die einzelnen komponentiellen Ebenen – der Grapheme, Flexionsund Wortbildungsmorpheme, lexikalischen Einheiten, syntaktischen und transphrastischen Konstruktionen, textgestaltenden Komponenten usw. – in jede Richtung hinausgreifen. Das Konzept der Emergenz ist in unterschiedlichen Disziplinen geläufig, wird sprachlich auch als Übersummativität und Ganzheitlichkeit gefasst, findet sich seit Langem in der Hermeneutik, der Literaturwissenschaft, der Gestaltpsychologie (vgl. Katz 1948) und der Systemtheorie (vgl. Luhmann 1984). Ihm entspricht die Sicht des Rezeptionsvorgangs – also der Wissens- bzw. Bedeutungskonstruktion – als einer kognitiven Bewegung zwischen Textteilen und Textganzem. Textverstehen vollzieht sich danach als Bildung übergeordneter kognitiver Einheiten auf der Basis der Rezeption der einzelnen textuellen Komponenten. Dabei werden diese Komponenten erst dadurch ‚sinnvoll‘, dass sie einer übergeordneten semantischen Einheit – der Konstruktion der Bedeutung eines Ausdrucks, eines Satzes, eines Abschnitts, schließlich des Textganzen – zugeordnet werden. Der kognitive Entwurf vom Textganzen (also die Vorstellung von der Bedeutung des Textes) gewinnt durch die neu rezipierten textuellen Komponenten zunehmend Konturen. Die Komponenten wiederum werden erst vor dem Hintergrund des Gesamtentwurfs semantisiert. Die hermeneutische Formel vom Zirkel des Verstehens meint eben diese verstehende Bewegung zwischen Textteilen und Textganzem, in deren Vollzug sich Bedeutung und damit Wissen konstituieren (z. B. Gadamer 1993). Dieser Vorgang verbleibt nie nur beim Text, sondern greift über ihn hinaus, indem der Verstehende sein Vorwissen an den Text heranträgt. Erst die Konfrontation der Vor-Urteile des verstehenden Subjekts – im Sinne notwendiger Verstehensvoraussetzungen, nicht ungerechtfertigter Vereinfachungen – mit dem im Text angelegten Bedeutungshorizont (vgl. Gadamer 1986) ermöglicht Verstehen. Auch wenn das dem Vorgang von Bedeutungs- und Wissenskonstitution inhärente subjektive Element nicht nur subjektiv ist, da Bedeutung und Wissen sozial geprägt sind, gilt: Die grundsätzliche hermeneutische Gebundenheit aller Akte des Verstehens und Analysierens lässt sich nicht hintergehen. Gleichwohl darf die Einsicht in die hermeneutische Qualität des textanalytischen Urteils nicht auf Kosten der theoretisch-methodischen Stringenz textanalytischen Arbeitens gehen. Eben auf diese Zusammenhänge zielt das von Fritz Hermanns (2003) entworfene Programm einer Linguistischen Hermeneutik, das zugleich den Rahmen für ein Linguistisches Interpretieren (Gardt 2007b) darstellt. Die hermeneutische Rede vom Zirkel des Verstehens – tatsächlich wäre das Bild einer Spirale angebrachter, weil es die Progression des Verstehensvorgangs verdeutlicht – hat in der kognitivistischen Forschung ihr Pendant in der Beschreibung des Verstehens als einer Bewegung bottom up, d. h. von den einzelnen Komponenten des Textes zum kognitiven Entwurf des Ganzen (des Satzes, des Abschnitts, des Textes), und top down, also vom Gesamtentwurf zu den einzelnen Komponenten (vgl. Kintsch 2002; Ungerer/Schmid 2006; Ziem 2008).
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2.2 Bedeutung/Wissen als Resultate konstruktiver Akte Die Beschreibung von Texten als semantisch emergenten Einheiten, deren Verstehen Vorwissen und damit Subjektivität einschließt, impliziert, dass Bedeutungsbzw. Wissenskonstitution durch konstruktive Akte zustande kommen. Texte ‚haben‘ keine vorgängig definierten Bedeutungen, die im Vorgang der Rezeption lediglich kognitiv nachvollzogen werden. Diese konstruktivistische Überzeugung ist Konsens in der gegenwärtigen Texttheorie (z. B. Fix 2007, 326; Biere 2007, 13; grundlegend zur Frage der Perspektivität des sprachbasierten Verstehens vgl. Köller 2004). Es handelt sich dabei um eine auf die Thematik von Text, Wissen und Bedeutung bezogene Variante eines umfassenderen Konstruktivismus, der Aussagen über unser Erkennen von Wirklichkeit grundsätzlich unter Hinweis auf die erkennenden Subjekte und die zahlreichen Brechungen in den Erkenntnisvorgängen relativiert (vgl. Felder/Gardt 2015a). Damit ist zugleich das Problem der Verbindlichkeit textanalytischer Aussagen angesprochen. Ganz offensichtlich lassen sich Aussagen über die Bedeutung von Texten formulieren, die in unterschiedlichem Maße zutreffen. Der konstruktivistische Erkenntnisvorbehalt führt nicht dazu, dass wir divergierende Aussagen über die Bedeutung von Texten bzw. das darin konstituierte Wissen grundsätzlich in gleichem Umfang als treffend/angemessen/plausibel usw. betrachten. Dabei werden für manche Textsorten – etwa für literarische Texte – größere Zugeständnisse an die Pluralität der Bedeutungszuweisungen gemacht als für andere. Dieser Zusammenhang wird besonders dann deutlich, wenn man für Texte zwei semantische Ebenen unterscheidet. Eine solche Unterscheidung ist durchaus sinnvoll, und in der Texttheorie wird entsprechend differenziert in Bedeutung und Sinn. Dabei gilt Bedeutung in der Regel als „Fähigkeit oder das Potential eines sprachlichen Ausdrucks [...], Wissen (d. h. mögliche = virtuelle Bedeutung) darzustellen oder zu übermitteln“, Sinn dagegen als „das Wissen [...], das tatsächlich durch die Ausdrücke innerhalb eines Textes übermittelt wird“ (Beaugrande/Dressler 1981, 88; diese Bestimmung des Begriffspaares ist im Übrigen nicht identisch mit der Bestimmung des gleichen Begriffspaares in der Sprachphilosophie Gottlob Freges). In der hier zitierten Unterscheidung würde die Bedeutung eines Ausdrucks als sein semantisches Potenzial außerhalb des Textes liegen, während das im Text semantisch Realisierte den Sinn des Ausdrucks darstellt. Zur Illustration könnte auf einen Satz wie „Er setzte sich auf die Bank“ verwiesen werden, bei dessen Verstehen man in der Tat von einer einfachen Auswahl aus den Systemmöglichkeiten ‚Sitzmöbel‘ und ‚Geldinstitut‘ sprechen kann. In vielen Fällen aber greift diese Beschreibung der textsemantischen Konstellationen zu kurz. Jeder indirekte Sprechakt z. B. ist so strukturiert, dass er erst mit der Realisierung einer zweiten Ebene der Bedeutungs- bzw. Wissenskonstitution in der Rezeption als angemessen verstanden gilt (verwiesen sei auf das oben angeführte Beispiel „Es ist acht Uhr“). Dabei ist aber die Ebene des Sinnes als die des ‚eigentlich Gemeinten‘ – z. B. dass man nun zum Bahnhof aufbrechen solle – nicht bereits im
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‚Potenzial‘ des Ausdrucks „acht Uhr“ enthalten. Tatsächlich entscheidet der Ko- und Kontext über die Bedeutungszuweisung, und häufig lässt sich der Vorgang der Semantisierung nicht als Auswahl präexistenter Systembedeutungen beschreiben. Ein zweites Beispiel: Wenn Rezipienten z. B. den Ausdrücken „Ruhe“/„ruhen“ in Goethes „Wandrers Nachtlied II“ („Über allen Gipfeln ist Ruh [...]“) auch die Bedeutung ‚Tod/tot‘ zusprechen („auch“ heißt: zusätzlich zur Bedeutung ‚Abwesenheit von Geräuschen‘, nicht als ausschließende Alternative zu ihr), dann wird das durch den Hinweis auf eine etwaige Systembedeutung von „Ruhe“/„ruhen“ nicht hinreichend erklärt. Auch hier ist der Ko- und Kontext relevant, der mehrere Bedeutungsmöglichkeiten gleichzeitig zulässt, eben die flächige Semantisierung von Sprachzeichen in Texten, wie sie oben als charakteristische Form textueller Bedeutungs-/Wissensbildung beschrieben wurde. Für literarische Texte ist diese Spannung zwischen unterschiedlichen semantischen Ebenen geradezu konstitutiv, doch findet sie sich – das Beispiel des indirekten Sprechaktes illustrierte es bereits – auch in sehr vielen anderen Formen des Schreibens (wie auch des Sprechens). Die erfolgreiche Verwendung eines Slogans wie „Wir können alles. Außer Hochdeutsch“ aus einer Image-Kampagne des Landes Baden-Württemberg z. B. ist auf die Erkenntnis des Rezipienten angewiesen, dass es hier nicht um die Nichtbeherrschung des Hochdeutschen ‚als solche‘ geht, sondern dass mittels der durch die Ausdrücke des Slogans evozierten Bedeutung etwas anderes angezeigt werden soll. Allerdings – und u. a. das unterscheidet den Slogan vom zitierten literarischen Beispiel – ist der Slogan kommunikativ nur dann gelungen, wenn die Erkenntnis nicht Ergebnis einer aufwendigen Analyse ist, sondern sich mehr oder weniger schlagartig und idealerweise bei allen Rezipienten in gleicher Weise einstellt. Je komplexer also das Verhältnis zwischen den genannten semantischen Ebenen ist, desto stärker werden sich die Entwürfe von Bedeutung bzw. Wissen bei den Rezipienten unterscheiden. Über Bedeutungs-/Wissenskonstitution in Fachtexten lässt sich daher weit eher Einigkeit erzielen als im Zusammenhang mit literarischen Texten (oder religiösen, politischen, manchen journalistischen Texten usw.). In Fachtexten fallen die beiden semantischen Ebenen in aller Regel in einer zusammen. Wird z. B. in einem juristischen Fachtext festgestellt: Als weiteres Argument wird darauf abgestellt, dass auch die fahrlässige Ermöglichung oder Erleichterung einer fremden Straftat eine Fahrlässigkeitshaftung begründen müsse (Heinrich 2012, 478),
dann wird mittels dieser Feststellung nicht noch ein Zweites ausgesagt. Im Zusammenhang mit solchen Texten ist dementsprechend häufiger die Rede von „Objektivität“, „Sachlichkeit“, „Genauigkeit“ usw. der Bedeutungs-/Wissenskonstitution, und auch für den konstruktiven Vollzug dieser Konstitution durch den Rezipienten ist weit eher die Möglichkeit einer ‚richtigen‘, ‚objektiven‘ Bedeutungszuweisung vorgesehen. Für viele Gebrauchstexte des Alltags gilt das ebenfalls, und in unserem praktischen Umgang mit ihnen gehen wir ganz selbstverständlich von der
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Möglichkeit aus, dass Texte Zusammenhänge ‚richtig‘, ‚objektiv‘ usw. darstellen können. Dass sich auch diese ‚Richtigkeit‘ und ‚Objektivität‘ in einem bestimmten Bezugsrahmen des Richtigen und Objektiven bewegt, steht außer Frage, aber ebenso deutlich ist, dass die darin enthaltenen Konstruktionen von einer grundsätzlich anderen Art sind als Konstruktionen in den zuvor genannten Arten von Texten. Wer z. B. mittels einer Wegbeschreibung den gesuchten Ort findet, hat in jedem Fall durch den Text etwas unmittelbar Zutreffendes über die Welt erfahren. In den kulturwissenschaftlichen Disziplinen sind konstruktivistische Positionen und damit die Einsicht in die Offenheit von Bedeutungen und die Zurückhaltung gegenüber Konzepten wie Objektivität in Fragen der Bedeutungs-/ Wissenskonstitution weit verbreitet. Dennoch werden Textanalysen, die vor diesem theoretischen Hintergrund entstehen, nicht als bloß individuelle interpretative Vorschläge unter anderen interpretativen Vorschlägen formuliert, vielmehr werden sie meist zulaufend auf eine ganz bestimmte Bedeutung präsentiert, mit dem Gestus der in der Sache ‚richtigen‘ Aussage. Konstruktivistische Theorie und analytische Praxis fallen hier auseinander (vgl. Gardt 2007b). Formulierungen wie die HansGeorg Gadamers, der Verstehende müsse bemüht sein, „sich wahrhaft anzueignen, was in dem Text gesagt ist“ (Gadamer 1986, 392), sind insofern durchaus charakteristisch, als sie dem Text eine definitive Aussage unterstellen – ‚was in ihm gesagt ist‘ – und zugleich die Möglichkeit der vollständigen und richtigen Erfassung dieses Gesagten – ‚es sich wahrhaft anzueignen‘ – für gegeben halten. Diese Auffassung ist keineswegs unverständlich, basiert sie doch zum einen auf der Erfahrung, dass wir durch Texte immer wieder präzise auf diesen oder jenen Aspekt der Wirklichkeit geleitet werden, zum anderen auf der Tatsache, dass die Resultate verstehender Bedeutungs-/Wissenskonstitution bei vielen Rezipienten oft sehr ähnlich sind. Diese intersubjektive Vergleichbarkeit und der erfolgreiche alltägliche Umgang mit Texten veranlassen uns dazu, eine (vermeintliche) Objektivität der Textbedeutung in der Materialität der Texte begründet zu sehen. Erfolgreich abgeschlossen ist der Vorgang der Bedeutungs- und Wissenskonstitution aber tatsächlich nicht dann, wenn wir den Text in der ihm zugesprochenen semantischen Materialität ‚erschöpfend erschlossen haben‘, sondern wenn sich bei uns das „subjektive [...] Gefühl“ einstellt, „‚jetzt habe ich es verstanden‘“ (Hörmann 1987, 137).
2.3 Bedeutungs-/Wissenskonstitution und Textkonstituenten Alles an einem Text kann Bedeutung und damit zugleich Wissen konstituieren. Im Folgenden sei beispielhaft eine Zusammenstellung von Komponenten des Textes genannt, die bei der Bedeutungs-/Wissenskonstitution eine hervorgehobene Rolle spielen. Solche Darstellungen begegnen in der Fachliteratur in unterschiedlicher Form. Aus der Perspektive des Betreibers einer Textanalyse betrachtet, lassen sie sich auch als Benennung analyserelevanter Textkomponenten verstehen (grundlegend zur Korrelation von Wissenskonstitution und Textaufbau Fritz 2013, 15, der
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Texte im Rückgriff auf Marcelo Dascal als „kognitive Technologie“ bezeichnet und sie als „Werkzeuge zur Wissensgenerierung, Wissensorganisation, Wissensakkumulation und Wissensvermittlung“ bestimmt). In der unten angeführten Zusammenstellung sind die bedeutungsrelevanten Textkomponenten der Übersichtlichkeit wegen entlang der Ebenen des Sprachsystems geordnet, im Bereich der textuellen Mikrostruktur also von der Ebene der Graphie und Phonie aufsteigend (unter der Bezeichung TexSem – „Textsemantisches Analyseraster“ – findet sich die Zusammenstellung u. a. in Gardt 2012, dort auch Angaben zur Einbeziehung der Forschung; erste Überlegungen dazu in Gardt 2002; vgl. auch die Erweiterungen in den multimodalen Bereich bei Klug 2013). Tatsächlich verläuft textuelle Bedeutungs- und Wissenskonstitution sowohl aus der Perspektive des Verfassers als auch aus der des Rezipienten in einer kognitiven Teil-Ganzes- bzw. Bottom-up-top-down-Bewegung (dazu siehe Kap. 2.1), sodass sich die Prozesse der Semantisierung quer zu den Ebenen entwickeln. 1. Kommunikativ-pragmatischer Rahmen des Textes a) Textproduzent (Autor, Fotograf, Zeichner ...) – Alter, Geschlecht, Bildung, Tätigkeit/Beruf, kultureller (sozialer, politischer, religiöser ...) Hintergrund, Diskursposition und -interesse ... b) (antizipierte) Leser – Alter, Geschlecht, Bildung, Tätigkeit/Beruf, kultureller (sozialer, politischer, religiöser ...) Hintergrund, Diskursposition und -interesse ... c) Medium – schriftlich/bildlich auf Papier (Buch, Zeitung, Plakat, Flyer ...) und anderen Zeichenträgern – schriftlich/bildlich im Internet d) Situation – Ausgangs- und Zielsituation/Wirkungsbereich 2. Textuelle Makrostruktur a) Textsorte gegliedert nach (und differenziert nach Experten-/Laienkommunikation; konzeptioneller Schriftlichkeit/Mündlichkeit): – Lebensbereichen/Wissensdomänen: Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Verwaltung, Religion ... – Handlungsformen: informierende Texte (z. B. Fachtexte), sozial verbindende Texte (Obligationstexte, z. B. Verträge), agitierende Texte (z. B. bestimmte politische Reden), anleitende Texte (z. B. Gebrauchsanweisungen) ... Zu beachten: monologisch – dialogisch (z. B. Foren, Chats, Blogs) b) Binnenstruktur des Textes – Layout des Gesamttextes: Arrangement des Textes auf der Seite, z. B. Gliederung in Absätze, in bildliche und sprachliche Teile – Text-Bild-Relation: syntaktische Relationen, z. B. durch Text-/Bilddeixis, Verweisziffern/-buchstaben, Legenden, semantische Relationen,
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z. B. Dominanz/Gleichwertigkeit bildlicher/sprachlicher Textteile in Bezug auf die Textinformation, Bezug Überschrift – Text/Bild, funktionale Relationen/Beitrag der bildlichen/sprachlichen Teile zur Kommunikation der Gesamttextfunktion; bei Internettexten zusätzlich lineare vs. hyperstrukturelle Organisation, Verlinkung, Animation ... – Textthema und Themenentfaltung: deskriptiv – narrativ – explikativ – instruktiv – argumentativ – appellativ ... – Aufbau nach Textteilen: Einleitung – Hauptteil – Schluss ... (in rhetorischer Begrifflichkeit: exordium, narratio, argumentatio, peroratio ...), auch Wiederholungen, Kontrastierungen thematischer Blöcke – Aufbau des Bildes: Aufbau von Bildzeichen zu solchen komplexerer Struktur, Kohäsion/Inkohäsion von Bildzeichen/Bildszenen (durch Form, Linien, Anordnung im Raum/Perspektive des i. d. R. zweidimensionalen Mediums, durch goldenen Schnitt, Dreieckskomposition, Gestaltungsraster) ... Textuelle Mikrostruktur a) Phonie – Metrum, Rhythmus; Lautwiederholungen und -kontrastierungen, z. B. Reim, Alliteration, Assonanz b) Grafie – Schrifttypen, -größen, Hervorhebungen (z. B. Fettsatz, Sperrung) ... c) Wortbildungsmorphologie – Wortbildungen (z. B. Ad-hoc-Bildungen) d) Lexik u. Phraseologismen – Fachwort, Fremdwort, Neologismus, Archaismus, Vulgarismus, Regionalismus ...; u. a. Bestimmung der Varietät (z. B. Fachsprache, Dialekt) und – in Verbindung mit der grammatischen Analyse – des stilistischen Registers (salopp, umgangssprachlich, bildungssprachlich ...), unter Berücksichtigung von Nähe- und Distanzsprachlichkeit – Schlagwort (Fahnenwort – Stigmawort): deontische Bedeutung – semantische (konzeptuelle) Felder/Netze: Etablierung von Themen/Teilthemen im Text (Anschluss an die Kategorien von Wortfeld, Begriffs-/ Konzeptfeld, Frame ...) – Kollektivsymbolik: z. B. Metaphern und Metonymien (Metaphernfelder/konzeptuelle Metaphern) – Kollokationen – Bezugsetzung eines Textzeichens (Wort, Wortgruppe, Phraseologismus, Satz, textstrukturelle Konstituente) – zu den in semantischer Relation stehenden Ausdrücken des Sprachsystems (Synonyme, Antonyme ...) – zu den Sprachzeichen des Kotextes (Intratextualität) – zu Sprachzeichen in anderen Texten desselben Autors oder anderer Autoren derselben oder einer früheren Zeit (Intertextualität)
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e) Bildzeichen (unterschiedlichen Komplexitätsgrades) – formreale/abstrakte Bildzeichen: ikonische (indexikalisch-ikonifizierte) oder symbolische (symbolifiziert-indexikalische, symbolifiziertikonische) Deutbarkeit – Farbe, Kontraste, Harmonien – Schlagbild (Fahnenbild – Stigmabild): deontische Bedeutung – semantische (konzeptuelle) Felder/Netze: Etablierung von Themen/ Teilthemen im Bild (Anschluss an die Kategorien von Begriffsfeld, Frame/Wissensrahmen ...) – Kollektivsymbolik: z. B. visuelle Metaphern und Metonymien (Metaphernfelder/konzeptuelle Metaphern) – visuelle Kollokationen – Bezugsetzung eines Textzeichens bildlicher Natur – zu den Bildzeichen des Kotextes (Intratextualität) – zu Bildzeichen in anderen Texten desselben Autors oder anderer Autoren derselben oder einer früheren Zeit (Intertextualität) f) Argumentationsformen (Text und Bild) – argumentative Schlüssigkeit der Darstellung; z. B. stringente Argumentation vs. assoziative Verknüpfung der Einzelaussagen – Bestimmung charakteristischer Topoi, als vom konkreten Ausdruck gelöster Agglomerationen sedimentierten Wissens: Analyse durch Nachweis enthymemischer Argumentation, ausgehend von Textausdrücken oder Propositionen, in denen Argumente stark komprimiert (Schlagwörter/-bilder, visuelle/verbale Kollektivsymbole etc.) oder explizit ausformuliert sind Zu beachten: Präsuppositionen und Implikaturen g) Syntax und Flexionsmorphologie – Satzarten – Art und Grad der syntaktischen Komplexität (Parataxe, Hypotaxe) – Satzlänge, Komprimierungen – Spezifik der Satzanschlüsse – Wortstellung – Modus verbi, Genus verbi (u. a. Formen der Passivierung/Deagentivierung) [alternative Begrifflichkeit: rhetorische Figuren: Wiederholungsfiguren (Chiasmus, Parallelismus ...), Auslassungsfiguren (Anakoluth, Ellipse ...), Satzfiguren (rhetorische Frage ...), Kontrastfiguren (Antithese, Oxymoron ...)] h) Interpunktion
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2.4 Punktuelle und flächige Formen der Bedeutungs-/ Wissenskonstitution Charakteristisch für die textuelle Bedeutungs-/Wissenskonstitution ist ihr sowohl punktueller als auch flächiger Charakter (die folgenden Definitionen nach Gardt 2012): Bei punktueller Bedeutungskonstitution evozieren prototypischerweise einzelne (zumeist lexikalische) Textausdrücke oder Ausdruckskombinationen in einer Weise Bedeutung, dass der betreffende Ausdruck als semantisch relevant zumindest für den weiteren Kotext seines Vorkommens bewertet wird, häufig auch für eine größere Textpassage, in besonderen Fällen sogar für den gesamten Text. Ein Beispiel für den zuletzt genannten Fall ist die Verwendung des Ausdrucks „entartete Kultur“ durch den Kölner Kardinal Joachim Meisner in einer Rede im September 2007. Durch die Assoziation mit der berüchtigten nationalsozialistischen Formulierung von der „entarteten Kunst“ hat dieser punktuell verwendete einzelne Ausdruck die öffentliche Rezeption der gesamten Rede geprägt. Bei flächiger Bedeutungskonstitution entsteht der semantische Effekt durch die Gesamtheit der Bedeutung mehrerer Textelemente, ohne dass ein einzelnes dieser Textelemente bereits die erst über die Gesamtfläche des Textes entstehende Bedeutung anzeigt. Nicht selten sind die Mittel flächiger Bedeutungskonstitution divergenter und schwieriger zu identifizieren als die punktueller Bedeutungskonstitution. Wird z. B. ein Text insgesamt als ‚inhaltlich unklar‘, ‚unstimmig‘ wahrgenommen, dann kann dies an thematisch inkonsistent etablierten Wortfeldern liegen (durch die Verwendung von Ausdrücken, die sich nicht in ein einmal im Text etabliertes semantisches Feld einfügen), durch antithetische Propositionen (ohne argumentative Klärung der Antithesen), durch textdeiktisch unklare Anschlüsse usw. Erst in ihrer Gesamtheit lassen diese und andere sprachliche Konstituenten des Textes den erwähnten Eindruck der inhaltlichen Unstimmigkeit entstehen. Zu ergänzen ist, dass mit den Ausdrücken punktuell und flächig die beiden Pole eines Spektrums bezeichnet werden, innerhalb dessen graduelle Abstufung herrscht: Zahlreiche Punkte werden ab einer gewissen, jeweils im Einzelfall zu bestimmenden Dichte zu einer Fläche. Die Fläche textueller Bedeutungs-/Wissenskonstitution kann sich über den einzelnen Text hinaus ausdehnen. Das ist bei den zahlreichen Formen der Intertextualität der Fall (dazu Genette 1993; Fix 1997; Janich 2008), wie sie zwischen nur wenigen Texten bestehen kann, aber auch zwischen den Texten eines gesamten Diskurses. Diskurse sind in großem Maße textbasiert, und eines der vier meistgenannten Kriterien, die in der Forschung als Definiens für Diskurs gelten, ist das der ‚vernetzten Menge von Texten‘. Charakteristisch sind die folgenden Formulierungen aus einschlägigen Arbeiten, die die Flächigkeit der Bedeutungs- und Wissenskonstitution sehr deutlich werden lassen (Gardt 2007a, 24, dort auch die Quellen; Kursivsatz zeigt hier an, dass es sich um Zitate handelt, die flexionsmorphologisch angepasst wurden):
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konkrete, imaginäre und virtuelle Textkorpora; Streuung, Überschneidung, Anhäufung und Selektion von Texten; Texte mit einem gemeinsamen Thema; Texte eines gemeinsamen Aussage-, Kommunikations-, Funktions- oder Zweckzusammenhangs; in Texten realisiertes Aussagekorpus; ideologische Homogenität der Texte; affirmatives Aufeinander-Beziehen der Texte; Konstitution durch thematisch einschlägige Texte; Kontinuität der Texte; Beziehungsgeflecht von Texten; polyphoner Dialog zwischen Texten; dialogische und intertextuelle Bezüge zwischen Einzeltexten; funktional gleichartige Texte; strukturiertes Beziehungsgeflecht von Texten; Vernetzung von Texten; Beziehungen zwischen thematisch verknüpften Aussagenkomplexen; sich in Texten realisierende Aussagengeflechte; Bezugsnetz thematisch verwandter Texte; Formation von Einzeltexten; Interdependenzen einzelner Textvorkommen; intertextuelle Bezugnahme der Texte; Intertextualität usw.
Das Wissen, das in einem Diskurs zu einem Thema konstituiert wird, lässt sich erst erfahren, wenn man sämtliche seiner Texte und anderen medialen Äußerungsformen kennt. Forschungspraktisch ist das im Grunde ausgeschlossen, da die Ränder eines Diskurses in hohem Maße unscharf sind, aber auch wegen der in vielen Fällen extrem großen Menge an Kommunikaten (zur Wissenskonstitution im Diskurs vgl. Spieß in diesem Band). Während Diskurse zeitlich wie im Hinblick auf ihre Erstreckung in den kommunikativen Raum schwer abzugrenzen sind, stellen auch bestimmte Textsequenzen eine Form flächiger Bedeutungs-/Wissenskonstitution dar. Das sind zum einen sich nur zeitlich erstreckende Textsequenzen, von Serien in Printmedien bis zu InternetForen, andererseits Sequenzen, die im Hinblick auf zeitlichen Umfang, Zahl (types) der Kommunikate und Form der kommunikativen Realisierung präzise bestimmt sind. Ein markantes Beispiel sind Kampagnen, wie sie etwa von öffentlichen Akteuren und Interessengruppen (Gewerkschaften, Industrieverbänden, Regierungen usw.) durchgeführt werden. Sie umfassen unterschiedliche Arten von Kommunikaten, von Plakaten über Anzeigen bis zu Werbespots, die durch ein überdachendes Thema miteinander verbunden sind, das sich in seiner Gesamtheit jedoch erst in der sequenziellen Entfaltung entwickelt (dazu Bartels 2015).
2.5 Bedeutungs-/Wissenskonstitution und Verfasserintention Im Vorangehenden war die Rede von der im Text angelegten Wirkungsintention, ohne dass der Verfasser als Agens der Versprachlichung dieser Intention eigens genannt wurde (siehe Kap. 1.1). Es scheint auf den ersten Blick selbstverständlich, die einem Text zugrunde liegende Wirkungsintention seinem Verfasser zuzuerkennen. Gerade das pragmatische Textverständnis betont dies: Texte sind kommunikative Handlungen, die vom Schreiber mit einem auktorialen Telos auf (potenzielle) Leser gerichtet sind. Klassisch die Formulierung Siegfried J. Schmidts, wonach natürliche Sprecher ihre Sprache dazu gebrauchen, um in (potentiell) kohärenten kommunikativen Äußerungen eine Mitteilungs- und/oder Wirkungsabsicht (= kommunikative Intention) verständlich und erfolgreich an Partnern zu realisieren (Schmidt 1976, 22 f.).
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Auch in aktuelleren textlinguistischen Publikationen wird dies so gesehen, gilt der Text als „mit einer bestimmten Intention, der Kommunikationsabsicht“ geschaffenes Gebilde, das „eine erkennbare kommunikative Funktion“ erfüllt (Göpferich 1995, 56). In diesem Sinne auch zahlreiche aktuelle einführende Darstellungen der Textlinguistik, etwa in der neuesten Auflage von Klaus Brinkers bekannter „Linguistische[r] Textanalyse“, in der als ein Definiens von Text ebenfalls „eine erkennbare kommunikative Funktion“ (Brinker/Cölfen/Pappert 2014, 17) betont wird. Unsere Alltagserfahrung mit Texten stützt diese Auffassung: Besteht Unklarheit über die Bedeutung einer Textstelle, befragen wir, wenn möglich, den Verfasser. Da der Text Ausdruck seiner kommunikativen Intention ist, wird er am genauesten Auskunft über die Bedeutung erteilen können. Dass Autoren grundsätzlich in der Lage sind, sinnvolle Texte zu verfassen, und ihre Texte daher zunächst unter der Annahme ihrer Sinnhaftigkeit zu rezipieren sind, ist eine Überzeugung, die in der Hermeneutik als Wohlwollensprinzip (principle of charity) geläufig ist (z. B. Davidson 1984). Tatsächlich aber kann man von einer Deckung von Verfasserintention und am Text erkennbarer kommunikativer Intention nicht grundsätzlich ausgehen. Zum einen kann dem Verfasser schlicht ein Fehler unterlaufen sein. Auch ist möglich, dass ein Verfasser sich nicht sämtlicher Bedeutungs- und Wissensimplikationen der von ihm verwendeten Sprachzeichen bewusst ist. Alle textuellen Gestaltungselemente stehen in semantischen Traditionen, und es kommt durchaus vor, dass Rezipienten mit Traditionen vertraut sind, die dem Autor nicht geläufig sind. Und schließlich zielt der Begriff der Intention auf das absichtsvoll Geplante, schließt dabei aber das dem Verfasser möglicherweise Unbewusste aus, das gleichwohl sein Schreiben lenken kann. Nicht zufällig wird diese Identifizierung der Textbedeutung mit der Verfasserintention in der Literaturwissenschaft wesentlich skeptischer beurteilt, da literarische Texte weniger als Ausdruck eines rein pragmatischen Handlungswillens betrachtet werden, d. h. weniger als kommunikative Werkzeuge, die in einem Mitteilungsauftrag zwischen Verfasser und Rezipient vollständig aufgehen (zur intentional fallacy, die den Rekurs auf die – vermeintliche – Verfasserintention als Fehler bei der Textanalyse betrachtet, vgl. Beardsley/Wimsatt 2000).
2.6 Bedeutungs-/Wissenskonstitution im Spiegel von Mündlichkeit und Schriftlichkeit Aktuell wird bei der Bestimmung der Größen ‚Text‘ und ‚Gespräch‘ in der Forschung eher das Gemeinsame als das Trennende betont. Schon die bekannte Kategorisierung von Koch/Oesterreicher (1985), die Medialität und Konzeption unterscheidet – konzeptionell mündliche Texte können im Medium der Schriftlichkeit erscheinen (etwa die publizierte Mitschrift einer Diskussion), konzeptionell schriftliche Texte im Medium der Mündlichkeit (z. B. ein ausformulierter Fachvortrag) –, schränkt eine allzu strikte Abgrenzung ein. Das Aufkommen der Neuen Medien
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(E-Mail, Blog, Forum, Chat, SMS usw.), in denen die Grenzen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit verschwimmen, auch das Phänomen der Multimodalität (z. B. von Sprache-Bild-Kombinationen, aber auch in der Kombination von Sprache und Blick im Gespräch), erlauben es, von kommunikativen Praktiken als einer Kategorie zu sprechen, die Texte wie Gespräche überdacht (Stein 2011). Auf der Linie dieser Argumentation liegt auch die Anwendung des Textbegriffs auf mündliche Kommunikate, d. h. die Differenzierung in medial geschriebene und medial gesprochene Texte (Janich/Birkner 2015, 198; zur Ausweitung des Textbegriffs vgl. Fix u. a. 2002; speziell unter dem Gesichtspunkt der performativen Wende vgl. Habscheid 2010). Diese Überlegungen sind angesichts der kommunikativen Realität (Kreuzung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Aufkommen neuer medialer Formate) plausibel. Sie sind es zumal dann, wenn Texte wie Gespräche gleichermaßen als Ausdruck eines Handelns von Subjekten gesehen werden, die das Ziel verfolgen, mittels und in Sprache die gesellschaftliche Welt zu gestalten. Eben das ist der bereits erwähnte Grundgedanke der Pragmatik: Sprachliches Handeln ist stets auf den anderen gerichtetes Handeln, Sprechen und Schreiben ist immer Kommunizieren im gesellschaftlichen Raum. Die Überzeugung, dass die gemeinschaftsbildende und -sichernde Funktion von Sprache von absolut zentraler Bedeutung ist, findet sich in der Geschichte der Sprachreflexion seit der Antike und ist letztlich in der Sicht vom Menschen als zoon politikon begründet: Als Gemeinschaftswesen ist der Mensch auf Sprache angewiesen, menschliche Gemeinschaft ist ohne Sprache nicht möglich. Je mehr nun sowohl Texte als auch Gespräche als Ausdruck eines kommunikativen, also gemeinsamen sprachlichen Handelns betrachtet werden, als Versuche, die Wirklichkeit immer wieder neu in den Blick zu nehmen, um den gesellschaftlichen Raum zu gestalten (durchaus auch im Eigeninteresse, aber eben immer vollzogen im kommunikativen Miteinander), desto mehr tritt die sie verbindende Funktion in den Blick, und desto irrelevanter erscheinen die medialen Unterschiede zwischen ihnen. Das wird der oben erwähnten Kreuzung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit sowie der Entstehung neuer medialer Formen gerecht, kann aber zu einem blinden Fleck gegenüber einer Eigenschaft bestimmter Texte führen, für die das Gegebensein von Schriftlichkeit in besonderem Maße konstitutiv ist. Es handelt sich quantitativ um eine kleinere Gruppe von Texten, die allerdings qualitativ – d. h. hier: kulturell – von herausragender Bedeutung sind: Gemeint sind Texte, die in ihren Sprach- und Kulturgemeinschaften Gegenstand intensiver Auslegung/Exegese/Deutung/Interpretation/Analyse sind, und dies zum Teil seit Jahrhunderten. In klassischer Weise zählen dazu philosophische Texte, religiöse Texte, juristische Texte und literarische Texte. Diese Texte spielen aus unterschiedlichen Gründen in der Kulturgemeinschaft, die sie rezipiert, eine hervorgehobene Rolle, und die Tatsache, dass sie als schriftliche Texte vorliegen, ist entscheidend: Ihre Schriftlichkeit garantiert, dass sie fester, d. h. zeitlich unbegrenzter und in ihrer Materialität unveränderter Bezugspunkt von Deutungsakten sein können,
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dass sich die Deutenden immer wieder auf den immer gleichen Text beziehen können, dass die Deutungen untereinander sogar in Konkurrenz treten können, bei aller Unterschiedlichkeit aber der Text als Ausgangspunkt der Deutungsakte verbindlich bleibt (sieht man einmal von unterschiedlichen Fassungen ab, die von einem Text auch als schriftlich verfasstem und veröffentlichtem vorliegen mögen). Die Schriftlichkeit dieser Texte hat aber auch unmittelbare Folgen für ihre Rezeption: Was sie für die Mitglieder einer Sprach- und Kommunikationsgemeinschaft bedeuten, hängt entscheidend von dieser Schriftlichkeit ab. Thomas Manns „Buddenbrooks“ etwa ist für seine Rezipienten das Werk mit dieser oder jener Bedeutung, das diesen oder jenen Platz in der Literaturgeschichte einnimmt, weil sie es in einer Weise rezipieren (analysieren, interpretieren), wie man es nur mit schriftlichen Texten tun kann, de facto seit Jahrhunderten tut. So haben die Disziplinen, die sich mit den oben genannten Texten befassen (Philosophie, Theologie, Rechtswissenschaft und Literaturwissenschaft), eigene Hermeneutiken entwickelt und verfügen über differenzierte Analyseverfahren. Kennzeichnend für diese Analysen ist, dass bei der Bedeutungszuweisung der Text als Ganzes in den Blick genommen wird, dass unterschiedliche Textteile zueinander in Beziehung gesetzt werden, dass gegen die Chronologie des Textes einzelne Aussagen, Themen, Motive usw. verglichen und bewertet werden, dass die Möglichkeit der Unterbrechung des Lektürevorgangs und der Rückkehr zum Text ein vertieftes und damit qualitativ anderes Verstehen erlaubt, dass häufig das Wissen um die interpretativen Aussagen ‚offizieller‘ Ausleger (z. B. der Kirchen bei religiösen Texten, der übergeordneten Gerichte bei Rechtstexten) die eigene Auslegung beeinflusst usw. Die Unterschiede zum Verstehen von Gesprächen sind offensichtlich. Als ein Beispiel für die besondere Rezeptionshaltung solchen Texten gegenüber sei das Konzept der wilden Semiose von Aleida Assmann erwähnt (von Fix 2013 für die Linguistik fruchtbar gemacht): Es gibt ein einfaches semiotisches Gesetz, das ist die inverse Relation von Anwesenheit und Abwesenheit. Damit ist gemeint, daß ein Zeichen, um semantisch erscheinen zu können, materiell verschwinden muß. [...] Der Blick muß die (gegenwärtige) Materialität des Zeichens durchstoßen, um zur (abwesenden) Bedeutungsschicht gelangen zu können. (Assmann 1995, 238)
Beim Lesen vieler Gebrauchstexte, so das Argument, bewegen wir uns möglichst rasch von der Ausdrucksseite des Zeichens zu seiner Inhaltsseite. Für manche Arten von Texten gilt das aber gerade nicht. Bei ihrer Lektüre erlauben wir uns stattdessen eine wilde Semiose, in deren Vollzug wir bei der Ausdrucksseite des Zeichens, also bei der Form des Textes verharren, weil hier die Form als solche semantisch relevant ist. Eben das meinte bereits das Konzept des Foregrounding, des In-den-Vordergrund-Tretens der sprachlichen Form, entgegen der üblichen Automatization der Lektüre, wie es von der Prager Schule verwendet wurde (vgl. auch Roman Jakobsons Gedanken der poetischen Funktion der Sprache, Jakobson 1971). Das trifft allerdings durchaus auch auf manche Arten von Gebrauchstexten zu.
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Werbetexte etwa nutzen in ihren Kombinationen von Sprache und Bild die Möglichkeiten einer starken Formseite und greifen dabei auch auf semiotisch Ungewohntes zurück (zur Werbekommunikation ausführlich Janich 2012). Dabei werden sie allerdings nicht Gegenstand einer Analyse im oben beschriebenen Sinne, dies auch aufgrund ihres geringeren kulturellen Status. Noch offensichtlicher sind die Unterschiede zur Rezeption von Gesprächen. Natürlich ist auch ihre Formseite (Intonation, Gestik, Mimik usw.) bedeutungskonstitutiv, doch werden Gespräche aufgrund ihrer fehlenden Fixiertheit und der damit mangelnden rezeptiven Verfügbarkeit, ihres häufigen Eingebundenseins in den kommunikativen Alltag und ihres nur selten herausgehobenen kulturellen Stellenwerts (zu Letzterem allerdings Meier 2013) grundsätzlich anders rezipiert als die oben angeführten Arten von Texten, die erst durch ihre Schriftlichkeit zu dem werden, was sie für ihre einzelnen Rezipienten wie für die Sprach- und Kulturgemeinschaft als Ganze darstellen. Es ist kein Zufall, dass die Texte, von denen im Vorangehenden die Rede war, keine Texte des alltäglichen Gebrauchs sind. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie kein Ausdruck eines sozialen Handelns sind. Am deutlichsten ist dies bei juristischen und religiösen Texten: Sowohl z. B. das Grundgesetz wie auch die Bibel sind in die Gesellschaft hinein orientiert und fordern zu einem ‚richtigen Leben‘ im Sinne einer bestimmten politischen und juristischen Überzeugung bzw. im Sinne einer bestimmten Religion und der damit einhergehenden Ethik auf. Die Beschäftigung mit ‚Wissenskonstitution in Texten‘ kann gerade diese Arten von Texten nicht unberücksichtigt lassen, weil sich in ihnen Wissenskonstitution in ihren komplexesten Formen vollzieht.
2.7 Methoden textueller Bedeutungs-/Wissensanalyse Im Folgenden seien beispielhaft einige Methoden textueller Bedeutungs-/Wissensanalyse genannt, wie sie sich in der neueren Textlinguistik finden, auch – da Texte die wesentlichen Konstituenten von Diskursen bilden – in der Diskurslinguistik. Von zentraler Bedeutung sind Analysen, die sich auf die lexikalische Dimension von Texten beziehen. Dabei beschränken sich diese Analysen zumeist nicht auf die Bedeutung isolierter Lexeme, sondern betrachten sie in einer Art und Weise, wie dies traditionell für begriffsanalytische Ansätze, aktuell für kognitivistisch orientierte charakteristisch ist: Die Bedeutungen einzelner Textausdrücke werden zu übergeordneten Bedeutungskomplexen gebündelt, auf die zumeist als Begriffe, Konzepte, Frames/Wissensrahmen Bezug genommen wird. Wenn die eben genannten metasprachlichen Ausdrücke hier ohne weitere Differenzierung genannt werden, bedeutet dies nicht, dass in der Forschung an keiner Stelle Binnendifferenzierungen vorgenommen würden, wohl aber, dass ihnen allen ein Charakter der semantischen Überordnung eigen ist. In allen Fällen handelt es sich um Einheiten von Bedeutung/Wissen, die durch unterschiedliche sprachliche und modal andere
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Zeichenformen evoziert werden. Ein Konzept wie ‚Kirche‘ etwa kann durch die Ausdrücke „Kirche“, „Gotteshaus“ usw., aber auch durch eine ikonische Darstellung oder durch das Geräusch der Kirchenglocken evoziert werden. Hier wird deutlich, wie eng der Bedeutungs- mit dem Wissensbegriff verbunden ist: Was sich im Bewusstsein nach der Rezeption eines Textausdrucks (oder Bildes usw.) als Konstruktion einstellt, ist – aus der Perspektive der Sprache gesehen – Bedeutung und zugleich – aus der Perspektive der Welt gesehen – Wissen. Die Vorstellung einer semantischen Unter- bzw. Überordnung begegnet bereits in der Wortfeldtheorie, nach der ein Begriff ein Wortfeld unter sich fasst (die klassische Position z. B. bei Trier 1931; aktuell u. a. zur Kategorie des Begriffs vgl. Bär 2015). Konzepte/Frames sind offener strukturiert, die sie evozierenden Zeichenkomplexe müssen, wie erwähnt, keineswegs nur sprachlicher Natur sein, und sind sie es doch, können sie unterschiedlichen Wortarten angehören und über die Grenze des Einzelausdrucks hinausreichen. Dabei sind Frames in ihren Konturen keineswegs völlig amorph, vielmehr durch Leerstellen und Prädikationen strukturiert (zur frühen Bestimmung der Kategorie Frame vgl. Minsky 1975; zur Hyperonymtypenreduktion als Methode der inhaltlichen Bestimmung eines Frames vgl. Konerding 1993; im Gesamtüberblick zur Kategorie vgl. Ziem 2008 und insbesondere Busse 2012). Die Analyse des in ihnen ‚angelegten‘ Wissens ist nie nur eine Analyse semantischer Oberflächen, sondern zielt – hier in der Terminologie der Diskursanalyse – auf „epistemische Tiefenströmungen“ (Busse 2003, 177), „Denkmuster“ (Kämper 2005, 236), „Mentalitäten“ (Hermanns 1995) einer Sprach- und Kulturgemeinschaft, auf das in einer Gesellschaft sedimentierte Wissen. Vor dem Hintergrund eines konstruktivistischen Paradigmas bedeutet das zugleich, dass die analysierte Sprache die Gegebenheiten der beschriebenen Wirklichkeit nie nur spiegelt, sondern zugleich zum Motor für gesellschaftliches Handeln wird (auch dies in Übereinstimmung mit frühen Positionen der begriffsgeschichtlichen Analyse, vgl. Koselleck 1979, 120). In zahlreichen text- und diskurslinguistischen Analysen wird versucht, auf die Ebene der Konzepte/Frames mittels einer Schlagwortanalyse zuzugreifen. In Schlagwörtern ist Wissen in einer Weise kondensiert (so bereits Dieckmann 1975), die sie zur Auseinandersetzung im gesellschaftlichen Raum geeignet macht (zum Konzept der semantischen Kämpfe vgl. Felder 2006). Ihr appellativer Charakter erscheint in ihrer deontischen Qualität, „kraft derer Wort oder Wendung bedeutet oder mitbedeutet, daß wir, in bezug auf einen Gegenstand, etwas nicht dürfen, dürfen oder sollen“ (Hermanns 1989, 71; vgl. auch Pörksen 2000). Die verbreitete Unterscheidung von Schlagwörtern in Fahnenwörter und Stigmawörter spiegelt dies. Schlagwortanalysen als Bedeutungs-/Wissensanalysen überschneiden sich nicht selten mit Metaphernanalysen. Während der Metapher als Element der Tropenlehre eher eine ästhetische, schmückende Funktion zukam (jedenfalls in einem Verständnis von Rhetorik, die die Lehre mehr oder weniger auf die elocutio reduziert und ihre pragmatische Schlagkraft außer Acht lässt), wird ihr in texttheoretischen Überlegungen ein „Denkzwang“ attestiert, der ihr als Teil übergeordneter
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„Bildfelder“ eigen ist (Weinrich 1976, 289). In kognitivistischen Ansätzen schließlich wird sie zu einer konzeptuellen Größe, besonders markant in Lakoffs und Johnsons „Metaphors we live by“ (1980). Metaphern strukturieren den intellektuellen Raum von Sprach- und Kulturgemeinschaften, indem sie konzeptionelle Netze bilden, wobei einer einzelnen Metapher als Knoten in einem solchen Netz unterschiedliche sprachliche Ausdrücke entsprechen (eine konzeptuelle Metapher wie z. B. ‚Zeit ist Geld‘ wird realisiert durch Ausdrücke wie „Zeit sparen“, „Zeit vergeuden“, „Zeit investieren“ usw.). Damit wird die Metapher zugleich zu einem Instrument, mittels dessen sich die Kollektivsysmbole einer Gesellschaft erschließen lassen (vgl. Link/Link-Heer 1994). In der aktuellen Forschung wird die kognitive Fusion von Quell- und Bildbereich besonders hervorgehoben (zum Begriff des Blending vgl. Fauconnier/Turner 2002 und Stadelmann 2012; konkrete Anwendung bei Liebert 2015; im Überblick zur Metaphernforschung vgl. Liebert 2008) und die Metapher in die Frametheorie integriert. Vor allem für flächige Formen der textuellen Bedeutungs-/Wissensanalyse eignet sich die Toposanalyse, wie sie seit einigen Jahren in linguistischen Arbeiten praktiziert wird. Der dabei zugrunde gelegte Toposbegriff ist nicht mehr der von Ernst Robert Curtius in die Literaturwissenschaft eingebrachte – Topos im Sinne eines hochkonventionalisierten Motivs (z. B. ‚Topos vom geizigen Reichen‘) –, sondern basiert auf dem aristotelischen Toposbegriff, der eine Toposanalyse zu einer Argumentationsanalyse werden lässt (zur Entwicklung des argumentationslogischen Toposbegriffs vgl. Kienpointner 1992, 2008; Ottmers 2007; Wengeler 2003). Die Basis bildet ein Enthymem, das aus einer Ausgangsaussage (dem Argument), einer Konklusion und einer die beiden verknüpfenden Schlussregel (dem eigentlichen Topos) besteht. Dabei wird der Topos durch eine jeweilige Wissensbasis gestützt: Argument Die Regierung hat es versäumt, rechtzeitig auf die Finanzkrise zu reagieren. Konklusion Die Arbeitslosenzahlen könnten zunehmen. Topos Wenn ein wichtiger politischer Akteur finanzpolitisch zögerlich reagiert, kann dies negative Folgen für den Arbeitsmarkt haben.
Gestützt wird dieser Topos durch so etwas wie ‚finanzpolitisches Erfahrungswissen‘. Die Überzeugungskraft einer Argumentation steht und fällt damit, ob der Topos von den durch die Argumentation Angesprochenen akzeptiert wird. Die genannten Formen textueller Bedeutungs-/Wissensanalyse treten in unterschiedlichen Konstellationen auf (zur Verbindung von qualitativen mit quantitativkorpuslinguistischen Verfahren am konkreten Diskursbeispiel vgl. z. B. Kalwa 2013; zur Verbindung von sprach- mit bildbezogenen Verfahren vgl. z. B. Klug 2012 und Klug/Stöckl 2016).
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3 Resümee Texte gelten zu Recht als zentraler Ort der Bündelung, Sicherung und Vermittlung von Wissen. Im Sinne eines engen Wissensbegriffs gilt dieses textlich gebundene Wissen als etwas präzise Gefasstes, idealiter Eindeutiges, das sich in seiner Wohlbestimmtheit vom bloßen Meinen und Glauben unterscheidet. Dieser Wissensbegriff ist der im Alltag und – trotz einer erkenntnistheoretischen Skepsis, wie sie für die Moderne insgesamt charakteristisch ist – auch in weiten Teilen der Wissenschaften gängige. Der textuelle Ort eines solches Wissens ist prototypischerweise der Fachtext. Dem steht ein erweiterter Wissensbegriff gegenüber, der unter sich all dasjenige fasst, was bei der Rezeption eines Textes durch die ‚bedeutenden‘ Konstituenten der Textoberfläche beim Verstehenden evoziert wird: An diesen Konstituenten und in ihrem Zusammenwirken konstruiert der Rezipient Bedeutung und damit zugleich Wissen. Was die Unterscheidung zwischen deklarativem und prozeduralem Wissen betrifft, so sind Texte Orte vornehmlich des deklarativen Wissens. Prozedurales Wissen dagegen ist als ein Können auf den praktischen Erwerb in der Lebenswelt angewiesen. Eine Überschneidung liegt allerdings insofern vor, als das Wissen über den Aufbau von Texten und die Erfordernisse ihrer je spezifischen Rezeption auch prozedurale Züge trägt. Da bei Annahme eines erweiterten Wissensbegriffs Bedeutungs- und Wissenskonstitution de facto zusammenfallen, lässt sich Textverstehen als Verortung im und Ausbau von Wissen beschreiben. Texte erweisen sich dabei als semantisch emergente, übersummative Einheiten, deren Bedeutung nicht additiv aus ihren einzelnen Komponenten gewonnen werden kann. Textverstehen vollzieht sich als eine kognitive Bewegung zwischen der Realisierung (im wörtlichen Sinne des ‚Wirklichmachens‘) der Bedeutung der einzelnen Textkonstituenten und dem Entwurf einer übergeordneten Bedeutung eines Satzes, Absatzes, Abschnitts, schließlich des Textganzen. Diesen Vorgang beschreibt die Hermeneutik mit dem Begriff des hermeneutischen Zirkels, kognitivistische Ansätze als Bewegung bottom up und top down. Das diesem Vorgang inhärente subjektive Moment ist nicht durch Objektivierungsbemühungen hintergehbar, möglich ist lediglich die Gewinnung eines Konsenses der Verstehenden, im Sinne einer Einigung auf ‚das richtige Textverständnis‘, einer als ‚richtig‘ geltenden Bedeutungs-/Wissenskonstitution. Für Sachtexte wird die Möglichkeit eines solchen ‚richtigen‘ Verständnisses eher angenommen als für andere Texte, etwa literarische, da in Sachtexten die Ebenen von Bedeutung und Sinn (Letztere als Ebene des mittels des Bedeuteten Gemeinten) weitestgehend ineinander fallen. Unsere Alltagserfahrung bestätigt dies, indem wir immer wieder durch Texte präzise und erfolgreich auf einzelne Ausschnitte der Wirklichkeit gelenkt werden. Für alle Texte aber gilt, dass der Vorgang von Bedeutungs- bzw. Wissenskonstitution nicht endet, wenn der ‚Text als solcher‘ inhaltlich erschlossen wurde, sondern wenn beim Rezipienten der Eindruck von semantischer Sättigung entstanden ist.
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Alle Konstituenten eines Textes können zur Bedeutungs-/Wissenskonstitution beitragen, und sie tun dies, indem sie sich gegenseitig semantisieren. Dabei entfalten sich die einzelnen bedeutungs-/wissenskonstitutiven Elemente im Text sowohl punktuell als auch flächig. Die Vorstellung einer reduktionistischen Semantik, die Wörter in Texten als semantisch mehr oder weniger isolierte, mit fest umrissenen Bedeutungen ausgestattete Einheiten begreift, ist ganz und gar abwegig: Wörter in Texten sind keine Bedeutungskugeln, die von einem „Sender“ zu einem „Empfänger“ (so die lange Zeit gängige informationstechnologische Terminologie nach Weaver/Shannon 1949) auf den Weg gebracht werden, um in dessen Bewusstsein in die passenden Bedeutungslöcher zu fallen. Das ist eine Einsicht, die die Hermeneutik mit jeder aktuellen text- und diskursorientierten Semantik teilt, einschließlich kognitivistischer Beschreibungen von Bedeutung und Wissen. Die Resultate des Verstehensvorgangs, also die dem Text zugeschriebene Bedeutung/das an ihm gebildete Wissen werden vor allem in einer pragmatisch ausgerichteten Textwissenschaft auf die Intention des Verfassers rückbezogen: Textverstehen bedeutet Nachvollzug der Verfasserintention. Diese Sicht ist allerdings verkürzt, denn weder ist gewährleistet, dass es dem Verfasser gelungen ist, seine Intention tatsächlich vollständig und angemessen textuell umzusetzen, noch kann ausgeschlossen werden, dass auch dem Verfasser Unbewusstes in sein Schreiben eingeflossen ist. Im Hinblick auf das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit wird aktuell die allzu scharfe Trennung zwischen den Bereichen mit dem Hinweis auf die Kategorien von Medialität und Konzeption hinterfragt, auch vor dem Hintergrund der Entstehung und Verbreitung neuer Medien. Die Anmerkungen sind berechtigt, dürfen aber nicht den Blick verstellen für den rezipierenden Umgang mit Texten, für deren Bedeutungs-/Wissenskonstitution Schriftlichkeit absolut zentral ist. Häufig sind dies gerade Texte von kulturell hervorgehobenem Rang, deren Bezugsdisziplinen – Philosophie, Theologie, Literaturwissenschaft, Rechtswissenschaft – eigene Theorien und Praktiken der Analyse entwickelt haben, die auf die Spezifik von Schrifttexten zugeschnitten sind. In der linguistischen Textanalyse spielen zunehmend Methoden eine Rolle, die der konzeptuellen Strukturierung von Texten gerecht werden. Die Verfahren zielen insbesondere auf die Lexik von Texten, darunter auf ihre Metaphorik, daneben auf Formen der argumentativen Gestaltung, all dies bei einer Öffnung zu korpuslinguistischen Fragestellungen und zu solchen der Multimodalität.
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Johannes Schwitalla
4. Was ist ein Gespräch? Abstract: Ausgehend von (sozial-)philosophischen Überlegungen zur überindividuellen Wirklichkeit von Dialogen sollen ihre wesentlichen Merkmale bestimmt werden. Dabei wird die prototypische Erscheinung eines Gesprächs als ein solches von Angesicht zu Angesicht zugrunde gelegt. In einem ersten Durchgang werden jeweils mitgegebene Bedingungen der verbalen Interaktion befragt: Welche Kommunikationsmöglichkeiten bieten die unterschiedlichen Ressourcen (Verbales, Prosodisches, Nonverbales, Kinesik etc.) und wie tragen sie zum Gesamtgeschehen bei? Welche Möglichkeiten bietet das primäre Medium Mündlichkeit im Vergleich zu technischen Medien? Welche Möglichkeiten und Anforderungen haben die unterschiedlichen Denk- und Kommunikationswelten des Alltags, der Institutionen, der Wissenschaften, der Literatur etc.? In einem zweiten Durchgang wendet sich die Darstellung den Konstitutionsebenen von Dialogen zu. Dazu gehören sprachlichkommunikative Handlungen und Gesprächstypen, die Gesprächsorganisation, die Gesprächsthemen, die Beziehungsebene, Emotionen und die Interaktionsmodalität. Auf allen diesen Konstitutionsebenen machen Kontextualisierungshinweise den Beteiligten deutlich, worum es geht. Schließlich sollen die Gesprächsrollen ‚Sprecher‘ und ‚Hörer‘ differenziert und unterschiedliche Arten von Beteiligungskategorien und -weisen thematisiert werden.
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Zur Definition von ‚Gespräch‘ Multimodalität Medialität ‚Finite Sinnprovinzen‘ Konstitutionsebenen Beteiligungsrollen und -formen Literatur
1 Zur Definition von ‚Gespräch‘ 1.1 Eingrenzung des Gegenstands Der Phänomenbereich ‚Gespräch‘ (hier synonym mit ‚Dialog‘ gebraucht) wurde in verschiedenen Forschungsdisziplinen zum Thema gemacht: in der Philosophie, Theologie und Erziehungswissenschaft, in der Medizin und in verschiedenen Zweigen der Psychologie (Entwicklungspsychologie, Psychoanalyse, Psychotherapie), in der Anthropologie und der (historischen) Kulturwissenschaft, in der Betriebswirtschaftslehre und in anderen praxisbezogenen Disziplinen (ein knapper Überhttps://doi.org/10.1515/9783110296051-004
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blick bei Hess-Lüttich 1996). Entsprechend den Interessen und mentalitätsgeschichtlichen Bedingtheiten einer wissenschaftlichen Disziplin kommen ganz unterschiedliche Aspekte und Konstitutionsebenen von Gesprächen in den Blick. Im Folgenden geht es um Theorien und empirische Untersuchungen, die das Miteinander-Sprechen von Angesicht zu Angesicht und die damit verbundenen Symbolsysteme (Ressourcen) relevant setzen. Diese Einschränkung eröffnet aber wieder eine erstaunliche Vielzahl von Zugängen und Schulen: die strukturell konzipierte und deduktiv vorgehende ,Dialoggrammatik‘, ethnomethodologische (fundamental für die Conversation Analysis) und ethologische Ansätze, Studien von Gesprächen in der Tradition der Sprechakttheorie, der Ethnografie der Kommunikation, der Erforschung der Prosodie und der nonverbalen Kommunikation. Inzwischen werden mehrere theoretische Ansätze (funktionale Grammatik, Konversationsanalyse, ethnografische Interpretation) in der Interaktionalen Linguistik miteinander verbunden (Vorstellungen dieser Ansätze in Brinker u. a. 2001, Kap. XII; exemplarische Analysen bei Staffeldt/Hagemann 2014). Von der empirisch vorgehenden Dialoglinguistik her gesehen sind prototypische Gespräche mündliche (verbale), beobachtbare (deshalb mit Aufzeichnungsapparaten auch festhaltbare) Äußerungen zweier oder mehrerer körperlich anwesender und körperlich agierender Personen (,von Angesicht zu Angesicht‘), die abwechselnd, z. T. auch gleichzeitig sprechend (Aspekt der Zeitlichkeit) eine kommunikative Aufgabe bearbeiten, die miteinander sprachlich handeln, die den Dialog gemeinsam beginnen und beenden, die über etwas sprechen und nebenher oder explizit unterschiedliche soziale wie individuelle Funktionen erfüllen (z. B. die Herstellung einer Beziehung, die Bestätigung sozialer Identität und Andersheit, Selbst- und Fremdpositionierung). Diese etwas gezwungene Umschreibung von ‚Dialog‘ soll auf solche zutreffen, bei denen wir im Alltag, im Beruf, im Verkehr mit Behörden und Institutionen beteiligt sind. Die Komplexität der Definition entspricht aber der Komplexität des dialogischen Geschehens selbst: Ein hörender und sehender Beteiligter kann unmöglich alle interaktiv relevanten Phänomene innerhalb einer psychischen Verarbeitungszeit von wenigen Sekunden registrieren (Arbeitsgedächtnis, Aspekt der Flüchtigkeit). Dazu braucht es den fokussierenden Blick des Analytikers, der den gleichen Abschnitt eines Dialogs wiederholt vom Tonträger hören, im Film beobachten und im Transkript lesen kann. Meist stammen die in der Dialoglinguistik untersuchten Gespräche aus Gesellschaften in modernen, industrialisierten Ländern mit ihren jeweiligen Subkulturen. Beschreibungen von ,ganz anderen Gesprächsweisen‘ in nicht-literaten Kulturen sind selten. Im Zentrum der linguistischen Betrachtung steht die Zeichenhaftigkeit dialogischer Äußerungen. Wichtig ist bei aller Reduktion die Beachtung der Stimme und des Phonationstrakts (Prosodie, Paralinguistisches), der Gestik, der Körperausrichtung, des Blicks und anderer nonverbaler Bekundungen; also nicht nur Wörter und Grammatik, sondern das gesamte mit dem Sprechen verbundene kommunikative Verhalten soll einbezogen werden.
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Die Konzentration auf wahrnehmbare Zeichen blendet andere Begleiterscheinungen des Gesprächs aus, möglicherweise auch solche mit Handlungscharakter. Wir alle wissen, dass wir uns beim Miteinander-Sprechen ,unsere Gedanken machen‘: dass wir eigene Äußerungen planen, solche von anderen in einer Weise interpretieren, die wir nicht offen sagen etc. Diese begleitenden Gedanken und nicht nach außen dringenden Gefühle bleiben von der Dialoglinguistik unberücksichtigt, wenn sie nicht am äußeren Verhalten der Beteiligten ablesbar sind. Sie können aber in literarischen Erzählungen eines allwissenden oder eines personalen Erzählers fiktiv ans Licht gehoben werden, auch von Dramatikern (BeiseiteSprechen) und Filmregisseuren (z. B. Woody Allen und Diane Keaton in „Der Stadtneurotiker“). Ausgeblendet bleibt auch eine psychoanalytische Interpretationsweise. Wenn jedoch Gefühle durch Prosodie, Wortwahl (Metaphern), Versprecher, stockendes Sprechen, Mimik, bestimmte Gesten etc. zum Ausdruck kommen und von den Beteiligten interaktiv verarbeitet werden, dann gehören sie auch für die linguistische Gesprächsanalyse zum Gegenstand ihrer Forschung. Gegenstand der Gesprächslinguistik sind also beobachtbare, wiederkehrende Eigenschaften verbaler Gespräche. Die Analysen basieren auf natürlichen oder arrangierten Gesprächen, die mit den technischen Mitteln von Ton- und Videoaufzeichnungen festgehalten und dann mittels (unterschiedlicher) Transkriptionskonventionen lesbar gemacht werden können. Die Gesprächslinguistik in Deutschland ist eine relativ junge Disziplin, die seit den 1970er-Jahren, von der Ethnomethodologie und der Sprechakttheorie profitierend, ihre Fragestellungen erst einmal im Bereich der damaligen Linguistik durchsetzen musste. Heutzutage ist sie in den westlichen Universitäten in Forschung und Lehre etabliert. Grundlegende Standards der empirischen Analyse und viele Termini sind anerkannt; es haben sich Schulen gebildet und die Forschungsgegenstände sind ausgeweitet worden (z. B. auf Anleitungen zur beruflichen Gesprächspraxis, Gespräche in der Literatur).
1.2 Kopräsenz Man kann sich dem Begriff ‚Gespräch‘ mit dem Begriff ‚Kopräsenz‘ nähern, wie ihn Erving Goffman an verschiedenen Stellen seines Oeuvres expliziert hat. In „Behavior in Public Places“ (1963) hebt Goffman auf die Reziprozität der gegenseitigen Wahrnehmung von Interaktionsbeteiligten ab: Die Einzelnen müssen deutlich das Gefühl haben, daß sie einander nahe genug sind, um sich gegenseitig wahrzunehmen bei allem, was sie tun, einschließlich ihrer Erfahrungen der anderen, und nahe genug auch, um wahrgenommen zu werden als solche, die fühlen, daß sie wahrgenommen werden. (Goffman 1971, 28)
Wie groß die Reichweite ist, hängt von den räumlichen Gegebenheiten ab: In einem Zimmer ist das anders als in einem öffentlichen Park.
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In der Einleitung von „Interaction Ritual“ (1967) nennt Goffman weitere Elemente. Die Sprache ist nur ein Teil des interaktiven Geschehens: Die Grundelemente sind „Blicke, Gesten, Körperhaltungen und sprachliche Äußerungen“ (Goffman 1971a, 7), also körpergebundene und mit den Wahrnehmungsorganen Augen und Ohren erfahrbare Zeichen. Das Wesentliche an einer Interaktion sind nicht das Individuum und seine Psychologie, sondern eher die syntaktischen Beziehungen zwischen den Handlungen verschiedener gleichzeitig anwesender Personen (Goffman 1971a, 8).
Mit dem metaphorischen Ausdruck ,syntaktisch‘ meint Goffman strukturelle Beziehungen zwischen Gesprächsbeiträgen und sonstigen Beteiligungsformen. Diese Ansicht mündet in die Formel: „Nicht Menschen und ihre Situationen, sondern Situationen und ihre Menschen“ (Goffman 1971a, 9). In der mikrosoziologischen Betrachtung geht die sozial gegebene interaktive Ordnung den Individuen, ihren Interessen und psychischen Befindlichkeiten voran. Soziale Begegnungen haben für die Beteiligten eine zeitliche Begrenzung, genauer: Die Beteiligten heben durch spezifische Handlungen ihre Interaktion von vorhergehenden und nachfolgenden Handlungen ab und lassen während der Interaktion andere Ereignisse, die nicht zu ihr gehören, unbeachtet. Die Übergeordnetheit dialogischer Strukturen wurde von mehreren Forschern aus unterschiedlichen Forschungsgebieten betont. Schon Säuglinge treten mit ihren Beziehungspersonen in ,Protogespräche‘ ein, die mehrere von Goffman genannte Eigenschaften haben: gegenseitige Zuwendung des Körpers und Kopfes, Blickzuwendung, (gespiegelte) Mimik, abwechselndes, oft rhythmisches Hin und Her der Äußerungen mit Rollenwechsel von Initiant und Rezipient (vgl. Trevarthen 1979). Wie gegenseitiges Verstehen symbolhaften Handelns von Menschen überhaupt möglich ist und begrifflich konzeptualisiert werden kann, ist eines der großen und andauernden Themen der philosophischen und ethnografischen Anthropologie, der Verstehenden Soziologie (Alfred Schütz), der Sozialphilosophie (George Herbert Mead) und eben auch der Gesprächsanalyse, wenn sie sich reflexiv ihres wissenschaftlichen Tuns versichern will. Entscheidend dürfte die Einsicht sein, dass die begrifflichen Grundlagen nicht von einer wie auch immer gefassten Anthropologie des Ichs ausgehen können, sondern dass wir eine höhere Einheit annehmen müssen, mindestens ein Ich und ein Du, die gemeinsam eine interaktive Welt herstellen, aber auch dies nicht sozusagen ab ovo, sondern aufgrund gemeinsam erfahrener und erprobter Gewohnheiten der verbalen Interaktion. Zur Ansicht vom Vorrang einer gemeinsamen Welt des Wir vor Einzelakteuren sollen einige Zeugen aus der Wissenschaftsgeschichte angeführt werden. Wilhelm von Humboldt schreibt zum Thema der gesellschaftlichen Fundierung sprachlicher Zeichen, dass der Mensch sich selbst nur [versteht], indem er die Verstehbarkeit seiner Worte an Andren versuchend geprüft hat. Dies liegt schon in dem allgemeinen Grunde, dass kein menschliches Vermögen sich in ungeselliger Vereinzelung entwickelt […] die Objectivität wird gesteigert, wenn das
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selbstgebildete Wort aus dem Munde eines Andren wieder tönt. Der Subjectivität wird nichts geraubt, da der Mensch sich immer Eins mit dem Menschen fühlt (Humboldt 1963, 196).
Als weiterer Zeuge des logischen und biologischen (entwicklungsgeschichtlichen) Vorrangs gesellschaftlicher Beziehungen vor einzelnen ichbewussten Individuen sei George Herbert Mead genannt. Er hat in dem Unterkapitel „Eine Gegenüberstellung von individualistischen und sozialen Theorien des Ich“ seiner Abhandlung „Sozialpsychologie“ (Mead 1969, 307–310) zwei wichtige Argumente für den Vorrang gesellschaftlicher Interaktion angeführt: 1. den notwendigen Blick auf das eigene Selbst aus den Augen der anderen für die Konstituierung eines Selbstbewusstseins; 2. eine organisierte Reihe oder Struktur von sozialen Beziehungen und Interaktionen (besonders Kommunikationsbeziehungen mittels Gesten, die als signifikante Symbole fungieren und damit ein sprachliches Universum schaffen) (Mead 1969, 308).
Der dritte Zeuge soll der Sozialphilosoph Alfred Schütz sein. Er hat in „Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt“ (Schütz 1974) unter dem Begriff der ‚Gleichzeitigkeit‘ hervorgehoben, dass die erlebte Zeit (Schütz beruft sich auf den Begriff der ‚durée‘ von Henri Bergson) zweier Interagierender zu einer gemeinsamen ‚Dauer‘ wird: „Wir blicken also auf den fremden Dauerablauf und auf unseren eigenen in einem einheitlichen Akt hin, der beide Abläufe umfaßt.“ (Schütz 1974, 144) Diese Gleichzeitigkeit gründet in der „wesensnotwendige[n] Annahme einer mit der meinen gleichartigen Struktur der Dauer des Du“ (ebd.). Zum Fremdverstehen ist zweitens eine ‚Reziprozität der Perspektiven‘ notwendige Voraussetzung (vgl. Schütz 1973, 11 f.; Schütz/Luckmann 1979, 88 f.), d. h. a) dass das Ich unterstellt und auch vom Du als unterstellt annimmt, dass beide ihre Standpunkte austauschen können, wenn sie über etwas Drittes sprechen; b) dass ihre Relevanzsysteme kongruieren, dass also individuelle biografische Erfahrungen und Perspektivenunterschiede für die anstehende Aufgabe („for the purpose at hand“) als irrelevant behandelt werden. An die Stelle von Du und Ich tritt ein Wir, zu dem aber auch alle gehören, „deren Relevanzsystem wesentlich und hinreichend mit deinem und meinem konform ist“, und deren Wissen ein soziales Wissen ist: objektiv und anonym, d. h. abgelöst und unabhängig von meiner und meines Mitmenschen Definition der Situation, unserer einzigartigen biografischen Umstände und den aktuellen und potenziellen Absichten, die darin jeweils enthalten sind (Schütz 1973, 12; übersetzt J. S.).
Auch die Systemtheorie Luhmann’scher Prägung gründet Gespräche auf überindividuellen Regularitäten (vgl. Hausendorf 1992, 56–70). Eine Metapher für das Gelingen eines Gesprächs, zu dem jeder Einzelne beiträgt, könnte das gemeinsame Musizieren wie beim Jazz sein. Vergleichspunkte wären: abwechselnd führende Instrumente, während andere diese begleiten, ein Gefühl für zeitliche Einheiten, das Miteinander von Vorgeprägtheit und Kreativität (vgl. Nothdurft/Schwitalla 1995).
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Empirische Studien zu Dialogen im Alltag und in den Institutionen haben diese grundlegende Einsicht des Vorrangs sozialer Systeme vor individuellen Handlungen immer wieder und bis ins Detail bestätigt. Immer hat sich herausgestellt, dass in den einzelnen Kulturen ausgefeilte Systeme zur Hand sind, um die grundlegenden Aufgaben des Miteinander-Sprechens in einem Hin und Her von vorausweisenden Ankündigungen und Bestätigungen zu lösen. Zu diesen Aufgaben gehören die Fragen, in welcher kommunikativen Situation man sich befindet, wann diese anfängt und wann und wie sie wieder aufhört, wer spricht und wer zuhört, welches Thema und welche interaktiven Aufgaben anstehen, in welcher Stimmung man miteinander spricht (vgl. Kap. 5).
1.3 Basisregeln, Konversationsmaximen, recipient design Aufgrund der Überlegungen von Alfred Schütz haben Harold Garfinkel (1963, vgl. Patzelt 1987, 125–129), Aaron Cicourel (1973) und andere (z. B. Kallmeyer/Schütze 1975) sog. Basisregeln der menschlichen Interaktion formuliert, also Regeln, die notwendigerweise unterstellt werden müssen, damit ein Dialog durchgeführt werden kann. Solche Regeln betreffen den Gebrauch der sprachlichen Zeichen, von denen angenommen wird, dass die Beteiligten sie im etwa gleichen Sinne verstehen. Die Regeln betreffen die geduldete Vagheit des Verstehens im Vertrauen darauf, dass sich im weiteren Verlauf des Gesprächs schon klären wird, was gemeint ist. Ein Gespräch, überhaupt jede Interaktion, käme nicht von der Stelle, wenn man immer alles Mitgemeinte explizit aussprechen müsste. Man vertraut auf ein ungefähr gleichartiges Verstehen und muss erst dann korrigierend eingreifen, wenn man sieht, dass man selbst etwas falsch gemacht hat oder ein anderer einen falsch verstanden hat (vgl. Hinnenkamp 1998). H. Paul Grice hat ein allgemeines „Kooperationsprinzip“ formuliert: Gestalte deinen Gesprächsbeitrag in dem Stadium des Gesprächs, in dem er erfolgt, in der Weise, wie es für das akzeptierte Ziel oder die Richtung des Gesprächs, an dem du teilnimmst, erforderlich ist. (Grice 1975, 45; übersetzt J. S.)
Dieses allgemeine Prinzip hat Grice in vier „Gesprächsmaximen“ untergliedert, die die Informationsmenge, die Wahrheit der Aussagen, ihre augenblickliche Relevanz und die Art ihrer Formulierung betreffen (eine Einführung mit Belegen aus Alltagsgesprächen und Kritikpunkten bei Bublitz 2009, 195–214). Dem Einwand, es gebe doch auch Gespräche, in denen man nicht kooperativ miteinander umgehe, sondern den anderen täusche, verwirre oder herabsetze, begegnet Grice mit dem Argument, er wolle keine moralischen Regeln aufstellen, sondern notwendig anzunehmende Prinzipien formulieren, aufgrund derer ein rationales Gespräch erst möglich ist, Prinzipien, die das Verstehen des anderen leiten und auf die man sich auch bei einer unkooperativen Einstellung berufen könne. Trotzdem spricht aus den GriceMaximen eine stark zweckrationale, auf Informationen beruhende Ansicht von Ge-
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sprächen; Sprechhandeln, Beziehungsakte und Emotionen werden dagegen weitgehend ausgeblendet. Schon die Alltagserfahrung lehrt, dass es bei einer feindseligen Einstellung zu argumentativen Verwirrspielen, zu Konfrontationen und Beleidigungen kommen kann (vgl. Spiegel 1995). Aber auch bei weniger auffälligen Verletzungen von Basisregeln und Gesprächsmaximen haben Gesprächsanalytiker Reparaturmechanismen festgestellt, mit denen Beteiligte Abweichungen anzeigen und Reparaturen einfordern. Umgekehrt haben die Begründer der Konversationsanalyse schon in ihren frühen Aufsätzen an vielen dialogischen Aufgaben (z. B. mit wem man spricht, was man thematisiert und was nicht, wann man ein Gespräch beginnt und beendet, welche Formulierungen man für Referenzen auf Personen und Räume verwendet) ein allgemeines Prinzip gefunden, das sie recipient design (Adressatenzuschnitt) genannt haben (vgl. Sacks/Schegloff/Jefferson 1974, 727). Theoretisch gefundene Basisregeln bestätigen sich bei konkreten empirischen Analysen z. B. in Bezug auf das Verstehen von Äußerungen. Es herrscht eine „Präferenz für Handlungs- und Darstellungsprogression“ (Deppermann 2008, 232), d. h., man versichert sich nicht jedes Mal, dass man den anderen verstanden hat, sondern macht im Gespräch kohärent weiter, und erst wenn fraglich wird, dass der andere einen nicht oder nicht richtig verstanden hat, setzt man Reparaturmechanismen ein (vgl. Deppermann 2008, 244–252). Ebenso gilt für das Formulieren schwer in Worte zu fassender Inhalte, wie die Beschreibung eines eigenen Schmerzes, dass man die Formulierungsprobleme zwar anzeigen kann (durch explizite Feststellung, durch stockendes Sprechen etc.), dass aber auch als working agreement gilt: Für den Zweck der anstehenden kommunikativen Aufgabe muss der Versuch, den Schmerz zu beschreiben, bei aller Unzulänglichkeit bis zu weiteren nötigen Klärungen als ein solch vager Beschreibungsversuch hingenommen werden (vgl. Birkner 2013, 84, 89).
1.4 Dialogtheorie und empirische Forschung Die Vorstellung, ein Dialog sei ein kommunikativer Austausch von Informationen zwischen einem Sender und einem Empfänger, der wieder zum Sender wird, ist verführerisch einsichtig und wird vielen Kommunikationsmodellen zugrunde gelegt, einschließlich des einprägsamen Bildes von zwei einander zugewandten Köpfen mit hin- und herlaufenden Linien von Mund zu Ohr in de Saussures „Cours de Linguistique Générale“. Solche Vorstellungen von Kommunikation sind geprägt von Kommunikationsapparaten (Telegrafie, Telefonie); sie entsprechen einem modernen europäischen Denken mit dessen Wertschätzung von Individuum, Rationalität, Zweckgerichtetheit und Instrumentalität (vgl. Nothdurft 2014, 127–133). Existenzphilosophische Ansichten vom ‚echten Gespräch‘ (vgl. Karl Jaspers, Hans-Georg Gadamer, Otto Friedrich Bollnow) stellen dagegen das private ,Zwiegespräch‘ zwischen Freunden den institutionell vermittelten und auf Lösungen konkreter Be-
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dürfnisse ausgerichteten Gesprächen gegenüber. Diese Zweiteilung in ‚privat‘ und ‚öffentlich‘ bestimmt viele Konzeptionalisierungen und Idealisierungen von ‚Gespräch‘ im 20. Jahrhundert (vgl. Meier 2013 und ff.). Je nach Untersuchungsmaterial und -absicht haben auch linguistische Autorinnen und Autoren mal mehr den handlungslogischen Ziel- und Zweckcharakter von Gesprächen in den Vordergrund gestellt (modelliert in Flussdiagrammen institutioneller Gespräche), mal den privaten Charakter mit individuellen Selbstpositionierungen, idiolektalen Verhaltensweisen und Funktionen der persönlichen Identität und des sozialen Zusammenhalts.
2 Multimodalität Face-to-Face-Gespräche bestehen aus einem Miteinander unterschiedlicher Ausdrucksmittel (,Kanäle‘), die die Beteiligten hören und sehen können und die man mit Ton- und Videogeräten zur materialen Grundlage von Untersuchungen machen kann. Ob das Verbale dabei eine bevorzugte Stellung hat oder ob man alle Ausdrucksmodi als gleich wichtig behandeln soll, ist umstritten; für eine linguistische Gesprächsanalyse stehen Verbales und Prosodisches im Zentrum des Interesses, von denen aus man Bezüge zu anderen Kommunikationsebenen sucht.
2.1 Verbales Feintranskribierte Gespräche zeigen, dass man einen großen Teil des hörbaren Geschehens mit den Buchstaben des Alphabets und einigen Zusatzzeichen für Phonetisches und Paralinguistisches lesbar machen kann. Das Gesprochene besteht, so gesehen, aus Wörtern, die einzeln, in kleineren oder größeren syntaktischen Verbänden (Sätzen) produziert und prosodisch abgegrenzt werden (Äußerungseinheiten). Typischerweise beginnt ein Gesprächsbeitrag mit einer oder mit mehreren Gesprächspartikeln, geht dann in eine syntaktisch-semantische Einheit mit meist nur einer neuen Information über und endet wieder mit einer Gesprächspartikel. Für die Lexik und die Syntax geschriebener Texte gibt es viele gesicherte Forschungsergebnisse, und es ist verführerisch, sie einfach auf gesprochene Äußerungen zu übertragen. Die Syntax des dialogisch Gesprochenen hat jedoch einige besondere Strukturen, die sie von der Syntax geschriebener Texte unterscheiden und die man durch spezifisch dialogische Funktionen erklären kann (z. B. Antwortellipse: Weglassen des Unwichtigen; Apokoinukonstruktion: Korrektur- und mehrfache Akzentuierungsmöglichkeit; Vor-Vorfeldbesetzung: Anknüpfung an den vorherigen Turn; Linksversetzung: Trennung von Thema und Rhema; vgl. Fiehler 2009; Schwitalla 2012, 100–149; Stein in diesem Band). Bei der Lexik müssen Sprecher auf Verständlichkeit, Adressatenspezifik, Face-Work und soziale Zugehörigkeit achten. In Untersuchungen zu Wort- und Satzsemantik im Dialog wurden interaktive Prozesse
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der Bedeutungsgenerierung beschrieben, die dem Bild einer festen Zuordnung von Zeicheninhalt und -ausdruck deutlich widersprechen (vgl. die Aufsätze in Deppermann/Spranz-Fogasy 2002).
2.2 Prosodie, Paralinguistisches Die prosodischen Aspekte (Tonhöhen[variation], Akzente, Sprechgeschwindigkeit, Lautstärke, Pausen) sind ein Spezifikum der mündlichen Kommunikation und unlösbar mit gesprochenen Äußerungen verbunden. Auch sie haben, einzeln oder im Verbund, Funktionen, die das dialogische Geschehen betreffen: Segmentierung (z. B. am Ende eines Turns) und Kohäsion (z. B. beim Weiter-sprechen-Wollen), Hervorhebung und Rückstufung von Inhalten, Gefühle, sozial-räumliche Zugehörigkeit, interaktive Gemeinschaft (z. B. wenn prosodische Muster im nächsten Turn übernommen werden; vgl. Auer/Selting 2001). Aufsätze aus dem Sammelband „Prosody in Conversation“ von Couper-Kuhlen/Selting (1996) sollen Beispiele dafür geben, wie Intonationsverläufe (und weitere Prosodieelemente) bei der Durchführung wiederkehrender dialogischer Aufgaben mitwirken: bei der Weiterführung bzw. Beendigung eines Beitrags (Peter Auer; Bill Wells/Sue Peppé); bei der Frage, ob eine Höreräußerung eher zustimmend oder ablehnend ist (Frank Ernst Müller); ob eine kurze Hörerreaktion (was? bitte?) informativ gemeint ist oder Erstaunen bzw. Empörung zum Ausdruck bringt (Margret Selting) und in ähnlicher Weise, ob man mit einer Warum-Frage nach einer Begründung fragt oder einen Vorwurf einleitet (Susanne Günthner). Akzentverdichtungen intensivieren die Expressivität (Susanne Uhmann). Die Art von Intonationswiederholungen durch den nachfolgenden Sprecher entscheidet darüber, ob er den vorhergehenden nur zitiert oder nachäfft (Elizabeth Couper-Kuhlen). Durch Stimmqualitäten wie kindliches Sprechen (,Kleinmädchenstimme‘), weinerliches Sprechen, ,Baby-Talk‘ etc. kann man Gefühle und Einstellungen, aber auch gesprächsorganisatorische Aufgaben (Knarrstimme für Turn-Beendigung) bewältigen. Paralinguistisches wie Seufzen, Stöhnen, lächelndes Sprechen, Lachpartikeln, nichtlexikalische „Lautobjekte“ (vgl. Reber/Couper-Kuhlen 2010, 82–88) sind, wenn sie nicht unwillkürliche, indexikalische Anzeichen von Gefühlen sind, Kontextualisierungen des gerade Gesagten; sie signalisieren, ob etwas scherzhaft, ironisch, besonders ernst oder psychisch belastend gemeint ist (vgl. Kap. 5.6). Mit Videoaufnahmen können Verbindungen zu anderen Ressourcen beobachtet werden, z. B. Lächeln und Blickzuwendung (vgl. Tiittula 2013), prosodische Anzeichen von Ekel und körperliche Abwendung/Weggehen (vgl. Goodwin/Cekaite/Goodwin 2012).
2.3 Gestik, Mimik, Raumnutzung Fast genauso relevant wie die Prosodie sind gestische Bewegungen und Gesichtsexpressionen (Letztere sind aber viel weniger als Gesten im Vollzug des Sprechens
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erforscht). Eine auf Ekman/Friesen (1969) zurückgehende Klassifikation teilt Gesten ein in: kulturell festgelegte „Embleme“ mit fester Bedeutung, Berührungen, „Illustratoren“ mit den Unterkategorien „Taktstockgesten“, ideografische, Zeige-, Raum-, Bild- und Bewegungsgesten (Gesamtdarstellungen: Kendon 2004; Streeck 2009). Es ist ganz erstaunlich, welch vielfältige Funktionsbereiche die Gestik erfasst: z. B. die Aufmerksamkeitslenkung und Fokussierung eines Gesprächsgegenstands, die Gesprächsorganisation, die Markierung des relevanten Teils einer Äußerungseinheit, ikonische Abbildungen von Umrissen, Bewegungen und Handlungen, metaphorische Bedeutungen, das Zeigen in einem vorgestellten Raum. Erst in jüngerer Zeit wurden intensiv Zeigegesten (vgl. Stukenbrock 2015) oder das koordinierte Sich-Bewegen im gemeinsamen Raum (vgl. Schmitt 2013) untersucht.
3 Medialität 3.1 Von Angesicht zu Angesicht Ein prototypischer Dialog ist ein solcher, in dem die Beteiligten körperlich anwesend sind und sich sehen können. Es sind mindestens drei Aspekte zu beachten: Zeit, Raum und das Erkennen bzw. Kategorisieren des/der anderen Mitagierenden (vgl. Schütz/Luckmann 1979, 93–98). Unter zeitlichem Aspekt müssen die Beteiligten eine Interaktionssituation beginnen, aufrechterhalten und wieder auflösen. Die Verfahren dafür sind überindividuell, eingeübt und in den Einzelheiten nicht bewusst. Es waren große Entdeckungen, mit denen Konversationsanalytiker (Harvey Sacks, Emanuel Schegloff) und Nonverbalforscher (Adam Kendon, Charles Goodwin, Christian Heath) die Regelhaftigkeit dieser Verfahren beschrieben haben. Die zeitliche Kopräsenz während eines Gesprächs ist ein sehr komplexes Phänomen, das nicht nur die drei Zeitdimensionen Vor-, Gleich- und Nachzeitigkeit umfasst, sondern auch unterschiedliche Phasen und Segmentierungen je nach Symbolebene, nach intrapersoneller und interpersoneller Koordination (vgl. Deppermann/Schmitt 2007, 32–36) sowie nach rückbezüglichen und vorausgreifenden Aktivitäten (für prosodische vgl. CouperKuhlen 2007). Trotz unterschiedlicher zeitlicher Ausdehnungen der einzelnen Ressourcen gibt es ,Verdichtungen‘, z. B.: Ein Patient blickt zuerst auf das eigene linke Knie, zeigt dann darauf, beginnt dann zu sprechen (weil ja DES bein geht ja nimmer, Großbuchstaben = akzentuierte Silbe) und schlägt beim Pronomen DES zweimal mit der Hand darauf (vgl. Stukenbrock 2015, 32). Verbale, prosodische und nonverbale Einheiten haben eine interne zeitliche Struktur, die vom Hörer innerlich mitkonstruiert und in die Zukunft entworfen wird. Hörersignale werden z. B. meist am Ende einer Intonationseinheit platziert. Gesten bestehen aus einer Ausgangslage, einer Bewegung bis zu einem Zielpunkt (stroke), einem möglichen Innehalten (hold) und einer Rückkehr; viele Gesten verlaufen simultan zu Intonationseinheiten (vgl. Kendon 2004, 113–123; Stukenbrock 2015, 18–23).
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‚Zeit‘ im Sinne von interaktiv genutzter Zeit (= kairós vs. chrónos = messbare Zeit, vgl. Erickson/Shultz 1982, 69–98) ist nicht nur eine notwendige Bedingung von Gesprächen als Prozessen, sondern eine bedeutungsgeladene, funktionale Ressource, die freilich wieder kulturell geprägt ist und bei interkulturellen Begegnungen zum Problem werden kann. In vielen Untersuchungen wurde die gemeinsam genutzte Zeit als bedeutungsvolle Strukturebene herausgearbeitet. Gerade bei den zentralen Begriffen der linguistischen Gesprächsanalyse spielen sie eine wichtige Rolle: Der gemeinsam koordinierte Blick und das Aufeinander-Zugehen machen erst eine verbale Begegnung möglich. Beim Sprecherwechsel müssen das Ende des vorhergehenden Turns und der Redeeinsatz des neuen aufeinander abgestimmt werden; was als ‚Unterbrechen‘ angesehen werden kann, bestimmt sich nach dem Zeitpunkt, von dem ab der Hörer mit einiger Sicherheit erkennen kann, was der Sprecher sagen will (recognition point). Turns mit einer projizierten Anschlusshandlung des Adressaten (‚konditionelle Relevanz‘) sind erste Teile von Äußerungspaaren (adjacency pairs, vgl. Sacks/Schegloff/Jefferson 1974, 728 f.). Verfließende, ungenutzte Zeit nach solchen erwarteten Anschlusshandlungen, aber auch innerhalb der eigenen Rede wird als Anzeichen für etwas interaktiv Problematisches oder schwer zu Formulierendes gewertet. In dem Sammelband von Hausendorf (2007) „Gespräch als Prozess“ werden dialogische Aktivitäten unter dem Aspekt des zeitlich begründeten Mitvollzugs untersucht: syntaktische Anschlüsse und Weiterführungen des Adressaten (Peter Auer); Wiederholungen bzw. Expansionen, wenn eine erwartete Reaktion ausbleibt (Peter Auer; Susanne Günthner; Ulrich Dausendschön-Gay/Elisabeth Gülich/Ulrich Krafft); der Sprecherwechsel unter den Bedingungen einer wissenschaftlichen Fernsehübertragung (Lorenza Mondada); die Umkehrung der Bedeutung einer zunächst ,bietenden Hand‘ in eine ,fordernde‘ während des ergebnislosen Verstreichens von Zeit (Jürgen Streeck); die zeitliche Einpassung von Höreraktivitäten, während ein primärer Sprecher spricht (Uta Quasthoff/Friederike Kern); der Wechsel von unauffälligem Hintergrund zum markierten Vordergrund bei der Themenbehandlung (Heiko Hausendorf). Der grundlegenden zeitlichen Struktur von Dialogen entsprechend, sollte eine erste Analyse auch eine Sequenzanalyse sein, d. h., dass ein nach thematischen und/oder interaktiven Kriterien gewählter Gesprächsausschnitt aus dem zeitlichen Verlauf seiner Entstehung erklärt wird, so wie die Beteiligten diesen Verlauf hergestellt und die kommunikativen Zeichen verstanden haben (vgl. Deppermann 2008a, 53–79; Gülich/Mondada 2008, 17, 49–58). Mit weiteren Forschungsinteressen, z. B. der Verwendung eines Gesprächsausschnitts in übergeordneten ethnografischen Untersuchungen, können dann auch andere Gesprächsstellen zur Interpretation herangezogen werden. Der zweite Aspekt von Face-to-Face-Begegnungen ist der gemeinsame Raum. Wendet man den Begriff „die Welt in aktueller Reichweite“ von Schütz/Luckmann (1979, 63) auf das Sprechen als soziales Handeln an, dann verfügen alle Gesprächsteilnehmer über gemeinsame, mehr oder weniger große räumliche Segmente, in-
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nerhalb derer sie je nach Abstand durch Sprechen (Schreien, Flüstern) aufeinander einwirken und gemeinsam etwas tun können. Ihre Kommunikationsbereitschaft wird durch gegenseitige Zuwendung und Annäherung (vgl. die Aufsätze in Mondada/Schmitt 2010) und bei der etablierten Kommunikationssituation durch eine Konfiguration der Vorderseiten ihrer Körper angezeigt (sog. F-Formation: vis-à-vis, Dreieck, Viereck etc., je nach Teilnehmerzahl; vgl. Kendon 1990, 209–237). Wendungen des Oberkörpers und des Kopfes können dann für spezifische Adressaten bei Gesprächen mit mehreren Teilnehmern ausgenutzt werden (vgl. Müller/Bohle 2007; Tiittula 2007). Bei einer solchen räumlichen Koordination können auch verbale, prosodische und nonverbale Zeichen ohne großen Wahrnehmungsverlust ausgetauscht werden („durch ein Maximum an Symptomfülle“, wie Schütz/Luckmann [1979, 95] schreiben). Institutionell vermittelte Gespräche unterscheiden sich von informellen dadurch, dass jene den Institutionsvertretern besondere Raumrechte mit ,Hinterbühnen‘ einräumen (z. B. für Richter, Lehrer, Verkäufer) und die Institutionen selbst den Vertretern der einzelnen sozialen Rollen bestimmte räumliche Bereiche zuweisen. Ein gemeinsamer Wahrnehmungsraum erlaubt das Zeigen auf Gegenstände auch jenseits der Reichweite der Hände. Ein dritter Aspekt ist das Erkennen von bekannten, individuellen Personen an ihrem Gesicht und an ihrer Stimme und das Einschätzen unbekannter Personen nach sozialen Kategorien und Rollen. Schon der soziale Raum der Begegnung und wiederholte Erfahrungen mit ihm machen Typen von Beteiligten und Interaktionen erwartbar, sodass man sich auf bestimmte Handlungen einstellen kann.
3.2 Telefon, neue Medien Gespräche, die durch tertiäre Medien vermittelt sind (d. h. alle Beteiligten brauchen einen technischen Apparat), unterliegen besonderen Bedingungen. Beim Telefonieren fallen der gemeinsame Raum und weitgehend das Nonverbale weg (aber: lächelndes Sprechen kann man auch hören); beim Skypen kann man den anderen und dessen Umgebung nur ausschnitthaft sehen, ein gemeinsamer Zeigraum fehlt; bei Chat-,Gesprächen‘ fehlt auch die Stimme (Prosodie, Lautobjekte). Frühe Konversationsanalysen hatten Telefongespräche zur Grundlage, die den Gegenstand ‚Dialog‘ reduzierten: Meist sind nur zwei Personen beteiligt, sodass viele kommunikative Möglichkeiten in Mehrparteiengesprächen entfallen (Adressatenwahl und doppelte Adressierung, Bildung von zwei oder mehr Konstellationen, Bildung von Koalitionen, interaktiver Ausschluss, Hörerinteraktion etc., vgl. Kap. 6). Bezüge zu gemeinsamen nichtsprachlichen Tätigkeiten sind nicht möglich (z. B. Kochen, an Materialien arbeiten, Spazierengehen). Man kann nicht sehen und nur zum Teil hören, was der andere macht. Die Analyse konzentriert sich auf das Sprachliche und legt einen Austausch einzelner ‚Botschaften‘ nahe (vgl. Hopper 1992, 41). Dennoch haben die Untersuchungen von Harvey Sacks und Emanuel Schegloff zu Beginn der 1970er-Jahre die komplizierten dyadischen Ablaufmuster von Be-
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ginn- und Beendigungsphasen gut an Telefongesprächen untersuchen können, weil hier die Möglichkeiten anderer Ressourcen durch das Sprechen aufgefangen werden müssen, am Beginn: gegenseitige Identifikation (vgl. Schegloff 1972), am Ende ein regelhafter, schrittweiser Ausstieg aus dem Gespräch (vgl. Schegloff/ Sacks 1973). Chat-,Gespräche‘ reduzieren die Phänomenvielfalt noch mehr. Die gemeinsame Zeit ist schon nicht mehr voll gegeben (Quasi-Synchronizität); das schnelle Erscheinen einer Botschaft auf dem Bildschirm gewährt den Adressaten aber ein schnelles Reagieren und Weitertippen von Antworten, was bei der älteren Brief- und Postkartenkorrespondenz nicht möglich war (vgl. Dürscheid/Brommer 2009, 15–17). Die Technik zwingt zu kurzen Äußerungen, was z. T. kürzere Einheiten zur Folge hat als beim Miteinander-Sprechen ohne Zeitdruck. Großbuchstaben, Buchstabenhäufungen (mausiii knuddllzzzz) und andere Zeichen als Buchstaben (Smileys) sind jedoch nur ein magerer Ersatz für die Ausdrucksmöglichkeiten von Stimme, Mimik und Gestik.
4 Finite Sinnprovinzen Gespräche unterscheiden sich je nach dem Wirklichkeitsbereich, in denen sie produziert werden. Alfred Schütz hat den Begriff der „finiten Sinnprovinzen“ entwickelt (Schütz 1973, 207–259) und damit Realitäten des Alltags, der Künste, des Spiels, der Wissenschaft, der Religion, des Traumes, des Witzes oder des Wahnsinns gemeint. Den Bereich ‚Institution‘ könnte man hinzufügen. In all diesen Bereichen wird ja auch miteinander gesprochen (wenn auch nicht immer Face-toFace), aber die Regeln für das Sag- und Denkbare, für soziale Verteilungen des Wissens und der Handlungsmöglichkeiten, für interaktive Abläufe (Routinen vs. Kreativität) und Interaktionsmodi sind jeweils unterschiedlich. Die linguistische Gesprächsanalyse hat sich auf Gespräche im Alltag und – mehr noch – in Institutionen konzentriert. Der situative Unterschied zwischen Alltagswelt und Institutionen scheint einen sehr großen Einfluss auf das dialogische Sprechen unter allen Aspekten seiner Konstitutionsebenen zu haben. Auf Gespräche im Drama und in der erzählenden Literatur kann man die Begriffe der Gesprächsanalyse sinnvoll anwenden, sie müssen jedoch mit relevanten literaturwissenschaftlichen Kategorien in Beziehung gesetzt werden (vgl. Schwitalla/Thüne 2014).
5 Konstitutionsebenen Die Frage, woraus ein Gespräch linguistisch betrachtet bestehe, kann man mit dem Begriff „Konstitutionsebene“ angehen (Kallmeyer 1985, 85; Deppermann 2008a, 9 f.). Es sind interaktive Aufgaben und Ordnungsstrukturen, die in jedem Gespräch gegeben sind. Die Ebenen werden im Folgenden erläutert.
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5.1 Handlung, Aktivität, Interaktionstyp Dass Sprechen ein soziales und interaktives Handeln ist, war eine große Entdeckung der Sprachphilosophie im 20. Jahrhundert. Die linguistische Gesprächsanalyse hat jedoch erstaunlich selten auf die Sprechakttheorie zurückgegriffen, wohl aber Sprechaktbezeichnungen (z. B. Frage, Vorwurf) problemlos für ihre Analysen verwendet. Die Sprechakttheorie war ursprünglich eine Bedeutungstheorie isolierter Sätze monologischer Sprecher, konnte also spezifisch dialogische Handlungen nicht fassen (vgl. Streeck 1992). In vielen Fällen ist eine Sprechaktklasse zu abstrakt, um konkrete dialogische Fälle zu bestimmen. Levinson (1992, 82–86) hat das für Fragen im Schulunterricht und in Kreuzverhören gezeigt. Oft ist nicht klar, ob dialogrelevante Handlungen wie ‚Anrede‘ unter dem Begriff ‚Illokution‘ zu fassen sind; andere sind es jedenfalls nicht (Ausweichen, Thematisieren, Beendigungseinleitung usw.). Dazu kommt, dass unter dialogischen Gesichtspunkten Sprechakte nicht einfach vom Sprecher aus festgelegt, sondern den Interpretationen des/der Adressaten und weiteren Aushandlungen unterworfen sind: A meint seine Äußerung als Hilfsangebot, B versteht sie als Bevormundung (entsprechend: Information vs. Vorwurf). Auch der Sprecher selbst kann eigene Äußerungen reinterpretieren (nicht böse gemeint, war kein Vorwurf). Aber es gibt auch Versuche durchgängiger sprechakttheoretischer Analysen natürlicher Gespräche (vgl. Staffeldt 2014; Hindelang/Yang 2014). Zweifellos stehen immer wieder Illokutionen im strengen Searle’schen Sinn im Zentrum von Gesprächsbeiträgen; sie entwerfen erwartbare Anschlusshandlungen, und viele Gesprächstypen kann man (wie geschriebene Texte auch) nach abstrakten Sprechaktklassen definieren, z. B. Beratungs-, Schlichtungs-, Lehrgespräche. Dialoganalytisch begründete Handlungstheorien betrachten Handlungsbedeutungen nach ihrer Funktion zum dialogischen Vollzug. Dazu gehören einerseits Relationen zum vorhergehenden Turn (z. B. zustimmend vs. ablehnend [vgl. Kotthoff 1993], auf den vorausgehenden Beitrag eingehend vs. ausweichend [vgl. Schwitalla 1979], als ,Retourkutsche‘ etc.), andererseits zum projizierten Anschluss-Turn (konditionelle Relevanz; vgl. Schegloff 1972, 388–395). Damit verbunden sind Präferenzen (Zustimmen vor Ablehnen) und weitere Folgehandlungen des Sprechers, wenn der Adressat schweigt oder nicht die präferierte Antwort gibt (Wiederholen, Paraphrasieren, Insistieren, Intensivieren). Im Übrigen gilt, wie mehrfach betont, dass alle dialogkonstitutiven Tätigkeiten von allen Teilnehmern durchgeführt werden, wenn es dabei auch Initianten und Rezipienten gibt. Mit der Analyse dialogischer Texte hat sich der Handlungsbegriff erheblich erweitert; sowohl kleinere Einheiten (Gesprächspartikeln, Interjektionen, Lautobjekte) wie auch größere kamen in den Blick: Runden von Handlungspaaren, handlungslogisch bestimmte Phasen von Gesprächen, z. B. Eskalation und Renormalisierung in Streitgesprächen (vgl. den Beitrag von Holly in diesem Band). Reformulierungshandlungen (Wiederholen, Paraphrasieren, Selbst- und Fremdkorrektur) beziehen sich auf schon Gesagtes und sind oft dialogisch begründet (bei Face-Verletzungen, beim
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Nichtverstehen des Adressaten). Auch das Schweigen kann in bestimmten Positionen als Verweigerungshandlung gesehen werden (vgl. Meise 1996, 57–68). In sich geschlossene kommunikative Einheiten, für die es meist auch in der Alltagssprache Bezeichnungen gibt (z. B. Klatsch, Kundenberatung, Arbeitsbesprechung), werden unter den Begriffen „Textsorte“ (vgl. den Beitrag von Adamzik in diesem Band), „Handlungsschema“ (Kallmeyer/Schütze 1977, 161), „kommunikative Gattung“ (Günthner 1995) oder „kommunikative Praktik“ (Fiehler 2009, 1180 f.) nach Ablaufmustern, Verteilung von kommunikativen Aufgaben, sprachlicher Vorgeformtheit etc. untersucht. Kommunikative Gattungen/Praktiken sind sowohl vom inhaltlichen wie vom sprachhandelnden Aspekt her ein Bindeglied zu Texttypen der geschriebenen Sprache (vgl. Janich/Birkner 2015 und den Beitrag von Stein in diesem Band).
5.2 Gesprächsorganisation Unter „Gesprächsorganisation“ versteht man die schon in Kap. 3.1 genannten Aktivitäten, die einen Dialog beginnen lassen, durch Sprecherwechsel aufrechterhalten und schließlich beenden, auf nächst tieferer Ebene die Organisation von Sprecherbeiträgen. Für Beginn und Beendigung von Dialogen wurden erstaunlich komplexe Verlaufssysteme entdeckt (vgl. Auer 2017). Das gilt ebenso für die Regeln des Sprecherwechsels und die Signalisierungen der jeweiligen Rollen des Sprechens und Zuhörens. Man kann diese Regeln mit grammatischen Regeln vergleichen, die man beim Sprechen einfach verwendet, ohne extra darauf achten zu müssen, wie man das tut. Aber abgesehen davon, dass es auch verbale Interaktionen ohne Sprecherwechsel (vgl. z. B. Reisman 1974) bzw. ohne individuelle Sprecherrechte gibt (vgl. Liberman 1985, 3–5, 72–99), sind die Regeln und Erwartungen darüber, wer spricht und wer zuhört, wie ein Sprecherwechsel zeitlich abläuft und gegenseitig signalisiert wird und in wie weit überlappendes Sprechen geduldet wird bzw. verpönt ist, kulturell und situativ sehr unterschiedlich. Unterschiedliche Gewohnheiten in Bezug auf die Zeit, die vor dem Einsatz eines anderen Sprechers verstreichen muss, können zu kommunikativen Irritationen führen (vgl. Scollon/Scollon 1983, 24–26). Auch innerhalb der allgemein europäisch-amerikanischen Gesellschaften gibt es in Bezug auf die Gesprächsorganisation große Unterschiede von Milieu zu Milieu (vgl. Tannen 1984, 64–79; Schwitalla 1995, 127–136, 432–430) und von Person zu Person (vgl. Bendel 2007, 196–200).
5.3 Thema, Inhalt Miteinander-Sprechen kommt auf Dauer nicht ohne Gesprächsgegenstände aus. Sie müssen eingeführt und von den anderen akzeptiert werden, und auch der Ausstieg aus einem Thema und die Zuwendung zu einem neuen vollziehen sich in einem dialogischen Aushandlungsprozess. Man kann zwei Weisen der Themenprogres-
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sion unterscheiden: die allmähliche Verschiebung und den Neueinsatz, nachdem für alle erkennbar ist, dass das alte Thema erschöpft ist (z. B. nach Pausen, Gesprächsflauten; vgl. Bublitz 1988, 40–140; Tiittula 1993, 208–245; Gülich/Mondada 2008, 85–100). Ein abrupter Themenwechsel muss als solcher angekündigt oder nachträglich gerechtfertigt werden (misplacement marking; vgl. Schegloff/Sacks 1973, 319). An der sprachlichen Oberfläche zeigt sich damit die Basisregel, dass über den Sprecherwechsel hinweg inhaltliche Kohärenz erwartet wird. Das Prinzip der ‚gemeinsamen Herstellung‘ gilt schon auf tieferer Ebene bei der Referenz auf bestimmte Redegegenstände (vgl. Clark/Wilkes-Gibbs 1986). Welches die Lieblingsthemen von Interaktionsgruppen sind, mit welchen kommunikativen Gattungen, in welcher Modalität und mit welchen Beteiligungsformen sie besprochen werden, richtet sich nach dem soziokulturellen Selbstverständnis dieser Gruppen (vgl. Keim 1995, 40–133; Schwitalla 1995, 23–126, 332–422). Mit dem Sprechen über Ereignisse und – mehr noch – über Handlungen sind Perspektivierungen verbunden, die deren Relevanz und Bewertung betreffen. Ob es hier zwischen Produzenten und Adressaten Übereinstimmung gibt, hängt stark von der Situation und vom Gesprächstyp ab. Alltagserzählungen z. B. laden die Zuhörer dazu ein, die Perspektive des Erzählers zu übernehmen; in Konfliktsituationen versuchen Sprecher, ihre eigene Perspektive durchzusetzen, ein Publikum von ihr zu überzeugen (Gerichtsverhandlungen) und gegenläufige Perspektivierungen abzuschwächen oder zu blockieren (vgl. Linell/Jönsson 1991; Keim 1999).
5.4 Beziehung, Selbst-/Fremdpositionierung In jedem Moment des Dialogs vollzieht man über inhaltliche Mitteilungen hinaus eine mal mehr persönliche, mal mehr soziale Beziehung. Die einschlägigen Konzepte ‚positives Face‘ (Anerkennung) und ‚negatives Face‘ (Selbstbestimmtheit) stammen in ihrer ursprünglichen Form von Goffman (1971a, 10–53) (Überblick: Holly 2001). Negatives und positives Face haben vielfältige Implikationen für die Durchführung von Gesprächen: Das positive Face steht auf dem Spiel, wenn die Kommunikation verweigert wird oder anderen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird; beim Äußern von Dissens und Kritik, was face-schonend durch Jaaber-Strategien und lexikalische Abschwächungsformen aufgefangen werden kann; bei interaktivem und sozialem Ausschluss. Das negative Face wird tangiert beim Unterbrechen, beim Sprecherwechsel (Selbstwahl, wenn schon jemand anderer zum nächsten Sprecher gewählt wurde), bei Aufforderungen und Fragen (faceschützend als solche angekündigt, pre-pre; vgl. Schegloff 2007, 44–47); bei der Präferenz für Selbst- vor Fremdkorrektur oder bei Tabuthemen. Beide Face-Begriffe haben sich auch als relevant für die Beschreibung sozialer Stile des MiteinanderSprechens herausgestellt, mit denen sich Beteiligte indirekt anzeigen, dass sie zu einer gemeinsamen sozialen Welt gehören.
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Ein weiteres Konzept, das für die Beziehung einschlägig ist, ist das der Selbstund Fremdpositionierung (vgl. den Beitrag von Deppermann in diesem Band). In der Art, wie man spricht, präsentiert man sich als ein bestimmter Charakter, als jemand, der/die zu einer sozialen Kategorie, einem Geschlecht, einer situativen Rolle gehört und diese Kategorien auf eine individuelle Art und Weise ausfüllt. In Gesprächen sind mit solch indirekten Selbstdarstellungen immer auch Fremdpositionierungen verbunden. Davies/Harré (1999, 45–47) machen dies an einem Beispiel deutlich: Ein Mann und eine Frau, die sich gut kennen, sind in einer fremden Stadt. Die Frau hat sich erkältet und braucht ein Medikament. Bei eiskaltem Wind führt der Mann nun die Frau von einem Geschäft ins andere, um zu schauen, ob es dort entsprechende Medikamente gibt, anstatt, wie die Frau es wollte, von vornherein nach einer Apotheke zu fragen. Die Suche ist vergeblich; beide bleiben stehen, und er sagt er zu ihr: I’m sorry to have dragged you all this way when you’re not well. Sie ist erstaunt und antwortet: You didn’t drag me, I chose to come. Nun ist er erstaunt, und es folgt eine lange Diskussion über die gegenseitig unterstellten Selbst- und Fremdbilder. Sie als Feministin lehnt seine Entschuldigung ab, weil sie damit anerkennen würde, nicht selbstständig Entscheidungen zu treffen, sondern sich unter die Obhut eines Mannes zu geben. Er kann nicht verstehen, warum er, als der Gesunde, sich nicht um eine Kranke kümmern muss. Wie der kurze Austausch zeigt, implizieren Äußerungen nicht nur augenblickliche (krank vs. gesund) und langfristige Eigenschaften (Geschlechterrollen), sondern vor allem auch moralische Werte (vgl. Bamberg 1997; Lucius-Hoene/Deppermann 2002, 196–212).
5.5 Emotion Dialoge sind immer begleitet von Stimmungen und Gefühlen. Ihr primärer sprachlicher Ausdruck sind zwar Interjektionen und Lautobjekte, aber Emotionen kann man auch am Gesichtsausdruck, an der Körperhaltung und an der Stimme selbst (vgl. Kehrein 2002) ablesen. Im Folgenden geht es nur um dialogische Prozesse von gezeigten Gefühlen. Sie haben oft den impliziten Appell der Anteilnahme (vgl. Fiehler 1990, 150–156; zu Demonstrationen von Empathie: Kupetz 2015) und können sich zu Eskalationen sowohl positiver (Freude, Begeisterung) wie negativer Gefühlsdemonstrationen (Ärger, Wut) steigern. Nicht nur gezeigte Gefühle, auch gefühlsträchtige Mitteilungen von glücklichen oder schrecklichen Ereignissen werden zuerst mit Interjektionen und Lautobjekten, dann erst mit lexikalischen und propositionalen Verarbeitungen beantwortet. Dabei hat ein früher Start die Bedeutung der Angleichung (alignment, vgl. Couper-Kuhlen 2012). Verzögerungen oder zu schwache Reaktionen führen zu Wiederholungen und möglicherweise zu Irritationen ähnlich wie bei ausbleibenden Bestätigungen von Wertungen eines Sprechers (vgl. die Aufsätze in Peräkylä/Sorjonen 2012). In Gruppen mit großer Relevanz von positivem und negativem Face deuten Betroffene negative Gefühle wie Kummer oder Schmerz nur an; die Rezipienten produzieren dann die entsprechen-
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den Ausdrucksformen (vgl. Schwitalla 1995, 229–237). Zum sozialen Zusammenhalt bestimmter Gruppen gehören gemeinsame und sich steigernde Darstellungen von Gefühlstypen, z. B. für Protestgruppen: gemeinsame Empörung (vgl. Günthner/ Christmann 1996), für Kunst-, Theater-, Kochfreunde: Begeisterung, für soziale Randgruppen: Klagen. Schließlich gehört es zur Kunst des guten Erzählens, eigene und fremde Gefühle theatralisch auszudrücken. Beim Erzählen von überwältigenden Ereignissen (Traumata, Angstanfälle) werden sie reaktiviert und hindern den Sprecher daran, flüssig zu sprechen (vgl. Birkner 2013).
5.6 Interaktionsmodalität Zum Teil mit gemeinsamen Gefühlsdemonstrationen sind Geltungsweisen des Gesagten verbunden, die man „Interaktionsmodalität“ (Kallmeyer 1979) nennen kann: ironisches, sarkastisches, scherzhaftes, betont ernsthaftes, pathetisches, resolutes, fraglos sicheres Sprechen etc. (für Ironie vgl. Hartung 1998). Mit diesen Weisen des Sprechens zeigt der Sprecher seine Einstellung zu den Inhalten an und auch, wie die angebotenen Äußerungen aufgenommen werden sollen. Beim gemeinsamen Schwärmen, Blödeln, Phantasieren und vor allem in scherzhaft-spielerischen Interaktionen bestimmt die Interaktionsmodalität nicht nur einzelne Teile von Äußerungen, sondern längere Abschnitte der Interaktion (vgl. Kotthoff 1998; Ehmer 2011).
5.7 Rückblick: Kontextualisierung Entscheidungen für die in Kap. 5.1 bis 5.6 genannten Ordnungsebenen von Gesprächen werden selten explizit in ankündigenden Sätzen versprachlicht, vielmehr meist nebenher durch bestimmte Signale zu verstehen gegeben. Die Ausdrucksmittel dafür sind vielfältig. Dazu gehören die prosodischen Eigenschaften der Stimme, der Blick und weitere nonverbale Verhaltensweisen, der Stil des Sprechens (z. B. Fachsprache vs. Alltagssprache), der Wechsel der Sprache bzw. der Sprachvarietät (Code-Switching), Pausen und die zeitliche Platzierung von Äußerungen. Dieses Phänomen des indirekten Anzeigens einer interpretierenden Rahmensetzung des Gesagten nennt man seit Cook-Gumperz/Gumperz (1978) „Kontextualisierung“. Bei einem ihrer Beispiele für prosodische contextualization cues instruiert eine amerikanische Lehrerin Erstklässler, wie sie sich bei einer Schulversammlung verhalten sollen. Plötzlich sagt die Lehrerin lauter, in höherer Tonlage und schneller als vorher: DON’T wiggle your legs. pay aTTENtion to what i’m saying (Cook-Gumperz/ Gumperz 1978, 11). Durch die Änderung der Prosodie (und wohl auch durch den Blick) signalisiert die Lehrerin, dass sie mit diesen Sätzen nun ein bestimmtes Kind meint, und schafft damit für alle Beteiligten einen Interpretationskontext. Obwohl prinzipiell auf Schrift übertragbar (z. B. Schriftarten, Platzierung der Schrift im Raum), waren Kontextualisierungshinweise eine wichtige Entdeckung
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aus der mündlichen Kommunikation und eine indirekte empirische Bestätigung für die in Kap. 1.2 erwähnten Annahmen der Ethnomethodologie und anderer Schulen der Verstehenden Soziologie, dass Dialoge auf sich selbst steuernden Prozessen beruhen (für Einführungen vgl. Auer 1986; Schmitt 1993).
6 Beteiligungsrollen und -formen Bislang war der Einfachheit halber nur von ,Sprecher‘ und ,Hörer‘ für die beiden wichtigsten Beteiligungsrollen die Rede. Dies ist aber zu undifferenziert. Ein ‚Sprecher‘ kann für jemand anderen sprechen, anderen seine Stimme leihen bzw. andere zitieren oder sich bei anderen deren Sprechgewohnheiten ‚ausborgen’. ‚Hörer‘-Kategorien kann man unterscheiden je nachdem, wer adressiert wird, wer das eigentlich gemeinte Ziel (target) der Rede ist, wer am Gespräch aktiv teilnimmt oder nur akzeptierter Mithörer oder gar unbemerkter Lauscher ist (vgl. Goffman 1979; Levinson 1988, 170–182). Hörer reagieren in unterschiedlicher Weise auf den Beitrag des Sprechers: Sie zeigen ihre Hörbereitschaft durch Hörersignale an (mhm?); sie wiederholen oder kommentieren kurz das Gesagte; sie machen (störende) Einwürfe (vgl. Kallmeyer 1999); sie vervollständigen begonnene syntaktische Strukturen und formulieren für den Sprecher, wenn dieser ins Stocken kommt; sie melden eigene Sprechabsichten an und sie interagieren untereinander etc. (vgl. zusammenfassend Rath 2001; Gülich/Mondada 2008, 43–45). Die Arten von Beteiligungsrollen und das dadurch hervorgerufene Interaktionsverhalten sind kulturell sehr unterschiedlich. Interaktive Teilnehmerkategorien überschneiden sich mit den Erwartungen, die man an die sozialen Rollen hat, die im Gespräch relevant sind. Grade der interaktiven Beteiligung unterscheiden sich einerseits nach der Stärke und dem Ausmaß der Äußerungen (low vs. high involvement; vgl. Tannen 1984), andererseits nach der jeweiligen Position auf einer gedachten Skala zwischen reduzierter Adressiertheit (Vor-sich-hin-Sprechen) und dem engagierten Mitwirken aller beim abwechselnden oder simultanen Hervorbringen gleichlautendender oder semantisch ähnlicher Äußerungen (fugales oder chorisches gemeinsames Sprechen; Überblick: Schwitalla 2001). In Mehrparteien-Gesprächen sind Koalitionsbildungen, interaktive Ausgrenzungen und Spaltungen von Konstellationen möglich. Ein sozialer Stil des Sprechens bestimmt sich auch danach, welche Beteiligungskategorien in einer gesellschaftlichen Gliederung vorgesehen sind und welche Beteiligungsformen in welcher Situation als normal gelten. Mit dem Rückblick auf ein ca. halbes Jahrhundert empirischer Dialogforschung hat sich in vielen Untersuchungen von Einzelaspekten herausgestellt, dass diese gemeinsam von allen am Gespräch Beteiligten vollzogen werden. Die Regeln für den Vollzug der einzelnen dialogischen Anforderungen sind, wie gesagt, oft unbewusst und kulturell möglicherweise sehr unterschiedlich. Ihr grundlegend sozialer
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Charakter liegt am Vollzug vielfach wiederholter dialogischer Handlungen gleichen Typs. Und trotzdem steht jedes Mal unser Selbst auf dem Spiel. Man kann aus einem Gespräch ganz beglückt und bereichert, aber auch ganz niedergeschmettert herausgehen, ohne dass man dies zu Beginn geahnt hätte.
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5. Wissen im Gespräch Abstract: Dieser Artikel gibt einen Überblick darüber, wie grundlegend Wissen als Voraussetzung, Gegenstand und Produkt von Verständigungsprozessen für die Organisation von Gesprächen ist. Zunächst wird ein kognitivistischer Zugang zu Wissen mit einem sozialkonstruktivistischen kontrastiert. Es werden zum einen kommunikative Gattungen, die auf die Kommunikation von Wissen spezialisiert sind, dargestellt; zum anderen wird gezeigt, wie Wissen auch dann die Gestaltung der Interaktion bestimmt, wenn der primäre Gesprächszweck nicht in Wissensvermittlung besteht. Vier Dimensionen werden angesprochen: a) Das mit dem Adressaten geteilte Wissen (common ground) ist Grundlage des Adressatenzuschnitts von Äußerungen (recipient design); b) geteiltes Wissen wird in Verständigungsprozessen konstituiert; c) der relative epistemische Status der Gesprächspartner zueinander wird durch Praktiken des epistemic stance-taking verdeutlicht und bestimmt selbst die Interpretation von Äußerungsformaten; d) epistemischer Status, soziale Identität und Beziehungskonstitution sind eng miteinander durch moralische Anspruchs- und Erwartungsstrukturen verknüpft.
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Einleitung Eine methodologische Vorüberlegung: Wissen als Explanans vs. als Gegenstand der Interaktion? Kommunikative Gattungen der Wissensvermittlung Voraussetzung und Herstellung von geteiltem Wissen in der Interaktion: recipient design und grounding Epistemischer Status von Interagierenden Epistemic stance (Wissensanzeige und -zuschreibung) Schlussbemerkungen Literatur
1 Einleitung Wissen ist an fast jeder Interaktion zugleich als Voraussetzung, als thematischer Gegenstand sowie als Produkt des Miteinandersprechens beteiligt. Alle Arten von Kompetenzen, die für die Konstitution interaktiven Handelns von Belang sind, sind in Form von Wissensbeständen organisiert. Wir können unterscheiden zwischen Sprachwissen, enzyklopädischem Weltwissen, prozeduralem Wissen über die Durchführung von Aktivitäten und Interaktionen (know how), biographischem Wissen, Wissen über die Gesprächspartner und Expertenwissen, das durch formale Ausbildung und praktische Erfahrung erworben wurde (vgl. Janich/Birkner 2015, https://doi.org/10.1515/9783110296051-005
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Kap. 2.2). Wissen ist die Voraussetzung für Wahrnehmung und Kategorisierung, für Verstehen, Erklären und Antizipieren von Handlungen und Ereignissen und für die Planung von Handlungen. Wissen kann bewusst sein, ist es aber zumeist nicht. Unsere bewusste Konzeptualisierung von Wissen, das wir für unser interaktives Handeln einzusetzen meinen, muss sich keineswegs mit den tatsächlich benutzten Wissensbeständen decken (siehe z. B. schon Labov 1971 bzgl. Sprachwissen). Wenn wir hier von „Wissen“ sprechen, dann meinen wir damit nicht den Alltagsbegriff, der sich etwa von „Glauben“ oder „Meinungen“ durch intersubjektive Geteiltheit, Wahrheit und handlungspraktische Bewährung unterscheidet. Wir verstehen hier unter „Wissen“ im Einklang mit dem weiten kognitionswissenschaftlichen Begriff Annahmen, die eine Personen für mehr oder weniger gewiss hält, sowie alle begrifflich (aber nicht unbedingt sprachlich) strukturierten Kenntnisse. Wissen ist unvermeidlich an Gedächtnis gebunden: Nur dasjenige, was im Langzeitgedächtnis gespeichert ist, kann als situationstranszendente Wissensgrundlage für zukünftiges Handeln dienen. Welch fundamentale Rolle Wissen für die Durchführung von Interaktionen spielt, wird uns gewahr, wenn wir mit einem kleinen Kind, das über viele Wissensbestände noch nicht verfügt, oder mit einem dementen Gesprächspartner, dem viele Wissensbestände nicht mehr zugänglich sind und der keine neuen Gehalte im Langzeitgedächtnis enkodieren kann, interagieren und uns dabei an das (Nicht-)Wissen des Gegenüber adaptieren müssen. Aufgrund der Ubiquität von Wissensbeständen für jede Art diskursiven Handelns kann es in diesem Beitrag nicht darum gehen, sämtliche Arten von Wissen, die in der verbalen Interaktion zum Einsatz kommen, anzusprechen. Wir verzichten auch auf die Darstellung von Prinzipien der Wissenskonstitution im Diskurs, die spezifisch für eine bestimmte Domäne wie Schule, Recht, Medizin etc. sind (vgl. Dausendschön-Gay/Domke/Olhus 2010 und Teil III dieses Bandes). Wir thematisieren nur solche Aspekte, die weitestgehend domänenunspezifisch zu einer grundlegenden interaktiven Infrastruktur der Konstitution von Wissen im Gespräch gehören. Wir nehmen dabei eine konversationsanalytische Perspektive ein. Wir fragen, wie Gesprächsteilnehmer selbst anzeigen, welches Wissen sie einander zuschreiben, wie sie Wissen im Gespräch vermitteln und welche Relevanz die Zuschreibung von Wissen für die Organisation der Interaktion und der Beziehungen der Interaktionsteilnehmer hat. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der Bedeutung, die mit den Interaktionspartnern geteiltes Wissen für die Interaktionskonstitution hat.
2 Eine methodologische Vorüberlegung: Wissen als Explanans vs. als Gegenstand der Interaktion? Aus kognitionspsychologischer Sicht sind vielfältige Arten von Wissen Voraussetzung dafür, erfolgreich miteinander interagieren zu können (siehe Abschnitt 1). Kog-
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nitionsforscher sind daher einerseits daran interessiert, die Wissensstrukturen zu identifizieren, über die Sprachbenutzer verfügen müssen, um Äußerungen produzieren und verstehen zu können (Hobbs 2004). Eine besonders wichtige Rolle spielt dabei die theory of mind (Nichols/Stich 2003), d. h. die Annahmen eines Akteurs über das Wissen seiner Interaktionspartner. Sie sind Grundlage für Verstehen, Handeln und Formulieren in der Interaktion: Es hängt vom Wissen des Partners ab, welche Ausdrücke für ihn verständlich sind, und Wissen und Erwartungen des Partners sind entscheidend für die interaktive Kooperation (Abschnitt 4.1). Die simulation theory meint, dass das Wissen über den Interaktionspartner auf der Simulation des eigenen Verhaltens und seiner analogisierenden Übertragung auf den Interaktionspartner beruht (Goldman 2013). Spiegelneuronen sollen hierfür die Basis bilden (Rizzolatti/Sinigaglia 2008). Nach Auffassung der theory theory (Perner 1999) dagegen verfügen Akteure über eine psychologische folk theory hinsichtlich der mentalen Zustände anderer und deren kausaler Rolle für ihr Handeln, welche sich auf das Wissen über ihr früheres Handeln stützt. Andererseits interessiert aus kognitiver Sicht, wie Äußerungen mental verarbeitet werden und zum Aufbau bzw. zur Revision von Wissensbeständen führen (Johnson-Laird 1983). Wissen wird im kognitionswissenschaftlichen Ansatz, ganz im Einklang mit unserem Alltagsverständnis, als eine ‚innere‘, mentale Struktur verstanden, die beobachtbares Handeln erklären soll. Mentale Strukturen und Prozesse als solche aber sind, auch nach Ansicht der Kognitionspsychologen, nicht beobachtbar. Sie sind einerseits Konstrukte, die ihre Brauchbarkeit durch ihren Wert für die Erklärung und Vorhersage von Verhalten erweisen, andererseits wird ihnen eine kausale Rolle für die Erzeugung des durch sie erklärten Handelns zugeschrieben. Any mechanically embodied intelligent process will be comprised of structural ingredients that a) we as external observers naturally take to represent a propositional account of the knowledge that the overall process exhibits, and b) independent of such external semantic attribution, play a formal but causal and essential role in engendering the behavior that manifests that knowledge. (Smith 1985, 35)
Genau diese Unbeobachtbarkeit des Mentalen ist jedoch für einen interaktionsanalytischen Ansatz, der sich für die Rolle von Wissen in der sozialen Interaktion interessiert, ein methodologisches Problem (siehe auch Bergmann/Quasthoff 2010, 22 f.). Wie sind Aussagen über Mentales zu verifizieren, wenn dieses als solches nicht beobachtbar ist? Wenn wir von der diskursiven Praxis ausgehen, dann ist das den Interaktionsteilnehmern zuzuschreibende Wissen gar nicht unabhängig von dieser Praxis, die es doch erklären soll, festzustellen. Es droht also die Gefahr eines Zirkelschlusses. Auch ein Blick in das Gehirn würde nicht weiter helfen. Was wir dort mit einer fMRT oder in einem EEG identifizieren können, sind neuronale Aktivitätsmuster, nicht aber symbolische Strukturen, die wir als bestimmte Wissensbestände identifizieren können. Wittgenstein ([1950] 1984) und zahlreiche Philosophen (z. B. Quine 1960) und Ethnomethodologen (z. B. Coulter 1990) in seiner
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Nachfolge haben daher grundsätzliche Zweifel angemeldet, dass der Rekurs auf mentale Strukturen zur Erklärung diskursiven Handelns mehr als Scheinerklärungen bringt, die in nichts anderem bestehen als in einer Umformulierung der diskursiven Praxis, die sie angeblich erklären. Wittgenstein hat dies am Beispiel eines anderen mentalen Phänomens, des Schmerzerlebens, und seines Verstehens durch eine andere Person illustriert: Dass ein anderer Mensch Schmerzen hat, können wir nur anhand seines Schmerzausdrucks schließen und nachvollziehen, nie aber anhand eines Zugangs zu seinem Erleben selbst. Dieses Erleben ist vollkommen irrelevant für unser Verständnis des Schmerzausdrucks: Ob der andere den Schmerz tatsächlich fühlt oder nicht, können wir nicht feststellen. Es sind ganz einfach bestimmte beobachtbare Formen des Schmerzausdrucks, die uns als nicht hintergehbare und letztlich ausreichende Evidenz für das Schmerzerleben gelten (Wittgenstein [1950] 1984, § 293). Gemünzt auf mentale Konstrukte wie ‚Wissen‘ oder ‚Verstehen‘ formulierte Wittgenstein daher das Diktum: „Ein ‚innerer Vorgang‘ bedarf äußerer Kriterien.“ (Wittgenstein [1950] 1984, § 580) Dieses epistemologische Kriterium ist letzten Endes ein bedeutungskritisches: Mentale Begriffe wie ‚Wissen‘ sind nicht referenziell, sie sind nicht durch beobachtbare Korrelate zu definieren; sie sind soziale Konstrukte, deren Bedeutung darin liegt, welche Handlungsweisen von sozialen Akteuren ihnen selbst und anderen Akteuren als Evidenz für das Vorliegen des entsprechenden mentalen Vorgangs oder Zustands gelten. Unsere Praktiken der Zuschreibung mentaler Zustände und Prozesse werden also durch soziale Konventionen bzw. Regeln und durch die Funktion, die der Zuschreibung mentaler Zustände in gesellschaftlichen Handlungskontexten zukommt, bestimmt, nicht aber durch das faktische Vorliegen mentaler Zustände. Gefordert wird damit eine Respezifikation mentaler Begriffe (Potter/te Molder 2005): Anstatt sie aus Analytikersicht als explanative Konstrukte zu benutzen, die beobachtbares Verhalten erklären sollen, wird untersucht, wie sie von Diskursteilnehmern selbst interpretiert und benutzt werden, um soziale Handlungen zu vollziehen und zu verstehen. Diese sozialkonstruktivistische Behandlung mentaler Begriffe ist also ein wenig paradox: Sie ist entweder agnostisch – sie weigert sich, etwas über die Existenz mentaler Prozesse und Strukturen als solcher auszusagen – oder sie ist antimentalistisch, indem sie deren Existenz leugnet (siehe Potter/te Molder 2005). Wir werden in diesem Beitrag zunächst der sozialkonstruktivistischen, emischen Sicht von ‚Wissen‘ folgen. Dies ist konsequent aufgrund der Daten, auf die wir als Konversationsanalytiker Zugriff haben, nämlich Aufnahmen von authentischer Interaktion, aber keine weiteren Quellen, die uns interaktionsrelevante Wissensbestände der Interaktionsteilnehmer unabhängig von den zu untersuchenden Interaktionen selbst erschließen lassen. Wir verstehen damit Wissen als Teilnehmerkonstrukt. Wir betrachten seine Wirksamkeit in der Interaktion zunächst einmal anhand dessen, wie sich Interaktionsteilnehmer an der Relevanz von Wissensbeständen in ihrem Handeln erkennbar orientieren. Wissen in diesem Sinne ist eine Ressource der Interaktionsorganisation, im Unterschied zur mentalistischen Sicht,
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nach der es Voraussetzung und Ergebnis interaktiven Handelns ist. Wir werden aber im Gang der Darstellung sehen, dass sich auch aus der konversationsanalytischen Perspektive immer wieder immanent, d. h. in der Rekonstruktion der von den Teilnehmern selbst aufgezeigten Handlungsorientierungen, doch die Notwendigkeit anmeldet, den Interaktionsteilnehmern aus Analytikersicht Wissen zuzuschreiben, um die Systematik ihres Handelns darstellen und verstehen zu können (vgl. Deppermann 2012). Der grundlegend unterschiedlichen Einschätzung des ontologischen Status von Wissen in der Kognitionspsychologie und in sozialkonstruktivistischen Ansätzen entsprechen unterschiedliche Untersuchungsmethoden. Kognitionspsychologische Forschungen gehen experimentell vor. Sie versuchen die Relevanz von Wissensbeständen zu erweisen, indem sie diese als unabhängige Variablen manipulieren und kontrollieren (d. h. Versuchspersonengruppen erhalten unterschiedliche Informationen), und den Effekt auf die abhängige Variable, das Sprachverstehen bzw. das sprachliche Handeln untersuchen (z. B. Clark 1992; Gibbs 2004; Brennan/Galati/ Kuhlen 2010). So sollten z. B. Versuchspersonen, die New York entweder gut oder gar nicht kannten, zusammen mit Partnern, die ebenfalls New York entweder gut oder nicht kannten, Bilder der Stadt zuordnen (Isaacs/Clark 1987). Es stellte sich heraus, dass Interaktionsteilnehmer sehr schnell das Vorwissen des Partners anhand seines Interaktionsverhaltens ziemlich korrekt abschätzen, auch wenn ihnen nicht mitgeteilt wurde, ob der Partner New York kennt. Je nach dieser Einschätzung und dem eigenen Wissen wählten die Versuchspersonen andere Referenzformen (Ortsnamen vs. Beschreibungen, unterschiedliche Länge und Anzahl der Turns und räumliche Perspektivierungen). Vor- und Nachteile dieser Methodologie liegen auf der Hand: Da das für die Bewältigung der Interaktionsaufgabe relevante Wissen vom Experimentator a priori verifiziert werden kann und die Versuchsteilnehmer nur eine eng umschriebene Interaktionsaufgabe mit einem sehr beschränkten Spektrum an Reaktionsmöglichkeiten verrichten, kann die Auswirkung von unterschiedlichen Wissensbeständen auf das Interaktionshandeln differenziell nachgewiesen werden. Die Kehrseite dieses Ansatzes besteht darin, dass die experimentellen Aufgaben meist sehr artifiziell sind und sich kaum mit alltagsweltlichen Interaktionsanlässen decken und dass die Handlungsmöglichkeiten der Versuchspersonen stark eingeschränkt sind (z. B. bzgl. Themen, Handlungen, Beteiligungsstrukturen). Die ökologische Validität und Aussagekraft der Experimente für alltagsweltliche Prozesse der Wissensabhängigkeit von Interaktionen ist daher sehr ungewiss. Die Erkenntnismöglichkeiten der experimentellen Erforschung sozialer Interaktion sind sehr begrenzt. Die experimentellen Settings können die Vielzahl der situierten Anlässe, Formen und Funktionen, mit denen Wissen in der Interaktion relevant wird, mit Zwecken der Beteiligten verknüpft ist, zum Ausdruck gebracht wird und mit emergenten Interaktionsverläufen zusammenhängt, nicht erfassen. Genau dies ist aber das Interesse der Konversationsanalyse. Sie geht deshalb von nicht durch den Forscher elizitierten Interaktionen aus, um die Phänome-
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nologie von Wissen in natürlichen Interaktionen zu rekonstruieren (vgl. auch Bergmann/Quasthoff 2010). Hier interessiert gerade, wie Wissen in Bezug auf andere Dimensionen der Interaktion wie Handlungsorganisation, Beziehungskonstitution, Themensteuerung oder Bearbeitung institutioneller Aufgaben eingesetzt wird, um interaktive Prozesse sequenziell zu organisieren. Der Preis des Zugangs zu natürlichen Interaktionsereignissen besteht darin, dass die Wissensvoraussetzungen und Wissensbildungsprozesse der Interaktionsteilnehmer meistens nicht vom Forscher genau bestimmt und kontrolliert werden können. Außerdem ist die komparative Untersuchung der relativen Relevanz unterschiedlicher Wissensbestände für das Interaktionshandeln schwierig, da soziale Praxis nicht standardisiert ist und folglich im Vergleich verschiedener Interaktionspassagen immer viele verschiedene Aspekte des Geschehens und der Teilnahmevoraussetzungen der Beteiligten variieren. Im Folgenden werden wir uns vorrangig auf die Erkenntnisse der interaktionsanalytischen Forschung zu Wissen in der Interaktion stützen, diese aber an verschiedenen Stellen um experimentelle Befunde ergänzen.
3 Kommunikative Gattungen der Wissensvermittlung Der primäre Zweck einiger kommunikativer Gattungen besteht in der Vermittlung oder Überprüfung von Wissen (Luckmann 1986). Weitergabe und Prüfung von Wissen gehören zu den wichtigsten kommunikativen Aufgaben, die für den Bestand und die Entwicklung jeder Form von menschlicher Kultur grundlegend sind (J. Assmann 1992; Tomasello 2008). Die Ausbildung und Weitergabe kultureller Traditionen, d. h. die Entstehung eines kulturellen Gedächtnisses, im Lauf der Phylogenese und der Kulturgeschichte ist ohne Wissensvermittlung über die Generationen hinweg nicht denkbar. Entstehung und Entwicklung der Schrift sind eng mit dieser gesellschaftlichen Notwendigkeit verknüpft (J. Assmann 1992; A. Assmann 1999). Es gibt aber auch spezialisierte orale Formen der Wissensvermittlung, die sowohl für die alltagsweltliche Sozialisation, Erfahrungsvermittlung und Vergemeinschaftung als auch für institutionelle Praxen grundlegend sind. Gattungen der Wissensvermittlung sind deskriptive Praktiken (Bergmann 1991). In ihnen werden Sachverhalte kategorisiert und beschrieben. Die erste Form der Wissensvermittlung, mit der die frühe Sprachsozialisation beginnt, ist die Praktik des Zeigens und Benennens (Bruner 1987; Braun 1995). Ausschnitt #1 zeigt, wie beim gemeinsamen Betrachten eines Bilderbuchs die Vorleserin (Erw) die Aufmerksamkeit des Kindes (Kin, 1;8 Jahre alt) auf bestimmte Abbildungen lenkt und ihm die Bezeichnungen des Abgebildeten durch Zeigen und Benennen vermittelt.
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#1 Bilderbuchinteraktion (Korpus Karin Birkner) → 008 Erw: und %DA was ist das? e-h: ....%zeigt auf Bild---------> → 009 HAT die da? 010 (---) 011 kennste DAS?% e-h: ----------->% 012 (--) 013 Kin: DAS? → 014 Erw: ein 015 (--) k-h: ..... 016 Kin: +DAk-h: +zeigt auf Bild,,,,, 017 Erw: ja genAU, 018 DAS is_er; Zeigen und Benennen ist die erste Form des Definierens, das neben dieser gestischdeiktischen Form auch durch die Angabe von genus proximum und differentia specifica, Synonym oder negiertem Antonym, Paraphrase, die Lokalisierung eines Ausdrucks in einem Paradigma, Analogiebildung, die Schilderung eines Beispiels oder die Aufzählung von Eigenschaften des Objekts (siehe Ausschnitt #2) realisiert werden kann. Die grundlegende Form der Mitteilung von Sachverhalten ist die Beschreibung. Bei Wegbeschreibungen und Beschreibungen von Räumen und Objekten orientieren sich die Beschreibenden dabei an einer anthropozentrischen Perspektive, indem sie z. B. die Beschreibung entlang des zu gehenden Weges, ausgehend von den Funktionen eines Objekts für den Benutzer oder nach visuellen Auffälligkeiten organisieren (Linde/Labov 1975). Die ausgebauteste alltagsweltliche Form der Kommunikation von Wissen ist das Erzählen. Prototypische Erzählungen haben ein singuläres Ereignis zum Gegenstand, dessen Erzählwürdigkeit (tellability) daher rührt, dass es einen Planbruch (Quasthoff 1980) bzw. ein Skandalon (Rehbein 1982) beinhaltet, d. h. ein Ereignis, welches unvorhergesehen, außerhalb der Erwartungsnorm liegend bzw. von besonderer emotionaler Bedeutsamkeit ist. Die kommunikative Gattung des Erzählens umfasst zahlreiche Untergattungen. Die wichtigsten sind: – In autobiographischen Erzählungen stellt der Erzähler Zeitabschnitte seines Lebens, meist in Bezug auf ein bestimmtes Thema wie Krankheit, Beruf oder Partnerschaft dar; dabei werden Wandel und Kontinuität der Identität kommunikativ konstituiert und moralisch reflektiert (Lucius-Hoene/Deppermann 2004). – Iterative Erzählungen haben nicht ein singuläres Ereignis, sondern einen wiederholten Vorgang bzw. eine gängige Handlungsweise zum Gegenstand (Schwitalla 1991). Sie dienen zur Herausarbeitung der Typik des Habitus einer Person oder einer Problemkonstellation.
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Small stories sind kleine Erzählepisoden, die in die Alltagsinteraktion funktional eingebaut und oft an bestimmte Beziehungskonstellationen (z. B. unter Freunden) und Orte (z. B. Schulhof) gebunden sind (Georgakopoulou 2007). Sie dienen der Mitteilung von alltäglichen Neuigkeiten (breaking news), halten Interaktionspartner auf dem Laufenden über die Weiterentwicklung begonnener Prozesse (updates) und sind oft nur fragmentarisch (Birkner 2013). Sie bestehen manchmal mehr in der Andeutung von Erzählpotenzialen (und damit von beim Sprecher vorhandenem Wissen) als in deren Ausführung.
Auf den ersten Blick besteht der zentrale mit einer Erzählung vermittelte Wissensbestand in der Klimax. Zu ihrer Entfaltung und Interpretation sind jedoch Wissensbestände notwendig, die in der Orientierungs- und in der Komplikationsphase der Erzählung vermittelt werden (Labov/Waletzky 1967). Zumeist aber haben Erzählungen eine über sie selbst hinausgehende Funktion: Sie dienen dazu, Thesen, Einschätzungen und Bewertungen zu belegen (Schütze 1987), eine Beschwerde zu formulieren (Günthner 2000) oder auf mehr oder weniger diskrete Weise Indiskretionen gegenüber Dritten, die Erzähler und Adressat kennen (Klatschgeschichten; Bergmann 1987), zu begehen. Erzählungen sind damit zentrale Konstituenten des alltagsweltlichen Erfahrungswissens und seiner Sozialisierung in Vergemeinschaftungsprozessen, in denen mit der Wissenskonstitution zugleich Identitätszuschreibungen, Bewertungen und Normorientierungen ausgehandelt werden. Erklärungen, Begründungen, Rechtfertigungen und Entschuldigungen sind weitere deskriptive Praktiken (Scott/Lyman 1968; Heritage 1984), die spezialisiert darauf sind, ein Verstehensdefizit bzw. Strittigkeit zu bearbeiten. Folglich kommen sie v. a. in konfliktären oder rituell korrigierenden Handlungen vor. Es handelt sich hier um Formen des mündlichen Argumentierens (Deppermann 2003). Sie sind oft fragmentarisch (enthymematisch) und asyndetisch, machen Gebrauch von spezifisch mündlichen Formen der sprachlichen Anzeige argumentativer Relationen (z. B. Evidenz von aufgrund von geteiltem Wissen anzeigenden Modalpartikeln wie ja, Reineke 2016) und folgen speziellen, funktional motivierten sequenziellen Ordnungsprinzipien, wie z. B. der Nachstellung von kausal-begründenden Adverbialphrasen als Reaktion auf disaffiliative oder ausbleibende Reaktionen des Gesprächspartners (Ford 1993). Sie haben Reparaturcharakter und dienen der Wiederherstellung von gestörter Intersubjektivität (Jackson/Jacobs 1980). Dies geschieht durch die Kommunikation von Wissenselementen, die geeignet sind, Strittiges durch kollektiv Geltendes zu klären (Klein 1980) bzw. rituelle Verletzungen oder moralische Vergehen durch die Erläuterung von entschuldigenden Umständen oder legitimierenden Motiven zu heilen (Goffman 1971). Eine wichtige Rolle innerhalb der unterschiedlichsten Gattungen der Wissensvermittlung spielen Veranschaulichungsverfahren (Brünner/Gülich 2002; Birkner/Ehmer 2013) wie Metaphern, Vergleiche, Beispiele und leibliche Enaktierungen. Die genannten kommunikativen Gattungen der Wissensvermittlung gehören zum Basisbestand interaktiver Praktiken der okzidentalen und auch vieler anderer
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Kulturen (siehe aber Duranti/Ochs/Schieffelin 2011). Sie bilden den Grundstock alltagsweltlicher Wissenskonstitution und -vermittlung. Sie werden naturwüchsig in der Primärsozialisation erworben und bedürfen keiner formellen Unterweisung. Darüber hinaus gibt es institutionell spezialisierte kommunikative Gattungen, die auf den primären Alltagsgattungen aufbauen und sie in je spezifischer Weise ausgestalten. Zu nennen sind hier zu allererst die Gattungen der Unterrichtskommunikation, d. h. des geplanten Instruierens in Lehr-Lern-Prozessen (Becker-Mrotzek/ Vogt 2009) in der Schule (siehe Kilian in diesem Band) und in der Aus- und Weiterbildung (siehe Brünner 2005 und Efing in diesem Band). Auch schon alltagsweltlich angelegt ist die institutionelle Gattung der Prüfung (Meer 1998). Sie dient zum einen der Wissensprüfung und -stabilisierung, zum anderen ist sie verfahrensgeregelte Grundlage für die gesellschaftlichen Zwecke der Allokation (von Status) und der Selektion (von sozialkategorialer und organisationaler Mitgliedschaft und von Karrierechancen).
4 Voraussetzung und Herstellung von geteiltem Wissen in der Interaktion: recipient design und grounding Interaktive Verständigung erfordert die Herstellung eines common ground, d. h. eines geteilten Wissens der Interaktionspartner. Dieser common ground wird im Verlauf der Interaktion permanent aktualisiert. Er ist somit Produkt der bisherigen Interaktion und Voraussetzung für anschließende Interaktionshandlungen. In diesem Abschnitt wird zunächst besprochen, in welcher Weise Annahmen über den bereits bestehenden common ground in die Gestaltung von Interaktionsbeiträgen eingehen (recipient design). Anschließend stellen wir dar, wie common ground im Interaktionsverlauf etabliert und angezeigt wird (grounding).
4.1 Recipient design (Adressatenzuschnitt) Wenn wir einen Gesprächsbeitrag produzieren, müssen wir unweigerlich Annahmen darüber machen, welches Wissen über die Referenten und Sachverhalte, auf die sich der zu produzierende Turn bezieht, unsere Gesprächspartner bereits haben. Annahmen über das Partnerwissen sind für die Turngestaltung entscheidend, weil von ihnen abhängt, welche Ausdrücke und Formulierungen wir benutzen können, um einen Beitrag zu produzieren, der einerseits hinreichend explizit und somit verständlich, andererseits aber auch nicht zu redundant mit Blick auf das schon bestehende Wissen des Partners ist. Diesen beiden Aufgaben, die in etwa der Erfüllung der beiden Grice’schen Quantitätsmaximen entsprechen (Grice 1975), dient das sog. recipient design. Sacks/Schegloff/Jefferson definieren wie folgt:
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By ‘recipient design’ we refer to a multitude of respects in which the talk by a party in a conversation is constructed or designed in ways which display an orientation and sensitivity to the particular other(s) who are co-participants. (Sacks/Schegloff/Jefferson 1974, 727)
Recipient design betrifft fast immer epistemische Fragen, zusätzlich aber auch nicht-epistemische Aspekte der Beziehungskonstitution (z. B. sozialen Status, Signalisierung von Nähe und Distanz, vermutete Interessen, Ziele und Befindlichkeit des Adressaten usw.). Sofern es um epistemische Voraussetzungen für die Produktion von Gesprächsbeiträgen geht, beruht recipient design auf einer theory of mind (Perner 1999) bzw. einem Partnermodell (Schober/Brennan 2003), die der Sprecher in Bezug auf seine Gesprächspartner hat. Dieses Modell ist also metakognitiv: Es umfasst Annahmen darüber, über welches Wissen der Adressat verfügt. Ein für die Kommunikation entscheidender Teil sind Annahmen über den common ground, d. h. über das Wissen, das der Adressat mit dem Sprecher teilt und damit präsupponierbarer Ausgangspunkt für die Turnproduktion ist (Clark 1992; Isaacs/Clark 1987; Stalnaker 2002). Der common ground ist reflexiv: Für Bestände des common ground gilt nicht nur, dass Sprecher und Adressaten der gleiche Wissensbestand bekannt ist, sondern zusätzlich, dass sie dies auch voneinander wissen. Aber natürlich ist dieses Partnermodell perspektivisch und fehlbar: Es repräsentiert ja nicht den realen Partner, sondern den Partner, wie der Sprecher ihn sieht. Daher ist auch das recipient design eines Turns nicht durch die Eigenschaften der faktischen Rezipienten zu erklären, sondern nur durch die Eigenschaften, die der Sprecher denjenigen Adressaten zuschreibt, die er als Rezipienten in Rechnung stellt (vgl. Deppermann/ Blühdorn 2013). Zudem ist umstritten, ob Gesprächsteilnehmer immer oder nur unter besonderen Umständen Wissen über Eigenschaften, in denen sich der Gesprächspartner von einem selbst unterscheidet, bei ihrer Äußerungsproduktion in Rechnung stellen. Während Schober/Brennan (2003) und Brennan/Galati/ Kuhlen (2010) postulieren, dass Sprecher grundsätzlich partnerbezogen handeln, meint Keysar (2008), dass Sprecher ihre Beiträge zunächst egozentrisch gestalten und nur unter besonderen Umständen, wie nach kommunikativen Misserfolgen, spezifisches Wissen über den Partner als Reparatur berücksichtigen. Sprecher erwarten z. B. von Adressaten häufig bestimmte Reaktionen, die erfordern, dass die Adressaten über das gleiche Wissen wie sie selbst verfügen. Trifft diese Unterstellung nicht zu und berücksichtigt der Sprecher in seiner Turn-Gestaltung nicht angemessen den diskrepanten Wissensstand des Adressaten, kann es zu einem Zusammenbruch der interaktiven Kooperation kommen, da der Rezipient Handlungserwartungen und Pläne des Sprechers nicht mehr rekonstruieren kann (Deppermann 2015b). Schuldzuschreibungen und persönliche Abwertungen können weitere Folgen sein. Das recipient design eines Turns selbst ist keine kognitive Größe, sondern eine Eigenschaft der sprachlichen Gestaltung. Es baut auf der im Partnermodell enthaltenen Wissensunterstellung auf, d. h. es expliziert sie in der Regel nicht, sondern benutzt sie als Präsupposition. Die am besten untersuchten Praktiken des recipient
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design sind die Wahl von Ausdrücken zur Personenreferenz (Sacks/Schegloff 1979; Schegloff 1996a) und zur Ortsreferenz (Schegloff 1972; Isaacs/Clark 1987) in Abhängigkeit davon, welches Wissen der Sprecher dem Adressaten über die betreffenden Referenten zuschreibt. Clark (1996) diskutiert, wie das Wissen um die geteilte Mitgliedschaft in sozialen Gruppen unterschiedlicher Art und Granularität Voraussetzungen für den Gebrauch bestimmter lexikalischer Formen mit bestimmten Gesprächspartnern schafft. Sacks/Schegloff (1979) stellten zwei Präferenzen für die Wahl referierender Ausdrücke fest: Die primäre Präferenz besteht in der Wahl von recognitionals, d. h. Ausdrücken, die dem Adressaten eine eindeutige Identifizierung des gemeinten Referenten erlauben; die sekundäre Präferenz besteht in minimization, d. h. der Wahl möglichst ökonomischer Referenzformen. Zusammen genommen erklären diese beiden Prinzipien bspw., warum Namen (Peter Auer) gegenüber Kategorisierungen (der bekannte Freiburger Soziolinguist) und diese wiederum gegenüber Beschreibungen (der Mann, der „Sprachliche Interaktion“ geschrieben hat) präferiert werden, wenn die sparsameren Referenzformen für den Rezipienten zur Referentenidentifikation ausreichen. Wir sehen dies in Ausschnitt #2, in dem die Erzählerin schildert, wie sie sich beim Angriff auf Dresden in einem Pissoir versteckte. #2 Biographisches Interview Bombenangriff Dresden 1945 .hh wir sind RAUSgerannt, 01 EZ: und um die ecke war der FRIEdhof, 02 und da war ein- (–) 03 .hh das nannte man früher pissoI:R- (–) → 04 da' (.) die' (.) bei den franzosen gibt_s diese- (.) → 05 diese- (.) klos wo die männer-= → 06 =die haben da hin ge[macht] da wurde keine- (.) → 07 [mhm. ] 08 IN: war keine [wAsserspü]lung, → 09 EZ: [mhm. ] mhm. (.) 10 IN: Die Erzählerin bricht zunächst die mit dem Artikel „ein“ begonnene referenzielle Nominalphrase ab (Segment S03), führt dann den Ausdruck „pissoir“ mit einem hedge („das nannte man früher“) ein, der anzeigt, dass sie nicht davon ausgeht, dass die Studentin, die sie interviewt, diesen Begriff kennt (S04), und beschreibt dann das Referenzobjekt (S05–S09). Die Erzählerin orientiert sich also in den drei aufeinander folgenden Referenzen daran, die zunächst gewählte, minimalere Form „pissoir“, die aber von der Zuhörerin nicht ratifiziert wird, durch eine explizitere Referenz zu ersetzen, die die Identifikation des Referenten auf Basis des Vorwissens der Zuhörerin ermöglicht (vgl. Heritage 2007, 260 f.). Während die genannten Untersuchungen zeigen, wie recipient design auf interaktionsvorgängigen Annahmen über Adressatenwissen und auf der sozialen Kategorienzugehörigkeit von Sprecher und Adressat beruht, zeigen Maynard (1991) und
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Deppermann/Schmitt (2009a), wie Interaktionsteilnehmer zunächst das Wissen des Adressaten elizitieren bzw. testen, um dann das recipient design ihrer anschließenden Informationsvermittlung bzw. Belehrung an das Wissen des Adressaten, das im Test offenbar geworden ist, anzupassen. Der Prüfung des Vorwissens des Adressaten und damit der Feststellung, ob eine Geschichte erzählwürdig (tellable) ist, dienen auch Präsequenzen von Erzählungen (weißt Du schon das Neuste von X?, Terasaki 2004), mit denen der Erzähler die Lizenz zum Erzählen absichert. Die Anpassung des recipient design an den in der bisherigen Interaktion aufgebauten common ground zeigt sich auch an der Informationsstrukturierung (Proske 2013). Auf bereits im Diskurs eingeführte Referenten (given information), visuell in der Sprechsituation zugängliche Information und aus dem bisherigen Diskursverlauf erschließbare Referenten (inferrable information) wird pronominal bzw. mit definiter Nominalphrase Bezug genommen, während unbekannte und nicht erschließbare Referenten mit indefiniter Nominalphrase eingeführt werden (Clark/ Marshall 1981). Ariel (1990, 2008) postuliert eine referential marking scale. Danach sind Typen referenzieller Ausdrücke in einer accessibility hierarchy geordnet: Je kognitiv salienter bzw. zugänglicher (accessible) der Referent für den Hörer im aktuellen Diskursmoment ist, desto morphologisch einfachere und informationsärmere sprachliche Formen (wie Pronomina oder Elisionen) können zur Verständigung gewählt werden. Für die Wahl referenzieller Formen ist also nicht nur das Wissen des Adressaten, sondern genauso die Einschätzung, wie leicht dieses Wissen im gegenwärtigen Diskursmoment aktivierbar ist, ausschlaggebend. Allerdings kann auch eine bekannte Information im Fokus präsentiert werden, wenn nämlich ihre besondere Relevanz, etwa im Kontrast zu anderen Aussagen oder um Inferenzen anzuregen, hervorgehoben werden soll. Bei der Präsuppositionsakkomodation (Lewis 1979) dagegen wird erst aus der Äußerung selbst das Vorliegen eines präsupponierten Sachverhaltes erschließbar; so können also auch neue Informationen in der Interaktion qua Präsupposition eingeführt werden (Edwards 2004). Sie werden somit implizit kommuniziert, ohne dass sie dem Partner schon vorher bekannt gewesen sein müssten. Ausschnitt #3 zeigt einen Fall, in dem eine erschlossene Präsupposition vom Rezipienten anschließend expliziert wird. #3 Arzt-Patient-Gespräch IA_01_00:00–00:20 01 A: TAG (.) = 02 P: =GUten tag doktor; 03 ich bin nämlich ↑SO erKÄ:Ltet; 04 (–) ich [werd ] de erKÄLtung gar net los:; 05 A: [hmJA,] 06
07 P: VIERzehn TA:che;= 08 = 09 A: [hmJA;]
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A: P: A: P:
15 A: → 16 A:
(---) QUÄLT sie schon RICHtig; JA (1.2) m:HM, (---) HUStentee getrunken und [ALles] abber; (–) [mhm; ] was haben sie denn AUßer husten NOCH für beschwerden-
Die Darstellung der Patientin, dass sie Hustentee getrunken habe (S14), impliziert für den Arzt als pragmatische Präsupposition, dass die „erkältung“, die die Patientin in S03 f. als Grund des Besuchs genannt hatte, auf jeden Fall Husten beinhalten müsse (S16). Recipient design besteht nicht nur darin, auf den (vermeintlichen) Annahmen des Partners aufzubauen. Es können auch bestimmte, dem Partner zugeschriebene Annahmen explizit in ihrer Gültigkeit negiert und so aus dem common ground ausgeschlossen werden, um unerwünschte Interpretationen des eigenen Turns, die aus dem vermeintlichen Partnerwissen entstehen könnten, zu vermeiden (Deppermann/Blühdorn 2013). In Ausschnitt #4 aus einer Talkshow vom Ende der 1980er Jahre, in der es um die Situation der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland geht, vertritt Sprecher D1 die Position, „unsere landsleute hinter der mauer“ (die DDR-Bürger) würden von den Westdeutschen vergessen und seien die „alleinigen verlierer“ des Zweiten Weltkriegs. Seine Behauptung löst empörte Reaktionen im Publikum aus. D1 bekräftigt nochmals seine Position, erklärt dann aber, dass er die Rechte der „asylanten oder gastarbeiter“ nicht beschneiden wolle. #4 Gespräche im Fernsehen 4050.61 Ausländer, 14:21–14:50 (Talkshow) 518 D1: ich FINde- (.) (da) egoIStisches dAran in der bundesrepublik, (.) 519 dass ma hier mit sEchzich millionen mEnschen in 520 einemdErartigen wohlstand (.) LE:BT- (.) 521 dass man die:522 unsere landsleute hinter der mauer verGISST, 523 sie praktisch die alLEInigen verlierer 524 des zweiten weltkrieges [sInd. (.) und] [((empörte Zwischenrufe))] 525 PU: 526 D1: 527 D2: (0.4) mhm,= 528 D1: =ja: ich hab_s erLEBT, (0.5) 529 → 531 D1: und ich (.) möchte ja auch die ganzen (.)
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→ → 532 533 D1:
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anderen rechte nicht beSCHNEIden die hier (.) für (0.2) asylAnten oder (0.3) gAstarbeiter hErrschen. (0.5) ich möchte aber: (0.2) dass dOrt die prioritäten entsprechend geSETZT werden.
In S531 negiert D1 präventiv eine Schlussfolgerung, die das Publikum aus seinem Plädoyer dafür, dass der Einsatz für die Ostdeutschen Priorität habe, in Bezug auf den Kontext der Diskussion über Ausländer in der Bundesrepublik gezogen haben könnte, nämlich dass dies auf Kosten der Ausländer gehen solle. Die Negation dient dazu, das gewünschte Verständnis der eigenen Handlung sicherzustellen, indem beim Partner vermutete Annahmen aus dem common ground ausgeschlossen werden. Empirisch besonders deutlich wird die Relevanz des recipient design in Mehrpersonen-Interaktionen. Sprecher zeigen hier durch Code-Wahl, unterschiedliche Grade der Explizitheit, Reformulierungen und Gestik an, wer jeweils der primäre Adressat einer Äußerung und wer ggfs. für den Inhalt der Äußerung verantwortlich ist (z. B. Hitzler 2013 zu Hilfeplangesprächen von Sozialarbeitern mit Familien; Hutchby 1995 zum recipient design von Moderatoren in Phone-In-Gesprächen gegenüber Anrufern vs. fürs Radiopublikum; Mondada 2015 zu Bürgerversammlungen). Annahmen über unterschiedliche Wissensbestände von Adressaten können von Sprechern in Mehrpersonenkonstellationen benutzt werden, um Äußerungen so zu konstruieren, dass sie nur für einen Teil der Rezipienten verständlich sind, während andere Anwesende sie nicht verstehen oder gar vorhersehbar falsch interpretieren werden (Clark/Schaefer 1987). Dazu geeignete Verfahren des recipient design sind z. B. Anspielungen, der Verweis auf nur mit bestimmten Anwesenden geteilte Erfahrungen, Vagheit, polyseme Ausdrücke, Ironie, der Gebrauch von Abkürzungen sowie Gruppen- und Fachsprachen. Viele ästhetische und moralische Kommunikationspraktiken setzen für ihre besondere Funktionsweise ein bestimmtes Adressatenwissen voraus. Ironie (Hartung 2002), Fiktionalisierungen (Kotthoff 2009), rituelle Beschimpfungen (Labov 1972) und Absurditätsargumente (Deppermann 1997, 161–165) gewinnen beispielsweise ihre komischen, entlarvenden oder argumentativ-evaluativen Effekte erst daraus, dass die manifest realisierte sprachliche Äußerung dem präsupponierten Wissen des Adressaten über wahre Sachverhalte widerspricht.
4.2 Grounding (Verständigungssicherung) Verständigung im Gespräch ist ein Prozess der Herstellung geteilten Wissens. Geteiltes Wissen bedeutet keineswegs, wie oft angenommen, dass die Gesprächsteilnehmer zu identischen Interpretationen des Diskursverlaufs gelangen. Abgesehen davon, dass dies aufgrund der Intransparenz des Mentalen gar nicht festzustellen ist, wäre dies ein viel zu starkes Kriterium für Verständigung (Schneider 2004).
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Diese erfordert nämlich lediglich Geteiltheit for all practial purposes (Schütz/Luckmann 1975), d. h. eine Geteiltheit, die hinreichend ist für erfolgreiche anschließende Kooperation. In der Herstellung von gemeinsam geteiltem Wissen besteht der Kern der praktischen Herstellung von Intersubjektivität im Interaktionsprozess. Dazu reicht es nicht aus, dass ein Sprecher eine Äußerung mit einer bestimmten Bedeutungsintention produziert und ein Rezipient diese gehört hat. Die Herstellung intersubjektiv geteilter Bedeutungen beruht auf einem sequenziellen Prozess des grounding (Clark/Brennan 1991), der aus minimal drei aufeinander folgenden Sequenzpositionen besteht: 1. A muss einen Gesprächsbeitrag mit einem recipient design konstruieren, das dafür sorgt, dass der Beitrag für B im gegebenen Kontext vermutlich wie intendiert verständlich ist; 2. B muss dokumentieren, wie er A verstanden hat; 3. A muss anzeigen, ob er sich durch B hinreichend verstanden fühlt, und, wenn nicht, eine Reparatur anbringen (Schegloff 1992; Deppermann 2008, 2015a; Sidnell 2014). Grounding ist also ein Prozess wechselseitiger Verstehensdokumentationen (Deppermann 2008, 2015a; Deppermann/Schmitt 2009b), mit denen das für das aktuelle joint project relevante und gültige intersubjektive Verständnis angezeigt und ausgehandelt wird. Grounding von geteiltem Wissen erfolgt oftmals en passant, ohne dass Aktivitäten nötig sind, die eigens darauf spezialisiert sind, Prozesse des grounding anzuzeigen. Wenn nämlich B in der zweiten Sequenzposition die von A aufgrund seiner Handlung in erster Position erwartete Handlung vollzieht (z. B. eine Frage hinreichend informativ beantwortet), dann dokumentiert die Erfüllung der von A gestifteten Projektionen gemeinsamen Handelns hinreichend den Erfolg der Verständigung und es ist keine eigens auf Verständigungssicherung spezialisierte Aktivität nötig (Schegloff 2007, 1–21). Alle Sprachen, und so auch das Deutsche, stellen jedoch eine „Grammatik des Verstehens“ (Deppermann 2013, 2015a) bereit, d. h. spezielle sprachliche Verfahren der Verstehensdokumentation. Mit ihnen wird angezeigt, ob etwas verstanden oder nur gehört wurde, wie es verstanden wurde, ob es dem schon bestehenden Verständnis oder den Verstehenserwartungen entspricht, wie sicher sich der Sprecher seines Verständnisses ist etc. Zu diesen Verfahren gehören verbale und nonverbale Rückmeldeaktivitäten wie die verschiedenen Varianten von hm (Ehlich 1986; Schmidt 2001), die teils nur die Wahrnehmung des Gesagten und nicht unbedingt sein Verständnis behaupten (vgl. Sacks 1992, 248 ff. zum Unterschied von claiming vs. demonstrating understanding). Teilweise indizieren sie spezifischere Verstehensleistungen, wie z. B. das Quittieren einer neuen Information durch ah und ach oder die Erkenntnisprozessmarker (change-of-state tokens) aha, ach so, ach ja im Deutschen (Betz/Golato 2008; Golato/Betz 2008; Imo 2009) oder oh im Englischen (Heritage 1984), die anzeigen, dass der Sprecher nun etwas verstanden hat, was zuvor nicht bzw. anders verstanden wurde. Explizit wird Verste-
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hen oder Nichtverstehen durch Konstruktionen mit mentalen Verben wie meinen oder verstehen (Deppermann/Elstermann 2008; Deppermann/Schmitt 2009b) und durch Reformulierungen von Partneräußerungen (Heritage/Watson 1979; Deppermann 2011) angezeigt. Durch verschiedene Konjunktionen wie also, das heißt, dann werden unterschiedliche Grade von Intersubjektivität des reformulierten Verständnisses zum Ausdruck gebracht (Deppermann/Helmer 2013). Wiederholungen können sehr vielfältige Funktionen im Kontext des grounding haben (siehe auch Abschnitt 6): sie können als Echofragen in zweiter Position zur Reparaturinitiierung bei Verständnisproblemen (Selting 1987; Rost-Roth 2006) benutzt werden; mit ihnen kann angezeigt werden, dass neue Information quittiert wird, aber noch nicht verstanden wurde; in dritter Position können sie zur Bestätigung, dass die Interpretation des Partners zutreffend ist, eingesetzt werden, vor allem nach vorangegangenen Verständigungsproblemen oder Anspielungen (Schegloff 1996b). Die dritte Position ist gleichzeitig die Position, an der eine Reparatur relevant wird, falls A sich nicht ausreichend verstanden fühlt (Hinnenkamp 1998). Sie ist „the last structurally provided defence of intersubjectivity in conversation“ (Schegloff 1992), da nur hier die Möglichkeit besteht, ein Verständnis, das nicht als Teil des common ground akzeptiert wird, unmittelbar am Ort seiner ersten Manifestation auszuschließen, ohne dass es schon weitere interaktive Folgen gezeitigt hat und erst durch Rekontextualisierung wieder aktualisiert werden muss.
5 Epistemischer Status von Interagierenden Wissen ist nicht gleich verteilt in Interaktionen. Wissensasymmetrien sind eine wesentliche Determinante sozialer Beziehungen (Linell/Luckmann 1991). Sie sind konstitutiv für Rollenrelationen wie ‚Experte-Novize‘ oder ‚Lehrer-Schüler‘. Ihre Bearbeitung ist die raison d’être bestimmter Interaktionstypen wie Verhör, Bewerbungsgespräch, Beichte, Instruktion etc. Sie tragen zum sozialen Prestige und umgekehrt zur Gefährdung der sozialen Positionen von Interaktanten bei. Bestimmte Wissensbestände sind normativ mit sozialen Kategorien assoziiert und werden von ihren Mitgliedern verbindlich erwartet (Stivers/Mondada/Steensig 2011a). Die Anzeige und Thematisierung von Wissen in der Interaktion dient oftmals nicht der Wissensvermittlung. Sie ist vielmehr ein Mittel des praktischen Handelns, da über die Beanspruchung, Zuschreibung und Unterstellung von Wissen praktische Handlungen wie Vorwürfe, Rechtfertigungen oder Bewertungen vollzogen bzw. abgesichert werden (Deppermann 1997, 155–165; Edwards 2004). Anzeige und Aushandlung von Wissen sind somit eng mit der Selbst- und Fremdpositionierung der Interagierenden und der Konstitution sozialer Beziehungen verknüpft. Stivers/Mondada/Steensig (2011a) nennen drei Dimensionen, hinsichtlich derer der Status von Interaktanten in Bezug auf Wissen im Gespräch zum Ausdruck gebracht und verhandelt wird (siehe auch Heritage 2013a, 376 f.):
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den Zugang (access) zu Wissen, d. h. wer was mit welcher Gewissheit und Wahrscheinlichkeit weiß und wissen darf, die relative Vorrangigkeit (priority) des Wissens einer Person gegenüber einer anderen, d. h. wer etwas besser weiß, wer als erster erzählen, endgültig beurteilen oder Prüfkriterien für Wissen festlegen darf, die Verantwortlichkeit (responsibility) für bestimmtes Wissen, d. h. worüber jemand Bescheid wissen sollte, worüber er Auskunft geben können sollte, welche Tests er bestehen sollte.
Der epistemic status (Heritage 2012, 2013a, 377 f.) einer Person ist, abgesehen von dem Wissen, welches durch Prozesse des intersubjektiven grounding erst in der Interaktion selbst konstituiert wird (vgl. Abschnitt 4.2), vor allem an die sozialen Rollen, die eine Person in der Interaktion einnimmt bzw. in Bezug auf die sie in ihr beurteilt wird, sowie ihre biographischen Erfahrungen und erworbenen Kenntnisse geknüpft. Aus dem epistemic status ergeben sich epistemische Rechte und Pflichten, deren interaktive Relevanz allerdings durch das Verhältnis zwischen den Interaktionsbeteiligten moduliert ist. So können z. B. Großeltern größere epistemische Priorität beanspruchen, wenn es um die Bewertung von Aktivitäten ihrer Enkel geht, wenn sie mit entfernteren Verwandten oder Freunden der Familie sprechen, als wenn sie mit den Eltern der Kinder kommunizieren (Raymond/Heritage 2006). Labov/Fanshel (1977, 100) unterscheiden zwischen folgenden epistemischen Status, die Interaktionsbeteiligte hinsichtlich eines Ereignisses oder Sachverhalts einnehmen können: – Bei einem A-event handelt es sich um etwas, für das der Sprecher die epistemische Autorität beanspruchen kann. Dies ist dann der Fall, wenn er „primary access to a targeted element of knowledge or information“ (Heritage 2012, 4) hat. Dies betrifft eigenbiographische Erfahrungen, Gefühle und Wissensbestände aus dem Bereich seiner prioritären (z. B. fachlichen oder Hobby-)Expertise. – Bei B-events gilt das entsprechende für den Adressaten, d. h. der Sprecher hat hier einen geringeren epistemischen Status. – Bei AB- bzw. O-events können beide bzw. alle Beteiligten gleiche Ansprüche auf Wissen anmelden, da sie über eine vergleichbare Wissensbasis bzw. sozialkategorial abgesicherte gleiche epistemische Rechte verfügen. – D-events sind Sachverhalte, über die die Interaktionspartner bekanntermaßen im Dissens liegen. Generell ist die epistemische Autorität für selbstgemachte Erfahrungen höher als für Erfahrungen aus zweiter Hand (vom Hörensagen, aus den Medien etc.). Pomerantz (1980) bezeichnet diese beiden Formen als „type-1“ vs. „type-2 knowables“. Dies geht wohl auf Russell (1910/1911) zurück, der zwischen „knowledge by acquaintance“ and „knowledge by description“ unterscheidet. Wie bereits angesprochen, ist für die interaktive Verhandlung von Wissen nicht der absolute, sondern der relative epistemische Status entscheidend: Die Gesprächsteilnehmer können zu-
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einander die epistemisch höhere (prioritäre) Position (K+, knowledge+) oder die inferiore Position (K-, knowledge-) einnehmen (Heritage 2012, 4, 2013b, 559). Wiewohl mit sozialer Kategorienzugehörigkeit bestimmte Wissensbestände und somit Ansprüche auf epistemischen Status assoziiert sind, ist damit doch keineswegs stabil festgelegt, welchen relativen epistemischen Status ein Teilnehmer im Verhältnis zu seinen Partnern im Verlauf einer Interaktion einnimmt. Vielmehr können epistemische Status zum Gegenstand von Bestreiten und situierter Aushandlung werden (Mondada 2013). Abgesehen von Wissensrechten und -pflichten, die durch die Zugehörigkeit zu sozialen Kategorien konstituiert sind, gilt in den westlichen Gesellschaften grundsätzlich, dass voll sozialisierte Subjekte als nicht kritisierbare Experten für ihre eigenen mentalen und emotionalen Zustände (z. B. Intentionen, Erwartungen, Empfindungen) behandelt werden. Dies beruht auf der westlichen Konzeption des Mentalen, nach dem dieses nur dem Subjekt selbst durch Introspektion und unmittelbare Selbsterfahrung unmittelbar zugänglich ist, nicht aber anderen Personen (vgl. Abschnitt 1). Ausnahmen betreffen Personengruppen, die entweder aufgrund eingeschränkter Introspektions- und Interpretationskompetenz als (noch) nicht voll sozialisierte Subjekte gelten (Kinder, Verrückte) oder aber temporär in dieser Fähigkeit eingeschränkt sind (Hypnotisierte, Alkoholisierte, Patienten mit bestimmten Formen psychischer Erkrankung etc.): „Outside of very specialized contexts such as psychoanalysis, the thoughts, experiences, hopes, and expectations of individuals are treated as theirs to know and describe.“ (Heritage 2012, 6) Folglich stellt das Absprechen der Glaubwürdigkeit von Selbstauskünften und damit der Wissensautorität des Subjekts für sich selbst eine schwerwiegende Degradierung und Bedrohung des Status als kompetentes und respektiertes Gesellschaftsmitglied dar (Deppermann 1998). Wissen wird also von Interaktionsteilnehmern nicht einfach nur als epistemische, kognitive Größe behandelt, sondern ebenso als moralische Größe (Stivers/ Mondada/Steensig 2011). Die Inanspruchnahme und Zuschreibung von Wissen ist unmittelbar folgenreich für die Position der Beteiligten in der Interaktion, für die Erwartungen, die an sie gestellt werden, die soziale Anerkennung, die ihnen zukommt, und für ihre Rechte und Pflichten der Interaktionsbeteiligung.
6 Epistemic stance (Wissensanzeige und -zuschreibung) Während der epistemische Status eine soziale Zuschreibung an Interaktionsbeteiligte darstellt, die der Interaktion vorausgesetzt ist, bezeichnet epistemic stance die Haltung, die ein Interaktionsteilnehmer mit seinem Turn in Bezug auf einen bestimmten Wissensgegenstand einnimmt (vgl. Biber/Finegan 1989; Kärkkäinen 2003). Epistemic stance wird also mit bestimmten sprachlichen Praktiken der Wissenskommunikation zum Ausdruck gebracht. Mit sprachlichen Formen (wie Modal-
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oder Rückmeldepartikeln) kann beansprucht werden, dass der Sprecher über einen bestimmten Wissensbestand (nicht) verfügt, ohne dass dieser expliziert wird; oder aber die sprachliche Äußerung macht selbst mehr oder weniger explizit, über welches Wissen der Sprecher (nicht) verfügt. Der epistemische Status der Beteiligten ist dabei ausschlaggebend sowohl für die Wahl als auch für die Interpretation vieler sprachlicher Praktiken der Kommunikation von Wissen. Epistemic stance wird in der Interaktion mit vielfältigen sprachlichen Mitteln angezeigt. Eine wesentliche Dimension des epistemic stance ist die Anzeige des Grades der Gewissheit einer Aussage. Für das Deutsche besonders distinktiv ist hier die Verwendung von Modalpartikeln. Die Modalpartikeln halt, ja und eben zeigen an, dass der Sprecher unterstellt, dass eine Aussage geteiltes Wissen wiedergibt bzw. aufgrund von geteiltem Kontextwissen fraglos evident ist (Weydt 1969, 36 f.; Hentschel 1986). Reineke (2016) zeigt, dass die Verwendung von ja in Handlungen in erster Sequenzposition, wenn ein Sachverhalt erstmals im Gespräch angesprochen wird, anzeigt, dass der Sprecher keinen prioritären Wissensanspruch erhebt. Dagegen weist die Verwendung in zweiter Position, also in Reaktion auf eine Aussage des vorangehenden Sprechers, einen prioritären Wissensanspruch des Produzenten des erstpositionierten Turns zurück und zeigt an, dass dem Sprecher der Wissensinhalt schon vorher bekannt gewesen sei. Ein Beispiel für die Markierung des Verzichts auf epistemische Autorität sehen wir in #5. In einer Hochschulprüfung bezieht sich der Prüfling auf Veröffentlichungen der Prüferin. Mit der Modalpartikel „ja“ (S04) zeigt er an, dass er nicht beansprucht, ihr damit etwas Neues zu sagen, sondern sich nur auf geteiltes Wissen zu beziehen. #5 FOLK_PRÜF_01_A01_13.01–13–15 (Universitäres Prüfungsgespräch) 01 DM: °hh un dass man sO ne sachen halt extra mit thematisIERt. und EIGentlich02 (.) also das FINdet man03 (.)> → 04 (.) bei taritaRA; 05 oder phoNEtik komprimiert, 06 07 JS: (.) hmfindet man solche EXtra08 09 DM: (.) EBenen natürlich unterteilt;= =also wo die ASSimilatiOn ne rolle [spielt-] 10 [hm_HM, ] 11 JS: Im Ausschnitt #6 aus dem gleichen Prüfungsgespräch stellt Prüfling DM Schritte der Sprachverarbeitung dar. Die Prüferin ergänzt fast zeitgleich mit dem Prüfling den Begriff „rückkopplungen“ (S08–09). In Reaktion darauf zeigt der Prüfling, dass ihm die Relevanz von „rückkopplungen“ schon unabhängig von der Ergänzung der Prüferin bekannt war.
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#6 FOLK_PRÜF_01_A01_02.19–02.55 (Universitäres Prüfungsgespräch) 01 DM: also erst hat man die phonoLOGISCHE(0.2) rePRÄsentation, 02 un_dann gehts zur (0.42) seMANtischen-= 03 =nee erst zur synTAKtischen 04 un dann zur [seMANtischen.] [hm_HM, ] 05 JS: 06 JS: [hm_HM, ] 07 DM: [und dass] DAzwischen im prinzip dinge laufen können-= =und auch RÜCKkopp[lungen. ] 08 [und auch rück]KOPPlung. °h 09 JS: 10 DM: und auch RÜCkkopp[lungen]. [hm_Hm,] 11 JS: 12 DM: geNAU.= =das is ja der PUNKT eigentlich hauptsächlich → 13 bei den interaktiven modEllen; dass diese RÜCKkopplungen funktionieren14 Mit Wortwiederholung (S10), Bestätigungspartikel „genau“ (S12) und der Anzeige von Evidenz durch die Modalpartikel „ja“ (S13) macht der Prüfling seinen Anspruch auf epistemische Unabhängigkeit nachdrücklich deutlich. Doch in oppositiven oder in negativ bewertenden Ausrufen verweist ebenfalls auf geteiltes Wissen, aus dem sich die negative Bewertung und der erwartungswidersprechende Charakter der (vorangegangenen) Aussage bzw. des Sachverhalts ergibt, auf den der Sprecher Bezug nimmt (Diewald 2006). Denn in Fragen zeigt dagegen an, dass der Sprecher vom Adressaten erwartet, dass dieser weiß, dass er die Verpflichtung hat, eine Antwort zu liefern, und diese (im Fall einer Folgefrage) schon auf die erste Frage hin hätte liefern sollen (Deppermann 2009). Die Modalpartikeln wohl (unbetont, in Aussagesätzen; Weydt 1969) und im süddeutschen Sprachraum glaub (Imo 2011; Knöbl/Nimz 2013) sowie Satzadverbien wie vielleicht, möglicherweise, wahrscheinlich zeigen dagegen an, dass der Sprecher seiner Behauptung nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit beimisst und sich der Aussage nicht sicher ist. Dazu werden auch epistemische disclaimer wie die grammatikalisierte Formel I don’t know (Weatherall 2011; für das Deutsche: Helmer/ Deppermann/Reineke 2017; fürs Estnische: Keevallik 2011) oder (jugendsprachlich) keine ahnung eingesetzt. Als disclaimer, die bspw. einer Antwort, einem Vorschlag oder einer Kritik vorangestellt werden, sind sie nicht wörtlich zu interpretieren, d. h., mit ihnen wird nicht Nichtwissen behauptet, sondern sie zeigen an, dass der Sprecher keine Verantwortung für die Präzision und das Zutreffen seiner Aussage übernimmt. In Ausschnitt #7 macht der Vater seiner Tochter beim Monopolyspiel einen Vorschlag, welche Straßen sie verkaufen soll, schwächt dessen Verbindlichkeit aber durch ein vorangestelltes „ich weiß nich“ ab.
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#7 IDS: FOLK_E_00011_SE_01_T_06_DF_01_c46 (Eltern-Kind Monopolyspiel) ] 45 SK: [ich W]EIß nich;= → 46 VK: =verkauf doch hier diese beiden STRAßen da.= 47 =die (.) TURMstraße un DIEse,= 48 =un verKAUF se an irgend jemanden. 49 Eine andere Art der epistemischen Modalisierung ist die Anzeige der subjektiven Perspektive des Sprechers. Hierzu werden ebenfalls mentale Verben wie Engl. I think (Karkkäinen 2003, 2006) oder im Deutschen ich denk(e), ich mein(e), ich find(e), ich glaub(e) sowie Funktionsverbgefüge mit mentalen Ausdrücken wie der Meinung sein, das Gefühl/den Eindruck haben benutzt. Sie zeigen den Verzicht auf Verallgemeinerungsansprüche und häufig auch reduzierte Gewissheit an. Die Vergangenheitsform Ich dachte kann eingesetzt werden, um anzuzeigen, dass der Sprecher selbst von einem anderen Wissensstand ausging, der durch das vorangegangene Handeln des Partners in Frage gestellt bzw. als ungültig erwiesen wurde (Deppermann/Reineke 2017; für das Englische: Smith 2013). Stimmt dagegen ein Sprecher mit ich dachte einer vorangegangenen Aussage des Gesprächspartners zu, beansprucht er, die Wahrheit der Aussage auch schon vorher, unabhängig vom Partner gewusst zu haben (Deppermann/Reineke 2017). Im Deutschen ist im Unterschied zu anderen Sprachen die Kodierung von Evidenzialität, d. h. die Anzeige des Bezugs auf die Art der Wissensquelle, kaum grammatikalisiert (Aikhenvald 2004). Evidenzielle Verben im Deutschen, die anzeigen, dass eine Aussage sich auf eine Inferenz stützt, sind werden, scheinen, drohen und versprechen (Diewald/Smirnova 2010, Kap. 6; die letzteren beiden Verben sind allerdings im Mündlichen in evidenzieller Verwendung ungebräuchlich). Dass eine Aussage nur eine Vermutung ist oder auf einer Schlussfolgerung beruht, kann auch durch die epistemische Verwendung der Modalverben dürfen (im Konjunktiv II), können, mögen, müssen, sollen, werden und wollen (Skepsis über eine Behauptung Dritter ausdrückend) kommuniziert werden (Diewald 1999). Adverbien wie anscheinend oder (skeptisch) scheinbar und der Bezug auf selbst wahrgenommene vs. nur kolportierte Rede Dritter durch wortwörtlich und angeblich sind weitere lexikalische Markierungen der Evidenzialität. Die Untersuchung von expliziten Wissenszuschreibungen an den Partner mit Hilfe des Verbs wissen macht auf eine andere Facette der Moralität von Wissen aufmerksam: Mit der expliziten Zuschreibung von (geteiltem) Wissen wird die Verpflichtung verbunden, im Einklang mit diesem Wissen zu handeln (Reineke 2016). Dieser normativ-pragmatische Zusammenhang von Wissen wird rhetorisch in Vorwürfen mobilisiert, wenn festgestellt wird, dass der Adressat über ein bestimmtes Wissen verfügt, aber nicht im Einklang mit diesem Wissen handelt. Im folgenden Ausschnitt #8 aus den öffentlichen Schlichtungsgesprächen zum Bahnprojekt Stuttgart 21 formuliert ein Projektgegner eine moralisch verpflichtende Handlungs-
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implikation, die aus einer expliziten Wissenszuschreibung abgeleitet wird, explizit in S04–06: #8 IDS: Folk_SS21_01_A08_b_62.22–65.02- 62.41 (Schlichtung Stuttgart 21) 01 BP: sie waren also fest entSCHLOSsen des zu tun; 02 und ich FINde03 °hh DAS darf man auf kEInen fall. 04 °hh man DARF nicht→ 05 °hh WISsend dass ein solches chaos droht06 °hh ein solchen bahnhof BAUen, → 07 sie HAM es gewusst, 08 denn ihr eigener GUTachter hat gesagt09 die erGEBnisse; 10 die wir IHnen jetzt hier grade hier vorstellen11 °hh SIND; 12 °h SIE ham gesagt13 dies DIEse ergebnisse sind so brisant; 14 dass sie die ÖFfentlichkeit15 °h nicht erFAHren darf. Die Wissenszuschreibung dient der argumentativen Stützung des Vorwurfs, dass das Handeln des Adressaten falsch war und dass ihm dessen Unrichtigkeit selbst bewusst war. Mit der Wissenszuschreibung zeigt der Sprecher, dass er den Gegner nicht nach subjektiven Maßstäben kritisiert, sondern dass sich der Gegner nach dessen eigenen Maßstäben widersprüchlich verhält und somit Vorwurf und Kritik intersubjektiv zwingend sind. Der Gegner wird also gegen sich selbst ausgespielt. Gerade in öffentlichen Kontexten, in denen sich die Kommunikation an eine anonyme Rezipientenschaft richtet, kann die Wissenszuschreibung darüber hinaus eingesetzt werden, um (je nach kontextuell naheliegenden Hypothesen) einen mehr oder weniger diffusen Verdacht nahezulegen, aus welchen unlauteren Motiven der Adressat nicht seinem Wissen gemäß handelte, und damit den Betreffenden vor Dritten als strategisch und unglaubwürdig bloßstellen. Lexikalische Wahlen zeigen nicht nur, welches Vorwissen dem Adressaten unterstellt wird (Abschnitt 4.1), sondern auch welchen Status der Sprecher für sich selbst in Anspruch nimmt. So indiziert der affirmative, also nicht-zitative und nicht-ironische, Gebrauch von gruppenspezifischer Lexik (z. B. Jugend- und Szenesprachen, siehe dazu Sacks 1979), Fachsprache, Markennamen, Abkürzungen bzw. Akronymen, die Verwendung von Spitznamen oder Vornamen, der Code-Switch in eine andere Varietät (Fremdsprache, Dialekt, Ethnolekt) und andere Formen von an die Mitgliedschaft in bestimmten sozialen Gruppen gebundener Lexik den Anspruch, zu der sozialen Kategorie der autorisierten Benutzer des entsprechenden Wortschatzes zu gehören. Folglich wird auch beansprucht, mit den in Frage ste-
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henden Sachverhalten bzw. Personen und den mit ihnen verbundenen milieuhaften Praxisformen vertraut zu sein und über weitergehende Expertisen zu verfügen, die man von den Mitgliedern der sozialen Kategorien erwarten kann. Ausschnitt #9 zeigt, wie die Inanspruchnahme eines gruppenspezifischen Wissens und damit der entsprechenden sozialen Identität karikierend reinszeniert und negativ bewertet wird (vgl. auch Günthner 2002; Deppermann 2007). Eine Gruppe Jugendlicher spricht über ein peripheres, nicht anwesendes Gruppenmitglied (Kai) und karikiert kollaborativ durch Redewiedergaben seine Art, sich beim Basketballspiel als black American Basketballprofi zu stilisieren (über 90 % der Spieler in der amerikanischen Basketball-Profiliga NBA sind Farbige). #9 JuK Jugendherberge 20 KAI 01 M: und mit seiner arroGANten SchEIße. ((die Jugendlichen sprechen über Kais Basketballspiel)) 15 A: der HAT ä:h; 16 (.) erst n_BALL abgegrIffen, 17 (0.9) 18 A: vOrgePRELLT, 19 B: gemacht; 20 (2.2) 21 C: da hat er bestimmt so mit seiner RIEsen xxx xxx 22 B: na (LOcker/LOgo)23 A:
24 M: =oa[:::h;> ] 25 A: [isser dA-] 26 (–) isser da auf diese-= → 27 M: = → 28 = → 29 =nigga-= 30 hat der kai gemacht, 31 A: [ha ha ha ] ha ha. ] 32 F: [he he he] 33 B: [((lacht)) ] 34 C: [] 35 M: das mAcht der nämlich IMmer. 36 (0.6) → 37 M: down, → 38
→ 41 D: [] 42 (1.0)
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→ → → →
43 44 45 46
B: C: D: D:
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= =da könnt ich ihm [eine SO ]in die FREsse schlagen;= [oh jesus-] ==
Kai wird kollektiv durch language crossing (Rampton 2005) als jemand portraitiert, der durch die Aneignung einer identitätsindikativen Sprechweise, die Mitgliedern einer anderen sozialen Gruppe gehört, für sich die Kompetenzen und die Identität eines schwarzen Basketballprofis beim Vollzug der zugehörigen Spielhandlungen in Anspruch nimmt (S27–29, 37 f., 40 f., 43, 45). Die zugeschriebene Identitätsbeanspruchung wird negativ bewertet (S01, 44) und als inauthentisch kritisiert („lässig tut“, S46). Entsprechende lexikalische Wahlen sind daher ein Kontextualisierungsverfahren (Gumperz 1982), das Wissens- und Identitätsansprüche, die weit über den benutzten lexikalischen Ausdruck hinausgehen, indexikalisch zum Ausdruck bringt, ohne dass der Sprecher auf diesen Anspruch als Teil des (Mit-)Gemeinten festzulegen ist. Für die Kommunikation von Identitäts- und Wissensansprüchen kann auch der Verstoß gegen Prinzipien des kooperativen, d. h. verständigungsorientierten recipient design systematisch funktionalisiert werden. Informatorisch unnötige Überexplizitheit, d. h. die Explikation von zu präsupponierendem common ground, stellt einen Verstoß gegen die Präferenz für minimization des referenziell-explikativen Aufwands dar. Dies kann benutzt werden, um den Adressaten als unwissend und sich selbst als epistemisch überlegen zu positionieren. Umgekehrt kann der Verstoß gegen die Präferenz für recognitionals, d. h. für den Adressaten optimal verständliche Formulierungen, systematisch zur Selbstauratisierung und Beeindruckung durch unverständliche Expertise und höhersymbolische Bedeutsamkeit suggerierende Dunkelheit des Ausdrucks genutzt werden. Schenkein (1978) zeigt z. B., wie eine rätselhafte Ausdrucksweise strategisch zur interaktiven Lizensierung einer Selbstoffenbarung verwendet werden kann: die rätselhafte Formulierung veranlasst den Rezipienten zur Bitte um Aufklärung des Wissensdefizits; dies nutzt der Produzent des Rätsels zur ausführlichen Selbstdarstellung. Neben der Fremdpositionierung des Adressaten als epistemisch unterlegen erschweren Äußerungen, die nicht vorhandenes Wissen voraussetzen, zugleich die Produktion von Kritik und Nachfragen, da der Rezipient gezwungen wäre, dies um den Preis der Selbstpositionierung als Unwissender zu tun. Besondere Expertise und Gruppenmitgliedschaft indizierende lexikalische Wahlen machen also eine generellere Eigenschaft der Anzeige von epistemischem Status deutlich: Wissens- und Identitätsansprüche sind miteinander eng verknüpft und verweisen wechselseitig aufeinander. Wissenskommunikation trägt maßgeblich zur Aushandlung, Aufrechterhaltung und Herstellung sozialer Beziehungen bei – sei es, dass dies ihr primärer situierter Zweck ist (wie bei ihrer Funktionalisierung zur Selbst- und/oder Fremdpositionierung) oder dass dies als emergenter Nebeneffekt der Wissensvermittlung zustande kommt. Die Praktiken der Anzeige von
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epistemischem Status haben meist unmittelbare Implikationen für die Selbst- und Fremdpositionierung in der Interaktion und sind primäre Instrumente, um Positionierungen vorzunehmen. Praktiken der Anzeige von Wissen werden aber nicht nur für kompetitive und hierarchieindikative Formen der Identitäts- und Beziehungskonstitution benutzt. Sie sind genauso wichtig für die Herstellung sozialer Affiliation (Enfield 2008). Sowohl die Mitteilung von Wissen als auch ökonomische Formen des Miteinandersprechens, die nur auf Basis eines in längerer gemeinsamer Interaktionserfahrung („geteilter Dauer“, Schütz [1932] 1974) entstandenen common ground möglich werden, sind nicht nur von informatorischen Imperativen (wie den Griceschen Quantitätsmaximen, reziproken Ansprüchen auf Information über Neuigkeiten und aktuelle Befindlichkeiten etc.) geleitet. Sie sind ebenso von affiliationsbezogenen Motiven der Vergemeinschaftung, d. h. der Herstellung und Bestätigung von Zugehörigkeit, Gruppenkohäsion und sozialemotionaler Nähe bestimmt. Beziehungsbiographisch oder sozialkategorial gegründete Vertrautheit und Exklusivität wird prominent durch geteilte, für Außenstehende aber unverständliche Codes indiziert. Bisher wurde diskutiert, wie durch Formulierungspraktiken epistemischer Status in Anspruch genommen und zugeschrieben werden kann. Genauso beeinflusst aber auch der relative, den Interaktionsteilnehmern bekannte Wissensstatus eines Sprechers die Interpretation seiner Äußerung als Information erfragend oder Information gebend (Heritage 2012, 2013a, b; siehe auch schon Labov/Fanshel 1977; Pomerantz 1980). Neben der Art der sprachlichen Formulierung und dem epistemischem Status, welcher Sprecher und Adressat nach gemeinsamem Vorverständnis zugeschrieben wird, ist dabei die sequenzielle Position der Äußerung die dritte entscheidende Größe dafür, welcher epistemic stance mit der betreffenden Äußerung angezeigt wird. In Bezug auf die Organisation von Interaktionssequenzen und das Design von Handlungen gibt es einige Präferenzen, die unmittelbar mit dem relativen epistemischen Status der Beteiligten verbunden sind. Während grundsätzlich Beteiligte in der epistemisch inferioren Position (K-) Informationsfragen stellen, indiziert die Produktion von (unmodalisierten) Behauptungen den Anspruch auf einen prioritären epistemischen Status (K+). Dabei ist die sequenzielle Position entscheidend: Erstbewertungen und Erstbehauptungen verkörpern qua sequenzieller Erstposition auch den Anspruch des Sprechers auf primäres Bewertungs- bzw. Feststellungsrecht (Heritage/Raymond 2005). Sprecher können aber auch in zweiter Position, d. h. in einer Zweitbewertung oder in Reaktion auf eine Behauptung, für sich epistemische Superiorität bzw. einen unabhängigen, gleichrangigen epistemischen Status beanspruchen. Unabhängigkeit meint dabei, dass der Sprecher unabhängig von der Handlung des vorangegangenen Sprechers zum gleichen Urteil gekommen ist bzw. über das in Frage stehende Wissen schon vor der Partneräußerung verfügte. Dies wird mit Bestätigungen (wie klar, genau, richtig, so ist es; Gardner 2007) und affirmativen, modifizierten Teilwiederholungen des Vorgängerturns (Stivers
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2005) angezeigt, während bloße Quittierungen und Zustimmungen (ja, mhm) keinen epistemischen Autoritätsanspruch erheben. Ein Beispiel für die Beanspruchung epistemischer Unabhängigkeit liefert der folgende Ausschnitt #10: #10 FOLK_E_00066_SE_01_T_04: 0651–0646 (Gespräch unter Freunden) 01 UD: wie HIEß_n die? 02 JO: (.) m[::h-] 03 UD: [die ] (.) die blonde Eva herma[nn. ] 04 JO: [hermaˀ] → 05 JO: e[va HERmann;=genAU:; ] 06 UD: [Eva hermann] → 07 AL: [ich wollt grad sagen mit M]ANN irgendwas zum schluss. JO in S05 mit Wiederholung des Namens und daran angeschlossener Bestätigungspartikel „genau“ und AL in S07 mit „ich wollt grad sagen mit mann irgendwas zum schluss“ zeigen beide, dass sie die Antwort, die UD in S03 auf seine eigene Frage formuliert hatte, selbst (zumindest zum Teil) auch unabhängig von seiner Formulierung hätten geben können. Die Anzeige, dass ein Wissensausgleich hergestellt ist (z. B. durch change-ofstate-Tokens), beendigt Interaktionssequenzen bzw. projiziert den Sequenzabschluss. Wenn der Adressat von Wissensdarstellungen, z. B. durch bestimmte prosodische Realisierungen von jaja (Golato/Fagyal 2008; Barth-Weingarten 2011) anzeigt, dass er über das kommunizierte und evtl. noch zu kommunizierende Wissen bereits verfügt, wird damit ggfs. sogar der vorzeitige Abbruch einer Darstellungssequenz projiziert. Dies ist der Fall in Ausschnitt #11, in dem ein Paar gemeinsam einen Urlaub plant. PB schlägt vor, eine Buchungsanfrage für ein Hotel abzuschicken, AM ist zunächst dagegen, weil es nicht ihren Wünschen entspricht. #11 FOLK_E_00030_SE_01_T_02_DF_01_c1160 (Paargespräch) 01 PB: auch wenn du das nicht WILLST, 02 (.) kann man das ja trotzdem [mal in erWÄgung ziehen;] 03 AM: [hh° ((schluckt)) °h ] 04 ja gut ich find_s nur ZEITverschwendung, 05 AM: [weil wir ham ] 06 PB: [ja aber es is] auch ZEITverschwendung da hInzuf[ahren]-> 07 AM: [JA:- ] 08 PB: [und erst ma DREI stunden n_HOtel zu sUchen.] → 09 AM: [JA: JA::hast du ja RE:_ECH]T; 10 (0.77) 11 PB: also ich MACH des grad ma.
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AM konzediert PBs Argument in S07/09 mit „ja ja ja“ überlappend mit seiner Turnfortsetzung, in der er seinen Vorschlag weiter begründet. AM zeigt an, dass sie PBs Argument bereits verstanden hat und akzeptiert, so dass er es nicht weiter auszuführen braucht, was sie dann, als er dessen ungeachtet seinen Turn fortsetzt, nochmals durch „hast du ja recht“ explizit macht. Auch dann, wenn Interaktionsteilnehmer sich in Bezug auf Sachverhaltsannahmen und Bewertungen einig sind, können sie doch einen Konflikt über die Frage, wer die epistemische Priorität hat, austragen. So können mehr oder weniger subtile, identitär relevante Kämpfe zwischen Teilnehmern stattfinden, die in der Sache gar keine Meinungsverschiedenheit haben. Raymond/Heritage (2006, 685) resümieren den Zusammenhang zwischen sequenzieller Position, linguistischem Format und abgeschwächtem vs. hochgestuftem epistemischem Anspruch für Bewertungshandlungen im Englischen wie folgt (siehe Tab. 1):
Tab. 1: Der Zusammenhang von Ausdruck von epistemic stance, Sequenzposition von Bewertungen und ihrer linguistischen Realisierung. Epistemic stance
Erste Sequenzposition
Zweite Sequenzposition
Unmarkiert
Deklarativsatz
Deklarativsatz
Abgeschwächt
tag question Modalisierungen Evidentials
Hochgestuft
Negative V1-Frage
Bestätigung Oh + Bewertung Bewertung + tag Negative V1-Frage
Der epistemische Status eines Sprechers bestimmt, ob deklarative Äußerungen als Behauptung oder als Fragen aufgefasst werden (Heritage 2012, 2013b). Sie sind Behauptungen, wenn dem Sprecher die K+-Position zugeschrieben wird, werden aber als Fragen nach B-events bzw. als Verstehensprüfungen (Check-Fragen) eingesetzt, wenn der Adressat in der K+-Position ist. Syntaktische W- und V1-Fragen werden nur dann als Informationsfragen verstanden, wenn der Adressat die K+-Position einnimmt; dagegen sind sie rhetorische Fragen mit offensichtlicher Antwort bzw. Fragen, die der Fragende selbst beantworten wird, wenn dem Fragesteller der K+-Status zugeschrieben wird. Zwei Ausschnitte aus Arzt-Patient-Gesprächen zeigen, wie die Interpretation von Deklarativsätzen von der Zuschreibung des relativen epistemischen Status abhängt. In #12 schildert der Patient verschiedene Beschwerden im Hals-Nasen-Bereich.
Wissen im Gespräch
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#12 Arzt-Patient-Gespräch IA_03_02:17_3:01 133 PA: und immer MORgens hab ich [auch immer-] (--) 134 135 AR: [ possibly > not classifiable > probaly not), nur wenig anfangen können und Risiken auf dieser Basis meist anders einschätzen als Experten (Wiedemann/Schütz/Thalmann 2008, 171 f.). Aber auch Wissenschaftler sind sich trotz des Exaktheitspostulats wissenschaftlicher Sprache längst nicht einig, welche modalen Ausdrücke in wissenschaftlichen Texten für eine größere Unsicherheit bzw. für eine größere Sicherheit der solchermaßen modifizierten Aussage sprechen. Dies führt in jüngster Zeit zunehmend zu ausdrucksbezogenen Normierungsversuchen bezüglich der Gewissheit/Ungewissheit von Forschungsergebnissen, wie es beispielsweise der „Synthesis Report 2014“ des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) auf S. 2 zeigt: The following terms have been used to indicate the assessed likelihood of an outcome or a result: virtually certain 99–100 % probability, very likely 90–100 %, likely 66–100 %, about as likely as not 33–66 %, unlikely 0–33 %, very unlikely 0–10 %, exceptionally unlikely 0–1 %.
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Eine kleine empirische Studie zweier Mediziner (Dubben/Beck-Bornholdt 2006, 188–192) zeigt jedoch eindrucksvoll das Interpretationsproblem angesichts sprachlicher Vagheit: Befragt auf internationalen Mediziner-Kongressen, sollten englischsprachige Native Speaker wie Nichtmuttersprachler des Englischen 20 Sätze, die Variationen des Satzes „Therapy A is more effective than Therapy B“ darstellten, aber durch unterschiedliche modale Konstruktionen variiert waren (z. B. mit probably, evidently, beyond any doubt, it seems that, it can be speculated ...), auf einer Skala zwischen ‚Geltung der Aussage ist sicher‘ und ‚Geltung der Aussage ist unsicher‘ einordnen. Die Befragung zeigte zwar – unabhängig von der Muttersprache – einen gewissen Konsens in der Einschätzung von modal ausgedrückter Sicherheit/ Unsicherheit: Durchgängig als sicher galten in diesem Versuch der reine Indikativ (is), Verben wie to prove oder Ausdrücke wie beyond any doubt, durchgängig als unsicher galten Formulierungen wie it is not inconceivable that, it has become popular to assume that, it can be speculated oder others have suggested that it could be. Doch zeigte sich eben auch, dass es – abhängig von der jeweiligen Muttersprache – offensichtlich Formulierungen gibt, die völlig unterschiedlich und über fast alle ‚sicher-unsicher‘-Ränge hinweg gerankt werden: Muttersprachler des Englischen deuteten z. B. die Sätze Evidently therapy A is more effective than therapy B oder We have the strong feeling that therapy A is more effective than therapy B mal als sehr sicher, mal als sehr unsicher; ambivalent für Nicht-Muttersprachler waren dagegen z. B. Sätze wie Therapy A was more effective than therapy B oder The present results are not in contradiction to the hypothesis that therapy A is more effective than therapy B. Solche Interpretationsspielräume zeigen, welche Relevanz die sprachliche Form von Nichtwissen vs. Wissen und Unsicherheit/Ungewissheit vs. Sicherheit/Gewissheit insbesondere in kommunikativen Praktiken der Wissenschaftskommunikation hat, da damit unmittelbare Geltungsansprüche, vermittelt meist über geschriebene Texte, verbunden sind. ‚Sicher’ oder ‚unsicher’ sind demnach keine definitorisch festlegbaren semantischen Merkmale von Einzelwörtern, sondern sind erst Resultat einer in hohem Grade kontextabhängigen Interpretation. Möglicherweise ist ‚Unsicherheit‘ in ihren vielfältigen Abstufungen und Bezügen linguistisch (und korpuslinguistisch) daher gar nicht intersubjektiv vollständig beschreibbar.
3 Diskursive Zuschreibungspraxen 3.1 Mögliche Fragestellungen: (Nicht-)Wissensasymmetrien und Wissenskonflikte Als kollektives Wissen gilt nach konstruktivistischen Ansätzen wie denen der Diskurslinguistik jenes, welches sich diskursiv durchgesetzt hat. Diese Durchsetzung impliziert die Konstruktion von Wissen durch Wahrheitsansprüche, seine
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Rechtfertigung durch Argumente und seine Distribution durch die erfolgreiche Durchsetzung von Geltungsansprüchen (Warnke 2009, 116–122). Wissen und und Nichtwissen werden daher wie in den Sozialwissenschaften auch hier als Ergebnisse sozialer Konstruktionen verstanden, und mit Wissens- und NichtwissensZuschreibungen werden von Sprechern/Schreibern Interessen und Zwecke verfolgt (Smithson 1989, 2008; Stocking/Holstein 1993). Für die Frage nach der rhetorischargumentativen Relevanz von Nichtwissen ergibt sich daraus, dass nicht nur die Ebene des gesprochenen oder geschriebenen (Einzel-)Textes relevant ist, sondern auch diejenige des Diskurses, in den ein Text eingebettet ist. Text- und gesprächsanalytisch zu berücksichtigen sind daher die folgenden diskursrelevanten Ebenen (Warnke/Spitzmüller 2008, vgl. aber auch den Beitrag von Spieß in diesem Band): 1. die Ebene der Akteure, die mittels Aussagen im Rahmen kommunikativer Praktiken in Kontakt zueinander treten, Positionen einnehmen und Interessen verfolgen, 2. die transtextuelle Ebene, d. h. die Verflechtung dieser Aussagen im Diskurs, über Textgrenzen hinweg, ihre wechselseitigen Bezugnahmen, ihre sprachlichrhetorischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede, und 3. die intratextuelle Ebene, d. h. der Einzeltext, seine interne Struktur und sein Stil. Folgende Fragestellungen lassen sich im Hinblick auf diese unterschiedlichen Ebenen und unter Berücksichtigung der in Kapitel 1.2 postulierten Beschreibungsdimensionen von Wissen/Nichtwissen formulieren: 1. Akteure – Wer weiß etwas nicht? Hier interessieren beispielsweise die in gesprochenen und geschriebenen Texten vorgenommenen Definitionen bzw. Zuschreibungen von Expertenschaft, ihre Rolle im Diskurs und ihr (historischer, situativer) Wandel. – Wer weiß mehr/weniger als wer? Im Fokus einer solchen Frage stehen situative oder institutionelle Wissensasymmetrien zwischen Akteuren, wie sie bestimmte Interaktionszusammenhänge prototypisch oder situationsabhängig kennzeichnen (z. B. zwischen Lehrern und Schülern, zwischen Wissenschaftlern und Laien-Öffentlichkeit, zwischen Arzt und Patient, zwischen Berater und Entscheidungsträger usw.), ihr diachroner Wandel und ihr Niederschlag in verschiedenen kommunikativen Praktiken. – Wer hat welches Interesse und verfolgt welche Zwecke? Text- und gesprächslinguistischer Untersuchungsgegenstand sind hier die unterschiedlichen Textfunktionen und Handlungsmuster, mit denen Nichtwissens-Zuschreibungen verbunden sind (wie z. B. Belehren/Unterrichten, Anleiten, Infragestellen, gemeinsame Wissensbasis Aushandeln, Forschung Legitimieren, Entscheidungen Rechtfertigen, vor Entscheidungen
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unter Unsicherheit Warnen, eine Kontroverse Provozieren usw.). Hier lässt sich unter anderem fragen, welche Handlungsmuster sich prototypisch bei welchen kommunikativen Praktiken nachweisen lassen (z. B. in unterschiedlichen wissenschaftlichen Textsorten und dort in funktional unterschiedlichen Strukturabschnitten wie Forschungsstand, Fragestellung, Diskussion etc.). Auch erscheint interessant, ob und wann womöglich ein Anrecht auf Nichtwissen erhoben und Verantwortung zugeschrieben, eingefordert, abgelehnt wird. Transtextuelle Ebene – Um welche Themen geht es, was wird warum nicht gewusst? Im Fokus stehen hier Fragen, welche Referenzarten von Nichtwissen (z. B. propositionales oder instrumentelles Nichtwissen) in Bezug auf welches Thema von wem für wie relevant gehalten werden und welche Konsequenzen damit argumentativ für eigenes und fremdes Handeln verbunden werden. Es ist zu vermuten, dass unterschiedliche Nichtwissens-Konzeptualisierungen unterschiedliche ‚Karrieren‘ in unterschiedlichen Diskursen machen – unter anderem aufgrund unterschiedlicher Akteurskonstellationen, Entscheidungsspielräume oder Betroffenheiten Dritter (d. h. also zum Beispiel sehr unterschiedlich angesichts eines zunehmenden Individualisierungsgrades der Betroffenheit beim Klimawandel, bei der Debatte um die Wirkung von Handystrahlen, bei ethischen Fragen der pränatalen Diagnostik oder bei der Frage nach der Effektivität von Homöopathie), aber möglicherweise auch aufgrund sehr unterschiedlicher Komplexitätsgrade dessen, worum es gerade geht. – In welchen kommunikativen Praktiken und Medien geht es um welches Nichtwissen? Ergänzend zur vorigen Frage ist relevant, im Rahmen welcher Medien und kommunikativen Praktiken und damit auch: im Rahmen welcher Domänen über welchen Typus von Nichtwissen (vom Noch-nicht-Wissen bis hin zum Nicht-wissen-Wollen) überhaupt kommuniziert wird bzw. kommuniziert werden kann. Wissenschaftliche Originalaufsätze unterscheiden sich beispielsweise diesbezüglich fundamental von investigativen Presseartikeln oder -interviews. Auch hier kommt wieder die Akteursebene zum Tragen, da für die intertextuelle Ebene des Diskurses zu klären ist, welche Akteure überhaupt Zugang zu welchen Medien und Genres haben, ihren Positionen also öffentliches Gehör verschaffen bzw. fremde Positionen rezipieren können (man denke z. B. an den sehr unterschiedlichen Öffentlichkeitsgrad von wissenschaftlichen Gutachten einerseits und Online-Kommentaren und -Blogs zu Pressetexten andererseits). Medien räumen unterschiedliche Spielräume in äußerer Textform und -umfang ein – Text- und Gesprächssorten haben unterschiedliche Funktionen und Strukturen – Diskursgemeinschaften wie Wissenschaft oder Politik oder Journalismus folgen unterschiedlichen Diskursregeln. All dies hat Konse-
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quenzen für das Schreiben und Reden über Nichtwissen, welches wiederum auf die jeweiligen kommunikativen Praktiken und Formulierungsspielräume zurückwirken kann. Intratextuelle Ebene – Welche rhetorische und argumentative Form haben Nichtwissens-Zuschreibungen? Hier schließt sich der Kreis zum ersten Fragenkomplex (vgl. Kapitel 2.1): Genuin linguistisch sind Fragen zu den sich in der sprachlichen Form niederschlagenden Bewertungen und semantischen Konzeptualisierungen von Nichtwissen, zur Abhängigkeit dieser Konzepte von Textstil/ Textstruktur bzw. Gesprächsverlauf/Gesprächsführung sowie zur rhetorischen Gestaltung und zur textpragmatischen Funktion von NichtwissensZuschreibungen. – Welche nichtsprachlichen semiotischen Ressourcen unterstützen die Äußerung von Nichtwissens-Zuschreibungen? Bilder beispielsweise wirken stärker emotional als Sprache, d. h., sie können in Texten zu Konfliktthemen wie beispielsweise dem Klimawandel sowohl verharmlosend als auch mit bedrohlicher Wirkung eingesetzt werden und damit die öffentliche Wahrnehmung steuern, was als sicheres vs. unsicheres Wissen zu gelten hat (siehe z. B. die Beiträge in Maasen/Mayerhauser/Renggli 2006 oder HessLüttich u. a. 2017). Demnach sollte auch eine Erforschung von Nichtwissenskommunikation auf entsprechende Text-Bild-Analysen nicht verzichten (vgl. hierzu die Beiträge von Schmitz und Gloning in diesem Band).
Der Beitrag insbesondere einer Angewandten Linguistik könnte darin liegen, Nichtwissenskommunikation in ihrer diskursiven Dimension nicht nur zu verstehen, sondern womöglich auch Empfehlungen für einen aufgeklärten kommunikativen Umgang mit Unsicherheit und Nichtwissen aus Text- und Diskursanalysen abzuleiten. Unter einer solchen Maßgabe sollte der linguistische Blick in nächster Zukunft u. a. auf folgenden Aspekten liegen: – Vergleich von kommunikativen Praktiken einerseits, ganzen Diskursordnungen und kommunikativen Haushalten/Textwelten unterschiedlicher Domänen (z. B. Wissenschaft vs. Journalismus vs. Politik) andererseits; – Analyse von Kommunikationskonflikten anlässlich von Unsicherheit und Nichtwissen; Prüfung, inwiefern sie sich aus der Divergenz solcher konkurrierenden Ordnungssysteme erklären lassen; – Vergleich der rhetorischen Gewichtung und argumentativen Einbindung diskursiver Nichtwissenszuschreibungen in verschiedenen konkreten geschriebenen und gesprochenen Texten sowie in Diskursen; – Analyse möglicher Diskursrisiken für diejenigen, die Nichtwissen jemandem oder sich selbst zuschreiben bzw. denen Nichtwissen zugeschrieben wird.
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3.2 Einschlägige linguistische Forschungsfelder Für die Frage nach dem diskursiven Umgang mit Nichtwissen in Texten und Gesprächen erscheinen primär linguistische Arbeiten einschlägig, die Unsicherheit und Nichtwissen kontextualisiert betrachten: Im deutschsprachigen Raum trifft dies vor allem auf Forschungen zur Experten-Laien-Kommunikation zu, weil in solchen Interaktionszusammenhängen von vornherein von Wissensasymmetrien ausgegangen und u. a. gefragt wird, wie Experten angesichts des Nichtwissens von Laien ihr Wissen kommunizieren bzw. zu kommunizieren versuchen oder auch kommunizieren sollten. So gibt es von Seiten der Fachsprachenforschung auf terminologischer Ebene z. B. einen instruktiven und weiterführenden Vorschlag von Wichter (1994, bes. 145–148), in Bezug auf fachsprachlich-terminologisches Wissen von unterschiedlichen semantisch-begrifflichen „Besetzungstypen“ bei Experten und Laien auszugehen: Wichter unterscheidet – abgesehen von einer eher seltenen Gleichbesetzung – die Näherungsbesetzung (d. h. das begriffliche Stereotyp) von der Falschbesetzung (d. h. dem Irrtum) und/oder der Nichtbesetzung (d. h. der fachsprachlichen Privativität eines Terminus). Wissensasymmetrien, die sich auf die Gestaltung und Rezeption geschriebener Texte auswirken, sind Gegenstand vor allem von Arbeiten zum Wissenstransfer bzw. zu Wissenstransformationen (vgl. z. B. die Publikationsreihe „Transferwissenschaften“, herausgegeben von Gerd Antos und Sigurd Wichter). Prominente Arbeiten zur Wissensvermittlung in populärwissenschaftlichen Texten stammen z. B. von Niederhauser (1999), Liebert (2002) oder Beckers (2012). Zwar berücksichtigt Niederhauser (1999) in seiner Analyse von populärwissenschaftlichen Vermittlungsstrategien implizit ganz selbstverständlich ein Noch-nicht-Wissen der Laien, doch vernachlässigt er die Frage nach dem explizit-sprachlichen Umgang mit Nichtwissen, insbesondere mit dem Nichtwissen der Wissenschaftler (also der Quelle) wie auch der vermittelnden Journalisten. Liebert (2002) geht insbesondere der Frage nach, durch welche Handlungsmuster wissensvermittelnde Texte im populärwissenschaftlichen Kontext geprägt sind, welche Veränderungen des Wissens sich während der Wissenschaftsvermittlung über die Medien ergeben und wie diese zu bewerten sind. Keine explizite Rolle spielt dabei, ob und in welcher Weise in den wissenschaftlichen Referenzwerken möglicherweise auch Nichtwissen und Unsicherheit explizit thematisiert werden. Beckers (2012) untersucht vor allem die Kommunizierbarkeit und Konstruktion von Wissen in der alltäglichen Text-LeserInteraktion, unter anderem um Aufschlüsse über Strategien der Verständlichkeitssicherung zu erhalten und abschließend für ein „kooperatives und soziokulturell orientiertes Wissensmanagement“ zu plädieren. Auch sie lässt dabei aber die Betrachtung der in den Texten festgestellten oder implizit deutlich werdenden Wissenslücken, Unsicherheiten oder Kontroversen außen vor. In Bezug auf gesprochene Texte bzw. Gespräche spielen Fragen nach dem unterschiedlichen Wissensstand der am Gespräch Beteiligten (sog. unterschiedlichen
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„epistemic territories“, Heritage 2012) spätestens seit den 1980er-Jahren eine zentrale Rolle für das tiefere Verständnis von Gesprächsverläufen (siehe hierzu die Beiträge von Deppermann und Schwitalla in diesem Band). Der Umgang mit Wissensasymmetrien wurde dabei ähnlich wie in der Textlinguistik besonders im Zusammenhang mit Experten-Laien-Kommunikation (vgl. z. B. die Beiträge in Groß/ Harren 2016), hier aber vor allem im medizinischen Bereich untersucht (z. B. Spranz-Fogasy 2010, 2014; Birkner/Burbaum 2016). Der interaktive Umgang mit Nichtwissen wird in den letztgenannten Arbeiten zu Arzt-Patienten-Gesprächen expliziter in den Fokus gerückt als in vielen textlinguistischen Beiträgen – Nichtwissen befindet sich hier im Spannungsfeld von Legitimierung, Stigmatisierung und nicht zuletzt einem Defizit an diagnostischer Eindeutigkeit und hat damit eine hohe pragmatische Relevanz (Birkner/Burbaum 2016). Birkner/Burbaum (2016) beschreiben zum Beispiel verschiedene Formen von sog. ‚Suchbewegungen‘ im Zusammenhang mit Kausalattributionen für körperliche Beschwerden als Verfahren der Nichtwissenskommunikation, während sich Spranz-Fogasy (2010) besonders Frage-Antwort-Sequenzen als einem möglichen interaktiven Verfahren des Verstehens im Arzt-Patienten-Gespräch widmet (vgl. auch den Beitrag von Graf/SpranzFogasy in diesem Band). Auch interdisziplinäre Kontexte rücken langsam ins Interesse der linguistischen Forschung. Ausführlich hat sich vor allem Rhein (2015) mit interdisziplinären Wissensaushandlungen in Gesprächsform beschäftigt: Sie analysiert Diskussionen im Anschluss an wissenschaftliche Vorträge im Rahmen interdisziplinärer Tagungen, und zwar einerseits mit Blick auf Selbstdarstellung und wechselseitige (positive wie negative) Kritik, andererseits aber auch ganz konkret hinsichtlich fremder und eigener Kompetenz- vs. Nichtwissenszuschreibungen (und entsprechender Reaktionen). Dabei unterscheidet sie die eingangs eingeführten Bezugsgrößen von Nichtwissen (vgl. 1.2), d. h. die Referenz von Nichtwissen (das insgesamt immer ein known unknown ist), die zugeschriebene Trägerschaft (hier meist konkret einzelne Wissenschaftler bzw. Teams, Disziplinen oder Wissenschaft als Kollektiv), dann aber auch konkrete sprachliche Markierungen von Temporalität und Intentionalität sowie ausführlich Formulierungsmöglichkeiten bzgl. der epistemischen Qualität des (Nicht-)Wissens und seiner Bewertung im Kontext. Diese sprachlichen Mittel untersucht sie in ihrer Einbettung in pragmatische Strategien der Diskutanten, d. h. wie und zu welchem Zweck diese mit Nichtwissen und unsicherem Wissen in der Diskussion umgehen (zusammengefasst bei Rhein 2015, 400–415). Den speziellen Fall der Wissensasymmetrien in interdisziplinärer Projektarbeit, bei der Fachleute unterschiedlicher Fächer ihre jeweiligen Wissensressourcen und Wissensdefizite arbeitsteilig aufeinander abstimmen, sie bis zu einem gewissen Grad aber auch teilen müssen, haben auch Janich/Zakharova (2011, 2014) – hier mit einem Schwerpunkt auf Aushandlungsprozesse rund um die Abfassung eines interdisziplinären Projektantrags – untersucht: Die Ergebnisse eines Begleitforschungsprojekts zu politikwissenschaftlich-physikalischer Interdiszi-
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plinarität und Projektarbeit zeigen, wie Wissensasymmetrien zu Begriffsaushandlungen und Wissensaustausch einerseits, zu akzeptierten und „ausgehaltenen“ Unsicherheiten mit weiteren sozialen wie fachlichen Implikationen für die Projektarbeit andererseits führen. Außer der Forschung zu Wissensasymmetrien erscheint für das hier diskutierte Thema auch diejenige zu gesellschaftspolitischen und besonders zu wissenschaftlichen Kontroversen ergiebig, weil sich in diesen zumindest eine kollektive Unsicherheit in Bezug auf die Gültigkeit wissenschaftlichen Wissens bzw. agonaler Wissensbestände zeigt bzw. weil hier die Gültigkeit von Wissen erst ausgehandelt werden muss. Kontroversen und konfligierende Evidenz wurden und werden im Rahmen zahlreicher diskurslinguistischer Analysen untersucht (vgl. neben dem Beitrag von Spieß in diesem Band und Warnke 2018 z. B. die unmittelbar auf wissenschaftliche Kontroversen bezogenen Beiträge in Liebert/Weitze 2006 und den Überblick bei Fritz 2010). Meist geht es in Diskursanalysen allerdings nicht explizit um das Nichtwissen einzelner Akteure als vielmehr um ihr Wissen, um wissensbasierte Diskursmacht und um öffentliche Unsicherheit aufgrund konkurrierender Expertisen und Standpunkte. Nichtwissen in Form expliziter, individueller oder gruppenbezogener Zuschreibungen, wie es beispielsweise in der diskursanalytischen Fallstudie von Janich/Simmerling (2013) behandelt wird (siehe 3.3), ist dabei zwar implizit präsent, bleibt aber häufig im Schatten der Analysen.
3.3 Interdisziplinäre Befunde zu Nichtwissen im Diskurs Der Begriff des Nichtwissens wurde in den letzten Jahren zunehmend aus verschiedenen geistes- und sozialwissenschaftlichen Perspektiven beleuchtet, insbesondere in Soziologie und Philosophie, aber auch in Psychologie und Kommunikationswissenschaft. Fragestellungen der hierzu vorliegenden Forschung drehen sich beispielsweise um die sozialen, psychischen und epistemischen Implikationen von Nichtwissen und den Umgang mit Nichtwissen in Medien, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. Besonderes Augenmerk wird dabei auf den öffentlichen Umgang mit konfligierender Evidenz und hier besonders auf gesellschaftspolitisches Entscheidungshandeln unter Unsicherheit gelegt (vgl. als aktuellsten Überblick über die breite, interdisziplinäre Forschungslandschaft das internationale und interdisziplinäre „Routledge Handbook of Ignorance Studies“ von Gross/McGoey 2015 oder die Publikationen im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms „Wissenschaft und Öffentlichkeit. Das Verständnis fragiler und konfligierender wissenschaftlicher Evidenz“ unter http://wissenschaftundoeffentlichkeit.de/). In den letzten Jahren kam die Betrachtung auch disziplinen- und akteursspezifischer Umgangsweisen mit wissenschaftlichem Nichtwissens dazu (vgl. z. B. die interdisziplinären Tagungsbände von Janich/Nordmann/Schebek 2012; Jeschke/Jakobs/Dröge 2013; Janich/Rhein 2018).
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Für eine linguistisch-interdisziplinäre Beschäftigung mit dem Thema sind dabei vor allem diejenigen sozialwissenschaftlichen und philosophischen Arbeiten interessant, die mit ihrem fremddisziplinären Zugriff Befunde liefern zu Metaphern und rhetorischen Funktionen von Nichtwissen (z. B. Smithson 1989, 2008), zur Funktion von ignorance claims in Wissenschaft vs. Medien sowie den dahinter liegenden Interessen von Diskursakteuren (z. B. Stocking/Holstein 1993, 2009; Heidmann/Milde 2013; Peters/Dunwoody 2016; Ruhrmann/Kessler/Guenther 2016; Guenther 2017), zu sich wissenschaftshistorisch oder politisch verschiebenden Konzeptualisierungen von Nichtwissen und ihren Konsequenzen im politischen Handeln (z. B. Funtowicz/Ravetz 1990; Böschen u. a. 2008; Proctor/Schiebinger 2008; Jäger/Scheringer 2009; Oreskes/Conway 2010) sowie zur damit zusammenhängenden Verantwortung auch für den kommunikativen Umgang mit Nichtwissen (z. B. Elliott 2012; Wehling 2006, 2010). Zudem ist in psychologischen und kommunikationswissenschaftlichen Studien auch die Rezipientenperspektive empirisch beleuchtet worden: Es liegen beispielsweise Arbeiten vor zur Einschätzung eigenen Nichtwissens im Kontrast zu wissenschaftlichem Wissen (z. B. Michael 1996), zur Wirkung von Unsicherheits- und Risikobeschreibungen auf Experten vs. Laien (z. B. Wiedemann/Schütz/Thalmann 2008) und zur Wirkung medial vermittelter konfligierender wissenschaftlicher Evidenz auf Laien bzw. Leser (z. B. Stadtler u. a. 2013; Retzbach/Maier 2014; Bromme/Thomm 2015). Es kann an dieser Stelle nicht umfassend über diese Befunde verschiedener Disziplinen berichtet werden. Dennoch sollen ein paar wenige Studien zitiert werden, deren Ergebnisse unmittelbar anschlussfähig an diskurslinguistische Perspektiven sind und die für eine Strukturierung und Akzentuierung text- und gesprächslinguistischer Fragestellungen instruktiv erscheinen (vgl. aktuellen Überblick bei Maier u. a. 2018). Der Sozialwissenschaftler Gill (2004) nähert sich Nichtwissens-Aussagen öffentlich sichtbarer Akteure unter einer sehr grundsätzlichen Perspektive und steckt damit zuerst einmal den gesamtgesellschaftlichen Rahmen ab, in dem Nichtwissenskommunikation stattfindet (– dies letztlich immer in Form gesprochener und geschriebener Texte). Die Definition des gesellschaftlich relevanten und gültigen Nichtwissens scheint laut Gill heute nicht mehr nur Sache der Wissenschaftler zu sein. Stattdessen komme es aufgrund „kulturell differenter Wissensformen“ zu Konflikten zwischen Wissenden und Nichtwissenden. Unter solche wissenskulturell bedingte Konflikte fasst Gill (2004, 30 f.) zum Beispiel: – Konflikte zwischen zwei verschiedenen Disziplinen (sprachwissenschaftlich interessant z. B. im Rahmen interdisziplinärer Diskussionen [vgl. Rhein 2015; Janich/Zakharova 2011, 2014] oder in Kontroversen zwischen verschiedenen theoretischen Schulen, wie sie sich in wissenschaftlichen Publikationen niederschlagen können [vgl. Kalwa 2018]), – Konflikte zwischen explizitem und implizitem Wissen (sprachwissenschaftlich interessant z. B. in Lehr-Lern-Interaktionen, wenn neben sprachlich vermittelbares Wissen auch ein nur intuitiv demonstrierbares Wissen tritt, das sich kon-
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kretisierenden Nachfragen evtl. entzieht, vgl. den Beitrag von Kilian in diesem Band), Konflikte zwischen den Wissensansprüchen und -erwartungen von Laien vs. Experten (sprachwissenschaftlich interessant z. B. die Aushandlung von Expertenschaft und Vertrauenswürdigkeit in der Online-Kommunikation, die Thematisierung von Unsicherheit und Nichtwissen in Beratungs- oder Ausbildungssituationen, der Umgang mit Nichtwissen und Kontroversen in populärwissenschaftlichen und wissenschaftsjournalistischen Texten; vgl. die Beiträge von Efing, Graf/Spranz-Fogasy, Hanauska/Lessmöllmann oder Storrer in diesem Band), Konflikte zwischen indigenem Lebens- und westlichem Technologiewissen (sprachwissenschaftlich interessant z. B. die Frage der Schulenbildung oder von Aushandlungsprozessen zwischen Schulwissen, gesellschaftlich nicht durchgängig akzeptierten Wissensformen [unknown known] und Ansprüchen auf Nichtwissen, z. B. im medizinischen Kontext zu Themen wie Homöopathie oder Burnout).
Während Gill dies für Überlegungen zur sich verändernden Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft (insbesondere in Konkurrenz zur Religion) und für die Konturierung einer neuen Gesellschaftskritik nutzt, gehen Holzer/May (2005) davon aus, dass Nichtwissen im gesellschaftspolitischen Kontext und vor allem im politischen Entscheidungshandeln auch in Form von Selbstzuschreibungen explizit in Anspruch genommen werden kann, um die Verantwortung den Experten zuzuschreiben und zugleich die eigenen politischen Entscheidungen unter Vorbehalt zu rechtfertigen, d. h. unter Umständen damit eine Art ‚vorläufiger‘ Politik zu legitimieren. Einen ähnlichen Befund erbringt die diskurslinguistische Analyse von Janich/Simmerling (2013) zum Konflikt um ein Meeresdüngungsexperiment im Jahr 2009, das von Seiten der damaligen Wissenschaftsministerin Annette Schavan gegen den Widerstand der SPD genehmigt wurde: Schavan betonte in ihrer entsprechenden Pressemitteilung explizit, dass diese Genehmigung auf ihrem Vertrauen in die wissenschaftlichen Gutachten und das betroffene Forschungsinstitut basiere, womit sie die letzte Verantwortung den beteiligten Wissenschaftlern zuschreibt: Textbeispiel 2: Nach Auswertung der mir vorliegenden Gutachten bin ich davon überzeugt, dass es keine naturwissenschaftlichen und rechtlichen Bedenken […] gibt. […] Dabei habe ich mich auf die Bewertungen international anerkannter Institutionen und herausragender Wissenschaftler gestützt. […] Ferner hat mir das AWI [Alfred-Wegener-Institut] nochmals versichert, dass von dem Experiment keine Gefährdung für die Meeresumwelt ausgeht. […] Für mich waren […] die Beurteilungen der Gutachter entscheidend. (Schavan 2009)
Eine empirische Studie von Michael (1996) zeigt ein noch differenzierteres Bild, was die Funktion bzw. Folge von Nichtwissens-Selbstzuschreibungen bei Laien betrifft: Auf der Basis von Interviews mit Laien zeigt er, dass allgemeingesellschaft-
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lich von (mindestens) drei Typen von ‚Nichtwissens-Diskursen‘ („discourses of ignorance“) auszugehen ist, die dann entstehen, wenn Laien ihr eigenes Nichtwissen bewusst als Kontrast zum wissenschaftlichen Wissen wahrnehmen und dadurch die soziale Relevanz von Wissen und Nichtwissen reflektieren (Michael 1996, 122): 1. Wenn Laien von sich behaupten, selbst nicht wissenschaftlich zu denken bzw. denken zu können, konstituieren sie ihr Verhältnis zum wissenschaftlichen Wissen in der Regel als das einer Abhängigkeit. 2. Wenn sich Laien gegenüber der Wissenschaft auf die Position der Arbeitsteilung zurückziehen, wird von ihnen in der Regel ein Koexistenz- oder sogar Kooperations-Verhältnis gegenüber bzw. mit der Wissenschaft postuliert. 3. Gehen Laien schließlich davon aus, dass das wissenschaftliche Wissen zu einem bestimmten Thema im konkreten Fall nicht interessant sei, nicht relevant oder nicht valide, der Verzicht auf seine Nutzung also aus eigener freier Entscheidung resultiere, dann sehen sich Laien einer moralisch-politischen Herausforderung gegenüber, und zwar zusammen mit den Wissenschaftlern. Im bereits erwähnten Diskurs um das Meeresdüngungsexperiment (Janich/Simmerling 2013) lassen sich solche unterschiedlichen Haltungen unmittelbar nachweisen, blickt man in Online-Foren, auf denen sich Bürger zu dem politischen Streit um dieses Experiment äußern. Eine Bloggerin in CommonsBlog zitiert zum Beispiel zuerst einen anderen CommonsBlog-Kommentar wörtlich: Textbeispiel 3: Kritische Öffentlichkeit: ist zwar prinzipiell wunderbar, nur wird es problematisch, wenn sie sich zu Themen äussern soll, bei denen man ohne PhD im relevanten Fachbereich schlicht nicht differenziert mitreden kann. (Helfrich 2009b)
Dieses Zitat verdeutlicht, dass in der Blog-Debatte offensichtlich die erste Position, die der Abhängigkeit, eingenommen wird. Die Bloggerin wendet sich anschließend allerdings ausgesprochen kritisch gegen diese Position und beansprucht damit Kooperationsmöglichkeiten mindestens in Form von Mitspracherechten: Textbeispiel 4: Mal abgesehen davon, dass sich die kritische Öffentlichkeit gar nicht äussern [sic] soll (das ist ja das Problem!), sondern sich ungefragt äußert, weil sie sich äußern will; ich verstehe da: Seid still, wenn Ihr keinen Doktortitel in Biologie habt! Hoffe, ich habe da was falsch verstanden, denn daraus spricht nicht gerade eine demokratische Grundüberzeugung. […] Ich sage trotzdem als Bürgerin ohne Doktorhut in Biologie und als commoner – denn auch mich geht die Integrität der Ökosysteme was an, auch ich [l]ebe auf dieser Erde – dass ich die Zweifel des BMU angemessen finde. Und ich begrüße, dass ein Ministerium das andere öffentlich kritisiert. (Helfrich 2009b)
In einem weiteren Blogbeitrag schließlich mahnt sie angesichts der mit dem Experiment verbundenen Unsicherheiten und entsprechend der dritten Haltung eine ethische Verpflichtung aller Beteiligten auf das Vorsorgeprinzip an: Textbeispiel 5: Solche Experimente sind ja oft Einfallstore für das nächste und das nächste und das nächste … „für die Bekämpfung des Klimawandels notwendige“ Experiment. Mit einigen Din-
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gen – u. a. den biologischen Prozessen der Erde – sollten aber möglichst keine Experimente gemacht werden. […] Man erfährt zudem in der FAZ, trotz der eindeutigen Pro-Expedition-Position, dass die Düngung der Meeresoberfläche mit Eisensulfat nicht nur aus Perspektive von Umweltschützern, sondern auch aus wissenschaftlicher Sicht heftig umstritten ist. […] Ansonsten die im Fazblog veröffentlichte Position: Ohne Experimente keine Klarheit. Vom precautionary principle hat der Autor […] offenbar noch nicht viel gehört. (Helfrich 2009a)
Solche Befunde und Beispiele legen nahe, dass Nichtwissens-Aussagen, und zwar sowohl Selbst- als auch Fremdzuschreibungen, in gesprochenen und geschriebenen Texten sehr unterschiedliche Funktionen einnehmen können: Stocking/ Holstein (1993, 2009) untersuchen die unterschiedlichen Funktionen solcher Nichtwissens-Behauptungen („ignorance claims“) in wissenschaftlichen und journalistischen Texten und werten dabei auch sehr detailliert die bisherige einschlägige sozialwissenschaftliche Forschung aus: In wissenschaftlichen Texten unterscheiden Stocking/Holstein (1993, 191–193) zwischen 1) dem Hinweis auf kollektive Wissenslücken („knowledge gaps“) als Rechtfertigung für Forschung im Sinne des klassischen Forschungsdesiderats (man denke hier beispielsweise an Ausschreibungen und Drittmittelanträge), 2) theoretischen und/oder methodischen Vorbehalten („caveats“) in Form von Selbstzuschreibungen, die aber nicht der Einschränkung, sondern im Gegenteil der Legitimierung und Konsolidierung der präsentierten Forschungsergebnisse dienen (zu finden typischerweise in wissenschaftlichen Aufsätzen), und 3) Fremdzuschreibungen von Nichtwissen, um die jeweils eigene Forschungskompetenz in Auseinandersetzung mit kontroversen fremden Positionen oder fremddisziplinären Forschungslücken herauszustellen. Die inhaltsanalytische Studie von Heidmann/Milde (2013) macht deutlich, dass es hierbei gravierende Textsortenunterschiede gibt (ähnlich die Befunde bei Szarvas u. a. 2012, 349–351, siehe auch unter 2.2): Scientific uncertainties, sources, and consequences were most widely discussed in review papers, whereas research papers and mass media tend to emphasize more the certainty of their results or topics, and neither the broad spectrum nor further specifications like sources or consequences of uncertainties were communicated. (Heidmann/Milde 2013, 8)
In populärwissenschaftlichen Texten verfolgen Wissenschaftler, sofern sie Autoren dieser Texte sind, laut Stocking und Holstein (1993, 194 f.) weniger Strategien der wissenschaftsinternen Positionierung, sondern Ziele, die ihre wissenschaftliche Autorität („cognitive authority“) in der Öffentlichkeit stärken. Auch hier dienen Nichtwissens-Zuschreibungen dazu, eigene Forschung zu legitimieren und sich als Experte unverzichtbar zu machen, indem auf fremde oder allgemeine Wissenslücken, insbesondere auf gesellschaftspolitische relevante, verwiesen wird. Auch diese Funktionen von Nichtwissens-Zuschreibungen bestätigen sich in der sprachwissenschaftlichen Fallstudie von Janich/Simmerling (2013) zum Meeresdüngungsexperiment: Dort wird deutlich, dass in Pressemitteilungen des beteiligten Forschungsinstituts Behauptungen in Bezug auf ein allgemeines oder allgemein-
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wissenschaftliches Nichtwissen häufig in enger Kombination mit Selbstzuschreibungen von Wissen und Kompetenz gekoppelt werden, d. h. es wird ein Forschungsdesiderat behauptet und zugleich die eigene Reputation und die Kompetenz, das postulierte Nichtwissen in Wissen zu überführen, hervorgehoben: Textbeispiel 6: Die externen Gutachten bescheinigen, […] dass die beteiligten Forscher höchste Reputation genießen und das Experiment den modernsten wissenschaftlichen Standards entspricht. Wer, wenn nicht ein renommiertes Forschungsinstitut wie wir, kann die Daten, die in den internationalen Konventionen für eine fundierte Diskussion gefordert werden, liefern? (AWI 2009)
Die Herausstellung wissenschaftlichen Nichtwissens in journalistischen Texten nimmt gegenüber den wissenschaftlichen Bezugstexten laut Stocking/Holstein (1993, 199) deutlich ab, die Autorinnen sprechen von einem „loss of uncertainty in the popularized accounts“. Doch auch in journalistischen Texten ließen sich Verweise auf wissenschaftliche Forschungslücken, methodische Vorbehalte und Expertenkontroversen finden (Stocking/Holstein 1993, 199 f.), nur dass die entsprechenden Nichtwissens-Behauptungen meist ganz anderen Funktionen als in wissenschaftlichen Texten dienten. In einer neueren Studie kommen Stocking/Holstein (2009, bes. 32, 37) zu dem Schluss, dass die Art der Thematisierung von Unsicherheit auch vom jeweiligen Rollenverständnis des Journalisten abhängt, also ob er sich vorwiegend als „disseminator“, „interpretative/investigative“, „populist mobilizer“ oder „adversarial“ versteht. Sie sehen darin eine Bestätigung ihrer früheren Studienergebnisse, dass Journalisten, genau wie andere Interessensgruppen, Unsicherheit entsprechend ihren eigenen Interessen einsetzen bzw. konstruieren (Stocking/Holstein 1993, 206; vgl. auch Maier u. a. 2018). Auch die linguistischen Fallstudien (Simmerling/Janich 2015; Janich/Simon 2017) zeigen, dass Nichtwissens-Behauptungen in Pressetexten nicht selten zur Polarisierung und Dramatisierung (und damit zur Aufmerksamkeitserregung) oder zur Warnung im Hinblick auf anstehende (forschungs-)politische Entscheidungen im Sinne eines investigativen Journalismus genutzt werden – zumindest wenn diese Pressetexte Teil eines öffentlichen Konfliktdiskurses sind: Textbeispiel 7: Man weiß, dass eine kleine Menge Eisen das Planktonwachstum stimuliert. Man weiß, dass in weiten Regionen der Weltmeere praktisch kein Eisen vorkommt. Aber man weiß noch nicht, wie viel gedüngt werden darf und welche Arten von Algen dadurch gefördert werden. Man weiß allerdings, dass Algenblüten zu jenen ‚Toten Zonen‘ führen, die beispielsweise im Golf von Mexico an der Mündung des völlig überdüngten Mississippi entstanden sind und jedes Jahr größer werden. Dort lebt nichts mehr, der Ozean ist ein riesiges Grab. Wer glaubt, man könne mit Geo-Engineering die Erde wie einen Computer einfach noch einmal neu starten, liegt deshalb falsch. Denn man weiß einfach zu wenig über die Erde als potentiellen Gegenstand solcher Manipulationen, über unvorhergesehene Rückkopplungseffekte. (Steinberger 2009)
Heidmann/Milde bestätigen diese Befunde in ihrer inhaltsanalytischen Studie und schließen daraus auf einen mangelnden Dialog zwischen Wissenschaft und Massenmedien (ähnlich Stocking/Holstein 1993, 205):
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Furthermore, our results suggest that scientific uncertainty in mass media is predominantly communicated in relation to political issues and risks and not particularly in relation to research results in general and environmental research in particular. This indicates that there has been no effective dialogue about scientific uncertainty in environmental research with the public so far. (Heidmann/Milde 2013, 8)
Die angeführten unterschiedlichen Funktionen von Nichtwissens-Behauptungen und -Zuschreibungen im Rahmen verschiedener kommunikativen Praktiken führen aufgrund der unterschiedlichen dahinterstehenden Akteursgruppen und ihrer politischen und ökonomischen Interessen laut Stocking/Holstein (1993, 197) zu einer „politicization of ignorance“ (in Anlehnung an die Hypothese einer „politicization of uncertainty“, Funtowicz/Ravetz 1990, 15), die nicht nur für das alltägliche politische, sondern auch für ökonomisches Handeln eine wesentliche Rolle spielt (vgl. zum Beispiel die Studien von Proctor/Schiebinger 2008 oder Oreskes/Conway 2010 zu den politisch-ökonomischen Kontexten der Klimawandeldebatte und der Diskussion über die Gefahren des Zigarettenrauchens in den USA).
4 Zusammenfassung und Versuch einer Synthese Um dem bei Stocking/Holstein (1993, 195, 207) formulierten Desiderat einer sprachlich-rhetorischen Analyse von kommunikativen Praktiken der Nichtwissenskommunikation abzuhelfen, wurden in den vorausgegangenen Abschnitten sowohl systematische Forschungsfragen entwickelt als auch erste Befunde zusammengetragen. Die bisherigen Forschungsergebnisse machen abschließend und im Sinn einer Synthese der sprachlich-formalen wie der pragmatisch-diskursiven Perspektive auf Nichtwissen in gesprochenen und geschriebenen Texten noch einmal Folgendes deutlich: – Die sprachwissenschaftliche Beschreibung von Nichtwissens-Thematisierungen in gesprochenen und geschriebenen Texten muss über die naheliegende Ebene der Lexik (z. B. Modalausdrücke, Lexik mit expliziter oder impliziter Referenz auf Unsicherheit und Nichtwissen) und rhetorischen Figuren (z. B. Metaphern, Vergleiche, Allusionen) hinausgehen. Zum Beispiel spielen auch Modus, vor allem aber Tempus/Temporalausdrücke sowie Negation (und ihre jeweils spezifischen Kombinationen) eine zentrale Rolle, nicht zuletzt für die oft explizit temporale Prägung der meisten Nichtwissens-Konzeptualisierungen in Texten. – Dieses grammatische, lexikalische und stilistische Inventar, wie es ansatzweise unter 2.2 beschrieben wurde, ist grundsätzlich höchst kontextsensibel und muss daher immer – wie unter 3.2 und 3.3 angedeutet – im Ko- und Kontext interpretiert werden, weil sprachliche Unsicherheitsmarkierungen zum Beispiel einer Art ‚Kontra-Lexik‘ zu Wissen, Kompetenz und Reputation gegen-
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überstehen können, die, z. B. durch Negationsstrategien, ebenfalls auf Nichtwissen und Unsicherheit verweist. Über die sprachliche Repräsentation lassen sich sehr unterschiedliche semantische Konzepte von ‚Nichtwissen‘ (z. B. bezüglich Genauigkeit/Gewissheitsgrad, Temporalität/Geltungszeitraum und Verantwortlichkeitszuschreibungen) rekonstruieren. Nachweisen lassen sich z. B. in Texten zum Themenfeld Klimaforschung ein Noch-nicht-Wissen (mit unterstelltem Wissen-Wollen, z. B. bei Wissenschaftlern), ein Noch-nicht-(sicher/genau)-genug-Wissen (z. B. forschungslegitimierend bei Wissenschaftlern, warnend eher in Pressetexten), ein Nicht/Niemals-wissen-Können (unkown unknown) bzw. ein Niemals-sicher/ genau-genug-wissen-Können (als Ausdruck von Sorge z. B. in Medien und Öffentlichkeit), ein versehentliches oder fahrlässiges Nichtwissen oder gar ein Nicht-wissen-Wollen (Ignoranz, unkown known) (z. B. von Politikern einander unterstellt) (Janich/Simmerling 2013). Auch die Infragestellung von bisherigem Wissen als Nicht-(mehr)-verlässlichem-Wissen kann in Texten relevant werden. Es zeigt sich damit, dass sowohl die Intentionen und Interessen der Sprecher/Schreiber von Nichtwissens-Zuschreibungen als auch die den verwendeten Nichtwissens-Konzepten inhärente Temporalität, wenn nicht gar deren chronologische Abfolge, eine große Rolle auf der transtextuellen Ebene des Diskurses spielen (vgl. ähnlich z. B. Gross 2007, 751; Wehling 2010, 265). Nichtwissen und Unsicherheit/Ungewissheit werden in wissenschaftsinternen, wissenschaftsexternen und wissenschaftsjournalistischen Texten und Gesprächen je nach Situation bzw. Diskurszusammenhang sehr unterschiedlich versprachlicht und funktionalisiert, was auf unterschiedliche zugrunde liegende Sprachhandlungen und argumentative Funktionen der Nichtwissensthematisierung und damit auf eine hohe diskursive Relevanz solcher Äußerungen hindeutet.
Was also noch fehlt, sind weitere und ausführlichere diskurslinguistische Studien, die solche Nichtwissenskonzepte und -zuschreibungen detaillierter als bisher im Diskursverlauf untersuchen, d. h. eingebettet in Sprachhandlungen und Textfunktionen. Erst dann können transtextuelle Beziehungen, Domänen- und Akteursspezifik sowie die gesellschaftspolitischen Implikationen kommunikativer Praktiken der Nichtwissensbehandlung und -zuschreibung genauer aufgedeckt und möglicherweise auch in ihrem unterschiedlichen Vorkommen je nach Domäne, Text- und Gesprächssorte quantifiziert werden.
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Register Adaptivität 402, 407 Agonalität 147 Akzeptabilität 32, 408, 541 Angemessenheit, funktionale 542, 545, 548 Angemessenheit, situative 13 Angemessenheitserwartungen 189 Argumentation 64, 72, 147–148, 158–159, 161, 175, 216, 263, 313, 335, 341, 517, 524 Audience 375 Äußerungseigenschaften 5–6, 8 automatization 69 Autonomie 8 Basisregel 85 Besetzungstyp, semantisch-begrifflicher 569 Beteiligungsrolle 98, 430 common ground 112, 116, 127, 207 computer-mediated communication 410 construction integration theory 179 conversation analysis 81 critical discourse analysis 521 Dependenz 8 Dialogizität 14, 152, 373, 381, 383 Digitalisierung 173, 181, 196, 254, 294, 350, 471 DIMEAN-Modell 159, 524, 566 Diskurs 145, 574 Diskursivität 152, 323 – Wissensdiskursivität 331 Diskurslinguistik 70, 143, 415, 521, 523, 525, 557, 565 Dissens 120, 282, 512, 521, 524 Dual-Coding-Hypothese 204 Emergenz 58, 148 Enkodierung 208, 428 epistemic authority 427 epistemic stance 121, 128, 130, 132 epistemic status 120 epistemic writing 172, 189 Eristik 527, 561 Evidenzialität 124 Experten-Laien-Kommunikation 569 face work 87, 95, 516 foregrounding 69 https://doi.org/10.1515/9783110296051-024
Frame 36, 63–64, 70, 147, 160, 187, 512, 522 Funktionalität 161 Gattung, kommunikative IX, 19, 23, 34, 39, 94, 109, 145, 147, 163, 279, 345, 374, 383, 393 Geltungsdauer 46 Gesprächskompetenz 286 Gesprächsmaximen 85 Gesprächssorte 17, 23, 253, 284, 286, 324, 328, 331, 515 grounding 117 Hermeneutik 56, 58, 67, 69, 73 – Linguistische Hermeneutik 58 Herstellungsaufwand 45 Hypertext 53, 195, 401–402, 471 Hypertextualität 50 ignorance 559 ignorance claim 572 Ignoranz 557, 559 Inferenz 8, 115, 124, 221–222, 424 Informativität 32, 408, 518 Intentionalität 230, 408, 570 Interaktionsanalyse 133 Interaktionsmodalität 97, 516 Interaktionstyp 22, 93, 374, 429 Interaktivität 33, 218, 375, 402, 405, 454, 493 Interdependenz 8 Intertextualität 32, 49, 63, 65, 152, 160, 190, 408, 454 Kampf, semantischer 71, 147, 156, 521–522 knowledge – hidden knowledge 447 – know how/knowing how 104, 182, 447, 491 – know that/knowing that 177, 447, 491, 557 – knowledge by acquaintance 120 – knowledge by description 120 – known unknown 558 – shared knowledge 177 – unknown known 558 – unknown unknown 558 knowledge crafting 189, 232, 242 knowledge telling 186–187, 232 knowledge transforming 186–187, 232
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Register
Kohärenz 32, 95, 162, 191–192, 215, 221, 238, 408, 455 Kohäsion 32, 63, 88, 222, 267, 408 Kommunikationsreihe 37 Konflikt 147, 512 Konstruktionsgrammatik 523 Konstruktivismus 37, 53, 59, 231 Kontextualisierung 38, 57, 88, 97, 127, 148 Kontextualität 153, 161 Kontroverse 366, 512, 517 – wissenschaftliche 364, 571 Konversationsanalyse 37, 81, 86, 108, 133, 383 Konversationsmaximen 85, 517 Konzeption 14, 16, 67, 74, 164 Kopräsenz 29, 44, 82, 89, 219, 381, 515 Laienlinguistik 536 Lesbarkeit 237 Leserlichkeit 237 Linearisierung 209, 216 Linguistik, Interaktionale 81, 201, 398, 405, 410 Marketingmix 477 MD-TRACE model 179 Medialität 28, 67, 74, 89, 511, 541 Medienkonvergenz 375 Medienmix 16, 21 Medium 14, 16, 365 Mensch-Maschine-Interaktion 454 Mentalität 5, 71 Metapher 63–64, 71, 111, 147, 155, 158–159, 161, 257, 310, 556, 560, 564, 572 – Diskursmetapher 164 Modell, mentales 179, 187, 204, 223, 238 Monologizität 14, 28 Multimedialität 50, 357, 402, 404 Multimodalität IX, 8, 18, 68, 87, 164, 357, 375, 404, 511, 517 Mündlichkeit – konzeptionelle 5, 13, 17, 34, 39, 45, 62, 67, 255, 335, 381, 391 – mediale 13, 27, 462, 492, 511, 515, 545 Nähe-Distanz-Kontinuum 15 Nichtlinearität 402 Normierung 10, 12 Objektreferenz 216 Parlando 21 Partizipation 379, 382, 411, 464
Partnermodell 113 Persuasion 488, 494, 504 plain language 236 Polemik 330–331, 513, 517, 527 Praktik, kommunikative IX, 3, 19, 23, 34, 36, 39, 68, 94, 144, 152, 155, 159, 253, 302, 427, 488, 492, 495, 517 Prosodie 81, 88, 211, 542 Prototypisierung 6 Quaestio 209, 214 recipient design 86, 112, 114, 116 314 Rhetorik 71, 160, 270, 488, 494, 504, 526 Schriftlichkeit – konzeptionelle 5, 13, 17, 34, 39, 45, 62, 67, 255, 335 – mediale 13, 27, 462, 492, 511, 515, 545 Semiose, wilde 69 Serialität 149, 152 simulation theory 106 Situationalität 32, 161, 408 Social Web 374, 398, 400, 408 Sprachbeschreibung 6, 535 Sprache – einfache 236 – kontrollierte 237 – Leichte 236 Sprache der Distanz 5, 13, 16, 34, 63 Sprache der Nähe 5, 13, 16, 34, 63, 377 Sprache-in-Interaktion 410 Sprachkritik 12, 366, 521, 534–550 Sprachverfall 13, 538, 543, 550 Sprechakt 55, 93, 159, 524 – indirekter 59 Sprechakttheorie 81, 93, 480 Standardisierung 10, 12, 216, 236, 309, 448, 472, 478, 480 Stilistik 160, 339, 545 Story-Telling 481 Systemtheorie 58, 84 tellability 110 Terminologie 361, 472 Terminologiearbeit 54 Terminologie-Management 472, 479 Textkompetenz 185, 190, 286 Textprozeduren 180 Textroutinen 351, 451, 455
Register
Textsorte IX, 17, 19, 23, 34, 39, 57, 62, 94, 145, 147, 163, 253, 284, 286, 324, 328, 331, 383, 393, 487, 515 – Hypertextsorte 408 – Primärtextsorte 329, 453 – Sekundärtextsorte 329, 453 Textualität 27, 30, 38–39, 44, 393, 399, 408 Textualitätskriterien 30, 32–33, 38 Textverstehen 57, 73, 175, 178–180, 194, 223, 230, 245 theory of mind 106, 113, 205 theory theory 106 Toposanalyse 72, 525 Ungewissheit 558–559 Unidirektionalität 47 Unsicherheit 558–559 Usability 242, 467 Vermündlichungstendenzen 21 Verschriftlichungstendenzen 21 Verständlichkeit 17, 175, 229, 270, 306, 333, 387, 545
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Viskurs 264 Visualisierung 251, 354 Visualität 27, 255–256 Wissen – Begründungswissen 301, 312–313, 316 – deklaratives 53, 56, 73, 192, 300, 314, 447, 460, 557 – Herstellungswissen 182, 185, 192 – implizites 55, 193, 301, 435, 447, 461, 481, 511, 572 – Metawissen 182–183, 447 – prozedurales 53, 56, 73, 104, 182–183, 300, 312, 314, 316, 447, 460, 557 Wissensasymmetrie 119, 424, 427, 565, 569 Wissensdivergenz 510, 523–524 Wissensorganisation 349 Wissensvermittlung 349 Wohlwollensprinzip 67 Wortfeldtheorie 71 written language bias 11 Zugänglichkeit 45