957 41 6MB
German Pages XXI, 820 [798] Year 2020
Kirsten Aner Ute Karl Hrsg.
Handbuch Soziale Arbeit und Alter 2. Auflage
Handbuch Soziale Arbeit und Alter
Kirsten Aner · Ute Karl (Hrsg.)
Handbuch Soziale Arbeit und Alter 2., überarbeitete und aktualisierte Auflage Unter Mitarbeit von Eva Maria Löffler
Hrsg. Kirsten Aner FB Humanwissenschaften Universität Kassel Kassel, Deutschland
Ute Karl Evangelische Hochschule Ludwigsburg Ludwigsburg, Deutschland
ISBN 978-3-658-26624-0 (eBook) ISBN 978-3-658-26623-3 https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detail lierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2010, 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Inhalt
Autorinnen und Autoren
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XI
1
Peter Hammerschmidt und Eva Maria Löffler Soziale Altenhilfe als Teil kommunaler Sozial(hilfe-)politik . . . . . . . . .
11
Kirsten Aner Soziale Altenhilfe als Aufgabe Sozialer (Alten-)Arbeit
. . . . . . . . . . .
29
Yvonne Rubin Kommunale Alten(hilfe-)planung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55
Cornelia Kricheldorff Ausbildung und Weiterbildung von Fachkräften Sozialer (Alten-)Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
Johannes Pflegerl und Angelika Neuer Soziale Arbeit für ältere Menschen in Österreich . . . . . . . . . . . . . .
85
Kirsten Aner und Ute Karl Einführung in die zweite Auflage
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Teil I: Soziale Arbeit mit älteren und alten Menschen Kapitel 1: Rahmenbedingungen der Sozialen Arbeit mit älteren und alten Menschen
V
VI
Inhalt
Klaus R. Schroeter und Carlo Knöpfel Soziale Arbeit für ältere Menschen in der Schweiz . . . . . . . . . . . . .
95
Ute Karl und Franz Kolland Freizeitorientierte Soziale Arbeit mit älteren und alten Menschen . . . . .
109
Ute Karl Kulturelle Bildung und Kulturarbeit mit älteren Menschen . . . . . . . . .
119
Cornelia Kricheldorff Soziale Arbeit im Kontext von Bildung und Lernen im Alter . . . . . . . .
133
Peter Franzkowiak Krankheitsprävention und Soziale Gesundheitsarbeit im Alter . . . . . . .
149
Annette Franke Soziale (Alten-)Arbeit in der Rehabilitation
. . . . . . . . . . . . . . . .
159
Harald Ansen Soziale (Alten-)Arbeit im Krankenhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
169
Werner Vogel Soziale Arbeit in der Geriatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
179
Margret Dörr Soziale (Alten-)Arbeit in der Gerontopsychiatrie . . . . . . . . . . . . . .
187
Verena Begemann und Mareike Fuchs Soziale Arbeit in Hospiz und Palliativversorgung . . . . . . . . . . . . . .
197
Roland Schmidt Soziale Arbeit in der pflegerischen Versorgung
207
Kapitel 2: Felder der Sozialen Arbeit mit älteren und alten Menschen
Arbeitsfelder im Bereich Gesundheit und Pflege
. . . . . . . . . . . . . .
Inhalt
VII
Kapitel 3: Besonderheiten der Sozialen Arbeit mit älteren und alten Menschen Kirsten Aner Generationenbeziehungen in der Sozialen Beratung älterer Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
217
Ines M. Breinbauer Alter und Bildung aus bildungsphilosophischer Perspektive . . . . . . . .
227
Monika Alisch Freiwilliges Engagement älterer Menschen und freiwilliges Engagement für ältere Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
239
Eva Soom Ammann Diversität im stationären Pflegealltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
251
Micha Brumlik Advokatorische Ethik in der Sozialen Arbeit mit alten Menschen . . . . . .
263
Wolf Rainer Wendt Care und Case Management im Kontext Sozialer Altenarbeit
271
Peter Hammerschmidt und Florian Tennstedt Sozialrecht und Sozialpolitik für das Alter – Entwicklungen bis Anfang der 1960er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . .
287
Felix Welti Alter, Rentenversicherung und andere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
301
Stephan Rixen Alter, Kranken- und Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
313
Kathrin Becker-Schwarze Alter, Betreuungsrecht und Vorsorgevollmacht
325
. . . . . . .
Teil II: Sozialrecht, Sozialpolitik und Lebenslagen im Alter Kapitel 1: Sozialrecht und Sozialpolitik für alte Menschen
. . . . . . . . . . . . . .
VIII
Peter Rott Alter und Verbraucherschutz
Inhalt
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
337
Dietrich Engels Einkommen und Vermögen im Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
351
Dörte Naumann und Frank Oswald Wohnen im Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
369
Harald Künemund und Martin Kohli Soziale Netzwerke im Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
379
Hans Günther Homfeldt Gesundheit und Krankheit im Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
387
Karin Stiehr und Philipp Garrison Alter und Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
397
Martina Brandt und Alina Schmitz Alter und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
405
Lea Schütze Alter und Homosexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
413
Katrin Falk und Michael Zander Alter und Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
421
Antonio Brettschneider und Ute Klammer Armut im Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
433
Kerstin Hämel und Birgit Wolter Alter(n) im ländlichen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
443
Vincent Horn, Wolfgang Schröer und Cornelia Schweppe Alte Menschen mit Migrationshintergrund und Fluchterfahrungen . . . .
455
Kapitel 2: Lebenslagen im Alter
Kapitel 3: Spezifische Themen im Kontext von Alter
Inhalt
IX
Lucia Tonello Alter und Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
465
Franz Kolland und Vera Gallistl Freizeit im Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
475
Stephan Baas und Marina Schmitt Partnerschaft und Sexualität im Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
483
Katharina Gröning und Yvette Yardley Gewalt gegen ältere Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
491
Thomas Görgen, Werner Greve und Arnd Hüneke Delinquenz älterer Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
501
Peter Wißmann Demenz als soziales Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
509
Insa Fooken Nachkriegskindheiten und Altern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
517
Stefan Dreßke Sterben und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
527
Hannah Müller-Pein und Reinhard Lindner Suizid im Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
533
Klaus R. Schroeter und Harald Künemund ‚Alter‘ als soziale Konstruktion – eine soziologische Einführung . . . . . .
545
Gerd Göckenjan Altersbilder in der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
557
Barbara Pichler Aktuelle Altersbilder – ‚junge Alte‘ und ‚alte Alte‘ . . . . . . . . . . . . . .
571
Hans-Werner Wahl und Marina Schmitt Psychogerontologische Konzepte des Alter(n)s . . . . . . . . . . . . . .
583
Teil III: Soziale Konstruktionen des Alters
X
Inhalt
Miriam Haller und Thomas Küpper Kulturwissenschaftliche Alternsstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . .
595
Gerhard Igl Alter und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
603
Hermann Brandenburg und Katharina Steinhauer Altersforschung als interdisziplinäres Projekt . . . . . . . . . . . . . . .
617
Clemens Tesch-Römer und Andreas Motel-Klingebiel Sozial- und verhaltenswissenschaftliche Gerontologie in Deutschland . . .
627
Frank Schulz-Nieswandt Die Altenberichte der Bundesregierung. Themen, Paradigmen, Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
639
Hans-Joachim von Kondratowitz Vergleichende Alternsforschung – nationale Bedingungen, internationale Ergebnisse und Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . .
653
Carolin Kollewe Partizipative Altersforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
665
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
675
Teil IV: Altersforschung
Autorinnen und Autoren
Monika Alisch: Dr. phil. habil., Dipl. Soziologin, Professorin für sozialraumbezogene Soziale Arbeit, Gemeinwesenarbeit und Sozialplanung, Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Fulda. Sprecherin des wissenschaftlichen Zentrums „CeSSt – Centre of Research for Society and Sustainability“ der Hochschule Fulda. Mitglied der Leitung des Hessischen Promotionszentrums Soziale Arbeit. Arbeitsschwerpunkte: Sozialraum, Soziale Nachhaltigkeit, alternde Gesellschaft, partizipative Forschung, Engagement und Migration. Kontakt: [email protected] Kirsten Aner: Dr. rer. pol. habil., Dipl. Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin, Diplom Agraringenieurin, Professorin für Lebenslagen und Altern am Fachbereich Humanwissenschaften der Universität Kassel. Arbeitsschwerpunkte: Kritische Gerontologie, Sozialarbeit/Sozialpädagogik der Lebensalter, Soziale (Alten-)Arbeit, Interdisziplinarität. Kontakt: [email protected] Harald Ansen: Dr. phil., Dipl. Sozialpädagoge, Professur für Theorien und Methoden der Sozialen Arbeit an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, Fakultät Wirtschaft und Soziales. Arbeitsschwerpunkte: Armut und soziale Ausgrenzung, Beratung in der Sozialen Arbeit. Kontakt: [email protected] Stephan Baas: Dipl. Soziologe und Gerontologe (FH), stellvertretender Studiengangsleiter des Studiengangs Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Soziale Gerontologie an der Berufsakademie für Gesundheits- und Sozialwesen Saarland. Arbeitsschwerpunkte: Soziale Beziehungen, Lebensformen, Singles, subjektives Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit. Kontakt: [email protected] Kathrin Becker-Schwarze: Dr. iur., Professorin für Familien- und Jugendrecht, Recht der Sozialen Arbeit an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Fulda. ArXI
XII
Autorinnen und Autoren
beitsschwerpunkte: Familienrecht, Betreuungsrecht, Kinder- und Jugendhilferecht, Medizinrecht. Kontakt: [email protected] Verena Begemann: Prof. Dr. phil., Dipl. Sozialpädagogin/Sozialarbeiterin, Professorin für Ethik und Sozialarbeitswissenschaft an der Hochschule Hannover. Arbeitsschwerpunkte: Ethosbildung und Berufsethik, Hospiz und Palliative Care, Zeitethik, Spiritualität für die Soziale Arbeit und Religionspädagogik. Kontakt: [email protected] Hermann Brandenburg: Univ. Prof., Dr. phil., Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar (PTHV). Arbeitsschwerpunkte: Demenz, Innovationen in der stationären Langzeitpflege. Kontakt: [email protected] Martina Brandt: Dr. phil., M. A. Soziologie, Philosophie, Ethnologie. Professorin für Sozialstruktur und Soziologie alternder Gesellschaften an der TU Dortmund. Arbeitsschwerpunkte: Altern, Arbeit, Gesundheit und Familie im Lebenslauf, Pflege, soziale Netzwerke, Generationen, soziale Ungleichheit und Sozialpolitik, quantitative Methoden. Kontakt: [email protected] Ines Maria Breinbauer: Mag. rer. nat., Dr. phil., Professorin i. R. für Allgemeine (Systematische) Pädagogik am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien. Arbeitsschwerpunkte: Grundlegungsfragen der Bildungswissenschaft, Bildungstheorie und -philosophie, Ethik, Wissenschaftstheorie. Kontakt: ines.maria.breinbauer@ univie.ac.at Antonio Brettschneider: Dr. phil, M. A. Soziologie, Professor für Kommunale Sozialpolitik an der Technischen Hochschule Köln, Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften. Arbeitsschwerpunkte: Sozialpolitik und Sozialstaat, Alterssicherung und Altersarmut, Vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung. Kontakt: [email protected] Micha Brumlik: emeritierter Professor am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main, von 2000 bis 2005 Leiter des Fritz-Bauer-Institut Frankfurt am Main (Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte des Holocaust und seiner Wirkung), seit 2013 Senior Advisor am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Arbeitsschwerpunkte: Pädagogik, Ethik, Theorie und Empirie moralischer Sozialisation, Religionsphilosophie. Margret Dörr: Prof. Dr. phil., Dipl. Soziologin und Dipl. (FH) Sozialpädagogin, Professorin an der Katholischen Hochschule Mainz, Fachbereich Soziale Arbeit und Sozialwissenschaften. Arbeitsschwerpunkte: Theorien Sozialer Arbeit, Gesundheits
Autorinnen und Autoren
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förderung, recovery-förderliche Arbeitsbündnisse in der Sozialpsychiatrie, psychoanalytische Sozialpädagogik. Kontakt: [email protected] Stefan Dreßke: Dr. rer. pol., Diplom-Soziologe, Institut für Gerontologie der Universität Vechta. Arbeitsschwerpunkte: medizinsoziologische Untersuchungen zum Sterben, zur Schmerzversorgung, zur Krankenpflege sowie zur Rehabilitation behinderter Menschen. Kontakt: [email protected] Dietrich Engels: Dr. theol., M. A. Soziologie. Geschäftsführer des ISG Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik GmbH. Arbeitsschwerpunkte: Armuts- und Lebenslagenforschung, Soziale Gerontologie und Pflege, Teilhabeforschung. Kontakt: [email protected] Katrin Falk: M. A. Politikwissenschaft/Soziologie, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Gerontologische Forschung e. V. (IGF). Arbeitsschwerpunkte: soziale Ungleichheit im Alter, qualitative Forschungsmethoden, Pflege- und Versorgungsforschung, kommunale Altenhilfe- und Pflegepolitik. Kontakt: [email protected] Insa Fooken: Prof. Dr. phil., Entwicklungspsychologin der Lebensspanne, Seniorprofessorin an der Goethe-Universität Frankfurt/Main, Arbeitsgruppe „Interdisziplinäre Alternswissenschaft“ (IAW). Arbeitsschwerpunkte: Gender und Altern, Kriegskinder im Alter, Resilienz, Ambivalenz, kulturwissenschaftliche Bedeutung von Puppen. Kontakt: [email protected] Annette Franke: Prof. Dr. phil., Dipl.-Sozialwissenschaftlerin, Professorin an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg für Gesundheitswissenschaften, Soziale Gerontologie und Methoden und Konzepte der Sozialen Arbeit. Arbeitsschwerpunkte: Arbeit, Alter(n) und Gesundheit, Vereinbarkeit von Beruf und Pflege bei räumlicher Distanz, Übergänge im Lebenslauf, Gesundheitskompetenz und Gesundheitsbildung, Wohnen im Alter, Suchtarbeit, soziale Netzwerke und intergenerationelle Unterstützung. Kontakt: [email protected] Peter Franzkowiak: Dr. disc. pol., Diplom-Psychologe, Medizinsoziologe, Gesundheitswissenschaftler, 1993 – 2017 Professor für Gesundheitswissenschaften und Sozial medizin in der Sozialen Arbeit am FB Sozialwissenschaften der HS Koblenz. Arbeits schwerpunkte: Geschichte, Theorien, Methoden und Kritik von Prävention und Gesundheitsförderung, Gesundheitswissenschaften in der Sozialen Arbeit, Risikoverhalten, Risikokompetenz und Suchtprävention, gesundheitsbezogene Sozialarbeit, Gerontologie und Soziale Altenarbeit. Kontakt: [email protected] Mareike Fuchs: M. Sc. Palliative Care, Dipl. Sozialarbeiterin/-pädagogin, Leiterin des Hamburg Leuchtfeuer Hospiz, Hamburg. Kontakt: [email protected]
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Autorinnen und Autoren
Vera Gallistl: MA, Assistentin und Doktorandin am Institut für Soziologie der Universität Wien. Arbeitsschwerpunkte: Kulturgerontologie, Digitalisierung, Kreativität im Alter, Bildung im Alter. Kontakt: [email protected] Philipp Garrison: M. A. Soziologie, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Johannes-Gutenberg-Universität im Institut für Politikwissenschaften sowie der Hochschule Fulda im Institut für Soziale Arbeit. Arbeitsschwerpunkte: Gerontologie, qualitative Methoden der Sozialforschung, Wissenssoziologie, politischer Extremismus und Fremdenfeindlichkeit. Kontakt: [email protected] Gerd Göckenjan: em. Professor für Gesundheitspolitik an der Universität Kassel. Arbeitsschwerpunkte: Soziologie und Politik des Gesundheitswesens, Medizinsoziologie, Geschichte der Medizin und des Gesundheitswesens, Diskursgeschichte des Alters. Thomas Görgen: Dr. phil., Diplom-Psychologe, Univ.-Professor für Kriminologie und interdisziplinäre Kriminalprävention an der Deutschen Hochschule der Polizei, Münster, Department Kriminal- und Rechtswissenschaften. Arbeitsschwerpunkte: Viktimisierungsrisiken vulnerabler Bevölkerungsgruppen, Radikalisierung und Extremismus, Strategien und Ansätze der Kriminal- und Gewaltprävention. Kontakt: [email protected] Werner Greve: Dr. rer. nat., M. A., Diplom-Psychologe, Univ.-Professor für Psychologie an der Universität Hildesheim, Fachbereich Erziehungs- und Sozialwissenschaften. Arbeitsschwerpunkte: Viktimisierungs- und Inklusionsforschung, Entwicklungspsychologie und Entwicklung über die Lebensspanne sowie Bewältigungsprozesse von belastenden Lebensereignissen. Kontakt: [email protected] Katharina Gröning: Dr. phil., Professorin an der Universität Bielefeld, Fakultät Erziehungswissenschaft, Arbeitsgruppe Pädagogische Beratung, Supervisorin. Arbeitsschwerpunkte: Beratung und Supervision, Späte Familie im Kontext von gesellschaftlichen Geschlechterverhältnissen, Supervisionsforschung, Beratungswissenschaft, Emotionssoziologie der Pflege. Kontakt: [email protected] Kerstin Hämel: Dr. rer. soc., Professorin für Gesundheitswissenschaften mit Schwerpunkt Pflegerische Versorgungsforschung, Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte: Gesundheit und Pflege alter Menschen, Primärversorgungskonzepte im internationalen Vergleich, Partizipation und Kooperation im Gesundheitswesen und in der Pflege, wohnortnahe/regional differenzierte Versorgung. Kontakt: [email protected] Miriam Haller: Dr. phil., Kultur- und Bildungswissenschaftlerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei kubia – Kompetenzzentrum für Kulturelle Bildung im Alter und
Autorinnen und Autoren
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Inklusion. Arbeitsschwerpunkte: Kritische Alter(n)sdiskursforschung, Partizipative Aging Studies, Ambivalenzen des Alter(n)s, Bildungstheorie und Geschichte der Ger agogik. Kontakt: [email protected] Peter Hammerschmidt: Dr. phil. habil., Diplom-Pädagoge, Diplom-Sozialpädagoge (FH), Professor für Grundlagen der Sozialen Arbeit an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften München, Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften. Arbeitsschwerpunkte: Soziale Arbeit und Sozialpolitik, Einrichtungen und Träger Sozialer Arbeit sowie Theorie und Geschichte Sozialer Arbeit. Kontakt: [email protected] Hans Günther Homfeldt: Prof. em., bis 2007 Prof. für Sozialpädagogik/Sozialarbeit an der Universität Trier. Arbeitsschwerpunkte: Internationale Soziale Arbeit; Gesundheit und Soziale Arbeit; Soziale Arbeit und Lebensalter. Kontakt: homfeldt@ uni-trier.de Vincent Horn: Dr. phil., M. A. Postdoktorand an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Institut für Erziehungswissenschaft, AG Sozialpädagogik. Arbeitsschwerpunkte: Alter, Flucht und Migration, Soziale Arbeit und Sozialpolitik, transnationale familiäre Unterstützung, Pflegeregime im internationalen Vergleich, qualitative und quantitative Forschungsmethoden. Kontakt: [email protected] Arnd Hüneke: Ass. jur., Regierungsdirektor, stellvertretender Präsident des Nds. Landesamtes für Denkmalpflege. Arbeitsschwerpunkte: Personalangelegenheiten, Kulturgutkriminalität, Verwaltungsökonomie. Kontakt: [email protected] Gerhard Igl: Dr. iur., Universitätsprofessor a. D., Universität Kiel, bis Oktober 2014 geschäftsführender Direktor des Instituts für Sozialrecht und Gesundheitsrecht. Arbeitsschwerpunkte: Gesundheitsrecht, insbesondere Kranken- und Pflegeversicherung, Recht der Gesundheitsberufe, Recht des bürgerschaftlichen Engagements und Recht der älteren Menschen. Kontakt: [email protected] Ute Karl: Dr. phil., Diplom-Pädagogin, Professorin für das Fachgebiet ,Kulturelle, politische und internationale Dimensionen Sozialer Arbeit‘ an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg. Arbeitsschwerpunkte: Soziale Arbeit und Alter(n), Übergänge ins Erwachsenenalter, Migrations- und Geschlechterforschung, Beratung, qualitative Forschungsmethoden. Kontakt: [email protected] Ute Klammer: Dr. rer. pol., geschäftsführende Direktorin des Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) und Professorin für Soziologie an der Universität Duisburg-Essen, Fakultät Gesellschaftswissenschaften. Arbeitsschwerpunkte: Grundsatzfragen
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Autorinnen und Autoren
der sozialen Sicherung, Alterssicherung, Familienpolitik, europäische und international vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung, Armut und Einkommensverteilung, Erwerbstätigkeit und soziale Sicherung von Frauen, Gleichstellung, Migration und Sozialpolitik. Kontakt: [email protected] Franz Kolland: Ao. Univ. Prof. Dr., Professor am Institut für Soziologie der Universität Wien. Arbeitsschwerpunkte: Sozialgerontologie, Bildungssoziologie, Soziologie der Entwicklungsländer. Kontakt: [email protected] Carolin Kollewe: Dr. phil., Ethnologin, Professorin für sozialwissenschaftliche Technikforschung an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Arbeitsschwerpunkte: Alter/ Technik/Pflege, Alter/Migration/Care, Kritische Gerontologie, Cultural Gerontology, Science and Technology Studies. Kontakt: [email protected] Carlo Knöpfel: Dr. rer. pol., Professor für Sozialpolitik und Soziale Arbeit an der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW). Arbeitsschwerpunkte: gesellschaftlicher Wandel und soziale Sicherheit, Armut und soziale Ungleichheit, Arbeitslosigkeit und Arbeitsmarktfähigkeit, Betreuung im Alter. Kontakt: [email protected] Martin Kohli: Dr. rer. pol., Dr. h. c., Distinguished Bremen Professor, Bremen International Graduate School of Social Sciences (BIGSSS) und Emeritus Professor of Sociology, European University Institute (EUI). Arbeitsschwerpunkte: Lebenslaufforschung, Familie und Bevölkerung, Generationen, vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung. Kontakt: [email protected] Cornelia Kricheldorff: Prof. Dr. phil., Dipl. Sozialgerontologin, Dipl. Sozialpädago gin, Professorin an der Katholischen Hochschule Freiburg, Prorektorin für Forschung und Institutsleitung des Instituts für Angewandte Forschung, Entwicklung und Weiterbildung (IAF). Sprecherin des Forschungsschwerpunkts Versorgungsforschung an der KH Freiburg und des Fachausschusses Alter und Technik der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG). Arbeitsschwerpunkte: Soziale Gerontologie und Geragogik. Kontakt: [email protected] Harald Künemund: Dr. phil. habil., Professor für Empirische Alternsforschung und Forschungsmethoden, Institut für Gerontologie, Universität Vechta. Arbeitsschwerpunkte: Gesellschaftliche Partizipation älterer Menschen, Generationenbeziehungen, Lebenslauf und Biographie, Methoden der empirischen Sozialforschung. Kontakt: [email protected] Thomas Küpper: Dr. phil., Literatur- und Medienwissenschaftler, Akademischer Rat auf Zeit am Institut für Germanistik der Universität Duisburg-Essen. Arbeits-
Autorinnen und Autoren
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schwerpunkte: Altersbilder in Literatur, Film und Fernsehen, Aging und Postcolonial Studies. Kontakt: [email protected] Reinhard Lindner: Prof. Dr. med., Facharzt für Neurologie, Psychiatrie, Psychosoma tische Medizin, Professor für Theorie, Empirie und Methoden der Sozialen Therapie am Institut für Sozialwesen der Universität Kassel. Arbeitsschwerpunkte: Suizidprävention, Psychodynamik der Suizidalität, geschlechts- und altersspezifische Aspekte der Suizidalität, Gerontopsychosomatik. Kontakt: [email protected] Eva Maria Löffler: M. A. Soziale Arbeit, Sozialarbeiterin, wissenschaftliche Mitarbeiterin Universität Kassel, Institut für Sozialwesen, Fachgebiet Lebenslagen und Altern. Arbeitsschwerpunkte: Soziale Arbeit und Alter, Versorgung und Pflege im Kontext kommunaler Daseinsvorsorge, Professionalisierung, Wandel und Globalisierung der Gesundheits- und Sozialberufe. Kontakt: loeff[email protected] Andreas Motel-Klingebiel: Prof. Dr. phil., Dipl.-Soz., Professor für Alternsforschung und Leiter der Division Ageing and Social Change an der Universität Linköping, Arbeitsschwerpunkte: soziale Sicherung und Lebensqualität, sozialer Wandel, Ungleichheit und Exklusion, Generationenverhältnisse und Generationenbeziehungen, Erwerbstätigkeit und Alterssicherung, materielle Lagen älterer Menschen. Kontakt: [email protected] Hannah Müller-Pein: M. A. Soziale Arbeit, wissenschaftliche Mitarbeiterin Universität Kassel, Institut für Sozialwesen, Fachgebiet Theorie, Empirie und Methoden der Sozialen Therapie. Arbeitsschwerpunkte: Sozialpsychiatrie, Suizidalität, Suizidprävention in den Medien, Kinder- und Jugendhilfe. Kontakt: hannah.mueller-pein@ uni-kassel.de Dörte Naumann: Dr. phil. Professorin für Soziale Gerontologie am Fachbereich Soziale Arbeit, Hochschule Darmstadt. Arbeitsschwerpunkte: Möglichkeiten und Grenzen der Teilhabe und selbständigen Lebensführung im Alter. Kontakt: [email protected] Angelika Neuer: Dipl. Sozialarbeiterin, Fachexpertin für die Sozialarbeit im Kuratorium Wiener Pensionisten-Wohnhäuser, Bereich Pflege und interdisziplinäre Betreuung. Fachexpertin für Soziale Arbeit mit alten Menschen im Österr. Berufsverband der Sozialen Arbeit (OBDS), Leiterin der Arbeitsgemeinschaft Altern und Soziale Arbeit der Österreichischen Gesellschaft für Soziale Arbeit (ogsa). Arbeitsschwerpunkte: fachspezifische Qualitätssicherung der Sozialarbeit im Unternehmen. Kontakt: [email protected]
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Autorinnen und Autoren
Frank Oswald: Professor für Interdisziplinäre Alternswissenschaft (IAW) am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Vorstandssprecher des Frankfurter Forums für interdisziplinäre Alternsforschung (FFIA) sowie Direktor des Center Aging der Goethe Research Academy for Early Career Researchers (GRADE). Kontakt: [email protected] Johannes Pflegerl: Mag. Dr., Soziologe, Professor an der Fachhochschule St. Pölten, Department für Soziales. Leiter des Ilse-Arlt-Instituts für Soziale Inklusionsforschung, Leiter der Arbeitsgemeinschaft Altern und Soziale Arbeit der Österreichischen Gesellschaft für Soziale Arbeit (ogsa). Arbeitsschwerpunkte: Soziale Arbeit mit älteren Menschen und ihren Angehörigen, Alternsforschung, Ambient Assisted Living. Kontakt: [email protected] Barbara Pichler: Mag.a Dr.in, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Pflege wissenschaft der Universität Wien. Arbeitsschwerpunkte: Dementia und Palliative Care, Kritische Gerontologie, Alter und Geschlecht, Care aus feministischer Sicht, Alter in der Sozialen Arbeit. Kontakt: [email protected] Stephan Rixen: Prof. Dr. iur., Professor für Öffentliches Recht an der Rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth. Arbeitsschwerpunkte: Arbeitsschwerpunkte: Verfassungs-, Sozial-, Gesundheitsrecht, öffentliches Wirtschaftsrecht, Recht der Sozialwirtschaft. Peter Rott: Prof. Dr. iur., Vertreter des Lehrstuhls Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht sowie Rechtsinformatik an der Universität Oldenburg und Gastprofessor an der Universität Gent. Arbeitsschwerpunkt: Deutsches und Europäisches Verbraucherrecht. Kontakt: [email protected] Yvonne Rubin: Dr. phil., M. A. Soziale Arbeit im Schwerpunkt Sozialraumentwicklung und -organisation, B. Sc. Pflege und Gesundheit. Arbeitsschwerpunkte: Geschlechterforschung, Altern, soziale/gesundheitliche Ungleichheiten, qualitative und partizipative Forschung. Kontakt: [email protected] Roland Schmidt: Dr., bis 2017 Professor für Gerontologie und Versorgungsstrukturen an der FH Erfurt, Aufsichtsrat der KWA gAG. Arbeitsschwerpunkte: Unternehmensentwicklung, Qualitätsberichterstattung, pflegerische Versorgungsstruktur, Management in der Pflege. Kontakt: [email protected] Marina Schmitt: Dr., Diplom-Psychologin und Gerontologin, seit 2014 Geschäftsführerin des Sozialdienstes katholischer Frauen e. V. Wiesbaden. Arbeitsschwerpunkte: soziale Beziehungen und Lebensformen im Alter. Kontakt: dr.marina.schmitt@ skf-wiesbaden.de
Autorinnen und Autoren
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Alina Schmitz: M. A. Rehabilitationswissenschaften, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Sozialstruktur und Soziologie alternder Gesellschaften der TU Dortmund und im ISG Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik Köln. Arbeitsschwerpunkte: Gesundheitssoziologie, soziale Ungleichheiten in der Gesundheit, Sozial- und Gesundheitspolitik in alternden Gesellschaften. Kontakt: alina. [email protected] Wolfgang Schröer: Dr. phil, Diplom-Pädagoge, Professor für Sozialpädagogik an der Stiftung Universität Hildesheim, Institut für Sozial- und Organisationspädagogik. Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Geschichte der Sozialen Arbeit, Kinder- und Jugendhilfe, transnationale soziale Unterstützung. Kontakt: [email protected] Klaus R. Schroeter: Dr. phil. habil., Professor für Soziale Arbeit und Alter an der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW). Arbeitsschwerpunkte: Alternssoziologie, Kritische Gerontologie, Doing Age, soziologische Theorien, Körpersoziologie. Kontakt: [email protected] Lea Schütze: Dr. rer. soc., Leitung „BNE-Kompetenzzentrum für Prozessbegleitung und Prozessevaluation (BiNaKom)“, DJI e. V. München. Arbeitsschwerpunkte: LGBT und Alter(n), Altern und Geschlecht, qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung, kommunale Bildungsforschung. Kontakt: [email protected] Frank Schulz-Nieswandt: Univ.-Prof. (Universität zu Köln), Hon.-Prof. (Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar); Vorstandsvorsitzender des KDA, Berlin und Köln. Arbeitsschwerpunkte: interdisziplinäre Forschung und Lehre zur Sozialpolitik und ihrer anthropologischen Fundierung, insbesondere zu Altern, Gesundheit und Pflege, zur Öffentlichen Wirtschaft, Sozialwirtschaft und Genossenschaftsökonomik. Kontakt: [email protected] Cornelia Schweppe: Dr. phil. habil., Diplom-Pädagogin, Professorin für Sozialpäd agogik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Institut für Erziehungswissenschaft. Arbeitsschwerpunkte: Alter(n)s- und Altenhilfeforschung, Transnationales Alter(n), (Trans)Migration, Soziale Arbeit und Internationalität, Transnationale Soziale Unterstützung, Armut, qualitative Forschungsmethoden, Professionalisierung der Sozialen Arbeit. Kontakt: [email protected] Eva Soom Ammann: Dr. phil. hist., Sozialanthropologin, Professorin und Forschungsleiterin des Innovationsfeldes Psychosoziale Gesundheit an der Berner Fachhochschule BFH, Departement Gesundheit, Fachbereich Pflege. Arbeitsschwerpunkte: Diversität und Ungleichheit in der Gesundheitsversorgung, Langzeitpflege im Alter, Migration und Alter, Sterben und Tod, Autonomie und Selbstbestimmung. Kontakt: [email protected]
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Autorinnen und Autoren
Katharina Steinhauer: B. Sc. Pflege (FH), Gesundheits- und Krankenpflegerin (überwiegend in der Langzeitversorgung chronisch kranker alter Menschen und der Kardiologie), M. Sc. Pflegewissenschaft. Arbeitsschwerpunkte: Demenz, herausforderndes Verhalten, Leitlinienentwicklung. Kontakt: [email protected] Karin Stiehr: Dr. phil., Diplom-Soziologin, Diplom-Sozialarbeiterin (FH), Geschäftsführerin von ISIS – Sozialforschung/Sozialplanung/Politikberatung, Frankfurt am Main. Arbeitsschwerpunkte: Zivilgesellschaft und Sozialgerontologie, Beteiligung älterer Menschen am öffentlichen Leben, besondere Lebenslagen älterer Frauen, Verbesserung der Lebensqualität in der stationären Pflege. Kontakt: [email protected] Florian Tennstedt: Dr. disc. pol., em. Prof. für Sozialpolitik an der Universität Kassel, Fachbereich Sozialwesen. Arbeitsschwerpunkt: Historische Sozialpolitik Clemens Tesch-Römer: Prof. Dr. phil., Dipl.-Psych., Leiter des Deutschen Zentrums für Altersfragen und außerplanmäßiger Professor für Psychologie an der Freien Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Lebensqualität und Wohlbefinden im Alter, Gesundheit und Pflege im Alter, soziale Beziehungen und soziale Integration älterer Menschen, freiwilliges Engagement. Kontakt: [email protected] Lucia Tonello: Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin (BA), Dienstleistungsentwicklung im Sozial- und Gesundheitswesen (MA). Leiterin des Sozialreferates und stellvertre tende Leiterin der Katholischen Hochschulgemeinde Edith Stein in Freiburg. Promovendin am Arbeitsbereich Caritaswissenschaft der Theologischen Fakultät an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Arbeitsschwerpunkte: Koordination und Organisation sozialer und finanzieller Hilfeleistungen für Studierende. Strategie- und Innovationsprozess der Hochschulgemeinde, Begleitung junger MitarbeiterInnen beim Theorie-Praxis-Transfer. Kontakt: [email protected] Werner Vogel: Prof. Dr. med., Internist, Kardiologe, Geriater, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin. Ärztlicher Direktor a. D., Ev. Krankenhaus Gesundbrunnen Hofgeismar, Zentrum für Geriatrie und Neurologische Frührehabilitation. Ehem. Präsident der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie. Arbeitsschwerpunkte: interdisziplinäre Behandlung in der Geriatrie, rechtliche und ethische Fragen der Altersmedizin, Soziale Gerontologie. Kontakt: [email protected] Hans-Joachim von Kondratowitz: Dr. phil. habil., Diplom-Politologe, Senior Advisor am Deutschen Zentrum für Altersfragen Berlin (bis 2010), dann wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Gerontologie der Universität Vechta (bis 2020). Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Geschichte der Sozialpolitik und der Entwicklung der
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Alternsforschung, Kulturtheorien und Geschichte des Alterns, Pflegepolitik. Kontakt: [email protected] Hans-Werner Wahl: Prof. Dr., Diplom-Psychologe, Seniorprofessor und Direktor des Netzwerks Alternsforschung der Universität Heidelberg. Arbeitsschwerpunkte: Wechselwirkungen zwischen Altern und Umwelt, Adaptationsprozesse im späten Leben, Rolle subjektiven Alternserlebens, Umgang mit chronischen körperlichen Verlusten. Kontakt: [email protected] Felix Welti: Dr. jur. habil., Professor für Sozial- und Gesundheitsrecht, Recht der Rehabilitation und Behinderung an der Universität Kassel. Arbeitsschwerpunkte: So zialrecht, Behindertenrecht, Antidiskriminierungsrecht, Empirische Rechtsforschung. Kontakt: [email protected] Wolf Rainer Wendt: Prof. Dr. phil., Lehrender an der Dualen Hochschule BW Stuttgart und an anderen Hochschulen. Arbeitsschwerpunkte: Case Management, Geschichte und Theorie der Sozialen Arbeit, Sozialwirtschaftslehre. Kontakt: prof. [email protected] Peter Wißmann: Geschäftsführer und wissenschaftlicher Leiter der Demenz Support Stuttgart gGmbH, geschäftsführender Herausgeber des Magazins demenz, stellvertretender Vorsitzender der Aktion Demenz e. V. Birgit Wolter: Dr. ing., Vorstandsmitglied und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Gerontologische Forschung e. V. in Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Architektur-/Stadtsoziologie, Sozialraumforschung, raumbezogene soziale Ungleichheit, Sozialraum und Gesundheit, Universal Design. Kontakt: [email protected] Yvette Yardley: Dipl.-Päd., Pädagogische Mitarbeiterin im Ev. Bildungszentrum Bad Bederkesa, Promovendin der Universität Bielefeld zu „Gewalt in der häuslichen Pflege“. Kontakt: [email protected] Michael Zander: Dr. phil., Dipl.-Psych., Vertretung einer Professur für das System der Rehabilitation am Fachbereich Angewandte Humanwissenschaften der Hochschule Magdeburg-Stendal, Arbeitsschwerpunkte: Kritische Psychologie, Disability Studies, Praxisforschung. Kontakt: [email protected]
Einführung in die zweite Auflage Kirsten Aner und Ute Karl
Das Handbuch ‚Soziale Arbeit und Alter‘ liegt hier nach einer ersten Auflage im Jahr 2010 in einer zweiten, umfassend überarbeiteten und um einige Beiträge ergänzten Auflage vor. Der Titel wirft zunächst die Frage auf, ob ‚Alter‘ ein Thema für die Soziale Arbeit ist. Historisch betrachtet sind alte Menschen für die Sozialarbeit, eine der beiden Wurzeln der modernen Sozialen Arbeit, traditionell bedeutsam als Klient/-innen der Fürsorge. Hingegen orientierte sich die Sozialpädagogik, der zweite Traditionsstrang Sozialer Arbeit, vor allem an Kindheit und Jugend und war gegenüber dem Alter lange Zeit abstinent. Diese anfängliche Zurückhaltung kann zum einen als Vernachlässigung des Alter(n)s, zum anderen als vorsichtiger Umgang mit den Gefahren einer pädagogischen Kolonialisierung des Alters interpretiert werden. Spätestens seit den 1980er Jahren sind Sozialarbeit und Sozialpädagogik auf der Suche nach einem modernen Profil ihrer Arbeit mit älteren Adressat/-innen. Angestoßen wurde die Profilsuche durch den demografisch bedingten Bedeutungszuwachs von Altenpolitik, der wiederum einen Ausbau der sozialen Altenhilfe und eine Ausdifferenzierung der altenspezifischen Dienste und Einrichtungen mit sich brachte, allerdings ohne dass dabei die Soziale Arbeit systematisch berücksichtigt worden wäre. Ihre randständige Position resultiert daraus, dass die Lebensphase Alter nicht in gleicher Weise rechtlich gerahmt ist wie die Lebensphasen Kindheit und Jugend durch das SGB VIII. Für ältere Menschen existiert kein eigenständiges Leistungsrecht, nach dem sie einen Anspruch auf die Förderung ihrer Entwicklung und ein damit verbundenes Wunsch- und Wahlrecht hätten. Die Rechtsgrundlage für die Unterstützung älterer Menschen ist „Altenhilfe“ nach § 71 SGB XII als Teil der kommunalen Daseinsvorsorge. Soziale Arbeit für die Adressatengruppe älterer Menschen ist nur ein Teil dieses Regelungsbereichs. Es liegt in der Hand der Kommunen, in welchem © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_1
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Umfang sie Unterstützungsmöglichkeiten einrichten und dabei Soziale Arbeit einbe ziehen. Die Infrastruktur und Ausgestaltung der hier geleisteten Einzelfallhilfe, sozialen Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit ist wegen dieser wenig spezifischen rechtlichen Regelung der Altenhilfe als Aufgabe der kommunalen Selbstverwaltung stärker durch regionale Bundes- oder Landesförderschwerpunkte als durch ein einheitliches fachliches Profil geprägt. Angesichts des Strukturwandels des Alters, der einige Jahrzehnte lang mit Entberuflichung und Verjüngung sowie Feminisierung einherging und heute noch durch Singularisierung, Hochaltrigkeit und zudem eine weiter steigende Zahl älterer Menschen mit Migrationshintergrund gekennzeichnet ist, aber auch im Zuge einer veränderten gesellschaftlichen Wahrnehmung älterer Menschen entstanden zahlreiche einschlägige Modellprojekte auf Bundes- und Landesebene. Sie zielten vielfach auf ein sozialpädagogisch begleitetes ehrenamtliches Engagement Älterer sowie auf Beratungs- und Bildungsangebote und veränderten zunächst insbesondere die sog. offene Altenarbeit. Nach der Modellphase wurden und werden sie jedoch nicht immer in die kommunale Finanzierung übernommen. Fachkräfte der Sozialen Arbeit sind nicht nur in diesen Handlungsfeldern tätig, sondern – mit anderen Professionen zusammen – auch im Bereich Gesundheit und Pflege. In zugehenden Sozialdiensten, ambulanten Pflegediensten und vollstationären Pflegeheimen sind einige Tausend Sozialarbeiter/-innen bzw. Sozialpädagog/-innen beschäftigt. Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Einsatz Sozialer Arbeit in der Pflege noch marginal und davon abhängig ist, ob die Träger Soziale Arbeit als Bestandteil ihres professionellen Konzeptes ansehen und sich diese auch leisten können und wollen. Grundsätzlich könnte Soziale Arbeit in besonderer Weise ausdifferenzierte Unterstützungsmöglichkeiten im Rahmen der kommunalen Daseinvorsorge für ältere Menschen anbieten. Anders als andere Berufsgruppen im Feld der Altenhilfe bezieht sie individuelle, soziale und sozialpolitische Faktoren aufeinander – z. B. wenn sie sich als Hilfe zur Lebensbewältigung versteht. Sie verfügt zudem über ausgefeilte Konzepte z. B. von Beratung, Case Management und ressourcenorientierter Netzwerkarbeit, die für hilfe- und pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen handlungsrelevant und zum Teil sogar rechtlich verankert sind. Dabei kann Soziale Arbeit auf Erfahrungen aus anderen Handlungsfeldern zurückgreifen. Denn ältere Menschen sind nicht nur Adressat/-innen spezieller, altersspezifischer Angebote, sondern auch Klient/-innen von allgemeinen Sozialdiensten, in Feldern wie der Arbeit mit Wohnungslosen, der Suchtkrankenhilfe, der Arbeit mit Migrant/-innen etc. Nicht zuletzt die Arbeit mit Ehrenamtlichen in Sozialen Diensten und Einrichtungen oder in Freiwilligenagenturen ist häufig Arbeit mit Menschen im höheren Lebensalter. Deshalb sind gerontologische Kenntnisse in vielen Feldern der Sozialen Arbeit notwendig und steigt der Bedarf an reflektiertem Wissen über ‚Alter‘ mit der demografisch und in vielen Handlungsfeldern strukturell bedingten Alterung der Klient/-innen. Nicht zuletzt dieser Bedarf motivierte die Herausgabe dieses Handbuchs.
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Eine zweite Frage, die sich aus dem Titel und den eben angestellten Überlegungen ergibt, ist die Frage nach der Definition von Alter: Ab wann ist man alt und durch wen oder was wird das festgelegt ? Weder das kalendarische Alter noch gesellschaftliche Altersdiskurse bieten hierfür gesicherte Anhaltspunkte. Auch der Ruhestand als sozialstaatlich abgesicherte Institution ist kein mögliches Abgrenzungskriterium. Ohnehin bedurfte seine Thematisierung als eigenständige Lebensphase jenseits des Erwerbslebens stets des Verweises auf die besonderen Lebensverläufe von Frauen. Aktuelle Entwicklungen am Arbeitsmarkt und im Rentenrecht verstärken die Diversifizierung. Nur bedingt hilft auch die Unterscheidung zwischen einem Dritten und einem Vierten Lebensalter, die zum Ausdruck bringen soll, dass Menschen im Alter von 60 bis 80 Jahren meist noch weitgehend gesund sind, während die über 80-Jährigen weit häufiger beeinträchtigt oder pflegebedürftig sind. Gleichwohl können körperliche und geistige Einschränkungen zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten im Lebensverlauf einsetzen. Zudem beeinflussen nicht nur der Gesundheitszustand, sondern auch Bildung, finanzielle Absicherung und damit verbundene Wohnmöglichkeiten, die Qualität der sozialen Netzwerke sowie nicht zuletzt geschlechtspezifische Ungleichheiten und Zuschreibungen die Lebenslagen im Alter. Das Zusammenspiel verschiedener Dimensionen der Lebenslage entscheidet darüber, ob ältere Menschen über Handlungsspielräume und Einflussmöglichkeiten verfügen und sich selbst als handlungsmächtig und zufrieden erleben. Wenn aber jeder Definitionsversuch darauf verweist, dass Alter(n) individuell differenziert verläuft, die Lebenslagen im Alter höchst unterschiedlich sind und das Alter keine eindeutig abgrenzbare Lebensphase darstellt, so kann daraus entweder gefolgert werden, dass das ‚Alter‘ aufgrund seiner Heterogenität für die Soziale Arbeit kein spezifisches Thema sein kann oder aber, dass sich diesbezüglich ein breit gefächertes Aufgabengebiet ergibt. Grundlage dieses Handbuchs ist die Annahme eines potenziellen Bedarfs an Begleitung und Unterstützung, der daraus resultiert, dass der Übergang in die Lebensphase Alter und das Altern mit besonderen Aufgaben einhergehen, die sich von denen anderer Lebensphasen unterscheiden. Zum einen kumulieren gerade im höheren Alter soziale Benachteiligungen wie auch Privilegien und haben sich biografisch aufgeschichtet. Zum anderen ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass auf die Statuspassage in das Alter früher oder später eine im Vergleich zum mittleren Alter turbulente Phase des Lebenslaufs folgt, die von Abschieden ebenso geprägt ist wie von notwendigen aber eben auch möglichen Neuorientierungen. Kritische Lebensereignisse im höheren Erwachsenenalter können durchaus Lern- und Bildungsanlässe darstellen. Sie sind jedoch oft mit besonders hohen Anforderungen an die Bewältigungskompetenzen der Betroffenen verbunden. Schließlich müssen sie in einer Lebensphase bewältigt werden, die durch zahlreiche Weichenstellungen der Vergangenheit ebenso gekennzeichnet ist wie durch die Tatsache, dass die verbleibende Lebenszeit in ihrer Begrenztheit anerkannt werden muss. Besondere Herausforderungen resultieren außerdem daraus, dass diese Lebensphase
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von Altersnormen gerahmt wird, die vielfach uneindeutig markierte, formulierte und sanktionierte ‚Aberkennungsnormen‘ sind. Diese stehen unübersehbar in einem Spannungsverhältnis zu normativen Vorstellungen vom lebenslangen Lernen, vom aktiven oder produktiven Altern. Die Balance zu finden zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Normen fällt umso schwerer, als für die historisch vergleichsweise junge Lebensphase Rollenvorbilder weitgehend fehlen. Vor diesem Hintergrund wird das Alter zu einer Lebensphase, deren Gestaltung notwendig und möglich ist. Die darin liegende Herausforderung ist mit unterschiedlichen sozialen Konstruktionen des Alter(n)s je spezifisch verwoben. Eine dritte Frage lässt sich ebenfalls aus dem Titel herleiten: Wie kann ein Handbuch das Verhältnis von Sozialer Arbeit und Alter knapp und klar fassen, den rechtlich bedingt diffusen Handlungsrahmen der Arbeit mit älteren Adressat/-innen übersichtlich abstecken und die Bewältigungskonstellationen des höheren Lebensalters angemessen beschreiben ? Diese Frage führt zum Konzept des Handbuchs: Es ist multiperspektivisch angelegt. Die Perspektiven Sozialer Arbeit auf das Thema Alter werden vor dem Hintergrund der sozialpolitisch-sozialrechtlichen Rahmenbedingungen betrachtet, die für das professionelle Handeln ebenso relevant sind wie für die Lebensgestaltung der älteren Menschen. Sie werden ergänzt um gerontologische Wissensbestände über das Alter, die zeigen, dass das Alter ebenso wenig wie andere Lebensphasen eindimensional einzugrenzen und zu beschreiben ist und es eines multidisziplinären Zugriffs auf das Thema bedarf. Deshalb wurden die Beiträge des Handbuchs von Vertreter/-innen unterschiedlicher Disziplinen verfasst, die aktuell in diversen Wirkungsfeldern – von der sozialarbeiterischen Praxis über die Lehre bis hin zur Grundlagenforschung – tätig sind. Adressiert ist das Handbuch an die Lernenden, Lehrenden, Praktiker/-innen der Sozialen Arbeit im Bereich sozialer Altenhilfe aber auch darüber hinaus sowie an Verantwortliche in Kommunen, Verbänden und Vereinen, an Ehrenamtliche, die mit Älteren arbeiten, und an interessierte ältere Menschen selbst. Der Aufbau des Handbuchs, die Reihenfolge der Darstellung von Perspektiven und Wissensbeständen ergibt sich aus den skizzierten Vorüberlegungen. Der Band besteht neben dieser Einführung aus vier weiteren Teilen: I. Soziale Arbeit mit älteren und alten Menschen, II. Sozialrecht, Sozialpolitik und Lebenslagen im Alter, III. Soziale Konstruktionen des Alters und IV. Altersforschung. Da das Handbuch sowohl als Nachschlagewerk wie auch als Einführung in spezifische Themen dienen soll, sind die Einzelbeiträge umfassender als bei einem Lexikon oder Wörterbuch zugeschnitten. Um den Leser/-innen die Herstellung von Bezügen zwischen den Beiträgen zu erleichtern, finden sich in den Beiträgen Querverweise.
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Teil I des Handbuchs ist der Sozialen Arbeit mit älteren Menschen gewidmet. Hier werden in einem ersten Kapitel deren Rahmenbedingungen vorgestellt. Zwei Beiträge skizzieren die Soziale Altenhilfe als Teil kommunaler Sozial(hilfe-)politik bzw. als Aufgabe der Sozialen Arbeit aus historischer und aktueller Perspektive. Die Kommunale Altenhilfeplanung wird als spezifischer Handlungsrahmen dargestellt. Dem schließt sich eine Skizze der Aus- und Weiterbildung für die Soziale Arbeit mit älteren und alten Menschen an, die mit Blick auf ihr Professionalisierungspotenzial kritisch bewertet wird. Das Kapitel schließt mit einem Blick in die Nachbarländer Österreich und Schweiz. Das zweite Kapitel dieses Teils betrachtet die Felder der Sozialen Arbeit mit älteren und alten Menschen näher. Die Beiträge berücksichtigen ihren je spezifischen rechtlichen Rahmen, die damit zusammenhängende Finanzierung und Trägerschaft, die Entwicklung der Beschäftigung im Feld sowie den jeweiligen Stand und die Perspektiven der Professionalisierung. Deutlich wird, dass es zahlreiche Felder der Sozialen Arbeit im Bereich Gesundheit und Pflege gibt. Abgeschlossen wird der erste Teil mit einem dritten Kapitel zu ausgewählten Besonderheiten der Sozialen Arbeit mit Älteren, die ‚quer‘ zu diesen Feldern liegen. Teil II des Handbuchs beschäftigt sich mit den Lebenslagen älterer Menschen im Kontext von Sozialrecht und Sozialpolitik. Im ersten Kapitel dieses Teils finden sich im Anschluss an eine historische Betrachtung der Entwicklung des Sozialrechts und der Sozialpolitik für das Alter bis Anfang der 1960er Jahre Skizzen der gesetzlichen Regelungen, die wie die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) und die Alterssicherungsleistungen außerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung die Lebenslagen älterer Menschen wesentlich bestimmen bzw. wie das Pflege- und Krankenversicherungsrecht und das Betreuungsrecht für diese Bevölkerungsgruppe besonders häufig relevant sind. Im zweiten Kapitel dieses Teils finden sich Daten zu ausgewählten Dimensionen der Lebenslagen im Alter: Einkommen und Vermögen, Wohnen, Soziale Netzwerke, Gesundheit und Krankheit sowie Bildung. Zusätzlich werden ausgewählte Kategorien sozialer Ungleichheit berücksichtigt, die im Kontext der Debatte über Intersektionalität wichtig sind. Das dritte Kapitel des dritten Teils widmet sich ohne Anspruch auf Vollständigkeit spezifischen Themen und Problemen der Altersphase, wobei die wieder steigende Altersarmut an erster Stelle steht. Teil III des Handbuchs zeigt, wie Alter als soziale Konstruktion gefasst werden kann. Dass diese Sichtweise dem Handbuch zugrunde liegt, wurde bereits mit der Frage nach der Definition von Alter angesprochen. Ausgehend davon kann ‚Alter‘ aus verschiedenen disziplinären Perspektiven unterschiedlich beschrieben werden. Dieser Teil des Handbuchs besteht aus einer soziologischen Einführung in das Thema ‚Alter
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als soziale Konstruktion‘, einer vertiefenden historischen Betrachtung von Altersdiskursen, Skizzen aktueller Altersbilder und psychogerontologischer Konzepte von Alter sowie der Vorstellung kulturwissenschaftlicher und rechtlicher Perspektiven auf das Alter. Teil IV des Handbuchs gibt einen knappen Überblick über den Stand der Altersforschung. Dieser Teil bietet den Leser/-innen einen Einblick in die Hintergründe und Zusammenhänge gerontologischer Forschung, erleichtert das Auffinden wichtiger Daten und ihre Interpretation. Dabei werden die sozial- und verhaltenswissenschaftliche Gerontologie in Deutschland mit ihren Themen, Forschungseinrichtungen und ‚großen‘ Studien im Kontext der Forschungsförderung, die Altenberichterstattung der Bundesregierung und die Bedingungen, Ergebnisse und Strategien international vergleichender Alternsforschung gesondert dargestellt. Der letzte Beitrag befasst sich mit den Möglichkeiten und Restriktionen partizipativer Altersforschung. Danksagung Unser Dank gilt allen Beitragsautor/-innen, die sich mit uns gemeinsam der Herausforderung stellten, ein multidisziplinäres Handbuch zum Thema ‚Soziale Arbeit und Alter‘ zu verfassen. Viele waren schon an der ersten Auflage beteiligt und haben ihre Beiträge umfassend aktualisiert, einige Autor/-innen konnten wir neu gewinnen. Ein besonderer Dank gebührt Eva Maria Löffler, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet ‚Lebenslagen und Altern‘ der Universität Kassel, die uns nicht nur bei der formalen Überarbeitung der eingereichten Beiträge eine zuverlässige Hilfe war, sondern auch mit zahlreichen fachlichen Hinweisen zur Qualität und Konsistenz des Handbuchs beitrug. Für ihre engagierte und kompetente Mitarbeit an der Manu skripterstellung, die vom selben Fachgebiet finanziell unterstützt wurde, bedanken wir uns nun schon zum zweiten Mal bei Sabine Stange. Stefanie Laux, Cheflektorin Pädagogik, und Daniel Hawig, Projektmanager, beide Springer VS, sowie Steffen Schröter vom Satzbüro text plus form gilt unser Dank für ihre professionelle Unterstützung. Nicht zuletzt bedanken wir uns bei all denen, die uns in der Zeit der Entstehung des Handbuchs informell für fachliche Ratschläge zur Verfügung standen, und bei denen, die uns privat in Höhen und durch Tiefen begleiteten. 2019/2020 Kirsten Aner und Ute Karl
Teil I Soziale Arbeit mit älteren und alten Menschen
Kapitel 1 Rahmenbedingungen der Sozialen Arbeit mit älteren und alten Menschen
Soziale Altenhilfe als Teil kommunaler Sozial(hilfe-)politik Peter Hammerschmidt und Eva Maria Löffler
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Einleitung
Die soziale Altenhilfe ist in sozialpolitischer und sozialrechtlicher Perspektive Teil der sozialen Fürsorge, die von den Kommunen als örtlichen Trägern der Sozialhilfe als kommunale Selbstverwaltungsangelegenheit wahrgenommen wird. Die Sozialhilfe ihrerseits ist Teil des Systems der Sozialen Sicherung. Sie ist nachrangig und soll als ‚letztes Auffangnetz‘ (‚Lückenbüßerfunktion‘) Risiken auffangen, die von den vorgelagerten Sicherungssystemen (Sozialversicherung und Sozialversorgung) nicht oder nicht hinreichend abgedeckt werden. Im Kern geht es dabei um eine finanzielle Mindestsicherung, die traditionell mit einer persönlichen Einflussnahme – befürsorgen – verbunden ist, was die Sozialhilfe als Fürsorgeleistung auch von anderen Sicherungssystemen unterscheidet, die ebenfalls Geldleistungen gewähren. Dabei hat die moderne Sozialhilfe den Anspruch und die gesetzlich vorgegebene Aufgabe, dem Hilfebedürftigen (Leistungsberechtigten) ein Leben zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht, wobei die Hilfe so auszugestalten ist, dass der Hilfebedürftige durch die Hilfe zu einer unabhängigen Lebensführung befähigt wird (§ 1 SGB XII) (vgl. Hammerschmidt und Tennstedt i. d. B.). Die soziale Altenhilfe und die hier angesiedelte Soziale Altenarbeit sind profes sionsbezogen betrachtet Teil der Sozialen Arbeit, eben Soziale Arbeit mit alten und für alte Menschen. Dabei ist soziale Altenhilfe als Sachbereich der kommunalen Sozialhilfe und Soziale Altenarbeit als Soziale Arbeit für die Adressatengruppe ältere Menschen in diesem Sachbereich zu verstehen und zu unterscheiden. Die Soziale Arbeit in Form von Beratung, Betreuung, Unterstützung oder allgemein formuliert als Hilfe zur Lebensbewältigung mit Alten in der Altenhilfe wird nicht nur von graduierten Sozialarbeiter/-innen und Sozialpädagoge/innen, sondern auch von weiteren (sozialen) Berufsgruppen erbracht (vgl. Hammerschmidt 2008). © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_2
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Peter Hammerschmidt und Eva Maria Löffler
Als eigenständiger und kodifizierter Teil kommunaler Sozialhilfe ist die soziale Altenhilfe ein vergleichsweise junger Zweig der deutschen Fürsorgegeschichte. Der Gesetzgeber verankerte sie erst mit dem Bundessozialhilfegesetz von 1961. Dieses Jahr bildet deshalb den zeitlichen Ausgangspunkt der folgenden Darstellung. Dabei wird zunächst das Recht der sozialen Altenhilfe im Kontext des Sozialhilferechts beschrieben (2) und anschließend der Ausbau der Altenhilfe einschließlich ihrer Infrastruktur an sozialen Einrichtungen und Diensten skizziert (3). Dem folgen die Schilderung der rechtlichen Weiterentwicklung (4), der Versuch einer Bestimmung des Stellenwertes der sozialen Altenhilfe (5) und schließlich ein Ausblick (6). Damit wird die soziale Altenhilfe als Sachbereich erfasst. Die Soziale Altenarbeit als Soziale Arbeit in diesem Sachbereich ist Gegenstand eines anderen Beitrages in diesem Handbuch (vgl. Aner in Kap. I.1 i. d. B.).
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Die soziale Altenhilfe im Bundessozialhilfegesetz
Im Fürsorgerecht existierte zunächst und sehr lange keine besondere Regelung für ältere Hilfebedürftige, dennoch waren Alte nicht ausschließlich eine von jeweils mehreren (Alters-)Kohorten bei der Inanspruchnahme sozialer Einrichtungen, Dienste, Maßnahmen und Leistungen der allgemeinen Fürsorge. Altenhilfe praktizierten die öffentlichen und freien Träger der Wohlfahrtspflege auch schon in den 1920er Jahren auf Grundlage des Weimarer Fürsorgerechtes in Form eines spezifischen Angebotes der stationären Wirtschaftsfürsorge. Altenhilfe (Altenfürsorge) bestand hier in der Organisation, Durchführung und Sicherstellung der Finanzierung der Unterbringung von Alten und Gebrechlichen in Alters- oder Siechenheimen. Besondere Angebote der halboffenen (teilstationären) oder offenen (ambulanten) Fürsorge/Hilfen, die sich ausschließlich an Alte richteten, hielten die Fürsorgeträger kaum bereit. Dabei sahen fürsorgerische Fachkreise durchaus die Notwendigkeit einer Ausweitung und Differenzierung entsprechender Angebote für ältere Menschen. So diskutierten Vertreter der behördlichen und freien Wohlfahrtspflege in Fachorganisationen wie insbesondere im Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge schon Anfang der 1950er Jahre eingehend über Altentagesstätten, Altenclubs und Altenwerkstätten wie sie – als nachahmenswerte Vorbilder – schon in den skandinavischen Ländern, aber auch in England, den Niederlanden oder auch den USA existierten (Grunow 2005a, S. 832; Föcking 2007, S. 333 et passim). Doch es blieb in den 1950er Jahren zunächst überwiegend bei bloßen Diskussionen über solche neuen Formen sozialer Einrichtungen und Dienste. Das änderte sich erst allmählich seit den 1960er Jahren. Bis dahin hatte der Gesetzgeber die Rechtsgrundlage für die Altenhilfe geändert bzw. geschaffen. Das am 30. 6. 1961 verabschiedete Bundessozialhilfegesetz (BSHG) löste zum 1. 6. 1962 die Reichsfürsorgepflichtverordnung von 1923 ab. Im BSHG trat neben die ‚traditionelle‘ Fürsorge, die nunmehr „Hilfe zum Lebensunterhalt“ hieß und im Kern die weiterentwickelten, novellierten Regelungen der Reichsfürsorgepflichtver-
Soziale Altenhilfe als Teil kommunaler Sozial(hilfe-)politik
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ordnung und der Reichsgrundsätze umfasste, eine neue Hilfeart, die „Hilfen in besonderen Lebenslagen“. Auch mit dem neuen BSHG blieb die nunmehr Sozialhilfe genannte Fürsorge Fürsorge, d. h. eine nachrangige finanzielle Mindestsicherung zur Vermeidung oder, richtiger, Milderung von Armut. Doch die zeitgenössischen Akteure waren sich einig, dass diese Kernfunktion rein quantitativ infolge des Ausbaus von Sozialversicherungs- und Sozialversorgungsleistungen für einen immer kleineren Personenkreis zum Tragen kommen würde. Diese Einschätzung galt auch und nicht zuletzt für ältere Menschen, weil die Rentenreform von 1957 die – dann aber nur unvollständig erfüllte – Hoffnung weckte, dass das typische Lohnarbeiterschicksal ‚Altersarmut‘ durch eine Sozialversicherungslösung überwunden werde (vgl. Hockerts 1980; Hammerschmidt und Tennstedt i. d. B.). Alte Menschen sollten aber noch lange Zeit überdurchschnittlich stark von Armut betroffen bleiben, was sich erst allmählich in den 1970er und 1980er Jahren änderte. Inzwischen ist die Armutsquote alter Menschen (ab 65 Jahren) wieder im Steigen begriffen; Ende 2017 lag sie bei 14,6 % (StaBuAmt 2019; vgl. auch Engels sowie Brettschneider und Klammer i. d. B.). Umso mehr sollten mit dem BSHG die persönliche Hilfe, Beratung und Unterstützung und das Ziel sozialer Integration in den Vordergrund der Sozialhilfe treten. Oder in heutiger Terminologie formuliert: der Eingriffscharakter sollte zugunsten eines Leistungscharakters in den Hintergrund rücken. Das galt für die „Hilfe zum Lebensunterhalt“ und ganz besonders für die neuen „Hilfen in besonderen Lebenslagen“. Den „Hilfen in besonderen Lebenslagen“ lag einerseits ein weiterer Begriff von Hilfsbedürftigkeit zugrunde und anderseits auch eine stärkere Ausrichtung hin zur Vorbeugung und zur sozialen Integration, letzteres auch außerhalb einer Eingliederung ins Erwerbsleben (vgl. Tennstedt 2003, Rz. 76). Die Altenhilfe war hier, genauer, im dritten Abschnitt des BSHG in § 75, als Teil der Hilfe in besonderen Lebenslagen verankert. Paragraf 75 lautete: „(1) Alten Menschen soll außer der Hilfe nach den übrigen Bestimmungen dieses Gesetzes Altenhilfe gewährt werden. Sie soll dazu beitragen, Schwierigkeiten, die durch das Alter entstehen, zu überwinden und Vereinsamung im Alter verhüten. (2) Als Maßnahmen der Hilfe kommen in vertretbarem Umfang vor allem in Betracht 1. Hilfe zu einer Tätigkeit des alten Menschen, wenn sie von ihm erstrebt wird und in seinem Interesse liegt, 2. Hilfe bei der Beschaffung von Wohnungen, die den Bedürfnissen alter Menschen entsprechen, 3. Hilfe zum Besuch von Veranstaltungen oder Einrichtungen, die der Geselligkeit, der Unterhaltung oder den kulturellen Bedürfnissen alter Menschen dienen, 4. Hilfe, die alten Menschen die Verbindung mit nahestehenden Personen ermöglicht. (3) Altenhilfe kann ohne Rücksicht auf vorhandenes Einkommen oder Vermögen gewährt werden, soweit im Einzelfall persönliche Hilfe erforderlich ist.“
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Durch die Platzierung der sozialen Altenhilfe bei den „Hilfen in besonderen Lebenslagen“ galten die weiter gefassten Voraussetzungen und Möglichkeiten dieser neuen Hilfeart. Gleichwohl war die Altenhilfe gemäß BSHG, wie könnte es auch anders sein, eine fürsorgerechtliche Regelung, die sich an Fürsorgebedürftige richtete. Dementsprechend hob der federführende Referent für das Sozialhilferecht im Bundesinnenministerium, Hermann Gottschick (1963, S. 237), in seinem offiziösen BSHGKommentar hervor, die Altenhilfe gemäß § 75 BSHG sei „keine Hilfe für das Alter schlechthin“, „keine Hilfe in einer Lebensphase“, sondern nur eine Hilfe für Bedürf tige im Einzelfall (zu den Kontroversen im Vorfeld vgl. Föcking 2007, S. 331 ff.). Die Betonung, dass die mit § 75 BSHG institutionalisierte Altenhilfe mit ihrer Hauptintention, Vereinsamung zu überwinden, nur Hilfe für Bedürftige im Einzelfall sein solle, geschah nicht obwohl, sondern wohl vor allem, weil Alterseinsamkeit seinerzeit als Massenphänomen galt. Es betraf den Großteil der damaligen Generation von Rentner/-innen durch den Verlust naher Angehöriger infolge des Krieges, die räumliche Umschichtung der Bevölkerung nach Flucht und Vertreibung sowie schließlich auch die arbeitsmarktbedingt erforderliche Mobilität (Föcking 2007, S. 331 f.; Münch 2007, S. 597). Neben finanziellen Erwägungen der Ministerialbürokratie wie auch der Kommunalverwaltungen und -politiker spielten bei der sich dann zeigenden Zurückhaltung bei der Nutzung des § 75 BSHG auch fachliche Überlegungen bzw. Probleme eine Rolle. Der damalige Vorsitzende des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Hans Muthesius, bezeichnete es schlicht als „kühn“, mit einem Sozialleistungsgesetz Vereinsamung bekämpfen zu wollen (Muthesius 1961, S. 453, zit. nach Roth 1995, S. 44 f.; anders akzentuierend: Föcking 2007, S. 331). Der Gesetzgeber legte den Kommunen als örtlichen Sozialhilfeträgern eine Verpflichtung zur Altenhilfe auf, die er aber einerseits durch die Formulierung „in vertretbarem Umfang“ (Abs. 2, Satz 1) relativierte und der andererseits kein Rechtsanspruch der Adressat/-innen gegenüberstand. Dennoch: Mit der Einführung von § 75 erhielt die offene Altenhilfe eine Rechtsgrundlage und die kommunalen Träger waren aufgerufen – in vertretbarem Umfang – offene Altenhilfe für Bedürftige zu betreiben. Exklusionsvermeidung und Inklusionsvermittlung, Kernfunktionen der Sozialen Arbeit, waren das Hauptanliegen der Altenhilfe im Sinne von § 75 BSHG. Neben der Altenhilfe gemäß § 75 BSHG, der „eigentlichen Altenhilfe“, wie Gitschmann und Bullmann (1999, S. 739) formulieren, bildete die ebenfalls neue „Hilfe zur Weiterführung des Haushalts“ gemäß §§ 70 ff. BSHG für die kommunalen Sozialämter ein weiteres erwähnenswertes Instrument der Altenhilfe, auch wenn es nicht ausschließlich für Ältere gedacht war und genutzt wurde (Gottschick 1963, S. 224 – 228; vgl. auch Münch 2007, S. 605). Ansonsten spielte die generalklauselhafte Formulierung in § 93 (1) des neuen BSHG, wonach die Sozialhilfeträger darauf hinwirken sollten, dass die zur Gewährung der Sozialhilfe geeigneten Einrichtungen ausreichend zur Verfügung stehen, für die Altenhilfe insofern eine bedeutende Rolle, als damit auch die stationären (Altenheime) und später (halb-)offenen Einrichtungen (z. B. Altenbegegnungsstätten) miterfasst waren. Mit einer im selben Paragrafen for-
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mulierten Subsidiaritätsformel erlaubte dies den freigemeinnützigen Trägern, die Kommunen zur Schaffung und Finanzierung von Einrichtungen der Altenhilfe anzuhalten. Letztlich war weniger die einzelfallbezogene Altenhilfe der öffentlichen Sozialhilfeträger, als vielmehr die Infrastrukturentwicklung für die Ausgestaltung der stationären wie nicht-stationären Altenhilfe bedeutsam.
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Zum Ausbau der sozialen Altenhilfe
Dass nach und infolge des Inkrafttretens des BSHG differenzierte Maßnahmen für alte Menschen wie Pilze aus dem Boden schossen, wie es in der viel zitierten Arbeit von Gerda Holz (1987, S. 176) heißt, ist sicherlich übertrieben. Dennoch lässt sich für die 1960er Jahre ein deutlicher Ausbau der Altenhilfe feststellen. Ein weiterer starker Schub erfolgte in den 1990er Jahren zunächst überwiegend im Bereich der stationären Altenhilfe und setzte insofern lediglich den Trend der Nachkriegszeit fort. Hierfür spielten dann ab 1962 die im Rahmen von Altenhilfeplänen der Länder zur Verfügung gestellten Investitionsmittel eine große Rolle. So stellten die Bundesländer alleine im Jahr 1963 den freien Trägern mehr als 100 Millionen DM in Form von Subventionen für den Aufbau neuer und die Erweiterung und Modernisierung schon bestehender Altenhilfeeinrichtungen – ganz überwiegend Altersheime – zur Verfügung. Einrichtungen und Maßnahmen der offenen Altenhilfe blieben dagegen lange Zeit wenig entwickelt (Münch 2007, S. 608). Erstellten schon 1962 fast die Hälfte der westdeutschen Bundesländer Altenhilfe pläne, so folgten die meisten Städte und Gemeinden mit kommunalen Altenhilfeplänen erst mit erheblicher Verzögerung. Bis Ende der 1960er Jahre waren es erst 17. Vorreiter war die Stadt Köln, die schon 1959, also drei Jahre vor dem Inkrafttreten des BSHG, als erster örtlicher Sozialhilfeträger einen Altenhilfeplan erstellte und dies mit einer empirischen Erhebung bei den älteren Bürger/-innen der Stadt verband. Diese erste, später auch veröffentlichte Studie (Blume 1962), lieferte nicht nur Planungsdaten wie etwa über den Bestand und die Ausstattung der Altenhilfeeinrichtungen, sondern auch Informationen über die Gründe für die Nutzung und NichtNutzung der entsprechenden Angebote sowie über die Wünsche der Nutzer/-innen. So wünschten sich die meisten Heimbewohner/-innen der Kölner Altersheime ein eigenes Zimmer, während 81 % der „Insassen“ städtischer Heime in Zimmern mit drei und mehr Betten leben mussten. In den privaten Heimen waren es immerhin noch 23 %. Und auch seitens der Verbände selbst (AWO) wurde eingeräumt, dass die Altenheime vielfach „Verwahranstalten“ glichen. Ein zweites für die kommunale Altenhilfeplanung wichtiges Ergebnis dieser Studie waren die Gründe alter Menschen für den Einzug in ein Altersheim. 60 % wegen Krankheit, Pflegebedürftigkeit oder Invalidität, rd. 20 %, weil sie sich nicht mehr selbst versorgen konnten und ebenfalls 20 % schlichtweg, weil sie keine andere Wohnung finden konnten (Grunow 2007, S. 746 ff.; Voges 2008, S. 42 et passim).
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Die mit der Erstellung von kommunalen Altenhilfeplänen erfassten Bestandsund Bedarfsdaten führten an sich noch nicht ohne Weiteres dazu, dass die kommunale Sozialhilfepolitik sich anschickte, den notwendigen Bedarf oder, zurückhaltender formuliert, die als sinnvoll betrachteten Einrichtungen und Dienste zu schaffen bzw. Maßnahmen zu ergreifen. Die Städte und Gemeinden verbesserten zunächst nur langsam und allmählich ihre Altenhilfeangebote. Fiskalische Erwägungen wirkten dabei zunächst hemmend, ab den 1970er und 1980er Jahren dagegen aber auch durchaus fördernd. Die oben schon angesprochenen Investitionshilfen der Bundesländer zugunsten der stationären Altenhilfeeinrichtungen führten zu einer deutlichen Erhöhung an Altenheimplätzen bei gleichzeitiger qualitativer Verbesserung. Die Möglichkeiten und die Bereitschaft, einen Platz in einem Heim zu beziehen, stiegen dadurch. Und weil die Kommunen als örtliche Sozialhilfeträger nolens volens auch als Ausfallbürge oder Restfinanzier für die – zwischenzeitlich auch deutlich gestiegenen – Unterbringungskosten in Altersheimen einzustehen hatten, reagierten sie mit alternativen Angeboten der Altenhilfe. Das war vor allem ab den 1970er Jahren der Fall, etwa mit Mahlzeitendiensten oder ‚Essen auf Rädern‘ und dem Ausbau von Sozialstationen, deren Zahl 1980 rd. 1 000 erreichte und bis 1990 auf rd. 4 000 stieg (vgl. Nootbaar 1995, S. 290; Grunow 2006, S. 846 ff.). Eine vollständig nach Trägergruppen differenzierte Statistik der Alten- und Behinderteneinrichtungen existiert nicht für das gesamte Bundesgebiet, weil nicht alle Bundesländer nach Trägergruppen unterscheiden. Im Jahre 2001 bestanden in Deutschland 12 555 Alten- und Behinderteneinrichtungen mit 877 330 Betten/Plätzen. Von 10 874 dieser Einrichtungen, über die Angaben über die Trägerschaft vorliegen, gehörten 65,4 % zu freigemeinnützigen Trägern, 26,7 % zu gewerblichen und 7,9 % zu öffentlichen. Allerdings sind in diesen Angaben auch Behinderteneinrichtungen enthalten. Von den oben schon genannten insgesamt 12 555 Einrichtungen waren 4 107 Behinderteneinrichtungen mit 160 346 Plätzen, die übrigen waren Alteneinrichtungen, wobei die Altenpflegeheimplätze mit fast 560 000 Plätzen den Löwenanteil ausmachten (Angaben nach der Heimstatistik 2001 des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend). Die aktuellsten Angaben zu den Behindertenheimen finden sich im „Ersten Bericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend über die Situation der Heime und die Betreuung der Bewohnerinnen und Bewohner“, der seit Ende 2006 vorliegt und der auf Stichtagszahlen vom 15. 12. 2003 beruht. Demnach existierten 5 100 Behindertenheime mit 179 000 Plätzen. Die aktuellsten Zahlen zu Pflegeheimen finden sich in der Pflegestatistik 2017 (StaBuAmt 2018b) wonach es zum 15. 12. 2017 14 480 voll- und teilstationäre Pflegeheime mit 952 367 Plätzen gab. In 2 % der Heime werden überwiegend Menschen mit Behinderung versorgt. In den Heimen arbeiteten 764 648 Personen (davon 6 926 mit so zialpädagogischem/sozialarbeiterischem Berufsabschluss). 53 % der Pflegeheime und 55 % der Plätze entfielen auf freigemeinnützige, 42 % bzw. 39 % auf private und die restlichen 5 % bzw. 6 % auf öffentliche Träger. Diese Zahlen sind jedoch nur bedingt mit den vorhergehenden Angaben zu vergleichen, weil sie nur (Pflege-)Heime erfas-
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sen, die über Verträge mit den Pflegekassen verfügen; 18 %, soviel kann noch festgehalten werden, dieser Pflegeheime sind Altenheime oder betreutes Wohnen organisatorisch angeschlossen. Herkömmliche Altenheime sind damit nicht erfasst (vgl. BMFSFJ 2006b, insbes. S. 33 ff., 42 f., 73, 230; zu weiteren, differenzierten Angaben vgl. Schneekloth und Wahl 2007). Als Träger der Einrichtungen der Altenhilfe fungierte in erster Linie die freie Wohlfahrtspflege. Allein die Caritas gründete zwischen 1945 und 1955 322 neue Altersheime mit 15 680 Betten (Hammerschmidt 2005, S. 31). Die Verbände der freien Wohlfahrtspflege konnten auch ab 1948 zinsverbilligte Kredite (u. a.) zur Einrichtung von Altersheimen im Rahmen des Lastenausgleichs verbuchen (ebd., S. 467). Dabei handelte es sich um eine altenhilfe(-politische) Maßnahme, Hauptmotiv war aber nach den enormen Kriegszerstörungen die Schaffung von Wohnraum. Alten Menschen sollte nicht nur nach Ausbombung und Notunterbringung ein neues Heim – im doppelten Wortsinn – verschafft werden, es sollten auch Anreiz und Möglichkeit für die Freigabe großer Wohnungen alleinstehender Alter zugunsten junger Familien mit Kindern geschaffen werden. Ausgewählte Eckwerte zur quantitativen Entwicklung von Altenhilfe-Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege sind in Tabelle 1 zusammengestellt. Im Jahre 1925 verfügten die Träger der freien Wohlfahrtspflege zusammen über 2 140 Altenhilfeeinrichtungen, genauer: Alten- und Siechenheime mit nahezu 59 000 Betten (vgl. Steinweg 1929). Nach der seinerzeit üblichen statistischen Erfassung von Wohlfahrtseinrichtungen wurden Alten- und Siechenheime unter Anstalten der geschlossenen Wirtschaftsfürsorge – neben einer Reihe weiterer Einrichtungstypen –
Tabelle 1 Altenhilfe-Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege 1925 – 2016 Jahr
Einrichtungen
1925
2 140
1961
2 271*
1970
Betten/Plätze
Beschäftigte
58 745
k. A.
k. A.
k. A.
6 416
335 462
49 970
1981
8 365
358 302
90 182
1990
9 584
418 252
138 734
2000
15 212
481 495
237 577
2004
15 796
517 788
367 303
2012
18 051
520 727
444 977
2016
19 515
579 255
508 785
* nur Altenheime Quellen: Eigene Darstellung nach BAG FW 2001, 2006, 2012, 2018a; Holz 1987, S. 157 f.; Steinweg 1929 ©
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subsumiert. Nur für wenige Jahre oder nur für einzelne Wohlfahrtsverbände lässt sich jahrgangsweise die zahlenmäßige Entwicklung zuverlässig nachzeichnen. Der Anstieg in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist gleichwohl evident. Er lässt sich noch deutlicher an den Betten/Plätzen und an den in diesem Bereich Beschäftigten als an der bloßen Anzahl der Einrichtungen ablesen. Nach der Umstellung der Einrichtungsstatistik der freien Wohlfahrtspflege (Zahlen ab 1970) wird die Altenhilfe als eigenständige Kategorie ausgewiesen, sie umfasst aber nicht nur Heime, sondern alle Angebote der Altenhilfe. Tabelle 2 zeigt, dass von den mehr als 19 000 Einrichtungen (2016) fast 43 % dem stationären Bereich angehörten (Altenwohnungen, Altenwohnheime mit und ohne ständiges Pflegeangebot, Altenheime und Altenpflegeheime, Hospize, Kurzzeitpflegeheime). Hier waren aber rd. 81 % der Vollzeitbeschäftigten und zwei Drittel der Teilzeitbeschäftigten der Al tenhilfe der Verbände angestellt. Die Tageseinrichtungen (Altentagesstätten, Altenbegegnungsstätten, Tagespflegeheime) machten weniger als 7 % (1 453) der Einrichtungen aus, hier waren aber lediglich etwas mehr als 1 % der Vollzeitkräfte beschäftigt. Die übrigen Einrichtungen und Dienste – Beratungsstellen, Mahlzeitendienste, sonstige Dienste (z. B. Hausnotdienste) – hatten einen Anteil von knapp 50 % an der Gesamtzahl der Altenhilfeeinrichtungen und einen Anteil von etwas mehr als einem Viertel an der gesamten Beschäftigtenzahl, wovon aber fast 80 % Teilzeitstellen waren. Diese Aufschlüsselung verdeutlicht mehrerlei: •• Bei allen drei Angebotsformen (stationär, teilstationär, ambulant) ist eine Differenzierung des Leistungsspektrums feststellbar. •• Die ‚klassische‘ Form der Altenhilfe, nämlich die stationäre, ist nach wie vor dominant. •• Teilweise gehören die Angebote weniger, jedenfalls nicht hauptsächlich, zum So zialwesen als vielmehr zum Bereich Gesundheit und Pflege – was auch den abermaligen enormen Ausbau in den 1990er Jahren (Einführung der Pflegeversicherung) erklärt – und sie werden deshalb auch maßgeblich von den Vorgaben des jeweils einschlägigen Sozialversicherungsrechtes (SGB V und SGB XI) geprägt. Soziale Arbeit mit Älteren ist zwar auch im Pflegebereich verankert, aber doch eher randständig (vgl. Schmidt i. d. B.). Immerhin wurde mit dem Inkrafttreten des überarbeiteten SGB XI im Januar 2009 der § 7a Pflegeberatung ergänzt, der den „Anspruch auf individuelle Beratung und Hilfestellung durch einen Pflegeberater oder eine Pflegeberaterin“ für Hilfebedürftige enthält. Die Pflegeberatung soll u. a. durch Sozialarbeiter/-innen (mit entsprechender Zusatzqualifikation) umgesetzt werden (Abs. 3), was professionsbezogen wichtig ist. Was die soziale Altenhilfe als Bereich der kommunalen Sozialpolitik anbelangt, so kann nach den vorstehenden Ausführungen festgehalten werden, dass sich in den letzten Jahrzehnten eine erwähnenswert (offene) Altenhilfe – Beratungsstellen, Büros und Tagesstätten für Senioren – und damit
Soziale Altenhilfe als Teil kommunaler Sozial(hilfe-)politik
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Tabelle 2 Altenhilfe-Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege 2016 Art der Einrichtungen
Einrichtungen Betten/Plätze
Vollzeit beschäft.
Teilzeit beschäft.
Stationäre Einrichtungen
8 390
559 353
115 762
242 290
Einrichtungen mit Wohnangeboten für Senior/-innen
2 104
94 936
8 040
11 073
374
35 943
10 608
10 718
5 290
415 304
94 683
217 317
622
13 170
2 431
3 182
Tageseinrichtungen
1 453
19 902
1 788
8 156
Solitäre Tages- und/oder Nachtpflege einrichtungen nach § 41 SGB XI
1 453
19 902
1 788
8 156
Beratungsstellen/ambulante Dienste
9 672
–
28 680
112 082
Ambulante Pflegedienste/Sozialstationen (§ 72 bzw. § 36 SGB XI)
4 246
–
24 033
97 181
Seniorenbegegnungsstätten/Senioren tagesstätten/Seniorenfreizeitstätten
1 671
–
961
2 157
Wohngemeinschaften u. a. alternative Wohnformen
171
–
185
563
Beratungsstellen für Senior/-innen/ Seniorenbüros
772
–
475
893
Stationäre Mahlzeitendienste
457
–
702
2 579
Ambulante Mahlzeitendienste (‚Essen auf Rädern‘)
827
–
591
3 476
Hausnotrufdienste
745
–
654
1 619
Ambulant Betreutes Wohnen für Senior/-innen
582
–
1 016
3 063
Sonstige Hilfsdienste für ältere Menschen
201
–
62
550
19 515
579 255
146 230
362 528
Seniorenwohnheime Vollstationäre Altenpflegeeinrichtungen (mit/ohne Versorgungsvertrag nach § 72 SGB XI), inkl. Kurzzeitpflegeplätze Solitäre Kurzzeitpflegeeinrichtungen nach § 42 SGB XI oder mit Versorgungsvertrag nach § 72 SGB XI
Gesamt Quelle: BAG FW 2018a ©
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Soziale Altenarbeit etablieren konnte (Aner und Karl 2011; Aner und Hammerschmidt 2018, S. 66 – 69). Neben der Einführung der Pflegeversicherung, das bleibt noch nachzutragen, trug natürlich auch die territoriale Erweiterung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) durch den Beitritt der (ehemaligen) Deutschen Demokratischen Republik (DDR) zum Geltungsbereich des Grundgesetzes zur Erhöhung der Zahl an Einrichtungen und Plätzen der Altenhilfe bei. Die Übertragung der bundesdeutschen Wirtschafts- und Sozialordnung, die Rechtsübertragung und der Institutionentransfer von West auf Ost veränderte die ostdeutschen Verhältnisse grundlegend und zeitigte dann auch bald Rückwirkungen auf den fortan gesamtdeutschen Sozialstaat (zu den Auswirkungen auf den deutschen Sozialstaat im allgemeinen vgl. Ritter 2006; zur Sozialhilfe vgl. Willing 2007; zur sozialen Infrastruktur vgl. Olk 2006; Grunow und Olk 2007; zur freien Wohlfahrtspflege vgl. Angerhausen et al. 1998; speziell zur Altenhilfe vgl. Dallinger und Naegele 1993). Die DDR verfügte zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung über ein ausgebautes System der Altenhilfe, das innerhalb des Gesundheitswesens verortet war. Auf der zentralstaatlichen Ebene zeichnete das Ministerium für Gesundheitswesen, auf der örtlichen Ebene zeichneten die Räte der Kreise, Städte und Gemeinden dafür verantwortlich. Die Abstimmung und Zusammenarbeit mit anderen Ressorts erfolgte auf beiden Ebenen in sog. Koordinierungsgruppen, die seit Mitte der 1970er Jahre in der Altenhilfe das sog. Konzept der komplexen Betreuung – eine Reaktion auf die zuvor laut gewordene massive Kritik insbesondere an der stationären Altenhilfe (Helwig 2006, S. 554) – verfolgten. Die praktische Umsetzung dieser vergleichsweise modernen Konzeption, bei der gleichwohl immer noch gesundheitliche Einschränkungen alter Menschen im Vordergrund standen, litt aber unter vielfachen Versorgungsengpässen (Angerhausen et al. 1998, S. 51 ff.; Olk 2006, S. 670 ff.; Grunow und Olk 2007, S. 988 ff.; Hammerschmidt et al. 2017b, S. 126 ff.). Die ambulante pflegerische Versorgung in der DDR gewährleisteten im Jahr 1989 ca. 6 500 staatliche Gemeindeschwestern, 3 154 Gemeindepflegestationen des Diakonischen Werkes und 100 Alten- und Krankenpflegestationen der Caritas. Daneben betreuten rund 38 600 Hauswirtschaftpflegerinnen der Volkssolidarität 87 000 Rentner/-innen (3,2 %) und sicherten zudem für 215 000 (8 %) der alten Menschen die Mahlzeitenversorgung. Betriebe und Massenorganisationen unterstützten und ergänzten die Aktivitäten der Volkssolidarität (Angerhausen et al. 1998, S. 53; Angerhausen 2003, S. 104 ff.; Grunow und Olk 2007, S. 988 ff.). Die Volkssolidarität organisierte mit ihren Alten- bzw. Veteranenclubs sowie mit ihrem flächendeckenden Netz von Ortsgruppen mit mehr als 112 000 ehrenamtlichen Mitarbeiter/-innen, nicht selten ebenfalls älteren Menschen, jährlich viele politisch-kulturelle Veranstaltungen für ältere Mitbürger/-innen (1967: 61 122 mit 6,6 Millionen Besuchern) (Dallinger und Naegele 1993, S. 305 ff.; Helwig 2006, S. 553 f.). Damit existierte ein sehr umfangreiches Angebot der offenen Altenarbeit jenseits pflegerischer und haushaltbezogener Hilfe- und Unterstützungsleistungen (Hammerschmidt et al. 2017b, S. 127 f.)
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Das Angebot an Tageseinrichtungen sollte ab Mitte der 1980er Jahre ausgebaut werden, blieb aber bis zur Wiedervereinigung unentwickelt (800 Tagespflegeplätze). Die stationäre Versorgung war dagegen rein quantitativ betrachtet in Ostdeutschland etwas besser als in Westdeutschland, aber gleichwohl noch unzureichend. 1989 bestanden 1 348 staatliche Feierabend- und Pflegeheime mit ca. 140 000 Plätzen sowie 349 Heime von Diakonie und Caritas mit 17 715 Plätzen. Ein Teil dieser Plätze belegten mangels alternativer Unterbringungsmöglichkeiten aber jüngere Pflegebedürftige und Behinderte, während umgekehrt Ältere behelfsweise in Akutkrankenhäusern leben mussten (Angerhausen 2003, S. 104 ff.; Grunow und Olk 2007, S. 988 ff.). Die Feierabend- und Pflegeheime wiesen vielfach erhebliche bauliche und räumliche Mängel auf und die persönliche und pflegerische Betreuung galt als höchst unzureichend. Dennoch bildeten die Feierabendheime für nicht-pflegebedürftige Ältere eine attraktive Wohnform – hier spielte der Vergleich zur sonstigen, kaum altersgerechten Wohnraumversorgung natürlich eine große Rolle –, zumal die Eigenbeiträge für die Heimbewohner/-innen so gering ausfielen (Feierabendheime: 105 Mark pro Monat, Pflegeheime 120 Mark pro Monat), dass ihnen der Großteil ihrer Renten verblieb (Hammerschmidt et al. 2017b, S. 127). Die Umgestaltung der Altenhilfestrukturen, die bauliche Modernisierung und der Institutionentransfer erfolgten mit und durch massive finanzielle Förderung aus Bundesmitteln schon in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung. Zahlreiche Investitionsprogramme spielten hierbei eine Rolle, besonders erwähnenswert ist das „Soforthilfeprogramm für das Gesundheitswesen“, in dessen Rahmen die Bundesregierung zur Förderung der Altenhilfeeinrichtungen in den Jahren 1990 und 1991 insgesamt 190 Millionen DM bereitstellte. An Stelle der staatlichen Gemeindeschwestern und der Gemeindepflegestationen bzw. Alten- und Krankenpflegestationen trat nun ein Netz von Sozialstationen – Ende 1991 waren es 960, Ende 1992 nurmehr ca. 800 –, in Trägerschaft der Wohlfahrtsverbände, die die ambulante Altenpflege gewährleisten sollten. Ein Großteil der Mittel floss in die Modernisierung der Altersheime (vormals: Feierabend- und Pflegeheime), was zu einer Angleichung an westdeutsche Ausstattungsstandards führte und mit einem deutlichen Kapazitätsabbau einherging. Die Zahl der stationären Altenhilfeeinrichtungen verringerte sich von 1 272 mit rd. 125 000 Plätzen (1989) auf 1 186 mit 101 000 Plätzen im Jahr 1995 (Grunow und Olk 2007, S. 993 f.). Die hier geringer ausfallenden Angaben für das Jahr 1989 im Vergleich zu den weiter oben genannten – 125 000 gegenüber 140 000 – resultieren aus einer anderen statistischen Erfassung. An dieser Stelle sind mit den niedrigen Zahlen nur Heime für Ältere (Alters- und Altenpflegeheime) berücksichtigt. Waren vordem drei Viertel der Heime mit 87 % der Plätze in öffentlicher Trägerschaft, so waren fortan die Relationen zuungunsten der öffentlichen Seite verschoben. Sie verfügten 1995 – Tendenz: fallend – nur noch über ein Viertel der Heime mit ca. 30 % der Plätze (ebd.).
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Peter Hammerschmidt und Eva Maria Löffler
Zur Weiterentwicklung des Rechts der sozialen Altenhilfe
Der Gesetzgeber hat die Regelungen zur Altenhilfe im Laufe der Zeit mehrfach geändert. Am weitestgehenden war hierbei die Novelle vom 25. März 1975 (3. ÄndG BSHG; BGBl. I., S. 777), mit der § 75 BSHG neu gefasst wurde. Dabei trat der Präventionsgedanke durch eine Ergänzung in Abs. 1 sowie den neuen dritten Absatz (der vormalige dritte Absatz, wurde in den unbelegten vierten überführt und die dort formulierte Kann-Regelung als Soll-Vorschrift verankert) stärker in den Vordergrund. Altenhilfe im Sinne von § 75 Abs. 1 BSHG sollte demnach auch gewährt werden, wenn sie der Vorbereitung auf das Alter diene. Gleichzeitig fügte der Gesetzgeber in die Aufzählung der Maßnahmen im zweiten Absatz die Hilfe „bei der Beschaffung eines geeigneten Heimplatzes“ (Ziff. 2) sowie „Hilfe in allen Fragen der Inanspruchnahme altersgerechter Dienste“ ein. Die Gewährung persönlicher Hilfe für alte Menschen gemäß § 75 BSHG erfolgte fortan ohne Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen. Auf zwei weitere Änderungen des BSHG ist hier noch hinzuweisen, weil sie für die Altenhilfe bedeutsam waren. Das 3. ÄndG BSHG schränkte mit der Neufassung von § 91 den Unterhaltsrückgriff der Sozialhilfeträger ein, was dann u. a. dazu führte, dass Enkel von den Sozialämtern nicht mehr zu den Kosten für den Aufenthalt ihrer Großeltern in einem Altersheim herangezogen werden konnten. Das stellte eine Leistungsverbesserung dar. Die zweite Änderung, eine Leistungsverschlechterung, erfolgte durch das Haushaltsbegleitgesetz vom 22. 12. 1984 und betraf drei Paragrafen. Das Wunsch- und Wahlrecht der Hilfeempfänger nach § 3 Abs. 2 BSHG wurde eingeschränkt: „Wünschen des Hilfsbedürftigen, die Hilfe in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung zu erhalten, soll nur entsprochen werden, wenn dies nach der Besonderheit des Einzelfalls erforderlich ist, weil andere Hilfen nicht möglich sind oder nicht ausreichen und wenn mit der Anstalt, dem Heim oder der gleichartigen Einrichtung eine Vereinbarung nach § 93 Abs. 2 besteht.“
Im engen Zusammenhang damit kodifizierte der neu eingefügte § 3a BSHG einen generellen „Vorrang der offenen Hilfe“ vor der stationären. Aus fachlichen Erwägungen war ein solcher Vorrang sicherlich vielfach zu begründen und wünschenswert, denn trotz aller inzwischen realisierten Verbesserung bei den bestehenden Altersheimen bedeutete ein Heimaufenthalt immer noch regelmäßig eine nicht unerhebliche Einschränkung persönlicher Freiheiten. Movens für diese Novelle waren fiskalische Erwägungen – auch wenn eine offene Betreuung keineswegs immer billiger war als eine stationäre Unterbringung, was sich dann besonders in der Behindertenhilfe zeigte –, der Anstieg der Sozialhilfeausgaben sollte gedrosselt werden. Erlaubten nunmehr die §§ 3 und 3a BSHG den Kommunen eine bessere Steuerung der Nachfrageseite nach Altenheimplätzen, so verschaffte die im selben Zuge vorgenommene Än-
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derung von § 93 BSHG den örtlichen Sozialhilfeträgern ein Instrument zur besseren Steuerung der Angebotsseite. Bei § 93 handelte es sich um eine Subsidiaritätsregelung zugunsten der freien Träger, die ihre Angebote entwickeln und ausweiten und dann bei Nutzung dieser Angebote durch Hilfebedürftige einen Erstattungsanspruch gegenüber dem öffentlichen Träger geltend machen konnten. Die Neufassung schränkte diese Verpflichtung ein, indem sie sie an eine zuvor mit dem Sozialhilfeträger zu schließende Vereinbarung band (vgl. Birk et al. 1990, S. 75 ff., 81 ff., 746 ff.; Schellhorn 1997, S. 636 ff; eingehender zum sozialhilfepolitischen Rahmen in den 1980er Jahren vgl. Willing 2005, S. 483). Nach dem Ausbau des bundesdeutschen Sozialstaates im Allgemeinen wie des Sozialhilfesystems im Besonderen bis in die 1970er Jahre hinein dominierten nunmehr Einschränkungen oder eine „Reduktionsgesetzgebung“ (Tennstedt 2003, S. 78, RZ 103). Für die stationäre Altenhilfe bedeutete diese Reduktionsgesetzgebung keinen Rückgang, sondern lediglich eine Drosselung der Ausweitung. Und für die offene Altenhilfe stiegen die Anforderungen, denn zu ihren Aufgaben gehörten ja seit 1975 Hilfe „bei der Beschaffung eines geeigneten Heimplatzes“ sowie „Hilfe in allen Fragen der Inanspruchnahme altersgerechter Dienste“. Mit dem grundsätzlichen Vorrang offener Hilfen sowie den Einschränkungen für die freien Träger erhöhte sich hier der Beratungsbedarf. Neben die ‚klassische‘ sozialpädagogische/sozialarbeiterische Betreuung im direkten persönlichen Kontakt zwischen Sozialarbeiter/-in und Klient/-in traten Organisations- und Koordinationsaufgaben als zusätzliche Anforderungen und Aufgaben für die Soziale Arbeit. Mit der oben angeführten, seit Mitte der 1970er Jahren bestehenden Grundstruktur fand dann die Altenhilfe bei der Neufassung des Sozialhilfegesetzes als § 71 Eingang in das SGB XII, das seit dem 01. 01. 2005 gültig ist. Die Bezeichnung „Altenhilfe“ blieb ebenfalls erhalten, aber ansonsten wurde das in dem entsprechenden BSHG-Paragrafen häufiger verwendete Wort „Hilfe“ gänzlich vermieden. Stattdessen ist nun nur noch von „Leistungen“, „Beratung“ und „Unterstützung“ die Rede. Ebenfalls wegen der symbolischen Bedeutung ist noch erwähnenswert, dass die mit der Novelle von 1975 an die letzte Stelle der Aufzählung der Hilfen in Abs. 2 gerückte „Hilfe zu einer Tätigkeit des alten Menschen, wenn sie von ihm erstrebt wird und in seinem Interesse liegt,“ nunmehr wieder ihren ursprünglichen ersten Platz einnahm, und dass dabei nicht mehr bloß von „Tätigkeit“, sondern von „gesellschaftlichem Engagement“ die Rede ist.
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Zum Stellenwert der sozialen Altenhilfe in den Kommunen
Die konkrete Ausgestaltung und Umsetzung dieser immer noch vergleichsweise offen gehaltenen rechtlichen Vorgaben zur Altenhilfe fällt vor Ort höchst unterschiedlich aus. Sie hängt wesentlich von der Aufmerksamkeit, Bedeutung, Schwerpunktsetzung, dem Engagement usw. ab, die die einzelnen Kommunen (kommunale Politik und
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Verwaltung) dem Bereich Altenhilfe zukommen lassen bzw. zumessen, und nicht zuletzt selbstredend von den jeweiligen finanziellen Spielräumen. Regere Aktivitäten lassen sich vornehmlich dort feststellen, wo sich Bedürfnisse Älterer mit kommunalen Interessen überschneiden. Das gilt etwa bzgl. Hilfe- und Stützangeboten, die es älteren Menschen ermöglichen sollen, (länger) in ihren (z. T. städtischen) Wohnungen zu verbleiben. Fiskalisch sind solche Altenhilfemaßnahmen für die Kommunen insofern interessant, als sie die Inanspruchnahme der Sozialhilfe zur Restfinanzierung für die regelmäßig teure Heimunterbringung vermeiden bzw. hinauszögern können. Ansonsten ist festzustellen, dass Altenhilfe meist keine hohe Priorität auf den kommunalpolitischen Agenden einnimmt. Letzteres zeigt sich besonders bei einem Blick auf die Zahl der älteren Menschen, die in den Genuss der individuellen Leistungen gemäß § 75 BSHG bzw. nunmehr § 71 SGB XII kommen, und dem Finanzvolumen, das die Sozialhilfeträger dafür aufzuwenden bereit sind. Einige wenige Zahlenangaben mögen dazu genügen: Es waren regelmäßig kaum mehr als einige Tausend Ältere, die individuelle Leistungen der Altenhilfe außerhalb von Anstalten beanspruchten. In den 1990er Jahren meist zwischen 8 000 und 9 000 Personen jährlich von zwischen 1,3 und 1,4 Millionen Personen, die insgesamt Hilfe in besonderen Lebenslagen (gemäß BSHG) erhielten. Nur in den Jahren 1998 und 1999 waren fünfstellige Zahlen (12 028 bzw. 11 559) zu verzeichnen, anschließend pendelten sich diese Werte wieder bei ca. 8 000 ein. Daran änderte auch die Einführung des neuen Soziahilfegesetzes kaum etwas, auch – oder vielleicht eignet sich dies als Indiz – wenn in den neueren Ausgaben der Schriftenreihe des Statistischen Bundesamtes die Zahl der Empfänger der Altenhilfe nicht mehr gesondert ausgewiesen wird. Stattdessen wird nur die Gesamtzahl der Empfänger/-innen der „Hilfe in anderen Lebenslagen“ (§§ 70 – 74 SGB XII) ausgewiesen. Diese belief sich Ende 2013 auf 24 000, von denen gut 16 000 über 65 Jahre alt waren (StaBuAmt 2015a), womit die absolute Höchstzahl potenzieller Leistungsempfänger der offenen Altenhilfe gemäß § 71 SGB XII markiert wäre. Unterstellt man dagegen, dass die übrigen vier Hilfen dieser Gruppe zusammengenommen die Hälfte der Empfänger/-innen-Zahlen ausmachten, dann ergäbe sich für die Altenhilfe ein Wert, der dem in den 1990er Jahren entspräche (ca. 8 000). Für Ende 2017 weist die Sozialhilfestatistik 34 358 Empfänger von „Hilfe in anderen Lebenslagen“ aus (StaBuAmt 2019e, S. 34). Wie viele davon auf Altenhilfe gemäß § 71 SGB XII entfallen, wird dort nicht ausgewiesen. Die Gesamtausgaben der örtlichen und überörtlichen Soziahilfeträger für Altenhilfe gemäß § 75 BSHG beliefen sich im Jahr 2004 (dem letzten Jahr der Gültigkeit des BSHG) auf rd. 7,16 Millionen €, was nur einen bescheidenen Anteil an den Gesamtausgaben der Sozialhilfe von 26,351 Milliarden € (davon 16,37 Milliarden € für Hilfen in besonderen Lebenslagen) ausmachte (StaBuAmt 2005, Tab. B1.1). Auf der neuen Rechtsgrundlage summierten sich die Ausgaben für Altenhilfe (§ 71 SGB XII) im Rechnungsjahr 2006 auf rd. 6,6 Millionen € ( StaBuAmt 2008, Tab. A 1) und nach den letzten amtlichen Daten – in neueren Sozialhilfestatistiken finden sich die dem-
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entsprechend differenzierten Angaben nicht mehr – auf weniger als 9,7 Millionen € für das Haushaltsjahr 2013 (StaBuAmt 2015b, S. 6).
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Ausblick
Für die Zukunft der sozialen Altenhilfe als Teil kommunaler Sozial(hilfe)politik und Daseinsvorsorge lässt sich ein Bedeutungszuwachs prognostizieren. Dafür spricht nicht nur die inzwischen viel beschworene und befürchtete zunehmende Alterung der Bevölkerung in Deutschland, die das Potenzial der Klient/-innen erhöht, sondern auch die Entwicklung im System der sozialen Sicherung. Altersarmut wird künftig zunehmen, sodass mehr Ältere auf den Bezug von Sozialhilfeleistungen („Grundsicherung im Alter“ SGB XII) angewiesen sein werden und dann wohl auch häufiger Leistungen der Altenhilfe gemäß § 71 SGB XII erhalten werden. In dieselbe Richtung wirken die Reformen im Gesundheitsbereich. Schon heute liegt das Schwergewicht der Praxis sozialer Altenhilfe im Pflegemanagement. Aufgabe der Sozialen Altenarbeit ist es hier, den jeweiligen Finanzierungsmix – Eigenbeträge der Betroffenen, evtl. Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), Zuschüsse der sozia len Pflegeversicherung (PV) sowie die Restfinanzierung durch die Sozialhilfe – im Einzelfall sicherzustellen und die Angebote der inzwischen wettbewerblich ausge richteten, kommerzialisierten Einrichtungen und Dienste nach Bedarfs- und Kostengesichtspunkten zu kombinieren (Case bzw. Care Management, vgl. die Beiträge von Rubin, Schmidt sowie Wendt i. d. B.). Die Sozialhilfe hat, wie schon angeführt, als letztes Auffangnetz im System der sozialen Sicherung die Unzulänglichkeiten der vorgelagerten Systeme aufzufangen (Lückenbüßerfunktion der Fürsorge). Das gilt auch für die soziale Altenhilfe als Teil der kommunalen Sozialhilfe. Sie steht besonders vor der Herausforderung, die fragmentierten Angebote und Leistungen für alte Menschen der anderen Sicherungssysteme – ohne direkte Einflussmöglichkeit auf deren Träger – aufeinander abzustimmen und die vielfachen und vielfältigen Schnittstellenprobleme aufzufangen und zu bearbeiten. Daneben erlebt – zumindest im politischen Diskurs – eine ‚klassische‘ Aufgabe Sozialer Arbeit, die Gewinnung und Einbindung ehrenamtlicher Kräfte, seit geraumer Zeit eine Renaissance. Bürgerschaftliches Engagement und seine Bedeutung für das Soziale und die gesellschaftliche Wohlfahrtsproduktion wird auf allen Ebenen der Politik betont und auch gefördert. Neben jüngeren Menschen sollen insbesondere Ältere, von beruflichen Verpflichtungen befreit, einen sinnvollen, produktiven Lebensabend gestalten (vgl. Pichler i. d. B.). Ihre Mitwirkung vor allem bei den öffentlichen wie freigemeinnützigen Trägern sozialer Hilfen soll dort Leistungsdefizite und personelle Unterausstattung kompensieren. Neben i. d. R. finanziell gesichert lebenden jüngeren Alten sind auch Sozialhilfebedürftige selbst Adressat/-innen solcher Erwartungen. So sieht § 11 des Sozialhilfegesetzes (SGB XII) unter der Überschrift
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„Beratung und Unterstützung, Aktivierung“ vor, Hilfeempfänger/-innen zur aktiven Teilnahme am Leben der Gemeinschaft aufzufordern, worunter auch gesellschaftliches Engagement zu verstehen ist. Für diejenigen, die die Regelaltersgrenze der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) erreicht haben, gilt das nicht als Verpflichtung. Dafür formuliert § 71 Abs. 2 für diese Altersgruppe die Unterstützung zum gesellschaftlichen Engagement als eine Leistung der Altenhilfe. In welchen Bereichen und in welchem Maße es gelingen kann, solcherart die Wohlfahrt zu erhöhen, mag dahingestellt bleiben. Nach den bislang vorliegenden Erfahrungen lässt sich aber festhalten, dass eine solche Einbeziehung Ehrenamtlicher, anders als offenbar von (Kommunal-) Politiker/-innen erhofft, als Sparmaßnahme wenig taugt. Die produktive Einbindung älterer Menschen funktioniert nur dort, wo eine professionelle Infrastruktur dafür bereitsteht (Aner 2006; Bettmer 2007; Aner und Hammerschmidt 2008), sodass diesbezügliche Maßnahmen bestenfalls kostenneutral sind. Außerhalb von Bundes- oder Landesmodellprojekten und jenseits der ‚harten‘ Aufgaben wie Care Management verfügt die Soziale Altenarbeit als potenzielle Begleiterin des Bürgerengagements Älterer jedoch meist nur über eine sehr geringe Personalausstattung. Ansonsten bleibt noch nachzutragen, dass seit vielen Jahren in den einschlägigen Fachkreisen, zeitweise forciert durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, über die „Altenhilfestrukturen der Zukunft“, so auch der Titel einer Tagung 2004 in Berlin, diskutiert wird. Es geht zum einen um den Ausbau der Altenhilfestrukturen, die eine selbstständige Lebensführung möglichst lange erhalten sollen, wie auch schon im 4. Altenbericht von 2002 gefordert (vgl. BMFSFJ 2002a). Zum anderen sollen „Möglichkeiten und Grenzen selbständiger Lebensführung in stationären Einrichtungen“, so der Titel eines vom selben Bundesministerium in Auftrag gegebenen Forschungsprojektes, ausgelotet werden (Schneekloth und Wahl 2007). Ausgangspunkt für dieses Forschungsprojekt waren die Vernetzungsprobleme der Altenhilfe, die auch vom zuständigen Bundesministerium konstatiert worden waren. In einem Praxistest sollte für ein zu schaffendes „Altenhilfestrukturgesetz“ eine Gesetzesfolgenabschätzung vorgenommen werden, so der (ursprüngliche) Auftrag des Ministeriums. Gemessen an der immer wieder aus Fachkreisen erhobenen Forderung nach einem Altenhilfegesetz als Sozialleistungsgesetz für Ältere – analog zum Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) – war das Gesetzesvorhaben „Altenhilfestrukturgesetz“ zwar nur eine ‚kleine Lösung‘ gleichwohl konnte es als Schritt in die richtige Richtung interpretiert werden. Doch dann hieß es seitens des federführenden Bundesseniorenministeriums, das Vorhaben „Altenhilfestrukturgesetz“ sei nicht aufgegeben, aber es benötige mehr Zeit (BMFSFJ 2004a, S. 8). Seitdem war regierungsseitig nicht mehr von einem solchen Gesetz die Rede (vgl. Zenz und Pohlmann 2014). Einen neuen Impuls sollte viel später der im November 2016 vorgelegte 7. Altenbericht (BT-Drs. 18/10210) setzen. Darin empfahl die Expertenkommission die Schaffung eines „Leitgesetzes zur Stärkung einer Politik für ältere und mit älteren Menschen“ (ebd., S. 294). Die Bezeichnung „Altenhilfe(struktur)gesetz“ vermied die Kommission – das Wort selbst findet sich nur
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an zwei Stellen des Berichts (S. 217 u. 279) – aber von der Sache her war dasselbe gemeint (ebd., S. 279 f.). In ihrer Stellungnahme zum 7. Altenbericht ging die Bundesregierung auf diese Empfehlung allerdings nicht ein. Aber die Probleme, auf die das Gesetz reagieren wollte, bestehen fort. Deshalb kann erwartet werden, dass zumindest die Forderung nach einer kohärenten rechtlichen Regelung nunmehr wieder lauter wird. Sollte es in absehbarer Zeit zu einer umfassenden rechtlichen Neuregelung der Altenhilfe kommen, dann wäre dafür wohl weniger die Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) als vielmehr die Behindertenhilfe bzw. die Eingliederungshilfe, also das Recht der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX), das Vorbild. Hier wird durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) 2016 in vier sog. Reformstufen zwischen 2017 und 2023 nach der anfänglich bloßen Vereinheitlichung des formellen Rechts auch das materielle Recht im SGB IX zusammengefasst. Die pluralen Strukturen der Kostenträgerschaft und selbstredend der Leistungserbringung bleiben dabei erhalten. Selbst eine solche ‚kleine‘ Lösung wäre schon ein erheblicher Fortschritt, bei dem der Sachbereich soziale Altenhilfe schärfere Konturen bekäme. Würde der Gesetzgeber im gleichen Zug den Kommunen, wie im 7. Altenbericht ebenfalls empfohlen, Planungs- und Koordinationsaufgaben für diesen Sachbereich übertragen, dann käme das den früheren Forderungen nach einem Altenhilfe(struktur)gesetz schon sehr nahe. Die Kommunen verfügten dann über Steuerungsmöglichkeiten und könnten zum zentralen Akteur der sozialen Altenhilfe werden. Voraussetzung dafür, dass sie diese Funktion dann auch für die Adressat/-innen der Altenhilfe zufriedenstellend erfüllen könnten, wäre jedoch, dass den Kommunen im innerstaatlichen Finanzausgleich auch die zur Aufgabenerfüllung erforderlichen finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt würden, wie von der Kommission des 7. Altenberichts gefordert. Wann und mit welchen Ergebnissen all dies geschehen wird, bleibt abzuwarten.
Ausgewählte Literatur Aner, Kirsten, und Ute Karl. Hrsg. 2008. Lebensalter und Soziale Arbeit. Ältere und alte Menschen. Baltmannsweiler: Schneider. Hammerschmidt, Peter, Stefan Pohlmann und Juliane Sagebiel. Hrsg. 2014. Gelingendes Alter(n) und Soziale Arbeit. Neu-Ulm: AG Spak. Schroeter, Klaus R., Claudia Vogel und Harald Künemund. Hrsg. 2018. Handbuch Soziologie des Alter(n)s. Wiesbaden: Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-09630-4.
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Einführung
Soziale Altenhilfe hat ihre Wurzeln in der Armenfürsorge. Sie war und ist rechtlich Teil der selbstverwalteten kommunalen Daseinsvorsorge, die sowohl im Einzelfall als auch für Gruppen von Bedürftigen subsidiär notwendige Ressourcen zur Exklusionsvermeidung und Inklusionsvermittlung bereitstellt. Der Sachbereich soziale Alten hilfe war und ist durch eine vergleichsweise schwache rechtliche Regulierung gekennzeichnet – seit 1962 in § 75 BSHG, seit 2005 in § 71 SGB XII. Die Anwendungspraxis orientierte sich seit 1975 insbesondere auf präventive und offene Angebote (ausführlich vgl. Hammerschmidt und Löffler i. d. B.), ohne dabei vorzugeben, von welchen Berufsgruppen diese zu erbringen sind. Der gesetzliche Rahmen bietet aber grundsätzlich ein breites Betätigungsfeld für Fachkräfte der Sozialen Arbeit, insbesondere bei den freigemeinnützigen Trägern, die die Einrichtungen und Dienste weit überwiegend betreiben (vgl. ebd.). Die rechtlich sehr weit gefasste Vorgabe und die damit einhergehende große landes- und kommunalspezifische Diversität in der Ausgestaltung erschweren es, eindeutige Bezeichnungen für das Handlungsfeld und seine Teilbereiche sowie für die spezifischen Angebote Sozialer Arbeit für ältere Menschen zu finden. Vor dem Hintergrund der fürsorgerischen Tradition wurden diese lange Zeit als Angebote der „Altenhilfe“ tituliert. In dem Maße, in dem ältere und alte Menschen durch den demografischen Wandel und die Verbesserung ihrer Lebenslagen (vgl. dazu die Beiträge zum Kapitel „Lebenslagen im Alter“ i. d. B.) nicht mehr nur als hilfsbedürftige Randgruppe wahrgenommen werden konnten, veränderten sich die verwendeten Begriffe. Diese Verschiebung wurde jedoch selbst in der theoretisch orientierten Fachdiskussion selten expliziert. Gleichwohl lässt sich eine Tendenz in der Begriffsverwendung erkennen: Das Handlungsfeld wird unterteilt in die sog. offene Altenarbeit für die Zielgruppe der Jüngeren, gesundheitlich weniger Belasteten unter den älteren Men© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_3
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schen. Hinzu kommt die sog. Altenhilfe für die oft stark eingeschränkten Hochaltri gen, wobei diese noch einmal entlang der Organisationsformen der Dienste und Einrichtungen (ambulant, teilstationär, stationär) gegliedert wird. In den 1990er Jahren wurde vorgeschlagen, zwischen Sozialer Altenarbeit und Sozialer Arbeit in der Pflege zu unterscheiden (vgl. Schmidt 1997; Otto 2005a). Diesem Vorschlag zu folgen, hat zwei Vorteile: Wenn jeweils von Sozialer Arbeit die Rede ist, sind damit sowohl fürsorgerische Aspekte der Sozialarbeit als auch sozialpädagogische Perspektiven ange sprochen. Das erleichtert zugleich die Einbindung in den internationalen Fachdiskurs über social work, der diese spezifisch deutsche Differenzierung nicht kennt. Sinnvoller noch ist, von Sozialer (Alten-)Arbeit zu sprechen und damit zum einen die beiden Traditionslinien (Sozialarbeit und Sozialpädagogik) unter einem gemeinsamen Begriff zu vereinen. Damit lässt sich zum anderen verdeutlichen, dass es zwar Spezifika der Zielgruppe, zugleich aber zahlreiche, u. a. paradigmatische und methodische Gemeinsamkeiten mit der Sozialen Arbeit für Zielgruppen in anderen Lebensphasen gibt. Das gilt umso mehr, als sich die heute ‚Alten‘ keineswegs nur nach altersspezifischen Unterstützungsangeboten oder gar nur kompensatorischen Betätigungsfeldern sehnen – zumindest solange sie gesundheitlich nicht oder kaum eingeschränkt sind. Ohnehin verlaufen sowohl das körperliche als auch das soziale Altern äußerst individuell. Deshalb sind die Bewältigungsmöglichkeiten für die damit verbundenen Herausforderungen und somit der Bedarf an sozialstaatlich organisierter Unterstützung weniger vom kalendarischen Alter abhängig als von den divergierenden Lebenslagen. Selbst beim Eintritt von Hilfs- und Pflegebedürftigkeit handelt es sich zum einen um einen (u. U. sogar reversiblen) Prozess, von dem zum anderen selten nur die Pflegebedürftigen allein betroffen sind. Vielmehr haben häufig auch und gerade Angehörige der Betroffenen einen Beratungs- und Unterstützungsbedarf. Der Unterscheidung zwischen Sozialer (Alten-)Arbeit mit nicht pflegebedürftigen Älteren und Sozialer (Alten-)Arbeit in der Pflege kann man aber insoweit folgen, als sich diese Bereiche historisch unterschiedlich entwickelten und aktuell rechtlich verschieden gerahmt sind. Im vorliegenden Handbuch wird außerdem vorgeschlagen, die Bezeichnung Soziale (Alten-)Arbeit im Bereich Gesundheit und Pflege zu verwenden, um dem Prozesscharakter von Alter(n) wie auch von Hilfs- und Pflege bedürftigkeit zu entsprechen (vgl. Abbildung 1). Auch wenn diese begrifflichen Unterscheidungen von Teilbereichen des Arbeitsfeldes manchmal nötig sind (und auch das entsprechende Kapitel des vorliegenden Handbuchs gliedern), ist aus fachlicher Sicht eine Versäulung von offenen Angeboten, ambulanten Diensten und voll- bzw. teilstationären Einrichtungen inhaltlich nicht gerechtfertigt und nicht wünschenswert – und ebenso wenig ihre strikte Trennung von der Sozialen (Alten-)Arbeit in den Bereichen von Freizeit, Kultur, Bildung und zivilgesellschaftlichem Engagement. Will man anhand der Beschäftigtenzahlen nachzeichnen, wie sich die sozialarbeiterisch-sozialpädagogische Fachlichkeit im Kontext der sozialen Altenhilfe entwickelt hat, stößt man schnell auf Probleme. Es gab lange Zeit kaum Daten zur Anzahl
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Abbildung 1 Bereiche und Bezeichnungen Sozialer Arbeit mit älteren Menschen Soziale (Alten-)Arbeit (Altenhilfe)
(Altenarbeit)
Bereich Gesundheit/Pflege
andere Bereiche
Beratungsstellen (zu Gesundheit/Pflege) Gesundheitsarbeit/Rehabilitation Allg.krankenhaus/Geriatrie Gerontopsychiatrie Palliativversorgung Pflegerische Versorgung (ambulant, teilstationär, stationär)
Freizeitorientierte Arbeit Kulturarbeit Bildungsarbeit Beratung/Vermittlung von Angeboten zur sozialen Teilhabe
Quelle: Eigene Darstellung ©
der Beschäftigten mit einem entsprechenden Hochschulabschluss und die dezentrale und diversifizierte Landschaft erschwert Vergleichbarkeit und Hochrechnungen. Eine Ausnahme bildet die Statistik der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V., die auf die gesamte Bundesrepublik bezogen und als Panel angelegt ist (vgl. BAG FW 2018b). Zum anderen erfassen die Erhebungen, auch die der BAG FW, in der Regel nur Fachkräfte in Einrichtungen, nicht aber diejenigen, deren Tätigkeiten rechtlich der sozialen Altenhilfe zuzuordnen sind, die aber in leitenden oder planenden Funktionen nicht direkt mit der Zielgruppe arbeiten. Ein Großteil der Professionalität Sozialer Arbeit kommt in solchen Handlungsfeldern zum Tragen, die gar nicht explizit dem Bereich sozialer Altenhilfe zugerechnet werden wie im Allgemeinen Sozialdienst (ASD bzw. KSD), der Stadtteil- und Gemeinwesenarbeit, der Erwachsenenbildung etc. Zudem wird Soziale Arbeit oft in Modellprojekten geleistet, die durch die Raster von Momentaufnahmen fallen. Umso bedauerlicher ist, dass bis heute zahlreiche Dokumentationen abgeschlossener Modellprojekte zwar die durchführenden Institutionen und ihre jeweiligen Konzepte ausweisen, auf die explizite Nennung der Qualifikation der Mitarbeiter/-innen jedoch verzichten. Nicht zu vergessen sind die erheblichen Schwierigkeiten in der Abgrenzung des Berufsfeldes (Stooß 1982; Schmidt 1997). Immerhin lassen sich die Aushandlungsprozesse und Grundzüge der inhaltlichen Profilierung chronologisch darstellen – zumindest ab den 1970er Jahren, denn zuvor kann davon keine Rede sein. Um auch dies verständlich zu machen, beginnt der folgende Überblick mit der Nachkriegszeit. Dabei wird nicht professionsbezogen argumentiert, ob das Alter ein (sozial-)pädagogisches Problem ist und/oder ältere Menschen eine spezifische Zielgruppe sind (vgl. dazu Winkler 2005; Aner 2018a).
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Vielmehr wird die tatsächliche Entwicklung der Fachlichkeit Sozialer (Alten-)Arbeit entlang von Zeitabschnitten skizziert. Dabei werden jeweils drei miteinander verwobene Aspekte berücksichtigt: •• die Altenpolitik, insbesondere auf Bundesebene, •• die Entwicklung von sozialen Diensten und sozialer Infrastruktur und •• die Entwicklung sozialpädagogischer Handlungsoptionen und Fachdiskurse unter diesen Rahmenbedingungen. Analytisch unterschieden wird dabei zwischen zwei großen Teilbereichen des Arbeitsfeldes (s. o.), in denen die Kompetenzen Sozialer (Alten-)Arbeit in je besonderer Weise zum Tragen kommen (können): dem Regelungsbereich des SGB XII einschließlich der Freizeit-, Kultur-, Bildungs- und Freiwilligenarbeit mit den gesundheitlich weitgehend unbelasteten, meist jüngeren Alten sowie dem Bereich Gesundheit und Pflege, für den das SGB XI von besonderer Bedeutung ist. Die Darstellung muss im gegebenen Rahmen kursorisch bleiben. Die rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen Sozialer (Alten-)Arbeit in Deutschland und ihre historische Entwicklung seit Einführung des BSHG 1961 werden hier nicht näher behandelt (vgl. dazu Hammerschmidt und Löffler i. d. B.), ebenso wenig spezifische Entwicklungen in Ostdeutschland (vgl. dazu Gerlach 2007; Grunow und Olk 2007).
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Entwicklung der Fachlichkeit Sozialer Arbeit im Kontext von Sozial- und Altenpolitik
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1945 bis Mitte der 1960er Jahre
Die Sozialpolitik im Nachkriegsdeutschland zwischen 1945 und der Gründung zweier deutscher Staaten 1949 war wesentlich bestimmt von der Überwindung der Kriegsfolgen. In dieser Zeit kann von einer eigenständigen Altenpolitik außerhalb der finanziellen Alterssicherung und der allgemeinen Maßnahmen zur (Wieder-)Herstellung einer sozialen Infrastruktur nicht die Rede sein. Altenpolitische Themen wie die „Not der Alten“ oder die „Überalterung“ der Bevölkerung wurden allenfalls auf Expertentagungen diskutiert (Münch 2001, S. 696). Ähnlich ist die „Phase der Rückkehr zur sozialpolitischen Normalität“ zwischen 1949 und 1957 einzuschätzen (vgl. Münch 2005a, S. 650 f.), obwohl viele ältere Menschen nicht wie andere Bevölkerungsgruppen von der wirtschaftlichen Entwicklung profitierten und von der Fürsorge abhängig blieben. Insbesondere die Höhe ihrer Renten war bis 1957 in der Regel unzureichend, vielfach ließen ihre Wohnverhältnisse zu wünschen übrig und war ihr Gesundheitszustand schlecht. Die soziale Isolation älterer Menschen war ein weit verbreitetes Problem. Die meisten Frauen waren von einer Kumulation dieser Pro-
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bleme betroffen. Immerhin begannen die Kommunen, sich mit der Wohnsituation der Alten auseinanderzusetzen. Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge (DV) forderte 1957, das materielle Auskommen und die gesundheitliche Betreuung zu verbessern, aber auch die „Zugehörigkeit zu und Funktion in einer Gemeinschaft“ (DV 1957, S. 322) als Notwendigkeit anzuerkennen. In den Folgejahren ist eine Differenzierung altengerechter Dienste zu verzeichnen, wenngleich noch in unzureichendem Maße (vgl. Grunow 2005a, S. 832 f.). In die Zeit nach 1957 bis Mitte der 1960er Jahre fällt nicht nur die Einführung des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) und seiner Altenhilferegelung in § 75 BSHG (vgl. Hammerschmidt und Löffler i. d. B.); sie kann insgesamt als der Zeitabschnitt betrachtet werden, in dem sich Altenpolitik beschleunigt als Teilbereich der Daseinsvorsorge herausbildete. Neu dabei war, dass nach der Rentenreform von 1957 Politik und Wissenschaft begannen, ihr Augenmerk auch auf andere als materielle Aspekte des Lebens älterer Menschen zu richten – auf strukturelle und soziale Problematiken, die mit dem Alter verbunden sein können. Dies ist nicht nur in den Bestimmungen des § 75 BSHG ersichtlich, vielmehr wurde diese Neuausrichtung auch institutionell gefestigt: mit der Einrichtung zahlreicher Begegnungsstätten für ältere Menschen, der Gründung des Kuratoriums Deutsche Altershilfe (KDA), der Einrichtung des Fachausschusses Altenhilfe der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAG FW) und durch zahlreiche Fachtagungen zum Thema Alter (vgl. Münch 2007). Angestoßen wurde dieser Prozess vom weiter steigenden Anteil älterer Menschen und damit älterer Wähler/-innen, von der gestiegenen, nicht allein durch junge Erwachsene zu deckenden Nachfrage nach Arbeitskräften sowie von der Wahrnehmung, dass in den Alten- und Pflegeheimen miserable Lebensbedingungen weit verbreitet waren. Möglich wurde er nicht zuletzt durch die Tatsache, dass der wirtschaftliche Produktivitätsfortschritt zusätzliche Ausgaben für soziale Belange finanzierbar machte. Neben die Bemühungen um die persönlichen Hilfen traten erste Versuche einer konsistenten Altenpolitik auf kommunaler, Landes- und Bundesebene, die jedoch vorerst an der mangelnden Kooperation der staatlichen Stellen und einer unzureichenden Datenlage scheiterten, sodass dieser Zeitabschnitt trotz der genannten Fortschritte auch als „Inkubationsphase der Altenpolitik“ (ebd., S. 598) bezeichnet werden kann. 2.2
Ende der 1960er bis 1970er Jahre
Als 1965 in Köln der 64. Deutsche Fürsorgetag eine grundsätzlich und insbesondere hinsichtlich des Grundsatzes einer partnerschaftlichen Beziehung zwischen dem Sozialhilfeträger und dem Hilfesuchenden positive Bilanz von vier Jahren BSHG zog, wurde zugleich auf die Schwierigkeiten des damit verbundenen Umdenkens weg von der traditionellen Fürsorge verwiesen. Bedenken demgegenüber könnten nicht zuletzt auf eine sich abzeichnende Überforderung der Sozialsysteme zurückgeführt
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werden (vgl. DV 1966). Die Alterung der Bevölkerung und damit evtl. verbundene Kosten standen dabei allerdings noch nicht im Vordergrund. Erklären lässt sich das durch eine „klare Randständigkeit der Alterspopulation in der politischen Bedeutungszuweisung“ (Dieck 1987a, S. 217) in den 1960er Jahren. Bis zum Beginn der 1970er Jahre beschränkten sich die politischen Parteien auf eher allgemeine Aussagen zu dem auf der Bundesebene immer noch schwach ausgeprägten Politikfeld. Gleichwohl lassen sich mit Blick auf einen längeren Zeitraum „Indizien für die gesellschaftspolitische Aufbruchstimmung, die bis Anfang der 1970er Jahre herrschte, beobachten“ (Münch 2006, S. 696). So wurde 1968 unter dem Titel „Bundesprogramm zur Förderung gesellschaftspolitischer Maßnahmen für die ältere Generation“ ein Maßnahmepaket verabschiedet, das darauf zielte, Einzelfallhilfen durch eine bessere gesellschaftliche Integration von alten Menschen und die Stärkung ihres Selbstbewusstseins zu ergänzen. Initiativen der Zusammenarbeit wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Kräfte auf Bund-, Länder- und Gemeindebene wurden mit sechs Millionen DM gefördert. Wegen seiner ebenen- und ressortübergreifenden sowie emanzipatorischen Grundgedanken gilt dieses Programm als erster Baustein einer umfassenderen, weniger fürsorgerisch ausgerichteten Altenpolitik in Deutschland. Mitunter wurde das Programm sogar als „Bundesaltenplan“ bezeichnet (vgl. Holtz 1987, S. 177). 1968 forderte das Berliner Abgeordnetenhaus die Einrichtung eines wissenschaftlichen Instituts, das Forschungen im Bereich Altenhilfe sammelt und koordiniert, die Öffentlichkeit über Probleme des Alterns aufklärt, Bundes- und Landesbehörden bei überregionalen Vorhaben berät und nicht zuletzt wissenschaftliche und praktische Bemühungen um eine moderne Altenhilfe koordiniert. Das Ergebnis war 1973 die Gründung des Deutschen Zentrums für Altersfragen (DZA) in Berlin. Schon ab Mitte der 1960er Jahre war die Zahl der altenpolitischen und gerontologischen Publikationen zum demografischen Wandel und zur Benachteiligung älterer Menschen gewachsen. Auch erste Bedarfsanalysen wurden erstellt. Auf der Agenda von Bund, Ländern und Kommunen hatte die Versorgung der älteren Bevölkerung mit Alten- und Pflegeheimen weiterhin höchste Priorität. Gleichzeitig stärkten das Heimgesetz (Gesetz über Altenheime, Altenwohnheime und Pflegeheime für Volljährige vom 7. 8. 1974) und mehr noch die Heim-Mitwirkungsverordnung von 1976 die Rechte von Heimbewohner/-innen. Schon im Vorfeld trug der konfliktreiche und langwierige Prozess der Heimgesetzgebung (vgl. Münch 2006, S. 702 ff.) dazu bei, dass fürsorgerisch entmündigende Praktiken des Umgangs mit alten Menschen wie auch der Mangel an ambulanten Angeboten zur Unterstützung der selbstständigen Lebensführung alter Menschen verstärkt in das politische und öffentliche Bewusstsein gerieten. Alte Menschen mit ihren Bedürfnissen und sozialen Problemen wurden zu einer Gruppe, die im Kontext der Diskussion über die Weiterentwicklung von sozialen Diensten und sozialer Infrastruktur kontinuierlich mehr Aufmerksamkeit erhielt. Eine weitere Entwicklung, die in den 1970er Jahren einsetzte, ist bis heute gerade für die rechtlich schwach regulierte und kommunal verankerte Soziale (Alten-)Arbeit außerordentlich bedeutsam: die breite Förderung von Modellprogrammen als Steue-
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rungsinstrument von Bund und Ländern. Ein Beispiel dafür sind die Sozialstationen. Sie entstanden als Antwort auf zwei Phänomene der gesellschaftlichen Modernisierung nach dem Zweiten Weltkrieg: Zum einen sank die Zahl der Diakonissen und Ordensfrauen, die traditionell Gemeindekrankenpflege leisteten. Zum andere schwanden die Potenziale von Familien und ehrenamtlichen Kräften, den Bedarf behinderter und kranker Menschen an nichtmedizinischer Unterstützung zu befriedigen. Sozialstationen wurden in vielen Bundesländern über Förderrichtlinien zu einem flächendeckenden Angebot, das sich insbesondere an ältere sozial Benachteiligte richtet. Personalbedarf und Reformbereitschaft führten nicht nur im Bereich sozialer Altenhilfe zu einer Aufwertung entsprechender Ausbildungen und einer stark steigenden Anzahl an Ausbildungsplätzen an Fach(hoch-)schulen. Diese Entwicklung legte den personellen Grundstein für die Professionalisierung Sozialer (Alten-)Arbeit, wenngleich (bis heute) gegen Widerstände insbesondere von den Kostenträgern sozialer Dienste und Einrichtungen. Zu Professionalisierungshürden wurden auch die lokalen Sozialplanungen, darunter die Altenhilfeplanungen, denn sie bezogen sich in erster Linie auf quantitative Parameter. Qualitativ kam allenfalls das Angebotsspektrum in den Blick. Vor diesem Träger- und Planungshintergrund wurde die Arbeit von Ehrenamtlichen als unverzichtbarer Bestandteil der freien Wohlfahrtspflege angesehen; ohne sie galten und gelten auch zahlreiche Angebote der nichtstationären Altenhilfe als nicht zu sichern (vgl. Grunow 2006, S. 813 ff.). In den späten 1970er Jahren setzte eine intensive Auseinandersetzung mit der Gestaltung einer modernen sozialen Altenhilfe ein, die sich zunächst an dem orientierte, was in der Praxis vorzufinden war (vgl. Koch-Straube 1979; AG Interpretative Sozial forschung 1983). Ihr Theoriebezug intensivierte sich rasch und griff zunächst eine gerontologische Diskussion über die Frage nach einem gelingenden Altern auf, die sich zwischen den Polen der „Disengagement-These“ (Cumming und Henry 1961) und der „Aktivitätsthese“ (Havighurst 1961) abspielte. Letztere geht davon aus, dass der Rückzug aus sozialen Rollen im Alter eher unfreiwillig erfolgt. Durch die (ggf. begleitete) Fortführung solcher Rollen sei er zu vermeiden oder zumindest zu kompensieren. Diese Vorstellung war offensichtlich attraktiv für die Soziale Arbeit und sie war geeignet, um sich einzuklinken in die Altenhilfe-Innovationen, die von der mittlerweile etablierten Altenpolitik ausgingen. Mit der Intention, der verbreiteten Selbstgenügsamkeit der Älteren und Tendenzen zur Vereinsamung entgegenzuwirken, richteten sich die Fachkräfte und Ehrenamtlichen in der sog. offenen Altenhilfe in der Folgezeit nicht mehr nach dem Leitbild des betreuten Alters, sondern nach dem des „aktiven Seniors“ (vgl. Schmidt und Zeman 1988). 2.3
Die 1980er Jahre
In den 1980er Jahren war der demografische Wandel nicht mehr zu übersehen und Sozialpolitik für alte Menschen wurde vor diesem Hintergrund zu einem Politikfeld mit
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großer Relevanz. Es bekam klarere Konturen und zugleich wurde sein Querschnittscharakter berücksichtigt. Erkennbar wird dies u. a. am Titel des Vierten Familienberichts „Die Situation älterer Menschen in der Familie“ (Deutscher Bundestag 1986), der allerdings aufgrund seiner Orientierung an Durchschnittswerten vielfach als beschönigend kritisiert wurde (vgl. u. a. Dieck 1987b) und schließlich nicht zu einem altenpolitischen Entwicklungsschub führte. Immerhin kamen nun die veränderten Lebenslagen und Lebensstile nachrückender Altengenerationen systematisch in den Blick und wurde die veränderte Selbstwahrnehmung der älteren Generation Ende der 1980er Jahre auch als altenpolitische Herausforderung begriffen. Ein wesentlicher Grund dafür war, dass erstmals ältere Menschen selbst zu Akteur/-innen der Altenpolitik wurden – durch Selbstorganisation in Senior/-innenvertretungen außerhalb der Senior/-innenvereinigungen der etablierten Parteien und Verbände, so ab 1986 im Deutschen Seniorenring e. V., der seit 1987 regelmäßig zum Deutschen Seniorentag einlädt, oder ab 1989 in der Lobbyorganisation Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO). Ein Teil dieser Bewegung zielte in erster Linie auf die Selbsthilfepotenziale zur Unterstützung der etablierten Altenhilfe, ein anderer Teil verfolgte stärker politische Ziele und gründete 1989 eine eigene Partei: Die Grauen – graue Panther. Neben den sozial und politisch engagierten Alten und den Medien war es insbesondere die psychologisch fundierte Gerontologie, die mit ihrem Konzept des „erfolgreichen Alterns“ (vgl. auch Wahl und Schmitt i. d. B.) Einfluss auf ein neues Altersbild nahm. Bei aller Normativität des Konzepts trug es doch dazu bei, frühere Vorstellungen vom ‚betreuten Alter‘ in Altenpolitik und Altenhilfe abzulösen und eine Hinwendung zu ganzheitlichen und tendenziell emanzipatorischen Arbeitsansätzen zu erreichen. Die neuen Angebote förderten Gemeinwesenarbeit, Selbsthilfe und Vernetzung. Das hatte Folgen für Fragen nach der Professionalisierung des Personals in der sog. offenen Altenarbeit und im gesundheitlich-pflegerischen Bereich. Einen Einschnitt in der Altenpolitik auf Bundesebene verursachte 1988 die Ernennung der Gerontologin Ursula Lehr zur Bundesfamilienministerin. Sie beauftragte 1989 eine Kommission mit der Erstellung eines ersten Altenberichts (zu den Alten berichten vgl. Schulz-Nieswandt i. d. B.). Weitere wichtige Impulse für eine moderne Altenpolitik waren die Novellierung des Heimgesetzes, die 1990 zum Abschluss kam, die Vorbereitung eines Altenpflegegesetzes zur Vereinheitlichung der Ausbildung von Altenpfleger/-innen in der gesamten Bundesrepublik und Gesetzesvorlagen zu einer Heimmindestpersonalverordnung. Nicht alle Vorhaben waren zum Abschluss gebracht, als 1991 zum ersten Mal die „Senioren“ in der Bezeichnung eines Bundesministeriums auftauchten. Gleichwohl waren die 1980er Jahre die Zeit, in der sich Altenpolitik als eigenständiges Aufgabengebiet endgültig etablieren konnte (vgl. Münch 2005b, S. 554 ff.). Die Entwicklung von sozialen Diensten und sozialer Infrastruktur stand in den 1980er Jahren insbesondere auf kommunaler Ebene allerdings im Zeichen finanziellen Mangels, sodass generell eher Selbsthilfe und Ehrenamt als die Ausweitung und Ausdifferenzierung von Angeboten die Diskussion bestimmten. Die generelle För-
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derung von Selbsthilfeaktivitäten erfolgte nicht zuletzt mit dem Ziel, sie für soziale Dienste und Infrastruktur als Ergänzung oder Ersatz der etablierten ehrenamtlichen Hilfen zu nutzen und die zuvor intensivierte Verberuflichung sozialer Dienstleistungen zu stoppen (vgl. ebd., S. 671 ff.). Selbsthilfebewegung und -förderung mündeten u. a. 1984 in die Gründung einer Nationalen Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen (NAKOS), die noch heute für die ehrenamtliche Arbeit älterer Engagierter von großer Bedeutung ist. Pflege und Betreuung alter Menschen sowie das für sie besonders relevante Thema Gesundheit waren nicht aus der Diskussion zu verdrängen. Angesichts des sichtbar großen Bedarfs an sozialstaatlich organisierter Unterstützung ging in diesem Bereich im Gegensatz zu anderen die Zahl der Dienste und Einrichtungen nicht zurück – im Gegenteil: Während zwischen 1970 und 1987 z. B. die Zahl der Tagesfreizeitstätten für Jugendliche um 30 % sank, stieg die Zahl der mobilen sozialen Hilfsdienste, die von alten Menschen besonders häufig genutzt werden, um 37 % (Grunow 2005b, S. 665). Auch von der fortgesetzten Förderung von Modellprojekten des Bundes und der Länder konnte die soziale Altenhilfe profitieren, wenngleich nicht im selben Maße wie die deutlich gesundheitsbezogenen Dienste. In der sog. offenen Altenarbeit geriet die Ende der 1970er Jahre durchgesetzte Leitvorstellung vom aktiven Alter(n) schon zu Beginn der 1980er zunehmend in die Kritik: Mit den altershomogenen Gruppen würde ein Schonraum für gesellschaftlich irrelevante Freizeittätigkeiten geschaffen. Diese Inszenierungen böten keinerlei Unterstützung bei der Bewältigung von Ambivalenzen der Lebensphase Alter. Sie trügen den Charakter eines Animations- und Erziehungsprogramms, das ein sozial politisch definiertes Defizit zu kurieren und gleichzeitig ein ebenso extern entworfenes Altersbild als Norm zu installieren versucht. In den Senior/-innenfreizeitstätten und ähnlichen Einrichtungen, die professionell geleitet wurden, führte dies dazu, dass die fachlichen Zielsetzungen mit den Wünschen der an Geselligkeit orientierten Besucher/-innen konfligierten (vgl. Langehennig 1986; Schmidt und Zeman 1988). Ende der 1980er Jahre ließ sich darüber hinaus beobachten, wie professionelle Planer/-innen und Helfer/-innen dazu ansetzten, eine wiederum neue Alterskultur der Altenhilfe zu kreieren, die das Aktivitätsparadigma noch zuspitzte. Deren Vorbild war die zahlenmäßig kleine und privilegierte Gruppe der sog. neuen Alten, die als Seniorexpert/-innen, Seniorstudent/-innen, Seniorenbeiräte und in Altenselbsthilfe gruppen den angenommenen Kompetenzzuwachs der Alten insgesamt und ein anzustrebendes neues Altersbewusstsein repräsentierten (vgl. Schmidt und Zeman 1988, S. 290 ff.). Um diese neue Ausrichtung durchzusetzen, griff man auf ein Bündel von Maßnahmen professioneller Begleitung zurück – auf Infrastrukturmaßnahmen, kompetenzfördernde sowie generationen- bzw. gemeinwesenorientierte Arbeitsformen, die aber „trotz aktuellem sozialpädagogischen Styling dem altenhilfeüblichen Gestus verhaftet“ (ebd., S. 293) blieben und auseinanderstrebende Intentionen programmatisch miteinander verknüpften: „Selbstbestimmung und Fremdsteuerung, Autonomieentwicklung und professionelle Flankierung“ (ebd., S. 294).
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Impulse aus der Praxis der Altenselbsthilfe (vgl. Schmidt und Zeman 1982), der Altenbildung (vgl. Arbeitsgruppe 1982) und der soziokulturellen Arbeit mit Älteren (vgl. Knopf 1989) führten in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zur Auseinandersetzung mit dieser Realität. Kritiker/-innen entwickelten das Konzept des ‚produktiven Alterns‘, das die aus der Aktivitätstheorie abzuleitenden Normen kritisierte. Stattdessen sollten „Handlungsräume“ (ebd., S. 229) für die Entfaltung bisher unausgeschöpfter Potenziale älterer Menschen betrachtet und an das Lebenslagekonzept angeknüpft werden. Damit konnten nun soziale Ungleichheiten und Wechselwirkungen zwischen Altern und Umwelt ebenso berücksichtigt werden wie die lebensgeschichtliche Entstehung von Kompetenzen. Der kritische Fachdiskurs der späten 1980er Jahre thematisierte außerdem die verschiedenen gesellschaftlichen Interessen am Gebrauch der Kompetenzen älterer Menschen. Vor dem Hintergrund der oben skizzierten sozial- und altenhilfepolitischen Zielsetzungen bestand z. B. Knopf (1989) auf einem „selbstverantworteten Ausbalancieren […] zwischen Polen wie Kompetenz und akzeptierter Inkompetenz“ (ebd., S. 230). Darüber hinaus gestand man ‚dem älteren Menschen‘ die Entscheidung zu, „ob er sich seiner sozialen Umwelt als kompetent […] präsentieren möchte oder nicht“ (ebd., S. 231; vgl. auch Schäffter 1989; Karl 1993). An diese Position waren auch sozialpädagogische Konzepte wie ‚Lebensbewältigung‘ und ‚Lebensweltorientierung‘ anschlussfähig, sodass in die Entwicklung von Modellprogrammen zur Förderung produktiven Alterns neben gerontologischen auch so zialpädagogische Konzepte einfließen konnten. Zu den Modellprogrammen, anhand derer sich die Entwicklung des Altenhilfediskurses in den 1980er Jahren exemplarisch nachvollziehen lässt, gehört das Programm „Zwischen Arbeit und Ruhestand“ (ZWAR) des Landes Nordrhein-Westfalen, das angesichts massenhafter politisch motivierter Frühverrentungen 1979 an der Universität Dortmund konzipiert wurde. Es sollte denjenigen, die vergleichsweise jung an Jahren aus dem Erwerbsleben ausgegliedert wurden, sinnvolle Betätigungsfelder in Gemeinschaften jenseits von Betrieb und Familie nahelegen. Bemerkenswert ist, dass eine Verwertung der Tätigkeiten für Dritte nicht Bestandteil des Konzepts war (vgl. MSWV NRW 1987). Vielmehr sollte ZWAR „selbstorganisierte Initiativen unterstützen, die nach eigenen Interessen und in eigener Regie die Probleme bewältigen“ (ebd., S. 5). In Dortmund wurde eine noch heute existente ZWAR-Zentralstelle angesiedelt. Deren Mitarbeiter/-innen waren überwiegend Sozialarbeiter/-innen. Sie begleiteten interessierte Personen und sich konstituierende Gruppen auch schon im Vorfeld der Gründung von Initiativen. Die Publikationen der wissenschaftlichen Begleitung zeigen eindrucksvoll die Suche nach einer angemessenen und von Selbstbestimmung getragenen Definition von Produktivität im Alter. Es war eine gemeinsame Suche der in diversen Projekten engagierten älteren Menschen und der Fachkräfte Sozialer Altenarbeit. Im Modellprogramm „Erfahrungswissen Älterer gewinnen und nutzen“, dessen Finanzierung durch das Land Berlin 1986 getragen wurde, war die Nutzbarmachung von Erfahrungswissen programmatisch gewollt. Die Projekte sollten einen Beitrag
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leisten zu einem ‚gestalteten Alter‘, das sich am Gemeinwohl orientiert. Die umfangreichen Dokumentationen der wissenschaftlichen Begleitung offenbaren, dass zwar alle Projekte durch eine explizite Abkehr vom Bild des passiven, betreuungsbedürftigen Alters charakterisiert waren und sich die meisten Akteure am Leitbild der ‚aktiven Senioren‘ orientierten. Jedoch ließen sie sich die Definitionsmacht über das, was produktiv ist, nicht nehmen (vgl. Perbandt-Brun 1989, 1999; Knopf 1989, 1998). Bezüglich der Sozialen Arbeit mit älteren Menschen, bei denen der Hilfs- und Pflegebedarf im Vordergrund steht, stellte Dieck (1986) fest, dass die Anzahl von sozialarbeiterisch/sozialpädagogisch ausgebildeten Beschäftigten in den Heimen in der Realität weit hinter der potenziellen Präsenz zurückbleibt, die sich aus der „theoretischen Bedeutung der Berufsgruppe Sozialarbeiter/Sozialpädagogen [ergibt; K. A.]“ (ebd., S. 273) und Korte (1986) konstatiert diese Marginalität auch für die Sozialstationen, in denen der Nutzen dieser Fachlichkeit selbst für Leitungsfunktionen besonders umstritten sei. Gleichwohl finden sich in den 1980er Jahren Hinweise darauf, dass sich auch dieser Bereich der Altenhilfe im Umbruch befand. Die Suchbewegungen waren angesichts der differenzierten Problemlagen vielfältig und die Vorschläge und Projekte reichten von organisierten Nachbarschaftshilfen zur häuslichen Versorgung über Tagespflegeheime als Alternative zur bisher üblichen Heimversorgung bis hin zu Überlegungen, die vorhandenen Heime zu lebenswerten Wohnorten umzugestalten und sie in die Gemeinwesen hinein zu öffnen (vgl. die Beiträge in Articus und Karolus 1986). Insbesondere die Forderung nach Umgestaltung und Öffnung der Heime war konzeptionell verbunden mit sozialarbeiterisch-sozialpädagogischer Fachlichkeit, die dazu beitragen sollte, die Interessen verschiedener Berufsgruppen zu moderieren, Mitwirkung und Kultur im Heim zu organisieren, die Grenze zwischen Heim und Sozialraum für Bewohner/-innen, Angehörige und Nachbarschaft durchlässiger zu machen (vgl. Hummel 1982, 1984). 2.4
Die 1990er Jahre
In den 1990er Jahren bekam die Seniorenpolitik Rückenwind durch den demografischen Wandel, der in den Richtlinien für den Bundesaltenplan von 1992 (vgl. BMFuS 1992) aufgegriffen wurde. Im selben Jahr richtete das Bundesministerium (BMFuS) erstmals eine eigene Abteilung für Seniorenpolitik ein. Seither wird die Entwicklung der sozialen Altenhilfe durch zahlreiche ministeriell geförderte Forschungsprojekte zu den Lebenslagen der älteren Generation und den sich daraus ergebenden (alten-) politischen Anforderungen flankiert. Als Schwerpunkte lassen sich neben der Umstrukturierung der Altenhilfe in den neuen Bundesländern vor allem die sozialen Sicherungssysteme (hier insbesondere die sozialstaatlich organisierte Absicherung des Pflegerisikos), die Entwicklung neuer Wohnkonzepte sowie die Verbesserung von sog. Gelegenheitsstrukturen für ein aktives Leben im Alter ausmachen (vgl. Gerlach 2007). Dem Schwerpunkt Pflegerisiko wurde gesetzgeberisch zunächst 1990 durch
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das Betreuungsgesetz (BetrG, vgl. Becker-Schwarze i. d. B.), ebenfalls 1990 durch das Erste Gesetz zur Änderung des Heimgesetzes, das die Rechte der Heimbewohner/-innen gegenüber den Heimträgern stärkte, und insbesondere durch die Einführung des Pflegeversicherungsgesetzes (SGB XI; vgl. Rixen i. d. B.) zum 1. Januar 1995 Rechnung getragen. Die qualitative Entwicklung der sozialen Dienste und der sozialen Infrastruktur insgesamt stagnierte in der ersten Hälfte der 1990er Jahre in Westdeutschland wegen der Konzentration auf den Umbau im Beitrittsgebiet. Von dieser allgemeinen Stagnation abweichend war die Situation der altersspezifischen sozialen Dienste und der (Pflege-)Infrastruktur von Kontinuität – auch der dezentralen Ausrichtung – bei gleichzeitiger Ausdifferenzierung gekennzeichnet. Ende der 1990er Jahre setzten bedeutsame Änderungsimpulse ein: Sinkende öffentliche Einnahmen und mit den sozialen Problemen wachsender Finanzbedarf trafen auf neoliberale Bewältigungsstrategien. Beides zusammen führte zur Ökono misierung der Durchführung öffentlicher Daseinsvorsorge. Die gleichzeitige forcierte Verwaltungsmodernisierung zielte darauf, die Verwaltung zu einem Dienstleistungsunternehmen umzugestalten. Die marktwirtschaftlich inspirierten Instrumente wie leistungsbezogene Vergütung, Wettbewerb, Produkt- und Kundenorientierung (unter dem Oberbegriff ‚Neue Steuerung‘ bzw. Neues Steuerungsmodell in Anlehnung an die New-Public-Management-Adaption der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement/KGSt) wurden zunehmend auch für den Sektor der sozialen Dienstleistung relevant und setzten die Anbieter unter Veränderungsdruck. Doch vor allem der Kostendruck auf die Träger machte für diese das Konzept des ‚aktivierenden Staates‘ mit seinen Vorstellungen vom ‚Fördern und Fordern‘ und einer ‚Bürgergesellschaft‘ interessant (vgl. u. a. Fretschner et al. 2003). Modellprogramme zur Förderung von Bürgerengagement wurden vor diesem Hintergrund positiv bewertet und gern genutzt, auch und gerade, wenn sie in Teilbereichen des Angebotsspektrums zu De-Professionalisierungsprozessen führen (können). Trotz der auf diese Weise angestoßenen umfassenden Veränderungen ergibt der Blick auf den Sektor sozialer Dienstleistungen (bis heute) ein uneinheitliches Bild. Vor allem für Problemlagen mit besonderem Interpretationsspielraum wurden professionelle Leistungsangebote reduziert. Unabweisbare Bedarfe konnten eher auf Kontinuität oder gar Ausbau hoffen (vgl. Bogumil et al. 2007). Zu Letzteren gehörte grundsätzlich der Bereich soziale Altenhilfe. Dabei war allerdings zu beobachten, was Grunow und Olk (2007, S. 1026) für den Sektor der sozialen Dienstleistungen insgesamt formulieren: dass medizinische und pflegerische Dienste in einer unter Effektivitätsgesichtspunkten geführten Diskussion die bessere Performanz aufweisen als die Soziale Arbeit. Ein besonderes Beispiel dafür ist die Situation der Sozialen Arbeit im Bereich der (Alten-)Pflege nach Einführung des SGB XI. Das SGB XI ist charakterisiert durch Rationalisierung und Rationierung der Leistungserbringung, den Zuschusscharakter der Versicherung als Ausdruck einer einnahmeorientierten Ausgabenpolitik und die
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Gleichstellung privat-gewerblicher mit freigemeinnützigen Anbietern, die auf einem organisierten (Quasi-)Markt miteinander konkurrieren sollen (Igl 1995). Vor dem Hintergrund des Wirtschaftlichkeitsgebots haben die zahlreichen Modellprogramme, die von Bund und Ländern weiterhin intensiv genutzt wurden und werden, um auf die Gestaltung sozialer Dienste und sozialer Infrastruktur Einfluss zu nehmen, bei allen Unterschieden im Detail eine Gemeinsamkeit im Ziel der relativen Kostenersparnis. Wirtschaftlichkeit wird nunmehr jenseits des tradierten Selbstkostendeckungsprinzips angestrebt, wobei prospektive Entgelte zugrunde gelegt werden, die einen nachträglichen Gewinn- oder Verlustausgleich ausschließen und regelmäßig als Trias von Leistungsvereinbarung, Entgeltvereinbarung und Qualitätsentwicklungsvereinbarung umgesetzt werden (Hammerschmidt 2002). Zudem gibt es im Bereich Altenpolitik auch eine Verbindung zwischen Förderprogrammen, die auf die Gesundheitsund Pflegeinfrastruktur zielen und solchen, die die Gestaltung eines aktiven Alter(n)s fördern sollen. Als exemplarisch dafür kann das Bundesmodellprogramm „Seniorenbüros“ angesehen werden, das zwei Intentionen miteinander verband: Den sog. jungen Alten, die schon früh aus dem Erwerbsleben ausgeschieden waren, sollte ein Betätigungsfeld angeboten werden und ihre Kompetenzen sollten für die Stärkung von Selbsthilfepotenzialen genutzt werden (vgl. Braun und Claussen 1997; Klages 1999; Braun und Bischoff 1999). Allerdings gilt für die Pflegegesetzgebung wie auch für das Betreuungsrecht, dass die finanzielle und personelle Ausstattung der gesetzlich verankerten sozialen Dienstleistungen unzureichend ist, während Selbsthilfe- und Ehrenamtspotenziale vor dem Hintergrund knapper Kassen zu hoch veranschlagt wurden (Grunow und Olk 2007, S. 1020). Insgesamt kann der Bereich Pflege rückblickend als Experimentierfeld für den Umbau der bundesdeutschen Sozialstaatsarchitektur in Richtung einer stärkeren Privatisierung betrachtet werden (Pabst 2003, S. 91 ff.) – und dies im europäischen Kontext (vgl. Grunow und Olk 2007, S. 1016 ff.). Spätestens seit dem Beginn der 1990er Jahre muss man auch von einer Altenpolitik der Europäischen Gemeinschaft sprechen: Die 1989 in Straßburg verabschiedete – rechtlich unverbindliche aber politisch verpflichtende – „Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer“ (vgl. EG 1989), in der bereits zwei Ziffern auf ältere Menschen Bezug nehmen, wurde 1992 um umsetzende Empfehlungen ergänzt, die mit Blick auf die zunehmende Zahl älterer Bürger/-innen eine dynamische Entwicklung der Alterssicherungssysteme einschließlich nichtmonetärer Maßnahmen nahelegen (vgl. ABl. EG 1992). Diese Empfehlungen, an denen sich die Staaten ungeachtet ihrer fortbestehenden Zuständigkeit für die je eigenen Sicherungssysteme und -bereiche freiwillig orientieren, folgen einer Idee: Angestrebt wird eine Mischung aus privaten, beruflich-betrieblichen und staatlichen Zuständigkeiten. Die Basisverantwortung für Mindest- und Regelsicherung sowie die Rahmenverantwortung für den Verbund der Akteure und Ebenen verbleibt beim Staat, dem außerdem eine gesteigerte Rahmenverantwortung im Bereich von Pflege, sozialen Dienstleistungen sowie für sonstige Voraussetzungen altersgerechten Lebens obliegt (vgl. Schulte 1996, S. 34 ff.). Zum Abschluss des „Europäischen Jahres der älteren Men-
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schen und der Solidargemeinschaft der Generationen“ 1993 verabschiedeten die Sozialminister/-innen der Gemeinschaft zusätzlich eine Grundsatzerklärung. Die Mitgliedsstaaten wurden darin konkret aufgefordert, in fünf Bereichen entsprechend tätig zu werden: Einkommensniveau und Lebensstandard, Wohnung und Mobilität, Pflege- und Hilfsdienste, Berufstätigkeit älterer Arbeitnehmer und Vorbereitung auf den Ruhestand, Miteinbeziehung älterer Menschen (vgl. ABl. EG 1993). Mit den Empfehlungen und Grundsätzen wurde zwar keine eigenständige Alten(hilfe-)politik der Europäischen Gemeinschaft/Union formuliert, jedoch sind die Rahmenbedingungen für die Entwicklung der Fachlichkeit Sozialer Altenarbeit seither nicht mehr länger nur von der kommunalen, der Landes- und Bundesebene abhängig, sondern auch von europäischen Zielvorgaben, die über die Methode der offenen Koordinierung (Informations- und Erfahrungsaustausch, Kooperationen, Konzeptentwicklung und Modellförderung, freiwillige Abstimmung; vgl. Schulte 2002) sukzessive an Einfluss gewinnen. Eine bundesdeutsche Diskussion der 1990er Jahre folgte den europäischen Anstrengungen, den Politikbereich ‚Alter‘ zu harmonisieren. Diskutiert worden war in Analogie zum Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) die Bündelung der zersplitterten und unter den Hilfen in besonderen Lebenslagen nicht eben angemessen platzierten Rechtsgrundlagen der Altenhilfe in einem Altenhilfegesetz, das a) für diesen Gegenstandsbereich einen einheitlichen politisch-administrativen und rechtlichen Problemzugang eröffnen, b) Altenhilfe als Inbegriff aller Hilfen, Dienste und Einrichtungen für ältere Menschen mit allen Implikationen verdeutlichen, c) eine so umfassende Altenhilfe im öffentlichen Bewusstsein und gegenüber einer einseitigen Ausrichtung auf Pflegeleistungen stärken und nicht zuletzt d) Altenhilfe unter das vorrangige Ziel der persönlichen Entfaltung (statt wie bisher unter das der materiellen Sicherung) stellen könnte (vgl. Schulte 1996, S. 87 ff.). Das Vorhaben kam jedoch (bis heute) nicht zum erhofften Ergebnis. Die Ausgangssituation Sozialer Altenarbeit zu Beginn der 1990er Jahre war durch die Fördermaßnahmen der 1980er Jahre charakterisiert, die sich gewissermaßen auf die ‚Ränder‘ der sozialen Altenhilfe konzentrierten: In der direkten Arbeit mit älteren Adressat/-innen standen die sozialpädagogische Begleitung der oft frühen Entberuflichung und am anderen Ende der Altersphase die sozialarbeiterische Unterstützung von häuslicher, mancherorts auch stationärer Pflege im Vordergrund. Andere Fördermaßnahmen zielten über die Weiterentwicklung des Hilfesystems indirekt auf die Zielgruppe alter Menschen. Hierunter fallen Modelle einer Altenhilfefachberatung sowie Versuche, die Auswirkungen der fragmentierten Infrastruktur zu mildern – entweder durch einzelfallbezogene Vermittlung zwischen den Betroffenen und dem Hilfesystem oder durch bessere Koordinierung innerhalb des Hilfesystems (Schmidt 1997, S. 10 ff.). Die weniger stark als andere Sozial- und Gesundheitsberufe spezialisierte Soziale Arbeit konnte auf die dynamischen Problemlagen der Zielgruppe offenbar ebenso gut reagieren wie auf Schnittstellenproblematiken: Nicht selten wurden beide Kompetenzen von ein und derselben Fachkraft verlangt, in der Tendenz
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veränderten sich jedoch die Arbeitsinhalte hin zur indirekten Arbeit für die Zielgruppe, während die Arbeit mit den Älteren selbst überwiegend von berufsfremden Angestellten oder Honorarkräften und ehrenamtlichen Helfer/-innen geleistet wurde und Sozialarbeiter/-innen hierfür bestenfalls planende, beratende, anleitende und koordinierende Aufgaben übernahmen. Finanziert wurde diese ‚indirekte Altenarbeit‘ außerhalb von Modellprogrammen durch interne Quersubventionierungen – was mit dem Übergang vom Selbstkostendeckungsprinzip zu prospektiven Pflegesätzen erheblich schwieriger wurde. Hinzu kam, dass die institutionalisierte Begleitung der ‚jungen Alten‘ (vgl. Pichler i. d. B.) zu dieser Zeit auch kritisiert wurde. Sie galten manchen als eine Gruppe, die wegen ihrer eher befriedigenden Lebenslage gezielter altenpolitischer Maßnahmen nicht bedürfe. Die Arbeit mit ihnen verdränge diejenigen, die dem Bild vom ‚neuen Alter‘ nicht entsprechen, zu Unrecht aus dem Aufmerksamkeitsfokus (vgl. Dieck und Naegele 1989; ISS 1995). Anderen galten die „innovativen Minderheiten“ (Tews 1993b, S. 41) und ihre Unterstützung als Chance zu zeigen, welche Möglichkeiten der Lebensgestaltung im Alter bestehen (vgl. Karl und Tokarski 1989a). Diese Vorstellung eines ungenutzten Möglichkeitsraumes passte zum sozialpolitischen Interesse, die wachsenden Potenziale dieser älteren, gut situierten und gebildeten Menschen zu nutzen. Sie wurde zur Grundlage einer Reihe von Modellprogrammen auf Bundes- und Länderebene, die auf gerontologische Erkenntnisse, aber auch auf die Fachlichkeit der Sozialen (Alten-)Arbeit zurückgriffen. Spätestens in den 1990er Jahren konnte sich in der offenen (Alten-)Arbeit zunehmend das Leitbild eines „gestalteten Lebens im Alter“ (Schmidt und Schweppe 1995, S. 140) durchsetzen. Dessen Konkretisierungen zielten auf eine selbstbestimmte Auseinandersetzung mit einer offenen Alterssituation, der es noch an (Vor-)Bildern fehlte. Diese inhaltliche Profilierung verlief allerdings vor dem Hintergrund kommunaler Sparimperative, sodass Fördergelder von Bund und Ländern zu ihrer Umsetzung den Akteur/-innen verständlicherweise stets gelegen kamen. Doch mit dem fachlichen Anspruch, im Rahmen altenpolitisch geförderter Programme eine Lebensphase zu begleiten, deren selbstbestimmt produktive Gestaltung möglich, wenn nicht gar geboten ist, geriet der Altersdiskurs der Sozialen Arbeit zugleich in das Spannungsfeld zwischen einer disziplinären Orientierung an den mündigen Bürger/-innen und sozialpolitisch intendierten Bemühungen, ihre Produktivität für die Herstellung des Sozialen (vgl. die Beiträge in Aner et al. 2007b) zu nutzen. Gleichwohl boten die Fördermaßnahmen der Fachdiskussion zur Rolle der Sozialen Arbeit für das Dritte Lebensalter einen Rahmen und stießen manche Auseinandersetzung mit den sozialstaatlichen Rahmenbedingungen an: Diskutiert wurde, dass soziale Altenhilfe häufig zu spät und dann unter großem Handlungsdruck einsetze und zu zersplittert sei, um erfolgreich zu sein. Dazu komme das „interventionsgerontologische Dilemma“, dass präventive Angebote der Altenbildung in der Regel gerade diejenigen nicht erreichen, die dieser Unterstützung angesichts schwieriger Lebenslagen besonders bedürfen, weil zugehende Angebote für diese Gruppe alter Menschen weitgehend fehlen (vgl. Karl 1990). Diskutiert wurden aber auch erfolgreiche Projekte innovativer und
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emanzipatorischer Sozialer Altenarbeit (vgl. u. a. die Beiträge in Langen und Schlichting 1992 und Schweppe 1996a) und die Nützlichkeit ganzheitlicher, gemeinwesen orientierter Arbeitsansätze unter den Bedingungen einer zunehmend individualisierten Altersphase (Otto und Schweppe 1996) sowie ‚Biografie‘ als eine fruchtbare Grundkategorie für Theorie und Praxis Sozialer Altenarbeit (Schweppe 1996b; Böhnisch 1999). Die 1990er Jahre waren auch eine Zeit der praxisorientierten Bilanzierung und erneuten Theoretisierung von Selbsthilfe und zivilgesellschaftlichem Engagement älterer Menschen aus alten- und verbandspolitischer Perspektive aber auch aus der Praxis Sozialer (Alten-)Arbeit heraus (vgl. die Beiträge in Zeman 2000). Im Bereich der Pflege änderten sich Mitte der 1990er Jahre mit der Einführung des SGB XI die Rahmenbedingungen der Sozialen Arbeit gravierend. Es war schon zuvor festzustellen, dass „Sozialarbeit“ mit alten Menschen nur an den wenigen Orten existiert, an denen sie „mit kräftigen Subventionen ‚von oben‘ durchgesetzt“ wurde (Schmidt 1995, S. 25; vgl. auch Grunow 2006, S. 847), und die landesspezifischen Diskrepanzen in der Subventionierungspraxis dazu führten, dass sich kein bundeseinheitliches Profil von Sozialer Arbeit in Pflegediensten herausbilden konnte. Nun war selbst das bisher erreichte niedrige Niveau in Gefahr. Neue Refinanzierungslücken erwuchsen daraus, dass mit dem SGB XI das Arbeitsfeld Pflege deutlich dem Gesundheits- und nicht dem Sozialwesen zugeordnet wurde, sowie aus der fachlich unzureichenden, nicht an Berufsgruppen gebundenen Definition von „sozialer Betreuung“ im Gesetz. Dass zugleich die Anbieter von Pflegeleistungen zunehmend unter Wettbewerbs- und Kostendruck gerieten, hatte erheblichen Einfluss auf die Zusammensetzung des Personals (Wohlfahrtswerk 1997). Die Gefährdung der Sozialen Arbeit in der Pflege wurde zeitnah diskutiert und mit neuen Konzepten beantwortet, die jeweils bereichs-, aber auch landesspezifisch umzusetzen waren (vgl. die Beiträge in Hedtke-Becker und Schmidt 1995; Schmidt 1998). Die Konzepte knüpften an die in den 1980er Jahren entwickelte Expertise an, schärften aber ihr Profil. In der direkten Arbeit mit den Pflegebedürftigen und Pflegehaushalten sah man die Stärken Sozialer Arbeit in der sozialrechtlichen Beratung sowie in der Unterstützung von Pflegearrangements. Als indirekte Beiträge zur Qualifizierung von Pflege wurden Maßnahmen der Organisations- und Personalentwicklung sowie die Koordination der an den ambulanten (und stationären) Pflegearrangements beteiligten Akteure diskutiert. In der Fachdiskussion wurde nun außerdem stärker auf die Träger als Dienstleistungsunternehmen Bezug genommen. Herausgestellt wurde der Beitrag der Sozialen Arbeit zur „Sicherung des Unternehmenserfolgs“ für Anbieter ambulanter und stationärer Pflege (vgl. Schmidt 1997, S. 35 ff.). 2.5
Die Jahre nach 2000
Nach dem Jahr 2000 fanden die Befunde der Enquete-Kommission „Demografischer Wandel – Herausforderungen an den Einzelnen und an die Politik“ (Deutscher Bun-
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destag 2002a) einige Aufmerksamkeit und motivierten auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene zu einer Auseinandersetzung mit der demografischen Herausforderung. Dieser Bericht erneuerte die Hoffnung, dass die Ressourcen und Interessen von zeitlich flexiblen und eher privilegierten ‚neuen Alten‘ (vgl. Pichler i. d. B.) mit dem Bedarf an freiwilliger Unterstützung sozialer Dienste und sozialer Infrastruktur zusammengeführt werden könnten; ähnlich wenige Jahre später der Fünfte Altenbericht der Bundesregierung mit dem Schwerpunkt „Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft. Der Beitrag älterer Menschen zum Zusammenhalt der Generationen“ (BMFSFJ 2005a; vgl. auch Schulz-Nieswandt i. d. B.). Für die Kommunen war das von großem Interesse, denn sie konnten von den finanziellen Einsparungen bei der Hilfe zur Pflege nach Einführung der Pflegeversicherung nicht im erhofften Maße profitieren (vgl. Roth und Rothgang 2001). Diese Situation verschärfte sich in den letzten Jahren: Zum einen führt die wieder steigende (Alters-)Armut (vgl. dazu Engels sowie Brettschneider und Klammer i. d. B.) zu neuen finanziellen Verpflichtungen, vor allem im Rahmen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (vgl. Welti i. d. B.). Zum anderen entstehen Mehrkosten durch Bundesgesetze, etwa zum Ausbau der Leistungen im Bereich der Kindertagesstätten zu neuen Aufgaben im Rahmen der sozialen Betreuung (§ 36 SGB XI) und der Eingliederungshilfen nach SGB IX. In der Folge blieb es bei der ungesicherten kommunalen Finanzierung der Sozialen Altenarbeit im Bereich des SGB XII. Sie findet nach wie vor häufig im Kontext befristeter Bundes- oder Landesmodellprogramme statt. Eine kommunale Regelfinanzierung von Infrastruktur und Personal in gleicher Höhe nach Ablauf der Modellphase ist keineswegs selbstverständlich. Für die Praxis kommunaler Altenhilfe und Sozialer (Alten-)Arbeit war das Bundesmodellprogramm „Erfahrungswissen für Initiativen“ (EFI, Laufzeit 2002 bis 2006, 33 Standorte/Kommunen in zehn Bundesländern; vgl. Braun et al. 2004) von besonderer Bedeutung. Es war finanziell wie auch zeitlich üppig ausgestattet und unterschied sich in zwei zentralen inhaltlichen Merkmalen von allen vorangegangenen Förderprogrammen: Erstens sollten die freiwillig engagierten Älteren ehrenamtliche Initiativgruppen und Netzwerkbildungen initiieren und/oder begleiten, nicht aber selbst dauerhaft darin tätig sein. Sie sollten mithin Aufgaben der Strukturbildung bürgerschaftlichen Engagements übernehmen (z. B. als eine Art selbstorganisierte Freiwilligenagentur). Zweitens wurde dem eigentlichen Engagement ein Bildungsangebot vorgeschaltet, das den persönlichen Nutzen der Weitergabe von Erfahrungswissen betonte, eine Art natürlicher Übereinstimmung von individuellen Interessen mit denen des Gemeinwesens propagierte und ganz im Sinne des aktivierenden Staates auf ein role making im Sinne von Selbstorganisation zielte. Damit einher ging eine neuartige ‚Sozialpädagogisierung‘ des Programms. Die Bilanz zeigt, dass das Programm überwiegend solche älteren Menschen ansprach, die mit besonders großen Handlungsspielräumen ausgestattet und frei sind, sich auftretenden Schwierigkeiten zu stellen oder gänzlich andere Rollen im Ruhestand zu suchen (vgl. Engels und Machalowski 2004).
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Die sozialpolitisch attraktive Vorstellung, mehr Effizienz der Wohlfahrtsproduktion durch zivilgesellschaftliches Engagement älterer Menschen wäre ohne nennenswerte zusätzliche Ressourcen für ihre professionelle Begleitung möglich, floss insbesondere in das im Jahr 2007 gestartete Bundesmodellprogramm „Aktiv im Alter“ ein (vgl. zze 2011). Es startete mit einem Memorandum „Mitgestalten und Mitentscheiden – Ältere Menschen in Kommunen“ (BAGSO o. J.) und wurde weit weniger gut ausgestattet als sein Vorgängerprogramm EFI. Insgesamt wurden 172 Kommunen, davon 150 vom BMFSFJ, jeweils über einen Zeitraum von 18 Monaten gefördert (zze 2011, S. 9 f.). Die Fördersumme betrug jeweils 10 000 € und die Kommunen stockten diese im Durchschnitt um 2 769 € auf (ebd., S. 55). Seit dem 01. April 2009 rahmen die Richtlinien für den Bundesaltenplan (BMFSFJ 2009) die Förderung von Verbänden und Organisationen, die seniorenpolitisch tätig sind. Gefördert werden auch Modellprojekte – und zwar solche, mit denen a) Methoden und Konzepte entwickelt, erprobt und überprüft und b) gesetzgeberische Regelungen ausgestaltet werden können (ebd., S. 2 f.). Ein Modellprogramm, das Umfang und Reichweite des sog. EFIProgramms erreicht hätte, wurde auch aus diesen Mitteln bisher nicht finanziert. Die Bundesförderung für sog. Mehrgenerationenhäuser (Aktionsprogramm Mehrgenerationenhäuser I von 2006 bis 2011, Aktionsprogramm Mehrgenerationenhäu ser II von 2012 bis 2016, Bundesprogramm Mehrgenerationenhaus von 2017 bis 2020) nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als sie zwar mit dem demografischen Wandel argumentiert, Angebote für die ältere Generation jedoch nur einen geringen Teil ihrer Aktivitäten ausmachen und hierbei überwiegend bereits bestehende Einrichtungen gefördert werden (vgl. Deutscher Bundestag 2013). Neue Wohnformen im Alter zu fördern, wie es der Titel suggerieren könnte, war nie Ziel des Programms und gehört nicht zu den aktuellen inhaltlichen Schwerpunkten der Altenpolitik des Bundes. Deren Ausrichtung lässt sich anhand des Siebenten Altenberichts identifizieren (Deutscher Bundestag 2016a; vgl. Schulz-Nieswandt i. d. B.). Die altenpolitischen Ziele erweisen sich im Vergleich zum Beginn des Jahrtausends als stärker diversifiziert. Zum einen standen die Kommunen als „sorgende Gemeinschaften“ im Fokus des Gesamtberichts und zweier Expertisen – zu regionalen Disparitäten in Deutschland auf der Ebene von Gemeinden und Kreisen (BBSR 2016) sowie zu den finanziellen Handlungsspielräumen der Kommunen (Wagschal 2016). Zum anderen wurden Expertisen zu speziellen, für die Bundespolitik offensichtlich relevanten Themen in Auftrag gegeben. Zwei befassten sich mit spezifischen Lebenslagen im Alter, nämlich denen von älteren Behinderten (Zander 2016a; vgl. auch Falk und Zander i. d. B.) und denen älterer Lesben und Schwuler in Deutschland (Gerlach und Schupp 2016; vgl. auch Schütze i. d. B.), zwei weitere mit Sorgearbeit und Pflege, konkret aus der Genderperspektive (Beckmann 2016) und im internationalen Vergleich (Bode 2016). Immerhin fünf der insgesamt elf Expertisen wurden mit je unterschiedlichem Fokus zu Fragen rund um technische Assistenzsysteme in Auftrag gegeben (Haux 2016; Künemund 2016; Meyer 2016; Remmers 2016; Wilkes 2016). Ohne diese Zahl überbewerten zu wollen, kann sie doch als Indiz einer Altenpolitik gelesen werden, die
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den technischen Assistenzsystemen große Bedeutung bei der Bewältigung der mit dem Altern der Bevölkerung einhergehenden Herausforderungen beimisst – sei es aus sachlichen oder ökonomischen Gründen (vgl. dazu auch Tonello i. d. B.). Im gesellschaftlichen Problemfeld Pflege ist in den letzten Jahren jedoch eine immense gesetzliche Dynamik zu verzeichnen (vgl. Rixen i. d. B.). Es wurden Änderungen fixiert, die grundsätzlich zusätzliche Handlungsfelder für die Soziale Altenarbeit im Regelungsbereich und an Schnittstellen des SGB XI eröffnen: Mit dem am 01. Juli 2008 in Kraft getretenen Gesetz zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung (Pflegeweiterentwicklungsgesetz, PfWG) wurden zum einen Pflegeleistungen und qualitätssichernde Maßnahmen ausgeweitet. Interessanter für die Soziale Arbeit sind andere Änderungen: Um die Leistungsberechtigten bei der Inanspruchnahme pflegerischer Leistungen besser zu beraten und zu unterstützen, sieht das Gesetz sog. Pflegestützpunkte vor, die von den Kranken- und Pflegekassen einzurichten sind. Eine gemeinsame Trägerschaft mit den Kommunen als ebenfalls beteiligte Kosten- und Leistungsträger ist möglich (§ 7c SGB XI). Seit dem 1. Januar 2009 haben außerdem alle Leistungsberechtigten (nach § 7a SGB XI) einen Rechtsanspruch auf individuelle Pflegeberatung und Hilfestellung durch sog. Pflegeberater/-innen oder eine sonstige Beratungsstelle. Diese Beratung ist von den Pflegekassen anzubieten und bezieht sich auch auf andere im Einzelfall in Betracht kommende Sozialleistungen (insbes. SGB V, SGB XII). Ausdrücklich vorgesehen ist (nach § 7a SGB XI), einen sog. Versorgungsplan zu erstellen. Das im Gesetz beschriebene Verfahren entspricht einem Case Management (vgl. dazu Wendt i. d. B.). Um pflegende Angehörige stundenweise zu entlasten, sieht das PfWG die – auch modellförmige – Förderung niedrigschwelliger Betreuungsangebote vor, etwa von Angehörigengruppen, Helferkreisen, Tagesbetreuung in Kleingruppen und familienentlastenden Diensten (§ 45c SGB XI). Das Erste Gesetz zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften (PSG I), in Kraft ab 1. Januar 2015, brachte insbesondere Verbesserungen für demenziell Erkrankte und pflegende Angehörige mit sich, die eher nur für diese selbst relevant sind. Im Zweiten Pflegestärkungsgesetz (PSG II), das am 1. Januar 2016 in Kraft trat, ist – neben der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs (§ 14 SGB XI; vgl. auch Rixen i. d. B.) – für die Soziale Altenarbeit grundsätzlich interessant, dass die Leistungsempfänger/-innen nun einen Rechtsanspruch nicht nur auf einen individuellen Versorgungsplan, sondern auch – nach Wunsch – auf Beratungsbesuche durch Pflegefachkräfte oder anerkannte Pflegeberater/-innen „in der häuslichen Umgebung oder in der Einrichtung, in der diese Person lebt“, haben (§ 7a Abs. 2 SGB XI). Pflegekassen müssen außerdem ab 2017 regelmäßige Schulungen und Kurse für pflegende Angehörige anbieten, auf Wunsch auch dies in der häuslichen Umgebung (§ 45 SGB XI). Von noch größerer Bedeutung für die soziale Altenhilfe in den Kommunen, und somit potenziell auch für die Soziale Altenarbeit, im Bereich Pflege ist das Dritte Pflegestärkungsgesetz (PSG III), in Kraft getreten am 1. Januar 2017, mit dem die Beratung von Pflegebedürftigen, Menschen
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mit Behinderungen und deren pflegenden Angehörigen wieder ‚federführend‘ den Kommunen übertragen wurde. Sie haben nun ein Initiativrecht zur Einrichtung neuer Pflegestützpunkte als eigene Beratungsstellen (§ 7c SGB XI) und können in diesen eigenen Beratungsstellen eigenes, einschlägig qualifiziertes Personal beschäftigen sowie selbst die Pflegeberatung und Pflegeberatungsbesuche anbieten (vgl. § 37 Abs. 8 SGB XI). Der Bund fördert die Einrichtung in den Kommunen durch Bundesmodellprojekte (§ 123 SGB XI). Ziel ist vor allem die sozialräumliche Ausrichtung und bessere Vor-Ort-Koordination aller Beratungsangebote, also zur Pflege, zur Altenhilfe und zur Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung (vgl. GKV-Spitzenverband 2017; vgl. auch Rubin i. d. B.). Zu berücksichtigen ist jedoch, dass – wie schon in der Ursprungsfassung des SGB XI – in keinem der Gesetze explizit Soziale Arbeit als Profession mit Zuständigkeit für bestimmte Aufgaben genannt wird. Als „entsprechend qualifiziertes Personal“ in der persönlichen Beratung und Betreuung gelten „insbesondere Pflegefachkräfte, Sozialversicherungsfachangestellte oder Sozialarbeiter mit der jeweils erforderlichen Zusatzqualifikation“ (§ 7a Abs. 3 SGB XI). Eine qualifizierte soziale Betreuung und Beratung, insbesondere durch Beschäftigte mit (Fach-)Hochschulabschluss, stellt allerdings einen zusätzlichen Kostenfaktor dar. Es bedarf guter Argumente, sie durchzusetzen, weil das Budget insgesamt begrenzt ist. Die Ausgaben für die Pflege sind nach dem Prinzip der einnahmeorientierten Ausgabenpolitik ‚gedeckelt‘ und politische Mehrheiten, die substanziell neue Einnahmenquellen erschließen würden, sind derzeit nicht in Sicht. Dennoch scheint die Soziale Arbeit im Regelungsbereich des SGB XI eine Rolle zu spielen: In der ambulanten Pflege waren 2001 lt. „Zweitem Bericht zur Entwicklung der Pflegeversicherung“ 1,3 % und in der stationären Pflege 2,9 % der Beschäftigten Therapeut/-innen oder Sozialarbeiter/-innen (vgl. Deutscher Bundestag 2001, S. 162). Der vierte Bericht aus dem Jahr 2008 weist neben Altenpfleger/-innen sogar nur noch „Sonstige“, Zivildienstleistende und Verwaltungspersonal aus (vgl. Deutscher Bundestag 2008b, Anlage 7). Der Sechste Bericht aus dem Jahr 2016 stellt fest, dass die Zahl der in diesem „Wirtschaftsbereich“ Beschäftigten von 665 000 im Jahr 2001 auf eine Million im Jahr 2013 gestiegen ist (Deutscher Bundestag 2016b, S. 183), ohne Soziale Arbeit in diesem Bereich explizit auszuweisen. Die Pflegestatistik (StaBuAmt 2018c) weist für Ende 2017 in der ambulanten Pflege 390 322 Beschäftigte aus. Davon haben 1 427 einen sozialpädagogischen/sozialarbeiterischen Berufsabschluss. Das entspricht weniger als 0,4 % aller Beschäftigten (in Vollzeitäquivalenten 266 041 bzw. 941; vgl. StaBuAmt 2018c, S. 25 f.). In der stationären Pflege wurden 764 648 Beschäftigte und darunter 6 926 Sozialpädagog/-innen und Sozialarbeiter/-innen gezählt, was knapp einem Prozent aller Beschäftigten entspricht (in Vollzeitäquivalenten 552 470 bzw. 5 270; vgl. ebd., S. 37 f.). Während sich gegenüber 2013 die Anzahl der Beschäftigten insgesamt in beiden Segmenten erhöhte, sank die Zahl derer mit einem sozialpädagogischen/sozialarbeiterischen Berufsabschluss (vgl. ebd., S. 25; vgl. auch StaBuAmt 2015d). Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass eine Fachkraft der
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Sozialen Arbeit mit ihrer Tätigkeit etwa im Rahmen der sozialen Beratung und Betreuung mehr Pflegebedürftige, ggf. auch Angehörige und Ehrenamtliche, erreicht als eine Pflegefachkraft. Der Fachdiskurs Sozialer Altenarbeit in der Zeit nach dem Jahr 2000 setzt sich mit diesen Rahmenbedingungen auseinander. Er weist Überschneidungen zu gerontologischen Fragestellungen und Konzepten auf und wird durchaus interdisziplinär geführt. Theoretische und methodische Vergewisserungen betrafen zunächst die Kategorie ‚Generation‘ (vgl. die Beiträge in Winterhager-Schmidt 2000; Schweppe 2002a; Karl 2010, S. 31 ff., vgl. auch Karl und Kolland i. d. B.). Aus einer eher auf die Strukturen sozialer Altenhilfe bezogenen Perspektive plädierte Karl (2009) für den Begriff der Generationen- und Altenarbeit. Aner (2010) belegte die Bedeutung von Generationenbeziehungen für professionelle Interaktionen zwischen Adressat/-innen und Fachkräften Sozialer Altenarbeit (vgl. auch Aner in Kap. I.3 i. d. B.). Aus einer sozial pädagogisch inspirierten Perspektive auf Professionalität lässt sich auch die Arbeit von Pflegekräften in den (zunehmend internationalen) Teams der ambulanten Pflege betrachten (Löffler 2020; Löffler i. E.). Die Kategorie ‚Alter‘, die ja in einigen Theorien der Sozialen Arbeit verhandelt wird (vgl. etwa Böhnisch 1997; ders. 1999), wurde hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Soziale (Alten-)Arbeit geprüft. Während ihre Relevanz für Interaktionen und Fragen nach der Lebensbewältigung im Lebenslauf bejaht werden kann, ist sie für den Gegenstand, also für die Theorien der Sozialen Arbeit nicht konstitutiv (vgl. Aner 2018a). Ausbaufähig scheint hingegen die fortgesetzte Integration von gerontologischen Theorien und Befunden in die Soziale Altenarbeit (ebd.). Umgekehrt erweisen sich Theorien Sozialer Arbeit als taugliche Argumente für eine sozialpädagogische Begleitung geriatrischer Patient/-innen (vgl. Aner 2018b). Zudem können bewährte Methoden der Sozialen Arbeit wie die sog. Praxisforschung die Alter(n)sforschung bereichern, indem sie den Feldzugang erleichtern und insbesondere dort, wo die Untersuchungsteilnehmer/-innen zu den hard to reach groups gehören und/oder partizipative Forschungsansätze gefragt sind, Wege der Partizipation aufzeigen und eine diskursive Reflexion des Forschungshandelns überhaupt erst ermöglichen (vgl. Aner und Kricheldorff 2016). Diskutiert wurde auch das Selbstverständnis der Sozialen (Alten)Arbeit im ‚aktivierenden Staat‘ und dies aus der Perspektive einer Kritischen Gerontologie (Aner 2013). Eine spezifische kritische Auseinandersetzung in diesem Kontext betraf die sozialpädagogisch begleitete Nutzung von Potenzialen des Alters (vgl. Karl 2006; Aner 2007; Bettmer 2007; Aner und Hammerschmidt 2008). Ein ähnlich kritischer Diskurs bezog sich auf das Postulat des lebenslangen Lernens (u. a. Schäffter 2000; Buboltz-Lutz 2000a, 2007; Breinbauer 2007, 2008a; Kolland 2007, 2008b; Aner 2015). Seit der Blick auf die Ressourcen der älteren Generation nach und nach dazu führte, auch im Rahmen kommunaler Altenplanung auf partizipationsorientierte Methoden Sozialer Arbeit zurückzugreifen (vgl. Heite et al. 2015b; Rubin i. d. B.), mehren sich die Versuche, die Partizipation älterer Menschen kritisch zu reflektieren (vgl. Aner
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und Köster 2016; Arbeitskreis Kritische Gerontologie 2016). Der Bereich Gesundheit und Pflege spielte in der arbeitsfeldbezogenen Diskussion ebenfalls eine Rolle. Dabei wurde die Netzwerkperspektive eingenommen (u. a. Zeman 2005; Hedtke-Becker und Hoevels 2005; Otto 2008b; Roth 2009) oder die Rolle Sozialer Arbeit als Soziale Gesundheitsarbeit mit älteren Menschen beschrieben (u. a. Homfeldt 2005). Derzeit wird in pflegerischen Kontexten des Alterns vor allem die sozialräumliche Perspektive aufgegriffen, die der Sozialen Altenarbeit insbesondere Aufgaben der Fachberatung und moderierende Funktionen im Quartier zuweist (Kricheldorff 2018b, S. 121). Sie kann an öko-gerontologische Annahmen zur Person-Umwelt-Passung anknüpfen (ebd., S. 115). Die zielgruppenbezogene Diskussion blieb von den diversitäts- und identitäts orientierten Debatten in den Sozialwissenschaften nicht unbeeinflusst. Zunächst rückten vor allem die älteren Migrant/-innen in den Blick (vgl. Schröer 2005; Olbermann 2008; Horn et al. sowie Soom Amann i. d. B.). Es konnte gezeigt werden, dass es nicht nur – wie das vielfach verwendete und positiv besetzte Etikett ‚kultursensible Altenhilfe‘ vermuten lässt – und nicht einmal in erster Linie (wie immer konstruierte) ‚kulturelle‘ Differenzen, sondern auf sozialer Ungleichheit basierende Barrieren sind, die dazu führen, dass Migrant/-innen Angebote der sozialen Altenhilfe seltener als Menschen ohne Migrationshintergrund in Anspruch nehmen (zusammenfassend vgl. Askin 2018). Neuere Forschungsbefunde zu Aspekten von Diversität im Alter und ihrer Bedeutung für verschiedene Settings der sozialen Altenhilfe und Pflege (u. a. zur „Realität der Versorgung älterer Migrant/-innen“ vgl. etwa Khan-Zvorničanin 2016; zum Thema „Gender in der Pflege“ vgl. etwa die Beiträge in der Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 49: 677 ff. und Dosch 2018; zur „Homosexualität in der Langzeitpflege“ vgl. etwa Gerlach und Schupp 2018) sind mit Blick auf die Ausgestaltung der Sozialen Altenhilfe noch auszuwerten. Die Technisierung der Hilfen für ältere Menschen (vgl. dazu Tonello i. d. B. sowie die oben erwähnten einschlägigen Expertisen zum 7. Altenbericht) steht noch am Anfang einer denkbaren Entwicklung. Welche Implikationen für die Soziale Altenhilfe damit einhergehen werden, ist noch nicht zu überblicken. Auch hierzu steht ein Fachdiskurs in der Sozialen Arbeit noch aus. Die hier umrissenen aktuellen Entwicklungen, Erkenntnisse und Fachdiskurse spiegeln sich in den Nachschlagewerken der Sozialen Arbeit nicht durchgehend wider. Während sich in der achten Auflage des „Fachlexikons der Sozialen Arbeit“ (DV 2017) wie auch in der achten Auflage des „Wörterbuchs Soziale Arbeit“ (Kreft und Milenz 2017) mehrere Stichworte mit Sozialer Altenarbeit und angrenzenden (Alters-)Themen befassen, kommt dieser Themenkomplex in anderen führenden Nachschlagewerken nur stark verkürzt vor. Insbesondere fehlen die Stichworte ‚Altenhilfe‘ und ‚Alter‘ in der sechsten Auflage des Handbuchs Soziale Arbeit (Otto et al. 2018) im Gegensatz zu vorhergehenden Auflagen (zuletzt Otto und Thiersch 2015). Als Stichworte im Verzeichnis finden sich die Lebensphasen Kindheit und Jugend, auch ‚Tod‘, nicht aber das Alter, zudem ‚Eltern‘ und ‚Elternschaft‘, nicht aber ‚Groß-
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elternschaft‘. ‚Erwachsenenbildung‘ wurde als Stichwort aufgenommen, nicht aber ‚Geragogik‘. Auch ‚Hospizarbeit‘ ist als Stichwort zu finden, nicht aber ‚Altenhilfe‘. Diese Quellenlage verweist auf den eher geringen Stellenwert, den die sozialpädagogisch tradierte Disziplin Soziale Arbeit dem Thema zumisst. Es bleibt zu hoffen, dass die Dynamik des Arbeitsfeldes und der einschlägigen Forschung bald auch hier angemessen zur Kenntnis genommen wird.
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Rück- und Ausblick
Eine Einschätzung der bisherigen wie auch der weiteren Entwicklung der Sozialen Altenarbeit im Kontext der sozialen Altenhilfe kommt nicht umhin, auf die gesamtund suprastaatliche Rahmung zu verweisen. Spätestens seit dem Beginn des neuen Jahrtausends ist in Deutschland davon auszugehen, dass der Übergang vom produzierenden und finanzierenden Wohlfahrtsstaat zum eher regulierenden und aktivierenden Sozialstaat vollzogen ist. Auch die Herausforderungen, die aus der Alterung der Bevölkerung und dem Strukturwandel des Alters resultieren, sollen nun durch einen neuen welfare-mix gelöst werden, in dem die Zuständigkeiten und Belastungen zwischen Markt, Staat und Familien ebenso neu justiert werden wie die Verteilung der Verantwortlichkeit für die Erbringung sozialer Dienstleistungen im Viereck „Markt – Staat – Dritter Sektor – Familie“ (vgl. Evers und Olk 1996; Schröder und Blair 1999; Dahme und Wohlfahrt 2003). Die Europäisierung der Sozialpolitik wirkt dabei ambivalent. Einerseits verpflichtet sie die Staaten auf die Leitziele ‚Autonomie‘ und ‚Selbstbestimmung‘ im Alter. Andererseits ist sie auf Wirtschaftlichkeit der sozialen Dienstleistungen angelegt und stärkt hierüber die Ausrichtung auf die messbaren und monetär zu beziffernden gesundheitlich-pflegerischen Leistungen (Schulte 1996, 2002). Diese sozialstaatlichen Dynamiken und Ambivalenzen treffen in Deutschland auf eine soziale Altenhilfe, die gesetzlich nur rudimentär als Teil der Hilfe in besonderen Lebenslagen in § 71 SGB XI geregelt ist. Derzeit ist anzunehmen, dass diese schwache Verrechtlichung auch in Zukunft bestehen bleibt. Zwar scheint ein Altenhilfe gesetz (analog zum Kinder- und Jugendhilfegesetz) aus Sicht der Adressat/-innen, die jenseits akuter materieller und gesundheitlicher Notlagen bislang keine einklagbaren Rechte vorfinden, wie auch aus Sicht der Profession auf den ersten Blick wünschenswert. Doch lässt sich ein „Sonderrecht“ für alte Menschen daraufhin befragen, ob es positiv oder negativ diskriminierend wirkt (vgl. Klie 2017, S. 279 f.; ausführlich Igl i. d. B.). Immerhin wurde im 7. Altenbericht (Deutscher Bundestag 2016a) das vor langer Zeit geplante „Altenhilfestrukturgesetz“ (vgl. BMFSFJ 2001, S. 38; vgl. auch Hammerschmidt und Löffler i. d. B.) wieder erwähnt. Es gilt als kleinere Lösung und als eine Möglichkeit, die Kommunen darin zu stärken, ihre Aufgaben in der Pflege besser wahrnehmen zu können (vgl. Deutscher Bundestag 2016a, S. 217). Ein solches Gesetz müsse einem Konzept folgen, das – ähnlich wie im SGB IX – versorgungs-
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systematische Segmentierungen zu überwinden geeignet ist. Es müsse nicht nur die Handlungsmöglichkeiten der Kommunen, sondern auch ihre finanziellen Spielräume erweitern. Die Vorbereitung eines solchen Gesetzentwurfs könne an die Vorarbeiten für eine – ihrerseits an der Konzeption des SGB VIII orientierten – „Strukturreform Pflege und Teilhabe“ anknüpfen (ebd., S. 279). Der Bericht geht noch weiter und regt einen sog. Prüfauftrag der Bundesregierung an (ebd., S. 283). Im Ergebnis könne evtl. dargelegt werden, dass die Sicherung gleichwertiger Lebensbedingungen gerade für die ältere Generation gefährdet sei und es deshalb bundespolitischer Maßnahmen bedürfe, um „das Politikfeld Alters- und Generationenpolitik in der notwendigen querschnittlichen Konzeption zu fördern“ (ebd.) und dies auch in einem „gesetzgeberischen Rahmen“ (ebd.). Von einer weit größeren (fach-)öffentlichen Aufmerksamkeit und gesetzgeberischen Dynamik ist seit einigen Jahren der Bereich des SGB XI gekennzeichnet. Vor dem Hintergrund des neuen Begriffs von Pflegebedürftigkeit im PSG II (vgl. auch BMG 2013) und der besseren Verzahnung von Sozialversicherungsleistungen der Pflegekassen und der kommunalen Strukturen durch das PSG III (vgl. auch Rothgang 2016) könnte die kommunale soziale Altenhilfe in Zukunft eine größere Rolle bei der Bearbeitung der sozialen Risiko- und Kontextfaktoren des Alters spielen, zumal nach § 45c SGB XI die Gebietskörperschaften nun „Adressaten von Zuschüssen der Pflegekassen sein [können; K. A.], mit denen der Aufund Ausbau von niedrigschwelligen Betreuungsangeboten sowie Modellvorhaben zur Erprobung neuer Versorgungskonzepte und Versorgungsstrukturen gefördert werden können“ (Welti 2016, S. 56; vgl. auch Schölkopf 2016, S. 17).
Im internationalen Vergleich stehen dieser Hoffnung allerdings eine in Deutschland „tief verwurzelte kulturelle Norm der Orientierung an privater Pflegeverantwortung“ und „fehlende Steuerungselemente“ (Bode 2013, S. 56) wie auch fehlende Traditionen eines wirksamen Case Managements (ebd.; vgl. auch Engel und Engels 2000a) entgegen. Die Frage ist, welche Rolle die Soziale (Alten-)Arbeit bei der kritischen (!) Umset zung der (europäischen) Leitziele ‚Autonomie‘ und ‚Selbstbestimmung‘ und/oder bei einer wirksamen Hilfe zur Selbsthilfe für vulnerable Gruppen älterer Menschen spielen kann. Winkler (2013, S. 149) bescheinigte der bundesdeutschen Sozialen Arbeit einen „Zustand der Unreife“ aufgrund ihrer späten Geburt. Für die Soziale Altenarbeit gilt das noch viel mehr als für andere Arbeitsfelder und Schwerpunkte der disziplinären Debatte. Bis weit in die 1970er Jahre hinein wurde diskutiert, ob überhaupt, ggf. in welchem Maße und wie soziale Hilfen für ältere Menschen professionalisiert werden sollten und welche Rolle dabei Sozialarbeiter/-innen spielen können (vgl. Ballusseck und Bernstein 1980). Die Soziale Arbeit mit alten Menschen hat „streng genommen erst in der zweiten Hälfte der [19]80er Jahre klare Konturen erhalten“ (Schmidt 1999, S. 659). Ihre dann einsetzende Profilierung resultierte weni-
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ger aus den Professionalisierungsbestrebungen der Sozialarbeit und Sozialpädagogik selbst als aus Personalkostenzuschüssen der Landesregierungen (vgl. ebd., S. 659 f.). Der Fachdiskurs über die Aufgaben Sozialer Arbeit im Kontext der sozialen Altenhilfe wurde also häufig von der Sozialpolitik angestoßen, wenn im Rahmen von Bundes- oder Landesmodellprogrammen ungedeckte Bedarfe aufgespürt oder konkretisiert und nach Möglichkeiten ihrer Befriedigung gesucht werden sollte. Fachkräfte fanden sich dabei häufig eingebunden in eine Strategie der Effizienzsteigerung von Wohlfahrtsproduktion durch zivilgesellschaftliches Engagement. Ohne zusätzliche Ressourcen für ihre professionelle Begleitung birgt diese Einbindung die Gefahr, dass Soziale (Alten-)Arbeit von der Gewinnung, Betreuung und Vernetzung von Freiwilligen aus der Mittelschicht absorbiert wird, während die emanzipatorische Unterstützung problembeladener und ausgegrenzter Bevölkerungsgruppen auf der Strecke bleibt (vgl. Aner 2006; Aner und Hammerschmidt 2008). Wie im historischen Abriss angedeutet, hat sich seit den 1980er Jahren auch und gerade in der Auseinandersetzung mit dieser wohlfahrtsstaatlichen Strategie die Fachlichkeit Sozialer (Alten-) Arbeit im kommunalen Sachbereich sozialer Altenhilfe wesentlich weiterentwickelt. Das lässt sich anhand der oben skizzierten anwendungsbezogenen Konzeptentwicklungen beobachten, die von einer Art nachholender Entwicklung des Theoriediskurses begleitet war und ist. Einerseits wird die begonnene Profilierung unter schwierigen Bedingungen fortgesetzt werden müssen, nämlich in Konkurrenz zu anderen Berufsgruppen wie der Pflegewissenschaft (mit unter Effizienzgesichtspunkten besserer Performanz) und dies in Kommunen, die keine ‚Demografie-Rendite‘ aus dem vielerorts sinkenden Anteil junger Menschen zu erwarten haben, sondern mit neuen Aufgaben und komplexen Wirkungen von demografischen Veränderungen auf die Kommunalfinanzen konfrontiert sind (Zimmer-Hegemann 2011, S. 132). Hinzu kommt die „Re-Seniorisierung der Armut“ (Butterwegge 2012). Sie generiert nicht nur höhere Ausgaben für die Grundsicherung, sondern auch einen steigenden Bedarf an Beratung, Begleitung und Unterstützung alter Menschen. Alte Menschen in schlechten Lebenslagen nehmen häufiger und früher als privilegierte die Angebote der Sozialversorgung und Fürsorge in Form von Einzelfallhilfen in Anspruch. Sie sind stärker als die gut situ ierten Alten auf sozialräumlich verankerte Hilfe- und Unterstützungsstrukturen in Form von Gruppen- und Gemeinwesenarbeit angewiesen. Zudem sind sie stärker von den ausgeprägten sozialrechtlich bedingten Schnittstellenproblematiken betroffen und schließlich schwieriger mit partizipativen Verfahren der Altenhilfeplanung zu erreichen (vgl. Aner und Löffler 2019). Andererseits bietet eine gute, interdisziplinäre und generalistische Ausbildung der Sozialarbeiter/-innen grundsätzlich beste Voraussetzungen für eine Beteiligung an der Bearbeitung dieser individuellen und kommunalen Problemlagen. Dies setzt voraus, dass die Fachkräfte a) über die sozial ungleichen Lebenslagen und potenzielle Unterstützungsbedarfe zur Lebensbewältigung von Menschen im höheren Le bensalter umfassend informiert sind, dass sie b) über ein angemessenes sozialrecht-
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liches Wissen und fundierte Kenntnisse der Trägerstrukturen und Angebote Sozialer (Alten-)Arbeit verfügen und c) in der Lage sind, ihre eigenen Paradigmen und Handlungsmethoden mit Blick auf die Lebensphase Alter theoriegeleitet und auf der Basis empirischer Erkenntnisse zu prüfen und gekonnt umzusetzen.
Ausgewählte Literatur Aner, Kirsten. 2018. Soziale Arbeit mit alten Menschen. In Handbuch Soziologie des Alter(n)s. Hrsg. Schroeter, Klaus R., Claudia Vogel und Harald Künemund. Wiesbaden: Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-09630-4. BMAS. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und Bundesarchiv. Hrsg. Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. 11 Bände. Baden-Baden: Nomos Hammerschmidt, Peter, Juliane Sagebiel und Stefan Pohlmann. Hrsg. 2014. Gelingendes Alter(n) und Soziale Arbeit. Neu-Ulm: AG Spak.
Kommunale Alten(hilfe-)planung Yvonne Rubin
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Einleitung
Die Kommunen sind „die Orte des sozialen Zusammenlebens und [können] auf eine lange Tradition in der Daseinsvorsorge für das Alter verweisen“ (Rohden und Villard 2010, S. 52). Städte und Gemeinden verfolgen das Ziel, „gute Lebensbedingungen vor Ort zu erreichen“ und das auch „für eine alternde Gesellschaft, die eine öffentliche Infrastruktur benötigt, die für alle ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben im Alter ermöglicht“ (Deutscher Städtetag 2015, S. 5). Im Wesentlichen lassen sich für die kommunale Alten(hilfe-)planung drei Aufgabenschwerpunkte ausmachen: (1) die kommunale Entwicklungsplanung, (2) die örtliche Bedarfsplanung pflegerischer Einrichtungen und Dienste sowie deren Vernetzung nach SGB XI und (3) Maßnahmen und Dienste, wie sie im § 71 SGB XII aufgeführt sind (vgl. Rohden und Villard 2010, S. 51). Als Leistungen kommen insbesondere solche in Betracht, die dem gesellschaftlichen Engagement älterer Menschen dienen, die bedürfnisgerechte Wohnungen schaffen oder erhalten, die im Vor- und Umfeld von Pflege und allen Fragen der Inanspruchnahme altersgerechter Dienste Beratung und Unterstützung bieten, die geeignet sind, soziale Teilhabe zu ermöglichen und die alten Menschen eine Verbindung mit ihnen nahestehenden Personen ermöglichen (vgl. § 71 Abs. 2 SGB XII; vgl. dazu auch Aner in Kap. I.1 i. d. B. sowie Igl i. d. B.). Der § 71 SGB XII richtet sich primär an die Sozialhilfeträger. Hierdurch wird diesen eine „Befugnis zur Tätigkeit“ (Bieritz-Harder 2018, S. 819) eingeräumt. Gleichzeitig verbindet sich damit eine gesetzgeberische Aufforderung, im Bereich der Altenhilfe tätig zu werden (vgl. ebd.). Weitere Regelungen finden sich im § 61 SGB XII, in dem die Kommunen als zuständige Kostenträger für die Hilfe zur Pflege genannt werden. Darüber hinaus geht eine weitere – wenn auch wenig spezifische Anforde rung – aus dem § 8 SGB XI hervor. Hier heißt es: © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_4
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Yvonne Rubin
„[D]ie Länder, die Kommunen, die Pflegeeinrichtungen und die Pflegekassen wirken unter Beteiligung des Medizinischen Dienstes eng zusammen, um eine leistungsfähige, regional gegliederte, ortsnahe und aufeinander abgestimmte ambulante und stationäre Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten.“ (§ 8 Abs. 2 SGB XI)
Sie sollen zum Ausbau und zur Weiterentwicklung der notwendigen pflegerischen Infrastruktur beitragen und sowohl hauptamtliches als auch freiwilliges Engagement unterstützen und fördern (vgl. § 8 Abs. 2 SGB XI). Die Kommune ist mit ihrer „ortsbezogene[n] Planung, Gestaltung und Organisation der Hilfen“ (Klie 2018b, S. 38) also nicht die einzige Akteurin in dem Feld der Alten(hilfe-)planung. Neben der Kommune sind Leistungsanbieter, zivilgesellschaftliche Organisationen, Beratungsstellen, Krankenhäuser, niedergelassene Ärzte, Landes- und überörtliche Akteure an der Versorgung und der Bereitstellung von Infrastruktur für ältere Menschen beteiligt (vgl. Plazek und Schnitger 2016, S. 20 ff.). Mit welchen Anforderungen die kommunale Alten(hilfe-)planung in diesem Feld unterschiedlicher Akteure konfrontiert ist und welche Aufgaben und Handlungsoptionen ihr zur Verfügung stehen, ist Gegenstand dieses Beitrages.
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Soziale Pflegeversicherung und Kommunale Altenhilfe: Historische Entwicklungen und Stand der Dinge
Im folgenden Abschnitt wird zunächst auf die Entwicklung der kommunalen Altenhilfe seit Einführung der Pflegeversicherung 1995 eingegangen. Daran lässt sich verdeutlichen, welche Spielräume es für kommunale Steuerungsprozesse gibt und inwiefern gleichzeitig eine sog. Entkommunalisierung der Altenhilfe stattgefunden hat, indem die Kommunen von Steuerungsprozessen anderer Organisationen (insbesondere den Pflegekassen) und Akteuren (insbesondere pflegerischen Leistungsanbietern) abhängig sind. Vor der Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995 war die Kommune alleinige verantwortliche Akteurin der Altenhilfe. Die damit einhergehenden Aufgaben umfassten alle „monetären, persönlichen und sachlichen Leistungen, Einrichtungen, Dienste und Veranstaltungen für ältere Menschen auf der kommunalen Ebene“ (Gitschmann 1989, S. 85). Die kommunale Altenhilfeplanung beschäftigte sich mit der Frage, „wie vor Ort die konkrete Versorgungslage der Senioren durch (soziale) Infrastruktur abgesichert oder verbessert werden konnte“ (Deutscher Städtetag 2015, S. 2). In diesem Zusammenhang waren auch die Aufgaben der damit verbundenen – zumeist als Altenhilfeplanung bezeichneten – Sozialplanung zu sehen. Diese umfassten die Bearbeitung von Prozessen, die mit der pflegerischen Versorgung einhergingen, beschränkten sich aber nicht auf das enge mit der Einführung der Sozialen Pflegeversicherung (SGB XI) etablierte Pflegeverständnis. Die Hilfe bei Pflegebedürftigkeit wurde also nicht auf – nahezu ausschließlich – somatische Ein-
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schränkungen begrenzt, sondern diese Form der Sozialplanung umfasste das gesamte Spektrum der Seniorenarbeit, bzw. der Altenhilfe und des freiwilligen Engagements (vgl. ebd.). Kommunale Altenhilfe wurde „im Rahmen von Auftragsverwaltung, lokaler Selbstverwaltung und freiwilligen sozialen Leistungen von den Gemeinden erbracht, initiiert und unterstützt“ (Gitschmann 1989, S. 85). Diese Art der Organisation der Altenhilfe erwies sich seit Mitte der 1970er Jahre allerdings als nicht (mehr) ausreichend: Mit dem Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen begannen in diesem Zeitraum erste Überlegungen zur Absicherung des Risikos ‚Pflegebedürftigkeit‘. Die Finanzierung der Versorgung der Pflegebedürftigen wurde bis zur Einführung der Pflegeversicherung – bei vorliegendem Sozialhilfeanspruch – von den Kommunen und Landkreisen als zuständigen Sozialhilfeträgern übernommen. Hierbei handelte es sich um einen beachtlichen Kostenfaktor: So lag im Jahr 1980 bei 65 bis 70 % der in stationären Einrichtungen lebenden Personen ein Anspruch auf Leistungen nach dem BSHG – also ein Anspruch auf „Hilfe zur Pflege“ oder „Hilfe zum Lebensunterhalt“ – vor. Die Aufwendungen für „Hilfe zur Pflege“ umfassten im Jahr 1981 mit 5,6 Mrd. DM deutlich mehr als ein Drittel des gesamten Sozialhilfebruttoaufwands (vgl. ebd., S. 241 f.). Im Jahr 1994 – ein Jahr vor Einführung der Pflegeversicherung – beliefen sich die Aufwendungen für die Sozialhilfeleistung „Hilfe zur Pflege“ auf 17,7 Mrd. DM (vgl. Gerlinger und Röber 2009, S. 18). Mit der Einführung der Pflegeversicherung wurde die Entlastung der Kommunen von diesen Sozialhilfeausgaben als ein zentrales Ziel verfolgt (vgl. Butterwegge 2018, S. 149). Der „kommunale Ruf nach Entlastung bei den Sozialhilfeausgaben wurde gehört“ (Dietz 2002, S. 264), die Umsetzung war nach Einschätzung von Dietz jedoch fatal: Mit der Einführung der Pflegeversicherung wurde die pflegerische Versorgung entkommunalisiert. Die Steuerung lag jetzt bei den Pflegekassen und erfolgte zentralisiert auf der Ebene der Spitzenverbände der Kostenträger und Leistungserbringer und über gemeinsame Empfehlungen und Rahmenvereinbarungen. Die Pflegekassen übernahmen mit der Verantwortung in den Bereichen Leistungspolitik und Marktzugang nicht nur die strategische Planungshoheit, sie übernahmen auch Beratungen zu ergänzenden Leistungen des Sozialhilfeträgers. Mit der vorrangigen Kostenträger zuständigkeit der Pflegekassen wurde ebenfalls der gesamte Bereich der Pflegepolitik an diese abgegeben. Den Kommunen kam mit der Einführung der Pflegeversicherung eine versorgungskoordinierende Aufgabe zu: Durch örtliche und regionale Arbeitsgemeinschaften sollten sie das Handeln der beteiligten Akteure koordinieren und Sorge dafür tragen, dass die Zusammenarbeit vor Ort dazu führt, „dass ärztliche Behandlungsleistungen, Behandlungspflege, Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung nahtlos und störungsfrei ineinandergreifen“ (Gerlinger und Röber 2009, S. 24).
Diese neu initiierten Planungs- und Koordinierungsarbeiten fanden mit einem höheren Personalaufwand statt als vor der Einführung der Pflegeversicherung. Bemühte
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Kommunen versuchten zu rekommunalisieren, was ihnen auf Bundesebene genommen wurde, und so „hechelten [sie] bald mit diversen Kommunikationsbemühungen hinter Dienstleistenden, Pflegekassen und Medizinischem Dienst hinterher, um mit ihnen Angebotsentwicklung, Struktur-, Preis- und Qualitätsfragen zu klären“ (Dietz 2002, S. 266).
Die Kommunen konnten also auch nach der Einführung der Pflegeversicherung ihre Verantwortung für die pflegerische Versorgung ihrer Bürger/-innen nicht ganz abgeben. Sie treten weiterhin als Gewährleistungsträger auf, sie bleiben verantwortlich bei Versorgungsengpässen, sie müssen fehlende Angebote kompensieren und sie sind weiterhin als Sozialhilfeträger subsidiär zuständige Kostenträger (ebd.). Zudem sind sie verantwortlich für ein Spektrum pflegerischer Aufgaben, die nicht durch die Pflegeversicherung abgedeckt werden und somit konkurrenzlos „dem Aufgabenspektrum der örtlichen Daseinsvorsorge zugeordnet werden können“ (Geiser 1995, S. 74). Hierunter fallen Angebote, mit denen die Teilhabe pflegebedürftiger Menschen gefördert werden könnte, wie bspw. Unterstützungsleistungen zur Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen oder Begleitungen beim Verlassen der Wohnung. Diese Leistungen werden von der Pflegeversicherung nicht finanziert und somit von den ambulanten Pflegediensten auch nicht erbracht (bzw. wenn sie erbracht werden, dann als privat zu finanzierende Leistung), da diese sich in ihrem Angebot an den von der Pflegeversicherung finanzierten Leistungen orientieren (vgl. Heusinger et al. 2017, S. 440). Die Kommunen tragen zudem die Folgen unkoordinierter Systemverläufe und sie tragen die entstehenden Kosten für die Koordinierung des gesundheitlichen, des pflegerischen und des sozialen Dienstleistungssystems (vgl. Dietz 2002, S. 266). Damit liegt die Verantwortung doch weiterhin bei denen, „die sie nicht mehr ‚habe[n]‘ wollten“ (ebd.). Und spätestens mit dem Berichtsauftrag zum Siebten Altenbericht der Bundesregierung wird die Rolle der Kommunen deutlich. Hier werden sie als verantwortlich adressiert „die Rahmenbedingungen für die älteren Menschen bedarfsgerecht auszugestalten“ (BMFSFJ 2016b, IV). Zudem sollen die Kommunen sowohl stärker als auch verantwortlicher in die Strukturen der Pflege vor Ort eingebunden werden (vgl. Deutscher Städtetag 2015, S. 2). Da zusätzlich zu der Verantwortungsübernahme durch die Kommunen auch die Absicherung des Lebensrisikos ‚Pflegebedürftigkeit‘ als sozialversicherungsrechtliche Errungenschaft erhalten werden soll, sollen die beiden Akteure – die Kommunen und die Pflegekassen – ihre Kompetenzen ergänzen und gleichzeitig die Schwächen des anderen ausgleichen: Den Pflegekassen fehlt aufgrund ihrer Entwicklung zu zunehmend überregionalen Einheiten der Ortsbezug, die Kommunen sind mit dem Problem konfrontiert, dass sie finanziell unterschiedlich ausgestattet und deshalb mitunter in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt sind (vgl. Klie 2018b, S. 37 f.). Was diese parallele Struktur für die kommunale Alten(hilfe-)planung und hier insbeson-
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dere für die Planungs- und Steuerungskompetenzen der Kommunen bedeutet, wird im folgenden Abschnitt anhand der Planung und Sicherstellung der pflegerischen Versorgung dargestellt.
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Kommunale Altenhilfe: Planungs- und Steuerungsmöglichkeiten in der wohnortnahen pflegerischen Versorgungsinfrastruktur
Das Spannungsfeld zwischen kommunalen Steuerungsmöglichkeiten und Steuerungs verlusten wird im folgenden Abschnitt am Beispiel der Bereit- und Sicherstellung pflegerischer Versorgungseinrichtungen aufgezeigt. Neben der finanziellen Entlastung der Kommunen war die Verbesserung der Pflegequalität durch den Ausbau einer bedarfsgerechten Pflegeinfrastruktur ein weiteres Ziel, das mit der Pflegeversicherung erreicht werden sollte. Diese bedarfsgerechte Pflegeinfrastruktur sollte allerdings nicht durch kommunale Bedarfsplanungen erfolgen. Stattdessen wurde – flankiert vom europäischen Wettbewerbsrecht – mit der Einführung der Pflegeversicherung der Aufbau neuer Pflegeeinrichtungen dem Markt übertragen (vgl. Klie 2010, S. 9). Als Anbietende pflegerischer Infrastruktur kommen freigemeinnützige, private und kommunale Organisationen in Betracht. Um einen geschlossenen Markt von zugelassenen Pflegeeinrichtungen zu verhindern, erhielten alle Pflegeeinrichtungen „einen gesetzlich verankerten Rechtsanspruch auf Abschluss von Versorgungsverträgen unabhängig vom konkret vorliegenden Bedarf “ (Gerlinger und Röber 2009, S. 23). Das bedeutet, dass bspw. stationäre Altenhilfeeinrichtungen betrieben werden können, auch wenn dies nicht der pflegepolitischen Ausrichtung der Kommune entspricht. Und während es in Regionen mit einer ausreichend großen Nachfrage an Pflegeleistungen auch genügend Anbietende pflegerischer Leistungen gibt, ist es in dünn besiedelten ländlichen Regionen mit wenig Nachfragenden solchen kaum möglich, diese Leistungen wirtschaftlich anzubieten (vgl. Deutscher Caritasverband 2015, S. 20). Mit der marktwirtschaftlichen Organisation der pflegerischen Angebote veränderten sich sowohl kommunale Planungs- als auch Steuerungsmöglichkeiten. Wie sich die marktwirtschaftliche Organisation der pflegerischen Langzeitversorgung konkret darstellt, wo es hier Ansätze für kommunale Steuerungsprozesse gibt und wo auch nicht, lässt sich sowohl anhand der stationären als auch der ambulanten Pflegeinfrastruktur verdeutlichen. 3.1
Kommunale Planungs- und Steuerungsmöglichkeiten stationärer pflegerischer Versorgungsangebote
Um eine stationäre Altenhilfeeinrichtung betreiben und Leistungen mit den Pflege kassen und Sozialhilfeträgern abrechnen zu können, müssen die Träger der Einrichtungen einen Versorgungsvertrag mit den Landesverbänden der Pflegekassen
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und – je nach landesrechtlich geregelter Zuständigkeit – mit den örtlichen bzw. überörtlichen Trägern der Sozialhilfe abschließen (§ 72 SGB XI). Von Seiten der Landesverbände der Pflegekassen und der Träger der Sozialhilfe ist Einvernehmen über den Abschluss eines solchen Vertrages herzustellen (vgl. Plantholz 2018, S. 964). Dieses Einvernehmen scheint derart zu sein, dass „kommunale Stellen vor Abschluss eines Versorgungsvertrages gefragt [werden], ob gegen diesen Einwände vorlägen (so genannte ‚Bedarfsbestätigungen‘). Da mögliche Antworten aber selten mehr als die bei den Kassen bekannten Einwände sein könnten, ist diese Prozedur mehr höfliche Rücksichtnahme auf lokale Empfindlichkeiten denn wirkliche Planungsbeteiligung“ (Dietz 2002, S. 265).
Den Kommunen ist es nicht möglich, stationäre Bauvorhaben zu untersagen. Sobald die Träger die Zulassungsbedingungen der Pflegekassen erfüllt haben, können sie Leistungen im Sinne der Pflegeversicherung erbringen und abrechnen (vgl. Plazek und Schnitger 2016, S. 49). Das bedeutet, dass – selbst wenn es nicht den Präferenzen derjenigen entspricht, die pflegerische Leistungen in Anspruch nehmen, und auch wenn es nicht den politischen Zielsetzungen einer Kommune entspricht – stationäre Einrichtungen errichtet und betrieben werden können. In dieser Lesart verfügen die Kommunen im Bereich der stationären Altenhilfe weder über Planungs- noch über Steuerungskompetenzen. Allerdings können landespolitische Regelungen sowohl kommunale Planungsals auch Steuerungsprozesse ermöglichen. Dies lässt sich anhand des in NordrheinWestfalen umgesetzten Gesetzes zur Entwicklung und Stärkung einer demografiefesten, teilhabeorientierten Infrastruktur und zur Weiterentwicklung und Sicherung der Qualität von Wohn- und Betreuungsangeboten für ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen (GEPA NRW) verdeutlichen: Hier ist geregelt, dass die Investitionskosten für stationäre Einrichtungen nur dann (re-)finanziert werden, wenn in der Kommune zuvor ein Bedarf für solche Einrichtungen festgestellt wurde.1 Die Finanzierung stationärer Altenhilfeeinrichtungen setzt sich aus vier Kategorien zusammen: dem Pflegesatz, den Kosten für Unterkunft und Verpflegung, den sog. Zusatzkosten und den Investitionskosten. Der Pflegesatz, die Kosten für Unterkunft und Verpflegung und die Zusatzkosten werden entweder (anteilig) von der Pflegeversicherung finanziert, müssen privat getragen werden, oder werden – bei vorliegendem Leistungsanspruch – von den Sozialhilfeträgern übernommen. Die Investitionskosten sind vergleichbar mit der Kaltmiete, sie beinhalten die Kosten, die mit dem Bau und dem Erhalt der Gebäude verbunden sind (vgl. Heiber 2018, S. 212 f.). 1
Artikel 1 im Gesetz zur Weiterentwicklung des Landespflegerechtes und Sicherung einer unterstützenden Infrastruktur für ältere Menschen, pflegebedürftige Menschen und deren Angehörige (Altenund Pflegegesetz Nordrhein-Westfalen – APG NRW).
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In Nordrhein-Westfalen werden diese Investitionskosten als sog. Pflegewohngeld anspruchsberechtigten Bewohner/-innen erstattet. Anspruchsberechtigt sind Bewohner/-innen stationärer Einrichtungen, wenn bei ihnen eine Pflegebedürftigkeit im Sinne des § 14 SGB XI vorliegt und ihr Einkommen und Vermögen (und das Einkommen und Vermögen ihrer unterhaltspflichtigen Angehörigen) zur Finanzierung „der von ihnen ansonsten zu tragenden förderungsfähigen Aufwendungen im Sinne des § 10 Absatz 1 ganz oder teilweise nicht ausreicht“ (§ 14 Abs. 1 APG NRW). Ein Anspruch auf Pflegewohngeld besteht allerdings nur in solchen Einrichtungen „die nicht nach den Regelungen dieses Gesetzes oder der auf Grundlage dieses Gesetzes erlassenen Verordnung von der Förderung nach diesem Gesetz ausgeschlossen sind“ (§ 14 APG NRW). Ausgeschlossen sind Einrichtungen dann, wenn sie ohne eine kommunale Bedarfsbestätigung errichtet und betrieben werden. Die kommunale Bedarfsplanung ist als dreistufiges Verfahren angelegt: Zunächst muss die Kommune die Bedarfsabhängigkeit der Förderung beschließen (§ 11 Abs. 7 APG NRW). Daran anschließend muss die Kommune eine verbindliche Bedarfsplanung erstellen (§ 7 Abs. 6 APG NRW). Diese Bedarfsplanung muss zukunftsorientiert einen Zeitraum von drei Jahren abbilden und nachvollziehbar darstellen können, ob der kommunale Bedarf an Pflegeeinrichtungen abgedeckt ist bzw. wird oder ob zusätzliche Kapazitäten zur Bedarfsdeckung benötigt werden. Wenn zusätzliche Kapazitäten benötigt werden, muss aus der Bedarfsplanung hervorgehen, in welchem Umfang dies der Fall ist (§ 7 Abs. 6 APG NRW). Als dritte Stufe der Bedarfsplanung muss von Seiten der Kommune sichergestellt werden, dass bei der Auswahl der Träger, die zur Bedarfsdeckung in Frage kommen, „ein diskriminierungsfreies Auswahlverfahren und objektive Entscheidungskriterien“ (§ 11 Abs. 8 APG NRW) zur Anwendung kommen. Ein solches Vorgehen ist dann von Bedeutung, wenn sich auf eine Ausschreibung mehr Träger beworben haben als zur Bedarfsdeckung nötig wären. Durch die Regelungen des APG NRW wurden den Kommunen in NRW nicht nur Planungskompetenzen, sondern auch Steuerungskompetenzen übertragen. Auf der Grundlage einer prospektiven Bedarfsplanung haben sie die Möglichkeit, solche Versorgungsangebote zu initiieren, die dem festgestellten Bedarf angepasst sind und den sozialpolitischen Zielsetzungen der Kommune entsprechen. Dieses Vorgehen scheint auch den Forderungen des Deutschen Städtetages zu entsprechen. Dieser forderte für die Zulassung ambulanter und stationärer Einrichtungen, dass hierfür die „in einer kommunalen Planung festgelegten Anforderungen“ (Deutscher Städtetag 2015, S. 7) erfüllt werden müssen. Diese Anforderung sollen aus den regionalen Gegebenheiten abgeleitet werden und insbesondere dem Ziel dienen, den Pflegebedürftigen den Verbleib in ihrem vertrauten sozialen Umfeld zu ermöglichen (vgl. ebd.).
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Kommunale Planungs- und Steuerungsmöglichkeiten ambulanter pflegerischer Versorgungsangebote
Ein weiteres Problem fehlender Planungs- und Steuerungskompetenzen lässt sich am Beispiel der Einrichtung ambulanter Versorgungsangebote darstellen. Die Gewährleistung ausreichender ambulanter pflegerischer Strukturen stellt insbesondere in ländlichen Regionen als „Brennpunkte[n] des demographischen Wandels“ (Kutzner und Gerlinger 2018, S. 211; vgl. auch Hämel und Wolter i. d. B.) eine große Herausforderung dar. Die ambulante pflegerische Versorgung wird – insbesondere in ostdeutschen Flächenländern – von wenigen Diensten übernommen, die große Einzugsgebiete abdecken (vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen 2014, S. 467). Das geht mit vergleichsweise hohen Anfahrtskosten einher. Die ambulanten Pflegedienste finanzieren ihre Fahrtkosten über die sog. Fahrtkostenpauschale. Diese Fahrtkostenpauschale stellt einen Geldbetrag dar, der unabhängig von der tatsächlich zurückgelegten Wegstrecke erstattet wird. Diese Wegpauschale ist in den Versorgungsverträgen geregelt, die die Leistungserbringer mit den Pflegekassen abschließen, die Kommunen nehmen hierauf keinen Einfluss. Insbesondere in dünn besiedelten Regionen ist diese Fahrtkostenpauschale zu niedrig, um die anfallenden Fahrtkosten abdecken zu können (vgl. Deutscher Caritasverband 2015, S. 21). Und auch hier stößt die marktwirtschaftliche Regulation an ihre Grenzen: Marktwirtschaftlichen Prinzipien folgend müsste Anbietenden in ländlichen Regionen eine entsprechend höhere Fahrtkostenpauschale bezahlt werden, solche Vergütungsvereinbarungen gibt es aber kaum. Eine solche Anpassung und die damit einhergehende Erhöhung der Vergütung würde zudem bedeuten, dass die pflegerische Versorgung in ländlichen Regionen teurer werden würde als bspw. in Regionen, in denen Pflegedienste aufgrund der kürzeren Entfernung mit der regulären Fahrtkostenpauschale auskommen (vgl. Heiber 2017, S. 21). Neben den zu geringen Fahrtkostenpauschalen stellt sich als weiteres Problem dar, dass während der längeren Fahrtzeiten keine abrechenbaren Leistungen erbracht werden können. Betriebswirtschaftlich gesprochen bedeutet das, dass ambulante Pflegedienste in Regionen mit längeren Anfahrtswegen weniger Umsatz generieren können als ambulante Pflegedienste in dicht besiedelten Gebieten. So ist es finanziell betrachtet nicht besonders interessant, einen ambulanten Pflegedienst in ländlichen Regionen mit weiten Anfahrtswegen zu eröffnen. Das ist für die Kommunen insofern problematisch, als sie für die Gewährleistung der pflegerischen Versorgung verantwortlich sind. Zudem sind sie auf ein solches Angebot angewiesen, wenn es Ziel ihrer Altenhilfeplanung ist, dass mehr Menschen – auch bei zunehmender Pflegebedürftigkeit – ein Verbleib in ihrer eigenen Häuslichkeit ermöglicht werden soll. Das ist nämlich nur dann möglich, wenn es passgenaue Angebote zur Versorgung gibt (vgl. Arbeitsgruppe „Lokale Pflegeinfrastruktur“ 2011, S. 12). Handlungsoptionen scheinen Kommunen insofern zur Verfügung zu stehen, als sie sog. lokale Verantwortungsgemeinschaften (Klingholz et al. 2015, S. 35) fördern
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können. Dazu gehören „generationsübergreifende, kleinräumige Unterstützungsnetz werke, die einen Hilfe-Mix aus Familien, Nachbarschaft, bürgerschaftlichem Engagement und professionellen Dienstleistern ermöglichen“ (ebd.) und die Sorge dafür tragen können, dass ältere und pflegebedürftige Menschen in ihrem vertrauten Wohnumfeld bleiben können. Hier gibt es immer wieder Best-Practice Beispiele, in denen dargestellt wird, wie bspw. Bürger/-innen-Organisationen mit mehr oder weniger kommunaler Unterstützung Verantwortung für Mitbürger/-innen übernehmen.
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(Kommunale) Pflegeberatung: Rahmenbedingungen, Anforderungen und Konfliktpotenziale
Pflegeberatung wird derzeit hauptsächlich von den Pflegekassen durchgeführt. Da es allerdings die Kommunen sind, die „über die Strukturen vor Ort am besten informiert sind“ (Deutscher Städtetag 2015, S. 8), erscheint es sinnvoll, dass sie „in diesem wichtigen Feld eine stärkere Rolle übernehmen können“ (ebd.). Diesem Anspruch sollte mit Einführung des PSG III Rechnung getragen werden, den Kommunen wurden erweiterte Beratungskompetenzen zugesprochen. Wie die Beratung für pflege bedürftige Personen strukturiert ist und welche Herausforderungen damit verbunden sind, wird im Folgenden aufgezeigt. 4.1
Case- und Care-Management
Die Kommunen werden mit dem § 71 SGB XII als verantwortlich adressiert, Beratung zu unterschiedlichen pflegerischen Themen durchzuführen. Sie scheinen hierfür auch prädestiniert, da sie aufgrund ihrer Nähe zu den Bürger/-innen, „ihres Aufgabenspektrums in der Daseinsvorsorge sowie ihrer Netzstrukturen […] die zentrale Rolle bei der Planung, Moderation und Steuerung präventiver und pflegerischer Versorgungsstrukturen spielen“ (Deutscher Städtetag 2015, S. 5).
Gleichzeitig ergeht ein Beratungsauftrag aber auch an die Pflegekassen. Diese sind beauftragt, eine „umfassende sowie unabhängige Auskunft und Beratung“ (Tebest et al. 2015, S. 734) anzubieten. Mit Einführung des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes (PfWG) 2008 wurde den Pflegekassen dieser Beratungsauftrag verpflichtend auferlegt, verortet wurde die Pflegeberatung in den – ebenfalls mit dem PfWG neu eingeführten – Pflegestützpunkten. Diese sollten die Aufgabe erfüllen, „möglichst wohnortnah ein umfangreiches Beratungs- und Unterstützungsangebot für ältere und hilfebedürftige Menschen zur Verfügung zu stellen und dazu alle relevanten Beratungsangebote für diese Zielgruppe unter einem Dach zu vereinen“ (ebd., S. 734).
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Die Verortung von Pflegeberatung bei den Pflegekassen erschien auch deshalb sinnvoll, da die Pflegekassen diejenigen Organisationen sind, die einen Großteil der Kosten tragen, die durch die pflegerische Versorgung entstehen. Zudem war eine verpflichtende Verortung der Pflegeberatung bei den Pflegekassen möglich, da die Bundesgesetzgebung hier über rechtliche Kompetenzen verfügte (vgl. Heiber 2017, S. 17). Der Rechtanspruch auf Pflegeberatung durch die Pflegekassen ist allerdings nicht voraussetzungslos. Er besteht nur für Personen, „die Leistungen des SGB XI beziehen, oder diese beantragt haben und einen erkennbaren Hilfe- und Beratungsbedarf vorweisen“ (Klie et al. 2016, S. 282). Das Ziel, dass mit dieser Vorschrift verfolgt wird, ist die Einführung eines individuellen Fallmanagements, dass auch über die Pflege hinaus geht: Ein zentrales Element der Pflegeberatung im Sinne des SGB XI ist die Erstellung eines Versorgungsplans, in dem „die im Einzelfall erforderlichen Sozialleistungen und gesundheitsfördernden, präventiven, kurativen, rehabilitativen sowie sonstigen medizinischen, pflegerischen und sozialen Hilfen“ (ebd., S. 283; § 7a Abs. 1, Satz 2 SGB XI) festgehalten werden. Da die Pflegeberatung allerdings nicht selbst Leistungsentscheidungen treffen kann, soll sie „auf die erforderlichen Maßnahmen einschließlich deren Bewilligung durch den jeweiligen Leistungsträger ‚hinwirken‘“ (ebd., S. 284). Insgesamt wurde das Angebot der Pflegeberatung von ca. 4 % der Pflegebedürftigen genutzt. Und auch wenn die Pflegekassen mit Einführung des Pflegeneuausrichtungsgesetzes (PNG) 2013 zusätzlich verpflichtet wurden, den Antragstellenden innerhalb einer Frist von zwei Wochen eine Beratung anzubieten, nahm die Anzahl der in Anspruch genommenen Beratungen weiter ab (vgl. Heiber 2017, S. 17 ff.). Neben dieser Ebene des Case-Management soll die im SGB XI verortete Pflegeberatung auch auf der Ebene des Care-Managements tätig werden. Die Pflegekassen sollen die „Koordinierung aller für die wohnortnahe Versorgung und Betreuung in Betracht kommenden […] Hilfe- und Unterstützungsangebote“ (Tebest et al. 2015, S. 734) übernehmen und aufeinander abgestimmte pflegerische und soziale Versorgungsangebote miteinander vernetzen (vgl. ebd.). Sie sollen zudem auf die örtlichen Leistungsangebote „in allen Bereichen möglicher Hilfeleistungen von Sozialleistungen über gesundheitsfördernde, präventive, kurative, rehabilitative oder sonstige, medizinische sowie pflegerische und soziale Hilfen“ (Klie et al. 2016, S. 285) hinweisen und sind somit – als Care-Management – auch mit der regionalen und lokalen Ebene verbunden. Über die fallbezogene Beratung hinaus sollen innerhalb der Pflegestützpunkte vorhandene pflegerische Versorgungs- und Betreuungsangebote miteinander vernetzt werden. Es wird angenommen, dass sich – durch die wohnortnahe Koordination der im Einzelfall benötigten Leistungen – „die Qualität und Kontinuität der Versorgung verbessern [lässt] und gleichzeitig durch Abbau von Fehl-, Unter- und Überversorgung wirtschaftlicher werden“ (Tebest und Kempchen 2018, S. 212) wird. Die Entscheidung darüber, ob Pflegestützpunkte eingerichtet werden, oder auch nicht, liegt bei den Ländern. Dementsprechend heterogen ist das Ergebnis: Bis Ende 2015 waren in 14 Bundesländern insgesamt 416 Pflegestützpunkte eingerichtet. Für
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diese Einrichtungen wurde in dem Zeitraum von 2009 bis 2011 eine Anschubfinanzierung von 60 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Da diese Anschubfinanzierung allerdings nur zur Hälfte abgerufen wurde, wurde sie 2013 durch das PNG als Gründungsfinanzierung für ambulant betreute Wohngruppen umgewidmet (vgl. Heiber 2017, S. 19 f.). Als ursächlich für die schleppende Entwicklung beim Ausbau der Pflegestützpunkte macht der Deutsche Städtetag die Verortung der Pflegestützpunkte bei den Pflegekassen fest. Er favorisiert eine Verortung der Pflegestützpunkte bei den Kommunen (vgl. Deutscher Städtetag 2015, S. 3 f.). Zudem wird problematisiert, dass die Pflegestützpunkte in ihrer derzeitigen Funktion nicht ausreichend mit der kommunalen Sozialen Arbeit verzahnt und zu sehr auf den Leistungsbereich der Pflegeversicherung verengt sind (vgl. Hoberg und Klie 2015, S. 29). Um die Rolle der Kommunen sowohl im Bereich der pflegerischen Einzelfallberatung als auch auf der strukturellen Ebene der Vernetzung und Koordination zu stärken, wurde ihnen mit Einführung des PSG III 2017 ein sog. Initiativrecht zur Errichtung von Pflegestützpunkten eingeräumt (vgl. § 7c SGB XI). Zudem sollte die Rolle der Kommunen dadurch gestärkt werden, dass ihnen weitere Kompetenzen in der Beratung zugesprochen wurden. Dies sollte dadurch erfolgen, dass die Kommunen als Beratungsstellen im Sinne des § 7b SGB XI anerkannt werden: Falls Kommunen Pflegeberatung im Sinne des § 7a SGB XI erbringen, sind sie automatisch auch als solche Beratungsstellen anzuerkennen, die die Beratungsscheine der Pflegekassen nach § 7b SGB XI einlösen können (vgl. Krahmer und Kempchen 2018, S. 200). Beratungsgutscheine müssen von den Pflegekassen dann vergeben werden, wenn diese eine Beratung nicht selbst anbieten bzw. anbieten können. Eine kommunale Beratungsmöglichkeit besteht also nur für diejenigen Versicherten, deren Pflegekassen Beratungsgutscheine ausstellen, weil sie bspw. keine eigenen Beratenden beschäftigen (vgl. Heiber 2017, S. 27). Ob diese kommunale Beratungstätigkeit tatsächlich mit einer Stärkung der Kommunen in der Pflege einhergeht oder ob die beratenden Kommunen eher als „Erfüllungsgehilfen der Pflegekassen“ (Krahmer und Kempchen 2018, S. 197) fungieren, ist allerdings fraglich. Neben den Beratungsangeboten des § 7a und 7b SGB XI können mit Einführung des PSG III auch Beratungsbesuche nach § 37 Abs. 3 SGB XI durch die Kommunen durchgeführt werden. Zusätzlich zu den erweiterten Beratungskompetenzen können die Kommunen mit Einführung des PSG III auch Einfluss auf die Einrichtung von Pflegestützpunkten nehmen. Wenn im jeweiligen Landesrecht eine entsprechende Regelung vorhanden ist, haben Kommunen ein Initiativrecht zur Einrichtung von Pflegestützpunkten. D. h. sie können „aufgrund landesrechtlicher Vorschriften von den Pflegekassen und Krankenkassen den Abschluss einer Vereinbarung zur Einrichtung von Pflegestützpunkten verlangen“ (§ 7c Abs. 1a SGB XI). Die Kosten für die Pflegestützpunkte werden „von den Trägern des Pflegestützpunktes zu gleichen Teilen unter Berücksichtigung der anrechnungsfähigen Aufwendungen für das eingesetzte Personal getragen“ (§ 7c Abs. 1a SGB XI). Sind im Landesrecht keine entsprechenden Regelungen getroffen, können die Kommunen ihr Initiativrecht allerdings nicht ausüben. Diese Regelung ist
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in den Bundesländern hilfreich, in denen die Zusammenarbeit von Pflegekassen und Landkreisen bzw. kreisfreien Städten in der Vergangenheit nicht erfolgreich war. Eine neue Anschubfinanzierung wird es allerdings nicht geben (vgl. Vorholz 2017, S. 393). Eine weitere Stärkung der Kommunen soll mit der Einrichtung sog. Modellkommunen (vgl. §§ 123 und 124 SGB XI) erfolgen. In diesen Modellkommunen sollen sowohl die Pflegeberatung als auch die Pflegestützpunkte federführend den Kommunen zugeordnet werden. Auch hierdurch würde der Notwendigkeit entsprochen, dass die Kommunen ihrer Steuerungsfunktion in der Altenhilfe stärker nachkommen könnten (vgl. Hoberg et al. 2016, S. 1). In den Modellkommunen sollen im Interesse der Inanspruchnehmenden die Beratungsaufgaben der Pflegekassen „mit dem vielfältigen kommunalen Spektrum […] zusammengebracht werden“ (Vorholz 2017, S. 394). Die Modellkommunen sollen neben den Beratungsaufgaben nach § 7a – c SGB XI und § 37 Abs. 3 SGB XI auch Pflegekurse nach § 45 SGB XI anbieten. Während die Beratungen nach § 7a – c SGB XI weiterhin auch von den Pflegekassen durchgeführt werden können, ist die Übernahme der Beratungen nach § 37 Abs. 3 SGB XI und die Durchführung von Pflegekursen (§ 45 SGB XI) zwingend von den Kommunen zu übernehmen. Bereits bestehende Angebote der Pflegekassen müssen beendet und von den Kommunen neu aufgebaut werden. In den Modellkommunen muss zudem eine Zusammenarbeit mit der Beratung in Bezug auf die Altenhilfe und die Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII und die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen (SGB IX) stattfinden. Darüber hinaus muss eine Zusammenarbeit mit weiteren kommunalen Akteuren, bspw. des öffentlichen Gesundheitsdienstes und der Wohnberatung, erfolgen (vgl. Vorholz 2017, S. 394). Die strukturellen Rahmenbedingungen, die der Pflegeberatung zugrunde liegen, sind – wenn auch nicht ausschließlich – aus kommunaler Perspektive nicht unproblematisch. Um zu verdeutlichen, an welchen Stellen den Kommunen Handlungsoptionen zur Verfügung stehen, wird im folgenden Abschnitt konkreter auf unterschiedlich gelagerte Organisations- und Interessenkonflikte eingegangen. 4.2
Im Spannungsfeld von Organisations- und Interessenskonflikten: Pflegeberatung in den Kommunen
(1) Versorgungsplanung ohne Leistungsentscheidung
Im Rahmen einer Pflegeberatung – und hier macht es keinen Unterschied, ob eine Beratung durch die Pflegekasse, die Kommune, oder subsidiär durch sog. Dritte, also durch weitere Beratungsstellen, stattfindet – kann zwar der Hilfebedarf einer anfragenden Person systematisch erfasst und analysiert werden, es kann ein individueller und über den pflegerischen Hilfebedarf hinausgehender Versorgungsplan erstellt werden und es kann auf eine Leistungsgenehmigung der zuständigen Versorgungsträger hingewirkt werden (vgl. § 7a Abs. 1 SGB XI). Die beratenden Institutionen können allerdings nicht sicherstellen, dass die „im Versorgungsplan vorgesehene[n]
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Leistungen anderer Träger auch tatsächlich erbracht werden“ (Eisfeld und Krahmer 2018, S. 161). Leistungsentscheidungen zu treffen ist nicht die Aufgabe der Pflegebera tung (vgl. ebd., S. 163). Für diejenigen, die Beratung in Anspruch nehmen, bedeutet das, dass sie am Ende eines Beratungsprozesses zwar einen ausgearbeiteten Versorgungsplan erhalten haben, die Finanzierung der darin als notwendig erachteten Leistungen aber keinesfalls garantiert ist. (2) Zuständiger Kostenträger als unabhängige Pflegeberatung ? Gefordert wird eine unabhängige Pflegeberatung und das sowohl durch die Kommune als auch durch die Pflegekassen. Hier scheint es konfligierende Interessen zu geben, da für die Kommunen „die Suche nach vorrangigen Leistungsträgern (neben der gesetzlichen Pflicht) eine lohnende Angelegenheit“ (Hoberg und Klie 2015, S. 30) darstellt. Und so wird – sicherlich nicht zu Unrecht – darauf hingewiesen, dass, wenn die Pflegeberatung durch die Kommune übernommen wird, eine unabhängige Pflege beratung gefährdet sein könne, da „bei den kommunalen Stellen der Gewährung der sozialrechtlichen Hilfe zur Pflege ein entsprechender Maßstab angelegt werden“ (Krahmer und Kempchen 2018, S. 200) könnte. Gleiches gilt für die Pflegekassen. Hier ist seit Jahren bekannt, dass die Einstufung in einen Pflegegrad nicht ausschließlich auf der Grundlage des vorliegenden Hilfebedarfes erfolgt. So konnte Behrens (2008, S. 184) nachweisen, dass es für eine Einstufung in eine Pflegestufe (wie es zu dieser Zeit noch hieß) zusätzlich zu einem pflegerischen Hilfebedarf auch eines erheblichen kulturellen Kapitals der Angehörigen, zumeist der Töchter und Schwiegertöchter, bedurfte. Zudem wurden Männer häufiger in höhere Pflegestufen eingestuft als Frauen und generell gilt: Eine höhere soziale Schicht der Antragstellenden ist vorteilhaft, um bestehende Leistungsansprüche durchzusetzen (vgl. Simon 2004, S. 223). Bislang bleibt also offen, wie ein – sinnvollerweise bei den Kommunen angesiedeltes – Fallmanagement erfolgen kann, wenn es – zum einen – den unterschiedlichen Kostenträgern vorbehalten ist, darüber zu entscheiden, welche Leistungen sie in welchem Umfang zu tragen bereit sind, und wenn – zum anderen – die benötigten Leistungen wie bspw. barrierefreier Wohnraum oder ambulante pflegerische Leistungen von den zuständigen Leistungserbringern entweder aus Kapazitätsgründen nicht erbracht werden können oder aus wirtschaftlichen Gründen nicht erbracht werden wollen.
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Beteiligungsverfahren in der kommunalen Alten(hilfe-)planung
Alten(hilfe-)planung stellt nur einen Teil des ‚altenpolitischen‘ Handelns dar. Altenpolitik muss sich darüber hinaus auf weitere Lebenslagen des Alters ausrichten und diese verantworten. So muss sie bspw. Rahmenbedingungen schaffen, „die es der älteren Generation ermöglichen, sich aktiv in [die] Gesellschaft einzubringen“ (Bothe
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und Grobe 2016, S. 346). Als Handlungsfelder in dem Bereich der Sozialen Arbeit für und mit Älteren können die Soziale (Alten-)arbeit im Bereich von Gesundheit und Pflege (auch Altenhilfe genannt) und die Soziale (Alten-)arbeit in anderen Feldern (‚offene‘ Altenarbeit), bspw. der „Beratung und Vermittlung von Angeboten zur sozialen Teilhabe“ (Aner und Hammerschmidt 2018, S. 68), unterschieden werden. Da sich soziale Teilhabe aber auch immer auf den Bereich Gesundheit und Pflege auswirkt – selbstbestimmte Teilhabe wirkt gesundheitsförderlich, fehlende soziale Teilhabe hat negative Auswirkungen auf die Gesundheit (vgl. Kümpers und Alisch 2018b, S. 59) – wird im folgenden Abschnitt auf die Beteiligungsprozesse in der Altenplanung eingegangen. Durch partizipative Planungsprozesse soll zum einen Teilhabe Älterer sichergestellt werden und zum anderen sollen Angebote möglichst bedürfnisorientiert entwickelt werden. Obwohl eine Beteiligung älterer Menschen an kommunalpolitischen Themen sowohl in den verschiedenen Bundesländern als auch auf kommunaler Ebene „unterschiedlich akzentuiert“ (Klie und McGovern 2010, S. 38) wird, lässt sich über die Altenhilfeplanung sagen, dass hier ein Wechsel von einer rein empirischen Berichterstattung hin zu einem qualitativen und partizipativen Planungsverständnis stattfand (vgl. Strube 2008, S. 84). Altenplanung soll als partizipativer Prozess angelegt sein, sie soll praxistauglich „über die klassische Infrastrukturplanung hinausgehen [und] die sozialen Strukturen in den Orten des Zusammenlebens […] erhalten“ (Rohden und Villard 2010, S. 54). Anforderungen an Altenhilfeplanungen umfassen sowohl prozedurale als auch inhaltliche Aspekte. Durch eine Berücksichtigung beider Aspekte soll zum einen ein ausgewogenes Verhältnis von Fachlichkeit, Partizipation der Zielgruppe und Orientierung an den örtlichen Bedingungen erfolgen. Zum anderen sollen durch eine solche Art der Planung soziale Benachteiligungen wenn auch nicht ausgeglichen, dann zumindest gemildert werden (vgl. ebd., S. 55). Partizipationsformen können unterschieden werden in repräsentative und direkte Verfahren: Eine repräsentative Partizipationsform stellen z. B. Seniorenvertretungen dar. Seniorenvertretungen fungieren auf kommunalpolitischer Ebene als „Forum für das Engagement älterer Menschen und deren Willen zur Mitverantwortung und Mitgestaltung der eigenen Lebenswelt“ (Blankenburg 2013, S. 21), sie bieten älteren Personen die Möglichkeit sich politisch zu engagieren (vgl. Bothe und Grobe 2016, S. 352). Seit 2006 gibt es Landesseniorenmitwirkungsgesetze, in denen – auch wenn sie sich je nach Bundesland voneinander unterscheiden – als Zielbestimmung eine „aktive Beteiligung am sozialen, kulturellen und politischen Leben“ (Blankenburg 2013, S. 22) verankert ist. Zudem soll durch diese Gesetze der „Prozess des Älterwerdens in Würde und ohne Diskriminierung unter aktiver Beteiligung“ (ebd.) geleistet werden können. Auf kommunaler Ebene wird es als Aufgabe von Senior/-innenvertretungen verstanden, die Wünsche älterer Personen zusammenzufassen und ihnen dadurch Gewicht in Politik und Verwaltung zu verleihen. Weiterhin ist es Bestandteil ihre Aufgabe, auf die Einhaltung der Rechte von Pflege- und Hilfebedürftigen zu achten und sowohl diese als auch Politik und Verwaltung zu beraten (vgl. ebd., S. 23).
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Neben dieser repräsentativen Beteiligungsform kann Beteiligung auch als nicht verfasste, direkte Form der Partizipation erfolgen. Hier kann unterschieden werden zwischen versammelnden Verfahren, wie bspw. Bürger/-innenforen, und initiierenden Verfahren aus der Gemeinwesen- oder Stadtteilarbeit (vgl. May 2008, S. 48). Ein versammelndes Verfahren stellen bspw. Stadtteilkonferenzen dar. Hier können ältere Menschen ihre unterschiedlichen Vorstellungen über eine Verbesserung des Quartiers gemeinsam und gleichberechtigt entwickeln (vgl. Aner und Köster 2016, S. 469). Partizipative Projektentwicklungen im Sozialraum – als initiierende Verfahren – bieten die Möglichkeit durch „Hervorbringungsarbeit“ (May 2008, S. 51) aus „einem ‚bloßen Mangel‘ einen ‚Anspruch‘ werden zu lassen“ (ebd.). Im Rahmen solcher Projekte können sich die Teilnehmenden über gemeinsame Bedürfnisse vergewissern und diese als Anspruch formulieren (vgl. May 2017, S. 146 ff.). In einer in diesem Sinne verstandenen sozialraumorientierten Sozialen Arbeit mit Älteren wird die „Räumlichkeit als konstitutive Dimension pädagogischen Tuns“ (Kessl und Reutlinger 2018, S. 1075) verstanden, in der „eine (Neu)Konzeptionierung des professionellen Erbringungssettings und der damit verbundenen fachlichen Handlungsvollzüge unter (sozial)räumlichen Gesichtspunkten“ (ebd.) fokussiert werden kann. So konzipierte kommunale Planungsprozesse könnten bspw. an der (Aus)Gestaltung von Bildungsräumen ansetzen und würden auch „alternative Institutionalisierung[en] auf der Basis einer kritischen Auseinandersetzung mit den bestehenden institutionell/organisationalen Grenzen“ (ebd., S. 1075 f.) zulassen. Aus planerischer Sicht ist in Bezug auf Partizipationsprozesse zu berücksichtigen, dass für ältere Teilnehmende mitunter eher der Prozess als das Ergebnis im Fokus steht. Durch den Prozess können als weitere positive Effekte bspw. Wertschätzung erlebt und soziale Netzwerke erweitert oder vertieft werden. Zudem können hierdurch Lernprozesse und individuelle und kollektive Ermöglichungsprozesse initiiert werden. Wird der Prozess nicht als solcher anerkannt, besteht die Gefahr der Funktionalisierung der partizipativen Maßnahme (vgl. Heite et al. 2015b, S. 421). Weiterhin muss – relativ pragmatisch – berücksichtigt werden, dass Veranstaltungsräume barrierefrei zugänglich sind und auch jene älteren Personen sich beteiligen können, die häufiger von sozialer Isolation betroffen sind: sozioökonomisch benachteiligte Ältere und Personen mit zunehmender Pflegebedürftigkeit und höherem Alter (vgl. Kümpers und Alisch 2018b, S. 59). Dies scheint insofern eine Herausforderung, da „Teilhabeangebote der Altenhilfe […] häufig mit beginnenden Einschränkungen nicht mehr genutzt werden können, u. a. deshalb, weil sich die Altenhilfe nicht für Pflege bedürftige zuständig hält und weil wiederum Pflegedienste Mobilitätshilfedienste […] gar nicht kennen bzw. die Unterstützung von sozialer Teilhabe auch nicht als ihre Aufgabe sehen [können]“ (ebd., S. 64).
Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass sich eher diejenigen Älteren an Partizipa tionsprozessen beteiligen, die dies auch bereits in ihrem bisherigen Leben getan ha-
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ben (vgl. Aner und Köster 2016, S. 476). Beteiligungsprozesse sollen sich dennoch „nicht an den Verhaltensgewohnheiten bildungsgewohnter älterer Menschen ausrichte[n]“ (ebd., S. 478).
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Fazit
Die kommunale Alten(hilfe-)planung beschränkt sich mit Einführung der Pflegeversicherung nicht mehr nur auf die Kommune als alleinige planende und steuernde Akteurin; mit Einführung der Pflegeversicherung wurden Planungs- und Steuerungskompetenzen bei den Pflegekassen zentralisiert. Daraus resultierte, dass „[v]iele Kommunen […] die Altenhilfeplanung aufgegeben“ (Wagenknecht et al. 2016, S. 2) haben. Und auch wenn es Kommunen gibt, die sich – insbesondere in den letzten Jahren – verstärkt im Bereich der Altenhilfe engagieren, sind „Angebotsstrukturen für alte und pflegebedürftige Menschen eher in den Zentren, kaum jedoch in den kleineren Städten und Gemeinden entwickelt“ (Hämel et al. 2013, S. 324). Durch eine marktwirtschaftliche Organisation pflegerischer Versorgungangebote sollten diese bedarfsgerechter ausgestaltet werden. Nahezu unabhängig von kommunalen Bedarfsplanungen (eine Ausnahme stellen die Regelungen des APG NRW dar) können Träger stationäre Altenhilfeeinrichtungen eröffnen und betreiben. Dies geschieht insbesondere in Regionen, in denen dies wirtschaftlich interessant erscheint. Die Eröffnung stationärer Altenhilfeeinrichtungen kann ungeachtet dessen erfolgen, ob es den kommunalen Altenhilfeplanungen entspricht oder ob diese bspw. eher die Etablierung alternativer Wohnformen favorisieren würden. Ähnlich wenig Einfluss können Kommunen auf ein defizitäres Angebot ambulanter Versorgungsangebote nehmen. Wenn es aus betriebswirtschaftlicher Sicht nicht lukrativ erscheint, einen ambulanten Pflegedienst zu betreiben, können die Kommunen nicht steuernd auf die (potenziellen) Leistungsanbieter Einfluss nehmen. Im Laufe der letzten Jahre wurde die zentrale Rolle der Kommunen allerdings (wieder) deutlicher und es wurden und werden vermehrt erweiterte Kompetenzen für die Kommunen gefordert. Diese erweiterten Kompetenzen sollten mit der Umsetzung des PSG III erfolgen, sie werden allerdings eher kritisch betrachtet: Die Änderungen, die mit Einführung des PSG III einhergehen, beschränken sich auf „kleine Änderungen“ (Vorholz 2017, S. 396), erweiterte Planungs- oder Steuerungskompetenzen sind nicht vorgesehen. Es scheint sich zu bestätigen, dass „[d]ie viel diskutierte Stärkung der Kommunen […] bislang kaum umgesetzt“ (Nikelski und Nauerth 2018, S. 191) wurde. Alleinige Akteurin im Bereich der sozialen Altenhilfe ist die Kommune, wenn es darum geht Beteiligungsprozesse zu initiieren. Hier kann sie bspw. durch partizipativ angelegte Quartiersentwicklungsprozesse Teilhabe fördern und gleichzeitig Daten für die kommunale Planung generieren. Wenn die Soziale Altenarbeit in solche Prozesse involviert wird, steht sie vor der Herausforderung, insbesondere die (scheinbare) Zuständigkeitsgrenze für pflegebedürftige und nicht pflegebedürftige Personen bzw.
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die Trennung zwischen sog. Altenarbeit im Bereich Gesundheit und Pflege und sog. offener Altenarbeit zu überwinden. Nur dann können sich auch die Älteren und ihre Angehörigen beteiligen, die bereits hilfe- und pflegebedürftig sind.
Ausgewählte Literatur Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. 2016. Siebter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Sorge und Mitverantwortung in der Kommune – Aufbau und Sicherung zukunftsfähiger Gemeinschaften und Stellungnahme der Bundesregierung zum Bericht der Sachverständigenkommission. https://www.siebter-altenbericht.de/fileadmin/altenbericht/pdf/Der_Siebte_Altenbericht.pdf; Zugegriffen: 23. März 2019. Deutscher Städtetag. 2015. Für eine echte Stärkung der Kommunen in der Pflege. Positionspapier des Deutschen Städtetages. http://www.staedtetag.de/imperia/md/content/dst/siteuebergrei fend/2015/positionspapier_pflege_staerkung_kommunen_juni_2015.pdf; Zugegriffen: 23. März 2019. Kessl, Fabian, und Christian Reutlinger. 2018. Sozialraumorientierung. In Kompendium Kinder- und Jugendhilfe. Hrsg. Karin Böllert, 1067 – 1093. Wiesbaden: Springer VS.
Ausbildung und Weiterbildung von Fachkräften Sozialer (Alten-)Arbeit Cornelia Kricheldorff
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Die Professionalisierungsdebatte in der Sozialen Arbeit
Der Fachdiskurs zur Professionalisierung Sozialer Arbeit im Kontext ihrer Entwicklung als eigene Wissenschaftsdisziplin bekam vor dem Hintergrund diverser Einflussfaktoren erheblichen Auftrieb. „Die Thesen des Wissenschaftsrates zur künftigen Entwicklung des Wissenschaftssystems in Deutschland aus dem Jahre 2000, die Anerkennung der Sozialen Arbeit als eigenständige Fachwissenschaft durch die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) und die Kultusministerkonferenz (KMK) im Jahre 2001 sowie zur gleichen Zeit die Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen wiesen den Weg für Studienreformen in der hochschulischen Ausbildung für Soziale Arbeit […].“ (DGSA 2016 [2005], S. 1)
Damit stellt sich noch dringender als bisher die Frage nach der eigenen Wissens- und Wissenschaftsbasis Sozialer Arbeit, nicht zuletzt auch als Emanzipationsakt gegenüber den bis dato im Studium sehr dominanten Bezugswissenschaften. Zusätzlich veränderten sich die Rahmenbedingungen für die Soziale Arbeit in Lehre (Stichwort: Bologna-Prozess) und Praxis (Stichwort: Ökonomisierung) in massiver Art und Weise. Diese gleichzeitig wirkenden und sich gegenseitig beeinflussenden Faktoren hatten in den letzten Jahren erhebliche Auswirkungen auf Lehrinhalte und schwer punkte im Studium der Sozialen Arbeit. Auch die Rolle der Fachpraxis ist in diesem Kontext als nicht gering einzuschätzen. Die großen Anstellungsträger, wie zum Beispiel die Wohlfahrtsverbände, formulieren ganz klar ihre Erwartungen an potenzielle künftige Mitarbeiter/-innen und die Hochschulen reagieren darauf, weil sie ihren Absolvent/-innen gute Chancen auf dem Stellenmarkt sichern wollen. Ob dies immer einem Mehr an Professionalität entspricht, muss bezweifelt werden. Oft werden die Erwartungen der Träger von ganz © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_5
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anderen Faktoren, wie etwa einer starken Nachfrage nach Fachkräften in bestimmten Arbeitsfeldern, bestimmt. Waren vor zwei Jahrzehnten knapp 1,2 Millionen Personen in den Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit beschäftigt, sind es gegenwärtig ungefähr 1,9 Millionen (BAG FW 2018b, S. 10). Zuletzt führte insbesondere der Bedarf an Begleitung geflüchteter Menschen zu einer (vorübergehenden) Steigerung der Beschäftigtenzahlen (ebd., S. 32). Hinzu kommt, dass eine verstärkte Verberuflichung und Akademisierung sozialer Arbeit in den späten 1970er Jahren ihren Anfang nahm (vgl. Hammerschmidt et al. 2017a, S. 25 ff.), sodass seit einigen Jahren zahlreiche langjährige Stelleninhaber/-innen, darunter viele in leitenden Positionen, berentet werden. Derzeit befindet sich die Soziale Arbeit auch inhaltlich in einem Wandlungsprozess auf vielen Ebenen: Es lassen sich eindeutige gesellschaftliche Tendenzen einer verstärkten sozialen Differenzierung ausmachen, die zu zunehmender sozialer Ungleichheit und Armut und somit grundsätzlich zu einem steigenden Bedarf an Unterstützung bei der Lebensbewältigung führen. Zugleich erfahren einige Aufgaben im sozialen Bereich deutliche Einschnitte. Insbesondere freiwillige soziale Aufgaben werden von vielen Kommunen erheblich zurückgefahren, während bei den (zum Teil neuen) Pflichtaufgaben personelle Engpässe entstehen. Die institutionellen Rahmenbedingungen sozialarbeiterischen Handelns sind davon in besonderer Weise betroffen. Soziale Arbeit bekommt auf dem Weg über sog. neue Steuerungsmodelle und Budgetierung (vgl. grundlegend Dahme und Wohlfahrt 2013, S. 152 – 166), aber auch im Kontext der Verschiebung von gesellschaftlichen Diskursen zunehmend wieder mehr Aufgaben der Kontrolle (vgl. u. a. Kessl 2011). Diese Entwicklung treibt die Professionalisierungsdebatte in eine neue Richtung, in der das Sozialmanagement eine zentrale Rolle einnimmt. Vorrang hat eine Handlungslogik, die von Effizienz im Sinne von Kosteneinsparung geprägt ist (vgl. Kricheldorff 2007). Folgende bisherige Zielsetzungen geraten in der Fachpraxis unter Druck: •• die Schaffung ermöglichender Strukturen und ressourcenorientierter Handlungsmethoden für sozial benachteiligte Menschen im Sinne von Empowerment (Herriger 2014), •• verstehende und an der Lebenswelt orientierte Ansätze der Sozialen Arbeit (Thiersch 2014) und •• empirisch abgesicherte Interventionen, verbunden mit Forschung und Evalua tionsansätzen. Für die Soziale Arbeit mit älteren und alten Menschen haben diese Entwicklungen fatale Auswirkungen, denn die Nachfrage nach Fachkräften betrifft vielerorts nicht die Strukturen der Sozialen Altenarbeit, weil jenseits der Sicherung der Pflegeinfra struktur nur wenige öffentliche Pflichtaufgaben definiert sind und noch immer eine einheitliche gesetzliche Grundlage für eine Altenhilfe fehlt, die über die Soll-Vorschriften des § 71 SGB XII hinausgeht und die Arbeit der einschlägigen Dienste und
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Einrichtungen dauerhaft absichern könnte. In der Folge wächst insbesondere in finanzschwachen Kommunen die Gefahr, dass die reine Orientierung an Effizienz die Bedarfslagen hilfe- und unterstützungsbedürftiger Menschen eher marginalisiert und diese in der Konsequenz nur als Kostenfaktor betrachtet werden, im Sinne einer „Alterslast“ (ausführlich vgl. die Beitäge von Aner in Kap. I.1 i. d. B., Hammerschmidt und Löffler sowie Rubin i. d. B.). Zu fragen ist also, was diese aktuelle Situation, die hier kurz skizziert wurde, für das Studium der Sozialen Arbeit bedeutet, welche zusätzliche Rolle dabei aktuelle Veränderungen im Zuge des sog. Bologna-Prozesses spielen und welche Bedarfe sich in diesem Kontext für den Bereich der Weiterbildung abzeichnen.
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Entwicklungen im Bereich der Sozialen Altenarbeit
Die Soziale Altenarbeit ist ein innovatives Handlungsfeld innerhalb der Sozialen Arbeit, das sich in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich verändert hat, vielfältiger wurde und ein deutlich breiteres Profil entwickeln konnte (vgl. auch Aner in Teil 2 i. d. B.). Dominierte noch in den 1960er Jahren das Leitbild des betreuten Alters, wandelte sich das ab Mitte der 1970er Jahre bis etwa Mitte der 1990er Jahre zu dem der aktiven Senioren. Diesem Leitbild folgend entstanden neue Angebote, wie beispielsweise Seniorenbüros und Seniorengenossenschaften, die zwar die traditionellen Einrichtungen der sog. offenen Altenarbeit nicht vollständig ablösten, aber die Angebotsstruktur doch erheblich erweiterten. Das war die notwendige Antwort auf Bedarfe ganz neuer Alterskohorten, die mit veränderten Werthaltungen und Erwartungen die zu gestaltende Phase nach Beruf und Familie als neue Herausforderung sahen, die möglichst konstruktiv zu bewältigen ist und die eng mit Lernprozessen und Bildungsanliegen verknüpft ist (Kolland 2005, 2011; vgl. auch Infratest et al. 1991). Das aktuell dominierende Verständnis von Sozialer (Alten-)arbeit entspricht dem der Sozialen Arbeit insgesamt, mit einer starken Ausrichtung auf Lebenswelten (Thiersch 2014) und Ressourcenorientierung im Sinne von Empowerment (vgl. Herriger 2014). Zwei Schlüsselbegriffe spielen dabei eine zentrale Rolle: eine neue Qualität einer ‚Produktivität im Alter‘ und der Ruf nach einer neuen ‚Kultur des Helfens‘, bei der Engagement und Beteiligung, auch von älteren Menschen, deutlich eingefordert werden. Den Hintergrund dafür liefert die deutliche Ausweitung der Altersphase, mit der Konstituierung eines Dritten Alters, geprägt von Aktivität und Partizipation, und eines Vierten Alters, das gekennzeichnet ist von Hilfebedürftigkeit und einem zunehmenden Verlust an Autonomie (vgl. Pichler i. d. B.). Hinzu kommt in neueren Fachdiskursen die Debatte um das sehr hohe Alter, manchmal auch als das sog. fünfte Alter bezeichnet, das geprägt ist von Abhängigkeit und dem zunehmenden Verlust von Autonomie. Wenn immer mehr Menschen älter werden und eine wachsende Zahl von ihnen alleine lebt, wenn familiäre Netzwerke brüchig werden oder gar nicht
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vorhanden sind, braucht die Gesellschaft dafür Formen der Substitution und Kompensationsmöglichkeiten. Unterstützungssysteme, die sich aus den Gedanken der Selbsthilfe, der gegenseitigen Unterstützung und einem beteiligenden Engagement speisen, erhalten dadurch eine wachsende Bedeutung. Zwei Aspekte sind in diesem Kontext wichtig: •• Ältere Menschen können Nutznießer/-innen neuer Engagement- und Beteili gungsformen sein, •• ihre Bereitschaft zum Engagement ist aber – vor allem wenn sie gesund und leistungsfähig sind – inzwischen auch eine normative gesellschaftliche Erwartung und dies wird politisch auch so formuliert. Dabei werden ältere Menschen nicht nur als aktive Gestalter/-innen ihrer Lebensbedingungen wahrgenommen, sondern auch als „Motor für Innovationen“. Der 5. Altenbericht der Bundesregierung (BMFSFJ 2006a; vgl. auch Schulz-Nieswandt i. d. B.), in dem diese Formulierung für eines der fünf grundlegenden Leitbilder charakterisierend gebraucht wird, weist eindrücklich darauf hin, dass der demografische und gesellschaftliche Wandel auf Dauer ohne die Mitverantwortung der Älteren nicht gestaltbar sei. Gefordert werden deshalb eine gezielte Nutzung der Potenziale des Alters sowie die Förderung generationsübergreifender Solidarität. Sowohl der 6. Alten bericht (BMFSFJ 2010) als auch der 7. Altenbericht (Deutscher Bundestag 2016a) knüpfen daran unmittelbar an und verstärken und erweitern diese Perspektive noch in der Logik sich ändernder Altersbilder bzw. sorgender Gemeinschaften und Kommunen, in denen vor allem dem aktiven dritten Alter eine zentrale Rolle zugewiesen wird (kritisch dazu u. a. Aner 2017).
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Neue Aufgaben und Handlungsfelder der Sozialen (Alten-)Arbeit
Vor dem Hintergrund des klaren Paradigmenwechsels entstanden und entstehen für die Soziale (Alten-)Arbeit neue Aufgaben und Handlungsfelder: in der sog. offenen Altenarbeit beispielsweise im Bereich der Engagementförderung und Bürgerbeteiligung, bei der Entwicklung neuer Wohnformen und der Gestaltung förderlicher Lebenswelten, die die Begegnung und Kommunikation zwischen den Generationen möglich machen. Praktische Beispiele dafür sind Stellen im Quartiersmanagement, Moderation und Mediation in der Prozessbegleitung für gemeinschaftliche und generationsübergreifende Wohnformen, Koordinations- und Vernetzungsaufgaben in Seniorenbüros, Freiwilligenzentralen, Tauschbörsen und in Mehr-GenerationenHäusern. Gleichzeitig erfasst ein konzeptioneller Wandel aber auch die sog. Altenhilfe, also die gesundheitsbezogenen Bereiche der Sozialen Altenarbeit im Kontext von Betreu-
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ung, Pflege (vgl. die Beiträge von Franzkowiak, Franke, Ansen, Vogel, Dörr, Bege mann und Fuchs sowie Schmidt i. d. B.). und Altenhilfefachberatung (vgl. Rubin i. d. B.). Methoden der Sozialen Arbeit, wie beispielsweise Case Management, werden hier auch von anderen Berufsgruppen adaptiert. Es entstehen neue Beratungsformen und -bereiche, wie beispielsweise in der Pflegeberatung und in den Pflegestützpunkten. Zu fragen ist dabei, wie sich die Soziale Arbeit künftig in diesem Feld positionieren kann und wie sie ein eindeutigeres Profil als bisher gewinnt. Dabei geht es um Vermittlung, Beratung, Koordination und Vernetzung, um Betreuungsaufgaben sowie um die Initiierung und Begleitung von Engagement- und Beteiligungsprozessen (vgl. Kricheldorff 2008). Über das Feld der Sozialen Altenarbeit im engeren Sinne hinaus entwickeln sich aber auch vielfältige Beratungsanliegen für die Fragen und Probleme, die das sog. neue Altern mit sich bringt. Modernisierung, Pluralisierung und Individualisierung verändern Lebenslagen im Alter; traditionelle Familienmuster und -bezüge werden auch im Alter brüchiger (vgl. Beck-Gernsheim 2010; vgl. auch Baas und Schmitt i. d. B.). In der Folge sind ältere Paare vermehrt eine Zielgruppe für die Ehe- und Familienberatung. Sie sind eine zunehmende Größe in der Suchtberatung (vgl. Bojack et al. 2014) und in anderen ‚klassischen‘ Feldern Sozialer Arbeit, die so zunehmend mit Fragen des Alterns befasst sind. In der Konsequenz kann von einer starken Zunahme des Anteils älterer Adressat/-innen in der Sozialen Arbeit insgesamt ausgegangen werden. Das bedeutet, dass Fragen des Alters und Alterns notwendige Querschnittsthemen in Aus- und Weiterbildung darstellen und dass demzufolge die Auseinandersetzung mit den alterstheoretischen Begründungen von Interventionen und Handlungen zu obligatorischen Inhalten in den Modulen der neuen Bachelorund Masterstudiengänge der Sozialen Arbeit werden müssten. Wenn also die möglichen Perspektiven der Professionalisierung Sozialer Altenarbeit in den Blick genommen werden, muss dies geschehen vor dem Hintergrund der notwendigen Kompetenzprofile in einer veränderten Fachpraxis, die in der Gesamtbetrachtung doch eher einer traditionellen Logik folgt. Zu fragen ist in diesem Kontext, ob die curricularen Entwicklungen in der Aus- und Weiterbildung der Sozialen Arbeit diesen veränderten Anforderungen entsprechen bzw. welche Lehr inhalte und Kompetenzen in den neuen Bachelor- und Masterstudiengängen künftig stärker vermittelt werden müssten.
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Das Studium der Sozialen (Alten-)Arbeit und der Bologna-Prozess
Gemeinsam mit den europäischen Nachbarn hatte sich Deutschland 1999 in Bologna das Ziel gesetzt, bis zum Jahre 2010 einen gemeinsamen europäischen Hochschulraum zu schaffen. Bei dem damit verbundenen Umbau der Hochschulen und der umfassenden Reform für (fast) alle Studiengänge – auch für die Soziale Arbeit – hat
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Deutschland verglichen mit den europäischen Nachbarstaaten ein besonderes Tempo vorgelegt. Der sog. Bologna-Prozess gilt als die am tiefsten greifende Hochschulreform der letzten Jahre. In diesem Kontext gab es eine breite Fachdebatte um die Profilbildung der Sozialen Arbeit unter den Rahmenbedingungen von Bachelor und Master (vgl. Mühlum 2004). Der Umwandlungsprozess ist inzwischen abgeschlossen, die früheren Diplomstudiengänge der Sozialen Arbeit sind umgestellt auf das zweistufige Bachelor-Master-Studiensystem. Dies gilt als das augenfälligste Ergebnis der Bologna-Reform (vgl. BMBF 2018). Mit dem freiwilligen Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR) und dem Inkrafttreten des nunmehr verbindlichen Deutschen Qualifikationsrahmens (DQR) im Jahre 2013 wurde zusätzlich ein gemeinsamer Rahmen für die hochschulische und für die berufliche Bildung gesetzt. In diesem Kontext waren auf berufspolitischer Ebene Abstimmungsprozesse darüber notwendig, welche curricularen Setzungen, im Sinne von Kompetenzerwerb, der jeweiligen Qualifikationsstufe zugeordnet werden sollten. Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA) sowie die Mehrheit im Fachbereichstag Soziale Arbeit plädierten explizit dafür, dass weiterhin im grundständigen Bereich ein generalistisches Studium angeboten wird. Dies kommt in allen einschlägigen Vorlagen und Positionspapieren klar zum Ausdruck. So hat die DGSA mit der Erarbeitung des Kerncurriculums Soziale Arbeit, erstmals vorgelegt im Januar 2005 und am 29. April 2016 von der Mitgliederversammlung verbindlich verabschiedet, klare Eckpfeiler der fachlichen Standards für das Studium der Sozialen Arbeit in Deutschland beschrieben (DGSA 2016 [2005]). Das Kerncurriculum ist auf der Basis von Empfehlungen so formuliert, dass die einzelnen Hochschulen bei der konkreten Ausgestaltung ihrer Curricula viel Gestaltungsfreiheit haben, liefert aber dafür einen verbindlichen professionellen Referenzrahmen – und der sieht keine Spezialisierungen, sondern nur mögliche exemplarische Vertiefungen vor. Derselben Logik folgt der Qualifikationsrahmen Soziale Arbeit, Version 6.0, verabschiedet vom Fachbereichstag Soziale Arbeit am 8. Juni 2016 in Würzburg. Dieser novellierte Qualifikationsrahmen Soziale Arbeit konkretisiert die Leitlinien des ebenfalls überarbeiteten Qualifikationsrahmens für Deutsche Hochschulabschlüsse (HQR) für die Disziplin und Profession der Sozialen Arbeit. Der QR SozArb stellt dabei auf die spezifischen Anforderungen kritischer Reflexionen (historisch, systematisch, politisch und intersektional) in personenbezogenen Dienstleistungen ab. Kompetenzen in der Sozialen Arbeit zeichnen sich durch einen konstruktiven gestalterischen Umgang mit der Wechselbeziehung zwischen Theorie und Praxis bis hin zur konkreten Differenzerfahrung zwischen theoretischem Wissen und dessen praktischer Anwendung aus, um Handlungssinn, Urteilsvermögen und kritische Reflexion zu erlangen. (Schäfer und Bartosch 2016, S. 14). In sieben Kompetenzsträngen werden eher allgemein Kenntnisse und Voraussetzungen formuliert, die Absolvent/-innen der Sozialen Arbeit in die Fachpraxis mitbringen sollten. Für die Soziale Altenarbeit bedeutet das, dass es im Ergebnis eine spezialisierte gerontologische Profilierung in den neuen Bachelorstudiengängen nur
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in sehr geringer Zahl gibt (z. B. an der Universität Vechta). Eine häufige Form der Umsetzung dieser Empfehlungen in die jeweiligen Curricula der Hochschulen sind die Orientierung des Studienangebots an einer Lebenslaufperspektive, was der gerontologischen Profilbildung nicht immer zuträglich ist, am Beispiel der Universität Kassel typisch zu beobachten. Das dort lange Zeit etablierte Studium der Sozialen Gerontologie fiel dieser Entwicklung zum Opfer. Eine andere Form, an mehreren Hochschulen für Angewandte Wissenschaften inzwischen verankert, ist die exemplarische Vertiefungsmöglichkeit für die Soziale Arbeit mit älteren und alten Menschen in speziellen Handlungsfeld- oder Zielgruppenangeboten. Dies ist aber jeweils verbunden mit der bewussten Entscheidung der Studierenden für altersspezifische Themen in den Wahlbereichen und für die damit verknüpften Konzepte und Methoden. Die Wahl dieser speziellen, altersrelevanten Studieninhalte erfolgt bei den oft sehr jungen Bachelorstudierenden erfahrungsgemäß in erster Linie bei denen, die schon Erfahrungen in gerontologisch konnotierten Arbeitsfeldern gemacht haben, zum Beispiel in einem Praktikum oder im Freiwilligen Sozialen Jahr. Diese Form exemplarischen Vertiefungslernens in einem Arbeitsfeld eigener Wahl verhindert also tendenziell die Auseinandersetzung mit altersrelevanten Themen für die Studierenden, die von sich aus zum Feld der Altenarbeit noch keinen Zugang gefunden haben. Dies ist in der Regel die weitaus größere Zahl. Ein breites Querschnittangebot mit obligatorischen Studieninhalten, die den künftigen Bedarfen einer skizzierten Zunahme altersrelevanter Themen sowie älterer Adressat/-innen in vielen Arbeitsfeldern entsprechen, ist damit im Bereich der Bachelorstudiengänge insgesamt eher unzureichend gegeben. Die Spezialisierung soll, wie oben angedeutet, aus berufspolitischer Sicht in den Masterprogrammen erfolgen. Entsprechend entstanden im Zuge der Umsetzung des Bologna-Prozesses diverse Masterprofile und -abschlüsse in der Sozialen Arbeit in erheblicher Geschwindigkeit und in breiter Ausdifferenzierung – zum größeren Teil als konsekutive Master, aber auch als Weiterbildungsmaster in berufsbegleitender Form (vgl. Kessler et al. 2017). Auch im Bereich gerontologischer Studiengänge waren hier Aktivitäten und Veränderungen deutlich spürbar, die zuweilen auch zu Konkurrenzsituationen geführt haben. Nachdem aber bis heute weitgehend unklar ist, wo die Masterabsolvent/-innen ihren Platz in der Fachpraxis finden und die Anstellungsträger mit der Frage der Besoldung bzw. Höhergruppierung auf Grund des formal höher qualifizierenden Abschlusses, generell eher zurückhaltend umgehen, erschließt sich die Sinnhaftigkeit des weiteren Studiums für eine große Gruppe der Bachelorabsolvent/-innen nicht wirklich. Diese Unsicherheit trägt unter anderem dazu bei, dass Masterangebote, als weiterbildende und qualifizierende Studiengänge konzipiert, nur zögerlich angenommen werden. Hinzu kommt, dass die meisten dieser Masterprogramme von den Teilnehmenden bezahlt werden müsssen und damit für viele Berufspraktiker/-innen nicht einfach zu finanzieren sind, auch weil Zuschüsse der Arbeitgeber eher selten in Anspruch genommen werden können. Im Bereich der Sozialen Gerontologie führte dies in den letzten zehn Jahren zu der Entwicklung, dass – trotz des erkennbar fortschreitenden demografischen Wandels – so-
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wohl die etablierten Angebote (z. B. an den Universitäten Heidelberg und Kassel) als auch die neu akkreditierten Masterstudiengänge (z. B. Cottbus und Freiburg) mit rückläufigen Bewerbungs und Studierendenzahlen konfrontiert waren oder schnell wieder eingestellt wurden. Eine im Jahr 2007 durchgeführte Studie zum Stand der Entwicklung der gerontologischen Studienangebote im deutschsprachigen Raum, also auch in der Schweiz und in Österreich, im Auftrag der Deutschen Gesellschaft und Gerontologie und Geriatrie, stellte denn auch in der Zusammenfassung entsprechend fest: „Es zeigt sich, dass die Bemühungen sowohl von Universitäten, als auch von Fachhochschulen, wissenschaftlich fundiert praxisrelevant auszubilden, zu vielfältigen Konzepten in der Erwachsenenbildung geführt haben. Welche Ausbildungsformen sich sowohl auf der Seite der Studierenden, als auch auf der Nachfrageseite am Arbeitsmarkt behaupten können, ist derzeit noch nicht absehbar.“ (Backes et al. 2007, S. 403)
Diese Diversität weckte auch klare Befürchtungen, dass durch das Nebeneinander sehr unterschiedlicher Studiengänge die akademische Qualifikation im Bereich der Gerontologie zu beliebig werden könnte (Klie und Kricheldorff 2007, S. 426). Im Rahmen einer Arbeitsgruppe der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geria trie (DGGG) wurde deshalb konzeptionell an der Frage der Basisqualifikationen für gerontologische Studiengänge gearbeitet und über mögliche Synergieeffekte durch Kooperationen und die Vernetzung von Qualifizierungsangeboten nachgedacht. Der Versuch der Formulierung von verbindlichen Grundlagen für gerontologische Qualifikationen scheiterte aber an konkurrierenden Interessen. Rund zehn Jahre später erfolgt in einem Beitrag der Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, aus Anlass ihres 50-jährigen Bestehens, erneut eine kritische Bestandsaufnahme zu gerontologisch orientierten Studiengängen in Deutschland (Kessler et al. 2017). Die Situation stellt sich in der Zusammenfassung nicht viel anders dar, als im Jahr 2007. Gefordert wird unter anderem, „[…] Maßstäbe für hochwertige gerontologische Qualifikation an deutschen Hochschulen zu entwickeln und mit Institutionen, die gerontologisch qualifiziertes Personal beschäftigen bzw. in Zukunft beschäftigen könnten, in einen engen Austausch zu treten“ (ebd., S. 409).
Im Bereich der Masterstudiengänge ist nach wie vor eine große Diskrepanz feststellbar zwischen sich deutlich abzeichnenden und prognostizierten Bedarfen in der Fachpraxis einerseits und dem Nachfrageverhalten potenzieller Studierender andererseits. Dies lässt aber weniger darauf schließen, dass gerontologische Inhalte in der Praxis der Sozialen Arbeit nicht relevant sind, als vielmehr auf die nach wie vor unklare berufliche Perspektive, die ein Masterabschluss ermöglicht. Berufspolitisch muss zusätzlich die Frage gestellt werden, ob spezialisierende Masterstudiengänge wirklich zu einer deutlicheren wissenschaftlichen Profilierung der Sozialen Arbeit
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beitragen oder ob sie nicht die Tendenz verstärken, dass ihre Absolvent/-innen sich nach dem Abschluss von ihrer Herkunftsprofession abgrenzen und entfernen, weil sie sich dann eher als Gerontolog/-innen definieren.
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Weiterbildungen für die Arbeit mit älteren und alten Menschen
Berufsbegleitende Weiterbildungen haben in der Sozialen Arbeit schon immer eine bedeutende Rolle gespielt, vor allem wenn sie für spezialisierte Arbeitsfelder, die auch unabhängiger von den großen Anstellungsträgern machen, die notwendigen Qualifikationen vermitteln (z. B. Familientherapie, Mediation, rechtliche Betreuung). Dies trifft auch für den Bereich der Sozialen Arbeit mit älteren und alten Menschen zu. Nachgefragt werden Weiterbildungsinhalte, die potenziell eigenständige Arbeitsfelder eröffnen oder für Leitungsaufgaben qualifizieren. Ein Beispiel ist der wachsende Bereich des Case- und Care-Managements (vgl. Wendt i. d. B.), der unter anderem im Zusammenhang mit Pflegeberatung und Quartiersarbeit eine besondere Relevanz bekommt. Gefragt sind auch Weiterbildungsinhalte, die Leitungskompetenzen vermitteln, beispielsweise im Sozialmanagement. Eher weniger nachgefragt werden solche, die alterstheoretische Inhalte vermitteln, zum Beispiel für den Bereich der offenen Altenarbeit. Spürbar wird insgesamt, dass die Weiterbildungseuphorie der 1990er Jahre, die vor allem das aktive Alter im Blick hatte, deutlich abebbt – auch weil die Entwicklung der qualifizierten Arbeitsfelder in der Sozialen Altenarbeit, mit dem sich vollziehenden strukturellen Wandel nicht Schritt hält. Hier schließt sich der Bogen zu den am Anfang gemachten Ausführungen (vgl. Abschnitt 1). Die finanzielle Ausstattung der Altenarbeit ist – wie schon ausgeführt – vorrangig eine kommunale Aufgabe, dort überwiegend im Bereich der freiwilligen sozialen Leistungen verortet und damit ein Spiegel der jeweiligen Haushaltslage. Dies schafft keine verlässlichen und nachhaltig wirksamen Strukturen, obwohl die Bedarfe offenkundig sind. Vielmehr bewirkt dieser Umstand, dass das Feld der Sozialen Arbeit mit älteren und alten Menschen eher ein Tummelplatz für Modellprojekte geworden ist, die jeweils wichtige Entwicklungen anstoßen, deren Nachhaltigkeit aber an der fehlenden nachfolgenden Regelfinanzierung scheitert. Das beeinflusst ganz maßgeblich auch das Verhalten der Nutzer/-innen im Weiterbildungsbereich. Nachgefragt wird dort, heute viel stärker als noch vor zehn Jahren, was unmittelbar beschäftigungsrelevant ist, auch weil die Unterstützung und finanzielle Förderung berufsbegleitender Qualifizierungen durch die Arbeitgeber deutlich zurückgegangen ist. Weiterbildungsträger bekommen das insgesamt deutlich zu spüren. Ein anderer Aspekt ist im Bereich der Weiterbildung in der Sozialen Altenarbeit die inzwischen sehr kritisch hinterfragte Wirkung fachlicher Weiterqualifizierungen einzelner Mitarbeiter/-innen auf die Gesamtqualität der Arbeit in Einrichtungen und
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Cornelia Kricheldorff
Verbänden. Eher schwierig bewertet wird das Angebot bestehender Weiterbildungen erfahrungsgemäß, •• wenn die Teilnehmenden nach einer Weiterbildungseinheit in die Realität ihrer jeweiligen Fachpraxis zurückkehren und dort frustriert feststellen, dass ihre mitgebrachte hohe Motivation in Bezug auf Veränderung oder Verbesserung angesichts deutlich wahrnehmbarer Grenzen bei Kolleg/-innen und Institution verblasst, •• wenn klar wird, dass die vermittelten Weiterbildungsinhalte nur bedingt auf die Realität in der eigenen Berufspraxis übertragbar sind, •• wenn Aufwand und Nutzen der Weiterqualifizierungen offenkundig in keinem Verhältnis stehen. Dann werden andere und effizientere Wege gesucht. Eine Alternative sind sog. Inhouse-Schulungen – eine Form, die ganz dicht an den Erfordernissen der jeweiligen Stelle oder Einrichtungen deren spezifische Fragestellungen in den Blick nimmt. Ihre besondere Chance liegt darin, dass alle an einem Arbeitsprozess Beteiligten gleichzeitig angesprochen werden und dass damit strukturelle Veränderungen wahrscheinlicher werden. Kritisch zu bewerten ist, dass die Effizienzorientierung auch zur Falle werden kann, weil wichtige Impulse von außen verloren gehen. Weiterbildung ist dann auch mit der Gefahr verbunden, dass sie nur noch nach einem Aufwand-Nutzen-Kalkül erfolgt und damit kreative Potenziale einzelner Mitarbeiter/-innen verkümmern könnten. Denn: Zur Entwicklung neuer Ideen und Konzepte braucht es oft auch Freiräume und einen gewissen Abstand zu täglichen Arbeitsroutinen. Eine andere Option, die zunehmend an Bedeutung gewinnt, sind akkreditierte wissenschaftliche Weiterbildungen, die aktuelle Impulse und Bedarfe aus der Fachpraxis aufgreifen und in Verbundsystemen zu formal weiterqualifizierenden Abschlüssen zusammenführen. Ein Beispiel dafür ist der Weiterbildungsverbund Zukunft Alter, der perspektivisch die Option für einen Master Angewandte Gerontologie eröffnet (Müller et al. 2018). Er wird im Rahmen der Förderlinie Auf- und Ausbau von Strukturen der wissenschaftlichen Weiterbildung an Hochschulen in Baden-Württemberg aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) sowie aus Mitteln des Landes BadenWürttemberg finanziert. Im ersten Schritt zunächst ausgehend von der Katholischen Hochschule Freiburg, der Hochschule Mannheim und der Katholischen Stiftungshochschule in München weitet sich das Konstrukt mittlerweile auch auf das Saarland und Berlin aus. Dahinter steht die Idee, über ein Baukastensystem verschiedene CAS – Certificates of Advanced Studies – zu erwerben und durch die Verzahnung von beruflicher und akademischer Weiterbildung die wissenschaftliche Qualifika tion in der Gerontologie weiterzuentwickeln. Dabei geht es darum, passgenau und an der jeweiligen Lebenssituation orientiert, neue Wege aufzuzeigen, wie berufliche und hochschulische Bildung in Anrechnung und Anerkennung durchlässiger aufeinander abgestimmt werden könnten. Flexible Modelle im lebenslangen Lernen bilden die
Ausbildung und Weiterbildung von Fachkräften Sozialer (Alten-)Arbeit
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Kernelemente des Projekts. So können die Teilnehmenden eine individuell passende wissenschaftliche Weiterbildung wählen und erst später entscheiden, ob sie das mit einem Masterabschluss verbinden möchten. Auf diese Weise soll eine Weiterqualifizierung von Fachkräften bzw. eines wissenschaftlichen Nachwuchses in der Sozialen Altenarbeit und in angrenzenden Feldern der Altenhilfe und Pflege, vor allem aus der Praxis kommend, gezielt gefördert werden (Müller et al. 2018). Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass am Thema des Älterwerdens vor allem erfahrenere Kräfte aus der Praxis interessiert sind. Sie suchen konkret nach berufsbegleitenden Weiterbildungen. Grundständige Studiengänge der Gerontologie haben es hingegen noch immer schwer, weil in ihnen bisher kaum vorhandene Kompetenzen und andere erbrachte Leistungen anerkannt werden und eine Kumulation von Weiterbildungen im Bereich der Gerontologie nicht möglich ist. Insgesamt kann festgestellt werden, dass der Weiterbildungsbereich als Markt an Hochschulen an Rele vanz gewinnt und diese sich zunehmend diesen neuen Modellen öffnen müssen. Dabei sind Hochschulen für Angewandte Wissenschaften im Vorteil, weil sie schon immer vielfältig mit der Praxis kooperieren und verzahnt sind.
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Ausblick
Der Bereich der Aus- und Weiterbildung für die Soziale Arbeit mit älteren und alten Menschen befindet sich mehr denn je im Umbruch, Hochschulen und Weiterbildungsträger müssen sich neu positionieren. Langjährige Aufbaustudiengänge, die ein entsprechendes Profil der Sozialen Gerontologie entwickelt und vermittelt hatten, wurden im Zuge des Bologna-Prozesses aufgelöst oder sind in die neuen Bachelorstudiengänge integriert worden, wo sie aber kaum noch sichtbar sind. Gleichzeitig vollzieht sich eine starke Ausweitung auf neue Handlungsfelder und die Zunahme des Anteils älterer Adressat/-innen in der Sozialen Arbeit insgesamt, die auch solche Arbeitsbereiche erfasst, die auf den ersten Blick mit dem Thema Alter wenig zu tun haben. So entsteht die paradoxe Situation, dass die Absolvent/-innen der grundständigen Studiengänge zunehmend mit einer Berufsrealität konfrontiert werden, für die sie in Bezug auf alterstheoretische Fundierungen und einschlägige methodische Grundlagen wenig vorbereitet wurden. Im Bereich der spezialisierten Masterstudiengänge machen sich Unsicherheiten deutlich bemerkbar, die aus noch nicht erfolgten Festlegungen der Anstellungsträger resultieren. Status und Besoldung von Masterabsolvent/-innen sind nach wie vor unklar, entsprechende Stellen fehlen noch weitgehend in der Fachpraxis. Das zeigt Wirkungen auf die Motivation für ein weiterqualifizierendes und spezialisierendes Studium. Die Bewerbungszahlen in den einschlägigen gerontologischen Masterangeboten sind noch immer sehr überschaubar. Die Ökonomisierung der Sozialen Arbeit insgesamt und die Orientierung an Effizienz verändern das Nachfrageverhalten im Bereich der Weiterbildung. Gefragt ist
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und geschult wird, was unmittelbar gebraucht wird. Innovationen kommen aus Modellprogrammen und Förderprojekten, deren Nachhaltigkeit nur selten gesichert ist. Grund zur Resignation ? Die kurze Analyse der Bedingungen und Anforderungen in der Praxis der Sozialen Arbeit insgesamt und speziell in der Arbeit mit älteren und alten Menschen zeigt deutlich, dass zunehmend gerontologische Expertise gebraucht wird. Es muss also künftig verstärkt darum gehen, schon in den grundständigen Bachelorstudiengängen entsprechende gerontologische Inhalte und Fragestellungen in obligatorischen Bereichen stärker zu verankern. Es wird weiter darum gehen, die Optionen zu schärfen, die mit einem spezialisierten Masterabschluss verbunden sind, und im weiterqualifizierenden Bereich über neue Bildungsformen und -settings verstärkt nachzudenken. Eine wirklich neue und zukunftsweisende Perspektive, vor allem auch für berufserfahrene Personen aus der Fachpraxis, bieten die wissenschaftlichen Weiterbildungen, die im Verbund den Weg auch in formal weiterqualifizierende Abschlüsse leichter ermöglichen.
Ausgewählte Literatur DGSA. Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit. 2016 [2005]. Kerncurriculum Soziale Arbeit. Eine Positionierung der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit. https://www.dgsa.de/fileadmin/Dokumente/Aktuelles/DGSA_Kerncurriculum_final.pdf. Zugegriffen: 05. August 2019. Müller, Marion, Ines Himmelsbach und Cornelia Kricheldorff. 2018. Altern in Sozialraum und Quartier – Facetten der Quartiersarbeit und Entwicklung einer wissenschaftlichen Weiterbildung als Antwort auf aktuelle Herausforderungen im Sozialraum. In Sozialraum.de 10 (1). https://www.sozialraum.de/altern-in-sozialraum-und-quartier.php. Zugegriffen: 5. August 2019. Schäfer, Peter, und Ulrich Bartosch. 2016. Qualifikationsrahmen Soziale Arbeit (QR SArb). Version 6.0. Verabschiedet vom Fachbereichstag Soziale Arbeit am 08. Juni 2016 in Würzburg. http:// www.fbts.de/fileadmin/fbts/QR_SozArb_Version_6.0.pdf. Zugegriffen: 29. Juli 2019.
Soziale Arbeit für ältere Menschen in Österreich Johannes Pflegerl und Angelika Neuer
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Demografische und sozialstrukturelle Entwicklungstrends
In den vergangenen Jahrzehnten ist der Anteil der älteren Menschen in Österreich kontinuierlich angestiegen und wird – Bevölkerungsprognosen von Statistik Austria zufolge (Statistik Austria 2018a) – auch in den nächsten Jahrzehnten weiter ansteigen. Folgt man etwa der von Kytir (2008, S. 45) im Bericht zur Hochaltrigkeit in Österreich vorgenommenen Einteilung zwischen alten Menschen (65 – 79 Jahre) und betagten Menschen (über 80 Jahre) so zeigt sich für 2018 das in Abbildung 1 dargestellte Bild.
Abbildung 1 Anteil der Altersgruppen an der Bevölkerung 1961 – 2018 – 2080 100,0 90,0
1,8 % 10,5 %
4,9 %
13 %
13,7 %
80,0
16 %
70,0 60,0
57,9 % 61,8 %
50,0
52,2 %
40,0 30,0 20,0 10,0 0,0
29,8 %
1961 0–19 Jahre
20–64 Jahre
19,5 %
18,8 %
2018
2080
65–79 Jahre
80+ Jahre
Quelle: Eigene Darstellung nach Statistik Austria 2018a, 2018b ©
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_6
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Johannes Pflegerl und Angelika Neuer
Während der Anteil der über 65-Jährigen im Jahr 1961 bei 12,3 % lag, sind es 2018 bereits 18,6 %. Bis 2080 wird diese Altersgruppe über 29 % der Bevölkerung ausmachen. Mehr als verdoppelt hat sich der Anteil der über 80-Jährigen. Von 1,8 % 1961 ist dieser bis 2018 auf 4,9 % angestiegen und wird laut Prognose von Statistik Austria bis zum Jahr 2080 auf 13 % der Gesamtbevölkerung (Statistik Austria 2018a) weiter zunehmen. Die Darstellung dieser demografischen Entwicklungstrends hinterlässt in der breiten Öffentlichkeit oftmals den Eindruck, dass aufgrund der sich ändernden Altersstruktur unweigerlich ein kaum zu bewältigendes Krisenszenario entstehen wird. Übersehen wird dabei, dass in Österreich, so wie in anderen Ländern, mehr ältere Menschen als jemals zuvor bis ins hohe Alter ein autonomes Leben in Gesundheit führen. So konnte für Österreich der Nachweis erbracht werden, dass zwischen 1978 und 2014 nicht nur die Lebenserwartung der über 65-Jährigen, sondern auch die Lebenserwartung in Gesundheit bei dieser Altersgruppe gestiegen ist, wie Abbildung 2 verdeutlicht (Famira-Mühlberger 2017, S. 18; vgl. auch die Beiträge von Franzkowiak und Homfeldt i. d. B.). Aufgrund dieser Entwicklungen wird zunehmend über eine Gesellschaft des langen Lebens oder der Langlebigkeit gesprochen (Stosberg 2003; Lehr 2011). Insgesamt ist die Gruppe der älteren und alten Menschen durch große Diversität bezüglich Gesundheit wie auch Lebensführung charakterisiert. In den letzten Lebensjahren allerdings sind viele Hochaltrige mit stärkeren gesundheitlichen Beeinträchtigungen kon-
Abbildung 2 Entwicklung Lebenserwartung und Alter in guter Gesundheit bei Frauen und Männern 65+ 90 86,5
85 80,9
83,2
77,5
76,4 76,3
Alter
80
75 69,1
70
68,6 65 1978
2014
Lebenserwartung Frauen 65+
Lebenserwartung Männer 65+
Alter in guter Gesundheit Frauen 65+
Alter in guter Gesundheit Männer 65+
Quelle: Eigene Darstellung nach Famira-Mühlberger 2017, S. 18 ©
Soziale Arbeit für ältere Menschen in Österreich
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frontiert und haben einen erhöhten Pflegebedarf (Famira-Mühlberger 2017, S. 22). Über 80 % der Bezieher/-innen von Pflegegeld (zu den rechtlichen Bestimmungen siehe Abschnitt 2 des vorliegenden Beitrags) werden nach wie vor zu Hause betreut. 53 % der Pflegegeldbezieher/-innen erhalten nur informelle Unterstützung und keine professionellen Hilfen, 29 % werden auch durch mobile Pflegedienste und 2 % durch 24-Stunden-Betreuer/-innen unterstützt. Nur 16 % der pflegebedürftigen Menschen leben in stationären Einrichtungen. Die Hauptbetreuungspersonen der informellen Pflege zu Hause sind nach wie vor mehrheitlich weiblich (73 % Frauen, 27 % Männer) (ebd., S. 15 f.). Als sichtbare Tendenz zeigt sich jedoch mittlerweile ein starker Rückgang der Anzahl von Frauen, die Pflegeleistungen übernehmen können. Durch eine weiter steigende Erwerbsbeteiligung von Frauen und das gesetzlich für sie nun geltende höhere Pensionsantrittsalter wird sich dieser Trend zukünftig noch verstärken (ebd.). Dazu kommt, dass die Zahl der alleinlebenden Menschen, insbesondere der alleinlebenden Frauen mit höherem Alter stark ansteigt. Von besonderer Relevanz ist dabei die steigende Gefahr, in soziale Isolation zu geraten (Statistik Austria 2018c). Ältere alleinstehende Frauen sind tendenziell auch stärker von Armut betroffen (Statistik Austria 2017). Eine zusätzliche Gruppe von älteren, zunehmend betreuungsbedürftigen Menschen sind Migrant/-innen. Kehrten in den vergangenen Jahrzehnten viele im Alter in ihr Herkunftsland zurück, so lässt sich gegenwärtig ein Anstieg älterer Migrant/-innen beobachten, die in Österreich bleiben. Daraus ergibt sich die Herausforderung, ihren Bedürfnissen entsprechende Betreuungsangebote zu schaffen. Hier steht Österreich erst am Anfang (Reinprecht und Rossbacher 2016).
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Gesetzliche Grundlagen für die Betreuung und Pflege von alten Menschen
Das österreichische Sozialsystem stellt gesetzlich festgelegte finanzielle Mittel sowie, je nach Bundesland, verschiedenartige Beratungs- und Dienstleistungsangebote zur Verfügung, um die Risiken des Alters abzufedern. Ziel der Sozialpolitik und des Gesetzgebers ist es, dass durch finanzielle Mindestsicherung, Beratung und Dienstleistungen der Bedarf an Pflege und Betreuung für alle gedeckt ist und Teilhabechancen gewährleistet bzw. verbessert werden. Dafür sollen die jeweils bedarfsgerechten Hilfen angeboten werden. Vergleichbare Gesetze wie etwa der sog. Altenhilfeparagraf (§ 71 SBG XII) in Deutschland oder das Gesetz zur gesellschaftlichen Unterstützung in den Niederlanden, das einen Rahmen für die gesellschaftliche Entwicklung älterer Bürger/-innen vorgibt, existieren in Österreich nicht. Primäre Grundlage der existentiellen Absicherung für ältere (bzw. arbeitsunfähige) Menschen ist das Pensionssystem. Die Mindestpension beträgt 966,65 € für eine einzelne Person und 1 472,00 € für Ehepaare/Lebenspartnerschaften (14× jähr-
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Johannes Pflegerl und Angelika Neuer
lich, Stand 2020). Ist der erworbene Pensionsanspruch geringer, erhält man eine sog. Ausgleichszulage. Mit 01. 01. 2017 wurde die Ausgleichszulage für Alleinstehende, die mehr als 30 Jahre gearbeitet und dafür Sozialversicherungsbeiträge bezahlt haben, auf 1 000 € angehoben (1 080 € im Jahr 2020; vgl. Bundesministerium für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort 2020). Eine staatliche Pflegeversicherung existiert in Österreich bislang noch nicht, wird aber seit über zehn Jahren immer wieder diskutiert. Allerdings wird bei einem Pflege- und Betreuungsbedarf ab einer voraussichtlichen Dauer von sechs Monaten auf Grundlage des Bundespflegegeldgesetzes finanzielle Unterstützung (ggf. auch in Form von Sachleistungen) gewährleistet. Das Pflegegeld ist als finanzieller Zuschuss konzipiert, um sich adäquate Unterstützung von individuell gewählten Anbietern oder auch privat leisten zu können. In den ersten 25 Jahren nach Einführung 1995 wurde es allerdings nur fünfmal erhöht. Das ergab, inflationsbereinigt, einen Wertverlust von 35 %. Ab 2020 wird das Pflegegeld nun jährlich im Wert angepasst und valorisiert. Zuständig für die Beantragung und Auszahlung des Pflegegeldes ist die jeweilige Pensionsversicherungsanstalt. Das Pflegegeld ist je nach Schweregrad des Pflege- und Betreuungsbedarfes in sieben Stufen gegliedert. Unter „Betreuung“ werden hier hauswirtschaftliche Leistungen und Mobilitätshilfen im engeren und weiteren Sinn verstanden, die primär von Heimhilfen oder in stationären Einrichtungen als Teil der Pflege erbracht werden. Für besonders belastete pflegende Angehörige ist in Form eines gesetzlichen Anspruches das sog. Angehörigengespräch im Pflegegeldgesetz vorgesehen. Es kann von Sozialarbeiter/-innen oder Psycholog/-innen durchgeführt werden (Qualitätssicherung in der häuslichen Pflege). Es soll Information und Entlastung bieten und dadurch weiterführende Entscheidungen erleichtern, wie Pflege und Betreuung besser gestaltet werden können. Laut Sozialministerium wird dieses Angebot zunehmend genutzt (Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz 2017, S. 19 ff.). Darüber hinaus haben pflegende Angehörige unter bestimmten Voraussetzungen einen gesetzlich geregelten Anspruch auf finanzielle Unterstützung bzw. finanzierte Zeit für Pflege und Betreuung (Pflegekarenz). Aus den Budgets der Sozialhilfe werden für alte Menschen sowie für Menschen mit Behinderungen, die in stationären oder teilstationären Einrichtungen leben bzw. ambulante Dienste in Anspruch nehmen, Zuschüsse bereitgestellt, wenn das eigene Einkommen inkl. Pflegegeld nicht ausreicht, um für alle Bürger/-innen, unabhängig vom Einkommen bedarfsgerechte Pflege und Betreuung sicherzustellen. In stationären Einrichtungen beispielsweise werden grundsätzlich maximal 80 % des Nettoeinkommens und ein Großteil des Pflegegeldes herangezogen. Der jeweilige Bedarf, ob eine stationäre, teilstationäre oder ambulante Leistung erforderlich ist, wird individuell durch ein standardisiertes Begutachtungsverfahren festgestellt. Die Sozialhilfegesetze, die dabei angewandt werden, fallen in die Kompetenz der Bundesländer und beinhalten, abgesehen von einigen Grundlagen, durchaus unterschiedliche Regelungen und Richtsätze. Somit sind die Förderleistungen und An-
Soziale Arbeit für ältere Menschen in Österreich
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gebote von Pflege und Betreuung unterschiedlich und nicht bundesweit qualitativ standardisiert. In den meisten Bundesländern ist eine stationäre Pflege und Betreuung erst ab einer Pflegegeldstufe 3 oder 4 möglich, in Wien schon bei niedrigerer Pflegegeldstufe. 2017 wurde der sog. Pflegeregress abgeschafft, d. h. dass für Pflege- und Betreuungsleistungen in stationären Einrichtungen nicht mehr eigenes Vermögen (Ersparnisse, Liegenschaften) oder das der Kinder herangezogen wird. Seitdem ist die Nachfrage nach stationären Pflegeplätzen, laut Medienberichten, sprunghaft angestiegen (etwa ORF.at 2018). Die budgetären Zusatzbelastungen, die dadurch in den Bundesländern entstanden sind, wurden bislang vom Bund nicht ausreichend ausgeglichen und es steht zu befürchten, dass sich damit die Qualität der Pflege und Betreuung unter dem zusätzlichen wirtschaftlichen Druck noch verschlechtert (vgl. etwa Trend 2018). Schon bisher besteht, ähnlich wie in Deutschland, ein großes Manko an Pflege kräften, nicht nur im stationären, sondern auch im ambulanten Bereich (FamiraMühlberger 2017). Im Jahr 2008 wurde vor diesem Hintergrund die 24-Stunden-Betreuung in Österreich als Personenbetreuungsgewerbe legalisiert. Es sind seitdem zahlreiche Agenturen entstanden, die Betreuer/-innen großteils aus osteuropäischen Ländern vermitteln und die Qualität der geleisteten Arbeit wie auch die Arbeitsbedingungen überprüfen sollen. Jedoch ist die Qualitätssicherung häufig unzureichend und die Arbeitsbedingungen der Betreuer/-innen sind trotz der Legalisierung mitunter prekär. Zudem fehlt das Sorgepotenzial zunehmend in den Herkunftsländern der Betreuer/-innen (Care Drain). Bedeutsam für die Betreuung und Pflege alter Menschen ist auch das neue Erwachsenenschutzgesetz (seit 01. 07. 2018), mit dem Österreich eine von der EU geforderte Neugestaltung des Sachwalterrechts umgesetzt hat, um die gesetzlichen Grundlagen entsprechend den Zielen der Menschenrechtskonvention für Menschen mit Behinderungen zu gestalten. Im Vordergrund steht ein Paradigmenwechsel: „Unterstützung vor Vertretung“. Somit wird bei Entscheidungen im Bereich finanzieller, behördlicher, medizinischer und persönlicher Angelegenheiten sowie bei Fragen zur Wahl des Wohnortes und der Betreuungsart mehr Entscheidungsspielraum der Betroffenen eröffnet. Mit einer Erwachsenenvertretung geht nun auch nicht mehr automatisch die Geschäftsfähigkeit verloren, wie das bisher bei einer Sachwalterschaft der Fall war. Darüber hinaus wurde 2015 speziell für Menschen mit demenziellen Erkrankungen die „Demenzstrategie Österreich“ erarbeitet. Diese sieht sieben Wirkungsziele und dazu 21 Handlungsempfehlungen für die Begleitung und Betreuung dieser Gruppe von Menschen vor. In einigen Bundesländern wurde diese Strategie bereits für den jeweiligen lokalen Kontext konkretisiert und es wurden eigene spezifische Angebote zur Verbesserung der Betreuung von an Demenz erkrankten Personen und deren Angehörigen geschaffen (Juraszovich et al. 2015). Zusammenfassend betrachtet besteht in Österreich eine Palette von gesetzlichen Grundlagen, die monetäre Problemlagen abfedern und alte Menschen und deren Angehörige in ihrer Lebenssituation unterstützen. Der Schwerpunkt liegt dabei aller-
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Johannes Pflegerl und Angelika Neuer
dings stark auf der Pflegebedürftigkeit und sieht wenig (präventive) Maßnahmen vor, wie etwa Beratungsangebote, die das gesamte Lebensumfeld einbinden.
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Angebote Sozialer Altenarbeit in Österreich
An dem von Kittl-Satran und Simon bereits 2010 formulierten Befund, dass Soziale Arbeit mit älteren Menschen einen komplexen Gegenstandsbereich bezeichnet, für den es in Österreich kein einheitliches und breit akzeptiertes Verständnis gibt, hat sich noch wenig geändert (Kittl-Satran und Simon 2010, S. 225). Soziale Altenarbeit umfasst grundsätzlich ein Spektrum von offener Altenarbeit mit Menschen, die weitgehend keinen Betreuungs- und Unterstützungsbedarf haben, bis hin zur Arbeit mit Betreuungs- und Pflegebedürftigen. Für Österreich gibt es bislang allerdings keinen Gesamtüberblick, wie viele professionelle Sozialarbeiter/-innen in den genannten Feldern der offenen Altenarbeit tätig sind. Es fehlen auch Standards zu den Aufgaben, die sie hierbei übernehmen. Gleichwohl lassen sich Arbeitsbereiche skizzieren: Verwirklicht wird offene Altenarbeit in Österreich auch durch die Förderung des freiwilligen und bürgerschaftlichen Engagements von älteren Menschen im Bildungs-, Kultur- und Sozialbereich (Spitzer 2010, S. 108). Dazu zählen auch die breiten Felder der Freizeitgestaltung sowie Bildungs- und Begegnungsangebote für Senior/-innen (Wolf 2011, S. 43), wie etwa Pensionisten-Klubs und Volkshochschulen, die von der öffentlichen Hand, von Seniorenverbänden oder kirchlichen Einrichtungen angeboten werden. Fachkräfte der Sozialen Arbeit sind in diesem Bereich allerdings kaum tätig, sondern meist andere, wesentlich geringer ausgebildete Berufsgruppen. Ein weiterer wichtiger Bereich ist die Arbeit mit Senior/-innen in Altentagesstätten, in denen es u. a. um den Erhalt und die Förderung sozialer Kontakte von älteren Menschen geht, die bereits tagesstrukturierende Angebote benötigen. Hier sind auch Sozialarbeiter/-innen beschäftigt. Im Bereich der stationären Altenhilfe ist zunächst die Krankenhaussozialarbeit im Bereich des Entlassungsmanagements zu nennen, die ihr Angebot auch an ältere Patient/-innen richtet, die soziale und persönliche Unterstützung bei der Bewältigung von Krankheitsfolgen benötigen. Sozialarbeiter/-innen sind in Österreich, wenn auch nicht flächendeckend, in Krankenhäusern als Teil eines interdisziplinären Teams eingesetzt (Schobermaier 2018). Primär findet stationäre Altenhilfe jedoch in Alten- und Pflegeheimen statt. Nur wenige solcher Einrichtungen haben bisher Sozialarbeiter/-innen als fixe Berufsgruppe im interdisziplinären Team eingestellt. Zu den wenigen Ausnahmen zählt etwa das Kuratorium Wiener Pensionisten-Wohnhäuser mit rd. 9000 Wohn- und Pflegeplätzen in 30 Häusern. Pro Pensionisten-Wohnhaus wird je nach Größe ein bestimmtes Stundenkontingent an professioneller Sozialer Arbeit zur Verfügung gestellt: Bei Wohnhäusern bis 280 Plätzen 20 Stunden pro Woche, bei Wohnhäusern mit mehr als 280 Plätzen 25 Stunden pro Woche (zu den Aufgaben vgl. Abschnitt 4 des vorliegenden Beitrags).
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Nur sporadisch vertreten sind Sozialarbeiter/-innen in Österreich auch in der teilstationären Altenhilfe, etwa in Tageseinrichtungen und in der Kurzzeitpflege oder in der mobilen Altenhilfe. Hier sind weit überwiegend Fachkräfte aus dem Berufsfeld der Pflege tätig. Eine Ausnahme bildet der Bereich der Palliativversorgung. In diesem existiert eine spezifische Stellenbeschreibung für Sozialarbeiter/-innen, die – wenn auch nicht flächendeckend – als Teil eines interdisziplinären Betreuungsteams, bestehend aus Mediziner/-innen und diplomierten Pflegekräften, tätig sind (Hospiz Österreich 2002). Dass Soziale Arbeit mit älteren und alten Menschen in Österreich nach wie vor eine marginale Stellung einnimmt, begründet Spitzer (2010, S. 94 f.) mit der historisch bedingten Ausrichtung Sozialer Arbeit auf Problemlagen in der Sozialisation, den Lebenslagen und den biografischen Konflikten in Kindheit und Jugend. Erst später kam es zu einer Ausweitung Sozialer Arbeit für Erwachsene im Erwerbsalter. Eine Auseinandersetzung mit Fragen des Alterns blieb hingegen lange Zeit völlig aus dem Handlungs- und Forschungsinteresse der Sozialen Arbeit ausgeblendet. Auch sozialpädagogische Konzepte in der Altenhilfe und Altenarbeit in Österreich spielen nach wie vor nur eine geringfügige Rolle (vgl. insgesamt auch Knapp und Spitzer 2010 bzw. Kolland und Fibich 2014).
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Aufgaben Sozialer Arbeit mit älteren Menschen
In einer Gesellschaft der Langlebigkeit sind alte Menschen in jedem Arbeitsbereich der Sozialen Arbeit als Klient/-innen und/oder Angehörige anzutreffen. In den Ausbildungscurricula der Sozialen Arbeit an den Fachhochschulen in Österreich bildet sich diese Tatsache bisher noch nicht überall ab. An manchen Fachhochschulen ist Soziale Altenarbeit verpflichtend vorgesehen, an anderen wird es nur als Wahlpflichtfach oder Querschnittsthema angeboten. Derzeit ist professionelle Soziale Arbeit für alte Menschen in Österreich, dort wo es sie gibt, in interprofessionellen Teams als Beratungs- und Unterstützungsangebot zur Gestaltung von Lebensübergängen und Abfederung von Exklusionsrisiken eingesetzt. Überblicksartig betrachtet umfasst sie folgende Aufgaben: •• Beratung und Unterstützung zur Existenz- und Zugangssicherung zu sozialen Zuschüssen und altersspezifischen Hilfsangeboten •• Information und Beratung zu rechtlicher Vertretung (Erwachsenenschutz) sowie Maßnahmen zu deren Verhinderung •• Beratung und Begleitung bei der Lebensplanung/-gestaltung, speziell an Lebensübergängen, z. B.: Heimaufnahme, Information zu Angeboten der Region und Entscheidungsfindung für passgenaue Betreuungsformen •• Aufsuchende Soziale Arbeit mit älteren Menschen in prekären Wohn- und Betreuungssituationen oder wenn erforderliche Hilfen abgelehnt werden
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•• Psychosoziale Unterstützung und Krisenintervention •• Angehörigenarbeit bzw. Arbeit mit dem sozialen Umfeld •• Schutz vor Gewalt und Diskriminierung – insbesondere für Menschen mit demenziellen Erkrankungen •• Netzwerkarbeit/Case Management •• Leitung bzw. Mitarbeit bei Projekten für alternative Alterswohnformen und Betreuungsangebote im Gemeinwesen •• Mitarbeit in Palliativteams (ambulant und stationär)
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Zusammenfassung und Ausblick
Soziale Arbeit als personenbezogene soziale Dienstleistung mit einem besonderen, generalistischen und präventiven Blick auf soziale Problemlagen hat grundsätzlich ein hohes fachliches Potenzial, um im Kontext der sich durch den Altersstrukturwandel ergebenden gesellschaftlichen, sozialen und individuellen Auswirkungen verstärkt tätig zu sein. Besonders im ländlichen Raum ist diese in Österreich noch kaum vorhanden. Aufgrund der beschriebenen Entwicklungen zu einer Gesellschaft der Langlebigkeit sowie der Entstehung neuer gesetzlicher Grundlagen, wie etwa dem Erwachsenenschutzgesetz, welche Selbstbestimmung und Unterstützung von älteren Menschen in den Vordergrund stellen, ergeben sich auch in Österreich neue Chancen für eine vermehrte Nachfrage nach den Kompetenzen von Sozialer Arbeit in diesem Bereich. Sowohl bei präventiven Beratungsangeboten sowie in der Entwicklung alternativer Wohn- und Betreuungsformen könnte Soziale Arbeit in Österreich in den nächsten Jahren verstärkt in interdisziplinäre Teams einbezogen werden. Ein zukünftiger Schwerpunkt wird in der Angehörigenbetreuung liegen, um Pflegende zu entlasten und eine passgenaue Mischung aus professioneller, informeller, gegebenenfalls ehrenamtlicher Hilfestellung zu finden. Das gilt in besondere Weise auch für das Thema der Demenz, das in den letzten Jahren aufgrund seiner zunehmenden Verbreitung auch in der Öffentlichkeit breites Interesse gefunden hat. Informationsbroschüren, Initiativen für demenzfreundliche Bezirke, Beratungseinrichtungen, Gruppenbetreuungsangebote, spezielle stationäre Abteilungen und alternative Wohnformen sind entstanden und werden vermehrt benötigt. Ein weiteres Tätigkeitsfeld eröffnet sich für Soziale Arbeit in den österreichweit geplanten multidisziplinär ausgerichteten Primärversorgungszentren zur Verbesserung der medizinischen und sozialen Grundversorgung. Sozialarbeiter/-innen werden hier in einigen der bereits bestehenden Primärversorgungszentren in Oberösterreich und zukünftig auch in Niederösterreich eingesetzt. Diese neuen Schwerpunktfelder professioneller Sozialer Altenarbeit gilt es nun zu besetzen und auch von Seiten der Ausbildung mehr in den Fokus zu rücken. Von den Forschungs- und Ausbildungsstätten für Soziale Arbeit an den Fachhochschulen ge-
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hen in diesem Zusammenhang bereits wichtige Impulse zur Weiterentwicklung der Praxis und Positionierung Sozialer Arbeit in diesem Bereich aus (Pflegerl 2014). Um diese Impulse zu verstärken, hat innerhalb der im Jahre 2013 gegründeten Österreichischen Gesellschaft für Soziale Arbeit (ogsa) eine Arbeitsgemeinschaft „Altern und Soziale Arbeit“ ihre Tätigkeit aufgenommen. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, das Profil der Profession im Bereich der Sozialen Arbeit mit älteren Menschen zu schärfen und Forschungsergebnisse verstärkt nach außen zu vermitteln. 2017 wurde von dieser AG das Positionspapier „Zur Zukunft der Sozialen Altenarbeit in Österreich“ erarbeitet (Arbeitsgemeinschaft Altern und Soziale Arbeit der ogsa 2017). In diesem werden das fachspezifische Kompetenzprofil, das professionelle Handlungsrepertoire sowie gegenwärtige wie auch potenziell zukünftige Praxisfelder Sozialer Arbeit mit älteren und alten Menschen kompakt dargestellt. Während allerdings Pflege- und Betreuungsberufe eigene Berufsgesetze haben (Gesundheits- und Krankenpflegegesetz seit 1996; Sozialbetreuungsberufegesetz 2008) und auch in den Pflegeheimgesetzen der Länder verankert sind, fehlt für die professionelle Soziale Arbeit sowohl immer noch ein eigenes Berufsgesetz als auch eine gesetzliche Verankerung der Berufsgruppe in den Leistungsbereichen von Pflege und Betreuung. Soziale Arbeit hat u. a. dadurch gegenüber Pflegeberufen Nachteile, zu einem integrierten Teil in der interdisziplinären Arbeit mit alten Menschen und ihren Angehörigen zu werden. Zwar wurden in den letzten Jahren in den Ausbildungen der Pflegeberufe vermehrt ganzheitliche Konzepte verankert, die auch die soziale Dimension des Lebens mehr mitberücksichtigen und zur Vermittlung von Methoden wie Biografiearbeit, Angehörigenarbeit und Familienkonfliktbearbeitung geführt haben. Allerdings können die sozialen Aspekte der Altenbetreuung bei weitem nicht befriedigend von den Pflegeberufen alleine abgedeckt werden, da einerseits ein chronischer Pflegekräftemangel besteht und andererseits pflegerische Aufgaben – auch in der Ausbildung – im Vordergrund stehen.
Ausgewählte Literatur Arbeitsgemeinschaft Altern und Soziale Arbeit der ogsa. 2017. Zur Zukunft der Sozialen Altenarbeit in Österreich. Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft Altern und Soziale Arbeit. https:// www.ogsa.at/wp-content/uploads/2018/06/Positionspapier-Broschuere-Altern-und-SozialeArbeit.pdf. Zugegriffen: 03. November 2018. Knapp, Gerald, und Helmut Spitzer. 2010. Altern, Gesellschaft und soziale Arbeit. Lebenslagen und soziale Ungleichheit von alten Menschen in Österreich. Klagenfurt u. a.: Mohorjeva Hermagoras. Spitzer, Helmut. 2010. Soziale Arbeit mit alten Menschen. Theorieperspektiven, Handlungsmodelle und Praxisfelder. In Altern, Gesellschaft und soziale Arbeit. Hrsg. Knapp, Gerald, und Helmut Spitzer, 91 – 122. Klagenfurt u. a.: Mohorjeva Hermagoras.
Soziale Arbeit für ältere Menschen in der Schweiz Klaus R. Schroeter und Carlo Knöpfel
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Einleitung
Die Schweiz gilt in mehrfacher Hinsicht als „Sonderfall“ (Eberle und Imhof 2007), was sich auch im Bereich Sozialer Arbeit mit älteren Menschen – die hier gemeinhin als ‚Altersarbeit‘ bezeichnet wird – und in der Entwicklung der Sozialen Geronto logie niederschlägt. Dieser Sonderfall zeigt sich u. a. darin, dass die Alternsforschung und die Professionalisierung der Altersarbeit im Vergleich mit anderen europäischen Ländern mit einer deutlichen zeitlichen Verzögerung einsetzten. Folgt man der Argumentation Höpflingers (2018, S. 1), dann ist das zum einen auf die im Vergleich zu anderen europäischen Ländern langsamer verlaufende Entwicklung zum Sozial- und Wohlfahrtsstaat, zum anderen aber vor allem auf den dezentralen und föderalistischen Aufbau der Schweiz zurückzuführen. Aufgrund dieser politischen Grundkonstellation liege die Zuständigkeit für Fragen der Alters-, Gesundheits- und Sozialpolitik zumeist bei den Kantonen oder auch direkt bei den Gemeinden, deren „ausgeprägte(s) Autonomiebedürfnis“ (Höpflinger 1999, S. 66) dazu führe, „dass jede Region für analoge Probleme eigene Lösungen entwickelt (ebd.).“ Hinzu komme, dass in der Schweiz viele alters- und sozialpolitische Aufgaben, ‚nebenamtlich‘ bzw. ‚zivilgesellschaftlich‘ ausgeübt werden. Fernerhin hat die Familie nicht nur eine zentrale Bedeutung bei der Hilfe, Betreuung und Pflege älterer Menschen (Perrig-Chiello et al. 2010; Gasser et al. 2015; Pardini 2018a, S. 76 ff.), sondern spielt zugleich auch eine entscheidende Rolle für das Verständnis der Sozialen Altersarbeit. Somit führen das Subsidiaritätsprinzip, der Milizgedanke und der föderalistische Staatsaufbau nach Einschätzung Höpflingers (2018, S. 1) „zu einer politischen Kultur, in der ‚Überschaubarkeit‘ betont wird“, in der „Expertentum und Spezialwissen oft als unnötig, wenn nicht sogar als illegitim und undemokratisch“ erscheinen und „fachliche Professionalisierung und (akademische) © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_7
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Spezialisierung selbst dort verzögert (werden), wo sie sich aufgrund steigender Aufgabenkomplexität aufdrängen.“
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Frühe Formen der Altersversorgung und Alterssicherung in der Schweiz
Wie auch in anderen europäischen Ländern reichen die Anfänge der Sozialen Arbeit in der Schweiz bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, des sog. Anstaltsjahrhunderts zurück, als die ersten Armenerziehungsanstalten und Rettungshäuser als Vorformen späterer spezialisierter Anstalten, entstanden, wie sie sich u. a. in den sukzessive entwickelnden ersten Alters- und Siechenheimen zeigen (Tuggener 1991; Seiler 2004). Mit Übergang von der agrarischen zur industriellen Produktionsweise entstand auch in der Schweiz eine neue Form von Massenarmut (Pauperismus), in deren Folge verschiedene Vereine, Unterstützungskassen und karitative Einrichtungen tätig wurden, um die soziale Not zu mildern. In der Schweiz hatten sich 1810 verschiedene Wohltätigkeitsvereine unter dem Dach der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG) vereinigt (Schumacher 2010). Diese machte sich zunächst vor allem für eine bürgerliche und wirtschaftsliberale Form der Fürsorge stark und nahm eine eher kritische Einstellung gegenüber dem Sozialstaat ein, bis die Folgen der Weltwirtschaftskrise auch die private Wohltätigkeit in der Schweiz erschütterten und die SGG eine allgemeine Alters- und Hinterlassenenversicherung befürwortete. Ende des 19. Jahrhunderts wurden unter den Bedingungen der Massenarmut zudem Forderungen nach Einführung von weiteren Sozialversicherungen erhoben. So wurde denn auch im Zusammenhang mit dem großen ‚Landesstreik‘ von 1918 (Rossfeld et al. 2018) vonseiten der Arbeiterschaft die Einführung einer Alters- und Invalidenversicherung eingefordert. Wenige Jahre später (1925) wurde dem Bund die Befugnis erteilt, eine Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) einzuführen. Die daraufhin ausgearbeitete und vor allem aus konservativen und kirchlichen Kreisen als ‚sozialistisch‘ und ‚marxistisch‘ eingestufte Gesetzesvorlage wurde 1931 in einer Volksabstimmung vom Volk abgelehnt, ehe dann 1948 das Bundesgesetz zur AHV eingeführt und mit zwischenzeitlich 10 Revisionen immer wieder modifiziert wurde (zur Geschichte der AHV vgl. die Synopse des BSV 2018). 1972 entschied sich die Schweiz gegen eine umfassende Volkspension, die von der Partei der Arbeit (PdA) mit einer Initiative gefordert wurde, und für das Drei-Säulen-Prinzip in der Altersvorsorge, das vom Parlament auf Treiben bürgerlicher Kreise als Gegenvorschlag eingebracht worden war. Heute kennt die Schweiz ein komplexes dreisäuliges System der materiellen Altersvorsorge. Zur für alle Bürger/-innen obligatorischen AHV, die nach dem Umlage verfahren organisiert ist (erste Säule), kommt die für die meisten Erwerbstätigen obligatorische berufliche Vorsorge mit ihrem Kapitaldeckungsverfahren (zweite Säule) und die freiwillige und steuerlich privilegierte private Vorsorge (dritte Säule). Wo diese Renteneinkommen zur Existenzsicherung nicht ausreichen, werden zusätzlich
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bundesstaatlich finanzierte Ergänzungsleistungen gewährt (Knöpfel 2018). Der demografische Wandel und die wirtschaftliche Entwicklung setzen das System der Altersvorsorge unter Druck. Der Reformbedarf ist anerkannt, aber dem Bundesrat und dem nationalen Parlament gelingt es kaum noch, mehrheitsfähige Reformvorschläge an die Urne zu bringen. Zu dieser materiellen Existenzsicherung im Alter kommt die Absicherung der anfallenden Gesundheitskosten im Alter, die in der Schweiz nur begrenzt gewährleistet ist. Das Land verfügt über kein umfassendes und eigenständiges Pflegeversicherungsgesetz, welches die Betreuung und Pflege im Alter gesamtschweizerisch regeln würde (für eine detaillierte Übersicht siehe Pardini 2018b, S. 30 ff.; Wächter und Kessler 2019). Vielmehr finden sich an verschiedenen Orten des Sozialversicherungssystems Instrumente, die für die Finanzierung von Betreuung und Pflege im Alter eine Rolle spielen. So kennt die AHV eine sog. Hilflosenentschädigung, die Menschen, die in ihren Aktivitäten des täglichen Lebens eingeschränkt sind, nach einer Karenzfrist von einem Jahr beanspruchen können. Im Krankenversicherungsgesetz wird geregelt, was im Pflegefall von der Krankenkasse übernommen wird. Die konkrete Organisation der Hilfe, Betreuung und Pflege liegt in der Obhut der Kantone. So finden sich in der Schweiz 26 unterschiedliche Gesetzgebungen zum Vollzug und zur Ausführung von Unterstützungsleistungen für ältere hilfs- und pflegebedürftige Menschen. Je nach kantonaler Struktur und Regelung werden der gesamte ambulante und stationäre Pflegebereich oder Teile davon an die Gemeinden delegiert. Sie sind für die Bedarfsplanung und die Versorgung zuständig. Um diesem Auftrag nachzukommen, vergeben sie Leistungsverträge an sog. Spitexorganisationen (spitalexterne ambulante und mobile Pflegeorganisationen) und Alters- und Pflegeheime. Diese Angebote werden durch privatwirtschaftliche Unternehmen der Seniorenwirtschaft ergänzt. Diese decken insbesondere den Bereich der Betreuung im ambulanten Setting ab, weil auf diese Unterstützungsleistungen, wenn sie nicht direkt mit einem Pflegebedarf verknüpft sind, kein Versicherungsschutz besteht und diese Leistungen darum von den Betroffenen selber bezahlt werden müssen (Pardini 2018b, S. 56 f.; Knöpfel 2019).
3
Alterspolitik, Altersarbeit und Soziale Gerontologie in der Schweiz
Die Zuständigkeit für Altersfragen und Alterspolitiken ist in der Schweiz weitgehend in den Verantwortungsbereich der Kantone und Gemeinden gelegt. Diese föderalistische Regelung führte nach Höpflinger (1999, S. 66 f.) dazu, „dass zwar schon sehr früh spezielle Altersinstitutionen, Beratungsdienste und Betreuungseinrichtungen für ältere Menschen entstanden, diese lange Zeit jedoch weitgehend losgelöst von fachlich-wissenschaftlichen Perspektiven arbeiteten“ und sich eine „hoch entwickelte Altersarbeit ohne wissenschaftliche Begleitung bzw. eine Praxis ohne Theorie“ ergab.
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3.1
Alterspolitik
Als leitender Eckpfeiler der Altersarbeit fungiert die Schweizer Alterspolitik, die „zum Ziel [hat], den Beitrag älterer Menschen an die Gesellschaft vermehrt anzuerkennen, für ihr Wohlbefinden zu sorgen und materielle Sicherheit zu gewährleisten. Sie soll Autonomie und Partizipation der älteren Menschen fördern und die Solidarität zwischen den Generationen stärken“ (BSV 2019).
Alterspolitik wird verstanden als „Maßnahmenpaket, das auf den Abbau von Defiziten und die Berücksichtigung der Bedürfnisse älterer Menschen ausgerichtet ist“ (Bundesrat 2007, S. 44). Die zentralen Rahmenbedingungen der schweizerischen (Alters-)Politik sind Föderalismus, Subsidiarität und parastaatliche Politikgestaltung: Das hat zur Folge, dass der Bund zwar in sog. Nationalen Strategien – wie z. B. zur Alterspolitik (Bundesrat 2007), zur Demenz (BAG 2016) oder zu Palliative Care (BAG und GDK 2012) – die entsprechenden Richtlinien vorgibt, die weitere Handhabung jedoch in die Hände von Kantonen, Städten und Gemeinden legt (Martin et al. 2010; Rielle et al. 2010; Stremlow et al. 2018), die – gegebenenfalls mit Unterstützung von und mittels Leistungsverträgen mit NGOs (u. a. Alzheimer Schweiz, Caritas, CURAVIVA, HEKS, Pro Senectute, Spitex, Forum Alter und Migration, SRK) – für die operative Umsetzung zuständig sind. Der Schweizer Bundesrat hat in seiner „Strategie für die Alterspolitik“ (Bundesrat 2007) darauf hingewiesen, dass sich die Alterspolitik „nicht auf die materielle Sicherheit im Alter und die Sozialversicherungen (AHV, BVG, EL und KVG) beschränken sollte, sondern der Aspekt Alter auch in Bereichen wie Verkehr, Raumplanung, Wohnen, Gesundheit, Sicherheit, Kommunikation, Sport und Freizeit einzubeziehen ist“ (ebd., S. 1).
Als potenzielle Handlungsfelder werden die fünf Bereiche 1) Gesundheit und medizinische Versorgung, 2) Wohnsituation und Mobilität, 3) Arbeit und Übergang in den Ruhestand, 4) wirtschaftliche Situation der Altersrentnerinnen und -rentner und 5) Engagement und gesellschaftliche Partizipation genannt (ebd.). Dabei orientiert sich die alterspolitische Strategie der Schweiz a) zum einem an einer ressourcen- und potenzialorientierten Ausrichtung, die auf Partizipation, Engagement, Beitrag sowie auf Autonomie, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung zielt und entsprechende Rahmen, Chancengleichheit und Anreize bzw. Prävention voraussetzt, b) zum anderen an einer bedürfnis- und risikoorientierten Ausrichtung, die auf einen Zugang zum Pflegeangebot und zum Sozialschutz zielt und eine Koordination der Angebote und individualisierte Leistungen voraussetzt.
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Frühe Impulse zur schweizerischen Alterspolitik wurden bereits durch die ersten Eidgenössischen Kommissionen für Altersfragen (1966, 1979, 1995) gesetzt, später dann auch durch die Wohnerhebungen der Age-Stiftung (Höpflinger 2004, 2009; Höpflinger und van Wezemael 2014; Höpflinger et al. 2019) oder durch die Schweizerischen Sozialberichte (Suter et al. 2004, 2008; Bühlmann et al. 2012; Ehrler et al. 2016). Doch anders als in anderen europäischen Ländern, in denen bereits seit längerer Zeit nicht nur regelmäßige Altenberichterstattungen des Bundes vorgelegt, sondern auch kontinuierlich repräsentative Alterssurveys durchgeführt werden (Motel-Klinge biel et al. 2003), fehlt ein solches Instrumentarium in der Schweiz. Ein 2008 unternommener parlamentarischer Vorstoß (Motion) zu Prüfung der Erstellung eines periodischen Alterssurveys in der Schweiz nach dem Vorbild des deutschen Alterssurveys wurde vom Schweizer Bundesrat mit der Begründung zurückgewiesen, dass die bestehenden Personen- und Haushaltsstatistiken bereits wichtige Angaben zu den Lebensbereichen der älteren Bevölkerung liefern und dass „[d]er geforderte AltersSurvey, der sämtliche Aspekte des Alters ab 40 Jahren umfassend und integrativ abdeckt, wie das z. B. in Deutschland der Fall ist, […] mit erheblichen zusätzlichen finanziellen und personellen Ressourcen verbunden [wäre]“ und der Bundesrat „eine zusätzliche Erhebung für nicht angebracht [hält]“ (Bundesversammlung 2019). 3.2
Altersarbeit und Soziale Gerontologie
Auch ohne eine regelmäßige Altenberichterstattung des Bundes verfügen die meisten Schweizer Gemeinden heute über ‚Altersleitbilder‘ und ‚Alterskonzepte‘, die sich an den Erkenntnissen der modernen Alternsforschung orientieren. Die Soziale Arbeit mit älteren und für ältere Menschen wird, wie oben bereits erwähnt, im Schweizer Sprachduktus gemeinhin mit ‚Altersarbeit‘ gefasst. Eine präzise Definition dessen, was im Einzelnen genau darunter zu verstehen ist, existiert nicht. Aber es dürfte ein weitgehend geteiltes Grundverständnis darüber bestehen, dass es sich hierbei um ein spezifisches (Handlungs-)Feld der Sozialen Arbeit handelt (vgl. u. a. Aner und Karl 2008; Aner 2018a; Kühnert und Ignatzi 2019; Meyer 2019), in dem verschiedene Akteure das Wissen und die Methoden der Sozialen Arbeit auf das spezifische Sujet Alter und auf die Lebensverhältnisse älterer Menschen anwenden (speziell zur Pflege und Betreuung vgl. Pardini 2018a). Dabei sind nach schweizerischer Konsenskultur Vernetzung, kooperative Wissensbildung sowie die Zusammenarbeit von Vertreter/-innen aus Forschung, Politik, Praxis und Wirtschaft wesentliche Bestandteile des sich abzeichnenden ‚gerontologischen Feldes‘ in der Schweiz. Dazu zählen auch verschiedene Stiftungen, die im schweizerischen Altersbereich eine wichtige Position einnehmen. Die 1917 gegründete und sich als „Fürsprecherin des Alters“ (Ruoss 2015) verstehende Stiftung für das Alter firmiert seit 1978 unter dem Namen Pro Senectute/Für das Alter. Sah sie sich in ihrer Gründungszeit vor allem der Aufgabe verpflichtet, sich für eine gesetzliche Altersversicherung einzuset-
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zen, verlagerte sich ihr Schwerpunkt mit Einführung der AHV. Sie wurde zu einer allgemeinen Anlaufstelle für verschiedene praxisorientierte Fragen zur Beratung und Dienstleistung rund ums Alter(n) und ist heute die wohl größte Dienstleistungsorganisation für ältere Menschen in der ganzen Schweiz. Stiftungen finanzieren nicht nur konkrete Projekte, sondern geben auch Reporte heraus und unterstützen (vor allem anwendungsbezogene und praxisorientierte) Forschungsprojekte. Eine zentrale Rolle spielt die 2002 gegründete Age-Stiftung, die sich auf das Thema Wohnen und Betreuung konzentriert. Hier werden in der deutschsprachigen Schweiz innovative und zukunftsfähige Projekte gefördert und mit Erfahrungsberichten dokumentiert. Zudem wird seit 2003 alle fünf Jahre ein „Age-Report“ publiziert, der sich mit spezifischen Fragen des Wohnens im Alter wissenschaftlich auseinandersetzt. In den letzten Jahren hat sich auch die Paul-Schiller-Stiftung im Altersbereich vermehrt engagiert. Schwerpunkt hier ist die Betreuung im Alter. Die Stiftung finanziert nicht nur Grundlagenarbeit in dieser Thematik, sondern fördert mit einer entsprechenden Website und Forumsveranstaltungen auch den politischen Dialog. Unter dem Dach von SwissFoundations haben sich an einem „Round Table Alter“ zahlreiche weitere Stiftungen zusammengefunden, um alleine oder gemeinsam Projekte im Altersbereich zu unterstützen. So konnte zum Beispiel ein Konsortium von neun Stiftungen gebildet werden, die eine groß angelegte Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) über Einkommenssituationen bei spezifischen Betreuungs- und Pflegesituationen im Alter finanziert haben (Knöpfel et al. 2019). Fernerhin ist die 2007 gegründete terzStiftung zu nennen, die sich als „Interessenvertreterin für eine moderne Altersvision“ versteht und Projekte und Kampagnen für ein aktives, selbstbestimmtes Leben im Alter lanciert. Die Gerontologie ist eine vergleichsweise junge Disziplin (zur Entstehung der Gerontologie als eigenes Wissenschaftsfeld vgl. Achenbaum 1995, Katz 1996, Ferraro 2018). Seit langem wird heftig über den Status und das Profil der Gerontologie debattiert, was Gerontologie bedeutet, ob sie eine Wissenschaft oder eine Profession sei, ob ihr der Status einer Disziplin zustehe, wie es mit ihrer Professionalisierung stehe, ob sie inter-, multi- oder vielleicht transdisziplinär sei und was ihr eigentlicher Kern sei (vgl. zusammenfassend Künemund und Schroeter 2015; Schroeter 2020). Auch in der Schweiz hat sie aber bereits einige beachtliche Erfolge vorzuweisen (Höpflinger 1999, 2007). Bereits Mitte des vergangenen Jahrhunderts (1953) wurde die Schweizerische Gesellschaft für Gerontologie (SGG) gegründet, die sich jüngst (2019) im Rahmen ihrer Umstrukturierungspläne in Gerontologie CH – Das Netzwerk für Lebensqualität im Alter umbenannt hat und seit 2016 mit der Zeitschrift „Angewandte Gerontologie Appliquée“ auch über ein eigenes Periodicum verfügt. Die ersten Lehrstühle für Geriatrie wurden bereits 1955 in Basel und 1966 in Genf geschaffen. Bis zur Einrichtung eines Lehrstuhls für Gerontopsychologie an der Universität Zürich (2002) sollte jedoch noch fast ein halbes Jahrhundert vergehen. Wesentlich früher entstand mit Kaufmanns Studie „Die Überalterung“ (1960) auch eine erste systematische sozialwissenschaftliche Analyse über Ursachen, Ver-
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lauf, wirtschaftliche und soziale Auswirkungen des demografischen Alterungsprozesses am ‚Schulbeispiel‘ der Schweiz. Weitere Impulse zur Formierung der Sozialen Gerontologie in der Schweiz entstanden im Rahmen verschiedener Nationaler Forschungsprogramme (NFP) und Nationaler Forschungsschwerpunkte (NFS) zum Thema Alter(n): so z. B. das NFP 3 „Probleme der sozialen Integration in der Schweiz“ (Tuggener und Morf-Rohr 1984), das NFP 32 „Alter“ (Höpflinger und Stuckelberger 1999a,b) das NFP 67 „Lebensende“ (Zimmermann et al. 2019) und der NFS LIVES: „Überwindung der Verletzbarkeit im Verlauf des Lebens“. Weitere Meilensteine waren das 1992 in Genf gegründete interdisziplinäre Centre interfacultaire de Gérontolgie (CIG), das 1995 in Lausanne entstandene und vor allem auf die praxisorientierte Gerontologie fokussierende Studienzentrum Unité de recherche et d’interventionen gérontologie (UNIGER), das 1998 gegründete (und 2008 wieder aufgelöste) Universitäre Institut Alter und Generationen/Institut universitaire Ages et Générations (INAG) in Sion/Sitten und das 1998 an der Universität Zürich aufgebaute Zentrum für Gerontologie (ZfG). In Genf wurde mit dem Geneva International Network on Aging (GINA) ein internationales Netzwerk zu Altersfragen aufgebaut (Stuckelberger 1999) und an der Universität St. Gallen werden seit 2002 im Rahmen des World Demographic & Ageing Forum (WDA) die internationalen Zusammenhänge des Alterungsprozesses debattiert. Auf Fachhochschulebene existieren verschiedene Institutionen, die – oftmals in Kooperation mit Organisationen aus der ‚Praxis‘ – verschiedene Forschungsprogramme und Forschungsprojekte zur angewandten Gerontologie durchführen. Aufgrund des unterschiedlichen organisatorischen Aufbaus der Hochschulen firmieren diese Organisationseinheiten unter verschiedenen Bezeichnungen (u. a. Institut, Kompetenzzentrum, Schwerpunkt). Zu nennen sind hier z. B. das 2012 an der Berner Fachhochschule (BFH) gegründete Institut Alter, das Interdisziplinäre Kompe tenzzentrum Alter (IKOA) der Fachhochschule St. Gallen oder der 2013 formierte Schwerpunkt „Menschen im Kontext von Alter“ an der Fachhochschule der Nordwestschweiz (FHNW). Diese drei Organisationen bilden zugleich in Kooperation mit den Universitäten Bern, Genf und Zürich das aus gleichen Teilen vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) und den beteiligten Hochschulen finanzierte schweizweite Innovationsnetzwerk „AGE-NT: Alter(n) in der Gesellschaft“. Unter diesem Dach operieren vier Kompetenzcluster bzw. Schwerpunkte zu den Themenbereichen „Active Assisted Living“ (AAL) (FH St. Gallen), „Leben mit Demenz“ (FH St. Gallen), „Modelle für den Arbeitsmarkt 45+“ (BFH) und „Ageing & Living in Place“ (ALiP) (FHNW). Das von der FHNW verantwortete Cluster „Ageing & Living in Place“ (ALiP) ist eine Weiterführung der Strategischen Initiative Alternde Gesellschaft (2015 – 2017) der FHNW (Schroeter 2014b; Schroeter und Pfeuffer 2018), in deren Rahmen u. a. ein (auf die Nordwestschweiz begrenzter) „Alters-Survey“ (Schicka et al. 2019) durchgeführt, und ein digitalisierter „Alters-Atlas“ (Bleisch et al. 2016, 2018) entwickelt wurde. Beide Instrumente werden derzeit im AGE-NT weitergeführt und auf die gesamte Schweiz ausgedehnt.
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Fernerhin sind noch andere Schweizer Hochschulen in der – im weitesten Sinne – sozialgerontologischen Forschung involviert. So beschäftigt sich z. B. die Hochschule Luzern (HSLU) mit der Beteiligung und Partizipation in der kommunalen Alterspolitik und hat einen entsprechenden „Kompass“ publiziert (Stremlow et al. 2018). Die zu sozialen und gesellschaftlichen Altersfragen in der Schweiz forschenden Hochschulen sind nicht nur über das o. g. „AGE-NT: Alter(n) in der Gesellschaft“, sondern auch über die unter dem Dach der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) operierende a+ Swiss Plattform Ageing Society sowohl untereinander als auch mit anderen Plattformen, Seniorenorganisationen, Stiftungen, Verbänden und Vereinen vernetzt.
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Sozialgerontologische Aus- und Weiterbildung in der Schweiz
Anders als in vielen anderen europäischen und außereuropäischen Ländern (Meyer 1999, 2003a,b; Backes et al. 2007; Aartsen 2011; Kessler et al. 2017) werden in der Schweiz heute keine grundständigen Studiengänge zur Sozialen Gerontologie auf Bachelor- oder Masterebene angeboten. Zeitweilig wurde an dem Universitären Institut Alter und Generationen/Institut universitaire Ages et Générations (INAG) in Sion/Sitten ein Studiengang in Gerontologie angeboten, der vier Module umfasste: a) Altern – demografisch, sozial und kulturell, b) Altern und Lebensverläufe – differenzielle Aspekte des Alterns, c) Wohlbefinden, Gesundheit und Krankheit in späteren Lebensphasen, d) Individuelle Bewältigungsstrategien älterer Menschen – sozialund gesundheitspolitische Interventionen (Höpflinger 2007, S. 440 f.). Zuvor wurde 1989 in Zürich die Schule für Angewandte Gerontologie (SAG) ins Leben gerufen, die 1993 in die Pro Senectute integriert wurde und einen dreijährigen Lehrgang Gerontologie für Fachpersonen aus verschiedenen Bereichen der Altersarbeit anbot, bevor sie dann im Herbst 2010 aufgrund mangelnder Nachfrage wieder geschlossen wurde, weil inzwischen die Fachhochschulen vermehrt in das finanziell lukrative Geschäft der gerontologischen Weiterbildungen eingestiegen sind. Auch wenn sich in der Schweiz keine hochschulischen Studiengänge zur Sozialen Gerontologie finden, so gibt es doch ein, wenngleich mit zeitlicher Verzögerung entstandenes, buntes Spektrum an Weiterbildungsprogrammen, die aber eher selten unter dem Label der Sozialen Gerontologie firmieren. Hintergrund dieser Entwicklung ist u. a., dass sich die Schweizerischen Hochschulen für Soziale Arbeit darauf verständigt haben, sowohl auf Bachelor- als auch auf Master-Ebene generalistische Studien gänge anzubieten, sodass vertiefende Erkenntnisse zu Aufgaben, Funktionen und Bedarfen spezifischer Zielgruppen – wie z. B. der alten Menschen sowie der in der Sozialen Altersarbeit Tätigen – fast ausschließlich in den wissenschaftsbasierten und praxisorientierten Weiterbildungsangeboten zu erwerben sind (Gredig und Schnurr 2011). Eine Ausnahme bildet die Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, an der eine drei Module umfassende Vertiefungsrichtung ‚Alter‘ angeboten wird. In Anlehnung
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an das Lebenslagenkonzept werden dort die Module „Altern als individuelle und soziale Herausforderung – direkte Soziale Arbeit mit Älteren und Betagten“ (BA 211), „Soziale Arbeit und Alter/n im Kontext von organisationalen und gesellschaftlichen Herausforderungen“ (BA 212) und „Lebenslagen im Alter: Antworten der Profession“ (BA 213) durchgeführt. Ansonsten findet sich das Thema Alter und Altern in unterschiedlichen Weiterbildungsformaten verschiedener Bildungsinstitutionen in der Schweiz. Diese Formate reichen von ein- oder mehrtägigen Fachseminaren bis hin zu modularisierten Weiterbildungen auf CAS-, DAS- und MAS-Ebene. In der Schweiz werden im Wesentlichen drei Arten von Weiterbildungszertifikaten verliehen: a) Certificate of Advanced Studies (CAS), b) Diploma of Advanced Studies (DAS) und c) Master of Advanced Studies (MAS). In einer „Übersicht zu Weiterbildungsangeboten im Themenfeld Alter/Soziale Gerontologie in der deutschsprachigen Schweiz“ haben Schroeter und Matter (2019) einen ersten Überblick über die von Schweizer Hochschulen des deutschsprachigen Raums angebotenen Weiterbildungen auf CAS-, DAS- und MAS-Ebene gegeben. Das umfangreiche weiterbildende Kursangebot großer außerhochschulischer Organisationen (z. B. von CURAVIVA, Pro Senectute, Spitex) wird hier allerdings nicht systematisch erfasst. Demnach konkurrieren zwar Universitäten, Fachhochschulen und außerhochschulische Organisationen auf dem finanziell ertragreichen Weiterbildungsmarkt, doch unter dem Fokus einer anwendungsorientierten Sozialen Gerontologie bzw. Sozialen Altersarbeit überwiegen auf CAS-, DAS- und MAS-Ebene die Angebote der Fachhochschulen sowie die Vielzahl der von außerhochschulischen Organisationen angebotenen Einzelkurse. Die Universitäten treten dabei eher marginal in Erscheinung. Hier ist es vor allem die Universität Zürich, die an ihrem Zentrum für Gerontologie (ZfG) ein 13-tägiges, multidisziplinär angelegtes CAS-Programm „Gerontologie heute – besser verstehen, erfolgreich vermitteln, innovativ gestalten“ anbietet, in dem gerontologisches Grundlagenwissen sowie Methoden- und Vermittlungswissen gelehrt werden und mit dem der Anspruch einhergeht, den Transfer ins gerontologische Praxisfeld durch die Verbindung von Wissenschaft und Praxis sowie durch den Einbezug der Teilnehmenden zu erleichtern. Andere von den Universitäten in der deutschsprachigen Schweiz angebotene Weiterbildungen zum Themenfeld Altern zielen nicht auf die Soziale Gerontologie oder Soziale Altersarbeit im Allgemeinen, sondern auf spezielle Einzelthemen (vgl. Schroeter und Matter 2019, S. 4 – 8). An den Fachhochschulen der deutschsprachigen Schweiz findet sich ein breites und vielfältiges Weiterbildungsangebot zum Thema Alter und Altern. Unter einer allgemein sozialgerontologischen Perspektive sind hier vor allem der MAS Gerontologie der Fachhochschule Bern (BFH) und der MAS Soziale Gerontologie der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) sowie der von der Careum Hochschule Gesundheit (Kalaidos) angebotene Lehrgang Altersarbeit/Praktische Gerontologie zu nennen. Die modular aufgebauten MAS von BFH und ZHAW zielen
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mit den in ihnen integrierten CAS (Lebensweltorientierte Altersarbeit, Gerontologie als praxisorientierte Wissenschaft, Alterspolitik, Lebensphase Alter [MAS BFH] und Soziale Gerontologie und Psychosoziale Interventionen im Alter [MAS ZHAW]) unmittelbar auf die Vermittlung anwendungsorientierten Wissens der Sozialen Gerontologie. In den weiteren Weiterbildungsangeboten auf MAS-, DAS- und CAS-Ebene dominieren vor allem die Angebote zu pflege-, gesundheits- und versorgungswissenschaftlichen Fragen oder andere partikuläre bzw. singuläre Foci (vgl. im Einzelnen Schroeter und Matter 2019, S. 8 – 47).
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Zusammenfassung
Wirft man einen Gesamtblick auf diese Weiterbildungskurse, so spiegeln diese Ange bote in etwa das wider, was Höpflinger (2007, S. 441) als einen „wenig koordinierte[n] ‚Wildwuchs‘ an (berufsbegleitenden) gerontologischen Weiterbildungsangeboten“ in der Schweiz bezeichnet hat. Zum einen werden – analog zu dem in Deutschland zu beobachtenden Trend einer thematischen „Engführung“ in der gerontologischen Ausbildung (vgl. Kessler et al. 2017) – die Inhalte der (Sozialen) Gerontologie auch in den Schweizer Weiterbildungslehrgängen nicht in ihrer gesamten fachlichen Breite vermittelt. Zum anderen ist es der Sozialen Arbeit bislang noch nicht hinreichend gelungen, ihr Handlungsfeld im Bereich der Arbeit mit alten Menschen genauer zu konturieren und die entsprechenden Lehrinhalte curricular umzusetzen. Das verweist auf das tieferliegende Problem, das die Soziale Arbeit mit anderen Professionen oder Disziplinen (wie z. B. denen der Sozialen Gerontologie, der Gesundheits- und Pflegewissenschaften) teilt, die sich ebenso gleichermaßen über einen Wissenschafts- wie auch über einen Klient/-innen- bzw. Fallbezug legitimiert und charakterisiert sehen und in ihrem Selbstverständnis ebenso die Hoheit beanspruchen, in Teilen ihrer Handlungsfelder für die (Soziale) Arbeit mit älteren Menschen zuständig zu sein (Schroeter 2019). Die Altersarbeit muss nicht nur ihren Gegenstandsbereich klar(er) konturieren, sondern dabei zugleich auch das ihr Eigene und ihr Wesentliche deutlich(er) kennzeichnen und ihre selbst definierten Zuständigkeiten für bestimmte Aufgabenbereiche (jurisdiction, vgl. Abbott 1988, 1995a) von denen anderer Disziplinen abgrenzen. Die dabei auftretenden „Revierkämpfe“ (turf battles, Abbott 1995b, S. 867) wurden spätestens im Gefolge der Debatten um die Neue Steuerung/New Public Management und der Neuausrichtung der Sozialen Arbeit im Rahmen der gemischten Wohlfahrtsökonomie (mixed welfare) auf die Agenda gesetzt und manifestieren sich in den verschiedenen Strategien und Praktiken von Case- und Care-Management (vgl. Powell und Biggs 2000, 2004). Dass es der Sozialen Arbeit in der Schweiz bislang nur unzureichend gelungen ist, eine eigenständige Expertise zur Lösung oder Linderung alternsspezifischer Problematiken herauszuarbeiten, mag zum einen auf eine fehlende sozialrechtliche Regelung nicht-pflegerischer Betagtenunterstützung (Pardini 2018c, S. 51 ff.) und zum an-
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deren auf die deutliche Dominanz medizinisch-pflegerischer Professionen in diesem Bereich zurückzuführen sein. Im Groben lässt sich festhalten, dass sich die Soziale Arbeit mit alten Menschen in der Schweiz zwischen den beiden Polen der offenen sozialen Altersarbeit auf der einen und der zumeist an das Vierte Alter gerichteten Altershilfe auf der anderen Seite orientiert. Die Altersarbeit richtet sich dabei vorrangig auf die Gewährleistung der sozialen Partizipation älterer Menschen am gesellschaftlichen Leben, wohingegen die Altershilfe vor allem auf die Sicherstellung von Hilfe in abhängigen bzw. prekären Lebenslagen (z. B. bei Pflegebedürftigkeit, Armut, Isolation; vgl. auch Aner in Kap. I.1 i. d. B.) zielt. Beide Bereiche sind jedoch nicht eindeutig voneinander zu trennen, sodass die Grenzen der Angebotsformen oftmals fließend sind.
Ausgewählte Literatur Becker, Stefanie, und Hermann Brandenburg. Hrsg. 2014. Lehrbuch Gerontologie. Gerontologisches Fachwissen für Pflege- und Sozialberufe – Eine interdisziplinäre Aufgabe. Bern: Huber, Hogrefe. Fluder, Robert, Sabine Hahn, Jonathan Bennett, Matthias Riedel und Thomas Schwarze. 2012. Ambulante Alterspflege und -betreuung. Zur Situation von pflege- und unterstützungsbedürftigen älteren Menschen zu Hause. Zürich: Seismo. Knöpfel, Carlo, Riccardo Pardini und Claudia Heinzmann. 2018. Gute Betreuung im Alter in der Schweiz. Eine Bestandsaufnahme. Zürich: Seismo.
Kapitel 2 Felder der Sozialen Arbeit mit älteren und alten Menschen
Freizeitorientierte Soziale Arbeit mit älteren und alten Menschen Ute Karl und Franz Kolland
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Einleitung
Der Wohlfahrtsstaat hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spezifische Bedingungen für mehr Freizeit und Konsum im Alter geschaffen. Dies geschah über die Festlegung einer in vielen Industrieländern geltenden Altersgrenze für den Eintritt in den sog. Ruhestand. Zudem hat der Strukturwandel des Alters und der Gesellschaft das Verhältnis von Erwerbsarbeit und Freizeit verändert. So wurde der erhebliche Anstieg der Arbeitslosigkeit teilweise durch großzügige Pensionierungsregelungen aufgefangen (Künemund und Kolland 2007), ein Trend der inzwischen gestoppt ist. In dem Maße, in dem sich die nachberufliche bzw. von Erziehungsarbeit entlastete Phase verlängert, wird sie auch zu einer Gestaltungsaufgabe. Vor diesem Hintergrund wurde Freizeit verstärkt zum Thema gerontologischer Forschung und gewannen Fragen professioneller Arrangements der Freizeitgestaltung zunehmend an Bedeutung (vgl. bspw. Goldammer 2014; Brinkmann 2015; Froböse und Tabari 2018). Hinsichtlich der Einschätzung des Effekts der Verrentung bzw. der Entberuflichung des Alters auf das Freizeiterleben lassen sich unterschiedliche Positionen in der Fachliteratur finden. Seit den 1950er Jahren wird in der Gerontologie immer wieder die „Rollen- bzw. Funktionslosigkeit des Alters“ (Burgess 1960a; Riley 1978) als entscheidendes Alternsproblem bezeichnet. Der Verlust der Erwerbsarbeit führt demnach zu einer beträchtlichen Einbuße an sozialem Ansehen (Riley und Riley 1986) und zu ernsten Persönlichkeitskrisen. Townsend (1957) sah in der Ausgliederung älterer Menschen aus dem Erwerbsleben eine Gefahr für ihre personale Identität und vor allem starke Einschränkungen im Konsumverhalten und damit geringe Möglichkeiten für eine entsprechende Freizeitgestaltung. Demgegenüber wird die Ausweitung der Altersphase auch als sozialer Fortschritt bewertet und als subjektives Bedürfnis der Älteren mit wachsenden Wahlmöglichkeiten gesehen (Kalish 1979). Die Freizeit wurde seit Beginn der 1970er Jahre als der © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_8
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eigentlich relevante Lebensraum eines postindustriellen Zeitalters gesehen. Der berufsfreie „Lebenszeitraum Alter“ könne so eine neue Qualität erlangen (Havighurst und Feigenbaum 1968). In diesem Zusammenhang prägte Dumazedier (1967) den Begriff von einer leisure society. In dieser Freizeitgesellschaft sind ältere Menschen von sozialen Verantwortlichkeiten befreit, wozu die Kindererziehung und die Erwerbs arbeit gehören.
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Theoretische Zugänge zu Freizeit im Alter und ihre Bedeutung für die Soziale Arbeit
Der Begriff Freizeit war nie sehr klar bestimmt und wurde daher in sehr unterschiedlicher Weise verwendet. Die Freizeit wird zunehmend – neben der Arbeit – zum zweiten Raum für die Lukrierung von Statusprofilen, ein Aspekt, der bereits in frühen Studien zum Freizeitverhalten herausgearbeitet wurde (vgl. Harring 2011). Der Erwerb von Kulturgütern und die Produktion von Kultur im weiteren Sinne sind Bestandteile der ‚Arbeit‘ in der Freizeit. Die hier sichtbar werdende begriffliche Unschärfe wird dadurch noch verstärkt, dass sich die beiden Lebensbereiche Arbeit und Freizeit seit Ende des 20. Jahrhunderts deutlich entgrenzen. Drei soziologische Konzepte von Freizeit sind für die Soziale Arbeit mit älteren und alten Menschen gegenwärtig von besonderer Bedeutung (vgl. dazu auch Kolland und Gallistl i. d. B.): Die häufigste Konzeptualisierung von Freizeit besteht einfach darin, diese als freie Zeit zu bestimmen, die verbleibt, wenn die verpflichtenden Aktivitäten – insbesondere Arbeit, aber auch die Verrichtung alltäglicher Vorgänge wie sie letztlich auch im institutionellen Setting der Pflege stattfinden – erledigt sind. Freizeit wird als residuale Zeit betrachtet. Bezogen auf das Alter liegt dieses Verständnis – zumindest implizit – vielen Ansätzen in der offenen Altenarbeit zugrunde, weil dort davon ausgegangen wird, dass mit dem Wegfall der Erwerbsarbeit und einem Teil der Erziehungs- und Hausarbeit der Anteil der freien Zeit zunimmt. Je nach Perspektive wird diese Zeit dann als Problem (Gefahr der Vereinsamung, Sinnverlust etc.) oder Potenzial (z. B. für Selbstverwirklichung, freiwilliges Engagement) verstanden. In den Diskussionen über die Potenziale des Alters für produktive, gemeinwohlorientierte Tätigkeiten erscheint Freizeit dann als verfügbare ‚Masse‘, um die unterschiedliche Organisationen der Sozialen Arbeit konkurrieren und die es möglichst zu nutzen gilt. Gerade aber unbezahlte, produktive Tätigkeiten im Alter machen deutlich, dass Freizeit zur Arbeit werden kann bzw. nachberufliche Tätigkeiten wie formelle und informelle Freiwilligenarbeit sowie Haus- und Sorgearbeit in nahezu gleichem Umfang wie vorher bezahlte Arbeit – insbesondere von Frauen – erbracht werden (vgl. Karl und Ramos 2016). Freizeit als Aktivität zu definieren, ist ebenfalls plausibel, denn das Studium der Freizeit über die Form ihrer Gestaltung zu betreiben, ist sicher gerechtfertigt. Freizeit bedeutet in dieser zweiten Begriffsbestimmung Spiel, Sport, Kultur, soziale Inter
Freizeitorientierte Soziale Arbeit mit älteren und alten Menschen
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aktion und bezieht sich auch auf Aktivitäten, die arbeitsähnlich in ihrer Handlung aber dennoch nicht Arbeit sind. In der gerontologischen Forschung wurde vor allem auf die Bedeutung der täglichen Freizeitaktivitäten für Gesundheit und Wohlbefinden fokussiert, eine Perspektive, die durchaus übereinstimmt mit sozialpolitischen Diskursen, in denen es auch um die Entlastung wohlfahrtsstaatlicher Systeme geht (ausführlicher hierzu vgl. Breheny und Stephens 2017, S. 40) und die das gemeinwohlorientiert-produktive – ‚nützliche‘ – und aktive Alter(n) propagiert, dadurch aber die belastenden Seiten des Alter(n)s weitgehend ausblendet (kritisch hierzu: Karl 2006). Wird Freizeit über Aktivität(en) definiert, dann findet sich die paradoxe Situation, dass es dafür praktisch keinen theoretischen Ansatz gibt. Es gibt keine Liste von Aktivitäten, die als Freizeittätigkeiten bestimmt sind. Zum Teil liegt es daran, dass eine solche Liste zu lang wäre, und zum Teil liegt es daran, dass solche aufgelisteten Akti vitäten, wenn sie denn ausgeführt werden, nicht immer eindeutig als Freizeitaktivitäten bezeichnet werden können. So stellt sich etwa die Frage, ob die Herstellung von Weihnachtsschmuck in einer Altentagesstätte als Arbeit oder als Freizeit verstanden wird. Fast jede Aktivität kann unter bestimmten Bedingungen als Verpflichtung verstanden werden. Es ist jene Aktivität Freizeit, so wollen wir demgemäß einschränken, die selbstgewählt erfolgt. Wesentlich an Freizeitaktivitäten ist also die Dimension der Freiheit. Zu Freizeitaktivitäten gehört auch, dass sie subjektiv als Bereicherung erlebt werden. Gemeint ist damit die Qualität der Aktivität und nicht nur die Aktivität als solche, die sie als Freizeitaktivität bestimmt. Ansonsten ist eher der Begriff der Alltagsaktivität angemessen, der in der Altenbetreuung bzw. Geriatrie eine eigene Bedeutung hat. Damit ist ein drittes Freizeitkonzept, der Akteursansatz, angesprochen. Dieser bestimmt Freizeit als „subjektives Erleben“ (Dorfman 2013). Studien (z. B. Havighurst 1959) verweisen auf die Bedeutung von Freizeit für ältere Menschen in ihrer identitätsstiftenden Funktion bzw. in ihrer Bedeutung für die Selbstwahrnehmung. Freizeit hat demgemäß nicht etwas mit Zeit zu tun oder der ausgeübten Aktivität, sondern mit dem Akteur. Freizeitakteur/-innen verstehen das, was sie tun, als etwas, was sie gewählt haben. Die getroffene Wahl ist mit einer intrinsischen und weniger mit einer von außen vorgegebenen Motivation verknüpft. In der Definition von McGuire et al. (1999) wird die subjektive Bedeutung der Freizeit hervorgehoben: „Leisure is a freely chosen activity done primarily for its own sake, with an element of enjoyment, pursued during unobligated time“ (ebd., S. 105). Kelly und Freysinger (2000) heben den Erlebnischarakter der Freizeit heraus, d. h. „leisure is activity that is done primarily for the experience itself “ (ebd., S. 3). Die Erlebnisorientierung richtet sich auf die unmittelbare Befriedigung von Bedürfnissen. In der Praxis der Altenarbeit wird dieses Bedürfnis sehr oft mit Ausflügen (ins Grüne) oder mit Besuchen von Kulturveranstaltungen abgedeckt. Eine akteursbezogene Bestimmung von Freizeit anhand der Konstrukte der erwarteten Freiheit, der intrinsischen Motivation und der Erfahrungssuche befindet sich zum Teil in einem starken Widerspruch zu in der Praxis stattfindenden Akti-
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vierungsangeboten für alte Menschen sowohl im Bereich der stationären Pflege als auch im Bereich der sog. offenen Altenarbeit. Oftmals sind es dort die institutionellen Bedingungen bzw. (nicht) vorhandenen Ressourcen, die das Angebot steuern. Legt man die Bestimmung des Akteursansatzes zugrunde, erscheint es unmöglich, Freizeitaktivitäten von der Angebotsseite aus zu bestimmen. Denn erst auf Grundlage der Perspektive der Subjekte kann entschieden werden, ob es sich um Freizeit- oder Alltagsaktivitäten handelt. Allerdings machen Breheny und Stephens (2017) in ihrer qualitativen Studie deutlich, dass die subjektive Bestimmung von Freizeit stark durch gesellschaftliche und politische Diskurse präfiguriert ist, die Bilder und Wege des ‚guten Alter(n)s‘, dessen, was getan werden soll, nahelegen. Sie rekonstruieren zwei Hauptstränge in den subjektiven Freizeitkonstruktionen im Alter, namentlich Freizeit als produktive Zeit (nützliche Freizeitaktivitäten bspw. zur Erhaltung der Gesundheit oder zur Erlangung eines sozial anerkannten Status über Freiwilligenarbeit oder Engagement im Gemeinwesen) und – dazu entgegengesetzt – Freizeit als persönliche Zeit, bei der das Vergnügen und die Freiheiten im Vordergrund stehen, nicht zuletzt auch angesichts der begrenzten verbleibenden Lebenszeit. Die hier genannten Ansätze machen nicht nur deutlich, dass eine eindeutige Definition von Freizeit schwierig ist, sondern auch, dass eine Betrachtung von Freizeit aus der Perspektive institutioneller Akteure und ihrer Aktivitäten nicht ausreicht.
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Sozialpädagogische und sozialpolitische Rahmungen von Freizeit im Alter: vom Alten- über den Senioren- zum Generationencode ?
Der Bereich der sog. offenen Altenarbeit ist durch unterschiedliche Diskurse, Finanzierungsformen, Trägerschaften und regionale Kontexte geprägt. Auf der kommunalen Ebene ist er in Deutschland nur sehr vage durch den § 71 SGB XII geregelt. Dort wird zwar allgemein festgestellt, dass (die kommunale) Altenhilfe dazu beitragen soll, „Schwierigkeiten, die durch das Alter entstehen, zu verhüten, zu überwinden oder zu mildern und alten Menschen die Möglichkeit zu erhalten, am Leben in der Gemeinschaft teilzunehmen“ (Abs. 1). Allerdings liegt es im kommunalen Ermessen, wie diese Anforderungen umgesetzt werden und ob z. B. eher das gesellschaftliche Engagement älterer Menschen (Satz 2, Abs. 1) oder der „Besuch von Veranstaltungen und Einrichtungen, die der Geselligkeit, der Unterhaltung, der Bildung oder den kulturellen Bedürfnissen alter Menschen dienen“ (Satz 2, Abs. 5), gefördert werden. Bereits die Frage, ob es überhaupt spezielle offene Einrichtungen für ältere und alte Menschen geben soll und ob diese von professionellen Sozialarbeiter/-innen oder Sozial pädagog/-innen oder ehrenamtlich geführt werden sollen, fällt in dieses Ermessen und wird in kommunalen Altenhilfeplänen, wenn es solche überhaupt gibt, je spezi fisch beantwortet (vgl. Aner in Kap. I.1 i. d. B., Hammerschmidt und Löffler sowie Rubin i. d. B.). Vor diesem Hintergrund gibt es nicht nur unterschiedliche Grade
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der Institutionalisierung solcher Angebote (z. B. Alten-/Seniorentreffs, -clubs, Altentagesstätten, Seniorenbegegnungsstätten, Seniorenfreizeitstätten), sondern auch eine große Bandbreite der Trägerschaften und Finanzierungsweisen. Dem Subsidiaritätsprinzip des deutschen Wohlfahrtsstaats entsprechend haben die Kommunen nur die Gewährleistungsverantwortung. Sie leisten meist nur einen (geringen) finanziellen Beitrag und vielfach sind die Wohlfahrtsverbände, Kirchen und Vereine Träger der Angebote. Alten-/Seniorentreffs sind meist Angebote beispielsweise eines Mehrgenerationenhauses, Nachbarschaftszentrums oder einer Kirche, die an bestimmten Tagen stattfinden. Seniorenfreizeitstätten und Seniorenbegegnungsstätten, aber auch die generationenübergreifenden Begegnungsstätten der Volkssolidarität in den ostdeutschen Bundesländern verfügen dagegen meist über eigene Räume und umfangreichere Öffnungszeiten. Auch viele Stadtteil- und Nachbarschaftszentren wie soziokulturelle Zentren haben inzwischen eigene Programmschwerpunkte für Menschen ab 50 bzw. 55 Jahren im Freizeitbereich entwickelt. Aufgrund der gesetzlich bedingten Unübersichtlichkeit und permanenten Veränderung des Feldes, die in zeitlich befristeten und häufig ehrenamtlich unterstützten Angeboten in besonderer Weise einen Ausdruck finden, gibt es meist nicht einmal auf kommunaler Ebene quantitative Daten über Angebotsstruktur und Anzahl der Beschäftigten. Vor diesem Hintergrund können die Zahlen der Statistik der freien Wohlfahrtspflege (BAG FW 2018a) auch nur eine sehr grobe Orientierung bieten: 1 671 Einrichtungen im Bereich der Seniorentages-, -begegnungs- und -freizeitstätten werden dort aufgeführt, mit 961 Beschäftigten in Vollzeit und 2 157 in Teilzeit. Im Vergleich zu 2006 zeigt sich hier ein deutlicher Rückgang der verzeichneten Einrichtungen (vgl. Karl und Kolland 2010). Betrachtet man die Veränderungen in diesem Feld qualitativ, so lassen sich mindestens drei Trends beschreiben: 1) Zunächst lässt sich eine Veränderung nachzeichnen, die auf der diskursiven Ebene mit einer Veränderung vom Alten- zum Senior/-innencode einhergeht. So geht es seit Ende der 1970er Jahre immer weniger um das betreute Alter(n) als vielmehr um das gestaltete aktive und produktive Alter(n). Dadurch soll einem negativen Altersbild etwas entgegengesetzt werden, die Potenziale des Alters sollen für die Gemeinschaft genutzt und das gebrechliche Alter soll nach hinten verschoben werden. Freizeitorientierte Soziale Arbeit ist dann vor allem durch Aktivitäten im Bereich von Gesundheit, Bewegung und Fitness oder im Bereich der Freiwilligenarbeit angesiedelt. Damit einher geht eine stärkere Orientierung an Selbstorganisation und Aufbau von Netzwerken im Gemeinwesen bei gleichzeitigem Rückzug der Kommunen aus diesem Bereich und stärkerer regionaler bzw. bundesweiter Finanzierung (bspw. ZWAR in Nordrheinwestfalen oder das Bundesmodellprojekt von 2002 bis 2006 „Erfahrungswissen für Initiativen“ und die Folgeprojekte). 2) Daran anknüpfend wird gleichzeitig der Bereich der freizeitorientierten Sozialen Arbeit mit älteren Menschen, der traditionell ohnehin stark durch freiwilliges
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Engagement und Selbsthilfe getragen wurde und wird und in vielen Kommunen dann eine Professionalisierung erfahren hatte, trotz oder gerade wegen seiner zunehmenden Bedeutung aus finanziellen Gründen in die Hände der Adressat/-innen gelegt. Ob damit allerdings ein attraktives, dauerhaftes und hochwertiges Programmangebot geschaffen werden kann, hängt von den Engagierten selbst ab. Zwar leisten Ehrenamtliche in vielen Bereichen gute Arbeit. Ihre Arbeit orientiert sich aber an anderen Kriterien als professionelle Soziale Arbeit. Zudem ist freiwilliges Engagement in hohem Maße abhängig von öffentlicher wie zwischenmenschlicher Anerkennung und dadurch wie auch durch das fortgeschrittene Alter der meisten Ehrenamtlichen in diesem Bereich potenziell in der Kontinuität gefährdet. In Bezug auf die Niedrigschwelligkeit der Angebote könnte einerseits ein starkes ehrenamtliches Engagement Möglichkeiten für die Umsetzung unterschiedlicher Interessen bieten und damit eine Vielzahl von Personen ansprechen. Andererseits könnten die in den 1980er Jahren festgestellten Abschottungstendenzen mancher Einrichtungen reaktiviert werden (vgl. Fluck und Möller 1980), weil sich feste Gruppen bilden, die es Außenstehenden schwer machen, hinzuzukommen. 3) Gleichzeitig rückt die Gestaltung des demografischen Wandels und das Zusammenleben der Generationen in den letzten 15 Jahren stärker in den Blick, um so den Aspekt der Gegenseitigkeit und den Zusammenhalt der Gesellschaft zu fördern. So unterstützt die deutsche Bundesregierung von 2006 bis 2020 den Aufbau und die Ko-Finanzierung von Mehrgenerationenhäusern (rund 540, Stand 2018; vgl. zum Programm: BMFSFJ 2016a), in denen unterschiedliche Aktivitäten unter einem Dach vereinigt werden und Angebote von, für und mit Senior/-innen einen Platz finden. Auch hier steht das aktive und produktive wie auch das selbstorganisierte Alter im Vordergrund. Ob die darin angelegte intergenerationelle Ausrichtung tatsächlich von den Adressat/-innen genutzt wird und sich deren Selbstverständnis ändert oder ob es eher ein Nebeneinander verschiedener Gruppen und Aktivitäten ist, hängt sicherlich auch davon ab, inwiefern attraktive, intergenerationelle Angebote geschaffen werden. Zu hinterfragen gilt es auch, welche älteren Menschen eher von solchen Angeboten angesprochen werden und welche eher unberücksichtigt bleiben. Ein bloßes Nebeneinander der Generationen stellt intergenerationelle Konzepte in Frage und ist möglicherweise weniger attraktiv.
Freizeitorientierte Soziale Arbeit mit älteren und alten Menschen
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Exklusionsmechanismen im Kontext freizeitorientierter Sozialer Arbeit
4.1
Soziale Ungleichheit und freizeitorientierte Soziale Arbeit – spezifische Herausforderungen im Alter
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Betrachtet man Analysen zum freiwilligen Engagement im Alter – also jenen Bereich, der älteren Menschen gesellschaftlich und sozialpolitisch in hohem Maße als Freizeitgestaltung nahegelegt wird –, so wird deutlich, dass vor allem das Bildungsniveau neben der Gesundheit maßgeblich beeinflussen, ob sich jemand engagiert (vgl. Karl 2006; Vogel et al. 2017b; Alisch sowie Kolland und Gallistl i. d. B.). Munsch (2011) hat darauf hingewiesen, dass im Bereich des freiwilligen Engagements hohe Anforderungen an Argumentations- und Sprechfähigkeit gestellt werden, die Menschen mit niedriger Schulbildung häufig nicht erfüllen können und dass dadurch letztlich ein bildungsbürgerlicher Habitus vorherrscht. Dies ist möglicherweise ein Grund dafür, dass sich ältere Menschen mit eigener Migrationserfahrung auch seltener engagieren (vgl. Vogel et al. 2017b). Zudem beeinflusst materielle Armut die soziale Teilhabe. Ältere Studien belegen, dass sich von Armut betroffene Menschen aus dem gesellschaftlichen Leben zurückziehen, weil sie einerseits weniger soziale Kontakte haben und andererseits die finanziellen Mittel für ein höheres Aktivitätsniveau fehlen (Townsend 1974). Hinzu kommt, dass Armut im Alter und über die Lebensspanne auch mit Gesundheit im Alter korreliert. Gerade Gesundheit ist aber bedeutsam, um an zahlreichen Freizeitaktivitäten teilzunehmen. Beeinflusst wird die Teilnahme an Freizeitaktivitäten zusätzlich von Mobilitätsmöglichkeiten. Insbesondere armutsgefährdete ältere Frauen unternehmen signifikant weniger Wege und legen eine geringere Tagesstrecke zurück als höhere Einkommensgruppen (vgl. Giesel und Köhler 2015). Vor diesem Hintergrund muss sich eine freizeitorientierte Soziale Arbeit der mindestens dreifachen Möglichkeit der sozialen Ausgrenzung von Freizeitaktivitäten stellen: der möglichen Ausgrenzung aufgrund fehlender finanzieller Mittel, aufgrund fehlender Bildung und aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen, die nicht nur, aber auch mit Armut verknüpft sein können. 4.2
Freizeitgestaltung im Heim – Partizipationsmöglichkeiten oder Separation und soziale Distinktion ?
In der Vorstellung vieler Menschen sind Alten- und Pflegeheime mit einem ungünstigen Image – und damit mit problematischen Effekten auf die Lebensqualität – verbunden. Sie werden mit kranken, hilfsbedürftigen alten Menschen, die passiv, abhängig und sozial isoliert sind, assoziiert (Wahl und Reichert 1994). Mit dem Leben in einem Pflegeheim werden der Verlust der Selbstständigkeit und Privatheit sowie
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die Unterordnung des kompletten Tagesablaufs unter unveränderbare Regeln ver bunden (Seifert und Schelling 2013). In diesem Zusammenhang werden Pflegeheime als abgeschwächte Form einer totalen Institution (Goffman 1961) beschrieben und verstanden. Als besonders schwierig gestaltet sich unter diesen Bedingungen die soziale Vernetzung der Bewohner/-innen. Trotz des Zusammenlebens auf engem Raum, werden nur sehr eingeschränkt emotionale Kernbeziehungen aufgebaut. Das Klima der ‚Bevormundung‘ und die heterogene Zusammensetzung der Bewohner/-innen erzeugen Rückzug und soziale Distinktion. Soziale Abgrenzung und Distanzierung zeigen sich etwa dort, wo Personen ohne kognitive Einschränkungen gemeinsame Freizeit- und Alltagsaktivitäten mit Personen mit Demenz ablehnen (vgl. Stadler 2018). Aber auch Sprache kann zu einem Mittel der Ausgrenzung und der sozialen Distinktion werden, um so die gesellschaftliche Positionierung zwischen einheimischen und eingewanderten Bewohner/-innen trotz der Nivellierungen des sozialen Status im Heimkontext – alle müssen sich den gleichen Abläufen unterwerfen – aufrechtzuerhalten. Zudem kann gerade auch in Heimen institutionelle Diskriminierung stattfinden, wenn bspw. bei Versammlungen im Heim, bei denen eigentlich eine Partizipation der Bewohner/-innen stattfinden könnte, Migrant/-innen ausgeschlossen werden, weil ihre Sprachkompetenz nicht berücksichtigt wird (Karl und Ramos 2017, S. 75 f.). In Pflegeheimen ist die Selbstbestimmung der Bewohner/-innen durch die institutionelle Rahmung wie auch die kognitiven Einschränkungen und psychischen Leiden der Bewohner/-innen (Betz 2011) stark eingeschränkt (vgl. Kolland et al. 2018b). Um aber die Potenziale der Selbstbestimmung anzusprechen und wirkmächtig werden zu lassen, braucht es Partizipation aller, was bedeutet, dass Partizipationsmöglichkeiten im Heim, wie die Mitbestimmung bei der Planung, Entwicklung und Durchführung von Freizeitaktivitäten, auf ihre potenziell exkludierenden und diskriminierenden Mechanismen zu befragen sind. Die Bedingungen der Beteiligung sollten dabei von und mit den alten Menschen definiert werden.
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Habitus und Lebensstilkonzept als Grundlagen für eine freizeitorientierte soziale Altenarbeit
Das Konzept des sozialen Habitus von Bourdieu (1982) verweist auf milieuspezifische Strategien der Auseinandersetzung im Feld von Bildung, Freizeit und Kultur. Unterprivilegierte bildungsferne Milieus produzieren einen Habitus, der sich in Distanz zu Institutionen bewegt, die Zugangsschwellen in finanzieller, bildungsmäßiger und kultureller Hinsicht aufweisen. Einen wesentlichen Beitrag zur Lebensstildiskussion leistete Schulze mit seinem 1992 herausgegebenen Buch zur „Erlebnisgesellschaft“. Ausgangspunkte der Erlebnisgesellschaft sind höheres Einkommen, ein größeres Konsumgüterangebot mit hohem Erlebnis- und geringem Gebrauchswert (z. B. Kinofilme, Illustrierte, Musik) und das
Freizeitorientierte Soziale Arbeit mit älteren und alten Menschen
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Problem der Wahl. Soziale Ungleichheit stellt sich als Stilungleichheit dar und erfolgt durch erhöhte Binnenkommunikation, wodurch Stiltypen bzw. soziale Milieus entstehen. Für die Soziale Arbeit ergibt sich daraus nicht nur die Frage, was sie an ‚schönen Erlebnissen‘ bzw. Freizeitstilen für ältere Menschen bieten kann und ob sie das überhaupt möchte, sondern auch die Anforderung an Fachkräfte (und auch an Ehrenamtliche) die eigene Milieuzugehörigkeit und Mobilitätsbereitschaft sowie jene der Adressat/-innen systematisch zu reflektieren. Letztere nehmen Sozialarbeiter/-innen auch unter dem Blickwinkel der Milieuzugehörigkeit wahr. Existieren hier sehr große Unterschiede, kann das damit verbundene Konfliktpotenzial das Gelingen einer professionellen Beziehung behindern. Die Anforderung an Fachkräfte, unterschiedliche Milieuzugehörigkeiten zu berücksichtigen, wird in intergenerationellen Konzepten noch komplexer. Praxisbedeutung hat das Lebensstilkonzept auch für das Wohnen im Alter. Eine Wohnform, die sich explizit am Lebensstilkonzept orientiert, sind Demenzdörfer (vgl. etwa Hogeweyk in den Niederlanden, Tönebön in Deutschland). Argumente gegen Wohnformen dieser Art fasst Brandenburg (2013) zusammen: Es fehlten erstens kontrollierte Studien, die Vor- und Nachteile dokumentieren. Zweitens sei unklar, welchen Einfluss solche Wohnformen auf herausforderndes Verhalten und freiheitsentziehende Maßnahmen haben. Drittens bleibe offen, ob es legitim ist, Menschen mit Demenz dauerhaft mit illusionären Welten zu konfrontieren. Und viertens stünden Demenzdörfer in der Tradition der Ausgrenzung von armen, kranken und behinderten Menschen.
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Herausforderungen für die Soziale Arbeit
Freizeitgestaltung ist ein wichtiger Faktor für die Lebensqualität im Alter. Soziale Arbeit sieht sich angesichts vielfältiger Freizeitstile, gesundheitskorrelierter Effekte, unterschiedlicher Bildungsniveaus (bei durchschnittlich steigendem Bildungsniveau der älteren Generationen) und Geschlechterdifferenzen der Herausforderung gegenüber, den damit verbundenen Ansprüchen gerecht zu werden. Freizeitangebote, die als gut gemeinte Aktivierungsprogramme verstanden werden und die bei individueller Kompetenzerhaltung und Kompetenzförderung ansetzen, greifen hier zu kurz. Zudem ist heute die Wirksamkeit solcher Interventionsansätze zumindest umstritten (Baltes 1987). Aktivierung in Altenwohn- und Pflegeheimen zielt oftmals auf die Befriedigung punktueller Bedürfnisse und weniger auf die strukturelle Veränderung von Umweltbedingungen. Gerade an diesem Punkt setzt professionelle Soziale Arbeit an. Sie berücksichtigt die gesellschaftlichen Lebensbedingungen und Handlungszusammenhänge älterer Menschen. Zu reflektieren gilt es dann die oben skizzierten Paradoxien, nämlich die Forderung nach mehr partizipativer Selbstorganisation (insbesondere im Heim) bei gleichzeitiger professioneller Unterstützung und institutioneller Ein-
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bindung. Zudem besteht für die Soziale Arbeit die Gefahr, mit ungenügender Lebensstilsensibilität selbst zur institutionellen Diskriminierung beizutragen. Es braucht also professionelle Soziale Arbeit, die sowohl die Lebenswelt der älteren Menschen als auch sozialstrukturelle Ungleichheiten reflektiert und individuelle und kollektive Ressourcen fördert. Dann ist eher gewährleistet, dass die Freizeitgestaltung nicht in einem Rückzugsraum belangloser, sozial und gesellschaftlich irrelevanter Tätigkeiten und Rollen stattfindet.
Ausgewählte Literatur Breheny, Mary, und Christine Stephens. 2017. Spending time: the discursive construction of leisure in later life. In Annals of Leisure Research 20: 39 – 54. Brinkmann, Dieter 2015. Freizeit im Kontext des demografischen Wandels. In Handbuch Freizeitsoziologie. Hrsg. Freericks, Renate, und Dieter Brinkmann, 189 – 210. Wiesbaden: Springer. Harring, Marius. 2011. Das Potential der Freizeit. Wiesbaden: Springer.
Kulturelle Bildung und Kulturarbeit mit älteren Menschen Ute Karl
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Kulturverständnisse und kulturelle Bildung
Angesichts kulturpädagogischer bzw. -politischer Praxis wird die Polyphonie von Kulturbegriffen deutlich (vgl. Fuchs 2018a, S. 887). Ganz allgemein gesprochen spannt sich das begriffliche Feld auf zwischen einem weiten Kulturverständnis, wie es die UNESCO (1982) vorgeschlagen und das Lebensweisen im Blick hat, und einem engen, das auf ‚Kunst und Kultur‘ fokussiert ist und letztlich als Teil des weiten Verständnisses betrachtet wird (Deutscher Bundestag 2007, S. 47; UNESCO 1982; Fuchs 2008a, S. 91 ff.). In Bezug auf das Alter(n) zeigt sich dieses Spannungsfeld, wenn für eine ‚neue Kultur des Alterns‘ geworben wird oder von Altenkultur die Rede ist (vgl. Haller und Küpper i. d. B.) und gleichzeitig Kulturgeragogik als Oberbegriff für unterschiedliche kunstbezogene Geragogiken etabliert wurde. Ein enger, kunstbezogener Kulturbegriff sieht Kunst sowohl als zweckfreies Handeln als auch künstlerisch-kulturelle Medien als Mittel der Verwirklichung sozialer und individueller Ziele wie Teilhabe und Selbstverwirklichung (vgl. hierzu auch Karl 2018). Kultur kann dabei sowohl als Prozess als auch als Ergebnis menschlichen Tätig-Seins verstanden werden. Weite Verständnisse von Kultur (im Sinne von Lebensweise, aber auch symbolischen Ordnungen) wie sie sich beispielsweise in der Kultursoziologie Pierre Bourdieus (vgl. Bourdieu 2008 [1979]) oder in den Cultural Studies finden (vgl. Haller und Küpper i. d. B.), machen deutlich, wie eng Lebensstil und Geschmack in Bezug auf ästhetisch-künstlerische Produkte (also Kultur i. e. S.) zusammenhängen. Obwohl häufig von Kultur i. w. S. als etwas Verbindendem ausgegangen wird, wird am Beispiel künstlerischer Produkte gerade deutlich, dass Kultur als „Entzweiungsmechanismus“ (Wimmer 2002), als Mechanismus der sozialen Distinktion und der Entfaltung von Machtverhältnissen betrachtet werden muss. Im Vergleich von Jugend und Alter wird augenfällig, dass sich diese soziale Distinktion weniger in benennbaren Altenkulturen bzw. altenkulturellen Szenen zeigt als vielmehr in den © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_9
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biografisch herausgebildeten Lebensstilen und den unterschiedlichen Zugängen zu künstlerisch-kulturellen Angeboten. Der kulturpolitische Anspruch einer kulturellen Teilhabe an der Herstellung von und dem Zugang zu künstlerisch-kulturellen Produkten gilt deshalb im Besonderen für die soziale und pädagogische Kulturarbeit (als zusammenfassender Begriff für Kulturpädagogik, Praktiken kultureller und ästhetischer Bildung sowie soziokulturelle Praktiken). Kulturelle Teilhabe steht aber auch in engem Zusammenhang mit ökonomischer, sozialer und politischer Teilhabe (vgl. Fuchs 2008b, S. 94 ff.). Kulturarbeit zielt, so könnte man vereinfachend zusammenfassen, auf der subjektiven Seite auf Selbstverwirklichung, Lebensgestaltung sowie Bildungsprozesse, auf der sozialen und gesellschaftlichen Seite auf Teilhabe und Gestaltung von Gesellschaft. Der Begriff der kulturellen Bildung betont spezifizierend insbesondere drei Aspekte: die Aneignung und Sicherung von künstlerischen Kompetenzen (in eigener künstlerischer Praxis) sowie die Entwicklung einer differenzierenden Wahrnehmungsfähigkeit, die Nutzung künstlerisch-kultureller Methoden und Verfahren mit allgemeinbildenden Zielen (z. B. Persönlichkeitsbildung im Sinne eines Selbstbildungsprozesses) sowie die aktive Rezeption von Kunst und Kultur in einem Bildungszusammenhang (vgl. Deutscher Kulturrat 2000; Groote und Nebauer 2008; ausführlich auch: Stang 2005). Letzteres grenzt kulturelle Bildung dann von rein rezeptiven kulturellen Aktivitäten ab, eine Abgrenzung, die zwar für Erhebungen von Bildungsorten, -angeboten und Formen kultureller Bildung sinnvoll ist, aber die in der Kunst prinzipiell angelegten Bildungsmomente im Sinne von ästhetischer Erfahrung nicht erschöpfend erfasst. Denn künstlerisch-ästhetische Medien können als potenziell bildend betrachtet werden, weil sie einen Raum des zweckfreien Gestaltens und Erlebens eröffnen, gleichzeitig aber gerade dadurch Differenzerfahrungen zu sich, zu anderen Menschen, zu Gegenständen und Sichtweisen ermöglichen, die mit einer reflexiven Bildungsbewegung verbunden sein können. Diese Möglichkeiten werden auch in künstlerischen Therapien mit älteren Menschen genutzt (vgl. Karl 2018). Wenn nun entsprechend gängiger Verständnisse der Praxis im Weiteren auf künstlerisch-kulturelle Aktivitäten Bezug genommen wird, so werden diese gleichwohl im Zusammenhang mit den genannten Machtmechanismen gesehen und so im Rahmen eines weiteren Verständnisses von Kultur verortet. Bezogen auf ältere Menschen als Zielgruppe von Kulturarbeit bedeutet dies, dass es weder um eine besondere Ästhetik noch um die Vorstellung einer homogenen Gruppe geht (auch wenn dies in der Praxis gelegentlich übersehen wird; vgl. Röbke 1995, S. 25 f.), sondern um die Frage von kultureller Teilhabe. Kulturgeragogik greift in diesem Sinne zum einen das geragogische Postulat einer ‚Bildung für alle‘ und die damit verknüpften besonderen Erfordernisse des Lernens im Alter auf und fokussiert zum anderen auf das Feld der künstlerisch-kulturellen Bildung (vgl. Karl 2018), also Kultur im engeren Sinne (vgl. Groote und Hartogh 2016). Kulturgeragogik umfasst dabei unterschiedliche künstlerische Medien, deren
Kulturelle Bildung und Kulturarbeit mit älteren Menschen
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Spezifika dann wiederum z. B. in der Musikgeragogik (Hartogh und Wickel 2018) oder der Kunstgeragogik (Baumann und Groote 2018) reflektiert werden. Allerdings muss sich Kulturarbeit mit älteren Menschen dabei der Frage stellen, woran kulturell partizipiert wird und inwiefern gleichzeitig auch soziale und politische Teilhabe verwirklicht wird oder eben auch nicht (vgl. Groote und Hartogh 2016, S. 31). Ältere Menschen werden dabei als Publikum, Kulturschaffende, Kulturvermittelnde und Unterstützer/-innen adressiert (vgl. Hippe und Sievers 2006, S. 94).
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Ältere Menschen als (potenziell) Rezipierende und Produzierende von Kultur
In den letzten Jahren wird auf der Seite der Kulturschaffenden angesichts des demografischen Wandels deutlich, dass die Interessen und Bedürfnisse älterer Menschen als Rezipient/-innen und Produzent/-innen von Kultur sehr viel stärker als bisher ins Blickfeld gerückt werden müssen (vgl. bspw. die Beiträge in Deutscher Kulturrat 2006a, b, 2007; Hippe und Sievers 2006; Hausmann 2007; Sieben 2007; Ermert und Fricke 2009; Groote 2013; sowie die Beiträge in Knopp und Nell 2014). Insgesamt ist angesichts des demografischen Wandels von einer veränderten Nutzer/-innenstruktur auszugehen (vgl. Dreyer 2009). Vor diesem Hintergrund wurden einige Studien zu Angeboten kultureller Bildung und zu kulturellen Aktivitäten älterer Menschen durchgeführt (vgl. bspw. Karl, U. 2005; Hippe und Sievers 2006; Groote und Nebauer 2008; Keuchel und Wiesand 2008; Sieben 2008; Groote 2013; sowie die Beiträge in Fricke und Hartogh 2016). Diese Studien spiegeln die Vielfalt der Orte und Möglichkeiten kultureller Bildung ebenso wie die Abhängigkeit kultureller Aktivitäten von den soziodemografischen Variablen, mithin von Lebensstil und sozialem Milieu, wider (vgl. Cirkel 2007; Keuchel und Wiesand 2008). Das KulturBarometer 50+ (vgl. Keuchel und Wiesand 2008) – eine empirische Studie (N = 2 000) zu Kulturinteresse, Kulturverständnis und künstlerisch-kreativen Aktivitäten von Menschen über 50 Jahren – zeigt, dass das Interesse am Kulturgeschehen mit dem aktuellen Gesundheitszustand, der Schulbildung, dem derzeitigen Einkommen bzw. der Rente, dem Alter und dem Geschlecht aber auch mit dem beruflichen Status und der Wohnlage korreliert. Der Gesundheitszustand ist für kulturelle Teilhabe besonders bedeutsam, und so ist es auch nicht verwunderlich, dass diese im hohen Alter abnimmt. Auch die Erkenntnis, dass Schulbildung mehr noch als das verfügbare Einkommen Relevanz für die kulturelle Teilhabe besitzt, ist bekannt. Während das verfügbare Einkommen im Rentenalter gegenwärtig noch in engem Zusammenhang mit der Schulbildung steht, ist zu erwarten, dass sich dieser Zusammenhang aufgrund von brüchigen Erwerbsbiografien gerade auch von Akademiker/-innen zunehmend entkoppeln wird. So können gegenwärtig noch mit gutem Einkommen ausgestattete Berufstätige dennoch im Alter nur über ein geringes Einkommen verfügen. Deutlich wird in der Stu-
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die auch, dass Phasen der Arbeitslosigkeit mit einem geringeren Interesse am Kultur geschehen korrelieren, also soziale und kulturelle Teilhabe eng gekoppelt sind. Frauen sind etwas mehr als Männer kulturell interessiert, ein Aspekt der sich sehr viel deutlicher bezogen auf die gesamte Lebensspanne in der Statistik der Volkshochschulen zeigt: 80 % Frauen und 20 % Männer im Bereich Kultur und Gestalten (vgl. Reichart et al. 2018, S. 52). Das KulturBarometer 50+ zeigt zudem, dass nur in Orten mit weniger als 5 000 Einwohner/-innen das kulturelle Interesse sehr gering ist. In Dörfern und kleineren Städten sind Ältere sehr viel mehr in Brauchtumsvereine eingebunden. Für die sog. neuen Bundesländer weist das KulturBarometer 50+ nach, dass das kulturelle Interesse tendenziell größer als in den alten Bundesländern ist, was auf die DDR-Tradition der stärkeren Einbindung von Kultur in das gesellschaftliche Leben zurückgeführt werden kann (vgl. Keuchel und Wiesand 2008, S. 23). Bezogen auf die Wohnformen zeigt sich, dass Menschen im betreuten Wohnen stärker als jene im Seniorenheim am Kulturgeschehen interessiert sind. Deutlich wird dadurch, dass es nicht nur der Gesundheitszustand ist, sondern auch die soziale Teilhabe, die mit kulturellem Interesse korreliert. Motivierend wirken auch soziale Beziehungen. In Bezug auf den Aspekt des Migrationshintergrundes können im KulturBarometer 50+ aufgrund einer zu kleinen Stichprobe nur bedingt Aussagen getroffen werden. Es zeigt sich aber, dass es in Bezug auf die Herkunftsländer Variationen gibt, z. B. ob es sich um Mitgliedschaften in Vereinen mit allgemeinem Kulturbezug handelt oder mit Bezug zum Herkunftsland (ebd., S. 34). Auch Menschen mit einer positiven Einstellung zum lebenslangen Lernen sind stärker an Kultur interessiert. Vergleichbar mit der Typologie der Studie „Die Best Ager“ (TNS Emnid 2004) teilen auch Keuchel und Wiesand (2008) die Gruppe der Älteren in „erlebnisorientierte Aktive“ (meist 50- bis 59-Jährige), „kulturell Aktive“ (oft 60- bis 69-Jährige) und passive Ältere (oft 70 Jahre und älter) ein. Interessant ist, dass die vor allem erlebnisorientierten Aktiven und meist jüngeren Alten sowohl in ihrem Kulturverständnis als auch in ihren Erwartungen an Kulturbesuche eine stärkere Nähe zu jungen Menschen zeigen als die Hochaltrigen (vgl. hierzu auch Hippe und Sievers 2006, S. 91). Das KulturBarometer 50+ macht auch deutlich, dass es schwierig ist, „Menschen, die früher keine Berührungspunkte mit Kunst und Kultur hatten, im Alter für Kultur zu interessieren“ (Keuchel und Wiesand 2008, S. 74). Kulturelle Bildung im Alter beginnt so gesehen schon sehr viel früher im Leben. Gründe, warum Angebote nicht besucht werden, liegen in persönlichem Desinteresse und dem im Bekanntenkreis, in zu hohen Eintrittspreisen, mangelnden Möglichkeiten der Heranführung sowie in gesundheitlichen Einschränkungen und ungünstigen Verkehrsanbindungen. Bezogen auf die künstlerischen Eigenaktivitäten zeigt sich ein ähnliches Bild. Zum einen gibt es eine Korrelation zwischen dem Interesse an Kultur und dem eigenen künstlerischen Schaffen. Zum anderen behalten 76 % der künstlerisch-kreativ Aktiven der Generation 50+ diese Aktivitäten im Alter bei (vgl. ebd., S. 100). Dabei zeigt sich, dass die unterschiedlichen Medien nicht nur hinsichtlich ihrer Nutzung variieren, sondern dass das Nutzungsverhalten alterskorreliert ist. So werden visuelle
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künstlerische Tätigkeiten (Fotografieren, Malen, Zeichnen, Filmen etc.) eher von den jüngeren Älteren ausgeübt. Gerade diese erlebnisorientierten aktiven Älteren haben auch ein hohes Zutrauen, künstlerische Fertigkeiten noch im Alter zu erlernen. Zwar zeigen 31 % der über 50-Jährigen, die keinen künstlerisch, gestaltenden Tätigkeiten nachgehen, Interesse für Angebote zu künstlerisch-kreativen Eigenaktivitäten, aber auch 52 % nicht. Hier wird deutlich, dass es zumindest eine schwierige Aufgabe ist, diese Gruppe anzusprechen. Auch der Bildungsbericht „Bildung in Deutschland“, der in 2012 einen Schwerpunkt im Bereich der kulturellen/musisch-ästhetischen Bildung im Lebenslauf hatte, legt nahe, dass es wenig realistisch sei, „dass es nach der Erwerbsphase zu einem neuen Schub kultureller Aktivität komme“ (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012, S. 173). Deutlich wird im KulturBarometer 50+ auch, dass künstlerisch-kreative Prozesse vor allem allein und im Bekannten-, Familien- und Freundeskreis ausgeübt werden und nicht in organisierten Angeboten (vgl. Keuchel und Wiesand 2008, S. 97), ein weiterer Aspekt, den die professionell organisierte Kulturarbeit zu berücksichtigen hat. Als Motive, künstlerisch-kulturell selbst tätig zu werden, können zum einen die „soziale Resonanz“, zum anderen die „Möglichkeiten der Selbsterfahrung und das persönlichkeitsentwickelnde Potenzial künstlerischen Handelns“ (Sieben 2008, S. 39) genannt werden. Die „soziale Resonanz“ erfährt angesichts der Möglichkeiten der neuen Medien nochmals eine andere Bedeutung: So finden sich auf Youtube inzwi schen zahlreiche Filme von Senior/-innen, die rappen, tanzen und vorlesen etc. (vgl. die Youtube-Kanäle: Propa; MarmeladenOma), Fortnite-Tänze erproben oder sich als ‚Zocker‘ präsentieren (vgl. den Youtube-Kanal: Senioren Zocken). Praktiken im Umgang mit Medien wie auch künstlerisch-kulturelle Darbietungen erhalten so nochmals ganz andere Sichtbarkeit und Rezeption und adressieren ein breites Publikum, was für ältere Menschen attraktiv sein kann und möglicherweise zu Veränderungen der Bilder des Alter(n)s führt. Diese Formen der medialen Präsentationen sind allerdings noch wenig erforscht, stehen doch nach wie vor Studien zur Medienaneignung im Vordergrund (vgl. Thalhammer 2018).
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Orte kultureller Bildung im Alter
Kulturelle Bildung und Kulturarbeit mit, von und für ältere(n) Menschen wird von sehr unterschiedlichen Einrichtungen angeboten bzw. dort organisiert, welche sich grob drei Bereichen zuordnen lassen, auch wenn es Überschneidungen gibt (vgl. Groote und Nebauer 2008; Groote und Nebauer 2009): Kunst und Kultur Hierunter zählen erstens öffentliche und private Kulturinstitutionen wie Museen (vgl. bspw. Adams et al. 2018), Theater, Opern, Bibliotheken, Literaturhäuser, Tanz-
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einrichtungen etc. Dabei kann es sich sowohl um Angebote handeln, in denen ältere Menschen selbst künstlerisch tätig werden (vgl. hierzu die Beiträge in Fricke und Hartogh 2016) als auch um solche, in denen sie Kunst rezipieren, bzw. um Projekte, in denen Rezeption und Produktion miteinander verschränkt sind (vgl. Herrmann 2016; Adams et al. 2018). Angesichts der Tatsache, dass noch nicht einmal alle Einrichtungen kulturpädagogische Angebote in ihrem Programm haben, ist davon auszugehen, dass dies in noch größerem Ausmaß für methodisch abgestimmte Angebote für ältere, vor allem hochaltrige Menschen gilt (vgl. Groote und Nebauer 2008, S. 89). Zweitens sind es kulturpädagogische Einrichtungen wie öffentliche und private Musik- und Kunstschulen, theaterpädagogische Zentren, (kirchliche) Akademien etc., die zunehmend ältere Menschen durch senioren- oder generationenbezogene Ange bote ansprechen wollen. Angebote finden zum Teil auch in Kooperation, beispielsweise mit Pflegeheimen, statt. Soziales und Gemeinwesenarbeit Dieser Bereich umfasst kunstnahe Orte und Einrichtungen wie soziokulturelle Zentren und kirchliche Kulturarbeit ebenso wie Einrichtungen der offenen Altenarbeit, des Gesundheitsbereichs, der Senioren-, Alten- und Pflegeheime, aber auch der Migrationssozialarbeit und Migrantenselbstorganisationen. Es ist dies der Bereich, der im engeren Sinne mit sozialer Kulturarbeit in Verbindung gebracht wird. Soziokulturelle Zentren, die meist in den 1970er und 1980er Jahren entstanden sind, waren von ihrer Ausrichtung von jeher generationenübergreifend und auf einen Stadtteil oder ein Gemeinwesen ausgerichtet. Durch Fördergelder, häufig kommunale Unterstützung, die Erwirtschaftung eigener Gelder und die Einbindung von Ehrenamtlichen wird versucht, die Angebote trotz zahlreicher Mittelkürzungen für alle Menschen zugänglich zu halten. Indem sowohl Räume für künstlerisches Arbeiten als auch für einen offenen Austausch im Gastronomiebereich zur Verfügung stehen, findet hier in besonderer Weise eine Verbindung von Begegnung und Kunst statt (vgl. Groote und Nebauer 2008, S. 121). Auch die momentan durch das BMFSFJ geförderten „Mehrgenerationenhäuser“ weisen in eine ähnliche Richtung. Kirchliche Alten(bildungs-)arbeit ist insofern von besonderer Bedeutung, weil gerade ältere Menschen dort stärker eingebunden sind als jüngere und Kunst in besonderer Weise in Kirchen vermittelt wird (Kirchenmusik, Chöre, Singkreise, visuelle Kunst). Angebote kultureller Bildung können dort einen Beitrag dazu leisten, mehr Menschen (junge Alte, aber auch Hochaltrige in der zugehenden Altenarbeit) anzu sprechen. Im Bereich der offenen Altenarbeit (z. B. Seniorenfreizeitstätten, Altenclubs, Altentagesstätten, Seniorentreffs) und im Bereich der stationären Altenarbeit gibt es erstens Angebote, selbst künstlerisch-kreativ tätig zu werden. Zweitens werden zum Teil gemeinschaftliche Besuche von Kulturveranstaltungen durchgeführt bzw. werden diese in die Heime eingeladen. In Heimen wie auch in Einrichtungen und Institutionen des Gesundheitsbereichs sind die Übergänge zwischen therapeutischer und sozialer Arbeit mit künstlerischen Medien und kultureller Bildung fließend.
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Für die Integration von Migrant/-innen wird Kunst und Kultur als bedeutsamer Faktor betrachtet. Gleichwohl gibt es nach wie vor in der Migrationssozialarbeit und in der Kulturarbeit noch wenig künstlerisch-kulturelle Angebote, die explizit diese Gruppe adressieren. Dies gilt in besonderem Maße für ältere Migrant/-innen, die in der Sozialen Arbeit insgesamt erst in den letzten Jahren zunehmend ins Blickfeld rücken (vgl. Horn et al. i. d. B.). Einrichtungen der Erwachsenenbildung Wie auch für andere hier bereits genannte Bereiche gilt für viele Angebote der Erwachsenenbildung (z. B. Volkshochschulen, kirchliche Erwachsenenbildung), dass sie nicht ausschließlich für ältere Menschen vorgehalten werden (insbesondere nicht im künstlerisch-kulturellen Bereich) und dass die kulturelle Erwachsenenbildung (vgl. Robak und Fleige 2017) nur einen, angesichts der Betonung beruflicher Weiterbildung, zum Teil kleiner werdenden Teil des Angebots umfasst (vgl. Gieseke et al. 2005; Stang 2005; Groote und Nebauer 2008, S. 22; Reichart et al. 2018). Letzteres gilt auch für das universitäre Seniorenstudium und die Seniorenakademien. Dass sich die Angebote zunehmend auch im Bereich der kulturellen Erwachsenenbildung an den Interessen und Bedürfnissen der älteren Menschen orientieren müssen, wird anhand der Volkshochschulstatistik deutlich: Bei insgesamt stark steigender Tendenz waren 2017 im Bereich ‚Kultur – Gestalten‘ der Volkshochschulen 32,1 % der Teilnehmenden 50 bis 64 Jahre alt und 21,1 % 65 Jahre und älter, wobei hier vor allem Kurse mit künstlerisch-kulturellen Eigenaktivitäten im Vordergrund stehen (Reichart et al. 2018, S. 53). In der kirchlichen Erwachsenenbildung ist der Bereich ‚Kultur – Gestalten‘ prozentual vergleichbar mit dem der Volkshochschulen, tendenziell sogar umfangreicher (vgl. die Übersicht in Groote und Nebauer 2008, S. 219). Zu diesen institutionalisierten Orten kommen vielfältige selbstorganisierte Initiativen, in denen ältere Menschen zusammen mit anderen künstlerisch-kulturell tätig sind. Die genannten Einrichtungen und Orte werden sehr unterschiedlich genutzt: So steht beispielsweise an erster Stelle der organisierten Formen der Verein (z. B. Musikverein) und die Jüngeren der Generation 50+ frequentieren häufiger als die Älteren die Volkshochschule. Frauen nutzen tendenziell eher Angebote von Bildungsstätten und Männer eher Vereinsstrukturen (vgl. Keuchel und Wiesand 2008, S. 97 ff.). Die Heterogenität des Feldes bringt es mit sich, dass es zu den in diesem Feld tätigen Fachkräften und Ehrenamtlichen keine genauen Daten gibt. Diese Schwierigkeit wird dadurch noch verstärkt, dass häufig freiberufliche Künstler/-innen und (Kultur-) Pädagog/-innen engagiert werden, zudem vielfach projektförmig gearbeitet wird und die Vorgehensweisen länder- und kommunenspezifisch variieren (vgl. hierzu auch Stang 2005). Für den Bereich der kulturellen Bildung im Alter kann aber angenommen werden, dass Fachkräften der Sozialen Arbeit nicht selten die Aufgabe zukommt, Projekte und Angebote zu organisieren und nur zum Teil, sie selbst durchzuführen. Die Breite der Träger und Bildungsorte macht zudem deutlich, dass kulturelle Bildungsarbeit mit älteren Menschen nicht mehr vor allem als Soziokultur oder soziale
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Kulturarbeit verstanden werden kann (vgl. Hippe und Sievers 2006, S. 10), sondern als eine kulturpolitisch in ihrer Breite zu verankernde Aufgabe, die an unterschiedlichen Orten stattfindet.
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Perspektiven der Seniorenkulturarbeit
Trotz der Heterogenität des Feldes lassen sich aus der gegenwärtigen Arbeit einige konzeptionell relevante Perspektiven skizzieren, die sich an den (potenziellen) Nutzer/-innen orientieren (vgl. zu zahlreichen Praxisbeispielen: Ermert und Lang 2006: Ermert et al. 2008; Groote und Nebauer 2008; Ermert und Fricke 2009; Fricke und Hartogh 2016). Altershomogene, -heterogene oder intergenerationelle Arbeit ?
Geht man von den Präferenzen der Nutzer/-innen aus, so gibt es kein eindeutiges Bild, ob bevorzugt in altersgemischten oder altershomogenen Gruppen gelernt bzw. künstlerisch-kreativ gearbeitet wird (vgl. Groote und Nebauer 2008, S. 41; Keuchel und Wiesand 2008, S. 93 ff.; Groote 2016, S. 51). Tendenziell bevorzugen Hochaltrige, die eher körperliche Einschränkungen haben, altershomogene Gruppen. Die Entscheidung, ob Angebote kultureller Bildung ausschließlich Ältere adressieren sollen, muss insofern vom Thema, den Medien und den angesprochenen Personen abhängig gemacht werden. Ob Generationendifferenzen zum Thema des künstlerischen Gestaltens gemacht werden bzw. ein Austausch zwischen den Generationen (und nicht nur ein Nebeneinander mit wohltätig-integrativer Absicht) stattfindet (vgl. Fricke 2013/2012), ist dann Inhalt einer intergenerationellen Arbeit (vgl. zu intergenerationeller pädagogischer Praxis: Karl 2012). Gerade künstlerische Medien, die Differenzerfahrungen bei den Einzelnen auslösen können, ermöglichen auch, die Differenz zwischen Gruppenmitgliedern zu bearbeiten. Allerdings ist hierfür eine sensible päd agogische Begleitung hilfreich, die sowohl den Gruppenzusammenhalt stärkt als auch potenzielle Konflikte moderiert und ggf. in die künstlerische Arbeit einbindet. Bezieht man sich auf Angebote 50+ oder 55+ so muss zudem betont werden, dass in solchen Gruppen meist auch mehrere Generationen vertreten sind, die vollkommen andere Erfahrungshintergründe z. B. in Bezug auf die Kriegs- und Nachkriegszeit (vgl. Fooken i. d. B.) haben. ‚Intergenerationell‘ bezieht sich aber nicht nur auf die Zusammensetzung der Gruppen, sondern kann sich auch auf das Verhältnis zwischen Produzent/-innen und Publikum beziehen (Jugendliche spielen im Pflegeheim Theater, Senior/-innen in einer Schule). Der Austausch zwischen den Generationen wird zum Teil auch dann zum Thema, wenn ältere Ehrenamtliche mit Jüngeren künstlerisch arbeiten und umgekehrt.
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Interkulturelle Arbeit Angesichts einer zunehmenden Internationalisierung der Gesellschaft als eine Fa cette des demografischen Wandels wird insgesamt postuliert, dass sich Kultureinrichtungen diesen Veränderungen stellen müssen (vgl. Hausmann 2007, S. 55). Daraus folgt jedoch nicht eine weitere Zielgruppenspezifikation (mit der Gefahr der Ghettobildung), sondern vielmehr die stärkere Berücksichtigung in kultureller Bildung angelegter interkultureller Facetten, um so auch ältere Menschen mit Migrationshintergrund anzusprechen (Herrmann 2016). Im Zentrum steht dann das interkulturelle Lernen, also das Entwickeln von Sensibilität und Toleranz gegenüber der Andersartigkeit, Vielfalt und Widersprüchlichkeit sozialkultureller Ausdrucksformen, die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und die Wahrnehmung von Diskriminierung (vgl. Witte 2007, S. 8). Pädagogisch wie künstlerisch muss im Produktionsprozess dazu angeleitet werden, dass das Uneindeutige, Ungewisse und Fremde ausgehalten und gestaltet wird (vgl. Treptow 2001, S. 142), denn eine rasche Aneignung findet nicht selten ihren Ausdruck in einer plakativen Festschreibung kultureller Klischees. Insofern stellt die Verknüpfung, manchmal sicherlich auch Verstärkung, der Differenzerfahrung durch Kunst und durch die Heterogenität der Gruppen eine besondere Bildungsherausforderung dar. Biografiearbeit und Lebensweltbezug im künstlerischen Produktionsprozess Nimmt man die in den beiden ersten Punkten beschriebenen Herausforderungen durch Diversity (weitere Dimensionen wie Körperlichkeit u. a. müssten berücksichtigt werden) als Quelle künstlerischen Gestaltens ernst, so wird deutlich, dass es sinnvoll sein kann, die Perspektiven der Beteiligten, ihre biografischen und lebensweltlichen Erfahrungen als Teil des künstlerischen Produktionsprozesses medienspezifisch einzubeziehen (vgl. Groote und Nebauer 2009, S. 181). Dabei geht es nicht nur um Erinnerungen an die Kriegs- und Nachkriegszeit, sondern um eine forschende, künstlerische Bearbeitung von lebensgeschichtlichen, persönlichen Erinnerungen und gegenwärtigem Lebensgefühl sowie um eine Positionierung zu relevanten Themen (vgl. für das Altentheater: Bittner und Kaiser 2004). Biografiearbeit wird so gesehen auch als das Herstellen von Sinn in Bezug auf die Gegenwart und zwischen einzelnen Erlebnissen in der Vergangenheit verstanden, ein Aspekt, der gerade für ältere Menschen besondere Bedeutung hat. Kulturangebote und Adressat/-innen zusammenbringen Der kulturpolitische Anspruch, dass Kultur für alle Menschen zugänglich sein muss, stellt sich im Alter angesichts von Mobilitätseinschränkungen, aber bspw. auch von demenziellen Erkrankungen in besonderer Weise. Eine zunehmend positiv konno tierte Alterswahrnehmung muss hier gleichzeitig mit einer Berücksichtigung und Anerkennung vulnerabler Gruppen im Alter bzw. von Vulnerabilität im Alter einher gehen (vgl. Adams et al. 2018). Auch der – durchaus heterogene – ländliche Raum erfährt zunehmend Berücksichtigung, und die Verankerung von künstlerisch-kultu
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rellen Praxen und Teilhabe fordert mitunter zu ungewöhnlichen Orten auf, um die jeweiligen Zielgruppen zu erreichen und ihnen so die Aneignung ihrer Räume zu ermöglichen (vgl. Lauterbach-Dannenberg 2019). Inzwischen werden zudem Kulturangebote speziell für ältere Menschen in Heimen entworfen. Auch in der künstlerischen Arbeit mit Demenzerkrankten wird ein breiter Bedarf gesehen (vgl. Franklin Gould 2016; Ganß et al. 2016; Adams et al. 2018). Allerdings können sich oftmals nur exklusive Einrichtungen professionelle Angebote von Künstler/-innen oder Kulturpädagog/-innen leisten (vgl. Sieben 2007, S. 62). Der Einsatz von Ehrenamtlichen ist zwar eine sinnvolle Ergänzung, kann aber in der Breite, Tiefe und Kontinuität den Bedarf nicht decken. Zudem wurde oben gezeigt, dass es nicht nur gesundheitliche Einschränkungen sind, die kulturelle Teilhabe verhindern, sondern auch fehlende niedrigschwellige Einstiegsangebote für eher kunstferne Personen (vgl. Groote 2013, S. 76). Die Kulturarbeit ist hier konzeptionell gefordert, um möglichst viele Menschen zu interessieren und den Aspekt der sozialen Begegnung zu stärken. Als ein Konzept kann „Keywork“ bzw. „Keywork4“ (Knopp und Nell 2014; Nell und Knopp 2014) beschrieben werden: Vertreter/-innen einer bestimmten Zielgruppe werden zunächst an eine Institution (z. B. ein Museum), deren Inhalte und Kommunikationsformen herangeführt, sie eignen sich diesen Ort an. Das dort positiv Erlebte wird dann an andere Menschen im eigenen Umfeld weitergegeben und diese werden im besten Fall dafür begeistert. Ziel ist dabei die Partizipation, im Sinne von kultureller Teilhabe und Beteiligung und Mitbestimmung an Entscheidungen (vgl. Knopp 2014), sowie die Selbstorganisation der Beteiligten, die sich partizipativ in den Kultureinrichtungen einbringen, wodurch dem „Profi-Laien-Mix“ besondere Aufmerksamkeit gilt (Nell und Knopp 2014). Über Kulturarbeit können so auch neue soziale Netzwerke entstehen. Kontraproduktiv wirkt hingegen eine hohe finanzielle Selbstbeteiligung, wenn öffentliche Gelder gekürzt werden, eine Situation, die eher zu einer Verstärkung der im Lebenslauf wirksamen Benachteiligungen führt und zukünftig auch das Nachfragepotenzial bildungsnaher Gruppen einschränken könnte. Ehrenamtliche in der Kulturarbeit
Kultur und insbesondere Soziokultur gehören von jeher zu den Bereichen, in denen ehrenamtliches Engagement bedeutsam ist (vgl. Wagner 2000; Wagner und Witt 2003; Notz 2005). Im allgemeinen politischen Trend, die Potenziale des Alters für ehrenamtliches Engagement und ihre Nutzung für die Gemeinschaft zu fördern, werden ältere Menschen nun besonders im Kulturbereich, der starken Kürzungen unterliegt, als Kulturvermittler/-innen und Kulturschaffende adressiert. Einerseits wird betont, dass ehrenamtliches Engagement keinen Ersatz darstellen kann für professionelle Mitarbeiter/-innen einer Einrichtung, ja sogar zusätzlichen Personals zur Begleitung und Weiterbildung bedürfen würde. Andererseits wird seine Bedeutung in „ergänzende[n] Angebote[n]“ (Keuchel und Wiesand 2008, S. 102) gesehen, „die über öffentliche Haushalte in der Regel nicht mehr zu finanzieren sind“ (ebd.). Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass in diesem Bereich, in dem zudem viele frei-
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beruflich tätig sind, sich die Zone der fließenden Übergänge und damit potenziell auch die Konkurrenz zwischen Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen verbreitern wird, und auch Ehrenamtliche Tätigkeiten ehemals fest Angestellter ausüben (z. B. in der Kulturvermittlung in Bibliotheken, Kunstvereinen etc). Unabhängig davon ist die Chance freiwillig Engagierter aber, neben dem Nutzen für sie selbst, vor allem darin zu sehen, dass sie auf andere Weise andere Zielgruppen erreichen und konzeptionell bei der Entwicklung von Angeboten mitwirken können (z. B. als Keyworker). Fachkräfte übernehmen dann die Begleitung und Weiterbildung. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang auch die Netzwerkbildung zwischen selbstorganisierten Angeboten, Gruppen und Initiativen und etablierten Einrichtungen der Kulturarbeit (vgl. Groote 2013; Nell 2014). Allerdings gilt es bei diesem Profi-Laien-Mix die Konfliktlinien und unterschiedlichen Interessenslagen im Blick zu behalten und mit ihnen einen Umgang zu finden (vgl. Nell und Knopp 2014, S. 25 ff.).
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Rechtliche und finanzielle Rahmenbedingungen der Förderung
Kulturelle Bildung und (soziale) Kulturarbeit mit älteren Menschen unterliegt in den meisten Fällen einer Mischfinanzierung: Eigenbeiträge der Teilnehmenden, private Förderung durch Vereine, Stiftungen, Sponsoring und unterschiedliche staatliche Fördermöglichkeiten. Entsprechend der Heterogenität der Einrichtungen finden unterschiedliche rechtliche Rahmenbedingungen und Fördermöglichkeiten Anwen dung. Auf der kommunalen Ebene kommt insbesondere neben den momentan vielerorts gekürzten Mitteln für (Sozio-)Kultur insbesondere der § 71 (Abs. 2, Satz 1 und 5) SGB XII (Altenhilfe) in Betracht, nach dem alten Menschen bzw. in Vorbereitung auf das Alter „1. Leistungen zu einer Betätigung und zum gesellschaftlichen Engagement, wenn sie vom alten Menschen gewünscht wird, […] 5. Leistungen zum Besuch von Veranstaltungen oder Einrichtungen, die der Geselligkeit, der Unterhaltung, der Bildung oder den kultu rellen Bedürfnissen alter Menschen dienen“
gewährt werden sollen (vgl. hierzu Hammerschmidt und Löffler i. d. B.). Im Prinzip entsteht hier ein weites Feld von Möglichkeiten, die aber nicht im gleichen Maße wie andere Leistungen der Sozialhilfe genutzt werden und deren Nutzung in hohem Maße von den kommunalen Umsetzungspraxen abhängt. Zudem kann es trotz oder gerade wegen Überschneidungen und Ähnlichkeiten zu Konkurrenzen bei der kommunalen Mittelverteilung zwischen den Bereichen Soziales und Kultur kommen (vgl. Trilling 2009). Auf der Ebene der Bundesländer sind zum einen die Weiterbildungsgesetze zu nennen, die zum Teil kulturelle Bildung explizit nennen, zum Teil vergleichbare Aspekte der allgemeinen Weiterbildung zuordnen (vgl. Stang 2005, S. 38 ff.; Deutscher
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Bundestag 2007, S. 401). Dabei zeigt sich jedoch eine „deutliche Tendenz, die kultu relle Bildung insgesamt bzw. Teilbereiche, aber auch kulturelle Institutionen, die keine Weiterbildungseinrichtungen sind, von der Förderung auszuschließen“ (Deutscher Bundestag 2007, S. 401). Zum anderen fördern unterschiedliche Ministerien einzelne Projekte der Senioren-/Generationenkulturarbeit, z. B. der Förderfonds „Kultur und Alter“ des Kultusministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen (vgl. Groote und Nebauer 2008, S. 62 ff.). Auf der Bundesebene kommt insbesondere der „Bundesaltenplan“ in Betracht, vor allem wenn es um die Entwicklung von Strukturen, um Modellprojekte und internationale Vernetzung geht (vgl. BMFSFJ 2009). Hinzu kommen zahlreiche Programmausschreibungen, die Initiativen und Modellprojekte zeitlich begrenzt fördern und gegenwärtig häufig im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements verortet sind (zu sog. Modellprogrammen vgl. auch Hammerschmidt und Löffler sowie Aner in Kap. I.1 i. d. B.).
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Entwicklungs- und Forschungsbedarf
Ältere Menschen sind anspruchsvoller geworden und wollen mehr als Zerstreuung durch die Beschäftigung mit Kunst und Kultur. Zu einem gestiegenen künstlerischen Anspruch in Bezug auf künstlerische Produktionen hat auch die nunmehr rund 40-jährige Praxis in der gezielten Kulturarbeit mit älteren Menschen geführt, die durch Ausweitung der Angebote, Erprobung neuer pädagogischer und künstlerischer Handlungsformen, Vernetzung, Diskussionen und künstlerischen Austausch z. B. bei (internationalen) Festivals, sowie die Etablierung der Kulturgeragogik gekennzeichnet ist. Bei diesem Anspruch geht es aber nicht um Leistungsmaßstäbe der Hochkultur, sondern um die Anstrengung, Erlebnisse durchzuarbeiten und Differenzen zu erfahren, Formen zu finden und diese Formen differenziert zu beurteilen. Der Suche nach der Form im künstlerischen Gestalten kommt so gesehen besondere Bedeutung zu. Diese ist aber nicht losgelöst vom pädagogischen Anspruch. Vielmehr liegt in der freiwillig gewählten, anstrengenden Auseinandersetzung die Chance von Bildungsprozessen. Diese gehen über nur technisches Können hinaus (vgl. Treptow 2001, S. 129, 142 f.; Karl, U. 2005, S. 321 ff.). Um diesen Anforderungen von Seiten der Fachkräfte gerecht zu werden, besteht momentan Qualifizierungsbedarf in zwei Richtungen: Erstens müssen (Kultur-)Pädagogen/-innen, Sozialarbeiter/-innen mit künstlerischen Qualifikationen (ebenso wie Künstler/-innen) sich geragogische und gerontologische Kenntnisse und Fähigkeiten aneignen. Zweitens brauchen Fachkräfte der Alten(bildungs-)arbeit häufig zusätzliche künstlerische oder kulturpädagogische Qualifikationen, um den künstlerischen Auseinandersetzungsprozessen gewachsen zu sein (vgl. Groote 2013, S. 231 f.). Inzwischen sind in diesem Sinne Weiterbildungen im Bereich der Kulturgeragogik entstanden, z. B. die berufsbegleitenden Weiterbildungen „Spielleiter für Menschen mit Demenz“ und „KuBA – Kunstbegleiter/Kunstbegleiterin für Menschen im Alter und mit Demenz“ des International Institute for
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Subjective Experience and Research (ISER), der Zertifikatskurs KUNSTgeragogik der Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel sowie der berufsbegleitende Zertifikatskurs Kulturgeragogik in Kooperation zwischen dem Kompetenzzentrum für Kulturelle Bildung im Alter und Inklusion (kubia) in Remscheid und der Fachhochschule Münster (vgl. Groote 2013; Baumann und Groote 2018). Allerdings reicht eine ausschließliche Orientierung auf das Alter nicht aus. Vielmehr bedarf es sowohl auf der Ebene der Qualifizierung als auch auf der der Forschung einer Orientierung an Diversity, um so die Vielfältigkeit des Alter(n)s, des interkulturellen und intergenerativen Zusammenlebens ebenso wie soziale Ungleichheit kulturpädagogisch aufzugreifen (vgl. auch Fuchs 2007, S. 6). Modellprojekte können dabei zwar innovativ hilfreich sein. Sie können aber auch einer nachhaltigen Professionalisierung des Feldes entgegenstehen (vgl. Groote und Nebauer 2008, S. 23). Um die „kulturelle Breitenarbeit“ (Hippe und Sievers 2006, S. 93) und Kulturteilhabe zu fördern, ergibt sich für die Soziale Arbeit die Notwendigkeit zum einen mit Kulturinstitutionen zu kooperieren und sich zu vernetzen, zum anderen selbstorganisierte Initiativen und Gruppen im Kulturbereich zu unterstützen und auf Wunsch in die Entwicklung, Gestaltung und Verbreitung von Möglichkeiten kultureller Bildung einzubinden (vgl. Groote und Nebauer 2009, S. 192). Damit verbunden müssten die Fachkräfte stärker für die Begleitung und Weiterbildung Ehrenamtlicher geschult werden. Zudem gilt es, die lebensstilspezifischen künstlerisch-kulturellen Interessen älterer Menschen zu berücksichtigen, denn ältere Menschen altern zusammen mit ‚ihren‘ Bands, Stars und Idolen, deren Kunst früher Teil ihrer jugendkulturellen Lebensweisen war. Sie blieben häufig im Lebensverlauf weiterhin bedeutsam und stehen bis heute vielfach auf der Bühne und prägen und verändern die Bilder des Alter(n)s mit. Dass ältere Menschen maßgeblich zu ihrem Publikum zählen, zeigt sich beispielsweise auch darin, dass zunehmend eine Bestuhlung bei Rockkonzerten angeboten wird, sog. Mehrgenerationenkonzerte (Keuchel 2009, S. 163). Desweiteren gilt es auch, die neuen Medien in der Kulturarbeit mit älteren Menschen stärker zu berücksichtigen, um so in der Verknüpfung unterschiedlicher Räume und Kommunika tionsformen für ältere Menschen attraktive Angebote zu schaffen. Forschungsbedarf besteht aus der Sicht Sozialer Arbeit zudem mindestens in mehrfacher Hinsicht: Erstens fehlen bis auf wenige Ausnahmen (vgl. Karl, U. 2005) systematische Studien zu Bildungsprozessen im Rahmen ästhetischer Praxis. Zweitens müsste die Einbindung von Ehrenamtlichen auch hinsichtlich ihres Konfliktpotenzials genauer untersucht werden. Drittens fehlt eine nach unterschiedlichen Berufsgruppen differenzierte Statistik von Fachkräften, die mit älteren Menschen Kulturarbeit leisten. Viertens schließlich fehlen Studien zur kulturellen Bildung im Alter hinsichtlich der Nutzung internetbasierter Technologien, des Sich-Bewegens in virtuellen Räumen und des Sich-Zeigens in der Öffentlichkeit des Internets, vor allem über Plattformen wie Youtube oder Facebook.
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Ausgewählte Literatur Fricke, Almut, und Theo Hartogh. Hrsg. 2016. Forschungsfeld Kulturgeragogik – Research in Cultural Geragogy. München: kopaed. Karl, Ute. 2005. Zwischen/Räume. Eine empirisch-bildungstheoretische Studie zur ästhetischen und psychosozialen Praxis des Altentheaters. Münster: LIT. Keuchel, Susanne, und Andreas Johannes Wiesand. 2008. Das KulturBarometer 50+ „Zwischen Bach und Blues…“. Bonn: ARCult Media.
Soziale Arbeit im Kontext von Bildung und Lernen im Alter Cornelia Kricheldorff
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Zum Verhältnis von Bildung und Lernen
Bildung als konstitutives Element institutioneller Angebote, die insgesamt als geschichtlich gewachsenes Gefüge das Bildungswesen strukturell bestimmen (vgl. Gukenbiehl 1998, S. 86), ist jeweils eng verknüpft mit Bildungsidealen, -erwartungen und -zielen. Damit umfasst das Bildungssystem sowohl curricular definierte Qualifizierungsmöglichkeiten in der Aus-, Fort- und Weiterbildung, vor allem im Hinblick auf schulische und berufliche Qualifikation, als auch offenere und partizipativ ange legte Angebote der allgemeinen, politischen und kulturellen Bildung (vgl. zur kultu rellen Bildung Karl i. d. B.). In funktionalistischer Perspektive wird Bildung vor allem als ein relevantes Instrument der Sozialisation gesehen, das gesellschaftliche Inklusion oder Exklusion sowie soziale Differenzierung und Distinktion erzeugt (vgl. Gukenbiehl 1998, S. 86; Hillmert 2009; Bubolz-Lutz et al. 2010, S. 22). Als postulativer Wertbegriff wird Bildung durch wechselnde Leitbilder inhaltlich bestimmt, die wiederum von historischen und politischen Einflüssen geprägt werden (Gukenbiehl 1998, S. 85; Kolland 2005, S. 13; Bubolz-Lutz et al. 2010, S. 22). In diesem Kontext ist es wichtig, eine deutliche Unterscheidung zwischen Lernund Bildungsprozessen vorzunehmen. Lernen wird dabei als grundlegende Fähigkeit des Menschen verstanden, Anpassungsleistungen an sich im Lebenslauf verändernde Lebensbedingungen und -umstände weitgehend selbst gesteuert zu vollziehen. Die dafür notwendigen Lernprozesse sind in der Mehrzahl informeller Art. Sie geschehen oft nebenbei und unbemerkt, sind auch mit physischen und sozialen Veränderungsvorgängen verbunden und vor allem in den Bezügen des Alltags verankert (SchmidtHertha 2018). Soziale Arbeit begleitet und unterstützt diese individuellen Lernprozesse in vielfältiger Weise, ohne sie in der Regel explizit als solche zu definieren und zu beschreiben (Kricheldorff 2014a, 2018a). © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_10
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Die grundlegende Fähigkeit zu lernen stellt gleichzeitig die allgemeine Grundlage und Voraussetzung für Bildung dar, die eher einer reflexiven Ausrichtung folgt. Bildungsprozesse sind in dieser Logik geprägt von bewussten eigenen Entscheidungen, verbunden mit einem Abwägen durch „Vernunftgebrauch“ im Sinne des humboldtschen Bildungsideals (vgl. Benner 2003) und getragen von der Idee der Mündigkeit des Menschen sowie dem Gedanken der immer wieder notwendigen eigenen Positionierung und (Neu-)Verortung. In dieser Ausrichtung und Logik tragen Bildungsprozesse auch der Tatsache Rechnung, dass sich menschliches Leben nicht isoliert, sondern immer im sozialen Raum und Austausch vollzieht. Damit hat Bildung einen engen Bezug zu Konzepten in der Sozialen Arbeit, die auf Lebensweltbezug (Thiersch 2014), Ressourcenorientierung und Empowerment (Herriger 2014) setzen. Diese differenzierte Betrachtung von Lernen und Bildung erscheint vor allem in Bezug auf den konstruktiven Umgang mit Veränderungen im Prozess des Alterns hoch relevant, weil dabei sowohl individuell notwendige Anpassungs- und Lernprozesse als auch reflexive Bildungsprozesse im Sinne von Neuorientierung erforderlich sind (Schramek et al. 2018). Eine Trennschärfe in der Begriffsbildung und inhaltlichen Ausrichtung ist dabei hilfreich – auch für die Umsetzung von fachlich fundierten Bildungs-, Begleitungs- und Beratungsangeboten in der einschlägigen Fachpraxis, nicht zuletzt in der Form von Bildungsberatung (Kolland et al. 2018a) als eine Art Verbindungsglied zwischen dem Bildungsbereich und der Sozialen Arbeit. Der internationale Fachdiskurs zum Thema Bildung und Lernen im Prozess des Alterns wird derzeit noch erschwert und bestimmt durch den Einfluss unterschiedlicher Wissenschaftskulturen, was sich vor allem darin zeigt, dass Bildung als klar deutschsprachiges Konzept kein identisches Synonym in anderen Sprachen findet. Deshalb werden in der einschlägigen englischsprachigen Fachliteratur vor allem die Termini „learning in later life“ und „lifelong learning“ gebraucht, was jeweils eindeu tig auf den Lernbegriff fokussiert. Im Wissenschaftskontext wird zunehmend auch von „educational gerontology“ gesprochen, was in der französischen Sprache der „éducation à la vieillesse“ oder auch „formation“ entspricht. Die inhaltliche Orientierung dieser Termini steht allerdings im deutlichen Widerspruch zum aktuellen Fachdiskurs zur Altersbildung im deutschsprachigen Raum, weil sie die Vorstellung impliziert, dass Menschen im höheren Lebensalter der Erziehung bedürften. Diese fehlende begriffliche Passung erklärt auch eine gewisse Sprachlosigkeit im internationalen Kontext, worauf auch Kern (2018) verweist. Vor diesem Hintergrund und vor allem im Hinblick auf eine international ausgerichtete Diskussion zum Thema erhebt er deshalb die Forderung, den Bildungs- bzw. Lernbegriff möglichst einfach und soweit wie möglich sprach- und übersetzungsneutral zu definieren und dabei vor allem auf die mehr oder weniger strukturierte Unterstützung einer lernenden Person abzuheben (vgl. ebd., S. 15 f.). Dafür wird der in vielen Sprachen verständliche Begriff der Edukation (education, éducation) vorgeschlagen, der allerdings die reflexive Orientierung als maßgebliches Merkmal von Bildung eher vernachlässigt. Eine überzeugende Lösung für dieses Dilemma zeichnet sich also gegenwärtig nicht ab.
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Rahmenbedingungen und Strukturen
Für Lernen und Bildung im Alter ergeben sich aus diesem differenzierten und komplexen Verständnis sehr unterschiedliche Ansätze und Zugangsweisen. Bildung umfasst demzufolge also weitaus mehr als Angebote der expliziten Bildungsanbieter für ältere und alte Menschen, wie Volkshochschulen, Seniorenakademien, kirchliche Einrichtungen und ähnliche Institutionen (vgl. Sommer et al. 2004). Spannend sind darüber hinaus vor allem die Bildungsorte und -settings, die außerhalb von Bildungsinstitutionen liegen und inhaltlich auf der Schnittstelle zwischen Sozialer Arbeit und dem Lernen in lebensweltlichen Bezügen verortet sind (Kricheldorff 2015). So können Ansätze und Methoden der Sozialen Arbeit auch unmittelbar ein förderliches Lernklima schaffen, Lernanreize bieten oder lernbegleitend und -unterstützend wirken. Bildung im Alter rückt damit ganz nahe an die Lebenswelt älterer und alter Menschen heran und erfasst ein weit größeres Spektrum von möglichen Bildungsanliegen als dies traditionelle Bildungseinrichtungen vermögen. Das bedeutet aber auch, dass die im Bereich der Bildungsarbeit tätigen Mitarbeiter/-innen sehr unterschiedliche professionelle Hintergründe haben (Erwachsenenbildung, Soziale Arbeit, Heilpädagogik, Pflege u. a.) und damit auch sehr verschiedene Zielsetzungen verfolgen können. Die Bildung älterer und alter Menschen wird gesellschaftlich zwar als wichtig anerkannt (vgl. BMFSFJ 2004b, 2006a, 2010; Deutscher Bundestag 2016a), ein rechtlicher Rahmen, der die Finanzierung von entsprechenden Angeboten absichert, fehlt allerdings bislang noch immer, abgesehen von der grundsätzlichen Möglichkeit der Kommunen, im Rahmen des § 71 SGB XII auch Bildungsangebote zu unterstützen, was aber nur sehr marginal geschieht.
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Lebenslanges Lernen
Im Zuge der internationalen Diskussion um lebenslanges Lernen, wie auch des Wandels der geisteswissenschaftlichen Pädagogik zur Erziehungswissenschaft, hat sich der Begriff des Lernens gegenüber dem der Bildung durchgesetzt (vgl. Gösken et al. 2007). In diesem Kontext des anwendungsorientierten Wissenserwerbs wurden Lernen und die damit verbundenen Bildungsziele allerdings lange nur auf Kindheit und Jugendalter bezogen, in erster Linie auf die formale Bildung. Erst im Zusammenhang mit der internationalen, von der OECD vorangetriebenen Diskussion über lebenslanges Lernen wurde auch das Lernen erwachsener, älterer und alter Menschen verstärkt in den Blick genommen (kritisch dazu Aner 2015) und die Frage nach deren Lernfähigkeit positiv beantwortet (vgl. Staudinger 2003). Lebenslanges Lernen ist auch eines der Leitbilder, mit denen im 5. Altenbericht der Bundesregierung, unter Bezugnahme auf die Potenziale des Alters, ein inhaltlicher Schwerpunkt gesetzt wurde (BMFSFJ 2006a; Tippelt et al. 2009).
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Die Notwendigkeit lebenslangen Lernens wird allgemein und im Hinblick auf die Bildung Älterer im Besonderen begründet •• mit den Erfordernissen der Informations- und Wissensgesellschaft: In den Konzepten lebenslangen Lernens geht es vor allem darum, welches Wissen bzw. welche Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kompetenzen für die Orientierung in und Teilhabe an der Informations- und Wissensgesellschaft notwendig sind (Staudinger 2003, S. 39), •• mit dem Zwang zur permanenten Anpassung beruflicher Qualifikationen an die Erfordernisse des technischen Fortschritts, was in Zukunft aufgrund der vorgesehenen längeren Lebensarbeitszeit eine weit stärkere Partizipation älterer Arbeitnehmer/-innen an beruflicher Fort- und Weiterbildung notwendig machen wird (Schröder und Gilberg 2005), •• mit der Erkenntnis, dass in einer alternden Gesellschaft die Potenziale des Alters verstärkt für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft genutzt werden müssen und dass für deren Erhalt, Förderung und sinnvollen Einsatz die Unterstützung durch Bildung unverzichtbar ist (BMFSFJ 2006a; Deutscher Bundestag 2016a), •• mit der Bildungsaufgabe, die soziale Partizipation und Teilhabe der Älteren zu unterstützen (Kolland 2005, 2011), •• mit der Notwendigkeit, dass – vor dem Hintergrund des demografischen Wandels – ein Austausch zwischen den Generationen stattfinden muss, im Sinne des intergenerationellen Lernens (Keil und Brunner 1998; BMFSFJ 2006a; Deutscher Bundestag 2016a). •• mit der Bildungsaufgabe, biografische Orientierungs-, Entwicklungs- und Entfaltungsprozesse unter Individualisierungsbedingungen zu unterstützen (vgl. Gösken et al. 2007, S. 39 ff.; Kricheldorff und Trilling 2010; Kricheldorff 2005, 2014b). Insgesamt ist vom Zeitpunkt der Veröffentlichung des 5. Altenberichts an eine deutliche begriffliche Erweiterung vollzogen worden. Bis dahin war mit dem Konzept des lebenslangen Lernens fast ausschließlich die Konzentration auf berufsbezogenes Lernen und wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit verbunden. Die dann erfolgte deutliche Erweiterung der konzeptionellen Rahmung für lebenslanges Lernen, die in den folgenden Altenberichten konsequent weiterverfolgt wurde (BMFSFJ 2010; Deutscher Bundestag 2016a), auch zugunsten von Zielen und Angeboten für die nachberufliche Lebensphase, hat sich seitdem im Fachdiskurs fest etabliert. Auf die öffentliche Verantwortung für Bildung im Alter wird in diesem Kontext zu Recht deutlich hingewiesen, wenngleich das Recht auf Bildung für Ältere explizit nirgendwo verbindlich geregelt und verankert ist. Es lässt sich allenfalls ableiten aus der Pflichtaufgabe der Kommunen, im Rahmen der sozialen Altenhilfe nach § 71 SGB XII, soziale Teilhabe zu ermöglichen. Aber es ist auch unübersehbar, dass Lernen und Bildung in dieser neuen Logik des lebenslangen Lernens in erster Linie der Aufrechterhaltung, Förderung und Nutzung von Potenzialen der Älteren für ein gesundes, aktives Altern und die Übernah-
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me zivilgesellschaftlich relevanter Aufgaben dienen. Und genau das ist die kritische Seite der Positionierungen in den letzten drei Altenberichten (BMFSFJ 2006a, 2010; Deutscher Bundestag 2016a). Die normativen Forderungen, die mit der Stärkung und Erweiterung des Konzepts des lebenslangen Lernens einhergehen, bergen in sich die Gefahr, dass Ältere in Zukunft auch über Bildung immer stärker für gesellschaftliche und wirtschaftliche Erfordernisse instrumentalisiert werden könnten.
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Geragogik
Die Geragogik als junge Wissenschaftsdisziplin stellt die Fragen nach den spezifi schen Anliegen und Zielen von Bildung im Alter in anderer Form und erfährt damit eine steigende Aufmerksamkeit und Resonanz. „Entsprechend der gesamten Aufwertung von Bildung im Alter erfährt die Geragogik als Wissenschaft vom Lernen im Alter, für und über das Alter und das Altern zunehmend Anerkennung – sowohl innerhalb der sich weiter ausdifferenzierenden Gerontologie als auch seitens politischer Entscheidungsträger.“ (Köster und Schramek 2005, S. 232)
In der geragogischen Diskussion über ein angemessenes Verständnis von Altersbildung sind die Bestimmungsmerkmale von Bildung vielfältig thematisiert. Veelken (2003) etwa nennt als Aufgabe von Altersbildung die Entfaltung von Identität und die Auseinandersetzung mit altersspezifischen Entwicklungsaufgaben in einer konkret-historischen Kultur und Gesellschaft. Es wird ein ganzheitlicher Bildungsbegriff eingeführt, der nicht funktionalistisch ist und deshalb für die gesamte Altersphase, also auch für das hohe Alter, anwendbar ist (Bubolz-Lutz 2000a). Kade (2009) benennt als notwendige Orientierungen: Kompetenzen zur Alltagsbewältigung, Handlungs- und Sozialkompetenzen, aber auch kreative und biografische Kompetenzen. Es geht dabei um Selbstreflexivität, (Selbst-)Erleben und um (Selbst-)Ausdruck. Im Kontext des modernitätstheoretischen Diskurses ist die reflexive Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie und Lebensgestaltung vielfach als Bildungsaufgabe identifiziert worden. Die Reflexion lebensgeschichtlicher Erfahrungen, als wichtige Orientierungshilfe für die bewusste Gestaltung des weiteren Lebens, schließt auch die Entscheidung mit ein, welche Lern- und Lebensziele im Alter verwirklicht werden sollen (vgl. Kricheldorff 2005, 2014b). Zentrale geragogische Anliegen sind auch die Entwicklung neuer Lernsettings und Lernformen. Dies erklärt sich unter anderem aus der Tatsache, dass bei der Mehrzahl der Älteren noch immer deutliche Hemmschwellen in Bezug auf die klassischen Formen und Institutionen der Erwachsenen- und Altersbildung bestehen. Tews (1993a, S. 235 ff.) wies in einer repräsentativen Untersuchung bei 60- bis 65-Jährigen und 70bis 75-Jährigen bereits Anfang der 1990er Jahre in Schleswig-Holstein nach, dass nur eine deutliche Minderheit von ihnen Bildungsveranstaltungen nutzte und das dies
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vor allem die sog. Bildungsgewohnten waren, im Sinne einer Kontinuität im Lebenslauf. Er folgerte zum damaligen Zeitpunkt daraus, dass es sich bei älteren Bildungsteilnehmenden noch um Minderheiten handele, prognostizierte aber für die Zukunft für einzelne Zielgruppen einen wachsenden Bedarf. Mehr als zehn Jahre später bestätigte das Forschungsprojekt „Bildung im Alter“ im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ 2004b) die Ergebnisse in ähnlicher Weise, denn von knapp 2 000 Befragten hatte nur ein Viertel im Laufe von drei Jahren an mindestens einer Bildungsveranstaltung teilgenommen (ebd., S. 8). Wieder erfolgte in diesem Kontext der Verweis auf die sich wandelnden Bildungsbiografien der künftigen Alten und erneut zeigte sich, dass die in der Studie erhobene Bildungsbeteiligung im Rahmen der Studie vor allem mit Alter und schulischem Bildungsabschluss korrelierte (vgl. Stiehr und Garrison i. d. B.). Der vielfach prognostizierte Wandel bezüglich der Beteiligung Älterer an ‚klassischen‘ Bildungsangeboten ist also zwischen den beiden Erhebungszeiträumen, die mehr als zehn Jahre auseinanderlagen, nicht eingetreten und dies hat sich auch bis heute nicht maßgeblich verändert. Vielmehr zeigt sich, dass ganz offensichtlich traditionelle Bildungssettings, wie Kurse in Volkshochschulen, Vortragsveranstaltungen und themenbezogene Weiterbildungen nur eine begrenzte Zahl älterer Menschen überhaupt ansprechen können. Zu fragen ist also, ob bei der Mehrzahl der Älteren möglicherweise ganz andere Bildungsbedürfnisse bestehen und wie diesen gegebenenfalls entsprochen werden kann. Der ganzheitliche Bildungsbegriff der Geragogik ist in seiner Offenheit dafür gut geeignet. Er sieht ältere und alte Menschen nicht festgelegt auf eine traditionelle Rolle als Bildungsnutzende, sondern ermöglicht auch bewusst Beteiligung und orientiert sich an den individuell relevanten Lebensfragen. Ein Hauptziel dabei ist die Ermöglichung von Autonomie und Selbstbestimmung in Verbundenheit mit anderen Menschen (vgl. Köster und Schramek 2005; kritisch zum Autonomiekonzept vgl. Pichler i. d. B.). Es lässt sich also festhalten, dass die traditionellen Träger der Altersbildung, wie Volkshochschulen, kirchliche Bildungshäuser und Gemeindezentren, aber auch die Hochschulen mit den Angeboten des Seniorenstudiums, eine zwar sehr eindeutige und nicht unbedeutende, aber zahlenmäßig kleine Rolle spielen. Wichtiger werden vor dem Hintergrund einer breiteren Zielgruppenansprache neue Lernorte und Formen niederschwelliger oder zugehender Bildungsarbeit, die eher in der alltäglichen Lebenswelt verankert sind und Bildungsinteressen bedienen, die an aktuellen Lebensthemen und -fragen anknüpfen (Kricheldorff 2018b).
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Neue Settings für Lernen und Bildung im Prozess des Alterns
Kalbermatten kritisierte schon 2004, dass die gesellschaftlich relevanten Vorstellungen über das Alter hinter der veränderten und möglichen Realität zurückblieben und deshalb der Bereich der Altersbildung einen deutlichen strukturellen Rückstand aufweise. Er sah Ältere als potenzielle Lebensunternehmer/-innen, die die neuen Chan-
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cen des nachberuflichen Lebens sinnvoll für sich und ihre bewusst ausgewählten Vorhaben nutzen sollen. Dazu sollen sie angeregt und angeleitet werden, auch im Sinne einer Selbstbildung. Er betonte die Chancen und bisher nicht genutzten Möglichkeiten, die nun im Sinne einer persönlichen Weiterentwicklung zu Bildungsanliegen werden sollten (Kalbermatten 2004, S. 112). Für eine Nutzung dieser brachliegenden Ressourcen braucht es aber Entwicklungs möglichkeiten und Unterstützung, im Sinne ermöglichender Strukturen. Es geht dabei auch um kommunale Bildungskonzepte, die darauf gerichtet sind, Partizipation zu lernen (Kricheldorff und Köster 2007). Vor diesem Hintergrund werden Bildungssettings jenseits der traditionellen Bildungsanbieter und Lernorte wichtiger. Sie sind verortet in informellen Lernzusammenhängen (Schmidt-Hertha 2018) und eher ‚privaten Lernzirkeln‘, basierend auf selbstbestimmten, selbstgesteuerten oder selbst organisierten Formen von Bildung (vgl. Mallwitz-Schütte 2000; Bubolz-Lutz 2000b, 2002; Bubolz-Lutz und Rüffin 2001; Schäffter 2003; Witthaus et al. 2003). Im Mittelpunkt stehen dabei die eigenen relevanten Fragen und Themen. Diese werden im gemeinsamen Diskurs mit signifikanten Anderen (Steinfort 2006) bearbeitet, um daraus mögliche Einsichten in gesellschaftliche Zusammenhänge und Handlungsoptionen entwickeln zu können. (Köster und Schramek 2005; Bubolz-Lutz 2007; GKV Spitzenverband 2009). Dies bedeutet, dass in diesen neuen Formen und Settings dem Gruppenprozess verstärkt Raum, Zeit und Aufmerksamkeit gegeben werden muss. Dieses Bildungsverständnis bildet die theoretische Basis für einschlägige Projekte in der Fachpraxis, bei denen Lernen und Handeln miteinander verknüpft werden und neben der Erweiterung eigener Wissensbestände auch Alltagsthemen und existenzielle Fragen im Mittelpunkt stehen (vgl. BMFSFJ 2002b; Burmeister et al. 2007). In diesem Kontext stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer Bildung im Alter neu (vgl. auch Breinbauer i. d. B.). Es geht einerseits um den Gewinn, den der einzelne ältere Mensch daraus für sich ziehen kann, aber auch um den Nutzen, der dadurch für das Gemeinwesen erwächst. Diese beiden Aspekte gilt es, in eine neue Balance zu bringen – ohne Verpflichtungsethik und Vereinnahmungstendenzen der Gesellschaft. Vielmehr kann in neuen Lernsettings eine Gesellschaftsorientierung entstehen und wachsen, die sich, ausgehend von relevanten Fragen des einzelnen älteren Menschen, über den Diskurs mit signifikanten Anderen, in gemeinsamen Handlungsoptionen ausdrückt. Dieser Prozess vollzieht sich in der Regel in selbst organisierten und selbst ge steuerten Lernformen. Diese brauchen keine festen Curricula und vordefinierte Lernziele, vielmehr erfolgt eine professionelle Unterstützung im Sinne einer Ermöglichungsdidaktik (Arnold 1999), als unterstützende Beratung im Lernprozess (Klein und Reutter 2004), an Stelle von Lehrpersonen, die das Programm bestimmen. Selbst organisiertes Lernen braucht Lernbegleitung auf Augenhöhe, keine hierarchisch geprägte Beziehung zwischen den lehrenden Expert/-innen und den auf Wissenserwerb ausgerichteten Lernenden. Vielmehr dominiert eine Austauschbeziehung, in der die Rollen auch wechseln können.
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Altersbildung, die bewusst diese anderen Rahmenbedingungen schafft, birgt in sich eher die Chance einer lebensweltorientierten Öffnung für bildungsferne ältere und alte Menschen. Sie knüpft im Sinne von Empowerment (Herriger 2014) an ihre Ressourcen und Potenziale an und schafft Rahmenbedingungen für eigenes Handeln, in der Logik der Selbsthilfe. Ein solch weiter und offener Bildungsbegriff ermöglicht also Inklusion statt Exklusion und entspricht dem professionellen Selbstverständnis Sozialer Arbeit. Damit wird Bildung zu einem wichtigen Handlungsfeld der Sozialen Arbeit mit älteren und alten Menschen.
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Exemplarische Bildungsanliegen in der Sozialen Altenarbeit
Im Folgenden werden mögliche Bereiche der Sozialen Altenarbeit skizziert, in denen jeweils eigene Bildungsanliegen verortet sind, die unter Rückgriff auf Methoden der Sozialen Arbeit beantwortet werden können. 6.1
Bildung in der Statuspassage zum Leben nach der Erwerbs- und/ oder Familienphase
Mit dem Austritt aus dem Berufsleben und in der nachfamiliären Phase entsteht ein neuer Lebensabschnitt, der für den einzelnen älteren Menschen geprägt sein kann von Unsicherheit und Umbruch, der aber durchaus auch neue Freiräume und Chancen eröffnet. Im Kern geht es um die Entwicklungsherausforderung ‚Neuorientierung‘, also darum, ein neues stabiles Gleichgewicht zu erlangen, auf dem das weitere Leben aufgebaut werden kann. Im unstrukturierten Prozess des Übergangs, der nicht zwingend und linear zu einer neuen stabilen Situation und Statuszugehörigkeit führt, müssen bisherige Gewohnheiten, Handlungsmuster und Deutungen reflektiert und gegebenenfalls modifiziert werden. Zentrales Anliegen dieser Statuspassage, die der einzelne ältere Mensch für sich individuell bewältigen muss und die einen universalen und weichenstellenden Prozess auf dem Weg ins höhere Alter darstellt, ist das Erreichen von Lebenszufriedenheit (Kricheldorff 1999, 2011). An die Stelle alter und vertrauter Rollen in Beruf und Familie sollen nach Möglichkeit neue Interessen und Aufgaben treten, die als Sinn stiftend erlebt werden und soziale Teilhabe ermöglichen, im Sinne eines gelingenden Alterns oder erfolgreichen Alterns (Baltes und Baltes 1989a; Baltes et al. 1989; Lehr 2007). Dabei können vorhandene und im biografischen Kontext erworbene Potentiale und Ressourcen hilfreich sein. Andererseits wird dieser Prozess aber auch durch defizitäre Bedingungen und Voraussetzungen im Sinne kumulativer Disparitäten im Lebenslauf beeinflusst. Deshalb ist im Sinne pädagogischer Beratung auch die noch relativ neue Form der Übergangsberatung hoch relevant (Kricheldorff 2016). Die Debatte um die Bewältigung dieser Statuspassage wird bestimmt von alterstheoretischen Orientierungen, die Aktivität (Tartler 1961; Lemon et al. 1972) und
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Kontinuität (Atchley 1989) in den Mittelpunkt stellen. In diesem Sinne bestimmen Leistung und die Notwendigkeit gebraucht zu werden darüber, wie individuelles Altern gelingt, und es wird davon ausgegangen, dass Menschen dann zufriedener altern, wenn sie ihren grundsätzlichen Lebensstil durch die verschiedenen Lebensphasen kontinuierlich beibehalten können. Ob und wie das gelingt, ist von vielen Einflussfaktoren abhängig: dem körperlichen Zustand, dem Ausmaß sozialer Einbindung, finanziellen Ressourcen, aber auch von Lernbereitschaft und bildungsbiografischen Voraussetzungen. In einschlägigen gerontologischen Debatten seit Beginn der 1990er Jahre wird immer wieder auf den individuellen Wert und Gewinn von Tätig-Sein und freiwilligem Engagement im Alter verwiesen (Karl 1990, 1993; Knopf et al. 1995; Knopf 1997, 2000). Die Ergebnisse des zweiten Freiwilligensurvey weisen aber ganz klar auf eine Ex klusion bestimmter Gruppen hin, denn das Ausmaß an gesellschaftlichem Engage ment älterer Menschen korreliert deutlich mit Einkommen, beruflichem Status und Bildung (Gensicke et al. 2006). Für die Soziale Arbeit bedeutet das, dass sie Strategien entwickeln muss, auch Menschen zu erreichen, die bislang wenig soziale Teilhabemöglichkeiten haben. Darin besteht die eigentliche professionelle Herausforderung. Geragogische Projekte in der Statuspassage dürfen deshalb nicht in erster Linie diejenigen Älteren im Blick haben, die klassische Bildungsmilieus repräsentieren. Diese Gefahr besteht sehr leicht und es entstehen damit eher elitäre Zirkel. Ein Beispiel dafür sind viele Angebote an Seniorenuniversitäten oder -akademien, die vorrangig die Interessen von bildungsgewohnten Älteren bedienen. Bildung als Handlungsfeld der Sozialen Arbeit muss andere Ziele verfolgen. Primär geht es um die Implementierung niederschwelliger Ansätze sowie um die Schaffung ermöglichender Strukturen, in denen der einzelne ältere Mensch mit seiner Biografie und seinem lebenslang erworbenen Wissen Anknüpfung und eine offene Lernatmosphäre vorfindet (Kricheldorff 2014b). Im Austausch mit anderen kann dann ein Klärungsprozess stattfinden, der den Blick öffnet für eigene Wünsche und Bedürfnisse, aber auch für Ressourcen. Lernsettings, die sich dafür anbieten, sind verbunden mit Arbeitsformen und Methoden der Sozialen Arbeit, zum Beispiel mit sozialer Gruppenarbeit oder rekonstruktiver Sozialarbeit. Sie orientieren sich am Leitgedanken des Empowerment (Herriger 2014) und setzen damit auf Ressourcenorientierung. Im Kern geht es dabei um die Unterstützung eines Selbstfindungsprozesses, in dem Wahlmöglichkeiten und Chancen aufgezeigt und in dessen Rahmen neue individuelle Wege entwickelt werden können, unterstützt durch individuelle Beratung und selbstbestimmtes Lernen in der Gruppe. Dieser Prozess kann in ein freiwilliges Engagement führen, es sind aber auch ganz andere, neue Facetten des Lebens im Alter als Resultat dieser Neuorientierung denkbar. Ein wichtiger methodischer Ansatz, der in der Praxis noch wenig verankert ist, kann in diesem Kontext die Bildungsberatung für Menschen im Alter sein (vgl. Kolland et al. 2018a). Bildungsansätze, die sich auf biografische Prägungen beziehen und im Kern dem Anliegen folgen, Altern zu lernen (Himmelsbach 2018), zielen vor allem auf die Lebenssituation und Lebenswelt des alternden Menschen. Sie verfolgen dabei das Ziel,
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individuelle Ressourcen und Potenziale aufzugreifen bzw. ältere Menschen darin zu unterstützen, diese selbst zu erkennen und sie für sich sinnstiftend und ihre Lebenssituation stärkend einzusetzen (Kricheldorff 2014b). Kade (1994) formuliert vier Lernfelder als Ansatz- und Bezugspunkte für Angebote, die auf die Bewältigung von Übergängen oder Statuspassagen im Prozess des Alterns zielen: •• Biografie, mit dem Blickwinkel auf lebensgeschichtliches Lernen, Erinnerungsarbeit, dem Herstellen von Bezügen zwischen Geschichte und Lebensgeschichte sowie der Reflexion prägender Einflüsse auf die persönliche Entwicklung; •• Alltag, mit dem Anliegen Alltagszeit zu strukturieren, Alltagsräume zu gestalten, den Alltag durch Selbsthilfe zu bewältigen und Krisen zu meistern; •• Kreativität, als häufig vernachlässigtes Anliegen im Lebenslauf, in Form von kreativer Rezeption und Produktion, als gestaltbarer Freiraum, für den im Alter bessere Bedingungen als jemals vorher bestehen (vgl. auch Karl i. d. B.); •• Produktivität, in neuen Bezügen und verbunden mit einem erweiterten Produktivitätsbegriff, der Eigentätigkeit und soziale Nützlichkeit einschließt und vertraute, wie auch neue Rollen – sowohl im Sinne männlicher Berufs- als auch weiblicher Sorgekompetenz – eröffnet. Für geragogische Konzepte in der Statuspassage nach Beruf und Familie sind alle vier Lernfelder deshalb von Bedeutung, weil sie für den einzelnen älteren Menschen neue Perspektiven auf unterschiedlichen Ebenen eröffnen können und sich ergänzende Facetten der Identitätsentwicklung darstellen. 6.2
Berufliche Weiterbildung Älterer
Die berufliche Weiterbildung Älterer war lange in der Bildungslandschaft ein unbedeutendes Thema, weil Programme zur Frühverrentung den Arbeitsmarkt dominierten. Das hat sich mittlerweile nachhaltig verändert und die Tendenz des längeren Verbleibs im Berufsleben, auch über das Renteneintrittsalter hinaus, ist deutlich ansteigend. Die schlechte finanzielle Prognose für die gesetzliche Rentenversicherung wird einerseits mit einer Anhebung der Lebensarbeitszeit beantwortet. Andererseits führt der Eintritt von bedeutend kleineren Jahrgängen auf den Arbeitsmarkt zu einer Personalknappheit in bestimmten Branchen. Dies führt in der beruflichen Weiterbildung verstärkt zu Überlegungen, wie ältere Menschen wieder vermehrt in den Arbeitsprozess einbezogen werden bzw. über attraktive Qualifizierungsmaßnahmen länger in den Betrieben gehalten werden können (Hentze und Hinkelmann 2005). Es geht dabei um die Entwicklung von Konzepten für den Umgang mit alternden Belegschaften und um die Frage, wie das Erfahrungswissen älterer Arbeitnehmer/-innen gesichert werden kann (vgl. auch Frerichs und Sporket 2016).
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Die Gerontologie bestätigt für die Weiterbildung optimale Voraussetzungen im Alter: Bei steigender Lebenserwartung sind ältere Menschen deutlich länger geistig und körperlich fit als noch vor einigen Jahrzehnten. Gefragt sind vor diesem Hintergrund Konzepte der betrieblichen Bildungsarbeit, die Älteren eine Art Seniorexpertenrolle zuweisen könnte, ohne dadurch Gräben zwischen den Generationen zu schaffen. Hier könnte sich ein neues Feld betrieblicher Sozialarbeit auftun, das intergenerationelle Lernbezüge herstellt und begleitet (Baumgartner und Sommerfeld 2015). Damit verbunden sind auch Konzepte der betrieblichen Gesundheitsförderung denkbar, die als Prävention und Gesundheitsbildung ebenfalls zum Profil Sozialer Arbeit passen und neue Handlungsfelder eröffnen könnten (INQA 2005; Stoll 2012). 6.3
Bildung im Feld der Pflege
Die Entwicklungsherausforderung ‚Pflege‘ im mittleren und späten Erwachsenenalter berührt in vielfacher Hinsicht eine existentielle Dimension. Es ist nicht nur ein großer Personenkreis betroffen, nämlich sowohl die Pflegenden als auch die Gepflegten, es geht vielmehr auch um die Neuordnung der Lebensgestaltung, die das Privatleben im Kern betrifft und das Lebensgefühl entscheidend mitbestimmt. Angesichts der in der Fachliteratur herausgestellten Überlastungs- und Überforderungsproblematik im Feld der Pflege liegt es nahe, ein Bildungsverständnis zu entfalten, das sich an den erkennbaren Unterstützungsbedarfen der Adressat/-innen (sowohl der hilfsbedürftigen alten Menschen als auch der Pflegenden) ausrichtet. Dies verkürzt aber die Sichtweise auf das Feld der Pflege als ausschließlich problembehafteten Bereich, was nicht der Realität entspricht. „Vielmehr erscheint ein Bildungsverständnis angemessen, das sich an den Begriffen der geistigen Orientierung, Reflexion und der Kompetenzentwicklung bzw. -erweiterung ausrichtet und das die ressourcenorientierte Entwicklungsförderung zum zentralen geragogischen Anliegen macht. Nach diesem Verständnis von Bildungsarbeit […] kann sie in dem vom Individuum selbst gesteuerten Entwicklungsprozess zur Auseinandersetzung mit Lebensfragen motivieren, sie kann Informationen bereitstellen, zur Reflexion anregen und zum ‚überlegten‘ und verantwortlichen Handeln befähigen. Sie kann die kritische Auseinandersetzung der Individuen mit der ‚Außenwelt‘ anregen und begleiten und über eine solche Auseinandersetzung neue Verständniszugänge erschließen.“ (Bubolz-Lutz und Kricheldorff 2006, S. 41)
Bildung wird damit in einem Feld verankert, das auf den ersten Blick mit ganz anderen Aufgaben befasst ist. Dies eröffnet aber beispielsweise Chancen, neue Zugänge zu pflegenden Angehörigen zu schaffen, die durch einen auf Kompetenzstärkung basierten Bildungsansatz als kompetente Akteur/-innen wahrgenommen und wertgeschätzt werden. Es geht dabei um ein Ansetzen an eigenen Fragen, aber auch um
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Wissensvermittlung und Reflexion. In erfolgreichen Modellprojekten wie „Pflegebegleiter“ (Bubolz-Lutz und Kricheldorff 2006) und „Familienbegleitung bei Demenz“ (Kricheldorff und Brijoux 2015, 2016) konnte die Dimension des bürgerschaftlichen Engagements mit Bildung verknüpft werden. Das Thema ‚Pflege in der Familie‘ als Bildungsthema wurde dabei in den Mittelpunkt von Praxisprojekten gestellt, in deren Rahmen Freiwillige qualifiziert wurden, die anschließend in pflegenden Familien zugehende Formen der Kompetenzstärkung realisierten. Die Aufgaben der Sozialen Arbeit sind hier vielfältig. Neben der Qualifizierung geht es auch um Praxisbegleitung und -reflexion, um Vernetzung mit dem professionellen Umfeld und wiederum um die Förderung von Empowerment, auf den Ebenen der Freiwilligenarbeit und der pflegenden Angehörigen. Insgesamt ist das Arbeitsfeld ‚Pflege‘ für Bildungsanliegen noch immer ein weites Feld, denn es bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte, die bisher erst im Ansatz erschlossen sind. Insofern ist es ein spannendes und zukunftsträchtiges Feld für die Soziale Arbeit. 6.4
Bildung im Vierten Lebensalter
Das Vierte Lebensalter, das sich weniger über das kalendarische Alter, als vielmehr über den Grad der Hilfebedürftigkeit und durch nachlassende Autonomie definiert, wurde bislang in der Altenhilfe und weniger in der Altersbildung gesehen. Kade stellte 2009 erstmals ein Stufenmodell vor, das Entwicklungsmöglichkeiten bei eingeschränkter Autonomie aufzeigt und damit einen Entwurf darstellt, einen eigenständigen Bildungsbedarf für Menschen im Vierten Lebensalter zu definieren. Damit knüpft sie an die Ausführungen von Bubolz-Lutz (2000a, S. 331) an, die mit dem Thema Bildung und Hochaltrigkeit Neuland betreten hat. Als mögliche Zugänge bieten sich aus ihrer Sicht in diesem Kontext an: Lernen im hohen Alter, Lernen für das hohe Alter und Lernen für den Umgang mit Hochaltrigen. Bubolz-Lutz (2000a) weist darauf hin, dass diese drei spezifischen Bereiche in der Praxis häufig Überschneidungen haben bzw. auch zusammengehen können. Besondere Aufmerksamkeit müsste aber in jedem Fall dem Prozess des zugehenden Erschließens nicht bildungsgewohnter Älterer zukommen. Bedeutsam werden in diesem Zusammenhang Kenntnisse über Bildungsbedürfnisse und -barrieren älterer und hochbetagter Menschen und die daraus abzuleitenden differenziellen geragogischen Angebote und Strukturen. Als Modell in der Fachpraxis griff das innovative Projekt „L4 – Lernpartnerschaft mit Menschen im Vierten Lebensalter“ diese Logik auf. In dieser Konzeption übernehmen mobile Lernpartner/-innen die Aufgabe, nicht mobile Lernpartner/-innen regelmäßig zu besuchen, mit denen sie ein gemeinsames Lerninteresse oder Hobby verbindet. Dabei spielt der Altersunterschied keine Rolle und es ist auch unerheblich, ob der/die nichtmobile Lernpartner/-in zu Hause oder in einer stationären Einrichtung lebt (Vanderheiden 2005).
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Die Soziale Arbeit könnte dabei für die Qualifizierung von Freiwilligen zuständig sein, die auf die Übernahme von Lernpartnerschaften vorbereitet werden, sowie Koordination und Praxisbegleitung anbieten. Insgesamt gilt auch für diesen Bildungsbereich, dass die Erfordernisse und das Aufgabenspektrum vor dem Hintergrund des demografischen Wandels wachsen und vielfältiger werden – ein neues Praxisfeld in der Bildungsarbeit im Vierten Lebensalter. 6.5
Intergenerationelles Lernen
Begegnungen zwischen den Generationen ermöglichen den Aufbau von Beziehungen. Diese fördern den Abbau von Vorurteilen sowie das Entstehen sozialer Vernetzungen. Dazu braucht es Begegnungen der Generationen, auch im außerfamiliären Bereich – im Alltag, in ‚inszenierten‘ Formen und in neuen Bildungssettings. Neue Bildungsangebote und Bildungsräume schaffen einen ermöglichenden Rahmen für diese Begegnung der Generationen. Deren jeweilige Stärken und Ressourcen werden auf diesem Weg sichtbar und können genutzt werden – zum Lernen voneinander, miteinander und übereinander. Jung und Alt sollen so in bewusst gestalteten Dialogund Lernprozessen voneinander profitieren. Dies geschieht durch: •• den Prozess der Kulturüberlieferung, die Weitergabe von Erfahrung und Wissen von den Älteren an die Jüngeren (Ältere als Mentor/-innen) und •• den Prozess der Vermittlung neuer und veränderter Kulturtechniken von den Jüngeren an die Älteren. Ältere erhalten auf diesem Weg Hilfen in der digitalisierten Welt, Jüngere profitieren von den Erfahrungen der Älteren und bekommen Orientierungshilfe in einer schnelllebigen Zeit. Neue Bildungssettings können in ‚traditionellen‘ Lernumgebungen verortet werden (z. B. Tagungshäuser, Akademien, Bürgerhäuser, Einrichtungen der außerschulischen Jugendbildung oder Altenbildung). Bildungsangebote können aber auch bewusst andere, erlebnisorientierte Räume wählen. Eine bislang wenig genutzte Form sind beispielsweise Reisen oder Exkursionen, verbunden mit ‚reflexiven Lernrunden‘ im Austausch zwischen Jung und Alt. Die sich verändernden Generationenbeziehungen werden auch im Kontext von lebenslangem Lernen gemeinsam thematisiert (Identitätslernen der Generationen). Aus einer kritischen Perspektive wird allerdings die grundsätzliche Unterscheidung nach Generationen und damit auch die Differenz zwischen intergenerationellem und altersübergreifendem Lernen in Frage gestellt (Karl 2011, S. 11). In jedem Fall geht es in diesem Kontext darum, dass alte und junge Menschen gemeinsam neue Wege beschreiten, die sich angesichts einer sich verändernden Welt als notwendig erweisen. Ein Beispiel dafür war das Modellprojekt „Generationen lernen gemeinsam“ (Franz
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et al. 2009). Dafür braucht es aber Begegnungs- und Lernräume und in der Konsequenz auch eine Veränderung der Programmentwicklung und Angebotsstrukturen in der Bildungslandschaft unter den Aspekten einer Bildung für alle. Explizit intergenerationelles Lernen wird bereits auf vielfältige Art und Weise umgesetzt (Antz et al. 2009). Der „Dialog der Generationen“ (Schüler 2005) funktioniert aber nur dort nachhaltig, wo alle Beteiligten davon profitieren. Generationensolidarität mit ‚Verpflichtungscharakter‘ bewirkt eher Abwehr. Langfristig haben also nur die Projekte und Ansätze Bestand, in denen echte (Lern-)Beziehungen ‚auf Augenhöhe‘ ohne Belehrungscharakter zwischen den Generationen entstehen können.
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Ausblick
Bildung im Alter ist also facettenreich und bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Soziale Arbeit, der damit auch neue Handlungsfelder zuwachsen. In der Praxis sind die skizzierten Beispiele geragogischer Arbeit häufig Pilotprojekte, die – aus Modellmitteln gefördert – nach einer gewissen Laufzeit oft nicht weitergeführt werden können, weil die notwendigen Finanzierungsgrundlagen für ihre Bestandssicherung in kommunalen Haushalten fehlen. Aufgebaute Strukturen brechen dann wieder weg und es kommt zu keiner Kontinuität in der praktischen Umsetzung. Das ist ein großes Manko. Trotzdem bieten diese Modelle Anknüpfungspunkte dafür, wie und wohin sich das Feld der Altersbildung entwickeln kann und müsste. Sie sind damit auch Wegweiser für eine Professionalisierung Sozialer Altenarbeit und eröffnen neue Bereiche für die Soziale Arbeit insgesamt. Eine so ausgerichtete Bildungsarbeit mit älteren und alten Menschen kann auch als eine Investition in die Zukunft angesehen werden, die zu mehr sozialer Teilhabe und größerer Lebenszufriedenheit führen und damit langfristig Kosteneinsparungen im Pflege- und Gesundheitsbereich bewirken könnte. Dass sich Investitionen in die Bildung ‚lohnen‘ – auch im Alter – muss sich bei Trägern und Verbänden sowie in der Altenpolitik aber erst durchsetzen.
Ausgewählte Literatur Bubolz-Lutz, Elisabeth, Eva Gösken, Cornelia Kricheldorff und Renate Schramek. 2010. Geragogik. Bildung und Lernen im Prozess des Alterns. Das Lehrbuch. Stuttgart: Kohlhammer. Kade, Sylvia. 2009. Altern und Bildung. Eine Einführung. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Bielefeld: wbv. Schramek, Renate, Cornelia Kricheldorff, Bernhard Schmidt-Hertha und Julia Steinfort-Diedenhofen. Hrsg. 2018. Alter(n) – Lernen – Bildung. Ein Handbuch. Stuttgart: Kohlhammer.
Arbeitsfelder im Bereich Gesundheit und Pflege
Krankheitsprävention und Soziale Gesundheitsarbeit im Alter Peter Franzkowiak
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Demografische und epidemiologische Ausgangslage
In den entwickelten Gesellschaften ist seit Mitte des 20. Jahrhunderts eine Verlängerung, Ausdehnung und damit verbunden eine starke Ausdifferenzierung der Altersphase zu beobachten. Diese hat vielfältige neue soziale, kulturelle sowie politisch-zivil gesellschaftliche Potenziale eröffnet. Vor allem im Dritten Lebensalter verzeichnen die ‚Gesellschaften des längeren Lebens‘ erhebliche Gesundheitsgewinne gegenüber früheren Generationen. Kontrovers ist aber, ob der Gewinn an Lebensjahren mehr Jahre in Gesundheit oder in Krankheit zur Folge hat (zur Diskussion um ‚Kompression vs. Expansion‘ der Altersmorbidität vgl. Wurm und Saß 2015; Trachte et al. 2015; Kruse 2017b; Tesch-Römer 2017). Verschiedene Altersstudien (vgl. Kruse et al. 2005; Böhm et al. 2009; Saß et al. 2010; Nowodassek und Nowodassek 2011; Wurm und Saß 2015; WHO 2015; RKI 2015, 2016; Flor 2018) zeigen für Deutschland einen mit fortschreitendem Alter deutlichen Anstieg der Gesundheitsprobleme: hinsichtlich der Anzahl der Erkrankungen und bezüglich ihrer Komplexität und Wechselwirkungen. Wichtige Kennzeichen von Erkrankungen im höheren und hohen Alter sind ein häufig längerer Krankheitsverlauf, eine verzögerte Genesung und eine oft unspezifische Symptomatik. Strategien der lebenslaufbegleitenden Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung gewinnen somit verstärkt an Bedeutung, um möglichst lange ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Das Krankheitsspektrum hat sich global verschoben hin zu einer Übermacht und multiplen Morbidität chronisch-degenerativer Erkrankungen und Einschränkungen somatischer und psychosomatischer Art bei gleichzeitiger Verlängerung der Lebensdauer mit diesen Krankheiten. Chronische Erkrankungen sind der kurativen bzw. wiederherstellenden Intervention aber nur eingeschränkt zugänglich. Sie führen zu einem dauerhaften medizinisch-geriatrischen Versorgungsbedarf und zur durchgän© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_11
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Peter Franzkowiak
gigen Inanspruchnahme sozialer Sicherungs- und Unterstützungsleistungen im höheren und hohen Lebensalter. Mit zunehmendem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit des Vorliegens von mehrfachen chronischen Erkrankungen und Einschränkungen (Multimorbidität). Nach Angaben des RKI (2016) sind in Deutschland 76 % der Frauen und 68 % der Männer in der Altersgruppe der 65- bis 74-Jährigen von Multimorbidität betroffen; bei 75bis 79-Jährigen steigt der Anteil auf 82 % bei Frauen und 74 % bei Männern. Weitere Probleme ergeben sich durch Wechselwirkungen von chronischen Erkrankungen; zudem können sich Krankheitsketten bilden. Unerwünschte Arzneimittelwirkungen und -interaktionen sind immer noch zu wenig untersucht, dieses Faktum fließt erst seit wenigen Jahren in therapeutische Leitlinien der Medizin und Geriatrie ein (s. Leitliniengruppe Hessen 2014). Ein hochrangiges Problem ist die bei der Hälfte aller über 65-Jährigen anzutreffende „kumulative Polypharmazie“ (Glaeske und Schicktanz 2013; Pohlmann und Fraunhofer 2016; Grandt et al. 2018). Tesch-Römer (2017, S. 41) fasst als gesundheitliche Ambivalenz des Alterns zusammen: „Es wird mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu einer absoluten Kompression der Morbidität, sondern zu einer relativen Kompression der Morbidität kommen. Wir werden wahrscheinlich länger in guter Gesundheit leben, und wir werden länger in schlechter Gesundheit leben, also mit funktionalen Einbußen, mit Hilfebedarf und in Pflegebedürftigkeit.“
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Potenziale der Prävention und Rehabilitation im Alter und für das Altern
Schon Mitte der 2000er Jahre verwies Kruse (2006a,b) auf die „extrem großen“ Effekte gesundheitsbewussten Verhaltens zur Verhinderung von Gesundheitsstörungen, chronischen Krankheitsverläufen und Fähigkeitseinbußen im Prozess des Alterns (vgl. auch Dapp et al. 2007; Spuling et al. 2017; zur Korrelation sozialer Benachteiligung mit gesundheitlichen Problemen vgl. Homfeldt i. d. B.). Kruse differenzierte zwei Ansätze: Prävention für das Alter zielt auf gesunde Lebensführung im Jugend- und Erwachsenenalter, um den Ausbruch und die Folgen von ‚mitalternden‘ Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, bösartigen Neubildungen oder Diabetes mellitus Typ II zu vermeiden (primäre Prävention; zur aktuellen global-epidemiologischen Evidenz: Li et al. 2018). Bei vorzeitigem Auftreten können diese durch frühzeitige Diagnostik und Therapie hinausgezögert und in ihrem Verlauf positiv beeinflusst werden (sekundäre Prävention). Zur Prävention für das Alter gehört die lebenslange Förderung körperlicher und geistiger Aktivität zur Sicherung einer möglichst hohen und bis an das Lebensende verfügbaren Leistungskapazität, gleichermaßen die nicht gesundheitsschädliche Gestaltung von Arbeitsweisen und Arbeitsbedingungen wäh-
Krankheitsprävention und Soziale Gesundheitsarbeit im Alter
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rend des Erwerbslebens. Primäre Prävention in der gesamten Lebensspanne ist unverzichtbar, um Risikofaktoren für Gesundheit und Selbstständigkeit besser zu erkennen und frühe Hilfen und Interventionen anzubieten. Prävention im Alter umfasst primäre Prävention gegen Risikofaktoren für Gesundheit und Selbstständigkeit – so ‚primär‘ wie bei zunehmender Multimorbidität möglich. Vor allem aber fördert sie die Angebote der Krankheits-Früherkennung und -Frühbehandlung (sekundäre Prävention der wichtigsten Alterskrankheiten) sowie alle Interventionen zur Linderung chronischer Krankheiten und zum Hinausschieben von funktionellen Einschränkungen und von irreversiblen Leistungs- und Immuneinbußen (tertiäre Prävention in Überschneidung mit Rehabilitation). Bei alternden Menschen müssen Interventionen zur Erhaltung und Verbesserung der gesundheitlichen Situation gleichermaßen auf Präventions- und Rehabilitationspotenziale abzielen und Aktivierungen zur Gesunderhaltung und Robustheit be inhalten. Sie müssen v. a. Wirkungen auf die zunehmende Frailty und die Mobilitätseinschränkungen zeigen (Kruse et al. 2005; Kruse und Wahl 2010; Saß et al. 2010; Dapp und Renteln-Kruse 2015; Weber et al. 2016; Kruse 2017a; Flor 2018). Querschnittsziel ist die Verminderung der sozial bedingten gesundheitlichen Ungleichheiten im Alter: vorrangig bei den primären Diversity- und Disparitäts-Dimensionen Migration/Ethnizität, Gender, Bildung/Literacy, Status/Einkommen und Milieu/Region (zur sozialepidemiologischen Evidenz vgl. Lampert et al. 2016, 2017).
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Krankheitsprävention aus Public Health-Perspektive
Bereits im vorletzten Jahrzehnt wurden Ziele, Inhalte und Methoden einer gesundheitswissenschaftlich begründeten Krankheitsprävention im Alter in dreifacher Hinsicht klassifiziert (MAGS NRW 2007; Walter und Schneider 2008): •• bevölkerungsbezogene Ansätze, •• krankheits-, beeinträchtigungs- und versorgungsbezogene Interventionen, •• lebensraum- und lebensweltbezogene Maßnahmen. (1) Bevölkerungsbezogene Ansätze zielen im engeren Sinne auf Verbesserung des Gesundheitswissens und der Gesundheitskompetenz aller (alternden) Menschen, in erweitertem Verständnis auf gesellschaftliche Veränderung von Altersbildern und den Abbau von Defizitmodellen und Stigmatisierungen in öffentlichen und professionellen Diskursen zur Altersgesundheit. Die wichtigsten Interventionsstrategien sind: Vermittlung von Gesundheitsinformationen zur Verbesserung des Gesundheitswissens und -verstehens (Health Literacy, Gesundheitskompetenz) durch staatliche oder private Großagenturen und Informationsportale; gezielte Informationsschaltungen und Kommunikationsangebote in Tageszeitungen, Printmedien, Broschüren, Fern sehen und Internetportalen (E-Health); Kursangebote von Krankenkassen an Altern-
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Peter Franzkowiak
de und/oder ihre Angehörigen; Kurs- und Trainingsangebote von Sportvereinen zur Bewegungsförderung und zum Erhalt von Kraft und Ausdauer. (2) Krankheits- und beeinträchtigungsbezogene Interventionen sowie versorgungsbezogene Ansätze zielen auf Optimierung der gesundheitsbezogenen Versorgung, Rehabilitation und Vorsorge bei alternden Menschen. Typische Interventionsstrategien sind: Universelle Gesundheitsinformation und Wissensverbesserung der Bevölkerung zu den bekannten verhaltensgebundenen Risikofaktoren sowie zu Krisenzeichen akuter Gesundheitsstörungen (z. B. in der Schlaganfallprävention); kommunale Aktionen wie ‚Gesundheitstage/-wochen‘ zur Risikofaktorenaufklärung und -reduktion (z. B. Hypertonie-Screening, Bewegungsförderung, Gewichtsreduktion); (haus-)ärztliche Prävention durch primär- und sekundärpräventive Beratung, Früherkennungs diagnostik, präventive Medikation und Behandlung; aufsuchende Gesundheitsberatung und präventive Hausbesuche bei noch nicht-pflegebedürftigen, selbstständig lebenden alten Menschen mit präventiv-geriatrischen Assessments und wiederholter Gesundheitsberatung; Patient/-innenschulungen bzw. Psychoedukation und strukturierte Nachsorge im Rahmen medizinischer und geriatrischer Rehabilitationsmaß nahmen; Sport- und Bewegungsförderung in Sportvereinen; Ausbildung von Übungsleiter/-innen und Multiplikator/-innen; verbesserte Qualifizierung und Vernetzung von medizinischen, pflegerischen, ergo- und sporttherapeutischen sowie psychosozia len Leistungserbringer/-innen, Fachkräften und Fachdisziplinen. (3) Lebensraum- und lebensweltbezogene Ansätze zielen auf Beeinflussung und gesundheitsförderliche Gestaltung von gesundheitsrelevanten Kontextfaktoren. Wichtigste Interventionsfelder (Settings) sind: a) die betriebliche Gesundheitsförderung für erwachsene und alternde Beschäftigte – darin v. a. lebensphasenbezogene Altersarbeitskonzepte mit flexiblen Wochenund Lebensarbeitszeiten und Zeitkonten, b) die kommunale Gesundheitsförderung mit und für Ältere in Quartier, Gemeinde und Nachbarschaft – insbesondere quartiersbasierte Prävention für sozial benachteiligte Ältere (v. a. bildungsferne Personen, alternde Menschen mit Migra tionshintergrund, nicht mobile Ältere, auch: ältere Männer). Inhalte und Angebote umfassen hier: betriebliche Primärprävention und Risikofakto renreduktion am Arbeitsplatz nach § 20b SBG V (sog. Präventionsgesetz), zumeist über personale, wünschenswerterweise auch durch strukturelle Interventionen; Vorbereitung eines Renteneintritts ‚bei guter Gesundheit‘; Risikofaktoren-Screenings und betriebsmedizinische Frühbehandlungen am Arbeitsplatz; kommunale Begegnungsund Kommunikationsräume; Seniorennetzwerke, Begegnungs- und Beratungsstellen in kommunaler, kirchlicher oder freier Trägerschaft; migrations- und kultursensible Gesundheits- und Alternsberatung, interkulturelle Öffnung von örtlichen Beratungs-
Krankheitsprävention und Soziale Gesundheitsarbeit im Alter
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und anderen Diensten; diversity-sensible Beratungs- und Unterstützungsangebote; Aufbau altersgerechter Wohnformen (selbstständiges Wohnen, Mehrgenerationenwohnen) und Beratung zur Wohnraumanpassung; begleitetes Wohnen; lokale (Alterns-)Gesundheits- und Pflegeberichterstattung; regelmäßige lokale und quartiersbezogene Gesundheits- und Pflegekonferenzen.
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Gerontologische Perspektiven auf Altersgesundheit
Im Gegensatz zur prioritär von Krankheiten und deren Verlauf ausgehenden Medizin verfügt die moderne Gerontologie über einen mehrdimensionalen, relationalen und subjektzentrierten Gesundheitsbegriff. Kruse und Wahl (2010) schlagen übergreifend den Terminus „aktive Lebenserwartung“ vor. In Anlehnung an und in Erweiterung von Kruse (2006b) (neuer: Kruse und Wahl 2010; Wahl et al. 2012; Wahl und Heyl 2015; Tesch-Römer 2017) lässt sich ein Geflecht aus mehreren, ineinander verflochtenen Dimensionen skizzieren. Ohne die Bedeutung der spezifischen Krankheitsprävention zu schmälern, aber auch ohne diese zu verdinglichen, gelten als gerontologische Kerne von Altersgesundheit: eine autonome Lebensgestaltung und Lebensqualität, eine gute funktionale Gesundheit, Selbstständigkeit im Wohnen und weiteren wichtigen Daseinsfunktionen, angemessene Krisenund Krankheitsbewältigung, gute soziale Partizipation und Unterstützung. Diese gerontologische Konzeption von Altersgesundheit kann weiter ausdifferenziert und konkrete Zielsetzungen können formuliert werden: •• Erhalten einer aktiven, selbstständigen, selbstverantwortlichen, persönlich zufriedenstellenden Lebensführung (v. a. beim Wohnen und in der sozialen Alltagsintegration) so lange wie möglich •• Erhalten und Fördern alter(n)sgerechter Mobilität und körperlicher Aktivität •• (alternsangemessene) geistige Leistungsfähigkeit und Aktivität, Förderung von Kohärenz- und Lebens-Sinn •• Erreichen eines altersangepasst optimalen funktionalen Status mit Alltagsanpassung an Multimorbidität, Beherrschung von Krankheitssymptomen (v. a. Schmerzen und Funktionseinbußen), sowie angemessener Medikation •• Selbstmanagement chronischer Erkrankungen, subjektiv gelingende Bewältigung und/oder das Herausschieben von (chronischen) Krankheiten, von Krankheitsfolgen und Funktionseinbußen mit dem Wiedergewinn von Selbstständigkeit nach Erkrankungen und funktionellen Einbußen •• Vermeiden von psychischer Dekompensation in Folge von Krankheitslast •• Vermeiden von Behinderung und Pflege, Verlängerung der aktiven behinderungsfreien Lebenserwartung •• Herstellung eines individuell passenden Systems medizinisch-pflegerischer und sozialer Unterstützung
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Peter Franzkowiak
•• Schaffung von Möglichkeiten und Anreizen zu sozialer und kultureller Partizipation und Kommunikation, Zugänglichkeit zur (Zivil-)Gesellschaft, leichter Zugang zu Bildungs- und Informationsmöglichkeiten •• Abbau von Barrieren und gesundheitsrelevanten sozio-kulturellen Ungleichheiten in der (wohn-)räumlichen, sozialen, institutionellen und rechtlichen Umwelt. Diese Konzeptionen und Zielsetzungen stehen u. a. in der langjährigen Tradition der (keinesfalls unumstrittenen, s. grundlegend kritisch: van Dyck und Graefe 2011) WHO-Programmatiken eines „Healthy and Active Ageing“ (WHO-EURO 2012; WHO 2015; Liotta et al. 2018). Diese und das deutsche Nationale Gesundheitsziel „Gesund älter werden“ (BMG 2012; Ziegelmann 2012) verbinden sich mit Kruses Forderung aus den 2000er Jahren: Prävention ist nicht allein am (körperlich und geistig) alternden Individuum einzufordern und dort professionell/sozialpolitisch zu inszenieren. Risiken und Veränderungspotenziale der individuellen Morbidität und Bewältigung sollten immer auch vor dem Hintergrund der räumlichen, sozialen, rechtlichen und institutionellen Lebenswelt betrachtet werden. Analog fordert Tesch-Römer (2017) die konsequente Verschränkung von individueller Risikovermeidung, der Verbesserung/des Erhalts des funktionalen Status und einer aktiven sozialen Teilhabe über vier gesellschaftlichen Strategien: •• Gesellschaftliche Institutionen neu ausrichten (Bildung, Arbeit, Ruhestand, Wohnen und Wohnquartier an Bedarfe alternder Gesellschaften anpassen) •• Lebenslauf-Politiken entwickeln (Neuverteilung von Bildung, Arbeit, Freizeit in allen Lebensphasen – nicht sequenziell aufeinander folgend) •• Vorhandenes Humankapitel nutzen (über ‚aktives Altern‘ die Kompetenzen älterer Menschen berücksichtigen) •• Soziale Ungleichheit berücksichtigen (Migration/Ethnizität, Gender, Bildung/Literacy, Status/Einkommen, Milieu/Region als Treiber gesundheitlicher Ungleichheit erkennen und beeinflussen).
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Krankheitsprävention und Soziale Gesundheitsarbeit mit alternden Menschen – ein prekäres Verhältnis
In den vielfältigen, keinesfalls einheitlichen Handlungsfeldern der Sozialen Altenarbeit, an den Schnittstellen von Rehabilitation, Geriatrie, sozialrechtlicher und psychosozialer Beratung und Koordination haben Fachkräfte der Sozialen Arbeit praktischen Anteil an dem, was die Elemente von alternsbezogener Prävention ausmacht. Ausgenommen davon sind die – erheblich umfangreicheren Anteile von – i. e. S. verhaltensmedizinischen, pflegerischen, sporttherapeutischen, rehabilitativen und anderen eher im medizinnahen Relevanzfeld angesiedelten Tätigkeiten.
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Die Fachkräfte agieren nicht in der Praxis einer Fachsozialarbeit, etwa unter dem Dach einer ‚Präventiven Sozialen Altenarbeit‘ – davon zu sprechen, wäre immer noch verfrüht und fehlleitend. Beobachtbar ist vielmehr die uneinheitliche Praxis einer präventiven Sozialarbeit im Gesundheitswesen, gekoppelt mit verstreuten Aspekten von vorsorgebezogener Gesundheitsarbeit im Sozialwesen (vgl. Homfeldt und Steigleder 2008; Franzkowiak et al. 2011; Franzkowiak 2014; Witteriede 2014; Homfeldt 2018). Sozialarbeiterische Anteile in krankheitspräventiven Teilfeldern von Alten hilfe realisieren sich vorwiegend in ambulanten und teilstationären Handlungsfeldern. Dabei sind sie sowohl lebenswelt-unterstützend und -ergänzend, seltener lebenswelt-ersetzend. Das Dilemma für genuin sozialarbeiterische Beiträge zur Krankheitsprävention bleibt grundlegend: Krankheitspräventive (Teil-)Leistungen unterliegen auch in der Altenhilfe den Zwängen des hegemonial organisierten und hierarchisch durchstrukturierten Systems der Gesundheitsversorgung, denn „der (potenzielle) Arbeitsbereich Gesundheit und Pflege ist rechtlich und finanziell dem Gesundheits- und nicht dem Sozialwesen zugeordnet“ (Aner und Hammerschmidt 2018, S. 69; vgl. auch Aner in Kap. I.1 i. d. B.). Dort dominieren Definitionsmacht und Handlungslogiken der noso logisch-kurativen Biomedizin fast alle Perspektiven auf Risiko, Krankheit und Altern – auch wenn sich das Fachgebiet Geriatrie längst psychosozial geöffnet hat (vgl. Vogel i. d. B.). Die in der Prävention (für das Alter wie auch im Alter) gebräuchlichen Methoden und Strategien folgen einer klassischen Logik: Defizite, Entwicklungsverluste und primär körperliche Anzeichen für Störungen bzw. deren (Noch-)Abwesenheit stehen im Mittelpunkt. Basis ist ein reduktionistischer, „weitgehend instrumentell bestimmter Blick auf den Körper im Alter“ (Backes und Wolfinger 2008, S. 153; weiterführend kritisch: van Dyck und Graefe 2011; Homfeldt 2018), der obendrein gravierende soziokulturelle ‚blinde Flecken‘ und Unsensibilitäten aufweist. Krankheitspräventive Interventionen auf dieser Basis sind in Zielen und Effektivitätserwartung fremdbestimmend. Sie fragmentieren die Lebensweisen und Lebenswelten ihrer Adressaten. Vorherrschend sind Strategien der Psychoedukation und Sozioedukation (Leppin 2014). Lebensraum- und lebensweltbezogene Aktivierungen spielen wie in den anderen Feldern und Zielgruppen der Krankheitsprävention nur eine Außenseiter- oder Assistenzrolle. Demgegenüber konturierte Otto (2005a, 2008a) bereits im vorletzten Jahrzehnt einen Handlungsrahmen Sozialer Arbeit im Kontext Sozialer Gerontologie. Die Soziale (Alten-)Arbeit könne fachlich wie methodisch zu großen Teilen den noch verwaisten Raum einer Interventionsgerontologie ausfüllen. Diese ‚Feldbesetzung‘ auf der Folie einer unterstellten inhaltlichen wie praktischen Konvergenz von Sozialer Arbeit und Interventionsgerontologie ist ein kluger Kunstgriff. Der offensiv formulierte Anspruch der Sozialen Altenarbeit macht – gerade unter Gesichtspunkten der eigenen Professionalisierung und einer Distinktion gegenüber Medizin wie Pflege – Sinn. Er ist nicht zuletzt begründet durch die realen Konvergenzen zwischen zen-
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Peter Franzkowiak
tralen Konzepten der Gerontologie (Selbstbestimmung/Autonomie, Kompetenz, Produktivität/Plastizität, Biografie, Ressourcen, soziale Unterstützung, Alltags- und Orientierungswissen) und dem kritisch-reflexiven Lebensweltbezug mit Capabilityund Gerechtigkeitsorientierung in der Sozialen Arbeit (Franzkowiak et al. 2011; Sting 2011; Hammerschmidt et al. 2014; Grunwald und Thiersch 2016a). Für die zugehende (Alten-)Arbeit, für spezifische sozialpädagogisch konturierte Präventionseingriffe, aber auch für Ausschnitte der pflegenahen (Sozialen) Arbeit vertreten Otto und Bauer (2005), in jüngerer Zeit v. a. Karl (2016), die Orientierung an Lebenswelt als Arbeitshaltung. Die Grundhaltung wird fortgeschrieben in Rademakers (2018) Positionspapier für die Deutsche Vereinigung für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen mit dem programmatischen Aufruf: „Lebensweltorientierte Gesundheitsförderung als Praxis Sozialer Arbeit stärken !“ Präventiv wirksame Soziale Gesundheitsarbeit in der Altenhilfe sollte sich, wo und wann immer möglich, nicht den eng geführten, vielfach sozial-, kultur- und genderblinden medizinischen Präventionsansätzen unterwerfen. Ihre Kerne und Stärken sind im Folgenden zusammengefasst. •• Methodisch-professionelle Verschränkung von interventionsgerontologischem Assessment mit Case Management, insbesondere für alternde Menschen ohne ausreichende (versorgungs-)systemische Unterstützung •• Strategieformulierung, Umsetzung und Bewertung einer Praxis der lebensweltbezogenen Autonomieerhaltung und -förderung •• Ermutigung zur und Förderung von sozialer und individuell kohärenter Alltags aktivität und Krankheitsbewältigung, Empowerment zu Selbststärkung und Selbstbildung •• Netzwerkstabilisierung und -erweiterung, Selbsthilfeförderung – dabei immer auch: „Caring for the Carers“ (Robinson 2015), d. h. Gesundheitsförderung und soziale Unterstützung von sorgenden und pflegenden Angehörigen und Nachbarn •• Zugang zu unterversorgten Menschen mit gleichzeitigem hohen Präventions- und Beratungsbedarf, insbesondere in Bevölkerungsgruppen mit niedrigem und/oder prekärem sozialen Status •• Transsektorale Vernetzung und das Schnittstellenmanagement von Vorsorge- und Förderungsangeboten •• Professionelle Sensibilität für und ursachenorientiertes Angehen von sozial, kulturell, genderbezogen und alltagsökologisch bedingten Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten in den Gesundheits-, Versorgungs- und Rehabilitationsoptionen alt werdender Menschen Dass die genuin sozialprofessionellen Kompetenzen in der medizinischen Krankheits prävention für das Alter und im Alter nicht ausreichend sind, oft auch gering geschätzt werden, spricht keinesfalls gegen die (präventive) Soziale Gesundheitsarbeit.
Krankheitsprävention und Soziale Gesundheitsarbeit im Alter
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Ihr Fokus ist ein eigenständiger: paradigmatisch und methodisch weniger der nosologischen Vorsorge- und Rehabilitationsmedizin, vielmehr der Ressourcen sichernden Gesundheitsförderung verpflichtet. Präventive Altersmedizin und Altenhilfe benö tigen die soziale, multidimensionale, lebenswelt- und bewältigungsorientierte, dif ferenzsensible und Gerechtigkeit einfordernde Gesundheits(förderungs)kompetenz von Sozialer Arbeit und sozialer Gerontologie dringender, als ihnen vielfach überhaupt bewusst ist.
Ausgewählte Literatur Karl, Ute. 2016. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit mit älteren Menschen. In Praxishandbuch Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Hrsg. Grunwald, Klaus, und Hans Thiersch, S. 188 – 199. Weinheim und Basel: Beltz Juventa Tesch-Römer, Clemens. 2017. Erfolgreich altern. Vortrag auf der Jahresveranstaltung des Centrums für Demografie und Diversität am 12. Juni 2017, Technische Universität Dresden. pdfManuskript (53 S.). https://tu-dresden.de/cdd/ressourcen/dateien/2017_06_12_jahresveran staltung/Tesch-Roemer.pdf?lang=de. Zugegriffen: 24. Mai 2020. Wurm, Susanne, und Anke-Christine Saß. 2015. Gesundes Leben im Alter – geht mit dem Alter alles nur bergab ? In Der Bürger im Staat 65, 2/3: 130 – 137.
Soziale (Alten-)Arbeit in der Rehabilitation Annette Franke
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Einführung
Aktuell leben laut Statistischem Bundesamt etwa zehn Millionen Menschen in Deutschland mit einer dauerhaften Beeinträchtigung in Form einer amtlich anerkannten Behinderung (Destatis 2017a). Dabei sind etwa drei Viertel dieser Menschen 55 Jahre oder älter (vgl. auch Falk und Zander i. d. B.). Die demografische Entwicklung und die damit unmittelbar einhergehende Zunahme chronischer Erkrankungen (insbe sondere im Bereich psychischer Beeinträchtigungen) führen zu einer steigenden Bedeutung der Rehabilitation und Nachsorge – auch für ältere Menschen. Insbesondere Ältere weisen oftmals mannigfache Einschränkungen (Multimorbidität) auf, was eine selbstständige Lebensführung gefährdet (BAR 2018a). Damit muss sich die Rehabilitation auf alter(n)sspezifische Bedarfe, heterogene Bewältigungsressourcen und Vulnerabilitäten einstellen und neben der Konzentration auf somatische Aspekte (wie chronische Schmerzen) auch weitere Therapieziele wie Teilhabe im Alter und Vermeidung von Pflegebedürftigkeit definieren (Scheidt-Nave et al. 2010). Nicht zu unterschätzen sind die Wirkungen rentenpolitscher Entscheidungen. Steigt bspw. das gesetzliche Rentenalter an, so lässt sich potenziell auch von einer ‚Gerontologisierung der beruflichen Rehabilitation‘ ausgehen. Vorgezogene Ruhestandsoptionen führen wiederum zu einer sinkenden Nachfrage von sog. Reha-Maßnahmen (vgl. Aurich-Beerheide et al. 2018). Dieser Beitrag fokussiert jedoch die geriatrische Rehabilitation für Menschen im höchsten, dem sog. vierten Lebensalter. Bedeutsam für die Soziale Arbeit ist dabei die verbindliche Anwendung der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) in der Bundesrepublik Deutschland (BMAS 2017b; DIMDI 2005). Darin spiegelt sich die biopsychosoziale ‚Wende‘ in diesem Bereich wider. Im Vergleich zur klassischen bio-medizinischen Sichtweise sollen neben der Funktionsfähigkeit persönliche Faktoren, psychosoziale Lebensumstände sowie Aktivität und Partizipation © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_12
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berücksichtigt werden (vgl. auch Homfeldt i. d. B.). Zudem sollen im Bereich der Rehabilitation nun unterschiedliche Disziplinen zusammenwirken, um den komplexen Anforderungen einer ‚Wiederherstellung‘ von Personen mit mannigfachen Einschränkungen und heterogenen Ressourcen zur Bewältigung im Sinne einer Erhaltung der Lebensqualität Rechnung zu tragen.
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Rechtliche Rahmung und Trägerschaft
Die sozialrechtlichen Regelungen für die Rehabilitation werden seit 2001 primär mit dem Sozialgesetzbuch IX „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“ erfasst (BMAS 2017b). Das SGB IX richtet seinen Fokus auf Menschen mit (drohender) Behinderung mit dem Ziel, behinderungsbedingte Nachteile auszugleichen und die Selbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe dieser Menschen zu unterstützen (vgl. § 1 SGB IX). Dabei wird von Behinderung gesprochen, wenn körperliche Funktionen, kognitive Fähigkeiten und psychische Gesundheit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand negativ abweichen und dadurch die gesellschaftliche Teilhabe gefährdet ist. Die Leistungen im SGB IX liegen auf vier unterschiedlichen Ebenen (BMAS 2017b, S. 40): •• •• •• ••
Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (§§ 26 – 32) Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§§ 33 – 43) Unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen (§§ 44 – 54) Leistungen zur sozialen Rehabilitation und Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (§§ 55 – 59).
Zusätzlich zum SGB IX trat 2017 das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz/BTHG) in Kraft, welches in einem vierstufigen Reformprozess der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention den Weg ebnen soll. Mit dem BTHG wird auch die bislang im SGB XII enthaltene Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung sukzes sive aus der Sozialhilfe herausgelöst. Eine Rehabilitation muss in der Regel bei einem sog. Reha-Träger beantragt werden, der die „Rehabilitationsbedürftigkeit“ prüft. Zudem muss eine Person als „reha bilitationsfähig“ gelten, d. h. die Akutbehandlung muss abgeschlossen und die Person physisch und psychisch für eine Maßnahme geeignet sein. Darüber hinaus muss eine positive sozialmedizinische „Rehabilitationsprognose“ vorliegen, d. h. eine Vermeidung oder Verringerung von Funktionsverlusten in Aussicht gestellt werden. Auch Ältere müssen in diesem Sinne als rehabilitationsfähig gelten. Das bedeutet, dass Maßnahmen bei nicht verheilten Frakturen oder fortgeschrittener Demenz in der Regel nicht möglich sind, obwohl hier durchaus positive Modellerfahrungen vorliegen, wenn Interventionen ganzheitlich, individuell und längerfristig angelegt sind
Soziale (Alten-)Arbeit in der Rehabilitation
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(vgl. Cations et al. 2018). Für eine positive geriatrische Rehabilitationsprognose sind laut Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation Kriterien für nachhaltige Adaptionsmöglichkeiten im Alltag relevant (BAR 2008). Im Gegensatz zur indikationsspezifischen Rehabilitation zur Behandlung einer bestimmten Erkrankung nimmt die geriatrische Rehabilitation umfassend alle funktionellen Einschränkungen und Bedingungen im Umfeld der Betroffenen (Wohnsituation, Angehörige, Unterstützung nach der Entlassung) in den Blick, um eine möglichst selbstständige Lebensführung zu erzielen. Sie wird jedoch nur gewährt, wenn ein höheres Lebensalter (i. d. R. ab dem 70. Lebensjahr) sowie mindestens zwei altersbedingte Einschränkungen im Sinne eines geriatrischen Syndroms wie wiederholte Stürze, Inkontinenz oder der Abbau kognitiver Leistungen (BAR 2018a; GKV 2018a) vorliegen. Für ältere Menschen lassen sich die beiden Grundprinzipien „Rehabilitation vor Rente“ (§ 9 SGB VI) bzw. „Rehabilitation vor Pflege“ (§ 31 SGB XI) anwenden. Während im ersten Fall i. d. R. die Renten- und Unfallversicherungen Maßnahmen finanzieren, liegt bei „Rehabilitation vor Pflege“ die Trägerschaft bei den Krankenkassen, die prüfen, wie Pflegebedürftigkeit überwunden, gemindert oder eine Verschlimmerung verhindert werden kann (§ 31 Abs. 1 SGB XI). Abbildung 1 zeigt das Ausgabenverhältnis der Rehabilitationsträger im Jahr 2016.
Abbildung 1 Ausgaben-Verhältnis der Rehabilitationsträger 2016 (in %) 9%
18 %
51 %
0%
13 %
1%
7%
1%
Krankenversicherung
Rentenversicherung
Alterssicherung der Landwirte
Unfallversicherung
Landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft
Bundesagentur für Arbeit
Integrationsämter
Eingliederungshilfe
Quelle: Eigene Darstellung nach BAR 2018b ©
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Obwohl seit 2007 ein Rechtsanspruch auf eine geriatrische Rehabilitation besteht, besitzt diese im SGB IX keine eigenständige Grundlage, sondern wird im Kontext der medizinischen Rehabilitation und „Rehabilitation vor Pflege“ einbezogen. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) ist verpflichtet, bei der Begutachtung zur Pflegebedürftigkeit das vorhandene Potenzial für rehabilitative Maßnahmen zu überprüfen und Antragstellenden eine gesonderte Rehabilitationsempfehlung zu übermitteln. Trotzdem wurden in 2015 bei fast 1,5 Millionen MDK-Begutachtungen nur etwa 31 000 sog. Reha-Empfehlungen gegeben (DGG 2016). Kranken- und Pflege versicherung zeigen dabei unterschiedliche finanzielle Interessen bezogen auf das Ergebnis des Assessments. Da die Pflegeversicherung faktisch nicht zu den Trägern der Rehabilitation gehört, riskieren die Krankenkassen einen wirtschaftlichen Verlust, wenn sie in rehabilitative Maßnahmen zur Vermeidung von Pflegebedürftigkeit investieren. In der Folge scheinen rehabilitative Angebote zur Vermeidung oder Verminderung der Pflegebedürftigkeit nicht optimal ausgeschöpft und gleichzeitig mangelt es an einer lückenlosen Versorgung, an nachhaltiger Mobilisierung und Aktivierung im Alltag der Betroffenen (von Renteln-Kruse et al. 2011). Die Ausgaben für Rehabilitation und Teilhabe in den Jahren 2006 bis 2016 zeigt Abbildung 2. Die BAR (2018a) stellt gleichwohl für die letzten Jahre eine kontinuierliche Zunahme der Ausgaben im Bereich der Rehabilitation fest (vgl. GKV Spitzenverband 2018b). In 2016 wurden etwa 35,2 Milliarden Euro investiert, ein Plus von etwa 40 % im Vergleich zu 2006 (vgl. Abbildung 2). Während die Eingliederungshilfe und die Krankenkassen deutlich steigende Ausgaben verbuchen, zeigen sich die Werte bspw. für die Rentenversicherung und die Bundesagentur für Arbeit relativ stabil. Eine detaillierte Beschreibung zu Umfang und Art der Leistungen, Anträge und Bewilligungen ist schwierig, da keine übergreifende systematische Zusammenstellung der verschiedenen Leistungsträger existiert (GKV Spitzenverband 2018a; Kompetenz-Centrum Geriatrie 2018). Klar ist: Geriatrische Fälle machen im Gesamtspektrum der Rehabilitation derzeit etwa 5 % aus (BAR 2018a). Die häufigsten Ursachen sind laut einer Sonderauswertung des Statistischen Bundesamtes (2011/12; zitiert in BAR 2018a, S. 14) Erkrankungen, Beschwerden und Verletzungen des Haltungs- und Bewegungsapparats (49 %), internistische Erkrankungen (25 %) sowie neurologische Erkrankungen (19 %). Damit basiert der Zugang zur Rehabilitation bei Älteren vorwiegend auf akuten Bedarfen, die sich bspw. durch einen Sturz ergeben. Faktisch erfolgt die Überleitung in eine sog. Reha-Maßnahme oftmals vom Akutkrankenhaus aus. Die sog. geriatrische, frührehabilitative Komplexbehandlung (GFKB) soll hier eine Brückenfunktion zwischen Krankenhausaufenthalt und Rehabilitation darstellen und die Rehabilitationsfähigkeit unterstützen (vgl. DGG 2017). Im BARMER-Krankenhausreport 2017 werden hier jedoch explizit die starren Zeitkorridore von sieben, 14 oder 21 Tagen für die Behandlung kritisiert (Augurzky et al. 2017). Weitere Kritikpunkte im gesamten Rehabilitationsbereich beziehen sich auf lange Wartezeiten für die Bewilligung durch die Krankenkasse oder die unzureichende Anzahl von sog. Reha-Plätzen. Zudem variieren die Versorgungsquoten klinisch-geriatrischer Behandlungen in den Ländern
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Abbildung 2 Ausgaben für Rehabilitation und Teilhabe von 2006 bis 2016 (in Mio. €) 40 000 35 000 30 000 25 000 25 073
25 251
26 363
27 816
28 855
29 659
30 650
31 280
2012
2013
32 636
33 763
35 201
20 000 15 000 10 000 5 000 0 2006
2007
2008
2009
2010
2011
2014
2015
2016
Quelle: Eigene Darstellung nach BAR 2018a ©
je 10 000 Einwohner (älter als 65 Jahre) von bspw. 7,9 in Sachsen bis 39,4 in Hamburg (Bundesdurchschnitt: 16,7) (Kompetenz-Centrum Geriatrie 2018). Das zentrale Element der geriatrischen Versorgung stellt de facto die stationäre Ebene dar. Während in der stationären Rehabilitation die Patient/-innen oftmals mehrere Wochen in einer Klinik behandelt werden, können bei der ambulanten die Personen im häuslichen Umfeld verbleiben und zu vereinbarten Therapiezeiten eine sog. Reha-Klinik oder ein sog. Reha-Zentrum aufsuchen. Dabei besteht ein Rechtsanspruch auf Wahlfreiheit für die Betroffenen (§ 9 SGB IX). Die Zahl der Behandlungstage beläuft sich in der Regel auf 14 bis 20 Tage an fünf bis sechs Tagen pro Woche (GKV Spitzenverband 2018a). Die Vergütung erfolgt für die stationären Angebote auf der Basis von Fallpauschalen, während die ambulanten Einrichtungen der Rehabilitation über tagesgleiche Pflegesätze vergütet werden (Augurzky et al. 2017). Laut GKV-Bericht wurden in 2015 über 61 957 stationäre und 2 453 ambulante Fälle in der geriatrischen Rehabilitation versorgt (BMG 2017). Dies entspricht einem Anteil ambulanter Maßnahmen von 3 %. So wird für Baden-Württemberg die Anzahl ambulanter geriatrischer Plätze zur Rehabilitation aktuell mit 157 beziffert. Die Anzahl stationärer sog. Reha-Betten ist mehr als zehnmal so hoch (Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren Baden-Württemberg 2014). Hier lässt sich einerseits begründen, dass bspw. visuelle Einschränkungen oder kognitive Erkrankungen die Rehabilitationsziele im heimischen Setting gefährden. Vor dem
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Hintergrund der besonderen gesundheitlichen und sozialen Lage multimorbider Patient/-innen können lange Fahrtzeiten zu den Angeboten die Betroffenen zudem gesundheitlich strapazieren und damit die Ziele der Rehabilitation gefährden. Die BAR (2008) empfiehlt hier eine max. Reisezeit von 45 Minuten für den einfachen Weg. Die mobile geriatrische Rehabilitation im häuslichen Umfeld ist eine Sonderform der ambulanten geriatrischen Rehabilitation und hat derzeit in Deutschland – trotz des gesetzlichen Anspruchs seit 2007 – noch Modellcharakter. Durch die vertraute Umgebung können sich Schwierigkeiten beim Übergang reduzieren und kann eine Anwendung von Strategien ‚vor Ort‘ erprobt werden. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Mobile Rehabilitation e. V. verweist auf allerdings lediglich 16 Standorte für mobile geriatrische Rehabilitation in ganz Deutschland (BAG MoRe 2019). Der verzögerte Ausbau dieser Angebote liegt u. a. in den Befürchtungen größerer finanzieller Belastungen seitens der Kostenträger, wohingegen die Leistungserbringer neu entstehende Konkurrenzangebote befürchten. Zudem erfordert eine mobile Form der Rehabilitation eine enge Koordination und Vernetzung im Sinne eines Case-Managements verschiedener Angebote von sog. Reha-Kliniken, Pflegediensten und Beratungsstellen (Siegert 2019; zum Case Management vgl. Wendt i. d. B.). Die Ausbaustrukturen sind demzufolge nicht immer transparent. Nichtsdestotrotz entstehen zunehmend Kooperationsmodelle zwischen Tageskliniken und sog. Reha-Einrichtungen (ebd.). Ökonomisch argumentiert lassen sich deutliche Hinweise auf eine positive Kosten-Nutzen-Relation von geriatrisch-rehabilitativen Maßnahmen finden, u. a. in Bezug auf Mortalität, Pflegeabhängigkeit und Aktivitäten des täglichen Lebens. Besonders schwere Fälle mit erhöhtem Bedarf scheinen von den Maßnahmen zu profitieren (Lübke 2015; Janßen 2018). Positive Effekte lassen sich sogar bei leichter und mittlerer Demenz erzielen (Cations et al. 2018). Dabei sind sowohl stationäre als auch ambulante Settings für sich genommen erfolgversprechend – ausschlaggebend sind hierbei die individuellen Voraussetzungen und Problemlagen der Rehabilitand/-innen für eine nachhaltige Umsetzung im Alltag (Augurzky et al. 2015). So können stationäre Maßnahmen hilfreich sein in Regionen mit unzureichender Infrastruktur für ambulante Reha-Einrichtungen, schwierigen Transportwegen (bspw. im ländlichen Raum) oder wenn eine Entlastung vom sozialen Umfeld notwendig erscheint (GKV Spitzenverband 2018a). Andererseits können ambulante oder mobile geriatrische Rehabilitation im vertrauten Umfeld dem ‚episodenhaften‘ Charakter von spezifischen Beeinträchtigungen entgegenkommen und die Lebensqualität und Zufriedenheit der Betroffenen verbessern (Cameron und Kurrle 2002; Lübke 2015).
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Beschäftigtenstruktur in der geriatrischen Rehabilitation
Für die Rehabilitation werden im SGB V (§ 107 Abs. 2) konkrete Tätigkeitsfelder festgelegt wie bspw. Krankengymnastik, Bewegungstherapie oder Sprachtherapie. Abgesehen von der expliziten Formulierung einer „ärztlichen Verantwortung“ werden
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jedoch keine Berufsgruppen verbindlich vom Gesetzgeber vorgeschrieben. Die BAG der Klinisch-Geriatrischen Einrichtungen e. V. geht hier einen Schritt weiter und empfiehlt, dass die fachliche Leitung oder mindestens ein/-e Mitarbeitende/-r über einen staatlichen Abschluss/staatliche Anerkennung als Sozialarbeiter/-in oder So zialpädagog/-in (Diplom, Master oder Bachelor) verfügt (alternativ Abschluss als Gerontolog/-in mit mindestens zweijähriger Berufserfahrung im Krankenhaussozial dienst oder in einer Einrichtung der Rehabilitation) (GKV Spitzenverband 2018a). Für den Bereich der Sozialen Arbeit wird ein Personalschlüssel von 1 : 50 bis 1 : 80 vorgeschlagen (ebd., S. 26). Laut Statistischem Bundesamt machen Sozialarbeiter/-innen beim nicht-medizinischen Personal in der stationären Rehabilitation insgesamt bundesweit etwa 2,4 % aus (Destatis 2017b, S. 26). Entsprechende Kennzahlen in der geriatrischen Rehabilitation liegen allerdings nicht vor. Die Aufgabe der Sozialen (Alten-)Arbeit besteht darin, die geriatrischen Rehabilitand/-innen bei der Krankheitsbewältigung psychosozial durch beratende, koordinierende und vernetzende Tätigkeiten zu unterstützen, bspw. Hilfestellung zu Leistungen der sog. Reha-Träger, Informationen zu Ehrenamt, Mobilität und Pflegediensten, Beratung zu gesetzlicher Betreuung oder Wohnraumanpassung anzubieten (BAR 2008, 2016, 2018a; DVSG 2008; GKV Spitzenverband 2018a). Aufgrund der oftmals progredient verlaufenden Einschränkungen hat die Kooperation mit Angehörigen eine besondere Bedeutung. Die oben skizzierten Potenziale sog. mobiler RehaTeams bedeuten auch einen erhöhten Bedarf an Koordination und Vernetzung, auch mit den Leistungsträgern (BAR 2016; Körner und Becker 2017). Die Befragung von Streibelt et al. (2018) unter 240 Sozialarbeiter/-innen in medizinischen Einrichtungen zur Rehabilitation in Deutschland kommt zu dem Ergebnis, dass mehr als 80 % den Stellenwert der Sozialdienste als gut oder sehr gut einschätzen. Allerdings fehlten oftmals der innerfachliche Austausch und eine kontinuierliche Einbindung in alle Prozesse (ebd.).
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Paradigmen, Konzepte und Handlungsformen in der geriatrischen Rehabilitation
Gemäß SGB V (§ 295 Absatz 1 und 2) sind in Deutschland die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzt/-innen sowie die ärztlich geleiteten Einrichtungen verpflichtet, Diagnosen nach der International Classification of Diseases Version 10 German Notification (kurz: ICD-10) zu verschlüsseln. Um allerdings auch die Ressourcen, Funktionen und Fähigkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe zu ermitteln und daraus einheitlich bspw. Maßnahmen der Rehabilitation abzuleiten, wurde in 2001 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) veröffentlicht. ICF versteht sich dabei als ressourcenorientiertes ganzheitliches Nachfolgemodell der primär defizitorientierten International Classification of Impairments, Disabilities and Handycaps (ICIDH) der
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WHO von 1980. Allerdings findet ICF nur Anwendung, wenn eine Krankheit oder gesundheitliche Störung gemäß ICD vorliegt (DIMDI 2005). Heute ist ICF verankert über die Rehabilitations-Richtlinie und das BTHG (BMAS 2017b). Auch die Gestaltung des SGB IX von 2001 wurde wesentlich beeinflusst durch die ICF-Vorläuferfassung. Im ICF-Modell werden die folgenden vier Komponenten exploriert:
1) Körperfunktionen (physiologische Funktionen): Komponente b (bodyfunctions) 2) Körperstrukturen (anatomische Dimensionen): Komponente s (bodystructures) 3) Aktivitäten und Partizipation: Komponente d (daily activities) 4) Umweltfaktoren (äußerer Kontext, intrapersonelle Dimensionen wie Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale): Komponente e (environmental factors) In der Regel werden zur Klassifizierung von Gesundheitszustand, Funktionsfähigkeit und Behinderung mehrere Kodes aus allen vier Komponenten angewendet (DIMDI 2005, S. 16). Inhaltsgemäß gilt eine Person als funktional gesund, wenn Körperstrukturen, -funktionen und Raum für Aktivitäten und Teilhabe in allen Lebensbereichen denen eines gesunden Menschen gleichkommen (DIMDI 2005, S. 4). Das hier zugrundeliegende Verständnis von Behinderung ist ein Beispiel dafür, dass das ICF-Instrument über den Begriff von Behinderung im SGB IX hinausgeht. Bei geriatrischen Patient/-innen steht im Vordergrund, wie angesichts einer progredienten gesundheitlichen Vulnerabilität eine selbstständige Lebensführung möglich ist, welche Hilfsmittel und Unterstützung nötig sind und welche Selbsthilfepotenziale aktiviert werden können (Cameron und Kurrle 2002; BAR 2008, 2016). Die umwelt- und personenbezogenen Dimensionen können sich dabei auf psychosoziale und haushaltsnahe Ressourcen beziehen wie Angehörige, Nachbarschaft, Ehrenamt, Selbsthilfegruppen, Infrastruktur, aber auch auf persönliche Faktoren wie Optimismus, Selbstwirksamkeitserwartung, Offenheit gegenüber neuen Handlungstechniken oder gesunder Lebensstil. Partizipation und Aktivität werden primär beeinflusst durch die Wohnbedingungen, finanzielle Ressourcen und Einbindung in das familiäre und soziale Umfeld (DIMDI 2005).
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Entwicklungs- und Forschungsbedarf aus Sicht Sozialer Arbeit mit alten Menschen
Die demografische Entwicklung weist deutlich auf eine zunehmende Bedeutung der geriatrischen Rehabilitation hin – auch, um eine finale Pflegebedürftigkeit zu vermeiden. Allerdings zeigen sich im derzeitigen System Verbesserungsmöglichkeiten bspw. mit Blick auf die Gewährung geriatrischer Rehabilitationsmaßnahmen und eine gute Versorgungslandschaft. Neben den klassischen stationären und ambulanten Rehabilitationseinrichtungen können mobile Angebote einen wichtigen Beitrag für mehrfach eingeschränkte Ältere zur Erlangung der Ziele der Rehabilitation und zum Transfer
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der Interventionen in den häuslichen Alltag leisten. Hier gilt es, weitere Angebote auszubauen, um den komplexen Bedarfen und der begrenzten Belastbarkeit multimorbider Menschen im hohen Alter gerecht zu werden. Hierfür liegen durchaus Modelle vor, die wertvolle Impulse für nachhaltige Angebote sogar für Personen mit eingeschränkter Rehabilitationsfähigkeit (bspw. bei leichter Demenz) liefern können. Durch die stärkere Fokussierung auf Aktivität und Partizipation im ICF ergeben sich eindeutige Anknüpfungspunkte für die Soziale (Alten-)Arbeit (DVSG 2008). Ein Bezug zu theoretischen und konzeptionellen Paradigmen in der Sozialen Arbeit wie Ermächtigung und Lebensweltorientierung liegt hier nahe (vgl. Herriger 2014; Thiersch 2014). Dabei scheint die Soziale Arbeit ihr Potenzial an spezifischen Kompetenzen im Bereich der (geriatrischen) Rehabilitation angesichts der Herausforderungen durch multimorbide Patient/-innen noch nicht ausgeschöpft zu haben; „Profil, Rolle, berufliche Identität und Perspektiven bedürfen einer definitorischen Klarheit“ (Aner 2018b, S. 425). Angesichts der oben genannten Elemente sind die Aufgaben der Sozialen Arbeit in der geriatrischen Rehabilitation durchaus vielfältig und einschlägig. Dazu gehören die Koordination in einer komplexen Trägerlandschaft, ein vorausschauendes Entlassungsmanagement, die Beratung von Angehörigen – bspw. auch, wenn diese weiter entfernt wohnen (vgl. Franke et al. 2019) –, die Vernetzung mit anderen Professionen und die Klärung von Fragen zu weiterführenden Unterstützungsangeboten im Alltag. Möglichkeiten für Forschungs- und Entwicklungsbedarf ergeben sich bspw. zu den Fragen, wie Präventionspotenziale frühzeitig erkannt werden können, wie eine bessere Vernetzung der am Prozess Beteiligten auch bei schwieriger Infrastruktur (bspw. im ländlichen Raum, Wohnentfernung zwischen Angehörigen) möglich ist oder wie interdisziplinäre Teams gemeinsame Ziele der Rehabilitation und ein inte gratives Therapiekonzept erarbeiten können. Weitere Themen könnten sich in Bezug auf innovative Rehabilitationsmodelle, adäquate Wohnformen oder technische Lösungen im häuslichen Umfeld ergeben. Hier eine kompetente und unabhängige Beratung, Einführung und Begleitung – und nicht zuletzt wissenschaftliche Evalua tion – zu geben, könnte ein zunehmend wichtiger Beitrag der Sozialen Arbeit in Praxis und Forschung sein.
Ausgewählte Literatur BAR. Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation. 2008. Arbeitshilfen zur geriatrischen Rehabilitation, Schriftenreihe der BAR, Heft 6. https://www.bar-frankfurt.de/publikationen/arbeitshilfen/. Zugegriffen: 22. November 2018. DVSG. Deutsche Vereinigung für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen e. V. 2008. Soziale Arbeit in der Rehabilitation, Grundsatzpapier. https://dvsg.org/fileadmin/dateien/02Fachgruppen/02Rehabilitation_und_Teilhabe/GrundsatzpapierSARehaKurzfassung2008.pdf. Zugegriffen: 21. Juli 2018.
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Streibelt, Marco, Norbert Gödecker-Geenen, Holger Adolph und Christina Keßler. 2018. Zugang zum Sozialdienst in Reha-Einrichtungen. Ergebnisse der DVSG Mitgliederbefragung 2017 (Teil II). In Forum sozialarbeit + gesundheit. Heft 1: 33 – 37.
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Das Krankenhaus als Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit
Eine stationäre Krankenhausbehandlung ist nach § 39 SGB V indiziert, wenn bei einer vorliegenden Erkrankung eine ambulante oder teilstationäre Versorgung und häusliche Krankenpflege nicht ausreichen, um das medizinisch gebotene Behandlungsziel zu erreichen. Je nach dem Bedarf im Einzelfall umfassen die Leistungen ärztliche Behandlung, Krankenpflege, Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln sowie Unterkunft und Verpflegung. Gegenwärtig werden jährlich rund 19,5 Millionen Menschen stationär in den etwa 1 950 Krankenhäusern behandelt. Die durchschnittliche Verweildauer liegt bei 7,3 Tagen, sie ist seit Jahren konstant rückläufig. In der steigenden Zahl der Patient/-innen im höheren Lebensalter kommt die älter werdende Gesellschaft auch im Krankenhaus zum Ausdruck (vgl. StaBuAmt und WZB 2018, S. 292 f.). Generell konfrontiert das Gesundheitssystem die in ihr tätige Soziale Arbeit mit diversen Versorgungsproblemen, die nur teilweise kompensiert werden können. Dies gilt nicht zuletzt auch, weil die Soziale Arbeit aufgrund ihres eher geringen Status im deutschen Gesundheitswesen über keine Instrumente der Systemsteuerung verfügt, wie sie in anderen Ländern teilweise durch das Care Management bestehen. Insbesondere die Abschottung der ambulanten, der haus- und fachärztlichen, der rehabilitativen und der pflegerischen Sektoren erschwert eine koordinierte Behandlung und führt vermehrt zu einer mangelhaften Versorgung chronisch erkrankter Menschen. Hinzu kommen die Folgen der pauschalen Vergütungssysteme, die bei den Krankenhäusern Anreize dafür liefern, die Behandlungskosten durch eine früh-, zuweilen auch vorzeitige Entlassung zu senken, was wiederum vor allem chronisch Kranke, multimorbide und alte Menschen trifft (vgl. Gerlinger 2018, S. 27 f.). Zudem dominieren bei den Patient/-innen in Krankenhäusern chronische Erkrankungen. Etwa drei Viertel aller Erkrankungen, darunter vor allem Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Beschwerden des Muskel- und Skelettsystems, Stoffwechselstörungen, bös © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_13
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artige Neubildungen und psychische Störungen verlaufen chronisch. Man geht von einer weiteren Zunahme aus, sodass sie in den kommenden Jahren einen Anteil von ca. 80 % aller Erkrankungen ausmachen werden (vgl. Schaeffer und Halsbeck 2016, S. 244). Chronische Erkrankungen mit ihren unberechenbaren Verläufen, den sektorenübergreifenden Versorgungsfragen, und den Auswirkungen auf die psychischen, sozialen, körperlichen und wirtschaftlichen Lebensumstände erfordern von den Betroffenen umfängliche Bewältigungsleistungen im Alltag. Die Soziale Arbeit ergänzt die medizinisch-pflegerische Behandlung bei komplexen und vor allem chronischen Erkrankungen durch ihre Ausrichtung auf die Lebenswelt der Patient/-innen und damit u. a. auf ihre subjektiven Formen des Erlebens und der Verarbeitung (vgl. Ansen 2018a, S. 844 f.). Für die Soziale (Alten-)Arbeit im Krankenhaus ist ein medizinsoziologisches Krankheitsverständnis weiterführend, nach dem Krankheit für ein Ungleichgewicht von Risiko- und Schutzfaktoren steht. In dieser Lesart gelingt es Betroffenen, im Fall von Krankheit nicht, innere körperliche und psychische sowie äußere soziale und materielle Anforderungen, die mit Risikofaktoren einhergehen, hinreichend zu bewältigen, sodass sie in ihrem Wohlbefinden und ihrer Lebensfreude beeinträchtigt sind (vgl. Hurrelmann und Richter 2013, S. 147). Dieses Krankheitsverständnis verweist auf die Relevanz einer mehrdimensionalen Analyse und Gestaltung von Unterstützungsprozessen, welche die Soziale Arbeit mit betroffenen Menschen auszeichnet.
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Alter und Soziale Arbeit im Krankenhaus
Die Behandlungsbeiträge der Sozialen Arbeit im Krankenhaus adressieren alle Patient/-innen, unabhängig von ihrem Alter. Gleichwohl spielen alte Menschen aufgrund ihrer erhöhten Anfälligkeit für chronische und multiple Erkrankungen im Rahmen der sozialarbeiterischen Unterstützung im Krankenhaus eine wesentliche Rolle. Hierbei ist zu beachten, dass das Alter von Verlusten und Gewinnen geprägt ist. Verluste betreffen die körperlich-organische Leistungsfähigkeit, psychisch-kognitive Funktionen und das soziale Leben, während Gewinne insbesondere im seelischgeistigen Bereich zu verzeichnen sind. Das Alter ist mithin ein sehr heterogenes Phänomen. Von ‚dem‘ alten Menschen mit übergreifend gültigen Besonderheiten oder Auffälligkeiten kann aufgrund der Plastizität und Kompensationsmöglichkeiten des Alters, die auch den sozialen Bereich tangieren, keine Rede sein. Ab dem sog. vierten Alter, das mit ca. 80 bis 85 Jahren beginnt, steigt jedoch altersgruppenübergreifend das Risiko von Erkrankungen, chronischen Schmerzen und voranschreitenden Beeinträchtigungen in Verbindung mit zunehmender Pflegebedürftigkeit bei nun deutlich verringerten Ausgleichsmöglichkeiten (vgl. Kruse 2017a, S. 21 f.; vgl. auch Homfeldt i. d. B.). Neben den unmittelbaren Krankheitsbelastungen ist es die Situation im Krankenhaus, die Patient/-innen zusätzliche Schwierigkeiten bereitet und die in den sozial-
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arbeiterischen Unterstützungsangeboten zu berücksichtigen sind. Patient/-innen erleben häufig Ängste hinsichtlich des offenen Krankheits- und Behandlungsverlaufes: Betroffene verfügen überwiegend nicht über ausreichende Informationen in Verbindung mit Kommunikationsproblemen im Krankenhaus, sie erleben teilweise eine Ent-Persönlichung im stationären Alltag durch die Reduktion auf die Erkrankung bzw. Diagnose und sie sind regelmäßig mit Einschränkungen ihrer Privatsphäre konfrontiert sowie mit Sorgen darüber, wie es nach der Krankenhausbehandlung weitergeht (vgl. Waller und Trabert 2013, S. 128 f.). Die sozialarbeiterische Perspektive auf älter werdende Menschen erschöpft sich gleichwohl nicht darin, nur krankheitsbedingte Probleme aufzugreifen. Vielmehr geht es darum, Alter und Altern zu ermöglichen und Menschen darin zu unterstützen, die ihnen zuträgliche Balance zwischen Aktivität und Rückzug zu finden. Instruktiv dafür ist erstens die Ermöglichung des Ausdrucks eigener Bedürfnisse, Befindlichkeiten, Sorgen und Perspektiven. Damit erhalten alte Menschen die Gelegenheit, ihre Anliegen zu thematisieren und sich zu entlasten. Hinsichtlich der Abhängigkeiten, die mit dem Alter einhergehen können, geht es zweitens um die sozialpädagogische Frage, wie ein Höchstmaß an Selbständigkeit durch angemessene Formen der Flankierung im Alltag verwirklicht werden kann. Drittens sind für die Soziale Arbeit mit alten Menschen Aspekte der Aneignung des eigenen Lebens in den vorfindlichen und zu erschließenden Räumen mit angemessenen Stimulationen und Herausforderungen bedeutsam. Schließlich gewinnt das Thema Wohnen und das unmittelbare Umfeld im Alter eine besondere Relevanz. Des Weiteren stellen sich viertens Fragen der Anerkennung, sodass alte Menschen ihren Platz in der Gesellschaft auch finden, einnehmen und ihre Aktivitäten entfalten können (vgl. Böhnisch und Schröer 2013, S. 127 f.). Diese Grundhaltung ist in der Sozialen Altenarbeit auch dann gefordert, wenn Altersrisiken wie Abhängigkeiten von unterstützenden An geboten, Einsamkeit, Armut und Abbauprozesse den Alltag der Betroffenen prägen (vgl. Schweppe 2012, S. 505). Instruktiv für Sozialarbeiter/-innen und andere Professionen in den multidisziplinären Teams, die in Krankenhäusern ältere Menschen behandeln, pflegen und begleiten, kann außerdem die Befassung mit Theorien der Sozialen Arbeit sein (vgl. dazu Aner 2018b).
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Systematische Grundlagen der Sozialen (Alten-)Arbeit im Krankenhaus
Die Verbindung von Sozialer Arbeit und Krankheit hat eine lange Tradition. Schon in den ersten Ausbildungsgängen im ausgehenden 19. Jahrhundert wurden gesundheitsund krankheitsbezogene Aspekte der Sozialen Arbeit auch curricular aufgegriffen, denn Armut und soziale Ausgrenzung waren vielfach mit Krankheit verbunden. Die Bearbeitung der wirtschaftlichen, sozialen und persönlichen Implikationen von Krankheit durch die Soziale Arbeit erfolgt heute einerseits in spezialisierten Arbeits-
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feldern wie dem Krankenhaus, andererseits begleitend in vielen weiteren Bereichen wie dem Allgemeinen Sozialen Dienst, der Altenhilfe oder der Wohnungslosenhilfe, um nur wenige Beispiele zu nennen (vgl. Aner und Hammerschmidt 2018, S. 49 f.). Mit ihrer Beachtung der persönlichen und sozialökonomischen Zusammenhänge und Wechselwirkungen, die mit Krankheiten häufig einhergehen, nimmt die Soziale Arbeit eine das medizinische Modell ergänzende Sichtweise ein, die für eine zeit gemäße Behandlung allemal gebraucht wird (vgl. Homfeldt und Sting 2018, S. 567 f.). Heute sind etwa 54 000 Sozialarbeiter/-innen in Einrichtungen des Gesundheitswesens mit dem Anspruch tätig, die mit Krankheiten einhergehenden sozialen Probleme zu bearbeiten und die sozialen Teilhabemöglichkeiten der Betroffenen zu fördern (vgl. Dettmers 2018, S. 256 f.). Die Soziale (Alten-)Arbeit im Krankenhaus steht in dieser Tradition, sie sucht unter den bestehenden Arbeitsfeldbedingungen nach Wegen, ihr Selbstverständnis in Bezug auf Krankheit und Unterstützung zu realisieren. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen bieten der Sozialen (Alten-)Arbeit im Krankenhaus eine breite thematische Grundlage, wie die folgenden Hinweise zeigen: •• Patient/-innen haben nach § 112 Abs. 1 Nr. 4 SGB V Anspruch auf soziale Betreuung und Behandlung im Krankenhaus. •• Ein Anspruch auf Unterstützung zum nahtlosen Übergang von der Krankenhausbehandlung zur Rehabilitation oder zur Pflege resultiert aus § 112 Abs. 1 Nr. 5 SGB V. •• Ergänzend zum Anspruch auf den nahtlosen Übergang zur Rehabilitation oder zur Pflege umfasst die Krankenhausbehandlung nach § 39 Abs. 1a SGB V ein Entlassmanagement, dessen Ziel darin besteht, eine sektorenübergreifende Versorgung nach einer Krankenhausbehandlung sicherzustellen. Das Krankenhaus kann das Entlassmanagement auch durch externe Leistungsanbieter durchführen lassen. •• Darüber hinaus ist ein Anspruch auf Versorgungsmanagement nach § 11 Abs. 4 SGB V für die Soziale Arbeit im Krankenhaus bedeutsam. Das Versorgungsmanagement soll dazu beitragen, Probleme im Übergang in verschiedene Versorgungsbereiche einschließlich der fachärztlichen Anschlussbehandlung zu lösen. Angesichts der immer kürzer werdenden Verweildauer im Krankenhaus bei gleichzeitig zunehmenden Versorgungsproblemen nach einer stationären Behandlung aufgrund des steigenden Anteils älterer Patient/-innen werden organisierende Hilfen, wie sie im SGB V benannt werden, immer wichtiger. Allerdings ist nach dem Posi tionspapier der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen e. V. (DVSG) aus dem Jahr 2013 zu monieren, dass die Soziale Arbeit immer weiter auf das Entlassmanagement im Sinne einer pflegerischen Überleitung reduziert wird und vielerorts Fachkräfte der Sozialen Arbeit durch Pflegekräfte bei der Erledigung dieser Aufgabe ersetzt worden sind (vgl. DVSG 2013, S. 4 f.). Der gesetzliche Anspruch auf soziale Betreuung und Beratung im Krankenhaus und eine breite Überleitung,
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die auch soziale Aspekte sowie Fragen der Krankheitsbewältigung würdigt, droht vor diesem Hintergrund zunehmend vernachlässigt zu werden. Die Soziale (Alten-)Arbeit im Krankenhaus ist häufig mit chronisch erkrankten Patient/-innen befasst, insoweit bietet es sich an, im inhaltlichen Profil an die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nach § 26 Abs. 3 SGB IX anzuknüpfen (vgl. dazu auch Rixen i. d. B.), die u. a. auf chronische Erkrankungen ausgerichtet sind. Die allgemeinen Ziele der medizinischen Rehabilitationsleistungen umfassen die Abwendung, Beseitigung, Minderung und Verhütung einer Verschlimmerung sowie den Ausgleich von Behinderungen und chronischen Erkrankungen. Die Leistungen umfassen u. a. psychologische und pädagogische Hilfen – hier könnte man treffender von sozialarbeiterischen Hilfen sprechen – zur Krankheitsbewältigung und persönlichen Stabilisierung sowie zur Krisenbewältigung, zur Aktivierung von Selbsthilfepotenzialen einschließlich der Förderung von Kontakten zu Selbsthilfegruppen, zur Beratung von Angehörigen und Personen im Umfeld, zur Förderung alltagspraktischer Kompetenzen und zur Motivation einer Inanspruchnahme von Leistungen der medizinischen Rehabilitation. Die passende fallbezogene Auswahl von Interventionen aus dieser Bandbreite an Angeboten setzt umfassende Kompetenzen voraus, für die Fachkräfte der Sozialen Arbeit wesentliche Grundlagen mitbringen (methodische Implikationen für die Umsetzung dieses anspruchsvollen Profils werden im vierten Abschnitt dieses Beitrags portraitiert). Die soziale Betreuung und Beratung im Krankenhaus sowie die Überleitung in die nachstationäre Phase erfordern ein breites Wissen über Dienste und Einrichtungen einschließlich der Zugangswege sowie der Finanzierung, auf die Patient/-innen in ganz unterschiedlichen Kombinationen angewiesen sind. Zu den wichtigsten Leistungen zählen: •• •• •• •• •• •• •• •• •• •• ••
Kurzzeitpflege Anschlussrehabilitation Rehabilitation Leistungen zur Wohnungsanpassung bei bleibenden Beeinträchtigungen Alternative Wohnformen im Alter Altenhilfe und ambulante Dienste für ältere Menschen Häusliche Pflege Pflegeeinrichtungen Hospizdienste und Palliativangebote Selbsthilfegruppen sowie Angehörigengruppen Gesetzliche Betreuung
Wie für Sozialleistungen insgesamt kommt es bei der Erschließung dieser und weiterer Leistungen darauf an, Zugangsbarrieren gemeinsam mit den berechtigten Menschen zu überwinden. Zentrale Hindernisse liegen in subjektiven Gründen, verbunden mit einer Unsicherheit und teilweise fehlenden Motivation, der Angst vor Stigmatisie-
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rung, der Überforderung mit unübersichtlichen institutionellen und bürokratischen Abläufen und Wissenslücken über in Frage kommende Varianten der Unterstützung (vgl. Papenheim et al. 2018, S. 194).
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Methodische Grundlagen der Sozialen (Alten-)Arbeit im Krankenhaus
Die Anforderungen des Arbeitsfeldes an die Soziale (Alten-)Arbeit im Krankenhaus sind vielgestaltig. Neben dem breiten Arbeitsfeldwissen, das in den bisherigen Ausführungen zum Ausdruck kommt, sind methodische Kompetenzen erforderlich. Grundsätzlich gilt, dass Methoden der Sozialen Arbeit nur in ihrem Anwendungskontext sinnvoll eingesetzt werden können. Maßgebliche Auswahlkriterien umfassen die Sach- und Zielorientierung, die dafür plädiert, dass die herangezogenen Methoden den zu erledigenden inhaltlichen Aufgaben entsprechen, daneben die Personenorientierung, verbunden mit der Frage, inwieweit die ausgewählten Methoden den Personen gerecht werden, mit denen gearbeitet wird, und die Situationsorientierung, die Spielräume für eine flexible Anwendung begründen (vgl. Galuske 2013, S. 35). Diese Kriterien verdeutlichen, dass die Methodenanwendung in der Sozialen (Alten-) Arbeit im Krankenhaus regelmäßige Anpassungsleistungen der Fachkräfte erfordert. Eine mechanische Übertragung ist vor dem Hintergrund der vielfach unwägbaren Situationen kaum möglich. In den folgenden Ausführungen wird ein programmatischer Grundriss des fallbezogenen methodischen Handelns in der Sozialen (Alten-)Arbeit im Krankenhaus gezeichnet. Zu dessen zentralen Komponenten zählen Beziehungsgestaltung, Fallanalyse, Hilfeplanung, sozialadministratives Handeln, Informationsvermittlung, Ressourcenorientierung und Krisenintervention. Beziehungsgestaltung: Das übergreifende Fundament des methodischen Handelns und damit auch ein ganz wesentlicher Wirkfaktor liegen in der Qualität der Arbeitsbeziehung, die trotz des großen Zeitdrucks nicht vernachlässigt werden sollte. Insbesondere kommt es in der Sozialen Arbeit darauf an, Interesse an den Belangen der Gesprächspartner/-innen zu signalisieren, ihnen authentisch oder aufrichtig zu begegnen, einen akzeptierenden Umgang zu kultivieren, Empathie und damit die Bemühung einzubringen, den Menschen aus seiner Sicht nachzuvollziehen, und auf die Ermutigung, sich Herausforderungen zu stellen (vgl. Lishman 2009, S. 75 f.). Die Verunsicherung vieler Patient/-innen durch die Erkrankung und durch die Krankenhausaufnahme unterstreicht den Stellenwert einer guten Arbeitsbeziehung, die schon für sich stehend eine Intervention darstellt. Die Umsetzung in der Gesprächsführung durch aktives Zuhören, Paraphrasen und Verbalisierungen ist eine durchgängige Aufgabe im Unterstützungsprozess.
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Fallanalyse: Die sozialpädagogische Perspektive in der Sozialen (Alten-)Arbeit im Krankenhaus würdigt die psychosozialen Implikationen des Krankheitsgeschehens mit Blick auf die Förderung von sozialer Teilhabe. Im Mittelpunkt stehen Fragen der sozialen Existenzsicherung unter besonderer Beachtung von Einkommen und Wohnen, die Auslotung der vorhandenen und der auszubauenden sozialen Unterstützung durch formelle und informelle Netze, und die Befassung mit den persönlichen und sozialen Handlungskompetenzen, die gebraucht werden, um möglichst eigenständig zu leben (vgl. Ansen 2018b, S. 154 f.). In der explorativen Gesprächsführung werden diese Themen aufgegriffen, um den sozialarbeiterischen Handlungsbedarf im Krankenhaus zu entdecken. Hilfeplanung: Für eine strukturierte Hilfeplanung ist es sinnvoll, ausgehend von der Fallanalyse, in der gewissermaßen die Frage beantwortet wird, worum es sich im Fall handelt (‚Fall von‘), nun zu klären, wer für einzelne Aspekte der Fallthematik zuständig ist (‚Fall für‘) und worin die unmittelbare Aufgabe der Fachkraft in der Situation besteht (‚Fall mit‘) (vgl. Müller 2017, S. 43 f.). Die Dimension ‚Fall für‘ verweist auf die diversen Dienste und Einrichtungen sowie Kooperationspartner der Sozialen (Alten-) Arbeit im Krankenhaus. Beim ‚Fall mit‘ kann es um die Förderung der Motivation zur Inanspruchnahme von Leistungen oder zur Bewältigung einer unmittelbaren Krise gehen, die mit der Krankheit einhergeht. Die Hilfeplanung liefert die Grundlage für die Auswahl notwendiger Interventionen. Entscheidend ist, dass die Hilfeplanung auf die Zukunft bezogen ist, besonders auf die Zeit nach der Krankenhausbehandlung, die vielen Patient/-innen gerade im höheren Lebensalter besondere Sorgen bereitet. Sozialadministratives Handeln: Einen breiten Raum nehmen sozialadministrative Tätigkeiten ein. Hierbei geht es darum, gesetzliche Leistungsansprüche bezogen auf die Lebenslage Krankheit zu identifizieren, behördliche Zuständigkeiten zu ermitteln, Antragswege zu rekonstruieren und Patient/-innen im Antragsverfahren zu begleiten, ggf. auch durch sozialpädagogische Stellungnahmen (vgl. Stimmer und Ansen 2016, S. 329 f.). Die Überleitung in Dienste und Einrichtungen der Nachsorge durch die Soziale (Alten-)Arbeit im Krankenhaus ist ohne diese Arbeitsweise nicht zu bewältigen. Informationsvermittlung: Patient/-innen sind auf vielfältige Informationen angewie
sen, sowohl über Sozialleistungen als auch über ein unübersichtliches Gefüge von Diensten und Einrichtungen sowie Selbsthilfegruppen mit diversen Zugangsbarrieren. Auch Angehörige sind mit diesen Themen in der Regel überfordert und auf eine angemessene Beratung angewiesen. Damit wird Stress reduziert und die Koopera tionsbereitschaft verbessert. In einer didaktisch fundierten informierenden Gesprächsführung ist darauf zu achten, das unmittelbar erforderliche Wissen auszuwählen und einen Vortragsstil zu vermeiden. Um das Verstehen zu verbessern, sollte personenzentriert formuliert werden, sodass die Inhalte unmittelbar verstanden und im Alltag umgesetzt werden können (vgl. Giesecke 2015, S. 82 f.).
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Harald Ansen
Ressourcenorientierung: Krankheit kann den Blick auf vorhandene Ressourcen ver-
stellen und vor allem zu einem Ressourcenverlust im persönlichen und sozialen Bereich führen. In einer auf Ressourcen bezogenen Gesprächsführung dominieren u. a. Fragen nach bisherigen Bewältigungsformen bei durchgemachten Problemen und Erkrankungen, nach erfahrener oder erreichbarer sozialer Unterstützung durch Kontakte im privaten und formellen Umfeld, nach Perspektiven, für die sich der Einsatz lohnt, und nach Wünschen und Bedürfnissen, die Kraft und Motivation spenden (vgl. Saleebey 2009, S. 93 f.). Mit diesen Fragen werden Patient/-innen darin unterstützt, sich vorhandener Stärken bewusst zu werden, die ihnen die Krankheitsbewältigung und den Umgang mit Beeinträchtigungen erleichtern. Krisenintervention: Die Soziale (Alten-)Arbeit im Krankenhaus ist immer wieder
auch mit Krisen konfrontiert, die in ihren Arbeitsbereich ausstrahlen. Hierbei geht es beispielsweise um die Überforderung mit krankheitsbedingten häuslichen oder sozialen Belastungen. Treten krisenhafte Belastungen auf, die u. a. dazu führen, dass die Betroffenen nicht mehr vollständig über ihr ansonsten vorhandenes Handlungsrepertoire verfügen, ist eine stützende Intervention geboten, die möglichst unmittelbar einsetzt und Betroffene aktiv unterstützt, wobei es wichtig ist, sich auf die aktuelle Situation zu konzentrieren und solche Schritte auszuwählen, die eine unmittelbare emotionale Entlastung ermöglichen. Überdies ist es ratsam, das professionelle und informelle soziale Umfeld, soweit es hilfreich wirken kann, einzubeziehen (vgl. Sonneck et al. 2012, S. 67). In der Krisenintervention werden die zuvor dargestellten methodischen Ansätze fokussiert eingesetzt.
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Ausblick
Die Soziale (Alten-)Arbeit im Krankenhaus wird immer weiter auf das sog. Entlassmanagement und die möglichst frühzeitige und reibungslose Überleitung in die Nachsorge oder die eigene Häuslichkeit reduziert. Sie steht vor der Herausforderung, ihr breites Profil angemessen zu kommunizieren und ihre Ansätze auch durch Forschungen zu unterfüttern, sodass im Interesse der Patient/-innen im Krankenhaus kein Weg an ihr vorbeiführt. Noch kann die Soziale (Alten-)Arbeit im Krankenhaus ihre Potenziale nicht entfalten. Erst wenn sie ihre gesundheitsbezogenen Inhalte und Methoden weiter ausbuchstabiert, wenn sie frühzeitig in die Behandlung einbezogen wird und wenn die Fallzahlbelastung entsprechend den Aufgaben gestaltet wird, kommt die Soziale (Alten-)Arbeit im Krankenhaus voll zur Geltung.
Soziale (Alten-)Arbeit im Krankenhaus
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Ausgewählte Literatur DVSG. Deutsche Vereinigung für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen. 2013. DVSG-Posi tionspapier. Entlassmanagement durch Soziale Arbeit in Krankenhäusern und Rehabilitationskliniken. Berlin Schaeffer, Doris, und Jürgen Halsbeck. 2016. Bewältigung chronischer Erkrankungen. In Soziologie von Gesundheit und Krankheit. Hrsg. Richter, Matthias, und Klaus Hurrelmann, 243 – 256. Wiesbaden: Springer. Schweppe, Cornelia. 2012. Soziale Altenarbeit. In Grundriss Soziale Arbeit. Hrsg. Werner Thole, 505 – 521. Wiesbaden: Springer.
Soziale Arbeit in der Geriatrie Werner Vogel
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Alter, Gesundheit und Krankheit in der Gesellschaft
Gesundheit gilt als hohes, manchen als höchstes Gut. Die Sorge um ihre Erhaltung bzw. Wiederherstellung im Fall einer Krankheit hat daher im gesellschaftlichen Bewusstsein und Handeln einen hohen Stellenwert. Eine Altersgrenze, jenseits derer Krankheit, Leid und Tod generell als etwas selbstverständlich Hinzunehmendes anerkannt würden, gibt es nicht (vgl. Labisch 1990; vgl. auch Göckenjan i. d. B.). Natürlich gehen auch alte Menschen zum Arzt, wenn sie krank werden. Bisweilen tauchen dabei neue Fragen auf. Zu welchem sollen sie gehen ? Zum Hausarzt ? Zum Facharzt ? Zu welchem für welche Krankheit ? Leiden sie überhaupt an einer Krankheit oder nur an Altersschwäche ? Gibt es Spezialisten für Krankheiten im Alter ? Sind die geeigneter als andere Fachleute ? Kann man im Alter wieder ganz gesund werden – oder bis ins höchste Alter gesund bleiben ? Was muss man dafür tun ?
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Aufgaben der Geriatrie
‚Geriatrie‘ wurde als Begriff erst 1909 geprägt und – fast zeitgleich mit der ‚Pädiatrie‘ – als neues Fachgebiet gefordert. Ihre wachsende Bedeutung im Zuge des demografischen Wandels steht außer Zweifel. Dennoch ist ihre Repräsentanz in der klinischen, erst recht der ambulanten Medizin noch immer gering. Für kranke und hilfsbedürftige Menschen im höheren Lebensalter sind Gesundheits- und Sozialwesen gleichermaßen zuständig, was eine intensive fachübergreifende Zusammenarbeit in Forschung, Lehre und Krankenversorgung erfordert. Nach der von den altersmedizinischen Gesellschaften der Europäischen Union (UEMS 2008) vorgelegten Definition befasst sich die Geriatrie „mit der Prävention, Diagnostik, Behandlung und Rehabilitation akuter und chronischer Erkrankungen © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_14
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Werner Vogel
bei älteren Menschen, einschließlich deren körperlicher, geistiger, funktioneller und sozialer Auswirkungen sowie der Grenzerfahrungen am Lebensende“. Entsprechend sind geriatrische Patient/-innen „gekennzeichnet durch ein hohes Maß an Gebrechlichkeit und mehrfache Erkrankungen (Multimorbidität), die einen ganzheitlichen Ansatz erfordern. Methodisch geht Geriatrie über die Organmedizin hinaus, indem sie Behandlung in einem multidisziplinären Team bietet, deren Hauptziel die Optimierung des funktionellen Status der älteren Person ist sowie die Verbesserung der Lebensqualität und der Selbstständigkeit“ (ebd.).
Der Bedarf an sozialer Unterstützung tritt bei Krankheiten im Alter oft unvermittelt auf, zumal „Krankheit sich anders als bei Jüngeren darstellt, schwer zu erkennen ist und verzögert auf die Behandlung reagieren kann“ (ebd.). Vielfach werden Krankheitssymptome von alten Menschen nicht als solche wahrgenommen, sondern als Alterserscheinungen fehlinterpretiert, sodass Krankheiten verschleppt werden und es zu Komplikationen und funktionellen Ausfällen mit erhöhtem Hilfebedarf kommt, der nur mit Mühe gedeckt werden kann, da das häufig ohnehin schwache soziale Netz, insbesondere bei hochaltrigen und/oder armen Alten, zusätzlichen Belastungen kaum gewachsen ist (vgl. Künemund und Kohli i. d. B.).
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Das geriatrische Team und seine Arbeitsweise
Geriatrie vollzieht sich grundsätzlich als multiprofessionelle Teamarbeit, wobei die Ärzt/-innen zwingend auf Mitarbeiter/-innen der Pflege, Physio-, Ergo- und Sprachtherapie, Sozialarbeit, Psychologie und Seelsorge angewiesen ist (Vogel 2017). Zusammen mit diesem Team ermitteln die Ärzt/-innen in standardisierter Form die krankheits-, aber auch funktionell und psychosozial relevanten Daten zur Situation der geriatrischen Patient/-innen, um diese durch geeignete, wiederum multidiszipli näre Interventionen gezielt zu verbessern. Dies geschieht nach Maßgabe des sog. geriatrischen Assessments, welches nicht nur Diagnostik ist, sondern ein therapiebegleitender, die Behandlungsziele leitender Prozess, der zahlreiche bio-psychosoziale Faktoren einschließt. Diese können im Krankheitsverlauf ausgesprochen variabel sein, mit entsprechend unterschiedlichen Auswirkungen auf Alltagsbewältigung und soziale Teilhabe. Aus diesem Grund ist zielgerichtetes Handeln nur individuell möglich. Es erfordert die Nutzung der berufsspezifischen Stärken aller Teammitglieder, jeweils in enger Absprache mit Patient/-innen und deren Familien bzw. den Personen, die für sie im Sinne des Betreuungsrechts (vgl. dazu Becker-Schwarze i. d. B.) Verantwortung tragen. Bei leichteren, heilbaren Einzelerkrankungen besteht das Ziel in der vollständigen Wiederherstellung der Gesundheit und Selbstständigkeit (restitutio ad integrum), bei Mehrfacherkrankungen und vielfältigen, eventuell vorbestehenden Behinderungen
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geht es um die Stabilisierung der Gesundheit und die bestmögliche Selbstständigkeit (restitutio ad optimum). Das geriatrische Team definiert hierzu ein individuelles Behandlungs- und Rehabilitationsziel und modifiziert es gegebenenfalls unter genauer Verlaufsbeobachtung. Die Lernfähigkeit (basierend auf der Plastizität des Gehirns und der Bildung neuronaler Netzwerke durch Motivation und Übung) sowie die physische Trainierbarkeit bis ins höchste Alter erlauben auch nach schwersten Schädigungen (Schlaganfall, sturzbedingten Knochenbrüchen, Amputationen etc.) oft erstaunliche Besserungen, sodass Pflegebedürftigkeit vermieden oder vermindert werden kann. Hierfür sind allerdings oft mehrwöchige, personalintensive stationäre Aufenthalte erforderlich, die das systematische Training einschließlich ggf. individuell verordneter Hilfsmittel notwendig machen (vgl. auch Freund 2017). Die Entscheidung zum Einsatz geeigneter Therapiemaßnahmen, die Bestimmung der notwendigen Behandlungsdauer und die Vorbereitung der Entlassung nach Hause erfordern vom geriatrischen Team eine hohe kommunikative Kompetenz. Diese ist für eine effiziente geriatrische Behandlung unverzichtbar, erst recht bei begrenzten personellen und zeitlichen Ressourcen. Ein Teil dieser Kompetenz beruht auf der gemeinsamen Fachsprache und dem medizinischen Basiswissen aller Teammitglieder. Dieses Basiswissen soll im Folgenden kurz skizziert werden (vgl. dazu auch Homfeldt i. d. B.).
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Häufige Krankheiten im Alter und geriatrische Syndrome
Seh- und Hörstörungen, Minderung der Muskelkraft, der Ausdauer, der Knochendichte und der kognitiven Leistungen sind im Alter häufig, entwickeln sich langsam und haben meist weder subjektiv noch objektiv einen nennenswerten Krankheitswert. Kommen sie jedoch kombiniert vor (z. B. Sehschwäche, Schwerhörigkeit und Gedächtnisstörung) oder tritt eine akute Krankheit dazu, dann können sie den Krankheitsverlauf ungünstig beeinflussen und rasch in andauernde Pflegebedürftigkeit führen. Der Bedarf an geriatrischer Behandlung sowie deren Dringlichkeit ist umso höher, je älter und schwerer krank der/die Betroffene ist. Relevante degenerative Veränderungen des Bewegungsapparats (Osteoporose, Arthrosen), des Stoffwechsels (Ernährungsstörungen, Diabetes), des Kreislaufsystems (Arteriosklerose, Schlaganfall, Herzinfarkt), des Nervensystems (Bewegungs-, Empfindungs- und Koordinationsstörungen, Parkinson, Demenz), des Immunsystems (Infektneigung, Tumoren) sind im hohen Alter häufig Grund für eine geriatrische Behandlung, insbesondere weil sie mit Einschränkungen der Mobilität, der Kogni tion, der Orientierung und der emotionalen Stabilität verbunden sind und mit erhöhtem Sturzrisiko einhergehen. Degenerative Erkrankungen können also Auswirkungen auf alltagsrelevante Funktionen (Alltagsbewältigung, Mobilität, Orientierung, Selbsthilfe) und den Erhalt der Selbständigkeit haben.
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Werner Vogel
Besondere Bedeutung hat das gleichzeitige Auftreten mehrerer – akuter und chronischer – Krankheiten. Die Kombination von Multimorbidität und (alters- oder krankheitsbedingten) funktionellen Störungen führt dann zu komplexen Beeinträchtigungen, für die sich der Begriff ‚geriatrische Syndrome‘ eingebürgert hat. Dazu zählen die ‚vier I‘ (Immobilität, Instabilität, Inkontinenz, intellektueller Abbau), die sog. Sturzkrankheit, die Gebrechlichkeit (frailty), die sämtlich einer speziellen Abklärung und Behandlung bedürfen. Schließlich stellen alte Menschen mit einer Depression oder einer Demenz (60 % vom Alzheimer-Typ) angesichts neuer Möglichkeiten der Diagnostik und Therapie für Psychiater/-innen und Geriater/-innen gleichermaßen eine besondere Herausforderung dar, insbesondere dann, wenn behandlungsbedürftige andere (organische) Erkrankungen zusätzlich eine Rolle spielen.
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Biografische und psychosoziale Aspekte
Für die vor dem Zweiten Weltkrieg Geborenen (‚Kriegskinder‘) haben Gesundheit und Krankheit eine andere Bedeutung gehabt als bei nachfolgenden Generationen. In Zeiten von Krieg und Flucht konnte es lebenserhaltend sein, Symptome wie Angst oder Schmerz zu unterdrücken. Wer jahrelang damit Erfahrungen gesammelt hat, wird diese Strategie beibehalten, auch wenn er oder sie sich damit gefährdet. Härte gegen sich selbst kann in einer Lebensphase retten, in einer anderen zerstören. Die Bereitschaft und Fähigkeit, Schmerz auszuhalten, fördert die Entwicklung chronischer Depressivität und steht modernen Konzepten der Schmerztherapie entgegen. Die hohe Prävalenz psychotraumatischer Erlebnisse bei der Kriegsgeneration ist zu beachten (Radebold et al. 2008; vgl. Fooken i. d. B.). Es ist auch wichtig, die Notwendigkeit psychotherapeutischer Behandlung bei der psychosozialen Beratung zu erkennen, weil Betroffene häufig von posttraumatischen Störungen oder Depressionen bis hin zur Suizidalität geplagt sind, die im höheren Alter durchaus erfolgreich behandelt werden können (Lindner 2019; vgl. auch Lindner und Hummel 2014). Dass religiöse und soziale Bindungen sich als protektive Faktoren bei der Krankheitsbewältigung auswirken, ist gesichert. Auch hier zeigen sich Unterschiede zwischen den Generationen, wobei die Spiritualität als menschliches Grundbedürfnis vor allem in Krisensituationen nicht missachtet werden darf (Vogel 2016). Bei alledem ist zu berücksichtigen, dass fast alle Mitglieder des geriatrischen Teams der Generation der Kinder oder Enkel ihrer Patient/-innen angehören, was besondere Sensibilität im Umgang verlangt, vor allem bei kognitiv eingeschränkten oder demenzkranken Patient/-innen.
Soziale Arbeit in der Geriatrie
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Soziale Arbeit in der (Alters-)Medizin
In der ambulanten gesundheitlichen Versorgung liegt der Hauptschwerpunkt der Sozialen Arbeit sicher im Bereich Beratung, in der klinischen Sozialarbeit mehr in der Organisation der Weiterversorgung sowie der Unterstützung, etwa bei der Inan spruchnahme staatlicher Hilfen. In der Geriatrie kommt als weitere Aufgaben hinzu, die besondere Situation geriatrischer Patient/-innen und deren gesundheitliche, pflegerische und soziale Versorgung in den Blick zu nehmen. In der geriatrischen Klinik ist die Soziale Arbeit vornehmlich durch fachübergeifende, koordinierende Aufgaben im geriatrischen Team charakterisiert. Auf diese unterschiedlichen und insbesondere die geriatriespezifischen Aspekte soll im Folgenden näher eingegangen werden. Beratung von Patient/-innen und Angehörigen: Krankheit im Alter wird häufig als kritisches Ereignis im Lebenslauf wahrgenommen, das Ängste verursacht. In diesem Zusammenhang tauchen bei Patient/-innen und Angehörigen unter anderem rechtliche Fragen auf, die individuelle Antworten erfordern. Sie betreffen oft Ansprüche auf sozialrechtliche Leistungen, insbesondere aus der Kranken- und Pflegeversicherung (SGB V und SGB XI), dem Bundessozialhilferecht (SGB XII), dem Schwer behindertenrecht (SGB IX) oder dem jeweiligen Landesblindengesetz (vgl. dazu Rixen sowie Welti i. d. B.). Nicht selten ist eine amtliche Betreuung nach dem BGB einzurichten und ein entsprechender Antrag an das zuständige Amtsgericht zu stellen. Die Betreuung kann sich auf finanzielle Angelegenheiten, die Gesundheitsfürsorge oder den Aufenthalt beziehen. Manche Patient/-innen brauchen Rat und Beistand bei der Formulierung einer rechtsverbindlichen Verfügung oder Vollmacht (ausführlich Becker-Schwarze i. d. B.). Ein weiteres Beratungsfeld betrifft den psychosozialen Bereich. Hier geht es in erster Linie um Fragen der Krankheitsbewältigung. Bisweilen ist eine Krisenintervention erforderlich, etwa bei familiären Konflikten, die je nach Ursache der Mitwirkung von Ärzt/-innen, Psycholog/-innen oder Seelsorger/-innen bedarf. Viel häufiger sind jedoch Probleme der weiteren Versorgung nach Entlassung aus der stationären Behandlung zu lösen. Auf das in der Geriatrie seit Jahren etablierte „Entlassmanagement“ haben Krankenhauspatient/-innen heute einen Rechtsanspruch (§ 39 Abs. 1a SGB V). Aufbau und Sicherung eines sozialen Netzes: Wichtig ist der Aufbau eines tragfähigen
sozialen Netzwerks, das familiäre Hilfen ergänzt und die Patient/-innen in die Lage versetzt, trotz der erlittenen Krankheit in dem von ihnen gewünschten Umfeld zu leben. Relativ einfach ist es, wenn Kinder, Schwiegerkinder, Enkel/-innen oder andere Verwandte, die nicht berufstätig sind, im selben Haus oder in unmittelbarer Nähe wohnen und – allein oder mit Hilfe von Pflegediensten – die alltägliche pflegerische bzw. hauswirtschaftliche Unterstützung leisten können. Der Sozialdienst muss dennoch genau über funktionelle Defizite, die durch die aktuelle Erkrankung hinzuge-
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kommen sind, Bescheid wissen und die Ressourcen (etwa der in häuslicher Gemeinschaft lebenden Partner/-innen) kennen, wenn die häusliche Versorgung auf längere Sicht gelingen soll. Hierzu hat es sich bewährt, dass die Mitarbeitenden des Sozialdienstes persönlich an allen Teamkonferenzen und -visiten teilnehmen und aus den Berichten der Pflege und Therapien die erreichte bzw. noch mögliche Verbesserung kennen bzw. abschätzen lernen. Wo immer professionelle oder Laienhilfe notwendig ist, muss sie nach Art und Intensität organisiert werden. Idealerweise werden die künftigen Helfer/-innen vor der Entlassung in die Klinik eingeladen und, sofern es sich um Laien handelt, speziell geschult. Die Schulung kann sich auf die sichere Begleitung beim Gehen oder Treppensteigen beziehen, auf die Versorgung bei Inkontinenz, die korrekte Lagerung bei Druckgeschwüren (Decubitus), auf die ausreichende Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr oder die Medikation. Das – von Patient/-innen oft vorgeschlagene – Einbeziehen von Nachbar/-innen und anderen ehrenamtlichen Helfer/-innen ist sorgfältig auf die jeweils notwendige Verfügbarkeit zu überprüfen. Bisweilen wird hier Erstaunliches geleistet, andererseits ist gerade bei älteren Hilfswilligen vor deren Überforderung zu warnen. Für Alleinstehende, die sich nicht für die Übersiedelung in Betreutes Wohnen entscheiden wollen, insbesondere für sturzgefährdete Personen, ist ein Hausnotruf sinnvoll. Pflegende Angehörige sind oft für die Vermittlung einer Tagespflege oder einer regionalen Selbsthilfegruppe dankbar. In vielen Fällen, vor allem bei schwer Betroffenen, erweist sich die Suche nach einem wohnortnahen Pflegeheim als die objektiv beste Lösung. Sie ist indessen oft schwer zu vermitteln, zumal wenn Hoffnung auf weitere Besserung besteht. Einfühlsames Aufklären über die Möglichkeiten einer rehabilitativ ausgerichteten Kurzzeitpflege kann die Einsicht der Betroffenen fördern und die Angst vor dem ‚Abgeschobensein‘ mildern. Gerade in dieser Phase der Beratung sind Zeit und Empathie wichtig. Genauso bedeutsam ist die regionale Kenntnis aller Anbieter, deren Vermittlung als absolute Vertrauenssache erlebt wird. Da sich der Markt der Anbieter stets quantitativ und qualitativ weiterentwickelt, sind persönliche Kontakte und Kenntnisse von besonderem Wert. Koordination im geriatrischen Team: Die Mitglieder des geriatrischen Teams sind jeweils für spezielle Aufgaben im Therapieprozess verantwortlich: Physiotherapeut/-innen für die Mobilität, Ergotherapeut/-innen für das Wiedererlernen von Alltagsverrichtungen und das Training höherer Hirnleistungen, Logopäd/-innen für die Behandlung von Sprach-, Sprech- und Schluckstörungen usw. Drei Berufsgruppen arbeiten grundsätzlich fach- und funktionsübergreifend: Die Ärzt/-innen, die Pflege und der Sozialdienst. Die Ärzt/-innen urteilen diagnostisch, medizinisch-therapeutisch oder prognostisch, die Pflege versorgt Patient/-innen kontinuierlich in der Grund- und Behandlungspflege, aber auch rehabilitativ, indem sie die Kranken motiviert, das in den funktionellen Therapien Gelernte stetig anzuwenden und zu üben, die Sozialarbeiter/-innen schließlich beobachten den Behandlungsfortschritt aus dem
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Blickwinkel der angestrebten Selbstständigkeit und der Umsetzung des Gelernten in den häuslichen Alltag, über den sie sich mit Hilfe des geriatrischen und des speziellen sozialen Assessments ein möglichst detailliertes Bild machen müssen. Dieser Beitrag des Sozialdienstes zur Arbeit des geriatrischen Teams ist besonders wichtig, da er die im Therapiefortschritt möglichen Ziele mit der späteren Versorgungsrealität verbindet und das Maß der notwendigen technischen und personellen Hilfen realistisch abschätzt. Der Begriff ‚Fallmanagement‘ trifft an dieser Stelle zu. Dieses kann aber nur gelingen, wenn alle Mitarbeitenden sich kontinuierlich über Verlauf, erreichte und erwartete Verbesserungen und den dafür ermittelten Bedarf austauschen. Moderne Klinik-EDV mit Einsicht in die standardisierte Dokumenta tion der jeweils beteiligten Berufsgruppen hat sich hierbei bewährt. Gute Entlassungsplanung setzt sichere Kenntnisse über Mobilität, Alltagskompetenz, Versorgung und Training mit Hilfsmitteln voraus und schließt rechtzeitige Information der Familie bzw. Pflegedienste sowie der weiterbehandelnden Ärzt/-innen ein. Fehlt eine dieser Komponenten, droht die rasche Dekompensation des Systems und damit die Gefahr der Pflegebedürftigkeit oder der Rehospitalisierung. Die Verantwortung des Sozialdienstes als koordinierende Schaltstelle (‚Außenministerium‘ der Geriatrie) mag aus dem Gesagten deutlich werden. Begleitung: Sozialarbeiter/-innen sind Partner/-innen in mehrfacher Hinsicht. Sie
sind es für die Patient/-innen und deren Angehörige, aber auch für Ärzt/-innen, Pflegende und Therapeut/-innen. Da sie aber aus Zeitgründen nicht in jedem Einzelfall ein komplettes soziales Assessment nebst daraus abgeleiteter Beratung und Intervention durchführen können, sind Absprachen im Team und eine systematische Arbeitsteilung unerlässlich. So können einfache Fragen von allen Teammitgliedern (insbesondere der Pflege) beantwortet werden. In schwierigen Fällen steht der Sozialdienst persönlich den Patient/-innen und ihren Helfer/-innen beratend zur Seite. Es ist aber auch sinnvoll, dem Team allgemeine oder spezielle Erläuterungen zur rechtlichen Situation oder zum individuellen Problem zur Verfügung zu stellen, da sich im interdisziplinären Austausch neue Ideen oder Sichtweisen ergeben können. Fachliche Perspektiven der Sozialarbeit in der Geriatrie: Während für den Sozialdienst im Akutkrankenhaus oft die rasche Organisation der Entlassung und Weiterversorgung von Patient/-innen im Vordergrund steht, sind die Anforderungen an die Arbeit der Sozialarbeiter/-innen in der Geriatrie nicht nur fachlich anspruchsvoll, sondern deutlich vielseitiger. Entscheidungen können in angemessener Zeit vorbereitet und im Einvernehmen mit Angehörigen und weiterbehandelnden Helfer/-innen gefällt werden. Dies vermittelt das befriedigende Gefühl, die oft schwer Betroffenen ein gutes Stück weit begleitet zu haben, was ihnen Mut und Vertrauen gibt und nennenswert zur Krankheitsbewältigung beiträgt. Die Verantwortung im Team und die Mitwirkung bei der interdisziplinären Behandlung schafft eine hohe berufliche Identität und Befriedigung.
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Werner Vogel
Die demografische Entwicklung fordert künftige Generationen zur planmäßigen Kooperation in den Gesundheitsberufen heraus, nicht nur im stationären, sondern zunehmend auch im ambulanten Bereich. Ein solches Versorgungsnetz wird kranken Menschen im höheren Lebensalter besonders zugutekommen, wobei die von Gesetzgeber und Kostenträgern geforderte Wirtschaftlichkeit nicht nur gewahrt, sondern eher noch gesteigert wird. Ziel muss es sein, die Versorgungsqualität in allen Sektoren systematisch zu verbessern und damit das vorhandene Wissen und den stetigen Fortschritt für diese Kranken nutzbar zu machen. Gute fachliche Qualifikation, bewusster Einsatz der eigenen Professionalität in Verbindung mit einem breiten medizinischen und rechtlichen Basiswissen sowie einer hohen kommunikativen Kompetenz im multidisziplinären Team sind dafür eine wichtige Voraussetzung (vgl. dazu Aner 2018b).
Ausgewählte Literatur Lindner, Reinhard. 2019. Die Last des Lebens meistern: Umgang mit Depression und Suizidalität. In Praxiswissen Geriatrie. Hrsg. Rehm, Marion, und Wolfgang Schwibbe, 206 – 215. Stuttgart: Kohlhammer Pantel, Johannes, Cornelius Bollheimer, Cornel Sieber und Andreas Kruse. Hrsg. 2014. Praxishandbuch Altersmedizin. Geriatrie – Gerontopsychiatrie – Gerontologie. Stuttgart: Kohlhammer. Vogel, Werner. 2017. Das Geriatrische Team. Wie interprofessionelles Arbeiten gelingt. Stuttgart: Kohlhammer.
Soziale (Alten-)Arbeit in der Gerontopsychiatrie Margret Dörr
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Einleitung
Dieser Beitrag basiert auf einem Verständnis von Gerontopsychiatrie, das über eine medizinische Begriffsdefinition hinausweist. So befasst sich die Gerontopsychiatrie zwar als medizinische Wissenschaft und als ärztliche Profession mit der Erforschung, Diagnose, Behandlung und Prävention von mentalen Krankheiten alter Menschen. Doch wird dabei – ungeachtet vehementer Kritik – z. B. seitens der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie – der Gegenstand ‚psychische Krankheit‘ noch allzu selbstverständlich entsprechend einer medizinisch-naturwissenschaftlichen Grundlage physiologisch erklärt und behandelt, womit der betroffene Mensch auf eine Träger/-in von gestörten physiologischen Körperprozessen reduziert wird. Das Subjekt und sein Erleben findet als Untersuchungsgegenüber kaum Interesse. Nach wie vor wird ihm lediglich der Status eines Objekts medizinischer Maßnahmen zugebilligt. Dieser (inhumanen) Verkürzung wird hier widersprochen. Ferner wird ‚Gerontopsychiatrie‘ auch nicht auf einen konkreten Ort (beispielsweise eine Klinik) reduziert, also auf einen klinischen Ort, an dem sich das Zusammenwirken von Erfahrung der Medizin (Forschung) und Behandlung der Patient/-innen ereignet. Gerontopsychiatrie wird vielmehr als ein sozial-kulturelles Ordnungsmuster begriffen, das als Antwort auf soziale Fragen entstanden ist (z. B. Was tun mit den alten, traurigen, verwirrten, multimorbiden, störenden und/oder leidenden Menschen ?) und folglich ein Resultat des Zusammenspiels von gesellschaftlichem Bedarf und Ressourcen darstellt (vgl. Dörr 2005). Damit ist in knapper Weise darauf verwiesen, dass im Weiteren Gerontopsychiatrie als ein in gesellschaftliche Strukturen geronnenes soziales Denk-, Handlungsund Beziehungsmuster gefasst wird, in das diverse Disziplinen und Professionen involviert sind: Gerontopsychiatrie ist eine interdisziplinäre und interprofessionelle Aufgabe und keine lose Aneinanderreihung verschiedener Einzeldisziplinen und © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_15
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-professionen (vgl. Hirsch et al. 2017). Erst diese Mehrperspektivität erweitert die soziokulturellen Optionen, einen sachhaltig qualifizierten, humanen, d. h. würdigen Umgang mit psychisch erkrankten alten Menschen zu (er)finden und zu institutionalisieren. In dieser Betrachtungsweise wird ernst genommen, dass das Verständnis einer ‚Krankheit der Seele‘ nicht geschieden werden kann von der Art und Weise des gesellschaftlichen Umgangs mit dieser Krankheit (vgl. Dörr 2015). Die Inhalte sozialer Fragen wie auch die darauf gegebenen spezifischen Antworten sind unhintergehbar mit soziokulturellen Prozessen verwoben, womit Prozesse gemeint sind, in denen Kultur im weiten Sinn des Wortes entsteht: Neben Architektur, Musik und Malerei gehören Technik und wirtschaftliche Produkte ebenso dazu wie die verschiedenen Wissenschaften. Gerontopsychiatrische Kompetenz erstreckt sich nicht nur auf Diagnoseerstellung und medizinische Behandlung, sondern ebenso gehört dazu ein gerontopsychiatrisches Assessment, eine mehrdimensionale Arbeitsweise mit einem gerontopsychiatrischen Team und die Zusammenarbeit mit den regionalen Einrichtungen der Altenhilfe. Als Teil eines regionalen Versorgungsnetzes sind ambulante, teil-stationäre und stationäre (offene und geschlossene) Einrichtungen sowie das jeweilige soziale Netzwerk der Patient/-innen einzubeziehen (vgl. Debus 2016). Aber noch immer ist hinsichtlich der gerontopsychiatrischen Versorgungsstrukturen im ambulanten, teilstationären wie stationären Bereich von einer eklatanten Unter- und Fehlversorgung auszugehen (vgl. Melchinger 2011).
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Adressat/-innen der Gerontopsychiatrie
Epidemiologische Forschungen weisen darauf hin, dass in der gerontopsychiatrischen Zielgruppe ‚alte Menschen‘ ca. ein Fünftel bis ein Viertel der über 65-Jährigen als psychisch krank gelten (vgl. Jakobi et al. 2014) und bei gleichzeitigem Vorliegen somatischer Erkrankungen die Prävalenz für solche Erkrankungen steigt. Hinzu kommen Verluste wichtiger Bezugspersonen und Lebenskrisen im Alter, die nicht selten traumatische Erfahrungen aus früheren Lebensphasen reaktivieren (vgl. Söllner et al. 2018). Insgesamt, so Peters (2018), sind psychische Störungen bei älteren Menschen in einem erheblichen Ausmaß unterdiagnostiziert. Er kritisiert diesbezüglich die unpassenden ICD 10 Diagnosen für diese Personengruppe, da sowohl altersspezifische Kriterien fehlen als auch traumabezogene Zusammenhänge ignoriert werden (ebd., S. 76 ff.). Die geschätzte Zahl Demenzkranker in Deutschland Ende des Jahres 2016 wird mit 1 627 840 angegeben (Bickel 2018; vgl. auch Wißmann i. d. B.), davon sind 545 110 Männer und 1 082 730 Frauen. Als häufigste Ursache gilt die Alzheimer-Krankheit, deren Anteil auf mindestens zwei Drittel der Krankheitsfälle geschätzt wird. Mischformen aus verschiedenartigen neurodegenerativen und vaskulären Krankheitsprozessen kommen besonders auf den höheren Altersstufen vor.
Soziale (Alten-)Arbeit in der Gerontopsychiatrie
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Des Weiteren zeigt sich, dass bei älteren Menschen vor allem Neurosen (insbesondere Depressionen) und Persönlichkeitsstörungen zu den nächst häufigen psychiatrischen Erkrankungen zählen (Pantel et al. 2014). Hervorzuheben ist hierbei zum einen, dass Prävalenz und Inzidenz von krankheitswertigen Depressionen bei älteren Menschen nicht höher sind als bei jüngeren. Zum anderen zeigt sich – ähnlich wie in den jüngeren Altersgruppen – eine geschlechtsspezifische Verteilung. Die Zwölf-Monatsprävalenz einer affektiven Störung liegt laut Jacobi et al. (2014) in der Altersgruppe zwischen 65 und 79 Jahren bei 9,3 %. Depressive Syndrome treten bei Frauen etwa doppelt so häufig auf wie bei Männern (vgl. Müters et al. 2013). Für beide Geschlechter ist festzuhalten, dass ein höheres Erkrankungsrisiko besteht bei Geschiedenen und Verwitweten sowie bei Älteren, die sich im Anfangsstadium eines Demenzprozesses befinden oder an akuten und chronischen körperlichen Erkrankungen leiden. Ebenso sind Verlusterlebnisse, ökonomische Benachteiligung und unbefriedigende soziale Beziehungen (Einsamkeit) mit dem Auftreten depressiver Erkrankungen assoziiert (vgl. Busch et al. 2013; Gühne et al. 2014). Zudem weist die Expertise von Gerlach und Schupp (2016) darauf hin, dass sich direkte und indirekte Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen (Minderheitenstress) auf die psychische und physische Gesundheit von Lesben und Schwulen in Form von Depressionen, Ängsten, Suiziden sowie Substanzmittelgebrauch auswirken (zur Homosexualität im Alter vgl. Schütze i. d. B.). Im Vergleich zu den jüngeren Altersgruppen ist die größere Häufigkeit von Suiziden eindeutig. Laut dem Statistischen Bundesamt kamen in der Altersgruppe 80 bis 85 Jahre im Jahr 2016 durchschnittlich 33,8 Suizide auf 100 000 Einwohner/-innen, während die Gesamtsuizidrate bei 11,9 Suizide auf 100 000 Einwohner/-innen lag (statista 2019). Die Gruppe der Menschen, die mit als chronisch geltenden psychiatrischen Beein trächtigungen gealtert sind, konnte – aufgrund des Euthanasie-Programms des Nationalsozialismus – erst in den letzten Jahren verstärkt ins Bewusstsein der gesellschaftlichen Öffentlichkeit geraten. So sind Recovery-Konzepte, mit denen unter der Maßgabe ‚Genesung ist nicht gleich Heilung‘, die bestmögliche Lebensweise mit einer Erkrankung angestrebt wird, selbst wenn sich die Betroffenen im Bereich schwerer psychischer, chronifizierter Störungen bewegen, in Deutschland insbesondere für diese Zielgruppe wenig entwickelt (vgl. Amering und Schmolke 2012). Aktuell ist davon auszugehen, dass alte psychisch kranke Menschen als Kinder und Jugendliche während des Zweiten Weltkrieges und danach Erfahrungen von Krieg, Flucht, Vertreibung und/oder von (sexualisierter) Gewalt gemacht haben, die mit hoher Wahrscheinlichkeit tiefgreifende biografische Auswirkungen hatten (vgl. Fooken i. d. B.). Nunmehr hilfe- und pflegebedürftig geraten sie erneut in eine entmachtete Situation, in der sie viel Kontrolle bezüglich ihrer Selbstbestimmung abgeben müssen und auf andere angewiesen sind. Oft können sie ihre individuellen adaptiven Überlebensstrategien, die ihnen geholfen haben, ihr Leben nach schmerzvollen, wenn nicht gar traumatischen Erfahrungen zu bewältigen, nicht mehr aufrechterhalten. Diese ehe-
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maligen Widerfahrnisse können – noch immer häufig unerkannt – Ursache bei allen Formen von psychischen Störungen sein, beispielsweise bei Wahrnehmungsstörungen, Apathie, Depression, Angst und Panikzuständen, regressivem Verhalten, Aggressivität, Zwangshandlungen, Substanzstörungen sowie bei Halluzinationen (vgl. Böhmer 2001, 2012; Peters 2018). Diskutiert wird in diesem Zusammenhang die Relevanz transgenerationaler Weitergabe von Traumata für die nachfolgende Generation (Rosenthal 2011), wobei als unbestritten gilt, dass das Phänomen für diese Kohorte klinisch bedeutsam bleiben wird (Rosenthal 1997; vgl. Reddemann 2015), auch wenn die entsprechende (nach wie vor mangelhafte) Befundlage wenig eindeutig sei (Kellermann 2011). Während eine Neuerkrankung an Schizophrenie im Alter von über 65 Jahren sehr selten ist, treten paranoide Syndrome gehäuft auf. Dies wird begünstigt durch sensorische Defizite, depressive Störungen und kognitive Beeinträchtigungen älterer Menschen. Im Alter von 65 bis 79 Jahren leiden laut DEGS-MH zwischen 6,2 % (Frauen) und 6,0 % (Männer) an irgendeiner Substanzstörung (Alkohol, Medikamente, Nikotin, ohne illegale Drogen) (vgl. Jacobi et al. 2014). Benzodiazepine, Z-Substanzen und Opiatanalgetika stehen im Zusammenhang mit dem Medikamenten-Missbrauch und der Abhängigkeit. Die Verschreibung dieser Medikamente und dessen Langzeitanwendung steigt mit dem Alter deutlich an. Hinweise für eine nicht sachgerechte Verordnung z. B. gibt der Arzneiverordnungsreport (Schwabe 2013). Geschätzt wird, dass 40 – 50 % der Dauerkonsument/-innen von Benzodiazepinen abhängig werden, und dass mindestens 5 – 10 % der über 60-Jährigen einen problematischen Gebrauch psychoaktiver Medikamente oder Schmerzmittel betreiben (Muhlig et al. 2015, S. 50). Polypharmazie ist ein weiterer Risikofaktor für die Entstehung eines Delirs, also einer akuten, aber rückbildungsfähigen Bewusstseinsstörung. Die Differenzierung eines Delirs bei Demenz oder Depression ist klinisch noch immer mangelhaft.
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Zur Funktion der Sozialen Arbeit in der Gerontopsychiatrie
In einem interdisziplinären gerontopsychiatrischen Zusammenwirken kommt auch der Sozialen Arbeit eine eigenständige Bedeutung zu: Als Kerndisziplin für soziale Integration (Böhnisch 2016) bezieht sie sich ganz allgemein auf psychosoziale Prozesse der Lebensbewältigung und die damit verbundenen Schwierigkeiten der Menschen. Gegenstand einer professionellen Sozialen Arbeit im Kontext des soziokulturellen Ordnungsmusters ‚Gerontopsychiatrie‘ ist daher – abstrakt gesprochen – der alte Mensch in seinen gescheiterten und/oder von Scheitern bedrohten vergemeinschafteten und vergesellschafteten Formen des Zusammenlebens. Ihre ethisch-normative Grundlage bilden Gerechtigkeit, Solidarität und Menschenwürde. Hilfeansätze sind dann Erfolg versprechend und nachhaltig, wenn sie sich nicht nur an den festgestellten Defiziten in der Abwehr von Krankheiten und Krankheitsrisiken orien-
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tieren, sondern auch und insbesondere an den konkreten Ressourcen der involvierten Menschen, die es biografisch zu rekonstruieren und durch flexibles Hilfehandeln zu beantworten gilt. Ein besonderes Gewicht wird in der Gerontopsychiatrie dem möglichst langen Erhalt der Hilfepotenziale der Angehörigen beigemessen. Auch aufgrund der Ausdünnung ihres sozialen Netzes sind als psychisch krank geltende alte Menschen vermehrt auf die Unterstützung und Gestaltung ihrer Lebensumstände durch Fachkräfte angewiesen. Dies bezieht sich keineswegs nur auf Unterstützungsleistungen wie medizinische Therapie, Pflege, Rehabilitation oder hauswirtschaftliche Versorgung, sondern insbesondere auf die Organisation und Abstimmung der einzelnen Hilfen, also auf die Erfordernisse zur Koordination der Fremd- und Eigenleistungen im Alltag, eine Aufgabe, die dem gesellschaftlichen Mandat ‚soziale Integration‘ und damit der Sozialen Arbeit zufällt (zum Case Management vgl. Wendt i. d. B.). Verbunden damit ist die Notwendigkeit zur Überschreitung medizinischer Paradigmengrenzen hin zu einem transdisziplinären Blick in ‚multiprofessionellen Teams‘. Erforderlich ist ein frühzeitiges Einbeziehen ambulanter Betreuungsdienste – auch weil ein stationärer Aufenthalt so kurz wie möglich gestaltet sein soll. Gleichwohl ist die Implementierung von gerontopsychiatrischen Kompetenzzentren, deren Auftrag es ist, die Versorgungsstrukturen in den Versorgungsregionen auszuweiten, die Vernetzung der Akteur/-innen zu verbessern und durch neue Impulse qualitätsgesichert voranzubringen noch immer nicht flächendeckend erfolgt (vgl. DGGPP 2007, 2008; BMFSFJ 2016b). Nicht nur aus berufspolitischen, sondern auch aufgrund ihres gesellschaftlichen Mandats einschließlich der ihr eigenen fachspezifischen Kompetenzen sollte sich die Soziale Arbeit in diesem Reformprozess der Gerontopsychiatrie stärker als bisher einbringen, etwa im Rahmen von Versorgungsmanagement (z. B. bei Sozialstationen, Pflegestützpunkten) sowie in der Gemeinwesenarbeit, bei der Entwicklung von Mehrgenerationenprojekten und/oder der Koordinierung und Begleitung von Ehrenamtlichen. Mit ihrer Perspektive kann sie aktiv gegen Gefahren und Einseitigkeiten einer Somatisierung und/oder einer Psychologisierung psychiatrischer Erkrankungen im Alter schützen, den Blick für die soziale Umgebung psychisch kranker alter Menschen offen halten und diese ggf. hinsichtlich eines Klimas von Akzeptanz und Geborgenheit sozialpädagogisch verbessern. Denn auch ein irreversibler Demenzverlauf, der das sozialpädagogische „Vertrauen in Potentiale und Entwicklungsmöglichkeiten“ (Thiersch et al. 2012, S. 179) konterkariert, erfordert das (Er-)Finden von Zugängen zur Wahrnehmungswelt ‚dementierender‘ alter Menschen (vgl. Karl, F. 2005; Baer 2007). Im Unterschied zum Verlust kognitiver Fähigkeiten bleibt die emotionale Wahrnehmung weitgehend erhalten. Daher ist für jegliche Hilfestellung und Unterstützungsangebote der emotionale Kanal wesentlicher Zugang zu demenzerkrankten Menschen (vgl. Baer 2007; Leuthe 2009).
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Rechtliche Basis der gerontopsychiatrischen Praxis
Die für einen Reformprozess erforderliche rechtlich-normative Basis ist in Deutschland in den letzten Jahrzehnten neu institutionalisiert worden. Zu den für die Soziale Arbeit relevanten Gesetzen zählen: zentrale Regelungen des Betreuungsrechts (BGB §§ 1896 ff.) als staatlich organisierter Beistand in Form von rechtlicher Fürsorge, deren Aufgabenbereiche durch das Vormundschaftsgericht bestimmt werden (vgl. Becker-Schwarze i. d. B.); das Heimgesetz (HeimG) als Recht der Ordnung der Heimverhältnisse sowie die Soziale Pflegeversicherung (SGB XI), die 1994 in Kraft getreten ist und durch zwischenzeitlich erfolgte Reformen (1. und 2. PflegeleistungsErgänzungsgesetz 2018) erweitert und differenziert wurde (vgl. Schmidt sowie Rixen i. d. B.). Diese letzte Pflegereform führte eine neue Definition der Pflegebedürftigkeit ein, bei der geistige Erkrankungen mehr in den Vordergrund gestellt wurden. Psychische und physische Faktoren der Pflegebedürftigkeit wurden dabei gleichgesetzt. Dadurch kann den Belangen von Personen mit besonderem Betreuungsbedarf – und hierzu gehören insbesondere psychisch kranke alte Menschen – eher Rechnung getragen werden. Konkret ist damit ein Weg geebnet worden, niedrigschwellige Angebote und vernetzte Versorgungsstrukturen für psychisch kranke alte Menschen auch mit Mitteln der Pflegeversicherung auf- und auszubauen sowie ehrenamtliches Engagement im Bereich der Pflege und Betreuung zur Entlastung der familiären Hauptpflegepersonen zu fördern. Des Weiteren enthält die gesetzliche Krankenversicherung (SGB V, vgl. Rixen i. d. B.) Regelungen, auf deren Basis die Soziale Arbeit im Kontext gerontopsychiatrischer Versorgung intervenieren kann. Eine besondere Leistung wurde mit dem GKVGesundheitsreformgesetz 2000 eingeführt: Nach § 37a SGB V haben Versicherte, die wegen schwerer psychischer Erkrankung nicht in der Lage sind, ärztliche oder ärztlich verordnete Leistungen selbstständig zu nutzen, den Anspruch auf Sozialtherapie, wenn dadurch Krankenhausbehandlung vermieden oder verkürzt wird oder wenn diese geboten, aber nicht ausführbar ist. Ebenso begründet das Neunte Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB IX „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“) besondere, auch gerontopsychiatrische Handlungsansätze der Sozialen Arbeit, da hier der Vorrang von Rehabilitationsleistungen zur Vermeidung des Eintritts einer Behinderung oder Pflegebedürftigkeit explizit hervorgehoben ist (vgl. § 5 SGB IX). Mit der Psychiatrischen Personalverordnung (PsychPV) wurden Fachkräfte der Sozialen Arbeit neben den anderen Berufsgruppen (Ärzt/-innen, Pflegepersonal, Psycholog/-innen und Ergotherapeut/-innen) zum Stammpersonal der psychiatrischen Krankenhäuser. Zudem ergeben sich aus dem Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke (Psychiatrisches Krankengesetz PsychKG) weitere Aufgabenfelder in der (Geronto-)Psychiatrie. In der Aufstellung ihrer Regelaufgaben, zu denen u. a. Biografiearbeit, sozialtherapeutisches Kompetenztraining, Einzelfallhilfe und Gruppenarbeit zählen, sind ausdrücklich auch Zeitanteile für Familiengespräche wie für die Mitwirkung an An-
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gehörigengruppen auf den Stationen und außerhalb der stationären Einrichtung vorgesehen (Knoll 2000, S. 62). Mit der PsychPV ist die Information und Einbeziehung der Angehörigen auch im Bereich der Kliniken zu einer Pflichtaufgabe geworden, womit der hohe Stellenwert der erforderlichen Zusammenarbeit mit den (pflegenden) Angehörigen festgeschrieben ist.
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Aufgaben der und Anforderungen an die Profession Soziale (Alten-)Arbeit
Sozialarbeiter/-innen werden allgemein dem Sozialen Dienst im (psychiatrischen) Krankenhaus zugeordnet, womit ihnen direkte und indirekte Vernetzungsaufgaben zugeschrieben werden (zur Sozialen Arbeit im Allgemeinkrankenhaus vgl. Ansen i. d. B.). Diese sollen sowohl klinikintern als auch berufs-, einrichtungs- und sektorenübergreifend erfolgen. Zu nennen sind die heterogenen Anforderungen in der Altenberatung (in unterschiedlicher Trägerschaft: Kommunen, Wohlfahrtsverbände, Verbraucherorganisationen, Betroffenenverbände, Architektenkammern und andere freigemeinnützige Träger), die im Wesentlichen durch Sozialarbeiter/-innen geleistet werden, ebenso wie die vielfältigen sozialpädagogischen Interventionen für die Nutzer/-innen der gerontopsychiatrischen Ambulanzen (vgl. Spengler 2004), der Tageskliniken wie der stationären Einrichtungen für psychisch kranke alte Menschen einschließlich der Alten- und Pflegeheime, in denen eine Vielzahl psychisch kranker Menschen leben. Fachkräfte der Sozialen Arbeit verfügen über reichhaltige Handlungsmethoden, die sie – auf der Basis spezifischer Fach- und Feldkenntnisse – für die Arbeit mit psychisch kranken alten Menschen verwenden können. Dabei gilt für sie auch in diesem Kontext der Ausgangspunkt, dass soziales Handeln, also auch das auf die eigene Lebenspraxis bezogene geschlechtsspezifische Gesundheits- wie Krankheitshandeln der alten Menschen, in sozialkulturelle Sinnstrukturen eingebettet und mit diesen verflochten ist. Ferner ist soziales Handeln immer auch als ein Produkt der persönlichen (intim-biografischen) Verarbeitung widersprüchlicher gesellschaftlicher Anforderungen ernst zu nehmen. Daraus ergeben sich zwei Ansatzpunkte sozialpädagogischen Handelns: Der erste bezieht sich auf Maßnahmen, die vornehmlich auf die Beeinflussung und/oder Veränderung der ökonomischen, sozialen und institutionellen Strukturen abzielen, um damit der gesetzlichen Forderung – nach einer barrierefreien Gestaltung angemessen abgestufter, integrierter Versorgungsketten, die ihre Leistung komplementär und nicht konkurrierend auf die Hilfs- und Unterstützungsbedürfnisse der Betroffenen ausrichten – nachzukommen. Durch geplante, systematische Formen von Kooperation und Koordination sowie durch Vernetzung von Dienstleistungen können Sozialarbeiter/-innen z. B. durch ihre Mitarbeit in gerontopsychiatrischen Qualitätszirkeln, die es vermehrt zu institutionalisieren gilt, für die Steigerung der Wirkkraft des Hilfeplanes sorgen (Dörr 2005, S. 109).
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Der zweite Ansatzpunkt bezieht sich auf die Bereitstellung von Begleitung, Beratung und Unterstützung der betroffenen Menschen bei ihren Bewältigungsanstrengungen, die sich auf verschiedene Lebensbereiche beziehen. Hierbei ist zu unterscheiden zwischen der alltagsbezogenen Bewältigungspraxis (äußere Wohnsituation/ technische Unterstützung, personelle Hilfen), mit der sie ihre Alltagsroutinen sicherstellen, einer krankheitsbezogenen Bewältigungspraxis zur Gewährleistung ihrer gesundheitlichen Versorgung sowie den biografieorientierten Unterstützungen zur Einpassung ihrer veränderten Lebenslage in ihren Lebensrhythmus. Die jeweilige professionelle und/oder laienhafte Assistenz bei diesen Bewältigungsleistungen muss sowohl zur (Rück-)Gewinnung autonomer Handlungsfähigkeit der Betroffenen als auch in Prozessen der Begleitung progredienter Krankheitsverlaufskurven ineinandergreifen. Hierzu gehören die Gestaltung des Wohnumfeldes und des persönlichen sozialen Netzes, die Einbindung in öffentliche soziale Netze sowie Interventionen zur Adaption der Strukturen auf die persönlichen Bedürfnisse von psychisch kranken alten Menschen. Dabei unterstützt die Methode des Case Management die systematische, aber zugleich einzelfallbezogene Organisation eines Hilfepakets für die Betroffenen. Zum Case Management gehören Einschätzung (Assessment), Hilfeplanung, Intervention, Kontrolle der eingeleiteten verschiedenen Hilfestellungen und (Selbst-) Evaluation (vgl. ebd., S. 107 ff., vgl. auch Wendt i. d. B.). Da Gefühle von Verlassenheit oder des nicht ausreichend Eingebundenseins gerade für psychisch kranke alte Menschen eine existenzielle Bedrohung darstellen, besteht eine wesentliche Aufgabe der Sozialen Arbeit darin, alternative Möglichkeiten zur Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung zu schaffen, um Optionen der Verortung in der Welt und der Verhältnissetzung zur Welt zu erweitern oder wieder herzustellen. Hierzu gehört ausdrücklich auch die würdevolle Gestaltung eines Abschieds alter Menschen vom Leben, das an ihren individuellen Bedürfnissen orientiert ist. Prädestiniert hierfür ist eine sensible Biografiearbeit als (dialogische) Auseinandersetzung mit der Lebensgeschichte eines Menschen. Sie ist, zunächst unabhängig von der Zielgruppe und dem Handlungsfeld, eine zentrale Methode der Sozialen Arbeit. Insbesondere bei alten Menschen hat Biografiearbeit einen hohen Rang, denn sie blicken auf ein großes Stück ‚gelebtes Leben‘ (Rosenthal 1995; Rosenthal et al. 2011) zurück. Die aufrichtige Auseinandersetzung mit dem Leben öffnet Möglichkeiten zur Gestaltung von Gegenwart und Zukunft gemeinsam mit den Adressat/-innen. Damit wird Thierschs Konzept der Lebensweltorientierung ernst genommen, welches die Menschen als „eingebunden in vielfältige Widersprüche zwischen verfügbaren Ressourcen und problematisch belastenden Lebensarrangements, zwischen gekonnten und ungekonnten Bewältigungsleistungen, Resignation und Hoffnung, Borniertheit des Alltags und Aufbegehren gegen diese Borniertheiten“ (Grunwald und Thiersch 2018, S. 906)
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betrachtet. Für Fachkräfte der Sozialen Arbeit ist es (hoffentlich) selbstverständlich, sich mit der Lebensgeschichte der ihnen anvertrauten psychisch kranken, alten Menschen zu beschäftigen. Denn der Einsatz von (traumasensibler) Biografiearbeit bildet ein zentrales Element in der Sozialen Arbeit mit psychisch kranken alten Menschen (vgl. Osborn et al. 2012; Lindmeier et al. 2018). Verbunden ist damit die Notwendigkeit, über das historische Wissen zu verfügen und sich zudem auch regional kundig zu machen, um die jeweiligen biografischen Besonderheiten der Menschen besser zu begreifen (Peters 2018). Auch die Sozio-/Sozialtherapie, wie sie in den Gesetzestexten (SGB V und IX) vorgesehen ist, ist eine Methode der Sozialen Arbeit, die die Dynamiken, die sich aus dem Zusammenspiel zwischen personalen, interpersonalen und institutionellen Dimensionen im sozialpsychiatrischen Feld ergeben, methodisch kontrolliert aufgreift und darüber den Hilfeprozess gestaltet. Soziotherapie ist eine absichtsvolle, sozialwissenschaftlich begründungsfähige Handlungsweise in und mit sozialen Strukturen mit der Intention, die sozialen Systeme zielgerichtet so zu beeinflussen bzw. zu verändern, dass sie sowohl autonomiefördernde Wirkungen entfalten als auch zum Wohlbefinden der betroffenen Menschen beitragen können. Dies erfordert ein methodisches Handeln, das auf ein konstruktives Passungsverhältnis der formalen äußeren Strukturen von Administration und Verwaltung mit den inneren ‚Zuständen‘ der Adressat/-innen (biografische Sinndimension) zielt. Notwendig dazu ist ein hermeneutisches Verstehen für institutionalisierte Sinnhorizonte, in denen sich die Adressat/-innen bewegen. Wie bereits erwähnt, gehören auch im gerontopsychiatrischen Bereich die Angehörigen der Erkrankten als wichtige (pflegende) Bezugspersonen zu den Adressat/-innen Sozialer Arbeit. Sie benötigen während des Krankheitsprozesses ihres Familienmitglieds eine intensive Unterstützung durch Aufklärung über den Krankheitsverlauf, rechtliche Aspekte, reale Entlastungsmöglichkeiten sowie psychische Unterstützung im Umgang mit dem sozialen (bei der Demenz) und realen Tod ihres Familienmitglieds. Die notwendigen Maßnahmen zu erkennen, erfordert seitens der Fachkräfte Sozialer Arbeit ein beträchtliches Maß an Problembewusstsein, Wahrnehmungs- und Beurteilungsfähigkeit sowie interkultureller Kompetenz. Die Auflistung dieser Leistungen, Methoden und Anforderungen lässt deutlich werden, dass sich das fachliche Handeln von Sozialarbeiter/-innen in der sozialen Gerontopsychiatrie zwischen einer therapeutischen, einer juristischen und einer bürokratischen Perspektive bewegt. Dies zwingt sie zu einer gleichzeitigen Beachtung aporetischer Strukturlogiken, ein immanenter und konstitutiver Widerspruch des sozialpädagogischen Handelns, den es zu erkennen, auszuhalten und immer wieder neu auszubalancieren gilt (vgl. Knoll 2000, S. 311). Sowohl aus berufspolitischen wie aus fachspezifischen Gründen wäre eine konsequentere quantitative und qualitative Forschungspraxis der Sozialen (Alten-)Arbeit im sozialen Handlungs- und Deutungsfeld der Gerontopsychiatrie anzustreben. Jene Erkenntnisse können wesentlich zu einer theoretischen Fundierung professionellen
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Handelns in der Sozialen (Alten-)Arbeit mit psychisch kranken alten Menschen und ihren Angehörigen beitragen.
Ausgewählte Literatur Pantel, Johannes, Johannes Schröder, Cornelius Bollheimer, Cornel Sieber und Andreas Kruse. Hrsg. 2014. Praxishandbuch Altersmedizin. Geriatrie – Gerontopsychiatrie – Gerontologie. Stuttgart: Kohlhammer. Debus, Heiko. 2016. Gerontopsychiatrie und Palliativversorgung. Fulda: Deutsche PalliativStiftung. Maercker, Andreas. Hrsg. 2015. Alterspsychotherapie und klinische Gerontopsychologie. Berlin und Heidelberg: Springer.
Soziale Arbeit in Hospiz und Palliativversorgung Verena Begemann und Mareike Fuchs
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Grundverständnis der Sozialen Arbeit
Soziale Arbeit hat – folgt man der Internationalen Gesellschaft für Soziale Arbeit (IFSW) – einen gesellschaftlichen Auftrag am Lebensende, bei dem Würde, Achtung, Teilhabe und Selbstbestimmung der Sterbenden im Mittelpunkt stehen. Diese Gesellschaft definiert: „Die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit, die Menschenrechte, gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlagen der Sozialen Arbeit.“ (IFSW 2004, zit. n. DBSH 2014, S. 29)
Für Disziplin und Profession besteht somit eine hohe Anschlussfähigkeit zu den Konzepten der Hospizarbeit und Palliativversorgung, in deren Mittelpunkt die Förderung und Erhaltung bestmöglicher Lebensqualität von schwerstkranken und sterbenden Menschen mit einer sehr begrenzten Lebenszeit steht. Bedürfnisse, Wünsche und Ängste von Sterbenden und Zugehörigen (unit of care) sind die maßgeblichen Orien tierungspunkte, um eine umfassende Begleitung und professionelle Unterstützung zu gewährleisten. Dies geschieht sowohl im ärztlich-pflegerischen Tun als auch in der spirituellen und psychosozialen Begleitung. In der psychosozialen Begleitung spiegelt sich zudem die hospizliche Grundhaltung wider: „Die hospizliche Grundhaltung drückt sich z. B. im Respekt vor der Würde und Selbstbestimmung des schwerkranken und sterbenden Menschen aus, nimmt seine Anliegen in dieser wichtigen Lebensphase ernst, behält eine ganzheitliche Sicht des Menschen auch im Sterbeprozess bei, lässt den Sterbenden nicht allein, unterstützt Angehörige und Freunde, von denen der Sterbende Nähe und Geborgenheit erwartet, und versucht, nicht Hilfe
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_16
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zum Sterben, sondern Hilfe zum Leben auch während des Sterbens zu geben.“ (Student et al. 2016, S. 15)
Die multiprofessionelle und transdisziplinäre Zusammenarbeit in Teams ist das Markenzeichen gelingender Sorgekultur am Lebensende. Ergänzt werden die Fachkräfte in allen Versorgungskontexten von ehrenamtlichen Mitarbeiter/-innen, die für diese Aufgabe umfassend qualifiziert und vorbereitet werden. Wegweisend für moderne Konzepte war die Arbeit der Hospiz- und Palliativpionierin Cicely Saunders (1918 – 2015). Saunders verkörperte als Pflegeexpertin, Sozialarbeiterin und Medizinerin die Inter- und Transdisziplinarität. Sie entwickelte ein umfassendes Schmerzkonzept, förderte die palliative Forschung und verstand das Hospiz als Ort der verantwortungsvollen Gemeinschaft von unterschiedlichen Professionen, Ehrenamtlichen, Sterbenden und Angehörigen (community of the unlikes). Die moderne Hospizbewegung setzt sich „[…] für ein menschenwürdiges, behütetes, sozial eingebettetes Sterben ein, das als wichtiger Teil des Lebens verstanden wird und so beschwerdearm und bewusst wie möglich gelingen soll“ (ebd., S. 31) ein. Das Sterben eines Menschen wird nicht ausschließlich als individueller Prozess wahrgenommen, sondern als systemisches Geschehen. Soziale Arbeit leistet einen wesentlichen Teil zur Begleitung und Unterstützung, denn „[k]ennzeichnend für die Soziale Arbeit ist die Fähigkeit, sich in Krisenfeldern zu bewegen. Sozialarbeit ist im Kern Krisenarbeit, d. h. ihre Qualität erweist sich in der Befähigung zu einem angemessenen Umgang mit kritischen Lebensereignissen […] oder Lebenskrisen. Bei den meisten Krisen handelt es sich um Verlustkrisen“ (ebd., S. 97).
Vor diesem Hintergrund sind ‚Kernaufgaben und Handlungsmethoden‘ Sozialer Arbeit zu benennen, wie sie von der Sektion Soziale Arbeit in der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin als Profil 2012 formuliert wurden: a) „Beratung von schwerkranken Menschen und ihren Zugehörigen b) Psychosoziale Begleitung von schwerkranken Menschen und ihren Zugehörigen c) Ethisch-rechtliche Entscheidungsprozesse d) Interne und externe Netzwerkarbeit und Koordination e) Professioneller Austausch und Unterstützung des fachlichen Bezugssystems f) Koordination und Leitung ehrenamtlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter g) Wissensvermittlung, Dokumentation, Evaluation, Forschung und Lehre“ (DGP 2012).
Soziale Arbeit in Hospiz und Palliativversorgung
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Wichtige Entwicklungen in der Hospizarbeit und Palliativversorgung seit 2007
2007 hat der Gesetzgeber als individuellen Leistungsanspruch die „spezialisierte ambulante Palliativversorgung“ in das SGB V aufgenommen. Seitdem hat jeder Versi cherte in Deutschland das Recht auf diese neue Versorgungsform, die zum Ziel hat, auch solchen Patient/-innen eine Versorgung und Betreuung zu Hause zu ermöglichen, die einen besonders aufwändigen Betreuungsbedarf haben. 2010 wurde durch Vertreter/-innen der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) und des Deutschen Hospiz- und Palliativ-Verbandes (DHPV) die „Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland“ veröffentlicht. Die fünf Leitsätze der Charta formulieren Aufgaben, Ziele und Handlungsbedarfe, um die Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland zu verbessern (vgl. DGP et al. 2015, S. 8 ff.). Seit 2013 wird daran gearbeitet, die Leitsätze mittels einer Nationalen Strategie bundesweit so umzusetzen, dass jeder Betroffene eine qualitativ hochwertige hospizliche und palliative Begleitung und Unterstützung erhält. Seit 2014 müssen Medizinstudent/-innen, die ihr zweites Staatsexamen ablegen, verbindliche Leistungsnachweise im Fach Schmerz- und Palliativmedizin erbringen. Die Zahl der Ärzt/-innen mit Zusatzausbildung Palliativmedizin ist von ca. 100 im Jahr 2005 auf ca. 10 000 im Jahr 2016 gestiegen. 2015 wurde das Gesetz zur Verbesserung der Hospizund Palliativversorgung in Deutschland (kurz: Hospiz- und Palliativgesetz/HPG) verabschiedet, welches die Ansprüche schwerkranker und sterbender Menschen an Dienstleister und Kostenträger in rechtlichem Sinne weiter definiert und verankert und somit die Basis der Finanzierung medizinischer und sozialer Dienstleistungen stabilisiert und erweitert. Mit dem Gesetz wurde die Palliativversorgung ausdrücklich Bestandteil der Regelversorgung der gesetzlichen Krankenversicherung. 2016 wurde der DAK-Pflegereport „Palliativversorgung: Wunsch, Wirklichkeit und Perspektiven“ veröffentlicht. Laut durchgeführter Befragung sehen 60 % der Bevölkerung das eigene Zuhause als angenehmsten Ort zum Sterben (vgl. Klie und Rebscher 2016, S. 6). Laut Borasio (2017, S. 30) haben ca. 90 % der Menschen den Wunsch, zu Hause zu sterben. Tatsächlich ist es aktuell so, dass dieser Wunsch nur bei ca. 25 % aller Menschen realisiert werden kann. Ca. 70 % der Bevölkerung sterben in Institutionen, darunter in Krankenhäusern 43 % und in Alten- und Pflegeheimen 25 – 30 %. Das Lebensende vollzieht sich demnach überwiegend nicht an den vertrauten Lebensorten.
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Einsatzorte und sozialrechtlicher Rahmen von Hospiz- und Palliativversorgung
Ambulante Hospizdienste und -vereine: In Deutschland gibt es aktuell ca. 1 500 am-
bulante Hospizdienste, die nach § 39a SGB V und den dazugehörigen Rahmenverein-
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barungen tätig sind. Seit 1996 hat sich ihre Zahl mehr als verdreifacht. Sie sind die am stärksten vertretenen Institutionen und tragende Säulen für Begleitungs- und Unterstützungsangebote, die das Ziel haben, Menschen in ihrer gewohnten Umgebung so zu stärken, dass das Sterben zu Hause oder im Pflegeheim ohne Verlegung in eine andere Institution möglich wird. Ebenso unterstützen sie Schwerkranke, die stationär im Krankenhaus behandelt werden. Die Begleitung erfolgt durch ehrenamtliche Mitarbeiter/-innen, die psychosoziale Alltagsbegleitung und teilweise auch nächtliche Sitzwachen anbieten. Ambulante Hospizdienste haben i. d. R. eine hauptamtliche Koordinationsstelle (Pflegefachkraft oder Sozialarbeiter/-in) und arbeiten mit palliativen Pflegediensten, Palliativmediziner/-innen und Seelsorge zusammen. Spezialisierte Ambulante Palliative Versorgung (SAPV): Es gibt aktuell ca. 300 SAPVTeams, die auf Grundlage von § 37b SGB V in Ergänzung mit § 132d SGB V tätig sind. Die Aufgaben des SAPV-Teams sind es, bestehende ärztliche und pflegerische Versorgungsstrukturen bei besonders aufwendigen schwerkranken und sterbenden Menschen im ambulanten oder stationären Bereich durch ihre spezielle Expertise und eine Rund-um-die-Uhr-Bereitschaft so zu unterstützen, dass Krankenhauseinweisungen bzw. -aufenthalte vermieden werden können. SAPV-Teams müssen mit einem ambulanten Hospiz- und/oder Palliativdienst kooperieren (vgl. ebd., S. 43 ff.). Palliativstationen: Es gibt derzeit ca. 300 Palliativstationen, die als besondere Krankenhausstationen Schwerstkranke und Sterbende in Krisensituationen betreuen. Sie haben nicht das Ziel, Sterbende bis zum Lebensende stationär zu versorgen, sondern die zur Krankenhausaufnahme führenden Krisenfaktoren so zu reduzieren, dass eine Rückkehr in das gewohnte Lebensumfeld erfolgen kann. Auch auf Palliativstationen ist ein multiprofessionelles Team tätig. „Im Vordergrund stehen die bestmögliche Behandlung belastender Symptome (wie Schmerzen, Übelkeit, Fatigue), die Linderung seelischer Not (insbesondere Angst, Depressionen und Verzweiflung) sowie die Koordination und Verbesserung der Betreuungssituation im privaten Umfeld.“ (Student et al. 2016, S. 90) Stationäre Hospize: Stationäre Hospize sind kleine, spezialisierte stationäre Pflege
einrichtungen, die Menschen in ihrer letzten Lebenszeit begleiten. Aktuell gibt es 236 stationäre Hospize, einschließlich der stationären Hospize für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. In diesen Einrichtungen finden gemäß § 39a SGB V und den dazugehörigen Rahmenvereinbarungen Menschen Aufnahme, deren Lebenszeit deutlich begrenzt ist, bei denen eine kurative Behandlung nicht mehr möglich oder nicht mehr gewünscht ist und deren Symptomlast so hoch ist, dass eine andere Versorgungsform ambulant oder stationär nicht ausreichend ist. Auch hier arbeitet ein multiprofessionelles Hospizteam aus Pflegefachkräften, Sozialarbeiter/-innen, Betreuungsund Hauswirtschaftspersonal, Verwaltungskräften, Therapeut/-innen zusammen und
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wird durch Ehrenamtliche ergänzt. Stationäre Hospize arbeiten nach dem Hausarztprinzip und kooperieren mit niedergelassenen Palliativmediziner/-innen. Die Begleitung und Unterstützung der Zugehörigen hat ebenfalls einen hohen Stellenwert in der stationären Hospizarbeit und ist ein Aufgabenfeld der Sozialen Arbeit. Alten- und Pflegeheime: 25 bis 30 % der Bevölkerung sterben in einem Alten- oder
Pflegeheim. Diese Institutionen begleiten Menschen oft über einen längeren Zeitraum bis zu ihrem Lebensende. Für viele Bewohner/-innen ist das Pflegeheim eine vertraute Umgebung geworden. Die Sterbebegleitung ist in vielen Institutionen der Altenhilfe jedoch ein herausforderndes Thema. Oft mangelt es an ausreichend qualifiziertem Pflege- und Betreuungspersonal, welches die teilweise multimorbiden und zeitaufwendigen Pflegebedürftigen adäquat begleiten kann. Der gravierende Mangel an Pflegefachkräften und Pflegehelfer/-innen geht zu Lasten der schwerstkranken Menschen – trotz unterschiedlicher Unterstützungsangebote und rechtlicher Verbesserungen. Ambulante Hospizdienste können die Begleitung sterbender Menschen in einem Pflegeheim bei den gesetzlichen Krankenkassen abrechnen. Darüber hinaus haben auch die Bewohner/-innen einer stationären Pflegeeinrichtung unter bestimmten Bedingungen Anspruch auf eine spezialisierte ambulante palliative Versorgung nach § 37b SGB V. Zugelassene Pflegeeinrichtungen nach § 43 SGB V können zudem eine gesundheitliche Vorausplanung für die letzte Lebensphase anbieten. Durch die gesetzlichen Neuerungen können nach § 132g SGB V die entstehenden Kosten abgerechnet werden. Sterbebegleitung in der Eingliederungshilfe: In den vergangenen Jahren beschäftigen
sich die Versorgungsangebote aus Hospizarbeit und Palliativversorgung zunehmend mit der Frage nach adäquaten Unterstützungsangeboten für Menschen mit einer seelisch-geistigen und/oder schweren körperlichen Behinderung, die mit Unterstützung durch ambulante, teil- oder vollstationäre Hilfen gemäß SGB IX (häufig in Ergänzung durch Leistungen nach § 43a SGB XI, Pflege in vollstationären Einrichtungen der Hilfe für behinderte Menschen) leben. Art. 25 der UN-Konvention für Menschen mit Behinderungen fordert ein Recht auf Teilhabe an allen gesundheitlichen Versorgungsstrukturen. Seit 2015 gibt es in der DGP eine „AG für Menschen mit geistiger Behinderung“. 2017 wurde das Curriculum „Palliative Care für Fachkräfte in der Assistenz und Pflege von Menschen mit einer intellektuellen, komplexen und/oder psychischen Beeinträchtigung“ veröffentlicht. Kinder- und Jugendhospize: Anders als in Erwachsenenhospizen erhalten Kinder und ihre Zugehörigen ab der Diagnosestellung einer zum Tode führenden Erkrankung hier Beistand und Unterstützung. So kann die Begleitung der lebensverkürzend erkrankten Kinder und/oder Jugendlichen über Jahre dauern und stellt an die Familien, zu denen neben den Mitgliedern der Kernfamilie ggf. auch die Großeltern, also alte Menschen gehören, besondere Herausforderungen und Belastungen. Orientiert
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an dem Konzept der Entlastungspflege kann die Kernfamilie mit Kind bis zu vier Wochen im Jahr aufgenommen werden. „Ziel ist es nicht nur, die allerletzte Lebensstrecke für das kranke Kind und seine Familie würdevoll und sinnerfüllt zu gestalten, sie nehmen ihre Arbeit so früh auf, damit die Familie möglichst lange Zeit hat, sich auf das Lebensende vorzubereiten.“ (Student et al. 2016, S. 95)
Dabei arbeiten Kinder- und Jugendhospize mit ambulanten Netzwerken zusammen. Die rechtliche Grundlage ist im § 39a SGB V geregelt. Seit 2017 haben Kinder- und Jugendhospize eigenständige Rahmenvereinbarungen verhandelt.
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Ausgewählte Aufgaben der Sozialen Arbeit in der Palliativversorgung
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Psychosoziale Begleitung
Psychosoziale Begleitung in krisenhaften Lebensabschnitten ist unumstrittene Aufgabe der Sozialen Arbeit. Die Profession bewegt sich überwiegend „[…] im Kontext von Armut, Benachteiligung, Gefährdung, Ausgrenzung, Marginalisierung, Abweichung, Überforderung […]“ und unterstützt somit „[…] Menschen bei der Problembewältigung im Alltag“ (Student et al. 2016, S. 18). Viele Menschen erleben in ihrem Umfeld die Zeit ab der Diagnosestellung einer lebensverkürzenden Erkrankung bis hin zum Sterben (und für die Zugehörigen darüber hinaus) als eine Ausnahmesituation. Die Marginalisierung findet hier „[…] in psychosozialer, familiärer und soziokultureller Hinsicht […]“ (ebd., S. 21) statt. Eine wertschätzende, empathische, verbindliche Beziehungsgestaltung, die individuelle Belastungs- und Schutzfaktoren berücksichtigt und sich an Selbstbestimmung und Teilhabe ausrichtet, bietet Hilfen zur Problembewältigung. Dieser hospizlich-palliativen Grundhaltung fühlen sich alle Tätigen im Hospiz- und Palliativbereich verpflichtet. Soziale Arbeit hat im interdisziplinären Team hier einen wichtigen, besonderen Auftrag, aber kein Alleinstellungsmerkmal. Damit sind Chancen, Grenzen und Herausforderungen der kommunikativen Beziehungsgestaltung im Team verbunden. Darüber hinaus bedarf es, aufgrund der komplexen Herausforderungen sowohl im ambulanten als auch stationären Setting, jedoch einer Spezialisierung der psychosozialen Begleitungsangebote und Kompetenzen. Die folgende Grafik (Abbildung 1) verdeutlicht die zunehmende Spezialisierung der psychosozialen Begleitungskompetenz und das Zusammenspiel unterschiedlicher Professionen als Modell mit mehreren Ebenen. Sie orientiert sich am Stufenmodell psychosozialer Begleitung des National Council for Hospicean Specialist Palliative Care Services von 1997, das 2010 von Maria Wasner übersetzt und transformiert wurde.
Soziale Arbeit in Hospiz und Palliativversorgung
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Abbildung 1 Ebenenmodell psychosozialer Begleitung
Ebene 3 – spezifische Expertise: Kompetenz: Psychotherapie, Beratung – z. B. systemische Beratung, Seelsorge durch qualifizierte Fachkräfte Auftrag: spezialisierte psychosoziale oder/und spirituelle Begleitung durchführen
Ebene 2 – Professionen des psychosozialen Bereichs:
zunehmende Spezialisierung zunehmende fachliche Kompetenz
Kompetenz: Erheben einer psychosozialen Anamnese; fundiertes Wissen um psychosoziale und spirituelle Begleitungs- und Unterstützungsangebote inkl. Angehörigenarbeit; Wissen um Sterbe- und Trauerprozesse Auftrag: Informationen und Beratung geben; qualifizierte Hilfestellung bei praktischen und emotionalen Problemen geben
Ebene 1 – alle Teammitglieder: Kompetenz: kulturelle und soziale Unterschiede erkennen und respektieren Auftrag: emotionale Entlastung und praktische Hilfestellung anbieten
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Wasner 2010, S. 7 ©
Die psychosozialen Angebote inkludieren immer auch das soziale Umfeld der schwer erkrankten Menschen. Forschungsdaten zeigen, dass „[…] eine Verbesserung des psychischen Wohlbefindens der Angehörigen eine ähnliche Verbesserung beim Patienten auslösen kann“ (Borasio 2017, S. 82). 4.2
Ethische Entscheidungsfindung als Aufgabe der Berufsethik
In Sterbeprozessen stehen die Fragen im Raum: ‚Was ist zu tun und was ist zu lassen ? Was ist gut für wen ? Wie kann der Wille der Betroffenen bestmöglich umgesetzt werden ?‘ Sozialarbeiter/-innen sind im interdisziplinären Team an diesen Entscheidungen beteiligt. Dazu ist die Einübung einer ethischen Reflexionskultur notwendig, die ethisches Wissen, professionelle Haltung und Entscheidungskompetenz beinhaltet. Angesichts der stetig wachsenden Möglichkeiten in der Medizintechnik, ist die Frage nach Sinnhaftigkeit, Würde und Verantwortung sowie Lebensqualität zu stellen und zu beantworten. Hierzu stehen verschiedene Modelle für den Arbeitsalltag zur Verfügung (vgl. Baumann-Hölzle 1999; Heller und Krobath 2011; Bormann 2013; Heckmann 2016), mit denen sich Fachkräfte auseinandersetzen müssen und die sie sich im Rahmen von Fortbildungen im Bereich der Ethikberatung aneignen müssen, um lebensdienlich, subjekt- und konsensorientiert arbeiten zu können. Folgende Schritte lassen sich übereinstimmend für alle Modelle generalisieren:
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Verena Begemann und Mareike Fuchs
1) Wahrnehmung und Feststellung des Problems (Formulierung des ethischen Dilemmas) 2) Situations- und Kontextanalyse (Zeit, Biografie, Beteiligte, sozioökonomische und soziokulturelle Faktoren) 3) Entwurf von mindestens drei Handlungsmöglichkeiten 4) Beurteilung der Handlungsmöglichkeiten (Bewertung von Autonomie und Fürsorge, Nutzen und Schaden, Wohl und Wille, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit) 5) Ethische Entscheidung (Zusammenführung aller Schritte und Klärung der Handlung) 6) Rückblickende Adäquanzkontrolle und Dokumentation (Prozessbewertung und Wiedervorlage) 4.3
Koordination und Leitung ehrenamtlicher Mitarbeiter/-innen
Ca. 100 000 Ehrenamtliche übernehmen im sozialen Nahbereich die zivilgesellschaft liche Rolle der Lebens-, Sterbe- und Trauerbegleitung (vgl. Begemann und Seidel 2015). Sie sind wichtige Stimmen und Akteur/-innen im zivilgesellschaftlichen Diskurs für ein würdiges Sterben. Soziale Arbeit hat in der Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen in interdisziplinären Kontexten eine herausgehobene Bedeutung. Der Fachkraft, häufig aus der Sozialen Arbeit oder Pflege, obliegen nach Rahmenvereinbarung § 39a SGB V folgende Aufgaben: •• „Koordination der Aktivitäten des ambulanten Hospizdienstes (Patientenerstbesuch, Einsatzplanung/Einsatzsteuerung der Ehrenamtlichen) •• Gewinnung Ehrenamtlicher •• Herstellung des Kontaktes zwischen den sterbenden Menschen und den Ehrenamtlichen •• Begleitung der Ehrenamtlichen (Praxisbegleitung zur Unterstützung ehrenamtlich tätiger Personen) •• Gewährleistung von Supervision für die Ehrenamtlichen •• Gewährleistung der Schulung/Qualifizierung der Ehrenamtlichen •• Sicherstellung der ständigen Erreichbarkeit des ambulanten Hospizdienstes, auch unter Einbindung der Ehrenamtlichen.“
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Perspektiven von Forschung und Lehre
Eine gute Übersicht zu aktuellen Forschungsprojekten, Studien und Umfragen bieten der Deutsche Hospiz- und Palliativ-Verband und die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin auf ihren Internetportalen. Für die Zukunft besteht dringender Finanzierungs- und Handlungsbedarf, um die wertvolle Hospiz- und Palliativkultur stär-
Soziale Arbeit in Hospiz und Palliativversorgung
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ker als bislang in Alten- und Pflegeheimen und in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen zu etablieren. Viele Einrichtungen engagieren sich bereits nach besten Möglichkeiten, haben Arbeitsansätze und Konzepte entwickelt. Eine auskömmliche und angemessene Finanzierung durch die Sozialgesetzgebung fehlt bislang und ist dringend notwendig. Auch für die praxisorientierte Begleitforschung müssen finanzielle Ressourcen vom Gesetzgeber bereitgestellt werden. Zunehmende Aufmerksamkeit benötigen Menschen am Rande der Gesellschaft, die auf der Straße sterben. 2017 wurde in Graz/Österreich das erste stationäre Hospiz für obdachlose Menschen eröffnet. Auch Hospize und Hospizvereine in Deutschland sehen hier einen zunehmend hohen Versorgungsbedarf. Ebenso ist der Angehörigenforschung mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Seit 2017 gibt es in Hamburg die erste Stiftungsprofessur für Palliativmedizin mit Schwerpunkt Angehörigenforschung. Die Stiftungsprofessur Soziale Arbeit in Palliative Care in München setzt seit 2008 ein Zeichen für die Bedeutung Sozialer Arbeit. Es bleibt weiterhin eine vordringliche Aufgabe von Fachgremien und in der Hospizarbeit tätigen Sozialarbeiter/-innen die Soziale Arbeit als integralen Bestandteil hospizlich-palliativer Versorgungsangebote rechtlich und inhaltlich zu verankern. Einen wichtigen Beitrag zur Profilierung und übergreifenden Implementierung der Sozialen Arbeit leistet die Sektion Soziale Arbeit innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin e. V. Für die sozialarbeiterische Tätigkeit auf Palliativstationen, in ambulanten oder stationären Hospizen ist ein BA- oder Diplomstudium notwendig, das durch eine fachspezifische Weiterbildung (120 Stunden Palliative Care) ergänzt werden muss. Für hauptamtliche Koordinator/-innen sind nach § 39a SGB V zwei weitere Fortbildungen für Leitungskompetenz (80 Stunden) und Koordinationskompetenz (40 Stunden) erforderlich. Diese Fortbildungen werden häufig von Hospizakademien angeboten. Darüber hinaus bieten Masterstudiengänge in Deutschland, Österreich und der Schweiz für BA-Absolvent/-innen mit einschlägiger Berufserfahrung vielfältige Möglichkeiten sich für Leitungs-, Lehr- und Forschungstätigkeiten in diesem Berufsfeld zu qualifizieren. Es braucht Fachwissen, Haltungen und Methodenkompetenz, um in der Sorge kultur in einem Team von Haupt- und Ehrenamtlichen das Lebensende würdig zu gestalten: „Würde drückt sich darin aus, dass wir Selbständigkeit, Wahrhaftigkeit und echte Begegnungen zum Maßstab unseres Handelns machen“ (Bieri 2013). Professionalität Sozialer Arbeit zeigt sich darin, ihren eigenen ethischen Prinzipien gerecht zu werden und das Gespräch mit anderen Professionen, Ehrenamtlichen und Angehörigen zu suchen, um Leiden zu lindern und Lebensqualität bzw. Wohlergehen in den letzten Monaten, Wochen und Tagen zu fördern. „Sozialarbeiter_innen sollten die Menschen, die die Dienste nutzen, mit Mitgefühl, Einfühlungsvermögen und Achtsamkeit behandeln.“ (IFSW 2004, zit. n. DBSH 2014, S. 31)
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Verena Begemann und Mareike Fuchs
Ausgewählte Literatur Heller, Andreas, Sabine Pleschberger, Michaela Fink und Reimer Gronemeyer. Hrsg. 2013. Die Geschichte der Hospizbewegung. Ludwigsburg: der hospiz verlag. Student, Johann-Christoph, Albert Mühlum und Ute Student. 2016. Soziale Arbeit in Hospiz und Palliative Care. 3. Auflage. München: Reinhardt. Wasner, Maria, und Sabine Pankofer. Hrsg. 2014. Soziale Arbeit in Palliative Care. Ein Handbuch für Studium und Praxis. Stuttgart: Kohlhammer.
Soziale Arbeit in der pflegerischen Versorgung Roland Schmidt
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Vulnerabilität des hohen Alters
Pflegebedürftigkeit resultiert aus chronischer Krankheit und/oder Behinderung und stellt das zentrale Risiko des Vierten Lebensalters dar (vgl. Homfeldt sowie Falk und Zander i. d. B.). Die Vulnerabilität (Verletzlichkeit) steigt in dieser Lebensphase, die Resilienz (psychische Widerstandsfähigkeit) nimmt jedoch ab (Mayer et al. 1996, S. 613 f.; Kruse 2017a). Die Balance zwischen Bewältigungsmöglichkeit und Belastungserleben gerät dann häufig in eine Schieflage. Die Belastungen der von Pflegebedürftigkeit bedrohten oder betroffenen Menschen tangieren zudem nahe Bezugspersonen (v. a. Ehe- bzw. Lebenspartner/-innen, Töchter und Schwiegertöchter). Primäre (d. h. aus der Pflegebedürftigkeit resultierende) und sekundäre (d. h. aus der Sorgeverantwortung sich entwickelnde) Stressoren wirken im Pflegehaushalt destabilisierend. Vor allem dann, wenn sich häusliche Pflege über einen längeren Zeitraum hinweg erstreckt und psychiatrische (Ko-)Morbidität oder eine demenzielle Erkrankung vorliegt. Fachlich ist daher sowohl der Blick auf die Situation der jeweiligen Pflege bedürftigen als auch auf ihre soziale und räumliche Umwelt zu lenken. Bei hochaltrigen Menschen kommt es zu einer allmählichen Verminderung der funktionellen Organreserven. Im Laufe der Zeit stellen sich oft mehrere chroni sche Krankheiten und Behinderungen ein (Multimorbidität). Es ist u. U. ein fein ausbalanciertes gesundheitliches Gleichgewicht entstanden, das aber bereits durch kleine, scheinbar triviale Störungen in einer kaskadenförmigen Reaktion zum Zusammenbruch gelangen kann. Runge und Rehfeld (1995) definieren ‚geriatrische/n Patient/-innen‘ als behinderte oder pflegebedürftige oder von Behinderung und Pflegebedürftigkeit bedrohten Patient/-innen (zur Geriatrie vgl. Vogel i. d. B.). Alternsprozesse führen zu einer erhöhten Anfälligkeit für Krankheiten. Es handelt sich entweder um ‚altersassoziierte Erkrankungen‘ in Folge von Anfälligkeit oder Gefährdung für pathologische Prozesse oder um ‚altersassoziierte Veränderungen‘ als © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_17
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Roland Schmidt
Begleiterscheinungen des Alterns. Im Vordergrund des Diagnosespektrums stehen Krankheiten, die vor allem Mobilität und Selbstständigkeit beeinträchtigen. Zentrale Diagnosen sind Schlaganfälle, Erkrankungen des Bewegungsapparats, Gefäßerkrankungen, Diabetes mellitus und andere Stoffwechselerkrankungen. Veränderungen der funktionellen Gesundheit ziehen eine verminderte Fähigkeit zur Bewältigung der Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) nach sich. Von besonderer Bedeutung sind die Demenz, deren Prävalenz mit dem Alter steil ansteigt (65 bis 69 Jahre: 1,2 %, 85 bis 89 Jahre: 23,9 %, 90 Jahre und älter 34,6 % Erkrankte) und die Depression. Letztere bildet ein Kontinuum, das von „leichter Verstimmung“ bis hin zur „schweren depressiven Störung“ reicht (Wolfersdorf und Schüler 2007). Die Gesamtheit der Altersveränderungen lässt sich unter dem Begriff Fraility (Gebrechlichkeit) subsumieren. Vulnerabilität des hohen Alters stellt ein allgemeines Lebensrisiko dar, das mit fortschreitendem Alter exponentiell steigt. Soziale Unterschiede machen sich in diesem Kontext vornehmlich fest am materiellen Ressourcenspielraum und am Ausmaß sozialer Unterstützung durch primäre (private) Bezugspersonen. Allgemeines und berufsgruppenübergreifendes Ziel von Interventionen in der Pflege ist es, Menschen dahingehend zu unterstützen, dass sie trotz ggf. bleibender Beeinträchtigungen ein möglichst selbstwirksames, ihren subjektiven Präferenzen entsprechendes Leben führen können. Voraussetzungen hierfür stellen Wohlbefinden und Teilhabe in den Bereichen dar, die einem Menschen wichtig sind. Im hohen Alter ist soziale Differenzierung als Motor von Ungleichheit nicht vorrangig – sie markiert eher die Ausgangslage –, vielmehr beeinflusst der Gesundheitszustand maßgeblich die wahrgenommene Lebensqualität und gegebenen Teilhabemöglichkeiten (Mayer et al. 1996). Aber: Auftreten und Verläufe von Krankheiten im hohen Alter sind durch dia gnostische und therapeutische Verfahren sowie durch individuelle, gesellschaftliche und professionelle Kontextbedingungen beeinflussbar. Das heißt, das Krankheitspanorama kann modifiziert werden. Man geht bei physiologischen Alterungsprozessen von einer hohen Plastizität (Trainierbarkeit, Beeinflussbarkeit) aus (Wahl und Heyl 2015). Diese eröffnet die Chance, Degenerationserscheinungen durch entsprechende Verhaltens- und Lebensweisen hinauszuschieben. Zudem ist die Möglichkeit gegeben, die von den lebenslang kumulierten Expositionen ausgehenden Krankheitsrisiken im Alter zu vermindern. Solche Erkenntnisse legen es nahe, zukünftig gesundheitsfördernden Maßnahmen sowie Interventionen der medizinischen und nichtmedizinischen Prävention einen höheren Stellenwert gegenüber Kuration, Rehabilitation und Pflege einzuräumen. Geht man von der grundsätzlichen Plastizität der bedarfsgenerierenden Beeinträchtigungen aus, so wird auch deutlich, dass Erfolge im Gesundheitswesen zur Senkung des Pflegebedarfs führen können. Die entscheidenden Faktoren, die die Prävalenz pflegerelevanter Schädigungen bedingen, sind ‚Morbidität‘ und ‚Lebensalter‘ sowie das Ausmaß des Zusammenhan ges zwischen diesen. Das Risiko der Pflegebedürftigkeit tritt vorwiegend im hohen Alter auf. Gleichwohl ist hohes Alter nicht zwingend mit Pflegebedürftigkeit verbun-
Soziale Arbeit in der pflegerischen Versorgung
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den. Zudem gibt es Grund zu der Annahme, dass das Auftreten von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit für Teile der Altenbevölkerung zeitlich nach hinten verschoben werden kann (Kompression der Morbidität). Pflegebedürftigkeit hängt daher eher zusammen mit der verbleibenden Restlebenserwartung als mit dem kalendarischen Lebensalter. Dies könnte bei weiter steigender Lebenserwartung bedeuten, dass sich die altersspezifischen Pflegequoten in (noch) höhere Altersgruppen verschieben könnten. Die derzeitige Prävalenz von Pflegebedürftigkeit wird, davon ist auszugehen, nicht konstant bleiben (StaBuAmt 2015c, S. 35 f., vgl. auch Franzkowiak i. d. B.).
2
Ambulante und stationäre pflegerische Versorgung
Seit Einführung der Pflegestatistik des Bundes im Jahre 1999 lässt sich bis Ende 2015 ein kontinuierlich fortschreitender Trend erkennen. Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt allmählich: von 2,04 Millionen im Jahr 2001 (StaBuAmt 2001, S. 3) auf über 2,9 Millionen im Jahr 2015 und mehr als 3,4 Millionen Personen im Jahr 2017 (vgl. StaBuAmt 2018c, S. 8). Die Neufassung des Begriffs der Pflegebedürftigkeit im Pflege stärkungsgesetz II (PSG II) beeinflusst diese Zahl: Im Jahr 2017 stieg die Zahl der Leistungsempfänger/-innen gegenüber dem Vorjahr um deutlich mehr als 350 000 Personen an; davon sind 220 000 Personen mit Pflegebedarf auf die neue sozialrechtliche Definition zurückzuführen (vgl. ebd.). Mit dem PSG II wurde zum 01. 01. 2017 § 14 SGB XI neu gefasst. Pflegebedürftigkeit hat jetzt zur Voraussetzung, dass gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten vorliegen, die der Hilfe von anderen bedürfen. Bei Pflegebedürftigkeit muss es sich künftig um Personen handeln, die •• körperliche, kognitive oder psychische Beeinträchtigungen oder •• gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen nicht selbstständig kompensieren oder bewältigen können. Der Hilfebedarf muss zudem – wie bereits zuvor – mindestens sechs Monate bestehen. Pflegebedürftigkeit ist zudem alterskorreliert. In der Gruppe der 70- bis unter 75-Jährigen sind 5 % pflegebedürftig, in der Gruppe der Menschen ab 90 Jahren hingegen 66 %. Personen, die im Pflegeheim leben, sind älter und weisen höhere Pflegegrade auf als diejenigen, die zu Hause versorgt werden. Mit Blick auf die Entwicklung ambulanter Dienste lassen sich folgende Trends konstatieren (Pflegestatistik 2017): Die Zahl der zu Hause versorgten Pflegebedürftigen steigt weiter an (2015 rund 2,08 Millionen Personen oder 73 % aller Pflegebedürf tigen); gegenüber der Vorgängererhebung aus 2013 ist das ein Plus von 12,4 %. Die Zahl der ausschließlich durch Angehörige Versorgten (1,38 Millionen Personen) konzentriert sich vornehmlich auf geringere Grade der Pflegebedürftigkeit. Die Zahl der ambulanten Dienste (rund 13 300), die zusammen mit Angehörigen 692 000 Pflege-
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Roland Schmidt
bedürftige versorgen, ist seit Ende 2005 kontinuierlich gestiegen. Der Anteil privat gewerblicher Anbieter betrug 2015 65 %, der der frei-gemeinnützigen Anbieter 33 %. Öffentliche Anbieter sind zu vernachlässigen. Die Zahl der in ambulanten Diensten Beschäftigten nimmt vor allem in der Gruppe der Teilzeitbeschäftigten (rund 70 % aller Beschäftigten) zu. Als Leistungsart dominiert Grundpflege. Soziale Arbeit ist in ambulanten Diensten mit bundesweit rund 1 500 Beschäftigten nur marginal präsent (gegenüber 2013 ein Rückgang von knapp 6 %). Die Randständigkeit Sozialer Arbeit resultiert aus dem Umstand, dass ein Betreuungsbedarf – im Unterschied zur Tages-, Kurzzeit- und vollstationären Pflege – in der privaten Häuslichkeit bis 2017 nicht als Sachleistung zu Lasten der Pflegeversicherung abgerechnet werden konnte (vgl. auch Rixen i. d. B.). Für Ende 2015 wies die Pflegestatistik (StaBuAmt 2017f) rund 13 600 Heime aus; in ihnen lebten 929 000 Personen. Davon waren 857 000 Personen pflegebedürftig (gegenüber 2013 ein Plus von 2,5 %); von ihnen erhielten 759 000 Personen Dauerpflege, 24 000 Personen Kurzzeitpflege und 74 000 Personen Tagespflege. 55 % der Einrichtungen waren in Trägerschaft der Wohlfahrtsverbände, 39 % in privat-gewerblicher. Öffentliche Heime stellten mit 6 % ein kleines Segment dar. Knapp jedes fünfte Pflegeheim bot gleichzeitig Altenheimplätze oder Betreutes Wohnen an. Soziale Arbeit war mit rund 7 100 Personen in Pflegeheimen präsent (das sind geringfügig mehr Beschäftigte als 2009). Ein Heim mit Dauerpflege zählte im Mittel 63 Bewohner. Im Bundesdurchschnitt betrugt der durchschnittliche Pflegesatz in der (alten) Pflegestufe 3,82 € pro Tag. Hinzu kam für Unterkunft und Verpflegung ein Betrag in Höhe von 22 € pro Tag. Nimmt man die investiven Kosten hinzu, die ggf. von den Pflegebedürftigen oder ihren Angehörigen zusätzlich zu tragen sind, betrug in Pflegestufe 3 das monatlich zu entrichtende Entgelt hierzulande zwischen 2 479 € (in Sachsen-Anhalt) und 3 745 € (im Saarland). 94 % der Pflegeheime versorgten überwiegend ältere Menschen, nur 2 % hatten einen speziellen gerontopsychiatrischen Schwerpunkt, 2 % sind Heime für Menschen mit Behinderung und Pflegebedarf, ebenfalls 2 % versorgten Schwerkranke und Sterbende. Die Mehrzahl der Pflegeheime nimmt also Menschen mit unterschiedlichem Bedarf auf. Einrichtungen vollstationärer Pflege sind vorwiegend Wohnorte von betagten Frauen. Ihr Anteil betrug 2015 immer noch 71 %.
3
Versorgungsoptimierung in der häuslichen Pflege
Soziale Arbeit in der ambulanten Pflege hat, greift man auf sie zurück, die Aufgabe, im Zusammenwirken mit anderen Professionen die Versorgung von Privathaushalten im Falle komplexer Bedarfslagen zu optimieren: durch Flankierung des Pflege arrangements und durch Erschließung privater und öffentlicher Ressourcen mit dem Ziel, den Übergang in vollstationäre Pflege zu vermeiden bzw. hinauszuzögern.
Soziale Arbeit in der pflegerischen Versorgung
3.1
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Case Management
Zentral ist somit ein Case Management zur Herstellung von Versorgungskontinuität. Case Management in der ambulanten Pflege umfasst sechs Phasen in einem geregelten Ablaufprozess: Erkennen von Risikogruppen mit komplexem Bedarf, Durchführung eines Assessments, Planung der Versorgung, Beschaffung und Koordination von Dienstleistungen, Überwachung der Gesamtorganisation zur Sicherstellung opti maler Ergebnisse und Evaluation. Case Management kann – eine Folge der Komplexität des Zusammenspiels von Fallund Systemsteuerung – nicht monodisziplinär verortet werden. Debatten darüber, welche Profession (Pflegefachkräfte, Ärzt/-innen, Fachkräfte der Sozialen Arbeit) zur Übernahme dieser Funktion prädestiniert ist, greifen zu kurz. Case Management erfordert transdisziplinäres (vernetztes) Denken, d. h. die Integration unterschiedlicher fachlicher Perspektiven. Case Manager/-innen „erfüllen Aufgaben und Funktionen des Case Managements und nicht der „Herkunftsprofession“ (Wissert 2006, S. 36). Der Blick richtet sich auf die Klient/-innen in ihren jeweiligen Umweltbezügen, auf ihren Bedarf und ihre Versorgungspräferenzen. Er weitet sich gegenüber disziplinärer Selektivität. Kernkompetenz von Case Manager/-innen ist die individuelle Fallsteuerung auf der Grundlage gelingender Koproduktion mit dem Pflegebedürftigen/Pflegehaushalt. Case Manager/-innen benötigen nicht das spezifische Durchführungswissen, das die beauftragten und koordiniert tätigen Leistungserbringer repräsentieren. Sie stellen den Bedarf fest, identifizieren potenziell (evidenz- oder erfahrungsbasierte) wirksame Interventionen und stimmen diese mit den Klient/-innen und ihren Versorgungspräferenzen – oder im Falle kognitiver Einschränkungen: mit Betreuer/-innen oder Bevollmächtigten – ab. Weiterhin übernehmen sie die Koordination aller sozialen und pflegerischen Leistungen im Gesamtbereich des Versorgungskontinuums (detailliert Wendt i. d. B.). 3.2
Versorgungsintegration
Beschaffung und Koordination von sozialen Dienstleistungen haben eine angemessene lokale Versorgungsstruktur zur Voraussetzung. Örtliche Versorgungsdefizite können mittels Case Management zwar transparent gemacht, nicht jedoch kompensiert werden. Care Management zielt demgegenüber ab auf eine problem- bzw. bedarfsbezogene Optimierung von ‚Versorgungsstrukturen‘, die Risiken der Unter-, Überoder Fehlversorgung bergen. Case Management und Care Management – also die Steuerung des Falls und die Steuerung des Versorgungssystems – sind eng verwoben. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Case Management war von Beginn an darauf angelegt, einen Versorgungszusammenhang mittels Integration von Diensten herzustellen und zu sichern (Wendt 2005; ausführlich Monzer 2013). Maßnahmen
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Roland Schmidt
zur Optimierung der Versorgung zielen auf zwei Problembereiche: Zum einen bestehen situative Anforderungen an ein angemessenes Zusammenwirken ärztlicher, therapeutischer, pflegerischer und sozialarbeiterischer Instanzen, die bei der Bewältigung von Schädigungen und ihren Folgen im Einzelfall involviert sind. Ziel ist es, die in einem Haushalt bedarfsnotwendigen, oftmals unverbundenen Hilfen mittels systematisierter Kommunikation zu organisieren. Zum anderen wirken Abstimmungsprobleme negativ bei institutionellen Übergängen im Laufe einer ‚Patientenkarriere‘. Kommunikationserfordernisse umfassen hier sowohl die Vermeidung von Brüchen beim Wechsel von Sektoren (z. B. Krankenhaus – Rehabilitationseinrichtung) und Systemen (Gesundheitswesen – Pflege) als auch die Motivierung der Mitwirkungsbereitschaft der Patient/-innen über die Zeit hinweg. Ziel ist hier die Verbesserung der Kommunikation zwischen nacheinander tätig werdenden Instanzen in der Versorgungskette und gegenüber den Patient/-innen (z. B. im Rahmen von Entlassmanagement). 3.3
Beratung in der Pflege
Die leistungsrechtlichen Bestimmungen des SGB XI wurden durch die Pflegestärkungsgesetze I – III von Grund auf neu gefasst. Dies betrifft in erster Linie die häusliche Pflege. Es ist explizit das Ziel des Gesetzgebers, die „Individualisierung der Pflege“ zu forcieren. Drei Elemente sind – ohne Details hier auszubreiten – insbesondere von Gewicht: die weitere Stärkung des Grundsatzes „ambulant vor stationär“, die Erweiterung des Leistungskatalogs der ambulanten Pflege um „pflegerische Betreuung“ und die Schaffung von Budgets für bestimmte Kombinationen von Leistungsarten, die die Pflege zu Hause erleichtern sollen. Zentral dabei ist: Der pflegebedürftige Mensch bzw. der Pflegehaushalt entscheidet über die Gestaltung des präferierten Pflegearrangements. Er entscheidet, welche Leistungsarten in ggf. welcher Mischung bezogen werden sollen: „Grundpflege“, „hauswirtschaftliche Versorgung“ und „pflegerische Betreuung“ (zu Details vgl. Arend und Schmidt 2016). Voraussetzung, damit die intendierte Individualisierung der Pflege realisierbar wird, ist, dass die Beratung von Pflegebedürftigen bzw. ihrer privaten Caregiver qualifiziert geleistet wird. Dies betrifft neben der Beratungskompetenz, die u. a. eine gendersensible Haltung voraussetzt (vgl. dazu Teubner et al. 2016), auch pflegefachliche und leistungsrechtliche Expertise. Und zwar auf der Grundlage einer Beratungshaltung, wie sie hierzulande unter dem Begriff ‚partizipative Entscheidungsfindung‘ (Shared Decision Making) in der ‚Chronikermedizin‘ beschrieben wird: Der Nutzwert einer pflegerischen Dienstleistung stellt eine Funktion aus erfahrungs- und wissensbasierter Intervention sowie gegebener Akzeptanz/Mitwirkung durch die Betroffenen dar. Beratung im Prozess der Entscheidungsfindung über einen Pflege-Mix ist darauf ausgerichtet, Pflegehaushalten die fallbezogen gegebenen Versorgungsoptionen mit Blick auf den Bedarf darzulegen, damit die Betroffenen bzw. Haushalte in
Soziale Arbeit in der pflegerischen Versorgung
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der Lage sind, abwägend und kundig zu entscheiden, welche Variante sie angesichts ihrer Lebenssituation und ihrer Präferenzen bevorzugen (vgl. auch Rubin sowie Rixen i. d. B.).
4
Bedarfsgruppen in der Betreuung im Pflegeheim
Zentrale Bedarfsgruppen sind in der Langzeitpflege ‚Menschen mit Demenz‘ (ca. 60 % der Bewohner), ‚Menschen mit krankheitswertiger depressiver Verstimmung‘ (ca. 25 bis 40 % der Bewohner, z. T. als Komorbidität der Demenz) und ‚sterbende Menschen‘ (das sind irgendwann nahezu alle Heimbewohner). Demenz ist ein irreversibel fortschreitender hirnorganischer Abbauprozess (Alzheimer Demenz) oder ein Prozess, der durch Hirnschläge ausgelöst wird (vaskuläre Demenz). Diese Schädigungen bewirken Fähigkeitsstörungen wie Gedächtnis-/ Orientierungsstörung (Amnesie), Sprachstörung (Aphasie), die Unfähigkeit, gelernte Handfertigkeiten auszuführen (Apraxie) oder die Unfähigkeit, Dinge zu erkennen (Agnosie). Menschen im hohen Alter und bei chronischer Krankheit bilden häufig eine depressive Verstimmung aus. Diese ‚maskiert‘ sich im Gegensatz zur Depression im jüngeren und mittleren Alter hinter einer gesundheitlichen ‚Klagefassade‘. Es handelt sich bei betagten Menschen seltener um die ‚harte‘ Major Depression, sondern öfter um eine depressive Verstimmung. Wird diese nicht erkannt und behandelt, droht ein sich chronifizierender Verlauf. Für sterbende Menschen ist Schmerzfreiheit fundamental. Auf dieser Basis setzt die Sterbebegleitung durch primäre Bezugspersonen quasi auf. Bezugspersonen können Angehörige oder Freunde sein, mitunter aber gibt es sie nicht bzw. sie stehen vor Ort nicht zur Verfügung. Eine Begleitung Sterbender impliziert in solchen Fällen, dass entweder ein ehrenamtlicher Besuchsdienst dem Heim zur Verfügung steht oder eine Kooperation mit einem ambulanten Hospizdienst geschlossen wurde. Voraussetzung ist, dass die Institution Pflegeheim das Thema Sterben nicht tabuisiert, sondern es angemessen im Rahmen einer Abschiedskultur intern und extern kommuniziert. Weitere Bedarfsgruppen sind u. a. immobile, bettlägerige Bewohner/-innen, in manchen Heimen Wachkoma-Patienten und (jüngere) Menschen mit Multipler Sklerose oder alt gewordene Alkoholkranke. Das Aufgabenprofil von Pflegeheimen ist dementsprechend komplex. Man kann das an der Ausrichtung von Interventionen ablesen: (1) Menschen mit Demenz benötigen eine räumliche und soziale Umwelt, die so organisiert ist, dass erkrankte Bewohner/-innen möglichst stressfrei ihre Krankheit leben können. Man versucht, durch ‚demenzspezifische Normalität‘ und ‚Stetigkeit‘ ein entsprechendes Setting herzustellen (kontextbezogene Intervention). (2) Bei Menschen mit krankheitswertiger depressiver Verstimmung ist deren Erkennen durch Fachkräfte zentral (bei Nutzung eingeführter Screening- und Assessment-Instrumente). Nur so kann der Verdacht mit behandelnden Ärzt/-innen kommuniziert werden, um eine pharmakologische und soziale Intervention (inkl. Angehörigenedukation) einzuleiten (personenbezo-
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Roland Schmidt
gene Intervention). (3) Für sterbende Menschen ist die Beobachtung, ob Schmerzen vorliegen, essenziell (bei Demenzkranken aber erschwert). Es besteht das Erfordernis, disziplinübergreifend (inkl. behandelnder Ärzt/-innen) zu intervenieren. Sterbebegleitungen des Individuums schließt das Vorhandensein einer Abschiedskultur auf der Organisationsebene ein (personenbezogene und kontextbezogene Intervention).
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Soziale Arbeit als Option
Pflege kann als Profession oder als Feld gefasst werden. Letzteres Verständnis impliziert ein systematisches, auf individuellem Bedarf und persönlichen Versorgungspräferenzen basierendes Handeln mehrerer Disziplinen. Soziale Pflegeversicherung und Landesheimgesetze geben nicht vor, welche Professionen oder Berufe in einem Dienst oder in einer Einrichtung tätig sein müssen. Ob Träger von Diensten und Einrichtungen auf Soziale Arbeit zurückgreifen, liegt somit weitgehend in deren Ermessen. Soziale Arbeit stellt daher eine Option dar. Dies bedeutet zugleich auch, dass sich nach Einführung des SGB XI bundesweit kein übergreifendes Aufgabenprofil von Sozialer Arbeit in der ambulanten oder stationären Pflege herauskristallisiert hat (detailliert vgl. Aner in Kap. I.1 i. d. B.). Welche Karriere Soziale Arbeit im Feld Pflege morgen durchlaufen kann, hängt entscheidend davon ab, wie angesichts des bereits akuten Fachkräftemangels in Pflegeberufen künftig der Personal-Mix in ambulanten Diensten und Pflegeheimen aussehen kann. Man wird angesichts steigenden Bedarfs nach pflegerischen Hilfen genau festlegen müssen, welche Berufsgruppen und Disziplinen welche Hilfe leisten können und welche Kompetenzen für welche Funktionen unabdingbar sind. Die Dynamik der Entwicklung zeigt sich u. a. anhand der zahlreichen aktuellen Fachpublikationen zu zielgruppenspezifischen Bedarfslagen und Angeboten (vgl. z. B. Kricheldorff und Brijoux 2016; Englert et al. 2018).
Ausgewählte Literatur Kruse, Andreas. 2017. Lebensphase hohes Alter. Verletzlichkeit und Reife. Berlin: Springer. Monzer, Michael. 2013. Case Management Grundlagen. Heidelberg: medhochzwei. Ross, Frisco, Mario Rund und Jan Steinhaußen. Hrsg. 2018. Alternde Gesellschaften gerecht gestalten – Stichwörter für die partizipative Praxis. Opladen u. a.: Barbara Budrich.
Kapitel 3 Besonderheiten der Sozialen Arbeit mit älteren und alten Menschen
Generationenbeziehungen in der Sozialen Beratung älterer Menschen Kirsten Aner
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Soziale Beratung und Beratungsbeziehung
Beratung ist als zentrale Handlungsmethode integraler Bestandteil Sozialer Arbeit. Sie wird in den verschiedensten Handlungsfeldern, in eigenen Arbeitssettings, aber auch in nicht derart formalisierten Arbeitssituationen mit unterschiedlichen Zielen und in vielfältigen Formen praktiziert (vgl. Thiersch 2004). Professionelle Beratung durch Sozialarbeiter/-innen und Sozialpädagog/-innen findet insbesondere in einem rechtlich fixierten „Beratungs-Kernbereich“ (Sickendiek et al. 2002, S. 33) statt. Sie ist zunächst in § 14 SGB I geregelt, nach dem jede/r einen Anspruch darauf hat, bei der Verwirklichung ihrer/seiner Rechte nach diesem Gesetzbuch beraterisch unterstützt zu werden. Zuständig dafür sind die Leistungsträger der jeweiligen Rechte. Konkrete Problemfelder sind zum Teil in weiteren Sozialgesetzbüchern geregelt. Die Themen, zu denen im Kontext von Sozialversorgung und Fürsorge beraten wird, beziehen sich auf Inhalte wie Armut, Wohnungslosigkeit, Beantragung von Sozialleistungen und Erziehung oder auf Gruppen von Menschen, mit deren Lebenslagen häufig kumulative Belastungen einhergehen, wie Frauen, Gewaltopfer, Jugendliche, Migrant/-innen, Suchtkranke – und eben auch alte Menschen, für die Beratung nach § 71 SGB XII von besonderer Bedeutung ist (vgl. Hammerschmidt und Löffler sowie Aner in Kap. I.3 i. d. B.). Wegen der diversifizierten Trägerstrukturen der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege, der Entscheidungsfreiheit der einzelnen Anbieter im Rahmen der vom Träger vorgegebenen grundsätzlichen Ausrichtung und der Existenz eines „sich ausweitenden offenen Beratungsfeldes“ (ebd., S. 34) ist eine große Vielfalt an konzeptionellen Orientierungen und methodischer Umsetzung derselben zu verzeichnen. Der Diskurs über die Professionalisierung von Beratung war lange Zeit nicht zuletzt ein disziplinärer Diskurs über die Abgrenzung zwischen sozialer, sozialpädago gischer und psychosozialer Beratung (vgl. Nestmann 1997; Ansen 2006; Gröning © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_18
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Kirsten Aner
2006; Peters 2006; Wendt 2007). Hier wird im Folgenden von ‚Sozialer Beratung‘ die Rede sein, die zweidimensional konturiert ist: Sie weist eine soziale sowie eine päd agogische Dimension auf, wobei die soziale Dimension auf die Themen, die pädagogische auf die Vermittlung von Kompetenzen zielt. Dabei ist die psychosoziale Perspektive Teil der sozialen Dimension. Die Intention sozialer Beratung ist gleichwohl nicht die Reorganisation innerpsychischer Prozesse, sondern die Initiierung und Begleitung von Lernprozessen, deren Gelingen die Adressat/-innen (wieder) in die Lage versetzt, individuelle Konkretionen von sozial typischen Problemsituationen selbstständig zu bewältigen (vgl. auch Dewe und Winterling 2016). Ihre spezifische Leistung besteht darin, „zur problembezogenen Erweiterung des Horizonts an Deutungsmöglichkeiten beizutragen, auf dessen Hintergrund der Klient selbst seine Situation interpretiert und Handlungsalternativen entwirft“ (Dewe und Scherr 1990, S. 493).
Sozialarbeiterische und sozialpädagogische Expertise und „stellvertretende Deutungen“ (ebd.) werden also eingesetzt, um die Entscheidungssituationen zu strukturieren, die externen und individuellen Ressourcen zu ihrer Lösung zu klären und alternative Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. In solchen Hilfe- und Beratungsprozessen muss eine sinnvolle Balance zwischen Sach- und Beziehungsarbeit hergestellt werden, wobei die Qualität der Beziehung nicht zuletzt von einer sachlich erfolgreichen Beratung abhängig sein wird (Ansen 2006, S. 16). Veränderungen bei den Adressat/-innen kommen zudem nur dann in Gang, wenn sie sich mit den Sozialpädagog/-innen oder zumindest mit den angebotenen Lösungen „identifizieren“ können (vgl. Hamburger 2003, S. 181 ff.). Die notwen dige Identifikation bedingt auch ein „Sich Einlassen“ der Berater/-innen, sodass in der Beratungsinteraktion bei den Fachkräften stets funktionale Rollenaspekte und Aspekte einer menschlichen Begegnung zum Tragen kommen (vgl. Böhnisch 2001, S. 288). Deshalb muss die Person der jeweiligen Berater/-in als eine der wesentlichen Komponenten der Beratung angesehen werden und die Beratungsbeziehung als eine eigene „Hilfequelle“ (Müller 2002a). Wie zeitlich und inhaltlich eingeschränkt das Arbeitsbündnis je nach Feld und Fall auch sein mag, es beinhaltet zwischen den Berater/-innen und Nutzer/-innen des Angebots immer eine Beziehung. Diese stellt im Falle einer entsprechenden Differenz der Lebensalter zugleich eine Generationen beziehung dar.
2
Beratungsbeziehungen als Generationenbeziehungen
Die Zugehörigkeit zu einer Generation lässt sich aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Die sozialpolitische Perspektive definiert Generationen als „Wohlfahrtsgenerationen“, fokussiert also das Austauschverhältnis der Altersgruppen über sozial
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staatliche Finanzierungsströme (Kaufmann 1993). Soziologisch betrachtet kommen über die außerfamilialen, institutionell vermittelten Generationenverhältnisse auf der Makroebene hinaus die damit einhergehenden Generationengestalten (Mannheim 1964 [1928]) und Altersdiskurse (Göckenjan 2000) sowie die informellen außer- und innerfamilialen Generationenbeziehungen auf der Mikroebene in den Blick. Psychologisch wird die Generationenzugehörigkeit über Entwicklungsaufgaben bestimmt (Kohli 1991). Sozialpsychologisch ist sie durch moralische Gefühle gekennzeichnet (Brumlik 2000), sozialpädagogisch durch die Differenzierung zwischen erziehender und erzogener Generation (Schleiermacher 2008 [1820/1821]). Generationenverhältnisse und -beziehungen sind in jüngerer Zeit einer beschleunigten Dynamik sich in einem Kaleidoskop von theoretischen und empirischen Befunden widerspiegelt. Einige dieser Befunde interessieren hier besonders: Einerseits führt die Entstandardisierung von Lebensläufen in der sog. Wissensgesellschaft zu einer „Relativierung der Lebensalter“ (Böhnisch und Blanc 1989) und die Herausbildung einer familiären ‚Verhandlungskultur‘ sowie die öffentliche Infragestellung des sog. Generationenvertrags legen eine schwindende „Gratiskraft“ (Ziehe 1991) des tradierten Autoritätsverhältnisses zwischen den Generationen nahe. Andererseits bleiben auf der Ebene überpersonaler Generationenverhältnisse Machtasymmetrien bestehen, die auf personale Generationenbeziehungen wirken. Nach wie vor setzen sich die mittlere und ältere Generation in ein praktisches Verhältnis zur jüngeren, wenn sie über Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik, Stadtplanung etc. Rahmenbedingungen schaffen, auf die die Jüngeren erst sehr viel später Einfluss nehmen können (zur politischen Dimension des Diskurses über die überpersonalen Generationenverhältnisse vgl. auch Aner 2004). Zugleich sind die Generationen uneinheitlicher denn je, weil Lebensalter und Generationenbeziehungen in verschiedenen Kulturen unterschiedlich bestimmt werden (vgl. dazu u. a. Borscheid 1989; Elwert et al. 1990; Alber 2009; Trommsdorff und Albert 2009; Hahn 2011; vgl. auch die Beiträge in Baykara-Krumme et al. 2016). Es ließe sich also formulieren, dass wir nicht nur in einer multikultu rellen, sondern auch in einer multigenerationellen Gesellschaft leben. Doch trotz aller Gruppenbildungen innerhalb von Generationen, egal wie sich die individuelle Erfahrungsaufschichtung vollzieht, bildet die sozialhistorische Gene rationenzugehörigkeit das Fundament jeder Biografie. Winkler (1998, S. 137) leitet aus diesem „biologisch vermittelte[n] Unterschied in den Weltzugängen“ eine „irreduzible Fremdheit“ zwischen den Generationen ab. Neben der Lebenslage konsti tuiert das Vergehen von Lebenszeit den subjektiven Bedeutungshorizont (noch) möglicher Erfahrungen. Der Rahmen für die Soziale Beratung älterer Klient/-innen durch junge Berater/-innen oder auch Berater/-innen, die selbst schon die Lebensmitte überschritten haben, ist also grundsätzlich von Unbestimmtheit, Ambivalenzen und Fremdheit gekennzeichnet. Untrennbar mit der Generationenzugehörigkeit verbunden ist das Lebensalter. Es lässt sich zu den horizontalen Strukturkategorien zählen, die die vertikalen Ungleichheitskategorien überformen. Es kann zugleich – ähnlich wie etwa das Geschlecht –
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als eine der zentralen Dimensionen angesehen werden, an denen Menschen sich im Zusammenleben orientieren. Ähnlich wie ein doing gender lässt sich ein doing age als beständige gesellschaftliche wie auch individuelle Aushandlung von Rollenzuschreibungen und -übernahmen beobachten – mit der Folge, „dass sich die Akteure im Alltag ihr Alter durch signifikante Symbole wechselseitig anzeigen“ (Schroeter 2008, S. 250).
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Age troubles in der Sozialen Beratung
Gemessen an der eben knapp begründeten Bedeutung der gegenseitigen Zuordnung zu einer Generation und einem Lebensalter und dem damit einhergehenden Potenzial an Unsicherheit wird Beratung selten aus dieser Perspektive betrachtet. Einige Monografien zur Beratung älterer Menschen liefern Hinweise auf die Bedeutung des Themas. Oft finden sich eher allgemeine Ausführungen zur Spezifik der älteren Klient/-innen und ihrer Beratungsanlässe, während die Generationenbeziehungen zu den professionellen Berater/-innen ausgeblendet bleiben (vgl. Vogt 2001; vgl. auch die Beiträge zur „Beratung im späten Erwachsenenalter“ in Giesecke und Nittel 2016) oder nur angedeutet werden (vgl. Brückner et al. 2006; Friedrich-Hett 2007). Ergiebiger ist eine ältere empirische Studie von Radebold et al. (1973). Sie basiert auf Modellseminaren mit Sozialarbeiter/-innen und auf Fällen aus ihrer alltäglichen Praxis in Sozialämtern. Die Konstellation jüngere/-r Sozialarbeiter/-in – ältere Klient/-in wird als Ursache „irregulärer Übertragungen“ ausgemacht. Die irreguläre Übertragungssituation wird zum einen aus der Sicht der älteren Klient/-innen betrachtet, die sich unbewusst in die Rolle eines Elternteils versetzt fühlen und vor diesem Hintergrund zu Skepsis gegenüber den Kompetenzen der jüngeren Sozialarbeiter/-innen neigen könnten, die evtl. „geziemend respektvoll“ behandelt werden oder auch die Fachkraft „bemuttern“ und/oder beschenken wollen würden (ebd., S. 79 f.). Die möglichen Reaktionsweisen der jüngeren Sozialarbeiter/-innen werden in Abhängigkeit von der zurückliegenden persönlichen Entwicklung geschildert. Außerdem werden Ergebnisse des Projekts dargestellt, die sich auf die Interaktion älterer Sozialarbeiter/-innen mit alten Klient/-innen beziehen. Ihnen werden die größeren therapeutischen Chancen unterstellt, sofern sie das eigene Älterwerden gut in ihr Leben integrieren konnten und können. Anderenfalls bestünde die Gefahr, dass die Sozialarbeiter/-innen „unbewusst zu gerne eigene gewünschte Problemlösungen anbieten“ (ebd., S. 81). Peters (2006) thematisiert basierend auf Erfahrungen aus eigener Praxis insbe sondere die Situation älterer Klient/-innen, die psychosoziale Beratung in Anspruch nehmen. Auffallend seien „die Ungleichzeitigkeiten, Spannungen und Konflikte […], in deren Rahmen sich der ältere Mensch seiner Identität vergewissern muss“ (ebd., S. 10). Darüber hinaus würde die Beziehung zwischen älteren Ratsuchenden
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und Fachkräften in ihrer grundlegenden Bedeutung, chronologisch entlang der Phasen des Beratungsprozesses und als Besonderheit beschrieben. Für einen gelingenden Dialog sei in jeder Konstellation eine „Passung“ notwendig. Begegnen ältere Ratsuchende jedoch einer deutlich jüngeren Fachkraft, entsteht eine „initiale NichtPassung“, die durch Barrieren emotionaler, kommunikativer, entwicklungsbezogener, generationenbezogener und soziologischer Art zu begründen ist (ebd., S. 97 ff.). Doch auch in einer gelingenden Beziehung sei die unbewusste Beziehungsdynamik zu berücksichtigen, deren Elemente ‚Übertragung – Gegenübertragung – Eigenübertragung‘ in der Konstellation ‚jüngere Berater/-innen oder Therapeut/-innen – ältere Klient/innen‘ einer besonderen Ausprägung unterliegen (ebd., S. 111 ff.). Dabei stehe Eigenübertragung für die nicht aus Übertragung/Gegenübertragung resultierenden Gefühle, Phantasien und Verhaltenstendenzen, die mit der Geschichte der Fachkräfte selbst zu tun haben – hierunter fielen z. B. die Auseinandersetzung mit dem eigenen Älterwerden, aber auch inkorporierte gesellschaftliche Bilder vom Alter. Die Übertragung in der Beratung oder Therapie älterer Klient/-innen durch jüngere Fachkräfte entspreche nun nicht der regelhaften Konstellation, in der jüngere Klient/-innen die Möglichkeit haben, Mutter- oder Vaterbilder zu aktivieren und auf ihr älteres Gegenüber zu übertragen. Vielmehr kehre die Situation sich gewissermaßen um, die Fachkräfte fänden sich in der Rolle des Sohnes oder der Tochter wieder. Im Laufe der Beziehung setze sich auch die regelhafte Übertragung wieder durch, nach der die Fachkräfte unabhängig vom Alter in die Elternrolle rücken, jedoch bestünde die umgekehrte Übertragung fort. Aus dieser Gleichzeitigkeit resultiere für beide Seiten eine zumindest komplexere Situation, in der Berater/-innen oder Therapeut/-innen unter anderem dazu neigen, eigene Bilder vom Alter, eigene Wünsche und Befürchtungen auf die ratsuchenden Älteren zu übertragen. Während die Befunde von Radebold (1973) und Peters (2006, vgl. auch Peters 2011) psychoanalytisch grundiert sind, basierte eine eigene Studie (Aner 2010) zum professionellen Handeln in der Sozialen Beratung (anhand von Interviews mit Fachkräften, die über einen Hochschulabschluss in Sozialpädagogik und/oder Sozialarbeit verfügen und in Beratungsstellen beschäftigt sind, deren Klientel altersgemischt ist) auf einem anderen Konzept. Ausgehend von der Alltäglichkeit des doing age konnte gezeigt werden, wie Irritationen entstehen. Sie können – in Anlehnung an Butler (1991) und Haller (2004, 2005) – als Age Troubles bezeichnet werden. Sichtbar wurden auch die (mehr oder weniger professionellen) Lösungen. Jüngere Berater/-innen werden offensichtlich insbesondere mit einer ‚Verkehrung‘ von Generationenbeziehungen konfrontiert, ältere mit dem eigenen Altern. Bei beiden Altersgruppen von Fachkräften schlägt sich eine gesellschaftlich aktualisierte Altersnorm des aktiven Alter(n)s sowohl in den Deutungen des eigenen Älterwerdens als auch in den Deutungen nieder, die für Interventionsziele maßgeblich sind. Unabhängig vom Lebensalter waren bei den Interviewten typische Deutungsmuster von Alter in der Beratung zu identifizieren. Ein Typus ließ sich als „De-Thematisierung des Alters“ bezeichnen, ein zweiter als „Pragmatische Berücksichtigung des Alters“ und bei einem dritten wur-
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den „Generationenbeziehungen als Bestandteil beruflichen Rollenhandelns“ genutzt. Über diese Typologie hinweg waren zwei Phänomene deutlich als „wiederkehrende Figuren“ zu identifizieren: die Konstruktion einer Differenz zwischen dem „eigenen positiven“ und dem „fremden negativen“ Altern sowie das Phänomen, dass ‚Generation‘ als strukturierende Kategorie in den Beratungen benutzt wird (vgl. Aner 2010, S. 65 – 142).
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Soziale Beratung Älterer aus der Perspektive Sozialer Arbeit
Die Generationenbeziehungen in der Beratungssituation lassen sich zusätzlich vor dem Hintergrund zweier Kennzeichen der sog. sozialpädagogischen Arbeitsbündnisse (vgl. u. a. Müller 2002b) betrachten: (1) der Asymmetrie der Beziehungen in einigen Phasen der Beratungssituationen, die Bestandteil von Hilfeprozessen sind, sowie (2) der Tatsache, dass in der sozialpädagogischen Interaktion stets funktionale Rollenaspekte und Aspekte einer menschlichen Begegnung eine Rolle spielen. Außerdem sollte (3) die verstärkte Ökonomisierung sozialer Dienstleistungen berücksichtigt werden, in deren Folge der Legitimationsdruck auf die Soziale Arbeit erheblich stieg und die ‚Produktivität‘ sowohl der Adressat/-innen als auch der Fachkräfte in den Fokus der Aufmerksamkeit geriet. Im Folgenden werden diese nur analytisch zu trennenden Prämissen auf ihre möglichen Folgen für verschiedene Konstellationen des Zusammentreffens von Generationen in der Beratung geprüft, wobei die Situation der Fachkräfte fokussiert und die Adressatenseite vernachlässigt wird. 4.1
Junge Berater/-innen – ältere Klient/-innen und die Asymmetrie der Beratungsbeziehung
Insbesondere bei Fachkräften in der ersten Lebenshälfte, die also bis zu zwei Generationen jünger sind als die älteren Adressat/-innen, sind Verunsicherungen naheliegend, denn in solchen Arbeitsbündnissen sind die asymmetrischen Beziehungen zwischen den Beteiligten (vgl. Dewe und Scherr 1990) im Vergleich mit den Erziehungsprozessen, in denen die ältere Generation die jüngere erzieht, weniger deutlich: Die Asymmetrie der sozialpädagogischen Beziehung zwischen ‚erziehender‘ älterer und ‚erzogener‘ jüngerer Generation wird dadurch gefestigt, dass die beteiligten Fachkräfte ihren Klient/-innen in Lebenserfahrung, häufig auch in ihrer sozialen und materiellen Stellung deutlich voraus sind. Im Gegensatz dazu trifft in der Beratung deutlich älterer Klient/-innen der formale Expertenstatus der jüngeren Berater/-innen auf deren längere Lebenserfahrung und ein zwar vielfach gebrochenes, gleichwohl noch existentes Senioritätsprinzip westlicher Kulturen, nachdem mit dem Vorrücken in der Geburten- und/oder Generationenfolge grundsätzlich ein Zuwachs an Macht einhergeht. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die
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abnehmende Eindeutigkeit von Generationendifferenzen in den vergangenen Jahrzehnten gleichzeitig zur vollständigen Auflösung der hierarchischen Bilder von jüngerer und älterer Generation führte. Dazu kommt, dass sich die situative Verkehrung von vermittelnder und aneignender Rolle vor dem Hintergrund eigener Erziehungserfahrungen der Fachkräfte vollzieht, die zumindest im frühen Kindesalter durch die binäre Struktur ‚unmündig vs. mündig‘ bzw. ‚unwissend vs. wissend‘, also durch eine deutliche generative Abhängigkeit geprägt war. Angesichts der wachsenden Schwie rigkeiten, in postmodernen Gesellschaften mit ihren partiellen, insbesondere ökonomischen Verspätungen der Mündigkeit das „Ende der Erziehung“ zu bestimmen (Liebau 1997, S. 33), wäre im Einzelfall zu prüfen, ob und inwieweit diese Abhängigkeit in der Biografie insbesondere der jungen Fachkräfte gelöst wurde. Die Umkehrung oder zumindest Aufweichung der Machtdifferenz in der Beratungssituation können Sozialarbeiter/-innen und Sozialpädagog/-innen zwar durch Expertenwissen, nicht jedoch – wie etwa junge Mediziner/-innen oder Jurist/-innen – durch die Zugehörigkeit zu einer statusträchtigen Berufsgruppe kompensieren. Unter diesen Rahmenbedingungen wollen und müssen die jungen Fachkräfte den Adressat/-innen Lösungen anbieten, mit denen sie sich ‚identifizieren‘ können. Jedoch steht eigenes Erfahrungswissen als Referenzfolie nur begrenzt zur Verfügung. Während Erfahrungen der Ratsuchenden mit anderen Themen wie Kindererziehung, Drogengebrauch, Erwerbsbeteiligung oder Nichtbeteiligung am Arbeitsmarkt auf die eine oder andere Weise mit eigenen Lebenserfahrungen zumindest abgeglichen werden können, steht Vergleichbares für das Altern nicht (und bei den älteren Sozialarbeiter/-innen nicht unbedingt professionell reflektiert; vgl. Aner 2010, S. 16) zur Verfügung. Mithin dürften in dieser Konstellation die Möglichkeiten der Fachkräfte, „durch Präsentation und Repräsentation eigener Lebensentwürfe und -formen Präferenzmodelle und insofern Wertvorstellungen anzubieten“ (Winkler 1998, S. 128), erheblich eingeschränkt sein. Außerdem lässt sich im jungen Erwachsenenalter allenfalls erahnen, wie neben der Lebenslage das Vergehen von Lebenszeit den subjektiven Bedeutungshorizont (noch) möglicher Erfahrungen konstituiert. Insgesamt bleibt die Situation, in der eine „pädagogische Umkehrung des soziologischen Generationenverhältnisses“ (ebd., S. 32) erfolgt, zumindest normativ unbestimmt, wenn nicht ambivalent. 4.2
Ältere Berater/-innen – ältere Klient/-innen und die Konfrontation mit den Verlusten des Alters
In der sozialen Beratung älterer Menschen durch Fachkräfte, die wie ein Teil ihrer ratsuchenden Klient/-innen auch in der zweiten Lebenshälfte sind, also selbst schon deutlich altern, könnten besondere Herausforderungen daraus resultieren, dass die Begegnung mit denjenigen, denen geholfen wird, immer auch eine Selbstbegegnung ist. Je nach Handlungsfeld und -situation unterschiedlich gewichtet, lassen sich in Hilfeprozessen gleichzeitig beruflich fachliche Elemente (Sozialarbeiterrolle) und
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„Betroffenheit, Berührtsein und Aufgefordertsein in einer sinnlich-emotionalen Beziehung“ (Sozialarbeitersein) identifizieren (Böhnisch 2001, S. 288). Erfahren die Fachkräfte die „kränkenden Mühen, alt zu werden“ (Thiersch 2002) bei ihrer Klientel, werden sie zugleich mit den unausweichlichen Verlusten des eigenen Alterns konfrontiert. Eine vermeidende Reaktion liegt immer dann nahe, wenn solche Verluste Beratungsinhalt sind, die auch die Fachkräfte mit einiger Wahrscheinlichkeit treffen werden oder sogar unhintergehbar sind. Verschärft wird diese Situation noch dadurch, dass in einer Gesellschaft, die nicht unwesentlich von einem medial unterstützten Leistungs-, Jugend- und Schönheitswahn gekennzeichnet ist, auch Sozialarbeiter/-innen und Sozialpädagog/-innen nicht frei von diesen (Selbst-)Bildern sind. Zu berücksichtigen ist außerdem, dass in der in die Alltagswelt eingelassenen Sozialen Arbeit berufliche und Lebenserfahrung in besonderer Weise miteinander verschränkt sind (vgl. Heiner 1988; Strasser 2006). Werden nun die älteren Berater/-innen, die seit vielen Jahren beruflich die starke Rolle der Begleitenden oder Helfenden inne hatten, durch die Beratung älterer Menschen damit konfrontiert, dass es im (ihnen bevorstehenden) Alter zu einem nicht nur vorübergehenden Rollenwechsel in Richtung Hilfsbedürftigkeit kommen kann, wird ihr Selbstbild evtl. besonders bedroht. Infolge dieser Konstellation stehen den notwendigen empathischen Impulsen möglicherweise Gefühle der Abwehr gegenüber, deren Reflexion unterbleibt, weil sie vorbewusst bleiben. Unreflektiert kann die Abwehr dazu führen, dass ein „fremdes Altern“ der Klient/-innen konstruiert wird und im Beratungsprozess Defizite betont während (auch altersbedingte) Ressourcen übersehen werden (Aner 2010, S. 137 – 142). 4.3
Berater/-innen aller Altersgruppen und der Produktivitätsdiskurs
Wenn durch die sozialpädagogische Beratung bleibende und/oder zunehmende Verluste thematisiert werden, die eher begleitet als umgekehrt werden können, steht dies einem in der Ausbildung erworbenen und im Beruf in der Regel gefestigten professionellen Selbstverständnis der ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ entgegen. Dieser Anspruch, neue Kräfte zu wecken, dürfte bei Berater/-innen aller Altersgruppen gleichermaßen zu finden und bei der Begleitung alter Menschen, insbesondere Hochaltriger, potenziell konfliktträchtig sein. Heute ist dieser professionelle Anspruch eingebettet in gesellschaftliche Rahmenbedingungen des sog. Sozialinvestitionsstaats. Mit ihm ist eine neue Polarisierung unübersehbar geworden, die mit dem Lebensalter kor respondiert und zwischen den zumindest potenziell produktiven und den unproduktiven Mitgliedern der Gesellschaft unterscheidet. Während Kinder und Jugendliche als ‚noch nicht produktiv‘ angesehen werden können, stehen Erwachsene spätestens ab der Lebensmitte unter Druck, ihre Produktivität stets aufs Neue unter Beweis zu stellen oder schnellstmöglich wieder zu erlangen. Wo der Mensch zum Humankapital umdefiniert wird, in den zu investieren es sich lohnt oder nicht, sind ältere Menschen von der Möglichkeit der Abwertung in besonderer Weise bedroht. Die
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Produktivitätsdebatte beherrscht den öffentlichen Diskurs und die Kategorisierung produktiv vs. unproduktiv ist längst zu einer selbstverständlichen Trennlinie auch in der (Selbst-)Wahrnehmung und -darstellung alternder und alter Menschen geworden. Sie betrifft nicht nur die älteren Adressat/-innen (vgl. dazu Karl 2006) und die sozialpolitisch favorisierten Inhalte und Ziele der Arbeit mit ihnen (vgl. dazu Aner 2006). Ihre Deutungs- und Handlungswirksamkeit auch in der Beratungsbeziehung muss unterstellt werden. Wenn Alterskategorie und Produktivitätsdebatte miteinander verwoben in die alltäglichen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster eingehen, sind junge wie ältere Sozialarbeiter/-innen aufgefordert, sich und anderen ihre berufliche Produktivität zu beweisen. Erstere müssen zeigen, dass sie es ‚schon‘, letztere, dass sie es ‚noch‘ können. Dieses Bestreben kann gerade in der Beratung alter Menschen mit den unhintergehbaren Grenzen des höheren Lebensalters konfligieren und notwendige Ergänzungen des Selbstverständnisses der Sozialarbeit und Sozialpädagogik verstellen. Schließlich kann es z. B. im Umgang mit Hochaltrigen, häufig demenziell erkrankten Menschen nicht mehr in erster Linie um Entwicklung und Verbesserung gehen. Vielmehr müssen „Dabeisein“ und „Aushalten“ zu einem selbstverständlichen Bestandteil der Berufsrolle werden (vgl. Karl, F. 2005).
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Schlussfolgerungen
Nimmt man die bisher vorliegenden Befunde ernst, müssten das Alter der Beteiligten und die damit einhergehende Generationenzugehörigkeit in der Sozialen Beratung generell als Bezugspunkt der Interaktion berücksichtigt und einer offenen Strukturierung (Böhnisch et al. 2005, S. 123) zugänglich gemacht werden. Insbesondere die Befunde der oben skizzierten eigenen Studie (Aner 2010) zeigen außerdem, dass „Generationenverhältnisse und Generationenbeziehungen für die beteiligten Akteure zu sozialen […] Kategorien wurden, die mit gleichsam mittlerer Reichweite Orientierungsund Ordnungsmuster zur Verfügung stellen. Der Blick auf Generationen stabilisiert somit gegenüber den verunsichernden gesellschaftlichen Erfahrungen, […] setzt Orientierungspunkte und lässt eine historische Verortung zu, wirkt aber weniger verpflichtend als an dere Orientierungsmuster“ (Winkler 2002, S. 59).
Gerade diese Gleichzeitigkeit von Stabilisierung und Öffnungsoptionen macht das Konzept für „stellvertretende Deutungen“ (Dewe und Scherr 1990) interessant. Wenn Berater/-innen älteren Menschen professionell Deutungsangebote machen wollen, ist an den Ressourcen der Klient/-innen anzusetzen, ohne die lebenszeitbedingten Besonderheiten zu übersehen. Zugleich müssen die Fachkräfte in der Lage sein, auch ihre eigenen subjektiven Deutungen des Alter(n)s, ihre Ressourcen, Grenzen und Befürchtungen im Kontext ihrer eigenen Position im Lebenslauf zu reflektieren. Will man die Kategorie ‚Generation‘ als Bezugspunkt der Reflexion stärken, ist es offen-
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sichtlich möglich, an die aktuellen Deutungsmuster von Fachkräften anzuknüpfen (vgl. Aner 2010, S. 132 – 136). Zwar handelt es sich bei ‚Generation‘ um eine ausgesprochen komplexe Kategorie, die nicht minder komplex ist als die des ‚Alter(n)s‘, jedoch ist sie für die Berater/-innen scheinbar weniger von stigmatisierenden, bedrohlichen oder idealisierenden Stereotypen belastet (ebd.). Grundlegende Voraussetzung dafür, dass die Lebensalter der Beteiligten und die wechselnden Generationen-Konstellationen in der Sozialen Beratung systematischer als bisher berücksichtigt werden, ist ein angemessener Platz der Kategorien in der Theorie, Empirie und Aus- und Fortbildung Sozialer Arbeit. Im besten Fall gelingt es dabei, die umfangreichen Wissensbestände anderer Disziplinen diskursiv einzubeziehen.
Ausgewählte Literatur Aner, Kirsten. 2010. Soziale Beratung und Alter. Irritationen, Lösungen, Professionalität. Opladen u. a.: Barbara Budrich. Dewe, Bernd, und Albert Scherr. 1990. Beratung und Beratungskommunikation. In Neue Praxis 20. Heft 6: 488 – 500. Kohli, Martin. 2007. Von der Gesellschaftsgeschichte zur Familie. Was leistet das Konzept der Generationen ? In Generationen und Familien. Hrsg. Lettke, Frank, und Andreas Lange, 47 – 68. Frankfurt: Suhrkamp.
Alter und Bildung aus bildungsphilosophischer Perspektive Ines M. Breinbauer
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Einleitung
Man schwimmt gegen den Strom, wenn man aus bildungsphilosophischer Sicht gegenüber der Anwendung des Bildungsbegriffes auf alte Menschen Vorbehalte hat. Muss man denn nicht zur Kenntnis nehmen, dass aufgrund des Strukturwandels des Alter(n)s die Rolle der Bildung im Verlauf des Alters aufgewertet wird ? ! Muss man denn nicht anerkennen, dass in den letzten Jahren Fortschritte dabei erzielt wurden, auch Menschen in der nachberuflichen Phase in den grundgesetzlich gesicherten Anspruch auf Bildung einzuschließen ? ! Ist es denn nicht erfreulich, dass „Bildungsarbeit mit älteren und alten Menschen“ (vgl. Kricheldorff i. d. B.) an unterschiedlichen Bildungsorten und in verschiedenen Settings, die auch außerhalb traditioneller Bildungseinrichtungen liegen können, angeboten wird ? ! Darf man denn die empirischen Nachweise, dass (früh einsetzende) Bildung die Chance erhöht, im Alter länger gesund zu bleiben, den Alltag besser zu bewältigen und die Würde zu erhalten (vgl. Müllegger 2015, S. 8) geringschätzen ? ! Ist es denn nicht als Erfolg zu werten, dass – bei aller Heterogenität dieser Bevölkerungsgruppe – Bildungseinrichtungen mit verstärkter Nachfrage und höheren Qualitätsansprüchen an Bildungsangebote für ältere Menschen rechnen dürfen (vgl. Stiehr und Garrison i. d. B.) ? ! Gegenüber diesen berechtigten Einwänden muss man klar stellen, dass Bildungsphilosoph/-innen weder einem bestimmten Personenkreis die Möglichkeit von Bildung absprechen noch die mittlerweile umfangreichen Forschungsarbeiten ignorieren, die alten Menschen Lern- und Bildungsfähigkeit bis in hohe Alter attestieren (Baltes und Montada 1996; Kolland 2014). Wohl aber insistieren sie auf einem grundsätzlichen Unterschied zwischen dem sozialwissenschaftlichen Blick auf Bildung und dem philosophischen. Während ersterer der Bildung im Alter vom Sozialkontakt über psychosoziales und mentales Training bis zum möglichst langen Erhalt selbstständiger Lebensführung umfassenden Nutzen bestätigen kann und sich dabei nicht lange © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_19
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mit der Reflexion des Bildungsbegriffes selbst aufhält (vgl. u. a. Schober und Spiel 2014), kommen bei genauerem Nachdenken über die Bedeutung von Bildung Bedenken auf, ob die demografische Entwicklung nicht eher ein politisch-soziales Problem darstellt, das nach politischen, rechtlichen oder ökonomischen Steuerungsstrategien verlangt, und nicht ein Bildungsproblem, sofern man nicht einer konturlosen Expansion und Entgrenzung pädagogischen Handelns und pädagogischer Zuständigkeit das Wort reden will (vgl. Breinbauer 2008a). Zudem ist philosophischen Bildungstheorien gemeinsam, dass sie das Verständnis von Bildung gar nicht in Hinblick auf eine bestimmte Altersgruppe artikulieren. Bildung ist, vergleichbar der Würde des Menschen, „lebensphasisch unteilbar“ (Geiger et al. 2015, S. 252). Im Gedanken der Bildung ist – grundsätzlich, altersunabhängig – gefasst, „was alle (Hervorh. I. M. B.) Menschen erreichen sollen, wenn sie ihrer Menschlichkeit teilhaftig werden möchten“ (Ruhloff und Poenitsch 2004, S. 25). Dieses – zugegeben: sehr abstrakte – Grundverständnis geht jeder Ausdifferenzierung der Pädagogik als Berufswissenschaft, jeder subdisziplinären Ausdifferenzierung in Sozialpädagogik, Schulpädagogik, Medienpädagogik, Erwachsenenbildung, Alterspädagogik u. a. m. logisch voraus. Der Begriff Bildung steht in allgemeiner Hinsicht für ein Verhältnis des Menschen zu sich und zur Welt, das die Menschwerdung des Menschen von jeder Entwicklung, die bloß Naturnotwendigkeiten folgt, abgrenzt und als eine ‚Selbstbestimmung in Freiheit‘ vorstellt, durch die nicht ein vorgegebenes Telos erfüllt wird, sondern die dem Menschen eigene Möglichkeit erst gefunden und verwirklicht werden muss (vgl. Ruhloff und Poenitsch 2004, S. 69). Kein Versuch einer Relationierung von Bildung und Alter kommt umhin, sich zu diesem Bildungsdenken, man kann auch von ‚Bildung in einem distinkten Sinne‘ sprechen, in ein Verhältnis zu setzen, sofern er mehr sein will als eine Applikation des alltagssprachlichen oder des einzelwissenschaftlichen (psychologischen, soziologischen, sozialpflegerischen) Verständnisses von Bildung auf die neue demografische Lage. Sofern kein ‚reflektierter‘ Umgang mit dem Bildungsbegriff anzutreffen ist (vgl. Breinbauer 2008a), ist die Konjunktur der Verwendung des Bildungsbegriffes kein Grund zur Freude. Sie könnte vielmehr einen Verfall eines differenzierten Begriffsgebrauchs und ein bloßes „Bildungsgerede“ (vgl. Ruhloff 2006) anzeigen. Für einen Beitrag in einem Handbuch, der einen Überblick über die (Vielfalt der) Rede von Bildung im Alter geben soll, und zwar so, dass Lernenden, Lehrenden und Praktiker/-innen der Sozialen Arbeit damit gedient ist, ist damit eine erste wichtige Differenzierung angesprochen: Jene zwischen dem alltäglichen Reden über Bildung und einem begrifflich geklärten Sprechen über Bildung. Während ersteres „eine Beruhigung in das Dasein“ bringt, „für die alles ‚in bester Ordnung‘ ist“ (Heidegger 1984, S. 177; Hervorh. i. O.), sucht letzteres gleichsam in einer antithetischen Bewegung (Ballauff 1986) vom bloßen Gerede los zu kommen, hat aber deshalb nicht den Anspruch, den Begriff festzulegen, sondern eher von (möglichen) Verlegungen freizulegen. Wenn es – allgemein gesagt – zutrifft, dass Bildungstheorien als Deutungen der Idee von Menschlichkeit verstanden werden dürfen, könnte das ‚Freilegen‘ jeweiligen Fehlverständnissen und Verkennungen des Humanum gelten, auch Selbst-Verken-
Alter und Bildung aus bildungsphilosophischer Perspektive
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nungen des Menschen selbst. Zwischen diesen beiden Polen können die gegenwärtig anzutreffenden Vorstellungen von ‚Bildung im Alter‘ angeordnet werden. Diesem Gesichtspunkt folgt auch die Gliederung. Sie differenziert in einem ersten Schritt zwischen den verschiedenen Bedeutungen von Bildung in der Umgangssprache und in der Rede von Altenbildung, Altersbildung und Alternsbildung (2), ehe in Abgrenzung von affirmativen Bildungsverständnissen (vgl. Benner 2015), die im Wesentlichen einem sozialwissenschaftlichen Verständnis folgen und durch instrumentelles Denken gekennzeichnet sind (3.1), die Herausforderung philosophischen Bildungsdenkens entfaltet wird (3.2). Die Gemeinsamkeit der ersteren, der affirmativen Bildungsverständnisse, liegt darin, dass Bildung auf die Befähigung zur Wahrnehmung spezifischer (gesellschaftlicher) Aufgaben und Anforderungen durch Aneignung und Erweiterung von Fähigkeiten, Fertigkeiten, Erfahrungen und Wissenssystemen zielt. In problematisierenden Bildungskonzeptionen dagegen wird die Menschlichkeit des Menschen als eine offene und gefährdete, und sein Verhältnis zur Welt nicht als Bewältigungs- und Aneignungsrelation, sondern in seiner Fraglichkeit verstanden. Es versteht sich von selbst, dass dabei eine gleichsam idealtypische Auswahl unter den zahlreichen neueren Publikationen zum Thema getroffen werden muss. Das ist dann gerechtfertigt, wenn es gelingt Urteilskriterien an die Hand zu geben, um die differenten Verwendungsweisen des Begriffes Bildung und die unterschiedlichen Stilisierungen des Alters in den reichlich anzutreffenden „Formierungsangeboten“ erkennen und unterscheiden zu können. Dabei kann an einschlägige Vorarbeiten angeknüpft werden (Breloer 2000; Karl, U. 2006, 2008; Breinbauer 2008a, 2008b).
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Die vielfältige Bedeutung von Bildung in der Umgangssprache und die Altenbildung, Altersbildung und Alternsbildung
Bildung gilt vielen als ein anzustrebendes wertvolles Gut; je mehr Bildung ein Mensch besitzt, desto mehr Macht hat er über sich selbst und die von ihm durchschaute und dadurch verfügbar gemachte Umwelt. Oder sie gilt als ein Zustand des Bewusstseins, der nach einem langen Weg der Reifung als deren Vollendung erreicht wird. Oder sie gilt als ständiger Prozess des Geistes, der in einem ständigen sich Überschreiten jeden vorgegebenen Zustand hinter sich lässt. In all diesen Umschreibungen tritt vor allem die individuelle Seite der Bildung oder Selbstbildung in den Blick. Ballauff (1986) nennt so eine Bildungskonzeption ‚anthropozentrisch‘: „Sie erwächst aus der Voreingenommenheit der Menschen, sich als bestehende Wesen vor auszusetzen und zu suchen. Sie ist nicht nur die verhüllte Selbstermächtigungslehre einer Gruppe von Menschen gegenüber allen anderen, wie es bei allen uns geläufigen Ideologien der Fall ist, sondern gegenüber allem, was ist. Alles ist unter solcher Ideologie immer schon als Material menschlicher Bildung angesetzt.“ (Ballauff 1986, S. 47 f.)
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Ines M. Breinbauer
Andere Denkfiguren setzen fast gegensätzlich dazu den Menschen ständig – intellektuell oder emotional oder sozial oder ethisch – als unzureichend an, als habe er seine ‚wahre Menschlichkeit‘ in irgendeiner Dimension noch nicht erreicht. Ballauff (1986, S. 55) nennt das die „Lehre von der menschlichen Verkehrtheit“, die im Hintergrund der meisten Bildungstheorien steht. Sie ist auch als Hintergrundmodell verschiedener ‚Diskurse des Alterns‘ erkennbar, wenn z. B. hinsichtlich des biologischen Alterns Aktivierung besser scheint als Disengagement, hinsichtlich des kognitiven Alterns Orientierung der Desorientierung vorzuziehen ist, hinsichtlich des psychischen Alterns Desillusionierung der Hoffnung Platz machen sollte und hinsichtlich des sozialen Alterns Integration besser als Desintegration scheint (vgl. Kade 2007, S. 40 – 50). Das leuchtet dem Alltagsverständnis zwar durchaus ein (vgl. Heidegger 1984), impliziert aber eine Befangenheit des Bildungsdenkens in normativen, präskriptiven Systemen, wo doch der „sinnverleihende Horizont, der Bildung definieren und legitimieren lässt“ (Ballauff 1986, S. 68), erst zu suchen ist (vgl. 3.2). Auch der Terminus ‚Altenbildung‘ verdankt sich plausiblem, aber dem Alltag entlehntem Sprachgebrauch. ‚Altenbildung‘, so beschreibt Breloer (2000, S. 41) nimmt ‚Alte‘ als eine Ziel- oder Problemgruppe auf, „die sich entweder kalendarisch oder vom Grad subjektiver Betroffenheit durch das Erleben des Alternsvorganges bestimmen läßt“. Andere verstehen unter Altenbildung alle direkten und indirekten Maßnahmen und Angebote, die auf Wohlbefinden, Lebensqualität und Sinnerleben von älteren Menschen positiv Einfluss nehmen. Wird Altenbildung bei vielen Autor/-innen als Lernangebot von Institutionen der Erwachsenenbildung für die Zielgruppe älterer Mitbürger/-innen verstanden oder, in einer Art von kustodialem Verständnis (kritisch dazu: Breinbauer 2008b), als Angebot der Sozialpädagogik/Sozialarbeit, so legt ‚Alternsbildung‘ (nach Breloer 2000) den Akzent auf Lerninhalte ‚über‘ das Alter und das Altern und kann im Prinzip prophylaktisch für Lernende jeden Alters gedacht sein. ‚Altersbildung‘ wiederum hat ihre theoretische Fundierung in der Geragogik, die sich in den letzten Jahren als wissenschaftliche Disziplin an der Schnittstelle von Gerontologie, Erziehungswissenschaft und Sozialer Arbeit etabliert hat. Sie sieht ‚Bildung‘ als basale Voraussetzung für Integration und Teilhabe in einer sich rasch wandelnden Welt und spricht in partizipativen Verfahren die Beteiligten als Expert/-innen in eigener Sache an (vgl. Kricheldorff 2017a). Keine der Formen ist Bildung im distinkten Sinne. Unvermeidlich sprechen in allen Beiträgen jüngere Autor/-innen über Bildung im Alter und kompensieren dabei in ihren Deutungen von Alter den Mangel an eigenen Erfahrungen mit Rückgriff auf die erwachsenenpädagogischen Referenzdisziplinen Soziologie und Psychologie (vgl. Breithausen 2011, S. 212). Dabei ist ihnen nicht der Mangel an Erfahrungen vorzuwerfen, möglicherweise aber ein Mangel an methodischem Problembewusstsein. Könnte man sich nicht auch durch literarische Zeugnisse (vgl. z. B. Haller 2009, 2010a, 2010b) oder Selbstzeugnisse (vgl. z. B. Mayröcker 2012; Helbich 2017) ein dem Phänomen näheres Bild des Erlebens alter Menschen machen ?
Alter und Bildung aus bildungsphilosophischer Perspektive
3
Paradigmen und Legitimationsfiguren
3.1
Affirmative Bildungskonzeptionen
231
Als affirmativ (vgl. Benner 2001) werden in diesem Zusammenhang normative Bildungskonzeptionen verstanden, die auf unhinterfragt angenommene ‚zentrale Lebensprobleme‘ (einer bestimmten Altersstufe) mit normativen Erwartungen antworten. Solche Bildungskonzeptionen treten in unterschiedlichen Formen auf, die hier nur exemplarisch und idealtypisch charakterisiert werden können. Die Gemeinsamkeit liegt in der Logik der Argumentation: Diese ‚zentralen Lebensprobleme‘ werden vereinzelt existenzontologisch (vgl. z. B. Guardini 2001) ausgelegt, häufiger aber empirisch festgestellt (vgl. z. B. Beiträge in Becker et al. 2000; Aner und Karl 2008), bisweilen an kritischen Lebensereignissen festgemacht. In der Folge werden diese als Bildungsbedürfnisse (z. B. Schweppe 2000; kritisch dazu Heid 2001, 2002) oder Entwicklungsaufgaben interpretiert, die der pädagogischen Unterstützung bedürfen, wofür eine Vielfalt altersgerechter Methoden bereitsteht (vgl. u. a. Kricheldorff 2017a). Solche normativen Erwartungen kommen zum Ausdruck in der Rede von ‚erfolgreichem Altern‘, das durch den Erhalt von bestimmten Kompetenzbereichen definiert wird: Selbstständigkeit, kognitive Leistungsfähigkeit, Bewältigung von Alltagsproblemen. Diese zu erhalten sichere ‚Autonomie‘ (vgl. kritisch dazu: Pichler 2007). Dies rechtfertigt dann auch ganz konkrete Vorschreibungen, wie z. B. gesunden Lebensstil, Kompensation von Verlusten, selektive Optimierung u. a. m. So argumentieren Backes und Clemens (2003, S. 181), dass ein gesunder Lebensstil Grundlage erfolgreichen Alterns sei, denn er reduziere die Wahrscheinlichkeit des Auftretens pathologischer Altersbedingungen; ebenso Aktivitäten im Familien-, Freizeit- und Arbeitsbereich, denn die führten zum Aufbau von Kapazitätsreserven und zu einer Verlangsamung negativer Alternsprozesse. „Zur Erhöhung der biologischen, mentalen und sozialen Kapazitätsreserven bedarf es nach Baltes und Baltes (1989a, S. 8) entwicklungsfördernder Anreize und kompensatorischer Unterstützung, um den Verlust an adaptiven Kapazitäten auszugleichen.“ (Backes und Clemens 2003, S. 181)
Die Unterstützung müsse selektiv, optimierend und kompensatorisch einsetzen: „Selektion bedeutet dabei, dass sich der alte Mensch auf bestimmte Lebensbereiche von hoher Priorität konzentriert, in denen Umweltanforderungen, persönliche Motive, Fertigkeiten und biologische Leistungsfähigkeit zusammenfallen (z. B. Spezialisierung, Reduktion von Komplexität). Optimierung bezieht sich auf die Annahme, dass Menschen ihre vorhandenen Ressourcen und Kompetenzen auf einem möglichst hohen Niveau halten bzw. noch weiter maximieren wollen. Kompensation bezeichnet eine Anpassungsleistung und setzt als Prozess dann ein, wenn Einschränkungen und Ausfälle bestimmter Funktio-
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Ines M. Breinbauer
nen erfahren werden. Durch selektive Optimierung mit Kompensation sind ältere Menschen in der Lage, sich trotz zurückgehender biologischer Energie und mentaler Reserven weiterhin den für sie wichtigen Lebensaufgaben zu widmen.“ (ebd.; Hervorh. i. O.)
Es steht außer Streit, dass Verluste kompensiert werden und Kompetenzen erhalten bleiben sollen, und es steht auch außer Streit, dass dadurch noch im hohen Alter Sozialisationserfordernisse erfüllt werden. Die Erfüllung derartiger präskriptiver Vorgaben wie auch die dafür gesetzten Maßnahmen haben aber nichts mit Bildung in einem – wie oben skizzierten – distinkten Verständnis zu tun, insofern Bildung und Bewältigung von Lebensnot sich nicht tangieren. Vor dem für sozialwissenschaftliche Bildungskonzeptionen typischen Kurzschluss zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und dem Einsatz empirischen Wissens, um sie zu erfüllen, könnte historisches Wissen über die Entwicklung der (Institutionalisierung der) Altersbildung bewahren. Im historischen Rückblick ist erkennbar, wie der Wandel der pädagogischen Konzeptionen mit dem Wandel der (jeweils durch psychologische Lerntheorien gestützten und/oder für Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle günstigen) Bilder des alten Menschen Hand in Hand geht, vom Betreuungskonzept mit kompensatorischer Funktion für den als defizitär und veränderungsresistent angenommenen alten Menschen über das Aktivierungs- und Autonomiekonzept für den als kompetent wahrgenommenen alten Menschen bis zu dem für die Zukunft prognostizierten Modell der systemisch vernetzten, nachfragebezogenen und selbst organisierten (!) Altersbildung (vgl. dazu Kade 2007, S. 51 – 114). So entspricht der Wandel der Altersbildung dem Wandel des Selbstverständnisses der Erwachsenenbildung, wie es Pongratz (2003) im „Zeitgeistsurfer“ so treffend gezeichnet hat. Als affirmativ darf man solche Bildungskonzeptionen deshalb bezeichnen, weil sie den jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungen bzw. Erfordernissen hinterher geschrieben werden. So z. B. schließt Kade (2007) – und das darf für diese Art von Abhandlungen als typisch angesehen werden – trotz betonter normativer Abstinenz sozialwissenschaftliche Charakterisierungen gesellschaftlicher Entwicklungen mit der Formulierung pädagogischer Aufgaben kurz (vgl. Kade 2007, S. 74) und ordnet ihre „dezidiert erziehungswissenschaftliche Perspektive“ (ebd., S. 11) dem vermeintlichen gesellschaftlichen Telos unter. Der Beobachtung, dass die Förderung des Engagements Älterer wohl „als Lückenbüßer des erschöpften Sozialstaates fungieren“ (Kade 2007, S. 60) soll, schenken gouvernementalitätstheoretisch inspirierte Analysen wie z. B. jene von Karl (2006) mehr Aufmerksamkeit. Auch kritische Bildungstheoretiker/-innen nehmen Anstoß daran, dass sich in Leitbildern des Alter(n)s zunehmend neoliberale Rationalitäten abzeichnen, d. h., dass ökonomische Rationalität alle Lebensbereiche erfasst. Der präskriptive Charakter liegt weniger offen zutage, wenn die Interpretation von Bildungsbedürfnissen mit dem Autonomiegedanken verknüpft wird. So vertritt z. B. Böhme (1998, S. 369) – ohne Rücksicht auf empirische Befunde zur Diversität von Lebenslagen im Alter (vgl. u. a. Stiehr und Garrison i. d. B.) – die These, „Menschen im
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dritten Lebensalter haben spezifische Bildungsbedürfnisse“, die man „ablesen“ könne aus der „Lebenssituation der nachberuflichen, nachfamiliären Phase“ (ebd.). Diese seien zu erfüllen „durch eine allgemeine Bildung, die sich mit gerontologischen Einsichten verbindet“ (ebd.). Bildungsbedürftig seien die alten Menschen – hier greift Böhme auf klassische Formulierungen zurück –, weil sich das Phänomen der „geistigen Menschwerdung“ in jedem Menschen neu herstelle, und dies erfordere „unabhängig zu denken, selbständig zu entscheiden und verantwortlich, d. h. sittlich zu handeln“ (ebd., S. 371). Diese Argumentation bewegt sich einerseits in aufklärerischhumanistischer Tradition, andererseits interpretiert Böhme Bildung zugleich als „Bedürfnis (Hervorh.: I. M. B.) im dritten Lebensalter“ (ebd.). In geradezu klassischer Argumentation wird die freiwillige Selbstunterwerfung mit der Aussicht auf Autonomieerhalt belohnt: „Wer sich den Herausforderungen gesellschaftlicher Wandlungen stellt und sie in sein Verständnis von Welt und Mensch integriert, bewahrt sich oder gewinnt die Unabhängigkeit des Denkens, die Selbstständigkeit der Entscheidung und die Verantwortung für sein Handeln.“ (ebd.)
Hier setzt sich die Illusion fort, dass sich das Subjekt als autonom wähnen darf, sofern es sich nur gesellschaftlichen Herausforderungen stellt und sich als Subjekt dem ‚Integrationsgebot‘ unterwirft. Die in der passiven Formulierung gleichsam naturalisierten „gesellschaftlichen Wandlungen“ werden, obzwar niemandem verantwortlich zurechenbar und auch vom vorgeblich unabhängig denkenden und selbstständig entscheidenden Subjekt nicht beeinflussbar, zur ‚Herausforderung‘ für das Subjekt, von der auch gleich gesagt wird, wie ihr zu entsprechen ist: Sie sind in das Welt- und Selbstverständnis (sic !) einzufügen (vgl. dazu differenzierend und weiter führend u. a. Meyer-Drawe 1990; Schäfer 1990, 1993). Für die unter 3.1 fokussierten Auffassungen von Bildung trifft Rickens an Foucault angelehnte Formulierung zu: „‚Bildung‘ markiert eine der zentralen gesellschaftlichen Praktiken moderner Subjektivierung.“ (Ricken 2006, S. 337) Damit ist gemeint, dass Bildung einen recht effektiven Mechanismus darstellt, der die Individualität und Selbsttätigkeit durchaus nicht zurückdrängt, sondern sich ihrer bedient, um sie „qua Steigerung zu formieren“ (ebd.). Die spezifische Form der ‚Bildung‘ stellt „eine spezielle Matrix für menschliche Selbstbeschreibungen und Deutungen bereit“ (ebd.), die „immer wieder als quasi-natürliche und definitive Figur menschlicher Selbstauslegung aufgenommen worden ist und insofern auch gegenwärtig noch als die praktische Anthropologie der Moderne gelten kann“ (ebd.; Hervorh. i. O.).
Eine der Hauptaufgaben der bildungsphilosophischen Zuwendung zum Bildungsbegriff ist es, die Verführung zur Selbstüberschätzung und Selbstverkennungen des Menschen, die ihn noch Selbstunterwerfung als Ausdruck von Freiheit verstehen lässt,
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Ines M. Breinbauer
aufzuklären. Zugleich gilt es aber auch, diese Aufklärungsambitionen nicht in Selbstüberschätzung der auf bildungsphilosophischem Weg zu gewinnenden Antworten münden zu lassen (vgl. Kubac 2007). 3.2
Problematisierende Bildungstheorien
Ein Mangel nicht nur der alltagssprachlichen Rede von Bildung (vgl. Abschnitt 2), sondern des gesamten klassischen Bildungsbegriffs kann darin gesehen werden, dass er von einem unbedingten Glauben an die Verbesserungs- und Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen ausgeht, „dem das Versprechen entspringt, eine ‚versöhnte menschliche Existenz‘ herbeiführen zu können“ (Ruhloff 1996, S. 148). Diese Annahme hat ihre Wurzel in der Selbstüberschätzung des Menschen und in dem blinden Vertrauen auf die Leistungsfähigkeit seiner Vernunft, wie es auch in verschiedenen affirmativen Bildungskonzeptionen seinen Ausdruck findet, die von der Gewissheit weiter nicht bedachter Vorannahmen über den (alten) Menschen ausgehen und diese durch wissenschaftliches und/oder gesellschaftliches ‚Wissen‘ nur noch befestigen. Problematisierenden Bildungstheorien ist dem gegenüber ein selbstkritischer Umgang mit den Ergebnissen der Vernunftanstrengungen gemeinsam, der Verzicht auf die Annahme, dass der Mensch sich selber völlig durchsichtig werden und die Welt völlig unter rationale Kontrolle bringen kann. „Der problematisierende Vernunftgebrauch fragt nach Möglichkeiten anderer als der geschichtlich festgeschriebenen und für gültig unterstellten Interpretationen von ‚Mensch und Welt‘. Möglichkeiten sind dabei nicht zu verstehen als fiktive Eventualitäten in dem Sinne, dass jederzeit alles auch ganz anders sein könnte, sondern als aufzuspürende tatsächliche Lücken im Raum des geschichtlich Gegebenen, Gedachten oder Angestrebten.“ (Ruhloff 1996, S. 150 f.)
Pädagogik im problematisierenden Vernunftgebrauch erweist sich einerseits als unabweisbar für die Bearbeitung von Begründungs- oder Grundlegungsfragen der Päd agogik. Als problematisierendes Bildungsdenken begrenzt sie andererseits das Recht eingreifenden Handelns, wenn mit diesem der Anspruch auf Bildung erhoben wird, weil Bildung nicht anders denn als Selbstbildung verstanden werden kann. Sie stellt pädagogisches Handeln unter die Frage der Legitimation von leichthin unterstellten Annahmen über den Menschen und seine gelingende Lebensführung ebenso wie unter die Frage, ob Interventionen geeignet sind, die Frage nach dem rechten Leben als offene Herausforderung erkennen zu lassen (vgl. dazu Breinbauer 2008b). „Bildung kann verstanden werden als die Verwicklung in die Prüfung von Legitimitätsansprüchen und die damit verbundene Eröffnung neuer Blickweisen und Praktiken, die mit dem Recht von Hypothesen und damit in notgedrungener Vorläufigkeit geltend ge-
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macht werden. Das Bildungspostulat steht für das Ansinnen, die eigenen Lebensvollzüge, die im ersten Anheben nicht bereits vernunftgeleitet sind, in die Grenzen der Frage zurückzunehmen, welche bedingte Berechtigung ihnen zukommt, falls ihnen eine Berechtigung zuzubilligen ist. Es steht zugleich für die Zumutung, den unmittelbaren Verbindlichkeitscharakter dessen, was uns als factum brutum umstellt und als Sozialisation inkorporiert ist, zeitweilig außer Geltung und der Reflexion auf seine Gründe, fragwürdigen Bedingungen und damit möglicher Veränderung oder Tilgung auszusetzen.“ (Ruhloff 1996, S. 151; vgl. weiterführend Ruhloff 2006, S. 297)
Das eben Ausgeführte hat Anregungspotenzial für das Nachdenken über Bildung im Alter, führt es aber auch an seine Grenzen. Beides soll abschließend gezeigt werden. ‚In die Prüfung von Legitimationsansprüchen‘ sollte man die sich überbietenden Vorschläge zur ‚richtigen‘ Bildung im Alter verwickeln, die Forderung zur Dauerqualifikation für die Bewältigung von sich verändernden Anforderungen (‚Bildung im Bewältigungsparadigma‘), die Permanenz der Erwartungshaltung an den (alten) Menschen, den Anspruch der ‚Ordnung‘ seiner Biografie, wenn doch die Gesichtspunkte des Ordnens selber erst der Prüfung unterworfen werden müssten. „Zeitweilig außer Geltung setzen“, wie es im obigen Zitat heißt, müsste man die fragwürdige Gültigkeit medial vermittelter Bilder des Alter(n)s; durch Gewohnheiten und Gepflogenheiten fixierte Verhaltensmuster, Bedürfnisse und Neigungen könnten der Frage nach Veränderung unterworfen werden; die Maßgeblichkeit des Sein-, Haben-, Erreichenmüssens könnte eine Relativierung erfahren. Es muss allerdings auch gesehen werden, dass ‚Bildung im problematisierenden Vernunftgebrauch‘, wie dies Ruhloff (1996) nennt, kompromisslos vernunftgeleitete Lebensführung und Anstrengungen der Vernunft verlangt. Auch diese Annahme kann problematisiert werden. Dann wird man „aufklärungseuphorische […] Selbst- und Weltinterpretationen“ (Reichenbach 2001, S. 469) hinter sich lassen und auf die Unterstellung eines autonomen, souverän handelnden und deutenden Subjekts als leitendes Telos verzichten (vgl. Reichenbach 2001). Für das Verständnis von Bildung folgt daraus, dass Bildung zwar Aufgabe und Eigenarbeit bleibt, aber nicht angenommen wird, diese könne souverän gelöst werden. Denn der produktive Akt der Freiheit findet nicht (das Selbst oder die Norm oder das Richtige), „sondern er-findet sie, nicht beliebig und nicht in beliebigen Situationen, sondern nur in bestimmten Notsituationen und im Hinblick auf das bisher Gekonnte, Gelernte, Gewußte, Geklärte etc., welches nicht mehr ausreicht oder sich als fragwürdig und problematisch erweist“ (Reichenbach 2001, S. 69). „Das spätmoderne Selbst muß seine Freiheit nun größtenteils praktizieren, obwohl ihm das Telos eines gemeinsamen Sinnhorizonts abhandengekommen ist. Es konstituiert sich zum Subjekt nun vielmehr ohne eschatologische Hoffnung, sondern mit dem kontextgebundenen und (immer nur) situativen Motiv, seine Selbstachtung und Integrität gegen dissoziierende Kräfte zu verteidigen.“ (ebd.)
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Bildung in diesem Verständnis ist nicht nur belastend, sondern auch befreiend. Sie ist keine auf Dauer gestellte Selbstkontrolle defizitärer Lebenshaltungen mit dem Ziel endgültigen Gelingens. Vielmehr eröffnet sie einen Möglichkeitsraum, entbindet von Voreingenommenheit, wie z. B. jener, dass die Welt nur zum Nutzen und Verbrauch eingerichtet ist. Bildung ermutigt, sich die Fragwürdigkeit des sich Lenken-Lassens durch verinnerlichte Instanzen bewusst zu machen, den Erwartungshorizont von Familie und Gesellschaft als bloße Regeln eines Spiels des gesellschaftlichen Miteinanders zu erkennen, Freiheitsspielräume auszudehnen, neue Aushandlungen zu versuchen. Eine Konsequenz des Verzichtes auf die Annahme eines souveränen Subjekts ist ein verändertes pädagogisches Selbstverständnis. Ricken (1999) spricht von einer „Kontingenzpädagogik“ und meint damit den kontingenten Umgang mit kontingenter Subjektivität (ebd., S. 400). In der „Kontingenzvergessenheit“, die der Subjekt pädagogik anzulasten sei, verschwinde das, „was pädagogisches Handeln allererst konstituiere: Leben als radikaler Wandel von Geburt und Kindheit bis Alter und Tod, an dem andere einen erheblichen, bedingt-bedingenden Anteil haben“ (ebd., S. 402). Mit einem solchen Zugang zu pädagogischem Handeln ändert sich die übliche Aufgabenbestimmung der Pädagogik. Selbst die allgemeinste Umschreibung von der „Menschwerdung des Menschen“ werde obsolet, meint Ricken (ebd., S. 406), weil in ihr eine hierarchische Interpretation der menschliche Entwicklungstatsache angelegt sei: „vom ‚noch nicht‘ zum pädagogisch bewirkten ‚aber dann‘“ (ebd.). Die Fruchtbarkeit des mit dem Kontingenzbegriff markierten pädagogischen Blickwechsels liegt darin, dass nichts anderes als die „Kontinuität des Menschlichen im dauernden Wandel des eigenen befristeten Lebens (Vor übergang), der damit eng verbundenen, sich verändernden Selbstgestaltungs- und Selbstdeutungsformen (Existenzialität) und der dafür konstitutiven, pädagogisch bedeutsamen Verwiesenheit und Angewiesenheit auf anderes und Andere (Konditionalität)“ (ebd., S. 405)
in Anspruch genommen werden. Ricken (ebd.) setzt sich damit gegen „pädagogische Menschenmacherei“ ebenso kritisch ab wie gegen „antipädagogische Menschenlasserei“. Will man alte Menschen davor bewahren, Opfer eines präjudiziellen Interpretationshorizonts jüngerer Bildungswissenschaftler/-innen oder -praktiker/-innen zu werden, dann sollte man auch auf den „Aufschluss des Alterns, des Alters und der Alten von ihnen selbst her“ hören. Freilich ist auch dieser Zugang, folgt man Ballauff (1984), insofern nicht unproblematisch, als auch die Selbstinterpretation der Alten „immer noch aus den Maßstäben der quotidianen Sozialisation abgeleitet wird“ (Ballauff 1984, zit. nach Breithausen 2011, S. 213). Ballauffs Betrachtungen zu ‚Bildung im Alter‘ sind durch die 4. aus dem Nachlass herausgegebene, erweiterte Auflage der „Pädagogik als Bildungslehre“ (2004) zugänglich: Der alte Mensch entdeckt vor allem seine Endlichkeit. Das aber kann, positiv gewendet, bedeuten, dass das Alter Aufschluss gibt über die
Alter und Bildung aus bildungsphilosophischer Perspektive
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„Grundkategorien des Lebens in ihrer Rätselhaftigkeit und Wunderbarkeit – des Schicksals, der Schuld, der Freiheit, des Entschlusses und der Selbstbestimmung, der Gewährung, der ‚Begabung‘, der Teilhabe, der Verantwortung, der Krankheit und des Leidens“ (Ballauff 2004, S. 202).
„Ohne Bildung sind wir Marionetten jenes Geschehens, das sich des Denkens bemächtigt und in seinen Dienst stellt.“ (ebd., S. 212) Die Frage, wie sich der Mensch im Wissen um seine Endlichkeit und sein Sterblichsein bestimmen soll, bleibt offen. Wird anerkannt, dass diese Frage offen ist, dass diese Frage nicht endgültig zu lösen ist, aber auch nicht abgewiesen oder zur stellvertretenden Beantwortung z. B. an die Wissenschaft abgetreten werden darf, dann bleibt sie bis zum letzten Moment aufgegeben. Die österreichische Schriftstellerin Ilse Helbich drückt das im Alter von 92 Jahren unnachahmlich aus: „Es lebt einer nicht von der Antwort auf seine Frage, er kann vielmehr in der Frage leben.“ (Helbich 2017, S. 133) Ob und wie durch pädago gisches Handeln dabei geholfen werden kann, mit einer notwendig offenen Frage umzugehen, ist dann die weitere Frage.
Ausgewählte Literatur Breinbauer, Ines M. 2008a. Bildung als Antwort … ? In Soziokulturelle Konstruktionen des Alters. Transdisziplinäre Perspektiven. Hrsg. Ferring, Dieter, Miriam Haller, Hartmut MeyerWolters und Tom Michels, 273 – 294. Würzburg: Königshausen & Neumann. Kubac, Richard. 2007. Notwendige Illusionen. Solidarische Anmerkungen zu bildungswissenschaftlicher Kritik in der condition postmoderne. Würzburg: Königshausen & Neumann. Ruhloff, Jörg. 1996. Bildung im problematisierenden Vernunftgebrauch. In Deutsche Gegenwartspädagogik. Band 2. Hrsg. Borelli, Michele, und Jörg Ruhloff, 148 – 157. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren.
Freiwilliges Engagement älterer Menschen und freiwilliges Engagement für ältere Menschen Monika Alisch
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Einleitung
„Freiwilliges Engagement ist vielfältig, es stellt eine zentrale Form der sozialen Teil habe dar und es ist wertvoll für die Demokratie“ (Simonson et al. 2016, S. 21). Mit diesem kurzen Satz fassen die Autor/-innen der Publikation der Ergebnisse der 4. Welle des Deutschen Freiwilligensurveys1 die Bedeutung von Engagement zusammen. Sie betonen, dass freiwilliges Engagement in der öffentlichen Debatte als „eine der zentralen Formen gesellschaftlicher Partizipation überwiegend positiv bewertet“ (ebd., S. 32) werde. Dabei sind die Erwartungen an Engagement hoch, denn es könne, so Olk und Hartnuß (2011, S. 5), „zum Zusammenhalt der Gesellschaft beitragen, die Demokratie weiterentwickeln und innovative Problemlösungen hervorbringen“. Aber wovon genau ist da eigentlich die Rede ? Im Bericht der Enquete Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ (Deutscher Bundestag 2002b, S. 38 ff.) wurde Engagement mit dem Zusatz „bürgerschaftlich“ durch fünf Kriterien beschrieben: Es ist freiwillig, nicht auf materiellen Gewinn gerichtet, gemeinwohlorientiert, findet im öffentlichen Raum statt und wird in der Regel gemeinschaftlich oder kooperativ ausgeübt. Damit ist (implizit) sowohl die bereichslogische als auch die handlungslogische Dimension von Engagement (vgl. Aner 2011) angesprochen und an sich schon ein breites Spektrum von Formen des Engagements entfaltet. Im Zweiten Engagementbericht der Bundesregierung wird dann Engagement – ohne Betonung des Freiwilligen und ohne den Zusatz des Bürgerschaftlichen oder Zivilgesellschaften – als ‚Dachbegriff‘ verwendet
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Der Deutsche Freiwilligensurvey (FWS) wurde im Jahr 1999 zum ersten Mal durchgeführt und seitdem im Abstand von fünf Jahren wiederholt (2004, 2009, 2014).
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_20
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„um den verschiedenen Ausdrucksformen der Selbstorganisation von Bürgerinnen und Bürgern und ihrer Verantwortungsübernahme für die Gestaltung der Gesellschaft vor Ort in größeren Zusammenhängen Rechnung zu tragen und einer Verengung in der Wahrnehmung von Engagement entgegenzuwirken“ (Klie 2018a, S. 10).
Diese Vielfalt von Engagement haben Evers, Klie und Roß (2015, S. 4 ff.) versucht als Spannungsfeld zwischen je zu vereinbarenden Polen abzubilden: Engagement zwischen (1) wechselseitiger praktischer Hilfe und Solidarität einerseits (Freiwilligenarbeit) und politischer Partizipation („Dialog und Mitsprache“); (2) Protest und Widerstand (Protest und Wandel) und der Stärkung von Gemeinsinn (Konsens und Wahrung); (3) organisiertem freiwilligen Engagement (institutionengebunden) und aktiver Sorge in informellen Netzwerken (informell selbstorganisiert) sowie (4) auf die eigene soziale Gruppe bezogen (bonding) als Möglichkeiten der Selbstbehauptung und auf eine andere Gruppe bezogen (bridging) bzw. zwischen unterschiedlichen Gruppen und Kulturen (vgl. ebd., S. 5 ff.; BMFSFJ 2017, S. 81). Solche Bemühungen, Engagement umfassend und differenziert zu erfassen, machen vor dem Hintergrund der von Thomas Klie oben schon angedeuteten Veren gung der Wahrnehmung von Engagement in der wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzung durchaus Sinn. Diskursive Verengungen, die gerade für die Auseinandersetzung mit dem Engagement von und für ältere Menschen relevant sind, werden in zweierlei Hinsicht sichtbar: Erstens hat sich mit der breiten, in erster Linie politischen Verwendung des Begriffs des ‚bürgerschaftlichen‘ Engagements und im Anschluss daran der ‚Bürgergesellschaft‘ eine wie Priller (2011, S. 35) feststellt „einseitig die ‚Teilhabe- und Demokratisierungsfunktion‘ des Engagements betonende Position und Erwartung in Deutschland etabliert“, mit der die „Übernahme verschiedener Aufgaben im Rahmen des Gemeinwesens“ (BMAS 2009) und somit eine Mitverantwortung für die Bewältigung gesellschaftlicher Aufgaben neben Staat und Markt erwartet wird. Im Gegensatz zum bürgerschaftlichen Engagement wird mit zivilgesellschaftlichem Engagement eher das basisnahe politische Engagement, das durchaus eine kritische Haltung gegenüber Staat und dem Markt bedeuten kann, verstanden. Diese Gratwanderung zwischen Engagement als Ausgestaltung von Teilhabe einerseits und als gesellschaftliche Verpflichtung andererseits, wird in der Auseinandersetzung mit dem Engagement von älteren Menschen als Kritik an der „Wiederverpflichtung des Alters“ (Naegele und Rohleder 2001, S. 416) und in der internationalen politischen Diskussion als positiv konnotiertes Active Aging diskutiert. Zweitens zeigt sich eine Verengung in der Wahrnehmung von Engagement in einer, lange Zeit vernachlässigten Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Engagement und sozialer Ungleichheit. Engagement und seine positive Bewertung für die Gesellschaft weist „eine deutliche Mittelschichtsorientierung auf “ (Klie 2018a, S. 10) und „die typische Förderung von bürgerschaftlichem Engagement“ (ebd.) ver nachlässigt „sozial benachteiligte Gruppen wie auch Personen mit Migrationsge
Freiwilliges Engagement älterer Menschen und für ältere Menschen
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schichte“ (ebd.). Für das Engagement von älteren Menschen ist deshalb zu zeigen, inwiefern vertikale (sozioökonomischer Status, d. h. Einkommen, Bildung berufliche Position) und horizontale Merkmale (u. a. Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit) sozialer Ungleichheit im Alter den Zugang zu Engagement beeinflussen. Drittens schließlich bleibt in den aktuellen Bestimmungen von Engagement eine historische Analyse außen vor, obwohl gerade diese zeigen kann, dass zum einen jegliche Engagementförderung – auch und gerade auf kommunaler Ebene – davon ausgehen muss, dass der Staat zwar prinzipiell in der Lage ist, den zivilgesellschaftlichen Bereich einzuengen oder zu erweitern, ihn jedoch nicht ‚mit Leben zu füllen‘ vermag (vgl. Aner und Hammerschmidt 2010). Zum anderen kann eine eine solche historisch-kritische bereichslogische Betrachtung verdeutlichen, dass Engagements, die im zivilgesellschaftlichen Raum stattfinden, gleichwohl das Gegenteil der oft pauschal behaupteten Demokratisierung bedeuten können, etwa wenn sie bestimmte Gruppen ausschließen und/oder die Verbreitung rassistischen Gedankenguts zum Inhalt haben (vgl. Aner und Hammerschmidt 2010; vgl. auch BMFSFJ 2016b, S. 23). Im Folgenden wird versucht, einen möglichst offenen bzw. weiten Engagementbegriff zu benutzen, sofern die Daten, auf die insbesondere die Beschreibung der Engagementverbreitung und -bereitschaft älterer Menschen basieren, dies zulassen. Das bedeutet, Engagement „ist keine einfach bestimmbare Eigenschaft“ (Köcher und Haumann 2018, S. 17) und somit nicht in nur einer einzigen Maßzahl zu erfassen, wenn „sowohl das ‚volunteering‘, also die gemeinnützige Arbeit im Rahmen von Organisationen, als auch die aktive Sorge für andere im Rahmen informeller Netzwerke und Formen der politischen Partizipation“ (ebd.) erhoben werden sollen.
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Engagement im Alter als Aufforderung zur Mitverantwortung
Mit der ‚Aktivitätsthese‘ wurde vor mehr als einem Jahrzehnt die bis dahin in Wissenschaft und Politik vorherrschende ‚Defizit- und Disengagementheorie‘ abgelöst (vgl. Pichler i. d. B.). Angenommen wurde seitdem, dass „alte Menschen dieselben psychischen und sozialen Bedürfnisse haben wie im mittleren Lebensalter“ (Pichler 2010, S. 418). Was nach einem Versuch klingt, das Alter(n) nicht mehr gleichzusetzen mit Defiziten und dem unabwendbaren Abbau sozialer Teilhabechancen, wurde zum Ausdruck sozialer Ausgrenzung derer, die nicht aktiv sein und sich nicht auch noch im Alter zur Mitverantwortung für gesellschaftliche Aufgaben verpflichten können. Block fasst den Aktivierungsdiskurs zusammen und resümiert aus der Perspektive der adressierten Ruheständler/-innen: „Diese sozialpolitische Aktivierungsanrufung formuliert die Erwartung, die eigene Leistungsfähigkeit trotz Austritt aus dem Erwerbsleben weiter unter Beweis stellen zu müssen“ (Block 2014, S. 2) und auch im Alter Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen. Aner und Hammerschmidt (2007) haben dieses Verständnis des ‚aktiven Alter(n)s‘ deutlich kritisiert als Verschleierung des Abbaus sozialstaatlicher Leistungen
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im Zuge des Umbaus vom versorgenden zum aktivierenden Staat (vgl. auch van Dyk 2007). Mit der „Anrufung“ des Engagements älterer Menschen sieht van Dyk (ebd., S. 93) die „Gefahr einer Indienstnahme der älteren Menschen“ (ebd., S. 416) für die politische Strategie, soziale Dienstleistungen ins Private und in die Zivilgesellschaft zu verlagern (vgl. Alisch et al. 2018). „Unter den Bedingungen des demographischen, sozialen und kulturellen Wandels, dem Fachkräftemangel im Handlungsfeld von Sorgearbeit und Pflege wird in der öffentlichen Diskussion regelmäßig auf die gesellschaftliche sowie sozialpolitische Bedeutung dieses freiwilligen Engagements (insbesondere von älteren Menschen) für ältere, hilfebedürftige Menschen hingewiesen.“ (ebd., S. 27)
Dieser Diskurs spiegelt sich auch deutlich in den letzten drei Berichten zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland – kurz: den ‚Altenberichten‘ (vgl. BMFSFJ 2006a, 2010, 2016) – sowie den beiden Engagementberichten (BMFSFJ 2010, 2017) wider. Eine reformpolitische Orientierung, „die auf Zivilgesellschaft und Engagement setzt, ohne damit nur Ausfallbürgschaften für einen sich zurückziehenden Sozialstaat zu verbinden“, sehen Klein et al. (2010, S. 25) als immer noch randständig in der Diskussion. Eine weitere Kritik am Diskurs zum ‚Aktiven Altern‘ bezieht sich auf die meist unbeachteten ungleichen Zugänge zu Teilhabe und Engagement, wenn eine positiv konnotierte wachsende Engagementbereitschaft älterer Menschen als umfassend und unentbehrlich vorausgesetzt wird, sodass mit ihr im wahrsten Sinne des Wortes zu rechnen ist: „Die wachsende Engagementbereitschaft älterer Menschen sowie die nationalen, regionalen und lokalen Förderprogramme zeigen, dass sowohl auf der individuellen als auch auf der politischen Ebene eine aktive Bürgerrolle älterer Menschen vermehrt angenommen und vorausgesetzt wird.“ (BMFSFJ 2010, S. 65)
Wie zeigt sich tatsächlich diese Engagementbereitschaft und -beteiligung ?
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Engagement von älteren Menschen
In sozialwissenschaftlichen Studien zu Engagement und Alter(n) werden besonders die Engagementbereitschaft, die Engagementbeteiligung und die Motive, sich zu engagieren, thematisiert. Köcher und Haumann (2018, S. 60) analysieren aus den Daten des Deutschen Freiwilligensurveys, dass der Anteil der freiwillig Engagierten in der Altersgruppe der über 64-Jährigen zwischen den Jahren 1999 und 2009 im Gegensatz zu den Personen im mittleren Alter von 23 % auf 28 % gestiegen sei und bis zum Jahr 2014 das Engagement der Älteren – wenn auch deutlich geringer als in den jüngeren
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Altersgruppen – weiter zugenommen hat. Simonson et al. (2016) zeigen, dass die Engagementquote für die 50- bis 64-Jährigen in den fünf Jahren von 2009 bis 2014 um neun Prozentpunkte gestiegen ist, die der über 64-Jährigen um nur fünf Prozentpunkte. Ob sich daraus ein Trend ergibt, sei nicht absehbar. Die Engagementbereitschaft steht auch im Zusammenhang mit anderen sorgenden Tätigkeiten, die Ältere in der familiären Pflege oder der Kinderbetreuung ausführen. Je intensiver Zeit und Kraft hier gebunden sind, desto weniger kann die grundsätzliche Bereitschaft, sich zu engagieren, auch umgesetzt werden (vgl. Micheel 2015). In einer Sonderauswertung zum Engagement älterer Menschen wurde deutlich: „Menschen im Alter von 55 bis 64 Jahren engagieren sich mit einem Anteil von 45,2 % nicht seltener, sondern häufiger als der Bevölkerungsdurchschnitt. Auch bei den 65- bis 74-Jährigen ist die Engagementquote mit 41,5 % nur geringfügig kleiner als im Durchschnitt der Bevölkerung. Erst bei Personen ab 75 Jahren, also an der Schwelle zum hohen Alter, geht das freiwillige Engagement zurück.“ (Vogel et al. 2017b, S. 6)
Währenddessen war im Jahr 2000 der Rückzug aus dem öffentlichen Engagement bereits in der Gruppe der 65- bis 74-Jährigen zu beobachten (Kocher und Haumann 2018, S. 60). „Der Ruhestandseffekt, das heißt die (Wieder-)Aufnahme eines Engage ments nach dem Ende des Berufslebens, ist also deutlich stärker geworden“ (ebd., S. 60). Die Autoren zeigen, dass sich gerade bei den 70- bis 74-Jährigen der Anteil der Engagierten seit dem Jahr 2000 von 16 % auf 27 % erhöht habe. Im Vergleich zu jüngeren Engagierten ist die Beteiligung von Personen im Alter von 50 bis 64 Jahren im sozialen Bereich sowie im kulturellen und musischen, im Freizeit- und Geselligkeitsbereich, aber auch in der politischen Interessenvertretung überdurchschnittlich hoch (vgl. Vogel et al. 2017b, S. 111). Ein Blick auf die Zielgruppen, auf die ein soziales Engagement gerichtet ist, zeigt, dass gut ein Drittel (36,2 %) der Engagierten im Alter zwischen 50 und 64 Jahren sich für Belange von Kindern und Jugendlichen engagiert und etwa ebenso viele sich bevorzugt für ältere Menschen einsetzen (35,4 %) (vgl. Simonson et al. 2016, S. 319). Etwa jeder sechste in dieser Altersgruppe richtet sein Engagement auf hilfe- und pflegebedürftige Menschen – gleich welchen Alters (16,5 %). Engagierte, die älter als 64 Jahre sind, zeigen andere Präferenzen bezogen auf die sozialen Gruppen, auf die sie ihr Engagement richten: Mehr als die Hälfte dieser älteren Menschen engagiert sich für ältere Menschen (56,9 %). Weniger als ein Drittel (30,2 %) engagiert sich für Familien und knapp ein Viertel für Kinder und Jugendliche (24,5 %). Explizit Hilfe- und Pflegebedürftige werden nur von gut jeder/jedem fünften älteren Engagierten (21,9 %) als Zielgruppe des Engagements benannt (vgl. Vogel et al. 2017b). Für die noch Engagierten im Alter von mindestens 75 Jahren, stellen Vogel et al. fest, dass der soziale Feld den größten Engagementbereich für diese Altersgruppe darstellt (ebd., S. 7). Mehr als zwei Drittel dieser Älteren engagieren sich für ältere Menschen und übernehmen so Aufgaben sozialer Arbeit, die in der kommunalen Selbstverwaltung als freiwillige Aufgaben am
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Monika Alisch
ehesten im Haushaltsplan entbehrlich erscheinen. In diesen Analysen der Daten zum Freiwilligen Survey fällt auf, dass ungleiche Zugänge zum Engagement entlang der Merkmale sozialer Ungleichheit verdeckt bleiben. Deshalb soll im nächsten Abschnitt der Zusammenhang von Engagement und sozialer Ungleichheit im Alter thematisiert werden.
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Engagement und soziale Ungleichheit im Alter
Eine Beschreibung der Engagementbereitschaft und der Engagementbereiche und -motive lässt vor allem Aussagen zu, wie sich freiwilliges Engagement älterer Menschen im Vergleich zu anderen Altersgruppen gestaltet oder sich im Lebensverlauf entwickelt. Tendenziell wird die soziale Gruppe Älterer somit als weitgehend homogen behandelt. Allerdings sind Partizipation und Engagement sozial ungleich verteilt: Hank und Erlinghagen (2009) zeigen, dass Partizipations- bzw. Engagementchancen älterer Menschen durch ihren Bildungsstatus beeinflusst werden. Mit zunehmendem Alter werden Gesundheitsindikatoren für Partizipation relevanter, die aber gleichzeitig eng verknüpft sind mit dem sozioökonomischen Status (vgl. u. a. Hank et al. 2006; Vogel et al. 2017b, S. 6). Schwierige sozioökonomische und soziokulturelle Bedingungen erweisen sich als Barrieren für ein Engagement benachteiligter Älterer. „Freiwilliges Engagement spiegelt nicht in erster Linie persönliche Präferenzen, sondern wesentlich ungleiche Zugangschancen für gesellschaftlich sichtbare und anerkannte Funktionen in der Zivilgesellschaft“ (Alisch und Kümpers 2015, S. 6; vgl. auch Kümpers und Alisch 2018a, S. 605). Eine Analyse der sozialen Ungleichheit in den Zugängen zu Engagement und damit auch zu sozialer Teilhabe im Alter zeigt zudem, dass sich verschiedene Merkmale sozialer Ungleichheit überlagern. Aner und Köster (2016, S. 479) betonen, dass äl tere Menschen mit geringerem Einkommen und eher niedrigen formalen Bildungsabschlüssen durch „unterschwellig destruktive und dissoziale Mechanismen“ von partizipativen Prozessen ausgeschlossen bleiben. An dieser Stelle werden exemplarisch drei Perspektiven auf diesen Zusammenhang dargestellt: Erstens der Zusammenhang von Alter, Geschlecht und Engagement, zweitens das Engagement älterer Migrant/-innen und drittens der Zusammenhang von Engagement und sozialräumlichen Ungleichheiten. Die Lebenslagen von älteren Frauen sind geprägt von einem durchschnittlich geringeren Bildungsstatus, einem niedrigeren sozialen Status, niedrigeren Renten und damit verbunden einem höheren Armutsrisiko sowie einer höheren Morbidität bei längerer Lebenserwartung (ausführlich vgl. Brandt und Schmitz i. d. B.). Aus den Statistiken zum Engagement ist wegen des oben skizzierten Zusammenhangs erwartungsgemäß ersichtlich, dass sich Männer anteilig noch immer stärker engagieren als Frauen. Dies ist über einen langen Zeitraum so gewesen, wobei sich der Abstand zwischen den beiden Geschlechtergruppen deutlich verringert hat (vgl. u. a. Vogel
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et al. 2017a). Die gleichwohl weiterhin bestehende Differenz zwischen Männern und Frauen hängt allerdings auch damit zusammen, dass viele Untersuchungen Engagement verengt auf formalisiertes Engagement z. B. in Vereinen, Initiativen oder Verbänden definieren, in denen eher Männer mit entsprechender Bildung aktiv Funktionen übernehmen. Ein Engagement für Sorgeaufgaben außerhalb der eigenen Familie wird auch im Alter vor allem von Frauen geleistet – ein Engagement, das erst im zweiten Engagementbericht explizit in die Berichterstattung einbezogen wurde (vgl. Klie 2018a). Als pflegende Angehörige haben diese Frauen in ihrer Biografie häufig Einbußen für die eigene Gesundheit, soziale Teilhabe und für die eigene Alterssicherung in Kauf genommen. Viele Formen des freiwilligen Engagements waren und sind damit verbunden, dass man sie sich sowohl finanziell als auch zeitlich erlauben kann. In der Gruppe der Engagierten im Alter von über 75 Jahren sorgen sich drei von vier der engagierten Frauen dieser Altersklasse um andere ältere Menschen. Von den männlichen Engagierten in diesem Alter unterstützen 58,1 % freiwillig andere ältere Menschen (vgl. Vogel et al. 2017a). Bereswill und Braukmann stellen generell eine Forschungslücke in Bezug auf Geschlechterverhältnisse im Engagement fest (2014, S. 18). Zudem bleibt häufig offen, warum Frauen und Männer welche Formen des freiwilligen Engagements unter welchen Voraussetzungen und in welchen Lebenssituationen ausüben (vgl. Vogel et al. 2017a, S. 638). Engagement ist also voraussetzungsvoll: „Es bedarf im Lebenslauf akkumulierter soziokultureller Kompetenzen, eines entsprechenden Selbstverständnisses oder Habitus, um in den Feldern des formellen (freiwilligen) Engagements Zugang zu Rollen und Funktionen zu erhalten.“ (Kümpers und Alisch 2018a, S. 606)
In dieser Weise soziale Teilhabe zu erleben, ist für die älteren Generationen der in Deutschland lebenden Migrant/-innen meist keine biografische Erfahrung. Es ist auch davon auszugehen, dass Zugewanderte durchaus andere Vorstellungen davon mitbringen, was Engagement bedeutet. Gesellschaftsbilder, die insbesondere die Generation der Gastarbeiter/-innen mitgebracht hat, erwarten „eine hohe (Solidaritäts-) Verpflichtung und sozialisationsbedingte Reziprozitätsnormen gegenüber der Familie, der Nachbar- oder Dorfgemeinschaft“ (BMFSFJ 2017, S. 195). Dies drückt sich im Aufnahmeland z. B. in der Alltagsorganisation älterer Migrant/-innen in städtischen Wohnquartieren aus. Hier lassen sich öffentlich kaum sichtbare, aber dichte Netzwerke informeller Selbsthilfe und gegenseitiger Unterstützung identifizieren (vgl. May und Alisch 2013). Dabei sind solche nachbarschaftlichen Sorgenetzwerke Ausdruck sozialer Teilhabe und Engagement im Sinne eines breit angelegten Engagementverständnisses. Allerdings ist dieses Engagement nachweislich fragil und erfordert Unterstützung, auch und gerade, um den Zugang zu Ressourcen im Hilfesystem und formalem Engagement zu eröffnen. Diese Fragilität ist, wie insgesamt bei älteren Menschen, der mit dem Alter zunehmenden Vulnerabilität geschuldet, weist aller-
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Monika Alisch
dings auch auf Erfahrungen alltäglicher Diskriminierung im Umgang mit z. B. Ämtern, Behörden oder anderen Bereichen von Öffentlichkeit hin. Ambivalent wird noch immer die Bedeutung des Engagements von älteren Migrant/-innen in Migrantenselbstorganisationen politisch und wissenschaftlich behandelt (vgl. Haug und Pointer 2007; BMFSFJ 2016b, S. 196). Dabei ist auch vor dem Hintergrund der alltäglichen Erfahrungen, die heute ältere Migrant/-innen im Aufnahmeland gemacht haben, im Einzelfall empirisch zu klären, ob ein Engagement, das sich auf Interessen der eigenen ethnischen Community bezieht, integrationsbeför dernd oder -hemmend wirkt. Durchaus nachweisbar ist, dass solches Engagement keineswegs im Widerspruch stehen muss zu einem großen Interesse an den Geschehnissen und Aktivitäten im eigenen Stadtteil mit allen dort Lebenden unabhängig von Herkunft oder Alter (vgl. u. a. May und Alisch 2012, 2013). Ob es gelingt, diese Engagementbereitschaft auch in Engagement umzusetzen, hängt signifikant mit den räumlichen Strukturen und Gegebenheiten zusammen, die freiwilliges Engagement und die Bildung von entsprechenden (Interessens-)Gemeinschaften ermöglichen oder erschweren. Dies gilt allerdings für alle Älteren unabhängig von einem Migrationshintergrund. Die internationale Forschung zu Effekten sozialräumlicher Nachbarschaft auf die Lebenssituation der Bewohner/-innen bezieht sich auf strukturelle Aspekte der Wohnverhältnisse (Wohnraumverteilung und -zugang, Wohnraumstruktur, soziale und ökonomische Infrastruktur), sozio-strukturelle Merkmale der Bewohner/-innen und die dadurch vermittelten Möglichkeiten der Gemeinschaftsbildung im Sozialraum, die sich in sozialen Milieus, Kommunikations- und Verhaltensstilen, politischer Kultur und Partizipation ausdrücken (vgl. Dangschat und Alisch 2012, 2014). Entsprechend beeinflussen sozialräumliche Ungleichheiten auch die Zugänge zu Ressourcen, die für Aufbau und Erhalt kompensatorischer sozialer Netzwerke erforderlich wären. Sozialräumliche Ungleichheiten sind bezogen auf die Verwirklichung von Teilhabechancen über freiwilliges Engagement also von großer Bedeutung (vgl. u. a. Kümpers und Alisch 2018a, S. 607 f.). Dabei sind kleinräumige und großräumige Disparitäten zu unterscheiden. Simonson et al. (2016) beziehen sich auf regionale Ungleichheiten, wenn sie konstatieren, „dass die soziale Teilhabe bei Personen in wirtschaftlich schwachen Regionen deutlich geringer ausgeprägt ist als bei Personen in wirtschaftlich starken Regionen“ (ebd., S. 607 f.). Dies lässt sich für unterschiedliche ländliche Räume ebenso wie für städtische Regionen festhalten. Kleinräumig bieten Wohnquartiere für Ältere in unterschiedlichem Maße Gelegenheit und Zugang zu Engagement. Dort, wo die Fluktuation der Wohnbevölkerung hoch ist, z. B. in innerstädtischen Großstadtquartieren aber auch in ländlichen Kleinstädten und Gemeinden mit hohen Abwanderungszahlen, sind die Möglichkeiten für gemeinschaftliches Engagement begrenzt bzw. immer wieder neu herzustellen. Gleichzeitig beeinflussen die soziale Einbindung, das Vorhandensein sozialer Unterstützung und ein gewisser Zusammenhalt in der unmittelbaren Wohnumgebung Engagement: „So erhöht ein großer Bekanntenkreis nicht allein die Wahrscheinlichkeit des freiwilligen Engage-
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ments im Alter. Zugleich wirkt das Engagement auch der Verkleinerung des Bekanntenkreises im Alter entgegen“ (BMFSFJ 2017, S. 265).
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Engagement für ältere Menschen
Bis hierher wurde ausgeführt, wie freiwilliges Engagement älterer Menschen in einer sozial differenzierten Gesellschaft beschrieben werden kann. Köcher und Haumann (2018, S. 65) stellen in ihrer Übersicht „Engagement in Zahlen“ allerdings ernüchternd fest: „[W]ährend über das Engagement der Älteren vergleichsweise viele Daten zur Verfügung stehen, gibt es noch erhebliche Informationslücken im Hinblick auf das Engagement für Ältere“. Sie verdeutlichen, dass im „Kern der Leistungen für Ältere die Angehörigenpflege von Älteren“ (ebd., S. 64) stehe: Von den 1,8 Millionen Pflegebedürftigen, die im Jahr 2011 Leistungen aus der Pflegeversicherung erhielten und zuhause gepflegt wurden, wurden 1,2 Millionen Personen „ausschließlich durch ihre Angehörigen“ (StaBuAmt 2013) gepflegt. Sich für Ältere zu engagieren scheint unauflösbar mit einem defizitären Blick auf Ältere als früher oder später Pflege bedürftige verbunden zu sein. Auch der Freiwilligensurvey 2014 zeigt, dass weniger als ein Drittel (30 %) der Hauptaktivitäten von freiwillig Engagierten „vor allem älteren Menschen gelten. Die Leistungen der Freiwilligen für Ältere werden insbesondere im Sozial- und Gesundheitsbereich erbracht“ (Köcher und Haumann 2018, S. 67). Außerdem zeigen die Ergebnisse des Freiwilligensurvey, dass es vor allem ältere Menschen sind, die sich für andere Ältere einsetzen (vgl. Simonson et al. 2016, S. 301). „Ältere engagieren sich häufiger als Jüngere für Ältere unter 75 Jahren, für Personen ab 75 Jahren und für Ältere gemischten Alters.“ (ebd., S. 327) In der Altersgruppe der 65- bis 74-jährigen Engagierten sind es 50,5 %, die sich für andere ältere Menschen einsetzen (vgl. Vogel et al. 2017b, S. 29). Mehr noch, das sehr herausfordernde Engagement für ältere Menschen mit einer Demenzerkrankung ist bei älteren Engagierten ausgeprägter als bei jüngeren (vgl. ebd., S. 328). Hier sind es vor allem ältere Frauen, die ihr Engagement auf Demenzerkrankte außerhalb der eigenen Familie richten. Eine etwas andere Perspektive auf das Engagement für die Belange älterer Menschen bietet die Diskussion um die Bedeutung von solidarischem Engagement meist von Älteren für Ältere in Seniorengenossen oder Bürgerhilfevereinen (vgl. Alisch et al. 2018). Die Grundidee, sich für und in solidarischen oder sozialen Organisa tionen zu engagieren, ist historisch gesehen meist die Reaktion auf Krisen gewesen. Solidarische Organisationen wie Genossenschaften galten als mögliche Lösungen für die „akuten Krisenentwicklungen und Probleme der Existenzsicherung und den Schwund von Erwerbsarbeit“ (vgl. u. a. Klöck 1998; Elsen 2007). Flieger (1998, S. 139) hatte in diesem Kontext „Sozialgenossenschaften Betroffener“ von den „solidarischen Sozialgenossenschaften“ und „professionellen Genossenschaften“ unterschieden. Dabei greifen solidarische Sozialgenossenschaften „verstärkt auf die im Sozialbereich verbreitete Form des Ehrenamts zurück bzw. ihre Mitglieder bringen
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in größerem Maße unbezahlte Arbeit in die Genossenschaft ein“ (ebd.). Flieger ordnet dieser Form der helfenden Selbstorganisation auch die ersten Seniorengenossenschaften zu, die in den 1990er Jahren zunächst insbesondere in Baden-Württemberg entstanden sind. Bezogen auf die Versorgung der wachsenden älteren Bevölkerung, verbinden Rosenkranz und Beyer (2015, S. 12) „die Frage nach den Wünschen der individuellen Lebensführung mit der Frage, wie die Daseinsvorsorge im überschauba ren Nahraum künftig organisiert werden kann“. Ihre in den letzten Jahren breit diskutierten Vorstellungen von Seniorengenossenschaften beschreiben ein Instrument, „das die etablierten Strukturen der Versorgung im Alter durch Elemente bürgerschaftlichen Engagements ergänzt“ (ebd., S. 13; vgl. ausführlich Alisch et al. 2018, S. 34 ff.). Die Einbindung des Engagements der älteren Mitglieder steht im Vordergrund: „Sie entrichten nicht ‚nur‘ einen finanziellen Beitrag, sondern praktizieren genossenschaftliche Selbsthilfe durch den Austausch von selbsterbrachten Leistungen mit dem Ziel, die Mitgliederbedürfnisse kooperativ zu befriedigen“ (Schmid 2011, S. 21) und neben Dienstleistungen der Alltagsunterstützung, soziale Teilhabe und Gemeinschaft zu ermöglichen (vgl. Görtler 2015; Alisch et al. 2018). Köstler (2017, S. 176) betont die gegenseitig praktizierte soziale Selbsthilfe in solchen solidarischen Seniorengenossenschaften und sieht sie als „wichtigen Engagementpartner“ im Gemeinwesen (ebd.). Seniorengenossenschaften werden von Görtler (2015, S. 30 f.) beschrieben „als eine auf Dauer angelegte Organisation von sich bei Hilfebedarf füreinander und gegenseitig bürgerschaftlich engagierenden Menschen, die in einem selbstgeschaffenen verbindlichen Rahmen agieren“. Im Zweiten Engagementbericht der Bundesregierung werden Seniorengenossenschaften in ihrer Bedeutung für das Engagement herausgestellt (Klie 2018a, S. 12). Schulz-Nieswandt gibt jedoch zu bedenken, „dass die eingetragenen Genossenschaften sich selbst dagegen wehren, als Erfüller öffentlicher Aufgaben gesehen zu werden“ (Schulz-Nieswandt 2017b, S. 346). Gezeigt werden kann in qualitativen Studien auch, dass die in der Weise Engagierten großen Wert darauf legen, ehrenamtlich, freiwillig und selbstbestimmt aktiv zu sein und eben nicht Anrufungen an Professionalisierung in Bereichen des Managements von Seniorengenossenschaften oder der Pflege folgen wollen (vgl. Alisch et al. 2018; Alisch und Ritter 2019). Damit kommt der gesellschaftspolitische Anspruch an das Engagement von Älteren und für Ältere im Verständnis einer notwendigen und vermeintlich unverzichtbaren ‚Mitverantwortung‘ wieder in den Blick, welcher den Diskurs zum freiwilligen Engagement wie ein roter Faden durchzieht.
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Fazit
Die gesellschaftliche, politische und wissenschaftliche Diskussion um freiwilliges Engagement von älteren Menschen und für ältere Menschen bleibt von ambivalenten Einschätzungen geprägt, die im Engagement ebenso einen Ausdruck demokratischer Teilhabe erkennen als auch eine Vereinnahmung der Zivilgesellschaft für sonst nicht
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mehr lösbare und finanzierbare sozialstaatliche Aufgaben. Im Hinblick auf die Soziale Arbeit ist das freiwillige Engagement von älteren und für ältere Menschen in unterschiedlicher Weise relevant. Zum einen bezieht sich die Betonung, dass dieses Engagement inzwischen unentbehrlich sei, gerade auf Handlungsfelder der Sozialen Arbeit. Zunehmend kann der laufende Betrieb insbesondere von offenen Angeboten z. B. in der Kinder- und Jugendarbeit, der Altenarbeit, der Gemeinwesenarbeit oder der Kulturarbeit nur noch durch den freiwilligen Einsatz ehrenamtlicher Kräfte abgedeckt werden und erscheint so als notwendige Ergänzung der finanzierten hauptamtlichen Sozialen Arbeit. Gleichzeitig hat sich mit dem Einsatz von freiwillig Engagierten eine neue Aufgabe für Sozialarbeiter/-innen entwickelt. Denn die Engagierten zu koordinieren, durchaus auch in Haltungen und methodischem Handeln zu unterstützen und die Wertschätzung ihrer Arbeit zu organisieren, sind zusätzlich zu leistende und durchaus herausfordernde Aufgaben (vgl. Aner 2007). Nicht ohne Grund wird in der Akkreditierung von Studiengängen der Sozialen Arbeit die Thematisierung des freiwilligen Engagements seit einiger Zeit ausdrücklich eingefordert. Die Zukunft des freiwilligen Engagements von und auch für ältere Menschen wird somit maßgeblich davon abhängen, wie es gelingt, Infrastrukturen bereitzustellen, die Gelegenheiten für Teilhabe und Engagement geben, ohne dass dafür erst individuell Ressourcen bereitstehen müssen (materielle und immaterielle wie Information, Wissen über das Hilfesystem etc.). Das vorhandene Engagement zu unterstützen, bedeutet allerdings auch, es als solches und in seinen Eigenlogiken von Selbstbestimmung zu akzeptieren und zu stärken, indem insbesondere auf lokaler bzw. kommunaler Ebene der Zugang zu den Ressourcen für ein Engagement für alle sozialen Gruppen älterer Menschen ermöglicht und eine Vereinnahmung und Überforderung der Engagierten vermieden wird. Auch darin liegen sicherlich zukünftige Aufgaben Sozialer Arbeit.
Ausgewählte Literatur Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). 2016. Siebter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland: Sorge und Mitverantwortung in der Kommune – Aufbau und Sicherung zukunftsfähiger Gemeinschaften und Stellungnahme der Bundesregierung zum Bericht der Sachverständigenkommission. https://www.siebter-altenbericht.de. Zugegriffen: 17. September 2018. Klein, Ansgar, Thomas Olk, und Birger Hartnuß. 2010. Engagementpolitik als Politikfeld: Entwicklungserfordernisse und Perspektiven. In Engagementpolitik. Die Entwicklung der Zivilgesellschaft als politische Aufgabe. Hrsg. Klein, Ansgar, Thomas Olk und Birger Hartnuß, 24 – 59. Wiesbaden: VS. Kümpers, Susanne, und Monika Alisch. 2018a. Altern und Soziale Ungleichheiten – Teilhabechancen und Ausgrenzungsrisiken. In Handbuch Armut und Soziale Ausgrenzung. Hrsg. Huster, Ernst-Ulrich, Jürgen Boeckh und Hildegard Mogge-Grotjahn, 597 – 618. 3. Auflage. Wiesbaden: VS.
Diversität im stationären Pflegealltag Eva Soom Ammann
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Diversität und Ungleichheit
1.1
Gesellschaftliche Vielfalt nimmt zu, auch im Alter
Der Begriff Diversität wird gegenwärtig breit benutzt, um die Vielfalt individueller Lebensstile und -lagen in modernen Gesellschaften zu bezeichnen. Menschen unterscheiden sich nach Kriterien wie Alter, Geschlecht, sozialer Position, Bildung, sexueller Orientierung, Religion, Herkunft, körperlicher und geistiger Beeinträchtigung. Jeder Mensch ist darin individuell, und dennoch lassen sich anhand aller hier benannten Dimensionen auch Gruppen bilden, die ähnliche Merkmale aufweisen. Relevant ist dies hier insofern, als Fachpersonen bspw. aus der Pflege oder der Sozialen Arbeit gefordert sind, mit dieser Vielfalt angemessen umgehen zu können. Versorgung – hier ganz breit verstanden als das staatlich gelenkte Zur-Verfügung-Stellen von Leistungen für die Gesellschaft – soll in demokratischen Wohlfahrtsstaaten allen in gleichem Maße zugänglich sein. Diese sind aber gleichzeitig herausgefordert durch Effekte, die sich auf den Zugang zu und die Nutzung von Versorgung auswirken. Gesellschaftliche Vielfalt ist nicht einfach nur Verschiedenheit unter Gleichen, sondern sie ist, oft in sehr komplexer Weise, auch mit Ungleichheit und Benachteiligung verbunden – entsprechend muss der Wohlfahrtsstaat steuern, um allen Bürger/-innen Zugang zu seinen Leistungen zu gewähren. Globalisierung und Individualisierung führen dazu, dass Gesellschaften mit einer Vervielfältigung von Wertorientierungen und Zugehörigkeiten konfrontiert sind, einer zunehmenden Entbindung aus gemeinschaftlichen Strukturen wie der Familie, der Gemeinde, religiösen Gemeinschaften und sozialen Schichten. Damit einher geht auch eine gewisse Befreiung aus kollektiven Normvorgaben. Dies schafft Raum, aber auch Verpflichtung für die individuelle Ausgestaltung von Lebensweisen und sozialen Beziehungen (Beck 1986). Zugehörigkeiten zu gesellschaftlichen Subgruppen und © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_21
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Lebenswelten sind damit zu einem gewissen Grad wähl- und gestaltbar. Gleichzeitig grenzen strukturelle Faktoren sowie materielle, soziale und Wissensressourcen die Wahlmöglichkeiten von Menschen ein (Giddens 1997). Die neuen Freiräume sind letztlich ungleich nutzbar, Zugehörigkeiten sind strukturell mitbestimmt, und sie werden auch von außen zugeschrieben. All dies prägt auch das Altern (von Kondratowitz 2007) und wird sich zunehmend in den Altersheimen bemerkbar machen. Das Altersheim als Versorgungssetting wirkt einerseits auf den ersten Blick homogen: Es umfasst Bewohnende, welche sich alle durch fortgeschrittenes Alter und körperliche und/oder kognitive Beeinträchtigungen auszeichnen. Aufgrund höherer Lebenserwartung und längerem Verbleib zu Hause nehmen die Komplexität der Pflege- und Betreuungsbedarfe zu und die Möglichkeiten zur selbstbestimmten Gestaltung ab. Heime übernehmen die Gestaltung der Lebenswelt, und deshalb gerät die auch unter Bewohnenden zunehmende Vielfalt etwas aus dem Blick. Kennzeichnend für das Setting Heim ist andererseits eine hohe Diversität unter den Pflegenden, nicht nur bezüglich beruflicher Qualifikation, sondern insbesondere auch im Hinblick auf Migrationshintergrund, was das Heim zu einem hochdiversen Umfeld macht (Liewald 2012). In den Gesundheitswissenschaften werden verschiedene Begriffe gebraucht, um die Vielfalt individueller Lebenslagen und deren Ungleichheitsdimensionen zu fassen. Ungleichheit interessiert dabei insbesondere dann, wenn sie potenziell negative Konsequenzen auf die Gesundheit hat, also wenn es um Benachteiligungen und Vulnerabilitäten geht. 1.2
Ungleichheiten in der Vielfalt
Die Begriffe Benachteiligung und Vulnerabilität nehmen soziale Positionen mit eingeschränkten Wahlmöglichkeiten in den Blick, jedoch aus unterschiedlichen Positionen. Damit setzen sie auch unterschiedliche Schwerpunkte. Vulnerabilität (Streich 2009; Biller-Andorno et al. 2015) fokussiert auf die Verletzlichkeit einer Person und hat damit implizit eine Tendenz, diese als Opfer darzustellen und deren Handlungsmächtigkeit zu vernachlässigen (Streich 2009). Ressourcen stehen hier zu wenig im Blick – wobei eine Überbetonung individueller Ressourcen ebenso die Gefahr birgt, die Verantwortung für Lebenslage und Gesundheit dem Individuum zuzuschreiben und strukturelle Faktoren zu vernachlässigen. Der Begriff der Benachteiligung fokussiert auf die strukturellen Faktoren und damit auf die Auswirkungen von Ungleichheit bspw. auf die Gesundheit von Einzelnen (Stamm und Lamprecht 2009). Benachteiligung als Begriff verweist somit explizit auf gesellschaftliche Faktoren, die Ungleichheit verursachen, und trägt damit auch die politische Frage nach der kollektiven Verantwortung in sich (Streich 2009; Stamm und Lamprecht 2009). Im Alter wirken strukturelle Ungleichheiten nach, ja sie können sogar kumulieren, denn soziale Determinanten der Gesundheit wie bspw. Armut, Arbeitsverhältnisse,
Diversität im stationären Pflegealltag
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Umweltbelastungen führen zu früherem körperlichem Altern und schlechterer sozialer und ökonomischer Absicherung (vgl. dazu die Beiträge in Teil II, Kapitel 2 i. d. B.). Darüber hinaus kann Alter an sich als eine Benachteiligung betrachtet werden, die allerdings auch sozialstaatlich abgesichert wird: durch Renten und Kranken-/Pflegeversicherungen, unabhängig von individuell zur Verfügung stehenden Ressourcen (vgl. dazu die Beiträge in Teil II, Kapitel 1 i. d. B.). Als Institutionen mit umfassendem Versorgungsauftrag können Heime auch als geeignete Massnahme betrachtet werden, um eine für alle zugängliche Rundum-Versorgung für komplexe Pflege- und Betreuungsbedarfe im Alter zu sichern. 1.3
Diversität und wohlfahrtsstaatliche Versorgungssysteme
Gegenwärtig wird der Zugang zu sozialen Sicherungssystemen und wohlfahrtsstaatlichen Leistungen über die Zugehörigkeit zum Nationalstaat reguliert. Sein System wohlfahrtsstaatlicher Leistungen ist der relevante Bezugsrahmen, um die Bedeutung von Diversität im Kontext pflegerischer oder sozialarbeiterischer Versorgung zu erfassen. Denn angesichts der Herausforderungen pluraler Gesellschaften ist das wohlfahrtsstaatliche Versorgungssystem gefordert, individualisierte Angebote zur Verfügung zu stellen, für alle Mitglieder einer Gesellschaft, unabhängig von ihrer Lebensgestaltung und Lebenslage. Herausfordernd ist dies für den Wohlfahrtsstaat, weil dieser ursprünglich auf eine uniforme one-size-fits-all-Versorgung gesetzt hat und sich dabei eine gewisse Diversitätsblindheit etabliert hat (Cattacin et al. 2013, S. 250). Gesellschaften beinhalten aber eben auch Ungleichheit, die sich auf die Chancen für ein sicheres und gesundes Leben sowie auf die Nutzung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen auswirken kann. Das Streben nach einer diversitätsgerechten Versorgung hingegen fokussiert oft auf Gruppen, die als besonders benachteiligt gelten, wie bspw. Migrant/-innen, Menschen mit Behinderung oder alleinerziehende Mütter. Diese Bemühungen laufen durch die ‚Besonderung‘ jedoch Gefahr, neue Ungleichheiten zu kreieren und bestimmte Personengruppen zu stereotypisieren (Cattacin et al. 2013). Die wohlfahrtsstaatliche Perspektive hat sich also von einer Blindheit gegenüber Unterschieden hin zu einer Reifizierung von bestimmten Ungleichheiten bewegt. Die wohlfahrtsstaatliche Herausforderung besteht nun darin, a) die Diversität nicht differenziert genug zu erfassen und b) die Leistungen nicht ausreichend auf die Vielfältigkeit ausrichten zu können. Diese Herausforderung spiegelt sich auch in jeder einzelnen Interaktion zwischen Akteur/-innen des Wohlfahrtsstaats und Klient/-innen wider: Wie können die Besonderheiten einzelner Menschen berücksichtigt werden, ohne diese unnötig zu ‚besondern‘ ? Der Begriff Diversität bietet hier einen Ausweg, indem er nicht a priori auf spezifische Ungleichheitsdimensionen oder Vulnerabilitäten fokussiert.
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1.4
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Diversität anerkennen
Diversität bezeichnet zunächst einmal (horizontal angeordnete) Verschiedenheit, ohne a priori auch Ungleichheit (also vertikal angeordnete Verschiedenheit) mitzu denken. Im Kontext organisationstheoretischer Überlegungen entwickelt, spricht der Begriff Diversität zunächst die Vielfalt von Mitgliedern einer Organisation an, die es im Rahmen eines Diversity Managements anzuerkennen und als kreatives wie auch effizienzsteigerndes Potenzial zu nutzen gilt (Heite 2008). Auch öffentliche und Non-Profit-Organisationen haben den Begriff des Diversity Managements übernommen – im Hinblick auf Mitarbeitende wie auch die anvisierte Klientel – und dem Diversitätsbegriff damit eine stärkere Fokussierung auf Chancengleichheit und das Vermeiden von Diskriminierung gegeben (Purtschert 2007; Ehret 2011). Dimensionen wie Geschlecht, Alter oder Behinderung stehen hier besonders im Fokus, aber auch Migrationshintergrund, Bildungsstand, religiöse Zugehörigkeit, sexuelle Orien tierung und Armut. Es werden Maßnahmen ergriffen, um Diversität in der Organisation anzuerkennen und zu fördern. In der Kritik steht dieser Ansatz jedoch wegen der Gefahr der Negierung von strukturellen Ungerechtigkeiten (bspw. Lohnungleichheit zwischen den Geschlechtern) sowie der positiven Diskriminierung von Andersartigkeit (bspw. Zuschreibung von Bedürftigkeit aufgrund von fortgeschrittenem Alter oder körperlicher Behinderung) (Purtschert 2007; Heite 2008; Ehret 2011; Mecheril und Plösser 2011). Ungleichheiten sind nicht a priori gegeben, sondern sozial konstruiert und in Machtverhältnisse eingebunden. Massnahmen zur Berücksichtigung von Diversität können somit bestehende Machtverhältnisse verfestigen. Sie können Zuschreibungen aufdrängen, die von den ‚Betroffenen‘ nicht gewollt sind. Kategorisieren ist so gesehen zwar nötig, um Diversität zu erkennen, zu verstehen und zu handhaben, aber es ist gleichzeitig auch notwendig, deren Macht- und Diskriminierungsdimensionen kritisch zu hinterfragen. 1.5
Intersektionalität: komplexe Verschränkungen von Ungleichheiten
Wie Diversitäten Ungleichheiten produzieren, steht beim Intersektionalitätsansatz (Winker und Degele 2009; Walgenbach 2012) im Fokus, der zunehmend auch in den Gesundheitswissenschaften aufgegriffen wird (Lopez und Gadsden 2016; Kapilashrami und Hankivsky 2018). Entstanden in den USA als kritische Reaktion auf feministische und neomarxistische Ansätze, führte der Ansatz race als weitere Ungleichheitsdimension neben class und gender ein (Crenshaw 1991). Zentral ist die Frage, wie verschiedene Dimensionen miteinander interagieren und damit Ungleichheiten verstärken oder abschwächen können. Die kritische Auseinandersetzung mit vermeintlich klaren Ungleichheitsdimensionen und der explizite Fokus auf Machtfragen wurde auch im deutschsprachigen Raum aufgegriffen, und US-geprägte kategoriale
Diversität im stationären Pflegealltag
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Bezeichnungen wurden auf Konzepte wie Geschlecht, SES (sozioökonomischer Status) und Migration/Ethnizität angepasst (Klinger 2003; Knapp 2005). Der Intersektionalitätsbegriff überzeugt durch seinen klaren Fokus auf Diskriminierung, indem Ungleichheiten zwischen und innerhalb von Diversitätsdimensionen und deren gegenseitige Beeinflussung im Fokus stehen. Ungleichheiten addieren sich nicht einfach, sondern sie überschneiden sich in komplexer Weise. Diversität ist unter einer Intersektionalitätsperspektive also situativ immer wieder anders von Bedeutung, und sie ist auch immer mit Macht, Unterdrückung und Normierung verbunden, was wiederum soziale Strukturen, Praktiken und Identitäten reproduziert (Walgenbach 2012). Für die Gesundheitswissenschaften ist daran bestechend, dass einerseits eine kritische Sichtweise auf soziale Kategorien und deren Wirkungsweise in Form ein- und ausschließender Mechanismen gefördert wird. Andererseits müssen einfache Erklärungsansätze differenziert werden, welche die Schuld für ungünstiges Gesundheitsverhalten und gesundheitliche Einschränkungen den Betroffenen zuschreiben – sei es aufgrund von Verhalten, vermeintlich ‚naturgegebener‘ Gruppenzugehörigkeit oder genetischer Disposition (Lopez und Gadsden 2016). Menschen haben eine gewisse Handlungsmacht, aber immer innerhalb von Strukturen und Machtverhältnissen, die sie nicht selbst geschaffen haben und die sie auch nicht allein verändern können. Dennoch sind Strukturen und Machtverhältnisse nicht naturgegeben, sondern von Menschen gemacht und dadurch auch langfristig wandelbar. Das bedeutet wiederum, dass dieser Wandel steuerbar ist. Als politische Leitlinie für diese Steuerung hat sich, in Anlehnung an das von der WHO (1986) formulierte Ziel der health equity, der Fokus auf Chancengleichheit durchgesetzt (für die Schweiz bspw. Weber und Salis Gross 2018). Die chancengleiche Ausgestaltung von Gesundheitsversorgung (siehe auch Soom Ammann 2017; Soom Ammann und Salis Gross 2011) fokussiert u. a. auf die Kompetenzen der Fachpersonen. Wie sich dies in der stationären Langzeitpflege für Menschen im Alter konstituiert, soll nun in den Blick genommen werden.
2
Diversität und Ungleichheit in der Praxis stationärer Pflege
2.1
Diversität im Heim: komplexe Interaktionsanforderungen
Das Setting Heim kann als chancengleich zugänglich betrachtet werden, es steht meist allen offen, die es brauchen, doch wirkt es auf den ersten Blick recht homogen. Heimbewohnende wählen diese Versorgungsform in der Regel nicht aus freien Stücken, sie brauchen viel Pflege und Betreuung, haben wenig Freiraum zur Selbstbestimmung und erhalten eine Versorgung, die im Rahmen eines stark reglementierten Tagesablaufs und unter Ressourcendruck normiert wird.
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Herausforderungsreich ist es für Heime, innerhalb des reglementierten institutionellen Rahmens und angesichts der erhöhten Abhängigkeit und eingeschränkten Handlungsmacht der Bewohnenden individuelle Diversitäten im Alltag zu berücksichtigen, gerade auch weil die Versorgung im institutionellen Kontext Heim so stark gleichmachend wirkt. Anders als in anderen Settings geht es in der Heimversorgung darum, den Bewohnenden in ihrer abhängigen Situation möglichst viel Lebensquali tät und Würde zuzugestehen. Die Berücksichtigung von individuellen Vorlieben und Bedürfnissen ist dabei erklärtes Ziel, und das Heimsetting bietet aufgrund seiner umfassenden Zuständigkeit für die Lebensgestaltung und der meist längerdauernden Versorgungsprozesse auch Raum dafür (Rauber et al. 2019). Wie aktuelle Forschung zum Umgang mit Diversität im Heimalltag (Soom Ammann et al. 2016, 2018, 2019) zeigt, ist es hoch anspruchsvoll, im Rahmen einer auf Vereinheitlichung ausgerichteten Institution individuelle Diversitäten zu berücksichtigen und Ungleichheiten in der Pflege und Betreuung zu erkennen. Der ethnografische Blick von außen auf das alltägliche Interaktionsgeschehen, das in besagtem Forschungsprojekt im Zentrum stand, hatte das Potenzial, Konstruktionen von Diversität und Ungleichheit in Interaktionen zwischen Pflegenden und Heim bewohnenden zu beobachten und in Handlungsketten und institutionelle Strukturen einzuordnen. Bewohnende des Heims sind vielfach in ihrer Handlungs- und Kommunikationsfähigkeit eingeschränkt. Fachpersonen verhalten sich ihnen gegenüber einerseits durchaus diversitätssensibel, d. h. sie berücksichtigen die unterschiedlichen Ressourcen und Bedürfnisse der Bewohnenden in ihren Handlungen. Andererseits entstehen aus dem Bemühen im Umgang mit der Vielfalt doch oftmals auch Differenzen, dies insbesondere dann, wenn die involvierten Personen Werte nicht teilen und Handlungsweisen hinterfragen. In den Interaktionssituationen spielen dabei auch die Angehörigen eine Rolle, die das Handeln der Fachkräfte ebenso stereotyp deuten können wie die Fachkräfte das Handeln der Angehörigen, die ganz andere Vorstellungen haben, wie beispielsweise Situationen am Ende des Lebens zu gestalten sind. Deswegen kann es – trotz grundsätzlicher Diversitätsorientierung – zu missglückten Interaktionen kommen. Was die Norm in Frage stellt, führt zu Irritationen und damit zu Verunsicherungen des professionellen Handelns, die von allen Beteiligten sinnhaft bearbeitet werden müssen. Gelingt es dabei nicht, für alle Involvierten nachvollziehbare Aushandlungen zu führen, prägen diese Erfahrungen zukünftige Interaktionen mit. Und Fachpersonen sind – im Gegensatz zu Angehörigen – wiederholt mit Interaktionssituationen konfrontiert, die interpretiert und gestaltet werden müssen. Darin können sich dann auch stereotype Zuschreibungen verfestigen (siehe bspw. Soom Ammann et al. 2016, S. 127).
Diversität im stationären Pflegealltag
2.2
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Diversitätskonstruktionen und -irritationen: Einblick in die Praxis einer ‚mediterranen‘ Abteilung
Die beiden Schweizer Heime, in denen wir unsere ethnografische Forschung durchgeführt haben – wir nennen sie Brunnhof und Center Burgallee –, bieten Regelversorgung in mittelgroßen Städten an und befinden sich in Stadtteilen mit heterogener Bevölkerung bezüglich SES und Migrationshintergrund. Die Heime unterscheiden sich dahingehend, dass das Center Burgallee alle Bewohnenden gleich behandelt, während der Brunnhof sich entschieden hat, ein migrationsspezifisches Angebot zu schaffen (Soom Ammann et al. 2018). Auf Initiative von Migrant/-innenorganisationen wurde eine von zwölf Wohngruppen in eine sog. mediterrane Abteilung umgewandelt und das Angebot auf mehrheitlich italienische Migrant/-innen ausgerichtet. Die Bezeichnung ‚mediterran‘ soll dabei eine gewisse Offenheit suggerieren und dem Vorwurf entgegenwirken, man schaffe ein exklusives Angebot für eine bestimmte nationale Herkunftsgruppe (ebd.). Anpassungen beziehen sich auf die Einrichtung, die Mahlzeitengestaltung und das soziale Programm. Zudem achtet man darauf, Mitarbeitende einzusetzen, welche Italienisch sprechen und/oder selbst Migrationshintergrund haben. Dahinter steht die Annahme, dass gleiche Sprache und ähnliche biografische Erfahrung es den Fachpersonen ermöglichen, Migrant/-innen adäquater zu pflegen und zu betreuen. Aufgrund von Personalmangel und Organisationslogiken gelingt es jedoch nicht immer, eine entsprechende Personalbesetzung zu garantieren, insbesondere bei Personalausfällen und in Abend- und Nachtschichten. Dies führt dazu, dass die spezifische Qualifikation des ‚Mediterran‘-Seins unter den Mitarbeitenden situativ immer wieder neu verhandelt wird, um zu entscheiden, wer geeignet ist, die Bewohnenden in der ‚mediterranen‘ Abteilung zu versorgen. Die Kategorie ‚mediterran‘ wird so immer wieder adaptiert und bezieht sich auf Sprache, auf Kenntnisse des Sozialisationskontextes der Bewohnenden, aber auch auf zugeschriebene Ähnlichkeiten im Verständnis von Sorgen und dem Umgang mit alten Menschen. Insbesondere letzteres erlaubt es in der Praxis auch, Pflegende mit bspw. südamerikanischem, afrikanischem oder asiatischem Migrationshintergrund ad hoc als besonders geeignet für die ‚mediterrane‘ Versorgung zu deuten. Zugehörigkeitskategorien werden also situativ definiert und adaptiert. Auch im Hinblick auf die Gestaltung eines ‚mediterranen‘ Ambientes in der Abteilung sind permanente Adaptionen und Interpretationen notwendig. Dies zeigt sich beispielsweise bei der Teilnahme als Gruppe bei Heimanlässen (Soom Ammann et al. 2018), beim Essen (van Holten und Soom Ammann 2016), und in der Interaktionsgestaltung zwischen Pflegenden und Bewohnenden, bei denen das Personal sich bemüht, einen informelleren, familiäreren Interaktionsstil als gemeinhin in Schweizer Heimen üblich zu pflegen (Soom Ammann et al. 2018). Dieser kollidiert mitunter mit den professionellen Anforderungen der Distanzwahrung und der Durchsetzung fachlicher Entscheidungen oder institutioneller Regeln. Zudem wird die Art und Weise, wie Pflegende ihr Handeln ‚mediterran‘ gestalten, in der alltäglichen Praxis
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auch in Frage gestellt: Bewohnende und Angehörige, aber auch andere Mitarbeitende, die auf ‚normalen‘ Abteilungen arbeiten, fordern die Adäquatheit ‚mediterraner‘ Pflegepraxis immer mal wieder heraus (van Holten und Soom Ammann 2016; Soom Ammann et al. 2018). Warum kommen die Bewohnenden der mediterranen Abteilung immer demonstrativ zu spät und als Gruppe in den gemeinsamen Veranstaltungssaal ? Ist der Risotto authentisch oder ‚verschweizert‘, darf auch mal die typisch schweizerische Bratwurst serviert werden ? Soll eine ‚mediterrane‘ Bewohnerin mit fortgeschrittener Demenz wirklich vom Personal geduzt und geküsst werden ? Besonders interessant an unseren Forschungsergebnissen war die Beobachtung, dass die Irritationen und Aushandlungen, welche im Brunnhof den ‚mediterranen‘ Alltag prägen, dazu führen, dass Ausnahmesituationen tendenziell diversitätskompe tenter gehandhabt werden. In unserer Forschung ließ sich gerade anhand von Ausnahmesituationen am Lebensende zeigen, wie Entscheide über pflegerische und therapeutische Maßsnahmen, aber auch die Gestaltung des Sterbens interaktionsbezogen ausgehandelt werden. Die Praxis des Ausgestaltens von Sterbeprozessen auf der ‚mediterranen‘ Abteilung unterschied sich dabei nicht grundlegend von der übrigen Praxis in den beiden Heimen. Institutionelle Normen des Heimes dominieren hier wie dort (Soom Ammann et al. 2016, 2018). Auffällig war allerdings, dass im Brunnhof bei schwierigen Sterbeverläufen und konflikthaften Situationen, wenn bspw. Angehörige andere Vorstellungen über die Gestaltung des Sterbens hatten als das Personal (für Beispiele siehe Soom Ammann et al. 2016), kaum pauschalisierend Bezug genommen wurde auf Diversitätskategorien wie bspw. den Migrationshintergrund oder den ‚Kulturunterschied‘, sondern vielmehr auf die individuelle Charakteristik der Familie – und dies in einem Kontext, der im Rahmen alltäglicher Lebensgestaltung ‚Mediterranität‘ inszeniert und dabei durchaus auch sehr stark stereotypisiert (Soom Ammann et al. 2016, S. 128; Soom Ammann et al. 2018). Es scheint, als wäre das Personal im Brunnhof – ähnlich wie in anderen Heimen, die eine ‚mediterrane‘ Abteilung führen – geübt im Aushandeln von Diversität, geübt im Umgang mit der Ungenauigkeit und Situationsbezogenheit von Gemeinsamkeiten und Unterschieden, und damit auch geübt darin, unterschiedliche Positionen einzunehmen und Standpunkte zu relativieren. Die wiederholte Praxis des Aushandelns von Gemeinsamkeiten und Unterschieden führt also offenbar dazu, dass die Mitarbeitenden sowie auch die Organisation als Ganzes diversitätsgeübter ist. Anders-Sein wird nicht einfach nur auf Migrationshintergrund reduziert, Diversitäten werden vielfältig berücksichtigt. Praktische Erfahrung im Umgang mit Irritationen scheint damit ein zentrales Element diversitätssensitiver professioneller Haltung zu sein. Die Ergebnisse der Forschung zeigen mit Blick auf die spezifische Form der ‚mediterranen‘ Pflege auf, wie hochkomplex es grundsätzlich ist, als Fachperson diversitätssensitiv zu handeln. Gerade der ethnografische Blick auf alltägliche Praxis zeigt dabei Schwächen von Konzepten professionellen Handelns wie Personenzentriertheit oder transkulturelle Kompetenz auf, welche gut etabliert und breit in Aus- und Weiterbil-
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dung implementiert sind. Gleichzeitig liegt in der kritischen Reflexion solcher Konzepte auch die Chance auf deren Weiterentwicklung und bessere Implementierung in die alltägliche Praxis von Fachpersonen (vgl. Horn et al. i. d. B.). Die Verschränkung der Konzepte Diversität und Intersektionalität ist dabei besonders fruchtbar. 2.3
Diversitätskompetenz in der Interaktion
Das Potenzial der Diversitäts-Brille liegt gerade im Gesundheitsbereich darin, nicht a priori wertend und kategorisierend zu sein. Fachpersonen können in der Interak tion mit Betroffenen auf Verschiedenartigkeit hin sensibilisiert werden, ohne gleich eine bestimmte Bedürftigkeit – zum Beispiel als Migrantin, als Behinderter oder als betagte Person – vorauszusetzen. Denn es soll Aufgabe einer professionellen Interaktion sein, zuerst unvoreingenommen zu klären, welche Diversitätsdimensionen in der konkreten Situation überhaupt wirksam sind und damit auch vertikale, d. h. hierarchische Ungleichheit produzieren. Interaktionssoziologisch betrachtet muss jede Situation von den Beteiligten immer wieder neu interpretiert und sinnhaft gestaltet werden, und dazu ist es auch notwendig, das Gegenüber zu deuten. In sozialen Kategorien zu denken, ist dazu unerlässlich. Genau hier aber vollzieht sich das Zuschreiben von Gleichheit oder Andersartigkeit, und darin liegt die potenzielle, wenn auch nicht beabsichtigte Gefahr von Diskriminierung durch implizite Zuschreibung. Dies ist menschlich und Bestandteil jeglicher alltäglichen Interaktion. Aufgabe von Fachpersonen ist es, hier reflektiert zu sein, sich dieser Mechanismen bewusst zu werden und Zuschreibungen wiederholt zu hinterfragen – die eigenen und die des Gegenübers. Mit den Konzepten der transkulturellen Kompetenz (Domenig 2007) und der Personenzentriertheit (McCormack und McCance 2006) verfügen Gesundheitspro fessionen bereits über Reflexionsmodelle, die essenziell zur Diversitätssensibilität beitragen können. Personenzentriertheit – im Sinne einer expliziten Fokuslegung auf individuelle Besonderheiten des Gegenübers – ist in der Pflege oft postulierter Teil des professionellen Selbstverständnisses. Aus interaktionssoziologischer Sicht ist dafür Kommunikation nötig, also ein partizipatives Erschließen und ggf. auch Aushandeln der Bedeutung verschiedener Diversitätsdimensionen für die gegenwärtige Interak tionssituation. Personenzentriertheit zu berücksichtigen, fällt leichter, wenn man sich in bekannten Gefilden bewegt. Dies zeigt eine Studie bei schwedischen Fachpersonen in der Palliative Care (Torres et al. 2016). Geht es hingegen um Unbekanntes, um Fremdes, so ist die Schlussfolgerung nicht weit, dass der Fachperson die entsprechenden Kompetenzen fehlen, um Klient/-innen adäquat zu verstehen. Transkulturelle Kompetenz wiederum fokussiert speziell den Umgang mit Migrierten (also dem offensichtlich Fremden). Sie hat ihrerseits das Potenzial, Diversi tät breiter zu reflektieren und damit spezifische Verschränkungen von Ungleichheits dimensionen und deren ein- resp. ausschließende Wirkung zu erkennen. Die drei
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zentralen Elemente der narrativen Empathie, der Selbstreflexion und des Hintergrundwissens (Domenig 2007, S. 175) strukturieren diversitätskompetente genauso wie transkulturelle Interaktion. Geschicktes Fragen und Zuhören (narrative Empa thie), Wissen zu strukturellen und sozialen Zusammenhängen (Hintergrundwissen) ebenso wie die Entwicklung eines Bewusstseins für die eigene soziale Positionalität und deren Wirkung auf die Interaktionssituation (Selbstreflexion) ermöglichen es, die Zuordnung des Gegenübers in Diversitätskategorien informiert, differenziert und reflektiert vorzunehmen. Partizipative Einbindung des Gegenübers gelingt, wenn diese Prinzipien auch kommunikativ umgesetzt werden. Eine besondere Herausforderung liegt im Kontext Heim allerdings darin, dass das Gegenüber oft in seiner Handlungsmacht und ggf. auch in seiner Fähigkeit zu kommunizieren und damit Bedeutungen auszuhandeln eingeschränkt ist – insbesondere bei demenziellen Erkrankungen und am Lebensende. Fachpersonen sind im Heim deshalb stärker als in anderen Interaktionen gezwungen zu interpretieren (Soom Ammann et al. 2016). Hilfreich kann es hier sein, die eigene Interpretation gezielt mit den Interpretationen anderer Beteiligter – Fachpersonen oder Angehörige – abzugleichen. Sichtweisen zu erfragen und Bedeutungen auszuhandeln sind somit bewährte Hilfsmittel zur diversitätssensitiven Interaktionsgestaltung – idealerweise direkt mit den Betroffenen, und wenn das nicht uneingeschränkt möglich ist, zumindest mit anderen Involvierten. 2.4
Potenzial der intersektionalen Perspektive auf Diversität
Dieser Beitrag plädiert für eine Perspektive auf Diversität, die eine Abkehr von dichotomen Zuordnungen in Vertrautes und Fremdes und eine Öffnung hin zu den Vielfältigkeiten dazwischen anstrebt. Dabei bleibt aber von entscheidender Bedeutung, dass auch moderne demokratische Gesellschaften immer durch Machtstrukturen, durch Ein- und Ausschluss gekennzeichnet sind. Pluralisierte Gesellschaften zeichnen sich gerade dadurch aus, dass solche Macht- und Herrschaftsdynamiken nicht klar lokalisierbar, sondern in komplexer Weise in gesellschaftliche Strukturen eingewoben sind und dadurch auch individuelles Handeln formen. Der gegenwärtig breit propagierte Fokus auf Diversität muss deshalb immer auch unter der Perspektive intersektionaler Ungleichheits- und Diskriminierungskonstellationen verstanden werden. Das große Potenzial der Verbindung beider Konzepte – Diversität und Intersektionalität – liegt meines Erachtens für die tägliche Arbeit von Fachpersonen darin, dass einerseits ein unvoreingenommener Blick auf horizontale Verschiedenartigkeiten gefördert wird, dieser gleichzeitig aber immer auch mit der Sensibilisierung für vertikale, Ungleichheit produzierende Konstellationen verbunden wird. Wichtig ist dabei, dass Differenzkategorien hinsichtlich ihrer möglichen Wirkung nicht vorab feststehen, sondern je nach Situation aktiviert werden. Daraus folgt: Es gibt keine allgemeingültigen Rezepte. Vielmehr stellen (Selbst-)Reflexion und narrativ-empathische Kommunika-
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tion unter diesem Gesichtspunkt die zentralen professionellen Fähigkeiten für eine diversitätsgerechte Interaktion dar. Organisationsstrukturen, die Räume für Refle xion und Aushandlung schaffen und den Zugang zu Wissen über gesellschaftliche Zusammenhänge fördern, tragen ihrerseits entscheidend zum professionellen Umgang mit Diversität bei. Im Altersheim ist diversitätssensitive Versorgung besonders herausforderungsreich aufgrund der institutionellen Wohnform, welche zu Normierung tendiert, aufgrund zunehmend vielfältig eingeschränkter Bewohnerschaften sowie aufgrund der hohen Heterogenität unter Fachpersonen (Liewald 2012; Soom Ammann et al. 2016, 2018). Besondere Aufmerksamkeit braucht es in diesem Umfeld nicht nur, um den in ihrer Handlungs- und Bestimmungsmacht eingeschränkten Bewohnenden soweit möglich Kommunikations- und Mitgestaltungsmöglichkeiten zuzugestehen. Aufgrund der Interpretationsanforderungen und der hohen Gestaltungsmacht der Fachpersonen im Setting Heim braucht es zudem eine besonders ausgeprägte Reflexivität, und es braucht dazu formale Rahmenbedingungen, um eine konsistente Haltung im Heim zu fördern (Liewald 2012). Empirische Forschung (Soom Ammann et al. 2016, 2018, 2019) deutet darauf hin, dass gerade dieses wiederholte Reflektieren und Aushandeln zu insgesamt diversitätskompetenteren Organisationen führt, in denen herausfordernde Situationen nicht stereotypisiert, sondern differenziert gehandhabt werden.
Ausgewählte Literatur Cattacin, Sandro, Antonio Chiarenza und Dagmar Domenig. 2013. Equity standards for healthcare organisations: a theoretical framework. In Diversity and Equality in Health and Care 10: 249 – 258. Soom Ammann, Eva, Gabriela Rauber und Corina Salis Gross. 2019. ‚Doing Death‘ the Mediterranean way: end-of-life in a segregated nursing home. In Mortality 24. Heft 3: 271 – 289. doi: 10.1080/13576275.2018.1483906. Liewald, Katharina. 2012. Diversität in Alters- und Pflegeheimen. Wegleitung für Führungspersonen und Mitarbeitende der stationären Langzeitpflege. Wabern: Schweizerisches Rotes Kreuz. www.redcross.ch/de/shop/praxisreihe-im-fokus-gesundheit-migration-integration/diversitat-in-alters-und-pflegeheimen. Zugegriffen: 10. September 2018.
Advokatorische Ethik in der Sozialen Arbeit mit alten Menschen Micha Brumlik
1
Vorbemerkung
Thema der advokatorischen Ethik (vgl. Brumlik 2017) sind die Prinzipien des bildenden, erziehenden und beschützenden Umgangs mündiger Menschen mit Menschen die entweder ‚noch nicht‘ oder ‚nicht mehr‘ mündig sind. Tatsächlich wird die Frage nach einer ethisch verantworteten Sozialen Arbeit in einer alternden Gesellschaft immer dringlicher. 2014 hat Katharina Gröning diese Thematik zunächst am Zusammenhang von Alter und Scham entfaltet, um darauf aufbauend Grenzsituationen in der Pflege alter Menschen unter dem Titel „Entweihung und Scham“ (Gröning 2014) zu analysieren. Jahre später schreibt Cornelia Schweppe: „Gewalt in der Pflege wurde – auch im internationalen Kontext – in vielen Studien dargelegt […] und gehört zu einem der zentralen Missstände in der Pflege alter Menschen. Viele Studien zeigen, dass Gewalt in der Pflege keineswegs nur Einzelfälle betreffen, sondern ein weitverbreitetes Phänomen ist und zudem von hohen Dunkelziffern auszugehen ist. Dies betrifft sowohl die Pflege in Privathaushalten als auch in stationären Pflegeeinrichtungen.“ (Schweppe 2019, S. 341)
Entsprechend sind in den USA schon seit längerem als Reaktion auf die Vernachlässigung und den Missbrauch alter Menschen (vgl. Ernst 2019) schützende Dienstleistungen (Stein 2019) für Alte entwickelt worden, während das Thema des Gewaltschutzes und der Gewaltpotenziale zumal in Privathaushalten in Deutschland an Prominenz gewinnt (vgl. Schweppe 2019; Horn und Schweppe 2019; vgl. auch Yardley und Gröning i. d. B.). All diese Konzepte sind – ohne das philosophisch zu begründen – Formen einer institutionellen Umsetzung advokatorischer Ethik. Tatsächlich hat sich das Programm einer advokatorischen Pädagogik weniger aus einer bestimmten pädagogischen Problematik denn aus einem Begründungsproblem © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_22
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philosophischer Ethik heraus entwickelt. An diese Begründungsproblematik ist in einem ersten Schritt zu erinnern, um dann zweitens – nach einem Exkurs – in einem dritten Schritt zu entfalten, warum genau diese Argumentationsfigur besonders gut dazu geeignet ist, ethische Probleme pädagogischen – hier pädagogischen Handelns mit alten, in manchen Fällen nicht mehr mündigen Menschen – angemessen darzu stellen und auch einer Lösung näher zu bringen. Dabei wird sich schließlich zeigen, dass der zumal juristische, genauer gesagt der forensische Assoziationsspielraum des Begriffs in gewisser Weise in die Irre führt und es womöglich sinnvoller ist, von einer ‚vormundschaftlichen‘ Pädagogik oder eben Ethik zu sprechen bzw. nach einer ganz anderen Metapher zu suchen.
2
Begründungsfragen
Programm und Begriff einer advokatorischen Ethik sind im Rahmen des eben angesprochenen Begründungsdiskurses entstanden, der – anders als die letztlich intuitionistischen Ansätze vor allem der verschiedenen Spielarten des ‚Utilitarismus‘ (Ritter et al. 2001) – das besondere Problem moralischer Prinzipien in ihrer intersubjektiven Begründbarkeit und Legitimierbarkeit sieht. Als gültig dürfen demnach – so haben das bei allen weiteren Unterschieden die Diskursethiker Karl Otto Apel und Jürgen Habermas gesehen – nur solche moralischen Prinzipien, Normen oder auch Handlungen gelten, die von allen möglicherweise Betroffenen gebilligt werden könnten (vgl. Apel 1987; Habermas 1991). Diese nachträgliche, geradezu virtuelle Billigung, die Zustimmung unterstellt, ohne dass sie doch tatsächlich vorliegt, diese Billigung aber verweist auf den grundsätzlich intersubjektiven Charakter aller moralischen Prinzipien und Normen: Für Apel und Habermas sind es die so nur der Gattung Mensch eigenen, je kontrafaktisch erhobenen Ansprüche der menschlichen Sprache innewohnenden Geltungsansprüche auf Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Richtigkeit und Verständlichkeit, die zugleich den transzendentalen Grund einer minimalen, unbestreitbaren Moral darstellen: Transzendentale Gründe aber sind nach Apel (1987) Gründe, die ohne Zirkel bzw. unendlichen Regress auch argumentativ nicht weiter erläutert werden können. Hauptfigur dieser Begründungsart ist der so genannte performative Widerspruch: Menschen können redend und argumentierend nicht bestreiten, dass es im Argumentieren um begründetes Überzeugen geht. Das Problem, um das es einer advokatorischen Ethik geht, stellt sich nun bei einer für lange Zeit für selbstverständlich gehaltenen Annahme bzw. Frage: wer nämlich die idealen Teilnehmer jenes Diskurses sind, der Normen und Prinzipien legitimiert, kurz, wer die moralisch bedeutsamen, zu beteiligenden Subjekte sind und zwar in zweierlei Hinsicht: als Subjekte des Handelns und – in undramatischer Weise – als Subjekte des Erleidens, des Erfahrens der Handlungen anderer. Bei Kant – darauf ist zurückzukommen – war hier noch allgemein von Vernunftwesen die Rede, später sprach man von Subjekten, bis schließlich – über Umwege – spätestens im
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20. Jahrhundert von Personen die Rede war: ein Begriff, der je nachdem, ob er aus der neuthomistischen, der kantianischen oder der analytischen Tradition kommt, unterschiedlich aufgeladen ist. Als Handlungssubjekte werden vor allem der Sprache, der Empathie und der Reflexion der Zukunft fähige Angehörige der biologischen Gattung homo sapiens angesehen, während die Gruppe von moralischen Prinzipien oder Handlungen möglicherweise betroffener Wesen sehr viel umfangreicher ist: Sie beginnt mit anderen mündigen Menschen, erweitert sich um nicht-mündige Menschen bis zu Menschen, die weder gezeugt noch geboren sind, bis zu Tieren und anderen Lebewesen und reicht – mindestens nach Maßgabe der intelligenten science fictionLiteratur – bis zu intelligenten und empfindsamen Maschinen. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie per definitionem weder im realen noch im idealen Fall als die, die sind oder sein werden, bei der Begründung moralischer Handlungen oder Prinzipien beteiligt werden können: Ihre denkbaren oder möglichen Interessen müssen auch und sogar im nichtempirischen Begründungsdiskurs von den mündigen Personen wahrgenommen werden. Das ist zu unterstreichen: Ihre Interessen müssen – wenn denn das intersubjektive, universalistische Begründungsprogramm sich selbst ernst nehmen soll – stellvertretend wahrgenommen werden, andernfalls ist dieses Programm als universalistisches nicht durchzuhalten. Diese Problematik entsteht – und darauf sei besonders verwiesen – systematisch noch vor oder spätestens gleichzeitig mit dem so genannten Paternalismusproblem, sie stellt eine begrifflich-analytische Implikation des universalistischen Anspruchs dar – und zwar mindestens mit der Unterstellung, dass alle Angehörigen der Gattung sich an diesem Begründungsmodus, so sie es denn könnten, beteiligen würden. Da dies nun freilich empirisch weder der Fall ist noch jemals wird sein können, müssen deren Interessen und Meinungen entweder mit Gründen vernachlässigt bzw. hypothetisch bzw. – wie es dann genannt wird – ‚advokatorisch‘ mit berücksichtigt werden. Das advokatorische Problem bricht in aller Schärfe erst dann auf, wenn man zu teleologischen Überlegungen zurückkehrt, nämlich zu den Fragen der in einer Gesellschaft jeweils möglichen und denkbaren Erziehungsziele. Lassen sich für Gesellschaften unseres Typs Zustände von Personen benennen, die als Ziele des Erziehungsund Behütungsprozesses – sofern möglich – von den Verantwortlichen auf jeden Fall anzustreben sind ?
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Exkurs: Was heißt Würde ?
Aber was ist genau ‚Würde‘ ? Es scheint, als sei das Prinzip der ‚Menschenwürde‘ zunächst in der italienischen Renaissance entfaltet worden, etwa bei Pico della Mirandola (1463 – 1494) mit seinem gleichnamigen Traktat „De dignitate hominis“ („Über die Würde des Menschen“) (della Mirandola 2001) oder bei Giannozzo Manetti (1396 – 1459) (Manetti 1990). Es war nach einer längeren Rezeptionsphase dieses Begriffs (vgl.
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Brandhorst 2017) schließlich die kosmopolitische Philosophie der deutschen Aufklärung, zumal Immanuel Kants (vgl. Sensen 2017), die die nach dem Nationalsozialismus geschaffene deutsche Verfassung, das Grundgesetz, wesentlich geprägt hat. Als oberstes Prinzip der Tugendlehre weist Kant in der Metaphysik der Sitten folgendes aus: „Nach diesem Prinzip ist der Mensch sowohl sich selbst als andern Zweck und es ist nicht genug, dass er weder sich selbst noch andere bloß als Mittel zu brauchen befugt ist, sondern den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen, ist des Menschen Pflicht.“ (Kant 1968a, S. 526).
Einen Menschen als Zweck seiner selbst zu betrachten, bedeutet, ihn in mindestens drei wesentlichen Dimensionen nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, zu tolerieren, sondern auch anzuerkennen, d. h. nicht nur hinzunehmen, sondern zu bejahen in den Dimensionen körperlicher Integrität, personaler Identität und soziokultureller Zugehörigkeit. Dieser Anerkennung korrespondiert ein Demütigungsverbot. Das Demütigungsverbot aber bezieht sich auf die ‚Würde‘ eines Menschen. Diese ‚Würde‘ eines Menschen ist der äußere Ausdruck seiner Selbstachtung, also jener Haltung, „die Menschen ihrem eigenen Menschsein gegenüber einnehmen, und die Würde ist die Summe aller Verhaltensweisen, die bezeugen, dass ein Mensch sich selbst tatsächlich achtet“ (Margalit 1999, S. 72). Diese Selbstachtung wird verletzt, wenn Menschen die Kontrolle über ihren Körper genommen wird, sie als die Person, die sie sprechend und handelnd sind, nicht beachtet oder ernst genommen bzw. wenn die Gruppen oder sozialen Kontexte, denen sie entstammen, herabgesetzt oder verächtlich gemacht werden. Die Verletzung dieser Grenzen drückt sich bei den Opfern von Demütigungshandlungen als Scham aus (vgl. Brumlik 2002). Entsprechend gibt es eine absolute Scham. In Primo Levis kristallklarem und nüchternem Bericht über seine Haft in Auschwitz wird den Erfahrungen absoluter Entwürdigung Rechnung getragen; der Ausdruck von der ‚Würde des Menschen‘ bzw. der ‚Menschenwürde‘ gewinnt vor dieser Kulisse von Auschwitz eine gebieterische und einleuchtende Kraft: „Mensch ist“, so notiert Levi für den 26. Januar 1944, einen Tag vor der Befreiung des Lagers „wer tötet, wer Unrecht zufügt oder erleidet; kein Mensch ist, wer jede Zurückhaltung verloren hat und sein Bett mit einem Leichnam teilt. Und wer darauf gewartet hat, bis sein Nachbar mit Sterben zu Ende ist, damit er ihm ein Viertel Brot abnehmen kann, der ist, wenngleich ohne Schuld, vom Vorbild des denkenden Menschen weiter entfernt als […] der grausamste Sadist.“
Unter diesen Bedingungen schwindet dann auch die natürliche Neigung zur Nächstenliebe. Levi fährt fort:
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„Ein Teil unseres Seins wohnt in den Seelen der uns Nahestehenden: darum ist das Erleben dessen ein nicht-menschliches, der Tage gekannt hat, da der Mensch in den Augen des Menschen ein Ding gewesen ist.“ (Levi 1986)
Mit dem Begriff der ‚Würde des Menschen‘ wird lediglich ein Minimum angesprochen, der kleinste gemeinsame Nenner nicht von Gesellschaften, sondern von jenen politischen Gemeinwesen, von Staaten, die wir als ‚zivilisiert‘ bezeichnen. Bei alledem ist die Einsicht in die Würde des Menschen nicht auf kognitive, intellektuelle Operationen beschränkt, sie ist mehr oder gar anderes: Das Verständnis für die Würde des Menschen wurzelt in einem moralischen Gefühl. Dieses Gefühl ist moralisch, weil es Beurteilungsmaßstäbe für Handlungen und Unterlassungen bereitstellt, es ist indes ein Gefühl, weil es sich bei ihm nicht um einen kalkulatorischen Maßstab, sondern um eine umfassende, spontan wirkende, welterschließende Einstellung handelt. Wer erst lange darüber nachdenken muss, ob einem oder mehreren Menschen die proklamierte Würde auch tatsächlich zukommt, hat noch nicht verstanden, was ‚Menschenwürde‘ ist. Es handelt sich beim Verständnis der Menschenwürde also um ein moralisches Gefühl mit universalistischem Anspruch, das unter höchst voraussetzungsreichen Bedingungen steht: 1) Die Anerkennung der Integrität anderer ist an die Erfahrung eigener Integrität und Anerkennung, die sich in Selbstgefühl, Selbstrespekt und Selbstachtung artikuliert, gebunden. 2) Niemand kann Selbstgefühl, Selbstrespekt und Selbstachtung entfalten, der nicht seinerseits in allen wesentlichen Bezügen toleriert, akzeptiert und respektiert worden ist. 3) Selbstgefühl, Selbstrespekt und Selbstachtung sind die logischen und entwicklungsbezogenen Voraussetzungen dafür, Einfühlung, Empathie in Anderen entfalten zu können. Daraus folgt, dass das Empfinden für Menschenwürde unter den Voraussetzungen des Akzeptiertseins des Kindes im Sinne des von Erik Erikson (1973) ausgesprochenen Urvertrauens bzw. des von der Psychoanalyse in den Blick genommenen ‚Glanzes im Auge der Mutter‘, also unter Bedingungen einer nicht als fragmentarisch erfahrenen vorsprachlichen Sozialisation ebenso steht wie unter der Bedingung von peer group bezogenen Sozialisationsformen, die Individuierung und Anerkennung ermöglichen: gehaltvolle Freundschaften und individualisierte, romantische Liebe. Aber auch dann ist noch nicht gesichert, dass auch ein Verständnis für Menschenwürde im Allgemeinen gegeben ist – auch unter den genannten Bedingungen ist nicht auszuschließen, dass zwar ein Gefühl für die Würde und Integrität partikularer Gruppen entwickelt wird, die Menschheit als Ganzes, alle Menschen, jedoch noch kein Gegenstand des Respekts geworden sind.
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Nun ist die ‚Würde des Menschen‘ das oberste Prinzip der deutschen Verfassung und hat – wie bereits oben gezeigt – einen langen Vorlauf nicht nur in der deutschen Nationalgeschichte, sondern auch in der Geschichte der (west-)europäischen Moderne seit der Renaissance, spätestens – wie oben gezeigt – seit Pico della Mirandola. „Jeder Mensch“ – so heißt es in Art. 18 der am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verkündeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte – „hat Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder seine Überzeugung zu wechseln sowie die Freiheit, seine Religion oder seine Überzeugung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, in der Öffentlichkeit oder privat, durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Vollziehung von Riten zu bekunden.“ (Vereinte Nationen 1948)
Diese Menschenrechtsgarantie reagiert auf eine Problemlage, die zuerst in den konfessionellen Bürgerkriegen Europas als solche notorisch wurde (tatsächlich bestand sie schon lange vorher) und Ende des 18. Jahrhunderts zum Beispiel bereits von Immanuel Kant prägnant charakterisiert wurde: „Auch sind die sogenannten Religionsstreitigkeiten, welche die Welt so oft erschüttert und mit Blut bespritzt haben, nie etwas anderes, als Zänkereien um den Kirchenglauben gewesen, und der Unterdrückte klagte nicht eigentlich darüber, daß man ihn hinderte, seiner Religion anzuhängen (denn das kann keine äußere Gewalt), sondern daß man ihm seinen Kirchenglauben öffentlich zu befolgen nicht erlaubte.“ (Kant 1968b, S. 768)
Festzuhalten ist auf jeden Fall, dass das Konzept der ‚Würde des Menschen‘ zumal in seiner Funktion als eines absoluten, weder erläuterungsbedürftigen, noch gar erläuterungsfähigen Grundprinzips der Begründung der Menschenrechte zunehmend in die Kritik geraten ist. So sei das angebliche ‚absolute‘ Prinzip mehrdeutig und unklar, so müsse – so jedenfalls die jüngste Diskussion – auch dieser Begriff wie alle philosophischen Begriffe erläuterbar sein, wenn nicht gar „entsorgt“ (Bittner 2017, S. 91 f.) werden; geschehe aber dies – so vor allem Eva Weber-Guskar – werde der Begriff, werde das Prinzip „kontingent“ und in seinen Voraussetzungen nachvollziehbar (Weber-Guskar 2017, S. 207). Dazu liegen nun eine Reihe von Vorschlägen vor und zwar so, dass zunächst – unter Berücksichtigung der Begriffsgeschichte – zwei Dimensionen, nämlich ‚Status‘ hier und ‚Haltung‘ dort unterschieden werden. Erläutert man den Begriff im Sinne von Status so benennt er eine soziale Position, die im Unterschied zu anderen besondere Achtung, besonderen Respekt gebietet. Betrachtet man den Begriff indes unter dem Gesichtspunkt der Haltung, geht es weniger um die Frage, was von Anderen jeweils an Respekt zu erwarten ist, als darum, was die menschlichen Subjekte selbst tun oder unterlassen, um dem von ihnen gewählten oder zugeschriebenen Status gerecht zu werden. Ein anderer Vorschlag (Steinfath 2017) zielt
Advokatorische Ethik in der Sozialen Arbeit mit alten Menschen
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darauf, die jeweilige ‚Würde‘ als Übereinstimmung von Verhalten, Handeln und jeweils gegebenen, persönlichen normativen Erwartungen zu erläutern.
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Würdevolles Alter
In der Sozialen Altenarbeit und in der Pflege hat die advokatorische Ethik einen besonderen Anwendungsbereich, geht es doch hier häufig um Ungeschicklichkeit und körperliche Vergänglichkeit, um Vergesslichkeit bis hin zur Demenz von Klient/-innen, zuweilen auch um die Würde von ‚Nicht-mehr-Mündigen‘ (Gröning und Hei merl 2012). Tatsächlich wird der Begriff der ‚Würde‘ seit je mit dem Altern verbunden (vgl. auch Göckenjan i. d. B.). „In Würde altern“ (Stöcker 2017) wurde jedoch vor allem in den vergangenen Jahren zunehmend zum Thema (vgl. u. a. Schulz-Nieswandt 2006; Kohlen 2015). Der ethisch angemessene Umgang mit der zunehmenden Zahl von Menschen mit unterschiedlichen Graden von Demenz hat nicht nur zur Befassung mit Optionen seiner praktischen Umsetzung (vgl. u. a. Kitwood 2008, Feil und de KlerkRubin 2017), sondern auch zu einem neuen Ansatz ethischer Theoriebildung geführt: „Die Persönlichkeitswechsel Demenzbetroffener jedoch können nicht nur besonders drastisch ausfallen, sondern münden irgendwann in einen zumindest graduellen, zuweilen auch gravierenden Verlust von Persönlichkeitsmerkmalen […]. Im Gegensatz zu Embryonen, Feten oder sehr kleinen Kindern verfügen sie aktual durchaus über die Möglichkeit, eine Persönlichkeit auszubilden oder eine zumindest rudimentäre Form von Autonomie auszuüben. Eine andere Frage ist jedoch, ob es sich dabei auch um personale Autonomie handelt, sofern diese an das Vorliegen komplexer kognitiver und planerischer Fähigkeiten gebunden ist Eine angemessene Demenzethik bedarf dementsprechend Graduierungen und Spezifizierungen, differenzierter Erörterungen sowie der Berücksichtigung des individuellen Krankheitsverlaufs.“ (Ringkamp 2018, S. 45)
Dabei hat eine Größe, die seit Neuestem auch in der Erziehungswissenschaft wieder eine neue Rolle spielt, nämlich das ‚Leibgedächtnis‘ (Casale et al. 2020), eine herausragende Rolle. Als eine Form nicht rein kognitiven individuellen Selbstverständnisses stellt es einen wichtigen Ansatzpunkt einer zumal auf Achtung der Würde abhebenden sozialen und medizinischen Arbeit im weitesten Sinne dar. „Wenn wir Selbstsein als primär leibliches verstehen, dann werden wir auch zu einer anderen Wahrnehmung des Demenzkranken gelangen: nicht als eines Menschen, der seine Rationalität und Personalität eingebüßt hat, sondern als eines Menschen, der sein Personsein gerade als leiblich-zwischenleibliches zu realisieren vermag, solange er in der zu ihm passenden räumlichen, atmosphärischen und sozialen Umgebung leben kann. Sein Selbstsein erhält sich in der Affinität seines Leibes zur natürlichen und sozialen Mitwelt.“ (Fuchs 2018b, S. 58)
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Micha Brumlik
Damit zeichnen sich für eine advokatorische Ethik im Umgang mit ihrer Autonomie zunehmend verlustig gehender Menschen zwei Hinsichten eines angemessenen Umgangs ab: die Respektierung ihrer wie auch immer noch vorfindlichen leiblichen Autonomie und – damit verbunden – eine Neufassung des Begriffs der ‚Würde‘ – geht es doch in diesen Fällen um eine heikle Balance zwischen Paternalismus, d. h. Für-Sorge, und Respekt vor noch verbliebener Autonomie. Zu Recht macht Knell (2018) in diesem Zusammenhang zunächst darauf aufmerksam, dass der Begriff der Würde angemessen nur aus einem Intersubjektivitätsbezug heraus erläutert werden kann: Menschen billigen einander Würde zu – eine(r) alleine hat demnach keine Würde. Das hat die klassische Philosophie in gewisser Weise noch anders gesehen: So war etwa Immanuel Kant der Überzeugung, dass Selbstbefriedigung die je eigene Würde verletzt. Indes: Gewiss lässt sich sagen, dass auch ein faktisch gänzlich einsamer Mensch seine Würde wie auch immer verletzen kann – dass er davon jedoch überhaupt ein Bewusstsein haben kann, geht auf die grundsätzlich leiblich-intersubjektive Konstitution einer jeden menschlichen Person zurück. Das aber heißt – auch und gerade im Rahmen einer advokatorischen Ethik in der Sozialen Arbeit mit alten Menschen: „Würdeschutz bedeutet demnach für das betreuende Personal, sich den expressiven Ja/ Nein-Stellungnahmen, die der Patient zum konkreten Umgang mit ihm äußert, bis zum Schluss in größtmöglichem Umfang zu unterwerfen und damit diesen Äußerungen innerhalb der zweitpersonalen Interaktion des Patienten-Pfleger Verhältnisses eine würdekonstitutive normative Autorität zuzuerkennen.“ (Knell 2018, S. 71)
Für entsprechende Rahmenbedingungen der Arbeit wäre zu sorgen.
Ausgewählte Literatur Brandhorst, Mario, und Eva Weber-Guskar. Hrsg. 2017. Menschenwürde. Eine philosophische Debatte über Dimensionen ihrer Kontingenz. Berlin: Suhrkamp. Brumlik, Micha. 2017. Advokatorische Ethik. Zur Legitimation pädagogischer Eingriffe. Neuausgabe mit Vorwort zur 3. Auflage. Hamburg: CEP Europäische Verlagsanstalt. Knell, Sebastian. 2018. Würde am Ende der Autonomie. Überlegungen zum respektvollen Umgang mit Demenzpatienten. In Deutsche Zeitschrift für Philosophie 66. Heft 1: 62 – 74.
Care und Case Management im Kontext Sozialer Altenarbeit Wolf Rainer Wendt
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Angepasste Versorgung
Die Erfordernisse der Versorgung (care) im Leben alter, vornehmlich hochaltriger Menschen sind bei gesundheitlicher und sozialer Bedürftigkeit in der Regel vielseitig und komplex. Die gewohnte Lebensbahn ist in Frage gestellt, körperliche Beeinträchtigungen erfordern ebenso wie geistige Veränderungen und die Entfernung aus der Arbeitswelt eine Menge Umstellungen. Die Bewältigung des Alltags bereitet vielen zunehmend Schwierigkeiten. Hilfen werden erforderlich, um die Selbstständigkeit zu erhalten, und Vorkehrungen für den Fall völliger Abhängigkeit von Fremdversorgung sind zu treffen. Viele Menschen können sich bis ins hohe Alter selbst versorgen und sind auch in der Lage, benötigte Hilfen heranzuziehen – vorausgesetzt, sie sind in der sozialen Umwelt und in der dienstlichen Infrastruktur vorhanden. Für viele andere Menschen muss eine Unterstützung organisiert und Versorgung häuslich oder ambulant oder stationär durchgeführt werden. Im System des Sozial- und Gesundheitswesens vor Ort ist auszumachen, was gebraucht wird und was in welchen Fällen zu geschehen hat. Für die Erschließung von Dienstleistungen und anderen Hilfen, vor allem für komplexe und dynamische Arrangements, die fallweise in der einen oder anderen Situation angemessen sind, ist auf fachlicher Seite das Case Management zuständig. Es ist in Humandiensten überall angebracht, wo bei einem komplexen Bedarf im Einzelfall passende Hilfestellungen und geeignete Maßnahmen ausfindig gemacht, vereinbart, planmäßig realisiert und fortlaufend angepasst werden müssen. Generell wird mit dem Handlungskonzept Case Management ein in vielen Bereichen des Sozialwesens und des Gesundheitswesens, in der Pflege, bei Versicherungen und in der Beschäftigungsförderung eingesetztes Verfahren zu einer effektiven und effizienten Steuerung einer einzelfallbezogenen Leistungserbringung bezeichnet. Das Case © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_23
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Wolf Rainer Wendt
Management hat als Verfahren die Aufgabe, bei einer andauernden und mehrfältigen Problematik im Leben von Menschen die nötige Sorgearbeit (care) unter Heranziehung verschiedener Dienstleistungen durch Fachkräfte und anderer, informeller oder ehrenamtlicher Hilfen zu ‚organisieren‘. Dazu ist fallübergreifend am Ort oder in der Region der Versorgung eine Vernetzungsarbeit zu leisten. Auf den Einzelfall bezogen wird mit dem Case Management die individualisierte Versorgung gestaltet.
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Entwicklung und Verbreitung von Case Management
Entstanden ist das Verfahren als Methodik des Vorgehens in der ambulanten Sozialarbeit in den USA in den 1970er Jahren. Nach Entlassung vieler psychisch kranker, behinderter und pflegebedürftiger Menschen aus stationären Einrichtungen (De institutionalisierung) war die Versorgung dieser Menschen in Hinblick auf Wohnen, Arbeit, Gesundheit, soziale Kontakte usw. zu organisieren und unter Heranziehung verschiedener formeller Dienste und freiwilliger Hilfen zu koordinieren. Die gewohnte professionelle soziale Einzelfallhilfe (case work) genügte für diese Aufgabenstellung nicht. Vorhandene Dienste und die Fachkräfte in ihnen arbeiteten unkoordiniert je für sich, spezialisiert und punktuell, und sie zogen nicht an einem Strang. Der Komplexität der Versorgungsaufgabe war mit einzelnen Akutmaßnahmen nicht nachzukommen; gebraucht wurde ein die formellen dienstlichen und die informellen Bewältigungsmöglichkeiten in einem Kontinuum der Versorgung (continuum of care) verknüpfendes Unterstützungsmanagement (Wendt 1991). Nach 1980 wurde auch in Europa politisch gefordert, die soziale Versorgung bevorzugt ambulant zu gestalten. Von professioneller Seite wollte man von defizitorien tierter Betreuung abkommen und eine flexible Unterstützung von Bürger/-innen in der Selbstorganisation ihres Lebens erreichen. In der Altenhilfe hieß das für die Dienste und ihre Fachkräfte, sich auf die selbstbestimmte Lebensführung und die häuslichen Verhältnisse von Hilfe- und Pflegebedürftigen einzulassen, sich mit Angehörigen und freiwilligen Helfer/-innen abzustimmen und Unterstützung aus der kommunalen Umgebung beizuziehen. Die Aufgabe ließ sich in der Weise managerial bewältigen, dass vor Inanspruchnahme einzelner Hilfen die Bedarfslage mit den Betroffenen abgeklärt wird, mit ihnen die Möglichkeiten der Versorgung erörtert werden, der zu beschreitende Weg geplant und eine Vereinbarung über das Vorgehen und die Begleitung auf dem Weg getroffen wird. Strukturell mussten dafür Stellen eingerichtet werden, die die Bürger/-innen umfassend informieren und angebotsunabhängig beraten konnten und Hilfen ‚aus einer Hand‘ anzubieten in der Lage waren. In Großbritannien bekamen ab 1990 per Gesetz die lokalen öffentlichen Sozialdienste die Aufgabe zugewiesen, für Bedürftige die Bedarfsklärung durchzuführen und für sie ein Bündel erforderlicher Versorgungsleistungen (package of care) zu schnüren. Als Beschaffer (purchasers) sind die genannten Stellen getrennt von den
Care und Case Management im Kontext Sozialer Altenarbeit
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diversen Anbietern (providers) von Leistungen und können darauf sehen, dass diese auch tatsächlich erbracht werden. Case Manager/-innen übernehmen in diesem purchaser-provider-split die Steuerung des Versorgungsprozesses. In seiner Funktion als Disponent und Einkäufer von Leistungen verfügt der lokale Sozialdienst über ein Budget und disponiert in jedem Einzelfall über die Mittelverwendung im Rahmen des insgesamt verfügbaren Budgets. Ein ähnliches care management (s. u.) ist auch in anderen europäischen Ländern eingeführt worden (vgl. Engel und Engels 1999, 2000b). Ausgerüstet mit dem Case Management als Handlungskonzept, entstanden in Deutschland in den 1990er Jahren zuerst Koordinierungsstellen für ambulante Rehabilitation („Rund ums Alter“) in Berlin (Wissert 2000), vernetzt mit den örtlichen Einrichtungen und Diensten der Altenhilfe. Ab 1991 gab es die Informations-, Anlaufund Vermittlungsstellen (IAV-Stellen) für die ambulante Alten- und Krankenhilfe in Baden-Württemberg (Wendt 1993), analoge Beratungs- und Koordinierungsstellen (BeKo-Stellen) ab 1994 in Rheinland-Pfalz und in Hessen. Mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz 2008 wurden „Pflegestützpunkte“ (seinerzeit nach § 92c SGB XI) vorgesehen, die wohnortnah eine umfassende Beratung und Hilfestellung im Sinne eines Case Managements bieten sollten (Frommelt et al. 2008). Die Versicherten erhielten einen Rechtsanspruch auf „Pflegeberatung“ gemäß § 7a SGB XI. Sie hat die Aufgabe, einen Hilfebedarf zu erfassen, über dafür vorgesehene Sozialleistungen zu informieren, gegebenenfalls einen individuellen Versorgungsplan zu erstellen und seine Umsetzung in die Wege zu leiten und zu begleiten. Mit dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz haben seit 2016 die Pflegestützpunkte nach § 7c SGB XI die Aufgabe, unabhängige Auskunft und Beratung, die Koordination von Hilfe- und Unterstützungsangeboten und die Vernetzung dafür vorhandener Dienste und Einrichtungen zu leisten. Einschlägig ist auch der Anspruch auf ein „Versorgungsmanagement“ nach § 11 Abs. 4 SGB V zur Lösung von Problemen beim Übergang aus dem Krankenhaus in die verschiedenen Versorgungsbereiche. Es hat die Form eines standardisierten Entlassmanagements angenommen, das individuell, ressourcen- und teilhabeorientiert und in enger Abstimmung mit dem Patient/-innen oder deren gesetzlichen Vertreter/-innen bzw. Betreuer/-innen erfolgen soll und dem individuellen Hilfe- und Unterstützungsbedarf der Patient/-innnen Rechnung tragen soll (Rahmenvertrag zu § 39 Abs. 1a SGB V). Der Einsatz des Case Managements in der ambulanten Versorgung und in der Nachsorge nach einem Krankenhausaufenthalt bewährt sich in der Vermeidung oder Verschiebung von stationären Unterbringungen. Damit rechtfertigten sich bereits die ersten Koordinierungsstellen (Wissert 2005). Dass eine begleitete häusliche Pflege das Risiko der Heimunterbringung reduziert und die Lebensqualität für die Betroffenen und Beteiligten hebt, bestätigen wissenschaftliche Studien (Onder et al. 2007; You et al. 2012) – vorausgesetzt, es handelt sich um eine intensive und gut organisierte Begleitung (Jacobs und Challis 2007) und/oder die Fallsteuerung erfolgt in darauf eingerichteten neuen Versorgungsstrukturen (Şahin et al. 2018). Entsprechende Er-
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fahrungen sind auch bei Pflegearrangements gewonnen worden, die mit einem personenbezogenen Budget versehen und per Case Management unterstützt sind (Klie und Spermann 2004).
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Das Handlungskonzept
Case Management hat sich mit der Zeit von einem methodischen Ansatz der Sozialarbeit zu einem Instrumentarium entwickelt, das fachgebietsübergreifend eingesetzt wird, um ein koordiniertes und kooperatives Vorgehen in der personenbezogenen Bearbeitung von Aufgaben und Behandlung von Problemen zu erreichen und um den Nutzer/-innen bei der Problembearbeitung alltagsnah und pragmatisch zur Seite zu stehen. Inhaltlich steht im Fokus, was handhabbar und machbar (manageable) ist. Das Verfahren konkurriert nicht mit der Expertise in der Pflege oder der Medizin und nicht mit fachspezifischen Methoden der Psychologie oder der Pädagogik; es ersetzt auch nicht anderweitig nötige Sozialarbeit. Das Case Management nimmt sich der Probleme und Sorgen von Menschen und der Aufgaben in ihrer Versorgung in unspezifischer Weise an, um sie gegebenenfalls spezieller, im jeweiligen Fachgebiet zu vertretender Betreuung und/oder Behandlung zuzuführen. Unterschieden werden muss zwischen Case Management als methodischem Konzept auf der personalen Handlungsebene und einem Case Management auf der Strukturebene als Organisations- oder Systemkonzept in administrativer Funktion. Der individuellen Fallführung steht das Management der Fälle im Betrieb der humandienstlichen Versorgung gegenüber. Was Case Manager zu tun bekommen, ist bei hinreichender Implementierung des Verfahrens in Pfaden der Versorgung (care pathways) und somit in der ganzen Prozessgestaltung organisiert. In der Systemsteuerung der Handhabung all der Fälle, mit denen ein Leistungsträger oder ein Leistungserbringer zu tun hat, wird entschieden, nach welchen Kriterien, in welchem Umfang und mit welcher Intensität einzelne Fälle bearbeitet und begleitet werden. Generell geht es personen- wie organisations- und systembezogen um die wirksame Handhabung und Steuerung von Prozessen. Aber wer auf der Organisationsoder Systemebene von Case Management spricht und damit die Strategie eines rationalen Vorgehens in der Versorgung bezeichnet, meint nicht ohne Weiteres das operative Geschehen und den Handlungsablauf im Management eines Einzelfalles, worin bei möglichst weitgehender Abstimmung mit den Nutzer/-innen planmäßig, koordiniert und kontrolliert vorgegangen wird. Hat man andererseits die personenbezogene Methode Case Management im Blick, ist zu bedenken, dass sie in Humandiensten nur dann erfolgreich eingesetzt werden kann, wenn sie mit einer Organisationsentwicklung verbunden ist, welche die ambulanten und stationären Strukturen der humandienstlichen Versorgung auf die prozessualen Anforderungen des Case Managements abstimmt und ihm das Netzwerk zur Koordination und Kooperation der beteiligten Stellen und Fachkräfte schafft.
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Das Case Management fasst als Arbeitsweise, wie sie zunächst in der professionellen Sozialen Arbeit rezipiert worden ist, das nutzer- und ressourcenorientierte Vorgehen bei der Unterstützung im Einzelfall ins Auge und organisiert es systematisch in den einzelnen Dimensionen oder Schritten bzw. Stadien, die zum Verfahren gehören. Case Management beginnt in der direkten personenbezogenen Arbeit mit der Entscheidung über das Engagement in einem Fall und endet nach Vereinbarung mit der abschließenden Feststellung des Erfolgs der gemeinsamen Bemühungen. Case Manager/-innen übernehmen in diesem Prozess •• die selektierende Funktion eines Türöffners und Lotsen (gatekeeper) im Netz der Versorgung, der zwischen Leistungsnehmern, Leistungsträgern und Leistungserbringern eine Versorgung angemessen in die Wege leitet, •• die vermittelnde Funktion des Maklers (broker) von Diensten, der Angebote her anzuziehen, zu erschließen und für eine Person und ihre Situation passend zuzuschneiden weiß, •• eine unterstützende Funktion (supporting) in der Begleitung von Nutzer/-innen durch das Versorgungssystem, •• und eine anwaltliche Funktion (advocacy), in der Dienstleistungen für Nutzer/-innen verfügbar gemacht werden und dafür gesorgt wird, dass den Belangen und dem Bedarf der einzelnen Leistungsnehmer/-innen entsprochen und die Qualität ihrer Versorgung gesichert wird. Diese Funktionen sind in einzelnen Gebieten der Anwendung von Case Management unterschiedlich ausgeprägt. Das hängt wesentlich davon ab, wo das Verfahren strukturell angesiedelt ist – in einem Klinikum, bei einem Versicherer oder einem anderen Leistungsträger, in einer Beratungsstelle oder bei einer Sozialstation. Allerdings kann sich nicht ein/-e einzelne/-r Sozialarbeiter/-in oder eine einzelne andere Fachkraft in einem Dienst oder in einer Einrichtung für das Case Management als ‚ihre‘ Methode entscheiden: die Organisationsstruktur muss eine kompetente Fallführung zulassen. Nur wenn ein/-e Sozialprofessionelle/-r selbstständig in freier Berufsausübung tätig und sein Einsatz mithin identisch ist mit dem gewerblichen Dienstbetrieb, kommt das Systemkonzept Case Management unmittelbar überein mit dem methodischen Konzept des personenbezogenen professionellen Arbeitens.
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Fallführung
Zum Verständnis des individualisierten Managements in einem Versorgungsregime ist zu bemerken (und gegen Fehlinterpretationen des Verfahrens zu betonen), dass case hier nicht für den Menschen steht, sondern für seine problematische Situation, die es – im Ganzen und im Detail – zu bewältigen gilt. Diese Situation und Problematik ‚ist der Fall‘ und Gegenstand der managerialen ziel- und lösungsorientierten pro-
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fessionellen Bemühung. Sie ist auch Gegenstand des Bewältigungsverhaltens (coping behaviour) und der Selbsthilfe der zu versorgenden Person, ihrer Angehörigen und der Mitwirkung von anderen Helfer/-innen. Bei Pflegebedürftigkeit oder Demenz sind es häufig die Angehörigen, die Beratung, Begleitung und Unterstützung im Sinne des Case Managements benötigen. Mit ihnen wird die Aufgabenstellung in den Blick gerückt, gemeinsam geklärt und dann im Kontinuum der nötigen Versorgung bearbeitet. Fallbezogen übernehmen Case Manager/-innen die Rolle von Sachwalter/-innen, die rücksichtsvoll alle Seiten einer Situation und Problematik und die Interessen der Mitwirkenden beachtet. Im ganzen Verlauf des personbezogenen Case Managements wird die subjektive Fallauffassung von Betroffenen mit der mehr oder minder objektiven Fallauffassung beteiligter Fachkräfte abgeglichen. Die gemeinsame Reflexion und Verständigung darüber, ‚was der Fall ist‘, führt zur Zusammenarbeit der Beteiligten. Man verstieße gegen die Autonomie einer Person und missachtete ihre Selbstsorge und mündige Mitwirkung, betrachtete man die Person als ‚Fall‘. Im Case Management wird der Prozess der Bewältigung bzw. der Weg zur Lösung einer Problematik gemanagt. Was der Fall ist, lässt sich immer nur ad hoc feststellen und bleibt indi viduell. Das Grundgerüst in der Ablauforganisation von Case Management bilden seit den 1980er Jahren folgende Dimensionen oder Phasen: •• Outreach, d. h. der Fallzugang mit Prozeduren der Zielgruppenbestimmung, des Erreichens von Nutzer/-innen und der besseren Erreichbarkeit eines Dienstes, von Sortierung der Fälle (screening) und ihrer Zuordnung zu Fallgruppen, individueller Eingangsprüfung (intake) und einer Vereinbarung über das Vorgehen, ggf. in Verabredung einer Fallführung, •• Assessment als eingehende Klärung der (materiellen, sozialen und gesundheitlichen) Problemlage und Bedarfsfeststellung (bei Pflegebedürftigkeit etwa nach der Klassifikation der ADL oder bei Behinderung nach der ICF), wobei auch das Ausmaß der Einschätzung der Situation und Problematik (die Beratungstiefe) wie der Umfang der Bedarfserhebung im Einzelfall festgelegt wird, •• Planning mit Vereinbarung über Ziele, die anzustreben sind, und in Erarbeitung eines Hilfeplans oder Versorgungsplans die Bestimmung des Weges, auf dem die Ziele erreicht werden können, sowie der Mittel, die dafür zum Einsatz kommen, •• Umsetzung der getroffenen Arrangements bei einem andauernden Monitoring als Kontrolle und Qualitätssicherung der Prozesse, in denen die Problembewältigung und die Erbringung einzelner Leistungen erfolgen, •• Evaluation der Leistungserbringung, bezogen auf ihren (dokumentierten) Vorgang und auf ihre Ergebnisse, verbunden mit einem Reassessment des sich ändernden Bedarfs und der Aufgabenerledigung, •• Accountability in der Berichterstattung und Rechenschaftslegung, womit die verantwortliche Stelle mit dem Case Management insgesamt ihrer die einzelnen Fälle
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übergreifenden Funktion nachkommt, einen Versorgungsauftrag transparent und nachweisbar zu erfüllen. Diese Elemente sind seit den 1990er Jahren wiederholt als Kern-Charakteristiken (core characteristics) von Case Management beschrieben worden (Gursansky et al. 2003, S. 17 ff.). Die Komponenten beziehen sich aufeinander und ihr prozessual gestalteter Zusammenhang macht das Case Management aus. Das Vorkommen bloß einzelner Momente – wie einer Bedarfsbestimmung, Hilfeplanung oder Evaluation – im professionellen Handeln der Sozialen Arbeit oder der Fachpflege verdient die Bezeichnung Case Management dagegen nicht. Ressourcen erschließen und sie rationell zur Bewältigung einer humandienstlichen Aufgabe heranziehen, so kann man die Funktion von Case Management ökonomisch in einem Satz beschreiben. Wobei die Ressourcen einerseits im System der Versorgung und andererseits bei den Nutzer/-innen der (medizinischen, pflegerischen, sozialen) Versorgung vorliegen. Sie haben ‚Stärken‘, auf die sich ein stärkenorientiertes Case Management stützen kann (Ehlers et al. 2017). Das trägt zur Ökonomie des Verfahrens bei. Über die vorhandenen Mittel und Möglichkeiten ist mit den Beteiligten zu disponieren. Das Verfahren soll rationell gestaltet sein und zielgerichtet ablaufen. Es hebt die Trennung von fachlicher und wirtschaftlicher Verantwortung, von persönlichem Einsatz und dem Betrieb der Leistungserbringung auf. Deswegen ist das Case Management zu einem bevorzugten Instrument in der Neustrukturierung von personenbezogenen Diensten für Menschen (human services) im Sozialwesen, Gesundheitswesen, bei Versicherungen und in der Beschäftigungsförderung geworden. Seitdem es nicht mehr nur als ein Verfahren in der ambulanten Sozialarbeit begriffen wird, sondern auch als Organisationsprinzip auf der Ebene des Betriebs humandienstlicher Versorgung wahrgenommen wird, spricht man im Case Management von ‚Systemsteuerung‘ und stellt sie der ‚Fallsteuerung‘ oder ‚Fallführung‘ gegenüber. Diese bedarf einer entsprechenden Strukturierung der Prozesse insgesamt. Der Erfolg des Einsatzes von Case Management hängt mithin davon ab, wie man es auf der Führungsebene von Leistungsträgern und Dienstleistern zu gebrauchen und zu implementieren weiß. In der Steuerung des ganzen Prozesses bettet das Case Management den Einzelfall in eine angemessene Besorgung all der Fälle ein, für die ein Dienst oder eine Einrichtung zuständig ist. Die Organisation und Verortung von Case Management erfolgt in den einzelnen Handlungsfeldern sehr unterschiedlich. Die Funktion der Fallführung kann von einem Team oder von einem/einer Case Manager/-in oder mit differenzierter Aufgabenstellung von ‚Fallberater/-innen‘, ‚Fallbegleiter/-innen‘ oder ‚Fallassistent/-innen‘ wahrgenommen werden. Fachlich qualifiziert sind für die Tätigkeit als Case Manager/-in sozial-, gesundheits- und pflegeberuflich erfahrene Absolvent/-innen einer (Fach-)Hochschule mit Diplom- oder Bachelor-Abschluss und einer zertifizierten Weiterbildung im Case Management. Es stellt keine eigene Profession dar, sondern wird auf der Basis eines Humanberufes ausgeübt.
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Die fachpolitische Interessenvertretung von zertifizierten Case Manager/-innen und ihren Ausbildungsstätten ist die Deutsche Gesellschaft für Care und Case Management (DGCC) mit Sitz in Mainz. Sie hat Rahmenempfehlungen und Standards für die Implementierung des Verfahrens und für die Arbeit von Case Manager/-innen erstellt (Wendt und Löcherbach 2009; DGCC 2015).
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Versorgungssteuerung per Care Management
Auf der betriebswirtschaftlichen und sozialadministrativen Ebene wird das Case Management oft gleichgesetzt mit Managed Care und auch mit Care Management. Hinter der Verbreitung der Managed-Care-Konzepte steht das Interesse insbesondere der Versicherungswirtschaft, das Leistungsgeschehen unter Kostengesichtspunkten zu steuern, und das Erfordernis in der stationären Krankenversorgung, die internen Abläufe bestmöglich zu gestalten. Im amerikanischen System der Gesundheitsversorgung schon länger verbreitet, sollen unter dem Stichwort ‚Managed Care‘ neue strukturelle und ablauforganisatorische Verbindungen von Kostenträgern und Leistungserbringern, von Versicherung und Versorgung gefasst werden. „Managed Care ist die Anwendung von Managementprinzipien, die zumindest partielle Integration der Leistungsfinanzierung und -erstellung sowie das selektive Kontrahieren der Leistungsfinanzierer mit ausgewählten Leistungserbringern. Ziel ist die effiziente Steuerung der Kosten und Qualität im Gesundheitswesen.“ (Amelung 2012, S. 20)
Managed Care verschafft den Leistungsfinanzierern und den Konsument/-innen gegenüber den Leistungserbringern mehr Gewicht und Spielraum in der Gestaltung der gesundheitlichen Versorgung. Der Begriff ‚Care Management‘ kann allgemein die Steuerung humandienstli cher Versorgung im Sozialwesen (social care) und im Gesundheits- und Pflegewesen (health care, medical care, elder care, long-term care) mit dem Ziel einer Optimierung von Versorgungsprozessen bezeichnen. Der Begriff ist eingeführt worden, um im Bereich von Care – im allgemeinen Sinne der Fürsorge, Pflege, stationären Behandlung und ambulanten Betreuung – die Aufgaben des Managements summarisch zu erfassen. Synonym wird auch der Begriff ‚Versorgungsmanagement‘ verwandt. Sein Gegenstand sind die Strategien, die Aufbauorganisation (Strukturen), die Arrangements (care arrangements) und die Ablauforganisation (Versorgungspfade, vgl. z. B. Johnson 2002) in der humandienstlichen Versorgung. Dabei werden die informellen Weisen sozialer und gesundheitlicher (Selbst-)Versorgung berücksichtigt. Die Verknüpfung professioneller Aufgabenerledigung mit den Eigenleistungen von Menschen und ihrer Unterstützung durch Angehörige, Nachbarn und freiwillige Helfer/-innen wird der Forderung nach Wirtschaftlichkeit und nach Lebensnähe von Diensten gerecht. Insbesondere in der ambulanten pflegerischen Versorgung bauen
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fachdienstliche Arrangements auf persönliche und familiäre care arrangements und verbinden sich mit ihnen. Die häusliche Versorgungsarbeit, die in familiären und anderen lebensgemeinschaftlichen Arrangements zumeist von Frauen geleistet wird, war und ist fundamental für das Funktionieren der formalen Versorgungssysteme. In Großbritannien wird der Begriff Care Management im Nationalen Gesundheitsdienst gebraucht, um das Versorgungssystem im lokalen Gemeinwesen unter Einschluss informeller und freiwilliger Mitwirkung (community care) in seiner Organisation und Steuerung zu bezeichnen. Die Aufgabe, bei Versorgungsbedürftigkeit von behinderten oder alten Menschen ein Bündel notwendiger Leistungen (package of care) zu schnüren, ist in den letzten Jahren schrittweise auf die bedürftigen Menschen und ihre pflegenden Angehörigen (carers) übergegangen (Means et al. 2002). Dies geschieht in Großbritannien und in anderen Ländern – so in den Niederlanden seit 2003 (Maliepaard und Meinema 2004) und in Deutschland zunächst projektweise (Klie und Spermann 2004) – in der Annahme, dass die Berechtigten bei Nutzung eines persönlichen Budgets ihre Wahl selbstbestimmt treffen und die nötigen Hilfen zusammenstellen können. Die Leistungsempfänger/-innen werden zu aktiven Teilhaber/-innen und Partner/-innen im Versorgungsgeschehen (Scourfield 2007). Das Case Management übernimmt dabei die Funktion einer Budgetassistenz, wozu im Rahmen des amtlichen Care Managements noch die Kontrolle und Evaluation der Leistungserbringung kommt. Der Sprachgebrauch gewinnt an Bedeutung mit der Einführung und Durchsetzung einer sektorübergreifenden ‚integrierten Versorgung‘ in vielen Bereichen des Gesundheits- und Sozialwesens. In der Altenhilfe geht es insbesondere um eine Abstimmung des Versorgungshandelns in Krankenhäusern, Rehabilitations- und Pflegeeinrichtungen und um ein Schnittstellenmanagement von und zu häuslicher Versorgung. Im lokalen und regionalen Kontext organisiert ein Care Management das Angebot ambulanter präventiver und rehabilitativer Dienste, hauswirtschaftlicher Hilfen, an Wohnen mit Service im Verbund usw. Die Koordination und Kooperation der dienstleistenden Stellen will fallübergreifend organisiert sein. Der Erfolg des Case Managements im Einzelfall hängt davon ab, dass beteiligte Stellen und her anzuziehende Dienste hinreichend vernetzt sind und zur Kooperation in der Lage und bereit sind. Dabei kommt der Vernetzung mit informellen Hilfen, Nachbarschaft und Bürgerengagement eine wachsende Bedeutung zu. Die Bildung und der Unterhalt von Netzwerken stellen zentrale Aufgaben im Care Management dar.
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Das Leben mit seinen Beschwernissen besorgen
Das lokale Angebot an Hilfen, Diensten und Einrichtungen wird im individuellen Case Management für die einzelne Person erschlossen und auf sie möglichst passend zugeschnitten. Die Case Manager/-innen navigieren für sie in der Versorgungslandschaft. Sie sind Lots/-innen, Einschätzer/-innen, Planer/-innen und Förderer/-in-
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nen. Prinzipiell soll die Person in ihrer Selbstständigkeit unterstützt werden. Es gehört deshalb zum personenbezogenen Auftrag von Case Manager/-innen, Anwalt/ Anwältin der subjektiven Belange von Nutzer/-innen gegenüber der Funktionslogik von Leistungsträgern und Leistungserbringern zu sein. In der Fachdiskussion ist mit der Zeit die Position des Case Managements zwischen den Steuerungserfordernissen im formellen Versorgungssystem einerseits und der Selbststeuerung von Menschen in ihrer Lebensführung und eigenen Sorge deutlicher geworden. Nachgerade ältere Menschen suchen in ihrer Lage und in ihrem Lebensfeld in eigener Aktivität nach geeigneten Arrangements, um auch bei zunehmenden körperlichen Beschwernissen und Einschränkungen ihrer Alltagskompetenz selbstständig zurechtzukommen. Ein Case Management wird grundsätzlich gebraucht, insoweit Menschen die Aufgaben, die sich ihnen in der Führung ihres Lebens und in der Bewältigung von Problemen stellen, nicht allein ‚managen‘ können. Abgeleitet vom life management, ergänzt und ersetzt das Case Management seine Funktion. Es tritt nach Lage des Falles in die Besorgung persönlicher Angelegenheiten ein. Folgerichtig haben Berufsbetreuer/-innen die Ausführung der Aufgaben, die ihnen das Vormundschaftsgericht nach der Maßgabe übertragen hat, dass „ein Volljähriger auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen“ kann (§ 1896 BGB), als ein Betreuungsmanagement interpretiert, das sich nach dem Handlungskonzept des Case Managements gestalten lässt (Förter-Vondey 2008). Die Problemlage ist bei der betreuten Person häufig komplex und der Aufgabenkreis, der den Betreuer/-innen zugewiesen ist, erfordert ein vielseitiges manageriales Handeln. Soweit möglich, erfolgt es in Absprache mit den Betreuten. Generell bestimmt bei Menschen mit Behinderung und mit Pflegebedarf ihr Selbstmanagement das Ausmaß der Unterstützung (Siebert 2008). An der auf den Fall bezogenen Sorgearbeit sind in der Altenhilfe überwiegend Angehörige beteiligt. Deren Unterstützung, Beratung, Schulung und Begleitung ist ein zentrales Anliegen im Case Management. Mit pflegenden Angehörigen wird abgestimmt, wie sie bei der Last, die sie auf sich nehmen, ihren Alltag ‚managen‘, ihre Erwerbstätigkeit mit Pflege vereinbaren (Martin-Matthews und Phillips 2008) und den eigenen Einsatz mit pflegefachlicher und sozialdienstlicher Hilfe leisten können (Cress 2008). Das Case Management betrifft mit seiner Leistungssteuerung die Helfenden mindestens so sehr wie die Menschen, denen sie zur Seite stehen. Sie bedürfen systemseitig einer kommunalen Infrastruktur der Unterstützung, Förderung und Entlastung. Gestaltet wird im Case Management ein Zusammenwirken formeller und informeller Versorgung in Bewältigung des Lebens von Menschen in hohem Alter und des Lebens mit ihnen. Das Konzept und das Verfahren sind dazu da, im Feld der Altenhilfe fallweise mit Rat und Tat das objektiv Mögliche auf die Person bezogen mit allen Beteiligten zu erreichen, die sich idealerweise mit anderen Mitwirkenden in einer ‚sorgenden Gemeinschaft‘ (caring community) zusammenfinden.
Care und Case Management im Kontext Sozialer Altenarbeit
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Ausgewählte Literatur Engel, Heike, und Dietrich Engels. Hrsg. 1999. Case Management in verschiedenen nationalen Altenhilfesystemen. Schriftenreihe des BMFSFJ. Band 189.1. Stuttgart: Kohlhammer. Wendt, Wolf Rainer. 2018. Case Management im Sozial- und Gesundheitswesen. Eine Einführung. 7. Auflage. Freiburg i. Br.: Lambertus. Wissert, Michael. 2000. Unterstützungsmanagement als Rehabilitations- und Integrationskonzept bei der ambulanten Versorgung älterer, behinderter Menschen. Herleitung, Entwicklung und Erprobung eines Handlungsansatzes. Aachen: Karin Fischer.
Teil II Sozialrecht, Sozialpolitik und Lebenslagen im Alter
Kapitel 1 Sozialrecht und Sozialpolitik für alte Menschen
Sozialrecht und Sozialpolitik für das Alter – Entwicklungen bis Anfang der 1960er Jahre Peter Hammerschmidt und Florian Tennstedt
1
Einleitung
Allgemeine sozialpolitische Maßnahmen galten immer auch für ältere Menschen, sofern sie bedürftig waren. Besondere Sicherungsleistungen, die an ‚Alter‘ anknüpften, mit ihm verbunden waren, gibt es in Deutschland seit der gesetzlichen Rentenversicherung von 1889, erst in der Weimarer Republik folgte die Fürsorge. Ihre lange Tradition der stationären Hilfe für Alte wurde in der Bundesrepublik durch das Dienstleistungsangebot der offenen Altenhilfe ergänzt. Die folgende Darstellung beschränkt sich dementsprechend auf die Entwicklung dieser Bereiche.
2
Sozialpolitik – Begriff und Wurzeln
2.1
Was ist Sozialpolitik ?
Sozialpolitik wird hier verstanden als die mit der Arbeiterfrage des 19. Jahrhunderts beginnende staatliche Politik zur Absicherung der spezifischen Risiken und Unsicherheiten, die eine industriekapitalistische Marktwirtschaft insbesondere für Lohnabhängige produziert. In diesem Sinne leistet sie öffentliche Hilfe für Fälle gescheiterter oder nicht zureichender privater Reproduktion durch (Erwerbs-)Arbeit und Familie. Sie mindert die Marktabhängigkeit der Individuen durch Fürsorge und Sozialversicherung, greift durch Arbeiterschutzregelungen aber auch in den Produk tionsbereich ein. Historisch haben sich vier Strukturprinzipien bzw. Bereiche herausgebildet: a) soziale Schutzrechte, insbesondere Arbeitsrecht, b) Sozialversicherung, c) soziale Fürsorge und d) soziale Versorgung. Die letztgenannten Bereiche (‚drei Säulen‘) bilden dabei das System der sozialen Sicherung (vgl. Sachße und Tennstedt 2005). Soziale Arbeit ist in erster Linie im Bereich Soziale Fürsorge (Wohlfahrtspflege, © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_24
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Peter Hammerschmidt und Florian Tennstedt
Soziale Hilfe) angesiedelt. Sozialpolitik für das Alter findet in allen Bereichen statt, sie reicht von Antidiskriminierung über Rentenleistungen bis hin zu sozialen und pflegerischen Diensten, die nur teilweise privat finanziert werden. Anders als einst ‚die Arbeiter/-innen‘ sind ‚die Alten‘ aber keine soziale Gruppe gewesen, der ein besonderer Schutz des Staates galt, ihre Situation war und ist primär davon geprägt, welche Formen der sozialen Sicherheit allgemein entwickelt wurden. 2.2
Wurzeln der Sozialpolitik
Das durch Sozialpolitik und Sozialrecht gestaltete System der sozialen Sicherung wurzelt in der Armenpflege/Armenfürsorge. Diese hatte im Hinblick auf arme alte Menschen ihren Schwerpunkt in der stationären und halbstationären Altenhilfe. Die als Kulturerbe gepflegten Stiftungen und Altersheime (Spitäler) in einzelnen Gemeinden legen noch heute Zeugnis davon ab, wie seit dem Mittelalter für die Hilfsbedürftigen und Gebrechlichen aller Art, darunter auch die Alten gesorgt wurde. Später kamen besondere Heime für alte Leute auf. Begründer und Träger dieser Heime waren teils Ordensgemeinschaften, aber auch Zünfte und Gilden. Ferner sind seit dem 14. Jahrhundert auch Städte häufig durch milde Stiftungen ihrer Bürger veranlasst worden, Fürsorgeheime – meist für Frauen – zu gründen. Daneben gab es noch die offene Fürsorge, die von den Städten zunehmend getragen und reglementiert wurde. Strittig war späterhin vor allem, welche Gemeinde für welche Armen und Alten zuständig war, wer für wen die Verantwortung tragen sollte. Diese Fragen verschärften sich im 19. Jahrhundert durch die bekannten sozialen und ökonomischen Veränderungen, wie Binnenwanderung, Industrialisierung und Verstädterung und wurden Teil der sozialen Frage. Die Prinzipien der Armenpflege wurden fortan restriktiver gefasst, nicht zuletzt unter dem Einfluss liberaler und säkularisierter Theorien wurde deren strikte Nachrangigkeit (Subsidiarität) betont. Der Staat bestimmte nur die Verpflichtung zur Armenpflege, der aber für den einzelnen kein Rechtsanspruch gegenüberstand. Armenpflege war und ist Ausfallbürge, ihr Prinzip das der Nachrangigkeit, vorgelagerte Sicherungsmöglichkeiten – familiare und ständische Hilfe, private Unterstützung usw. – sollten vorrangig genutzt werden. Zur Nachrangigkeit gehört auch die Arbeitspflicht. Deshalb ist für die Armenpflege immer die Unterscheidung zwischen arbeitsfähigen und arbeitsunfähigen Armen zentral, (höheres) Alter an sich war kein Kriterium (vgl. Göckenjan 1990a; Hammerschmidt 2008, 2012). In den armenpflegerischen Fachdiskussionen im 19. Jahrhundert spielten Alte als Gruppe keine nennenswerte Rolle, obwohl sie – vor allem Frauen (ehelose, geschiedene und verwitwete) – die Mehrzahl der dauernd unterstützten Armen stellten (Göckenjan 1990, S. 109 ff.). Alte Menschen wurden bedürftig, wenn sie nicht mehr arbeiten oder – meist nach einem, mit dem 40. Lebensjahr einsetzenden beruflichen Abstieg – kein ausreichendes Arbeitseinkommen mehr finden konnten, ihre Ersparnisse verbraucht und die familiären Ressourcen oder Rückhalte (‚Ernährer‘) erschöpft oder nicht vorhanden waren.
Sozialrecht und Sozialpolitik für das Alter bis Anfang der 1960er Jahre
3
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Das Deutsche Kaiserreich – die Ausdifferenzierung des Systems der sozialen Sicherheit und Anfänge der Sozialversicherung
Die Sozialpolitik für das Alter erhielt eine neue Dimension durch die Rentenversicherung, mit ihr wurde 1889 ein neuer Pfad betreten. Sie bildete den vorläufigen Abschluss der sog. Bismarck’schen Arbeiterversicherung, die 1883 mit der gesetzlichen Krankenversicherung begonnen hatte. Diese Arbeiterversicherung bot standardisierte öffentlich-rechtliche Ansprüche bei Eintritt bestimmter Risiken auch ohne individuelle Bedürftigkeitsprüfung. Die Rentenversicherung war auf das Risiko der dauernden Erwerbsunfähigkeit gerichtet, sie umschloss dann aber auch das Alter vom 70. Lebensjahr an. Grundsätzlich wurde sie durch Beiträge finanziert, die auf ein Kapitaldeckungsverfahren ausgerichtet waren. Über lange Jahre hatte sie aber, nicht zuletzt durch einen Reichszuschuss, vorrangige Züge einer Staatsbürgerversorgung mit der Finanzierung durch ein Umlageverfahren. Diese öffentlich-rechtliche Alterssicherung bewirkte zunächst – und dann auch über Jahrzehnte hinweg – nicht, dass arme Ältere (Lohnarbeiter/-innen) nicht mehr auf eigene private Ressourcen, ihre Familie, gewerkschaftliche Unterstützung, Hinzuverdienen oder auch noch (wohl 10 v. H.) auf kommunale Fürsorgeleistungen angewiesen waren. Abgesichert war zunächst nur ein kleiner Teil der Bevölkerung, die Altersrente (anders im Falle von Invalidität) war erst ab dem 70. Lebensjahr vorgesehen, ein Alter, was seinerzeit nur sehr wenige Arbeiter/-innen erreichten. Arbeitsfähige siebzigjährige Lohnarbeiter/-innen konnten 1914 bei langjähriger Versicherungszeit eine jährliche Altersrente in Höhe von (maximal) 230 M. erreichen, was weniger als 20 % seines vorhergehenden, üblichen Einkommens entsprach, an dessen Höhe die Rente anknüpfte. Die Altersrente bot also nur einen Zuschuss zum Lebensunterhalt (zur Entstehungsgeschichte siehe Haerendel 2001, 2004), der, wie aus Tabelle 1 hervorgeht, mit den Jahren anstieg. Gleichwohl war dieser Zuschuss geeignet, die Position der ansonsten einkommenslosen Alten in ihrem Familienverband/ Haushalt zu verbessern. Für Alleinstehende konnten die eingerichteten Invalidenund Versorgungsheime eine Verbesserung bedeuten. Damit war zugleich auch ein erster Schritt auf dem langen Weg hin zu einer arbeitsfreien Altersphase für Lohnarbeiter/-innen getan. Eine Versorgung ihrer Hinterbliebenen (Witwer, Witwen und Waisen) verankerte erst die Reichsversicherungsordnung (RVO) von 1911 in der gesetzlichen Rentenversicherung, allerdings in äußerst geringer Höhe und unter der restriktiven Voraussetzung der eigenen Erwerbsunfähigkeit. Wichtig waren auch die zeitgleichen Bestrebungen für eine Ausweitung des Adressatenkreises der Alters- und Invaliditätsversicherung über die Arbeiter/-innen hinaus. Es ging konkret um die Einbeziehung von Angestellten. Diese verstanden sich als „Privatbeamte“, grenzten sich gegen Arbeiter/-innen ab und forderten eine von den Arbeiter/-innen getrennte Versicherung. Im Ergebnis führten diese Auseinandersetzungen am 28. 12. 1911 zur Verabschiedung des Versicherungsgesetzes für Angestellte, das Angestellte bis zu einem Jahresgehalt von 5 000 M. in einer eigenen Reichsversicherungs-
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Peter Hammerschmidt und Florian Tennstedt
Tabelle 1 Hauptdaten der gesetzlichen Rentenversicherung der Arbeiter 1891 – 1932 1891
1900
1913
1925
1932
Versicherte (in Mio.)*
9,93
12,16
17,49
17,5
17,5
neu bewilligte Invaliditäts-Renten
31
117 141
126 607
157 985
148 635
neu bewilligte Altersrenten
132 926
19 109
11 472
112 048
80 072
durchschnittl. jährl. Höhe der IR
113
140
192
ca. 275,0**
durchschnittl. jährl. Höhe der Alters-Renten
125,55
144,54
166,09
ca. 258,0**
durchschnittl. Höhe des Wochenbeitrags (M)
0,2
0,22
0,35
0,72
1,23
5,57
24,91
32,86
38,6
Ausgaben für Heilverfahren (in Mio. M)
* Errechnet aus der Zahl der verkauften Wochenbeitragsmarken geteilt durch 43, d. h. durch die Zahl der für einen Versicherten durchschnittlich jährlich verwendeten Beitragsmarken, die tatsächliche Zahl der Versicherten dürfte etwas niedriger gewesen sein. ** Geschätzte Zahl durch ‚Fortschreibung‘ der Werte von 1913, an sich gab es keine Differenzierung mehr, Durchschnittsangaben der Invalidenrente fehlen. Quelle: Amtliche Nachrichten des Reichsversicherungsamtes, 1893 ff. © RVA
anstalt für Angestellte gegen die Risiken von Invalidität und Alter absicherte. Die Altersgrenze für einen regulären Rentenbezug war hier auf das vollendete 65. Lebensjahr festgelegt. In Tabelle 2 wird deutlich, dass nicht nur bei Erwerbsunfähigkeit, sondern auch schon bei Berufsunfähigkeit Leistungen in Anspruch genommen werden konnten und eine Hinterbliebenenrente hier auch erwerbsfähige Witwer/Witwen erhalten konnten. Allerdings gab es keine Reichszuschüsse für diese neue ‚Versorgungsklasse‘ der Angestellten. Für die Arbeiter/-innen reduzierte der Gesetzgeber die Altersgrenze, die zum Rentenbezug berechtigte, erst 1916 auf das 65. Lebensjahr. In dem Maße, in dem die gesetzliche Rentenversicherung ‚griff‘ und sich das Problem der (Alters-)Armut verminderte, erlebte die kommunale Fürsorge eine finanzielle Entlastung bei ihren Pflichtaufgaben. Mittel für die Entfaltung freiwilliger und vielfach auch neuartiger Fürsorgeleistungen und -angebote standen damit zur Verfügung. Vor allem in den größeren Städten der prosperierenden Industriegebiete verbesserten die Kommunen seit etwa 1890 ihre Leistungen hin zu einer Wohlfahrtspflege. Im Mittelpunkt dieser Wohlfahrtspflege standen aber Kinder und Mütter sowie die Bekämpfung der Volkskrankheiten. Praktisch bedeutsam für arme Alte war dabei, dass freiwillige Einrichtungen und Maßnahmen systematisch ausgebaut wurden, die auch, oder vor allem, Alten zugute kamen. Hier ist etwa an Volksküchen, aber auch an die erwähnten Alters- und Siechenheime zu denken, an deren Finanzierung sich die Rentenversicherung beteiligte. Dann müssen aber auch die Dienst- und Sachleistungen der kommunalen Gesundheitsfürsorge erwähnt werden, die erkrankten Alten eben-
Sozialrecht und Sozialpolitik für das Alter bis Anfang der 1960er Jahre
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Tabelle 2 Hauptdaten der Angestelltenversicherung 1913 – 1932 1913
1919
1925
1929
1932
1,7
2,0
2,4
3,6
3,4
606
7 820
2 005
28 940
neu bewilligte Altersrenten
6 118
11 485
4 915
durchschnittliche jährliche Rentenhöhe
638,52
753,00
729,84
11,84
18,95
21,9
Versicherte (in Mio.)* neu bewilligte Berufsunfähigkeitsrenten
Ausgaben für Heilverfahren (in Mio. M)
4,31
19,71
* Errechnet aus der Zahl der verkauften Wochenbeitragsmarken geteilt durch 43, d. h. durch die Zahl der für einen Versicherten durchschnittlich jährlich verwendeten Beitragsmarken, die tatsächliche Zahl der Versicherten dürfte etwas niedriger gewesen sein. Quelle: Mitteilungen der RfA; 25 Jahre Angestelltenversicherung 1913 – 1937, Berlin 1937 © RfA
so zugute kamen wie der Ausbau der kommunalen Daseinsfürsorge, also die Verbesserung der hygienischen Verhältnisse in den Städten (Trinkwasser, Kanalisation etc.).
4
Die Zeit der Weimarer Republik – Ausbau und Modernisierung unter schwierigen Rahmenbedingungen
Mit der Weimarer Republik veränderten sich die (sozial-)politischen Verhältnisse weitgehend. Auf Grundlage der Weimarer Reichsverfassung, die nach dem verlorenen Krieg und der gescheiterten Revolution als Verfassungskompromiss eine bürgerlichparlamentarische Demokratie mit einem umfassend gedachten und mit sozialen Rechten versehenen Wohlfahrtsstaat verankerte, erfolgte auch ein Ausbau und eine Modernisierung der Sozialpolitik. Allerdings geschah dies weniger nach einem vorgedachten Plan, als der Not der Stunde gehorchend. Die Kapitalien der Träger der gesetzlichen Rentenversicherung wurden erst durch Kriegsanleihen teilweise, dann durch die Hyperinflation bis 1923 völlig entwertet. Mittel für die Schaffung von neuen Kapitalfonds konnten nicht aufgebracht werden. So erfolgte nunmehr (seit 1924) die Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung völlig durch ein Umlageverfahren. Seit ihrer Einführung 1889 operierte die gesetzliche Rentenversicherung bei der Auszahlung des Altersruhegeldes mit fixen Beträgen, die in gewissem Maße an die Lohnhöhe ‚äquivalent‘ anknüpften. Die Hyperinflation, aber auch die ‚normale‘
292
Peter Hammerschmidt und Florian Tennstedt
Preisentwicklung nach der Währungsstabilisierung seit 1924 entwerteten diese Zahlbeträge real. Damit war nicht nur das Äquivalenzprinzip unterlaufen, sondern auch das zentrale Motiv der Rentenversicherung infrage gestellt, Altersarmut zumindest zu mildern. Der Gesetzgeber reagierte darauf mehrfach mittels ‚Steigerungsbeträgen‘, also der Aufstockung der ursprünglichen Fixbeträge; allerdings geschah dieses nicht in dem zur Aufhebung existenzieller Bedürftigkeit erforderlichen Ausmaß. Altersarmut blieb im Weimarer Wohlfahrtsstaat ein Massenphänomen. Auch die privaten Renten und Rücklagen – Kriegsanleihen, Pfandbriefe, Hypotheken, Sparguthaben – waren durch die inflationäre Entwicklung vielfach wegge schmolzen. So entstand aus diesen Inflationsopfern ein neues zusätzliches Armutsklientel, die ‚enteigneten‘ Mittelschichten. Diese sog. Kleinrentner – das waren nicht nur, aber überwiegend alte Menschen – wehrten sich entschieden gegen die Zumutungen der stigmatisierenden ‚unwürdigen‘ Armenfürsorge. Sie organisierten sich in Selbsthilfeverbänden und forderten eine entschädigende Aufwertungsgesetzgebung, angemessene Rentenleistungen oder eine Ehrenaltersversorgung. Ähnliche Forderungen erhoben die weiteren ‚neuen Armen‘, nämlich die Kriegsbeschädigten und -hinterbliebenen sowie die Sozialrentner/-innen. Sozialrentner/-innen hießen nun die verrenteten Arbeiter/-innen und Angestellten, die eine gesetzliche Altersrente bezogen, die aber – trotz Steigerungsbeträgen – nicht ausreichend zur Sicherung des Lebensunterhaltes war und für die die Möglichkeiten zum Hinzuverdienen abgenommen hatten. Das Reich schuf daraufhin zunächst jeweils eigene Gesetze über die Sozialund Kleinrentnerfürsorge – das betraf 2,44 Millionen und ca. 3,6 Millionen Personen (Scholz 1983, S. 331) – sowie Kriegsgeschädigten- und Kriegshinterbliebenenfürsorge. Auch im Kernbereich kommunaler Sozialpolitik, der sozialen Fürsorge, modernisierte der Gesetzgeber in den 1920er Jahren die Rechtsgrundlagen und schuf dabei nach der Währungsstabilisierung eine Differenzierung innerhalb der Fürsorge klientel. Kommunen und Länder hatten in der unmittelbaren Nachkriegszeit, wie ausgeführt, häufig auf die neuen akuten Notlagen und Forderungen reagiert; eine zunehmend unübersichtliche Fülle von Einrichtungen, Stellen, Maßnahmen und Leistungen wurde für die genannten Gruppen der ‚neuen Armen‘ mit jeweils besonderen Fürsorgegesetzen geschaffen (Sachße und Tennstedt 1988, S. 88 f.). Die eigenen Mittel der traditionellen Fürsorgeträger wurden aber nicht nur durch die ökonomische Entwicklung knapper, sondern auch dadurch, dass 1922 das Reich die primäre Steuerhoheit erhielt. Die Kommunen und Länder gerieten damit in die Position von Kostgängern des Reiches. Um den Fürsorgebereich klar, dauerhaft und rational handhabbar zu strukturieren und sichere Rechtsverhältnisse zu schaffen und um die Kostenlast des Reiches zu reduzieren, erließ das Reich die „Verordnung über die Fürsorgepflicht vom 13. 2. 1924“ und die „(Reichs-)Grundsätze über Voraussetzung, Art und Maß öffentlicher Fürsorgeleistungen vom 4. 12. 1924“, die das überkommene Fürsorgerecht zeitgemäß modernisierten. Das aktualisierte Fürsorgerecht umfasste auch die neue, gehobene Fürsorge für die Gruppen, unter denen die Alten jeweils in erheblichem Maße aufgrund ihrer eingeschränkten Erwerbsbefähigung vertreten
Sozialrecht und Sozialpolitik für das Alter bis Anfang der 1960er Jahre
293
waren. Das waren die schon erwähnten Klein- und Sozialrentner/-innen wie auch Kriegsgeschädigte und -hinterbliebene. In dieser sog. gehobenen Fürsorge war bei der Leistungsbemessung generell ein höherer „notwendiger Lebensunterhalt“ zu veranschlagen als bei der ‚normalen‘ Fürsorgeklientel; die jeweiligen früheren Lebensverhältnisse sollten berücksichtigt werden (§§ 15 – 20 RGr; vgl. Baath 1927). Gleichwohl: Altersarmut war und blieb ein erhebliches soziales Problem, die Großstädte richteten teilweise Ausschüsse und Referate für Altersfürsorge ein. In der Sache bestand Altenhilfe (Altenfürsorge) weiterhin in der Organisation, Durchführung und Sicherstellung der Finanzierung der Unterbringung von Alten und Gebrechlichen in Altersheimen, die nicht zuletzt auch gefördert wurde, um den akuten Wohnungsmangel für Familien zu mindern. Hingegen gab es keine besonderen Angebote der halboffenen (teilstationären) oder offenen (ambulanten) Fürsorge/Hilfen, die sich nur an Alte richteten. In der Weltwirtschaftskrise wurden die über 65-Jährigen als erste aus ihrem Erwerbsbiografien gedrängt. Aufgrund ihrer niedrigen Renten mussten sie wieder verstärkt ‚Wohlfahrt‘ beanspruchen.
5
Die Zeit des Nationalsozialismus
Eine spezifische nationalsozialistische sozialpolitische Programmatik für das Alter existierte nicht. Zu den für die ‚Zukunft des Volkes‘ wichtigen Gruppen rechneten die Alten nicht, sie waren dementsprechend auch Ausgrenzungsprozessen ausgesetzt. Die Fürsorge für jüdische Staatsangehörige wurde völlig der privaten jüdischen Wohlfahrtspflege überantwortet. Kennzeichnend im Hinblick auf die Sozialpolitik für das Alter war zunächst die Orientierung an einer finanziellen Konsolidierung der Rentenversicherung wie der Sozialversicherung insgesamt sowie in zunehmendem Maße deren Funktionalisierung für bevölkerungs-, wirtschafts- und rüstungspolitische Zwecke. Dafür konservierte die NS-Regierung zunächst das Rentenniveau wie das Lohnniveau auf dem niedrigen Stand, der während der Weltwirtschaftskrise festgelegt worden war. Mit dem Erreichen der Vollbeschäftigung stiegen die Löhne, das Rentenniveau aber wurde bis 1938 weiter niedrig gehalten. Die anwachsenden Vermögenswerte der gesetzlichen Rentenversicherungsträger schöpfte das Reich zur Hälfte ab, um sie für Maßnahmen der Kriegsvorbereitung zu nutzten (Tennstedt 2003, Rn 42). Betrug die durchschnittliche Invalidenrente 1932 rd. 400 RM, so waren es 1938 trotz Vollbeschäftigung 372 RM. Nur die Angestelltenrenten erhöhte der Gesetzgeber nennenswert, ansonsten hob die Reichsregierung die per Notverordnung in der Endphase der Weimarer Republik erlassenen Leistungseinschränkungen erst 1941 auf. Rentner/-innen waren damit zur Sicherung ihres Lebensunterhalts weiterhin auf ergänzende kommunale Fürsorgeleistungen wie auch auf Zuwendungen von NSDAP-kontrollierten Organisationen wie der Deutschen Arbeitsfront (DAF), der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) oder des Winterhilfswerkes (WHW) angewiesen.
294
Peter Hammerschmidt und Florian Tennstedt
In der Alterssicherungspolitik der NS-Regierung unter Federführung des Reichsarbeitsministeriums lässt sich gleichwohl ab Ende der 1930er Jahre in Teilbereichen auch eine Leistungsausweitung feststellen. Das Gesetz über den Ausbau der Rentenversicherung vom 21. 12. 1937 brachte neben weiteren Sanierungsmaßnahmen der Rentenversicherungen auch Kinderzuschüsse und die Erstattung der Hälfte der Beiträge an Arbeiter/-innen bei Heirat – was Frauen auf Dauer allerdings vielfach benachteiligte. Darüber hinaus öffnete das Gesetz die Rentenversicherung für Deutsche unter 40 Jahren, die sich fortan freiwillig versichern lassen konnten. Das Gesetz über die Altersversorgung für das Deutsche Handwerk von 1938 integrierte ab 1939 selbstständige Handwerker in die gesetzliche Rentenversicherung. Und 1941 schließlich führte der Gesetzgeber die Krankenversicherung für Rentner/-innen ein. Erwähnenswert sind hier noch die sehr ambitionierten Pläne der Deutschen Arbeitsfront (DAF) unter Leitung von Robert Ley. In Konkurrenz zur Ministerialbürokratie plante sein Stab eine umfassende Neuordnung der Sozialversicherung einschließlich einer neuen steuerfinanzierten Grundsicherung zur Altersversorgung im Rahmen eines „Versorgungswerkes des Deutschen Volkes“ in der Trägerschaft der DAF. Daneben konzipierten Beauftragte von Robert Ley, diesmal in seiner Funktion als Reichswohnungskommissar, Pläne für die Einrichtung von 4 500 Altersheimen in der Nachkriegszeit, um die knappe Wohnraumversorgung für die erwerbstätige Bevölkerung zu verbessern. Doch all dies blieb, was es war: Pläne und ungedeckte Wechsel auf die Zukunft, die Gegenwart war seit 1939 durch Krieg und Vernichtung (Holocaust, Euthanasie) bestimmt (Tennstedt 1999, S. 194 ff.).
6
Die Nachkriegszeit bis Anfang der 1960er Jahre
Mit dem Grundgesetz (GG) vom 24. 05. 1949 entstand die Bundesrepublik Deutschland als sozialer und Rechtsstaat, wobei innerhalb der föderalen Struktur sozialpolitische Kompetenzen weitgehend dem Bund zufielen. Generell lässt sich festhalten, dass der Bund unter der Regierung Adenauer die regimetypischen Deformationen der NS-Zeit, die Kriegsfolgen sowie die Veränderungen und die Zersplitterung während der Besatzungszeit, nach und nach beseitigte. Neben der Entfaltung einer neuartigen Lastenausgleichs- und Wiedergutmachungspolitik stand dabei die Restauration der bis 1933 entwickelten Organisations- und Funktionsweisen des Systems der sozialen Sicherung im Zentrum der sozialpolitischen Gestaltung. Das gilt auch hinsichtlich der Sozialpolitik für das Alter und die beiden hierfür wichtigsten Sachbereiche, das Renten- und das Fürsorgerecht. Die am 07. 10. 1949 gegründete DDR, die das ehemalige Mitteldeutschland umfasste, ging einen anderen Weg. Eine erste sozialrechtliche Innovation auf dem Gebiet der Rentenversicherung erfolgte am 17. 06. 1949 noch vor Gründung der Bundesrepublik. Dieses Anpassungsgesetz erhöhte einerseits die Beiträge, andererseits aber auch die Leistungen durch Rentenzuschläge sowie einen Sockelbetrag (Mindestrentenbetrag) von 50 M. monat-
Sozialrecht und Sozialpolitik für das Alter bis Anfang der 1960er Jahre
295
lich. Vor allem aber erfolgte eine Gleichstellung des Leistungsspektrums der Arbeiterrentenversicherung mit dem der Angestelltenversicherung. Weitere Leistungsverbesserungen erfolgten 1951 mit dem Rentenzulagengesetz und Teuerungszulagengesetz und 1953 mit dem Grundbetragserhöhungsgesetz. Gleichwohl: Von dem steigenden Wohlstand der Wiederaufbauphase der Bundesrepublik profitierten die Altersrentner/-innen weniger als die Erwerbsbevölkerung. Während Arbeitnehmer/-innen im Zeichen des sog. Wirtschaftswunders ihre Realeinkommen verdoppeln konnten, erreichten Rentenbezieher/-innen durchschnittlich nur etwa 30 % der vergleichbaren Lohneinkommen. Altersarmut war und blieb eine Massenerscheinung. Ab 1955 entwickelte eine Expertengruppe des federführenden Bundesarbeitsministeriums Überlegungen für eine umfassende Rentenreform. Der darin entwickelte sozialpolitische Paradigmenwechsel bestand in der Abkehr von der de facto noch immer bestehenden ‚Zuschussrente‘ hin zu einer Rente als Lohnersatzleistung, die den (jeweiligen) Lebensstandard, der im Erwerbsleben erarbeitet wurde, als Bezugspunkt wählte. Letzteres erforderte eine ‚Dynamisierung‘ und regelmäßige Anpassung an die allgemeine Wirtschafts- und Lohnentwicklung. Das entsprach auch dem ‚SchreiberPlan‘ von 1956, den Bundeskanzler Adenauer aufgriff und gegen alternative Konzepte wählerwirksam in der sog. Adenauer’schen Rentenreform von 1957 durchsetzte (Hockerts 1980). Anstelle der bisherigen Kombination aus Grundbeträgen, Steigerungsbeträgen, Kinderzuschüssen und Zulagen trat die dynamische Rentenformel. Hierbei war die relative Position der Beitragszahler/-innen im Lohngefüge zentraler Bezugspunkt für die Rentenhöhe. Die Rentenempfänger/-innen wurden an die Entwicklung der Bruttolöhne und – so vermittelt – an die Entwicklung des jeweils produzierten gesellschaftlichen Reichtums angekoppelt. Hier liegt auch der Ursprung des sog. Generationenvertrags, der mit dem nun wieder aufgelegten Finanzierungsverfahren durch Umlage (sog. Umlageverfahren) verbunden war. Die Rentenzahlungen konnten fortan 50 % bis zwei Drittel des letzten Nettoentgelts erreichen. Wie aus Tabelle 3 und 4 hervorgeht bewirkte die Rentenreform unmittelbar deutlich höhere durchschnittliche Rentenzahlungen: Arbeiter/-innen erhielten 58 %, Angestellte 65 %, Witwen und Waisen ca. 73 % bis 87 % mehr (Tennstedt 2003, Rn 54, 68 f.). Der Wegfall von festen Grundbeträgen führte zu einer Stärkung des Äquivalenzprinzips bei der Renten berechnung. Für Abweichungen von Normalerwerbsbiografien von Männern und für die ohnehin vielfach einem anderen Normalitätsmuster folgende Erwerbstätigkeit von Frauen fehlte damit ein – heute als angemessen betrachteter – sozialer Ausgleich. Neben dem skizzierten Ausbau der Alterssicherung für Lohn- und Gehaltsempfänger/-innen realisierte der Gesetzgeber auch eine Ausweitung durch Einbeziehung neuer Adressatengruppen, so selbstständige Landwirte und Handwerker. Der beschriebene Ausbau der Rentenversicherung konnte realisiert werden, obwohl die Altersstruktur der deutschen Bevölkerung seinerzeit ungünstiger war als heute und für das Jahr 2020 prognostiziert. Im Jahr 1950 lag der Altersquotient (65 Jahre und älter) bei 9,7 %, was zusammen mit dem Jugendquotienten (unter 20 Jahren) von
296
Peter Hammerschmidt und Florian Tennstedt
Tabelle 3 Die gesetzliche Rentenversicherung der Arbeiter 1950 – 1979 Jahr*
1950
1956
1957
1969
1979
durchschnittliche mtl. Höhe der Versichertenrenten in DM
60,60
90,20
143,20
294,74
670,70
Rentenbestand in 1 000
3 232
4 905
4 913
6 529
8 134
Einnahmen in Mio. DM
2 701
7 454
9 908
28 962
77 016
Ausgaben in Mio. DM
2 399
5 901
8 459
29 288
76 777
* Bis 1954 ohne Berlin und Saarland; bis 1959 ohne Saarland. Quelle: BMAS 1999 ©
Tabelle 4 Die gesetzliche Rentenversicherung der Angestellten 1950 – 1979 Jahr*
1950
1956
1957
1969
1979
durchschnittliche mtl. Höhe der Versichertenrenten in DM
92,10
137,80
227,20
505,70
1 030,64
Rentenbestand in 1 000
932
1 573
1 633
2 367
3 487
Einnahmen in Mio. DM
1 034
3 283
4 296
16 004
54 032
Ausgaben in Mio. DM
915
2 588
3 958
15 862
55 823
* Bis 1954 ohne Berlin und Saarland; bis 1959 ohne Saarland. Quelle: BMAS 1999 ©
30,5 % einem ‚Belastungs-Quotienten‘ (für die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zwischen 20 und 65 Jahren) von 67,1 % entsprach. Im Jahr 2000 lag der ‚BelastungsQuotient‘ bei 59,7 %, für 2020 wird er auf 63,9 % geschätzt (Wiesner 2001, S. 55). Der Altersquotient als solcher ist, anders als vielfach unterstellt, allerdings wenig bedeutsam. Volkswirtschaftlich relevant ist die Relation zwischen Nicht-Erwerbstätigen und Erwerbstätigen unter Berücksichtigung der Arbeitsproduktivität. Entscheidend für die Sozialversicherung ist die Relation zwischen der Anzahl der Anspruchsberechtigten und deren Ansprüchen auf der einen und der Zahl der Beitragszahler/-innen und deren Bruttolohneinkommen auf der anderen Seite. So gesehen verwundert es nicht, dass es in den beiden Jahrzehnten nach der Adenauerschen Rentenreform zu einem deutlichen Ausbau mit Leistungsverbesserung für die Anspruchsberechtigten kommen konnte – trotz der weiteren ‚Alterung der Gesellschaft‘. Neben der Rentenversicherung wurden in der Bundesrepublik auch die Fürsorge leistungen verbessert, allerdings zeitverzögert. Das Kriegsende brachte für arme Alte eine Verschlechterung. Die Alliierten schafften die als diskriminierend bewertete Gruppenfürsorge (gehobene Fürsorge) des Weimarer Fürsorgerechts ab. In veränder-
Sozialrecht und Sozialpolitik für das Alter bis Anfang der 1960er Jahre
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ter Form fand die gehobene Fürsorge allerdings 1953 wieder Eingang ins Fürsorge recht: Beim Vorliegen bestimmter sozialer Merkmale konnten über den herkömmlichen Bedarf (sog, Regelbedarf) hinaus Mehrbedarfe veranschlagt werden. Ein Alter über 65 Jahre und Erwerbsunfähigkeit galten dabei als Mehrbedarfsansprüche begründende Kriterien. Im Übrigen gab es seit 1953 erstmals einen Rechtsanspruch auf Fürsorgeleistungen. Eine zusätzliche allgemeine Erhöhung der Fürsorgerichtsätze im Jahre 1955 um ca. 50 % (gegenüber 1949) konnten dann das Los der armen Alten ebenfalls verbessern (Tennstedt 2003, Rn 75). Die Fürsorgebedürftigkeit vieler älterer Menschen beseitigte schließlich die Adenauersche Rentenreform. Nach langjährigen Vorarbeiten löste dann das Bundessozialhilfegesetz vom 30. 06. 1961 (BSHG) zum 01. 06. 1962 die mehrfach novellierte Reichsfürsorgepflichtverordnung von 1923 ab. Mit § 75 BSHG wurde erstmals im deutschen Fürsorgerecht eine besondere Regelung für Alte unter der Überschrift „Altenhilfe“ verankert. Binnen zehn Jahren wurde sie zum Ausgangspunkt für eine kommunale Altenplanung und die Ausgestaltung sozialer Dienste für Ältere. Die Altenhilfe konzentrierte sich überwiegend in Sozialstationen, die auch die mit dem BSHG ebenfalls neu geschaffene „Hilfe zur Pflege“ koordinierten. Dass im BSHG nicht von Altenfürsorge, sondern von Altenhilfe die Rede war, entsprach dem allgemeinen Trend, die Bezeichnung Fürsorge wegen des diskriminierenden Beigeschmacks durch Hilfe zu ersetzen. Ebenso war nunmehr von Sozialhilfe, Jugendhilfe, Gesundheitshilfe usw. die Rede. Das Kodifizierte war knapp und überschaubar: „(1) Alten Menschen soll außer der Hilfe nach den übrigen Bestimmungen dieses Gesetzes Altenhilfe gewährt werden. Sie soll dazu beitragen, Schwierigkeiten, die durch das Alter entstehen, zu überwinden und Vereinsamung im Alter verhüten. (2) Als Maßnahmen der Hilfe kommen in vertretbarem Umfang vor allem in Betracht 1. Hilfe zu einer Tätigkeit des alten Menschen, wenn sie von ihm erstrebt wird und in seinem Interesse liegt, 2. Hilfe bei der Beschaffung von Wohnungen, die den Bedürfnissen alter Menschen entsprechen, 3. Hilfe zum Besuch von Veranstaltungen oder Einrichtungen, die der Geselligkeit, der Unterhaltung oder den kulturellen Bedürfnissen alter Menschen dienen, 4. Hilfe, die alten Menschen die Verbindung mit nahestehenden Personen ermöglicht. (3) Altenhilfe kann ohne Rücksicht auf vorhandenes Einkommen oder Vermögen gewährt werden, soweit im Einzelfall persönliche Hilfe erforderlich ist.“
Der Gesetzgeber legte den Kommunen als örtlichen Sozialhilfeträgern eine Verpflichtung zur Altenhilfe auf, die er aber einerseits durch die Formulierung „in vertretbarem Umgang“ (Abs. 2, Satz 1) relativierte und der andererseits kein Rechtsanspruch der Adressat/-innen gegenüberstand (vgl. Gottschick 1963). Dennoch: Mit der Einführung von § 75 erhielt die offene Altenhilfe eine Rechtsgrundlage und die kommunalen Träger waren aufgerufen, offene Altenhilfe für Bedürftige zu betreiben.
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Peter Hammerschmidt und Florian Tennstedt
Exklusionsvermeidung und Inklusionsvermittlung, Kernfunktionen der Sozialen Arbeit, waren das Hauptanliegen der Altenhilfe im Sinne von § 75 BSHG. Ansonsten spielte die generalklauselhafte Formulierung in § 93 (1) des neuen BSHG, wonach die Sozialhilfeträger darauf hinwirken sollten, dass die zur Gewährung der Sozialhilfe geeigneten Einrichtungen ausreichend zur Verfügung stehen, für die Altenhilfe insofern eine bedeutende Rolle, als damit auch die stationären (Altenheime) und später halboffenen Einrichtungen (z. B. Altenbegegnungsstätten) mit erfasst waren. Mit einer im selben Paragrafen formulierten Subsidiaritätsformel erlaubte dies den freigemeinnützigen Trägern, die Kommunen zur Schaffung und Finanzierung von Einrichtungen der Altenhilfe anzuhalten. 1979 waren in der Bundesrepublik 762 Sozialstationen vorhanden, Ende 1981 waren es bereits 1 397. Heute verfügt allein die freie Wohlfahrtspflege über 2 870 Sozialstationen (weitere, differenziertere Angaben vgl. Hammerschmidt 2008). Die zeitlich nächste grundlegende sozialrechtliche Neuerung für das Alter nach dem BSHG brachte dann erst Mitte der 1990er Jahre die Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung (vgl. Rubin, Rixen sowie Schmidt i. d. B.).
7
Resümee und Ausblick
In der Langzeitperspektive charakterisiert das Wort ‚Ausweitung‘ am besten die Entwicklung der Sozialversicherung im Allgemeinen wie der Gesetzlichen Rentenversicherung im Besonderen von den Anfängen der 1880er Jahre bis Ende der 1990er Jahre. Das gilt trotz aller feststellbaren Einschränkungen in Zeiten knapper öffentlicher Kassen und Phasen ‚sozialpolitischer Regression‘. Nicht minder bedeutsam als die quantitativen wie qualitativen Leistungsverbesserungen, die das materielle Sicherungsniveau erhöhten, war gewiss die Ausweitung durch den Einbezug immer weiterer Bevölkerungskreise in den Sozialversicherungsschutz. Die Sozialversicherung folgte bislang überwiegend dem Prinzip der Inklusion. Das was jeweils gesellschaftlich als soziales Problem definiert und wofür dementsprechend eine öffentliche Verantwortung bei gleichzeitig legitimen Ansprüchen der Betroffenen festgestellt und anerkannt wurde, nahm zu (vgl. Sachße und Tennstedt 2005). Die Ausweitung der Sozialversicherung entlastete die ansonsten verpflichteten kommunalen Träger der Armenfürsorge/Sozialhilfe und setzte damit hier materielle wie personelle Ressourcen frei, die zum Ausbau und zur Differenzierung von sozialen Einrichtungen, Maßnahmen und Leistungen eingesetzt werden konnten und vielfach auch wurden. In dieselbe Richtung wirkte die Einführung von Leistungen der Sozialversorgung, zunächst im Rahmen der Kriegswohlfahrtspflege, dann verstärkt nach dem Ersten sowie nach dem Zweiten Weltkrieg. Förderlich für den Ausbau kommunaler Daseinsvorsorge im sozialen Bereich war zudem, dass die Sozialversicherungsträger weitgehend auf die Durchführung personenbezogener Dienstleistungen in Eigenregie verzichteten; sie traten vielmehr als Nachfrager bzw. Re-Finanziers solcher Leistungen auf – etwa bei kommunalen aber auch freigemeinnützigen Einrichtungen der Gesundheitsfürsorge.
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Sozialpolitik für das Alter jenseits der finanziellen Sicherung im Rahmen der Sozialversicherung nahm jedoch in den hier betrachteten Epochen regelmäßig einen nur untergeordneten Stellenwert ein. Das gilt auch für die Einrichtungen, Dienste und Maßnahmen der kommunalen Daseinsvorsorge. Hier dominierte eine soziale Infrastruktur, die entweder altersunspezifische oder explizit für Kinder und Jugendliche bestimmte Angebote bereitstellte. Erst am Ende des hier betrachteten Zeitraums, finden sich nennenswerte Ansätze der Einwicklung einer eigenständigen Altenhilfe (vgl. Hammerschmidt und Löffler sowie weitere Beiträge in Teil I, Kapitel 1 i. d. B.).
Ausgewählte Literatur Hänlein, Andreas, und Florian Tennstedt. 2008. Geschichte des Sozialrechts. In Sozialrechtshandbuch. 4. Auflage. Baden-Baden: Nomos. Hammerschmidt, Peter. 2008. Sozialpolitik, Sozialrecht und Soziale Altenarbeit. In Lebensalter und Soziale Arbeit. Ältere und alte Menschen. Hrsg. Aner, Kirsten, und Ute Karl, 10 – 24. Baltmannsweiler: Schneider. Schmähl, Winfried. 2019. Alterssicherungspolitik in Deutschland. Vorgeschichte und Entwicklung von 1945 bis 1998. Tübingen: Mohr & Siebeck.
Alter, Rentenversicherung und andere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts Felix Welti
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Einleitung
Das Niveau der Renten, die Organisation der Generationensolidarität und die soziale Ungleichheit im Alter beschäftigen die Sozialpolitik seit ihrem Entstehen (vgl. Hammerschmidt und Tennstedt i. d. B.) und werden sie weiter beschäftigen. Die Soziale (Alten-)Arbeit kann insbesondere versuchen, die subjektive Wahrnehmung von niedrigen Einkommen zu verstehen (vgl. Schoneville 2017) und ältere Menschen bei der Durchsetzung möglicher Ansprüche zu unterstützen. Die Deckung des Lebensunterhalts aus Einkommen und Vermögen gestaltet entscheidend die Lebenslagen der Menschen im Alter. Denkt man sich die gesellschaftlichen Institutionen der Alterssicherung weg, wäre Alter – wie in früheren Zeiten – vor allem die Lebensphase, in der Kinder für den Unterhalt ihrer Eltern aufkommen müssen. Im Folgenden werden ausgewählte spezifische Einkommensquellen im Alter in der heutigen Zeit und ihre rechtlichen Grundlagen beschrieben: Rente, Grundsicherung im Alter, betriebliche und private Altersversorgung, Pension. Von ihnen zu leben und nicht von laufendem Erwerbseinkommen, konstituiert nicht unwesentlich das Alter als Lebensphase (Scherger 2015; vgl. auch Engels sowie Brettschneider und Klammer i. d. B.). Erwerbsarbeit und Arbeitseinkommen (vgl. Igl et al. 2015) sowie Vermögenseinkünfte aus Kapital und Vermietung gibt es gleichwohl auch im Alter. Diese bleiben in diesem Beitrag außer Betracht, ebenso weitgehend Einkommen aus den Unterhaltspflichten von Ehegatten (§§ 1360 ff. Bürgerliches Gesetzbuch – BGB) und Verwandten in gerader Linie (§ 1601 BGB), also insbesondere der Kinder für die Eltern.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_25
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2
Grundlagen der Einkommenssicherung im Alter
2.1
Rechtliche Grundlagen
Die Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland für die Sicherung des Existenzminimums folgt aus dem Gebot, die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz – GG) im sozialen Rechtsstaat (Art. 20 Abs. 1 GG) zu schützen.1 Sie verpflichtet den Staat, das Existenzminimum durch einen gesetzlichen Anspruch zu sichern, der in einem transparenten und sachgerechten Verfahren bestimmt wird. Die weitergehende Pflicht, soziale Sicherung für die nachberufliche Lebensphase vorzusehen, folgt aus dem Sozialstaatsgebot, bei dessen Ausgestaltung der Gesetzgeber einen weiten Spielraum hat. Ansprüche aus der gesetzlichen Rentenversicherung unterliegen nach der Rechtsprechung des BVerfG und des Bundessozialgerichts (BSG) grundrechtlichem Schutz als Eigentumsrechte.2 Dieser Schutz verwehrt jedoch dem Gesetzgeber nicht eine Gestaltung von Inhalt und Schranken der Ansprüche. Rentenreformen werden dadurch zum Gegenstand beim BVerfG (Butzer 2015; Oppermann 2015 mit weiteren Nachweisen). In den Menschenrechten wird die Alterssicherung nicht ausdrücklich erwähnt. Im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt)3 sind das Recht auf Soziale Sicherheit einschließlich Sozialversicherung (Art. 9) und auf angemessenen Lebensstandard (Art. 11) genannt. Art. 9 Sozialpakt umfasst nach den General Comments des zuständigen UN-Ausschusses ein Recht auf Alterssicherung, auch für diejenigen, die nicht genügend Beiträge in einem Alterssicherungssystem zahlen konnten (Eichenhofer 2014).4 Im Kontext der Beschäftigtenrechte ist die Alterssicherung erwähnt in den Konventionen Nr. 102 und 128 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO).5 Alle diese völkerrechtlichen Verträge sind für die Bundesrepublik Deutschland bindend. Das gegenwärtig in der Vorbereitung befindliche Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte Älterer6 wird der Alterssicherung als sozialem Menschenrecht mehr Aufmerksamkeit schaffen. Nach Art. 25 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU) anerkennt und achtet diese das Recht älterer Menschen auf ein würdiges und unabhängiges Leben und auf Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben. Die Sicherstellung der Ansprüche und Leistungen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit in der EU ist nach 1 2 3 4
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Urteil vom 09. 02. 2010, 1 BvL 1/09 u. a., BVerfGE 125, S. 175 ff. BVerfG, Urteil vom 28. 02. 1980, 1 BvL 17/77 u. a., BVerfGE 53, 257 ff. Vom 19. 12. 1966, Bundesgesetzblatt (BGBl.) II 1973, S. 1570. Economic and Social Council, General Comment No 19, E/C.12/GC/19, 4/2/2008, Ziffer 12c; General Comment No 6 (1995), Ziffern 27, 30, 32, 33. 5 C 102 – Social Security (Minimum Standards) Convention, 1952, Art. 25 – 30; C 128 – Invalidity, Old Age and Survivors’ Benefits Convention, 1967 (No 128), Art. 14 – 19. 6 Resolution 67/139 Towards a comprehensive and integral legal instrument to promote and protect the rights and dignity of older persons, General Assembly 20/12/2012.
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Art. 48 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) als Voraussetzung der Freizügigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Aufgabe der Union. Entsprechend koordiniert die EU die nationalen Regelungen durch die VO Nr. 883/2004, die in ihren Artikeln 50 – 60 Vorschriften über Alters- und Hinterbliebenenrenten enthält. Betriebsrenten sind durch die Richtlinie 98/49/EG koordiniert. Ziel dieser Regelungen ist, dass Rentner/-innen in staatlichen und beitragsbezogenen sowie betrieblichen Alterssicherungssystemen keine Nachteile durch Migration innerhalb der EU haben. Diese Regelungen gelten nicht für die Mindestsicherungssysteme. Auch bei diesen ist aber das Recht auf Freizügigkeit der Unionsbürger/-innen anzuwenden (Art. 21 AEUV). Dieses ist aber durch Art. 7 RL 2004/38/EG für Personen beschränkt, die keinen Krankenversicherungsschutz und keine ausreichenden Existenzmittel haben, sodass alte Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft, die auf Grundsicherung angewiesen wären, nach § 23 Abs. 3 SGB XII von dieser ausgeschlossen sein können. Die Alterssicherungspolitik ist darüber hinaus Gegenstand der offenen Koordinierung in der Europäischen Union (Eichenhofer 2009). 2.2
Soziale, ökonomische und politische Grundlagen
Rechtliche Regelungen ordnen die Alterssicherung und ihre Institutionen. Diese benötigen aber soziale, ökonomische und politische Grundlagen. Diese zeigen, dass es eine rein individuelle Alterssicherung nicht geben kann. Jede Alterssicherung – so wie der Unterhalt der noch nicht arbeitenden Kinder und Jugendlichen – muss aus dem laufenden Sozialprodukt und damit von der ökonomisch aktiven Generation aufgebracht werden (Schmähl 2015), auf deren politische und soziale Akzeptanz sie angewiesen ist (Bode, I. 2015). Produktivität und die Verteilung des Produzierten sind dafür besonders relevant. Eigene Beiträge zu einem Alterssicherungssystem führen zu Ansprüchen und Anwartschaften, die zu einem späteren Zeitpunkt aus der Wertschöpfung Anderer erfüllt werden müssen. Insofern ist jede Ordnung der Alterseinkommen zugleich eine spezifische Ausprägung der Generationensolidarität und Generationengerechtigkeit (Welti 2004; Baer 2009; Ruland 2017), die, vor allem wenn sie langfristig angelegt ist, als Generationenvertrag bezeichnet werden kann.
3
Gesetzliche Rentenversicherung
3.1
Institutioneller Rahmen
Die gesetzliche Rentenversicherung nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) VI wird in Deutschland ausgeführt von den Trägern der Deutschen Rentenversicherung (DRV): der DRV Bund, der DRV Knappschaft-Bahn-See und vierzehn Regionalträgern. Die Zuordnung älterer Menschen folgt heute noch meist dem früheren gegliederten Sys-
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tem (DRV Bund: Angestellte; Regionalträger: Arbeiterinnen und Arbeiter; Knappschaft-Bahn-See: Bergbau, Bahnbeschäftigte, Seeleute), inzwischen werden Versi cherte den Trägern nach dem Zufall zugeordnet. Für Versicherte im Ausland oder aus dem Ausland gibt es eine besondere Zuordnung (§ 128 SGB VI). Dazu kommt die landwirtschaftliche Sozialversicherung nach dem Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte (ALG) durch die Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG). Das Recht der Rentenversicherung ist Bundesrecht, auch wenn einzelne Regelungen für das frühere Ost- und Westdeutschland noch divergieren. Die Träger der Rentenversicherung sind Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung, in ihren ehrenamtlichen Vorständen und Vertreterversammlungen sind Arbeitgeber und Versicherte je zur Hälfte vertreten, letztere überwiegend durch Personen aus den Gewerkschaften. Sie werden bei den Sozialversicherungswahlen gewählt (§§ 43 ff. SGB IV). Die Träger der DRV arbeiten bei Grundsatzangelegenheiten und bei Auskunft und Beratung zusammen (§ 138 SGB VI). Neben den Auskunfts- und Beratungsstellen der Träger gibt es auch wohnortnahe Beratung durch ehrenamtliche Versichertenälteste (§ 39 SGB IV) und die Versicherungsämter bei den Kreisen und kreisfreien Städten (§§ 93, 94 SGB IV). Für die Rentenversicherungsträger gilt gemeinsames Recht der Sozialversicherungsträger (SGB IV) für Versicherungspflicht und innere Struktur, gemeinsames Recht aller Sozialleistungsträger (SGB I, SGB X) für allgemeine Pflichten wie Auskunft und Beratung (§§ 14, 15 SGB I; Glombik 2017) und Barrierefreiheit (§ 17 SGB I) und das Verfahren, etwa die Amtsermittlung (§ 20 SGB X) und besondere Regeln für die Aufhebung von Entscheidungen (§§ 44 – 50 SGB X). Über Widersprüche der Versicherten (§ 78 Sozialgerichtsgesetz – SGG) gegen Entscheidungen der Rentenversicherungsträger entscheiden zunächst in der Regel Widerspruchsausschüsse (§ 36a SGB IV) mit Ehrenamtlichen aus der Selbstverwaltung (Welti und Fischer 2017). Für Klagen gegen ablehnende Widersprüche sind die Sozialgerichte zuständig (§ 51 SGG), bei denen es Fachkammern für Angelegenheiten der Sozialversicherung gibt, in denen ehrenamtliche Richter/-innen aus Kreisen der Arbeitgeber und Versicherten mitwirken. Im Widerspruchsverfahren und bei den Sozialgerichten können sich Versicherte selbst vertreten oder sich von Rechtsanwält/-innen, Rentenberater/-innen (§ 10 Abs. 1, Nr. 2 Rechtsdienstleistungsgesetz, RDG), Gewerkschaften und Sozialverbänden (§ 73 SGG) beraten und vertreten lassen. Beratungshilfe und Prozesskostenhilfe (§ 73a SGG) können beim Gericht beantragt werden. Die Rentenversicherungsträger werden aus den Beiträgen von Versicherten und Arbeitgebern sowie zu etwa einem Viertel aus einem Bundeszuschuss (§ 213 SGB VI) finanziert. Zwischen ihnen besteht ein völliger Finanzausgleich (§ 219 SGB VI) und kein Wettbewerb. Es gilt das Umlageverfahren, das heißt, die aktuellen Ausgaben werden aus den aktuellen Einnahmen bei nur geringer Rücklage gedeckt (§ 216 SGB VI). Die ‚Rentenkasse‘ ist nur eine Metapher, die Rentenversicherung verteilt bei niedrigen Verwaltungsausgaben aktuelles Einkommen um.
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3.2
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Voraussetzungen von Alters- und Hinterbliebenenrenten
Altersrenten haben zur Voraussetzung, dass die Anspruchsvoraussetzungen (§§ 35 – 40, 235 – 239 SGB VI) erfüllt sind. Diese sind bei Altersrenten das Erreichen einer Altersgrenze und eine Wartezeit, das heißt eine Mindestversicherungszeit (§§ 50 – 53 SGB VI). Für die Regelaltersrente ist Voraussetzung, dass eine Wartezeit von fünf Jahren erfüllt ist und die Regelaltersgrenze erreicht wird. Diese wird ab dem Geburtsjahrgang 1964 bei 67 Jahren liegen und bis dahin schrittweise erhöht (§ 235 SGB VI). Langjährig Versicherte (Wartezeit 35 Jahre) können die Rente vorzeitig (ab 63 bis 65) in Anspruch nehmen (§§ 36, 236 SGB VI), müssen aber Abschläge bei der Höhe hinnehmen (§ 77 Abs. 2 SGB VI). Besonders langjährig Versicherte (Wartezeit 45 Jahre) können die Rente vorzeitig (ab 63 bis 65) ohne Abschläge in Anspruch nehmen (§§ 38, 236b SGB VI). Diese Privilegierung ist sozialpolitisch umstritten (Engelen-Kefer 2016). Sie entspricht dem Gerechtigkeitsgefühl Vieler, begünstigt aber zugleich Versicherte, insbesondere Männer, die bereits vergleichsweise hohe Rentenansprüche haben (Keck/Krickl 2018). Schwerbehinderte (§§ 2 Abs. 2, 152 SGB IX) Versicherte können mit einer Wartezeit von 35 Jahren früher (mit 63 bis 65 ohne Abschläge, mit 60 bis 62 mit Abschlägen) eine Altersrente in Anspruch nehmen (§§ 37, 236a SGB VI). Diese Regelung trägt dem typischerweise schlechteren Gesundheitszustand und der niedrigeren Lebenserwartung schwerbehinderter Menschen Rechnung. Sie gibt der Anerkennung als schwerbehindert (Grad der Behinderung ab 50) durch das Versorgungsamt besondere Bedeutung. Besondere Regelungen gelten für langjährig unter Tage beschäftigte Bergleute (§§ 40, 238 SGB VI). Frühere Regelungen zur erleichterten Altersrente nach Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeit (§ 237 SGB VI) und das frühere Renteneintrittsalter für Frauen (§ 237a SGB VI) wurden nicht fortgeschrieben. In der Landwirtschaft haben Landwirt/-innen und mitarbeitende Familienangehörige Anspruch auf Regelaltersrente (§ 11 ALG) nach einer Wartezeit von 15 Jahren oder vorzeitige Altersrente (§ 12 ALG) nach 35 Jahren oder bei Altersrente von mitarbeitenden Ehegatten. Das Renteneintrittsalter ist sozialpolitisch sehr umstritten (Ruland 2012; Knuth 2015; Künemund 2015a). Wichtige Argumente und Einflussgrößen sind die Finanzierung der Alterssicherung, die Lebenserwartung, die Arbeitskräftenachfrage und der Gesundheitszustand der Versicherten. Während die ersten beiden Argumente oft generell für ein höheres Renteneintrittsalter angeführt werden, sprechen die beiden letzteren für flexiblere und differenziertere Regelungen, die Arbeitsmarktchancen und Gesundheitszustand berücksichtigen. Witwen- und Witwerrenten (§ 46 SGB VI) werden geleistet, wenn versicherte Ehegatten gestorben sind und die allgemeine Wartezeit erfüllt hatten sowie die Ehe mindestens ein Jahr bestanden hat. Für Ältere kommt dabei regelmäßig die große Witwen- oder Witwerrente in Betracht. Mit dieser Rente ist der eheliche Unterhaltsanspruch versichert. Bei Wiederheirat entfällt die Rente, es kann eine Rentenabfin-
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dung von zwei Jahresrenten bezogen werden (§ 107 SGB VI); nach Tod des weiteren Gatten kann die Rente wieder aufleben (§ 46 Abs. 3 SGB VI). 3.3
Bestimmung von Rentenansprüchen
Die Rentenhöhe zu kennen und zu verstehen, ist für die Planung der Lebensphase Alter wichtig. Die Rentenversicherungsträger erteilen daher jederzeit Auskunft über den Versicherungsverlauf und sind verpflichtet zu beraten, ob zum Beispiel durch freiwillige Beitragszahlung die Voraussetzungen eines Rentenanspruchs erreicht werden können. Sie sind regelmäßig zur Renteninformation (bis 55) und zur Rentenauskunft (ab 55) verpflichtet (§ 109 SGB VI). Die Rentenhöhe richtet sich nach den persönlichen Entgeltpunkten (§§ 63, 66 SGB VI). Ein persönlicher Entgeltpunkt steht für die Anwartschaft, die durch ein Jahr versicherungspflichtige Beschäftigung zum jeweiligen Durchschnittseinkommen aller versicherungspflichtig Beschäftigten erworben wird. Entgeltpunkte werden primär durch Beitragszahlung aus versicherter Tätigkeit erworben. Versicherungspflichtig sind grundsätzlich alle abhängig Beschäftigen (§ 1 SGB VI, § 7 SGB IV). Das gilt auch für geringfügig Beschäftigte (§ 8 SGB IV), es sei denn sie haben sich auf Antrag von der Versicherungspflicht befreien lassen (§ 6 Abs. 1b SGB VI). Versicherungspflichtig sind weiterhin verschiedene Gruppen von selbstständig Erwerbstätigen (§ 2 SGB VI) sowie Landwirte und mitarbeitende Familienangehörige (§ 1 ALG). Selbstständige können sich auch für die Versicherungspflicht auf Antrag entscheiden (§ 4 SGB VI). Versicherungsfrei sind insbesondere diejenigen Erwerbstätigen, die als Beamte in einem anderen Sicherungssystem sind (§ 5 SGB VI) oder auf Antrag Personen, die Zugang zu einem berufsständischen Versorgungswerk haben (§ 6 SGB VI). Freiwillige Versicherung ist möglich (§ 7 SGB VI). Der Beitrag wird von Beschäftigten und Arbeitgebern hälftig getragen (§ 168 SGB VI), bei Selbstständigen von diesen selbst (§ 169 SGB VI), außer in der Künstlersozialkasse, in der die Vermarkter und der Bund einen Teil der Beiträge zahlen. Versicherungspflichtig sind auch Beschäftigte in Werkstätten für behinderte Menschen und Inklusionsbetrieben (§§ 215, 219 SGB IX; § 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI). Für sie zahlt im Ergebnis der Bund Beiträge auf der Basis von 80 % des Durchschnittseinkommens (§§ 168 Abs. 1 Nr. 2, 179 SGB VI). Versicherungszeiten aus der DDR sind – mit wenigen Ausnahmen – in die Renten versicherung übergeleitet worden und führen heute zu Ansprüchen. Rentenzeiten von als Aussiedler/-innen eingewanderten Deutschen zählen ebenfalls (Fremdrenten gesetz – FRG). Rentenzeiten aus anderen EU-Staaten werden nach den Artikeln 50 ff. VO 883/2004 berücksichtigt, aus weiteren Staaten nach den jeweiligen Sozialversicherungsabkommen. Versicherungspflicht besteht auch für verschiedene Lebenslagen außerhalb der Erwerbsarbeit. Dies betrifft drei Jahre Kindererziehungszeit je Kind für ein Elternteil
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(§§ 3 Satz 1 Nr. 1, 56 SGB VI), auch wenn in dieser Zeit gearbeitet wird. Für jedes Jahr Kindererziehungszeit wird ein Entgeltpunkt gutgeschrieben. Die Beiträge für diese Zeiten bezahlt der Bund aus Steuermitteln. Als sozialpolitische Begründung hierfür wird das Schließen von Lücken in der Erwerbsbiografie insbesondere bei Müttern herangezogen (vgl. Rust 2011). Eine umstrittene verfassungsrechtliche Begründung für Kindererziehungszeiten ist die Anerkennung von Kindererziehung als „generativer Beitrag“ als Voraussetzung für das Funktionieren jeder Alterssicherung.7 Es gibt die umstrittene Ansicht, dass deshalb auch eine Senkung des Rentenversicherungsbeitrags für Eltern verfassungsrechtlich geboten sei (vgl. Kingreen 2007; dagegen Ruland 2016). Das Bundessozialgericht teilt dies nicht.8 Versicherungspflicht besteht weiterhin für Zeiten, in denen Personen Angehörige oder Andere nicht erwerbsmäßig als Pflegeperson (§ 19 SGB XI) pflegen (§ 3 Satz 1 Nr. 1a SGB VI; § 44 Abs. 1 SGB XI). Die Entgeltpunkte differieren je nach Pflegegrad der zu pflegenden Person (§ 166 Abs. 2 SGB VI). Die Beiträge zahlt die Pflegekasse (§ 170 Abs. 1 Nr. 6 SGB VI). Versicherungspflicht besteht während des Bezugs der Lohnersatzleistungen Krankengeld, Arbeitslosengeld und Verletztengeld auf der Basis von 80 % des Durchschnitts entgelts, die Beiträge zahlt der jeweilige Leistungsträger. Keine Rentenansprüche werden erworben durch den Bezug von Arbeitslosengeld II, Hilfe zum Lebensunterhalt und Grundsicherung bei dauerhafter Erwerbsminderung. Eine Erwerbsminderungsrente wird bei Erreichen der Regelaltersgrenze in eine Altersrente gleicher Höhe umgewandelt. Weitere Zeiten der Ausbildung, Kindererziehung, Arbeitslosigkeit und Krankheit wirken als Berücksichtigungszeiten (§ 57 SGB VI) und Anrechnungszeiten (§ 58 SGB VI) insbesondere auf die Erfüllung der Wartezeiten (§ 51 SGB VI). Zeiten des Bezugs von Sozialleistungen und von geminderter Erwerbsfähigkeit in der Erwerbsbiografie gehören zu den wichtigsten Gründen für nicht existenzsichernde Altersrenten. Während des Bezugs von Altersrenten ab der Regelaltersgrenze besteht keine Versicherungspflicht (§ 5 Abs. 4 SGB VI), sodass die Rente nicht mehr erhöht werden kann. Dies gilt bei Beschäftigung nicht, wenn auf die Versicherungsfreiheit verzichtet wird (§ 5 Abs. 4 Satz 2 SGB VI). Für Erziehungs- und Pflegezeiten von Altersrentner/-innen sind dadurch keine Entgeltpunkte mehr erreichbar. Insbesondere Letzteres wird zu Recht kritisiert, da Pflegezeiten oft zu Ausfällen versicherungspflichtiger Beschäftigung führen und sich dann in die Zeit nach der Regelaltersrente erstrecken. Wird eine Rente vorzeitig in Anspruch genommen, werden die Entgeltpunkte wegen der zu erwartenden längeren Rentenlaufzeit gemindert, indem sie mit einem Zugangsfaktor kleiner eins multipliziert werden; entsprechend kann die Zahl der Ent-
7
BVerfG, Urteil vom 7. 7. 1992, 1 BvL 51/86, BVerfGE 87, 1; BVerfG, Urteil vom 3. 4. 2001, 1 BvR 1629/94, BVerfGE 103, 242. 8 BSG, Urteil vom 30. 9. 2015, B 12 KR 15/12 R, BSGE 120, 23.
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geltpunkte bei einem späteren Renteneintritt durch einen Zugangsfaktor größer eins erhöht werden (§ 77 SGB VI). Die Anzahl der persönlichen Entgeltpunkte unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors wird mit dem Rentenartfaktor und dem aktuellen Rentenwert multipliziert, woraus sich die Höhe der monatlichen Rente ergibt (§ 64 SGB VI). Der Rentenartfaktor drückt das Sicherungsziel aus (§ 63 Abs. 4 SGB VI) und beträgt bei Altersrenten eins (§ 67, Nr. 1 SGB VI), was bedeutet, dass grundsätzlich das Sicherungsniveau (§ 154 SGB VI) erreicht werden soll. Die Witwen- und Witwerrente beträgt 55 % der Rente des gestorbenen Partners/ der gestorbenen Partnerin, bei Ehen, die vor dem 01. 01. 2002 geschlossen wurden oder vor dem 02. 01. 1962 geborenen Verstorbenen 60 % von dessen Rente. Wurden Kinder erzogen, gibt es einen Zuschlag (§ 78a SGB VI). Eigenes Einkommen – auch Renten – wird mit Freibeträgen angerechnet (§ 97 SGB VI), sodass die Hinterbliebenenrente vor allem Witwen mit deutlich niedrigerer Rente zugutekommt. Der aktuelle Rentenwert ist ein Eurobetrag, der jährlich angepasst wird und die Höhe aller Renten steuert (§§ 68, 68a, 255a–255g SGB VI). Die jährliche Anpassung des aktuellen Rentenwerts zum 1. Juli richtet sich vereinfacht gesagt nach der Entwicklung der Bruttolöhne, des Rentenbeitragssatzes und der empfohlenen Aufwendungen für private oder betriebliche Altersvorsorge sowie des Verhältnisses von Rentner/-innen zu abhängig Beschäftigten. Damit ist die Entwicklung der Renten von der allgemeinen Entwicklung der Produktivität, Beschäftigung und Verteilung zwischen Kapital und Arbeit abhängig. Das Sicherungsziel der Rentenversicherung ist in § 154 SGB VI näher beschrieben. Danach soll sich aus 45 Entgeltpunkten eine Netto-Rente von 48 % des jeweiligen Netto-Durchschnittseinkommens ergeben. Ob dies, insbesondere für Personen unterhalb des Durchschnittseinkommens und mit unterbrochenen Erwerbsbiografien, ein akzeptables und hinreichend klares Sicherungsziel ist, ist sozialpolitisch umstritten (Köhler-Rama 2017; Schmitz und Schäfer 2018). Zu den zu berücksichtigenden Argumenten und Fakten gehört dabei, ob und wieweit Rentner/-innen über weiteres Einkommen aus anderer Alterssicherung, Vermögen und Unterhalt verfügen. Eine allein individuell bedarfsdeckende Altersrente war historisch nicht der Regelfall. Insoweit thematisiert die Rentendiskussion nicht eine allgemeine Armut der Älteren, sondern soziale Ungleichheit im Alter, die in Herkunft und Lebenslauf angelegte Ungleichheit von Einkommen und Vermögen noch vertieft. Als Reformkonzepte werden unter Namen wie Grundrente oder Lebensleistungsrente insbesondere Aufwertungen von Entgeltpunkten für Versicherte diskutiert, die bei langjährigen Versicherungszeiten keine existenzsichernde Rente erreichen (Köhler-Rama 2019). Strittig ist dabei, ob eine Bedürftigkeitsprüfung berücksichtigen soll, dass andere Einkommensquellen vorliegen und ob der richtige Ort zur Armutsprävention die Rentenversicherung selbst oder die Grundsicherung ist.
Alter, Rentenversicherung und andere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
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Grundsicherung im Alter
4.1
Institutioneller Rahmen
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Die Grundsicherung im Alter ist eine Geldleistung der Sozialhilfe. Sie wird regelmäßig nach Bestimmung durch die Länder (§ 46b SGB XII) von den Sozialämtern bei den kreisfreien Städten und Kreisen als örtlichen Trägern der Sozialhilfe ausge führt. Die Kosten werden den Ländern vom Bund erstattet (§ 46a SGB XII). Die Sozialämter sind Sozialleistungsträger. Die Rentenversicherungsträger informieren über Ansprüche der Grundsicherung (§ 109a SGB VI). Die Sozialämter sind selbst zur Beratung und Unterstützung verpflichtet (§ 11 SGB XII). Über Widersprüche zur Grundsicherung im Alter entscheiden die Kreise und kreisfreien Städte selbst, nach Maßgabe des Landesrechts unter Beteiligung ehrenamtlicher sozial erfahrener Dritter (§ 116 SGB XII). Für Klagen sind die Sozialgerichte zuständig. In den Fachkammern für Sozialhilfe sind ehrenamtliche Richter/-innen beteiligt, die von den Kreisen und kreisfreien Städten vorgeschlagen werden. 4.2
Voraussetzungen von Grundsicherungsansprüchen
Grundsicherung im Alter setzt voraus, dass die Regelaltersgrenze erreicht ist und Bedürftigkeit besteht (§§ 2, 19 Abs. 2 SGB XII). Bedürftigkeit bedeutet, dass das eigene Einkommen einschließlich von Unterhaltsansprüchen (vgl. §§ 82 – 84 SGB XII) und das Vermögen (vgl. §§ 90 – 91 SGB XII) nicht zur Deckung des Bedarfs ausreichen. Näheres regeln die Verordnungen zur Durchführung von § 82 und von § 90 SGB XII, so den Vermögensfreibetrag von 5 000 € und die Freistellung des Hausrats, von Familien- und Erbstücken eines selbst bewohnten angemessenen Hausgrundstücks. Unterhaltsansprüche gegenüber Kindern und Eltern werden, anders als sonst in der Sozialhilfe, nicht berücksichtigt, wenn deren jährliches Einkommen im Sinne der Einkommensteuer (§ 16 SGB IV) 100 000 € nicht überschreitet (§ 43 Abs. 5 SGB XII). 4.3
Bestimmung von Grundsicherungsansprüchen
Die Grundsicherungsansprüche dienen der Sicherung des Existenzminimums. Sie hängen also davon ab, inwieweit dieses durch anderes Einkommen bereits gedeckt ist. Sie umfassen dazu die Regelsätze nach den Regelbedarfsstufen (§ 28 SGB XII), zusätzliche Bedarfe (§§ 30 – 33, 42b SGB XII) und Bedarfe für Unterkunft und Heizung (§ 42a SGB XII). Die Grundsicherungsansprüche entsprechen den Regelbedarfen, die auch bei der Hilfe zum Lebensunterhalt (§§ 27, 27a SGB XII) und beim Arbeitslosengeld II und Sozialgeld (§ 19 SGB II) gezahlt werden. Sie werden nach dem
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Felix Welti
Verbrauch des unteren Quintils der Erwerbsbevölkerung ermittelt und jährlich nach der Preisentwicklung angepasst (Regelbedarf-Ermittlungsgesetz – RBEG). Die Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden nach dem tatsächlichen Mietmarkt regional bestimmt. Mehrbedarfe werden für Personen anerkannt, die das Merkzeichen G haben (§ 30 Abs. 1 SGB XII), Eingliederungshilfe beziehen (§ 30 Abs. 4 SGB XII), einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen (§ 30 Abs. 5 SGB XII), orthopädische Schuhe und therapeutische Geräte anschaffen oder mieten müssen (§ 31 Abs. 1, Nr. 3 SGB XII) oder einen besonders hohen Kranken- oder Pflegeversicherungsbeitrag zahlen (§ 32 SGB XII). Mehrbedarf können auch Aufwendungen für eine Sterbegeldversicherung sein (§ 33 Abs. 2 SGB XII).
5
Betriebliche Altersversorgung
Betriebliche Altersvorsorge wird aus Anlass eines Arbeitsverhältnisses vom Arbeitgeber zugesagt. Sie unterliegt dem Betriebsrentengesetz (BetrAVG) als Teil des Arbeitsrechts. Für sie gelten – wie für andere private Altersvorsorge – die Diskriminierungsverbote des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG), insbesondere das (Lohn-)Gleichheitsgebot der Geschlechter.9 Sie kann unmittelbar vom Arbeitgeber oder einer Direktversicherung, Pensionskasse oder Unterstützungskasse erfolgen, auf einer Direktzusage, Beitragszahlungen oder Entgeltumwandlung beruhen. Anwartschaften auf betriebliche Altersversorgung werden nach drei Jahren unverfallbar (§ 1b BetrAVG). Sie müssen gegen die Insolvenz des Arbeitgebers gesichert sein (§ 7 BetrAVG). Bei vorzeitiger Altersrente muss auch die Betriebsrente geleistet werden (§ 6 BetrAVG). Ob eine betriebliche Altersversorgung besteht und wie sie ausgestaltet wird, wird im Arbeitsvertrag, oft auch in Tarifverträgen geregelt. Diese können auch Versorgungseinrichtungen schaffen, über die tariflich bestimmt wird (z. B. Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder – VBL, MetallRente, SOKA Bau). Die Voraussetzungen der Ansprüche und ihre Höhe werden in den jeweiligen Arbeitsverträgen und Tarifverträgen bestimmt. Die Arbeitgeber und Versorgungsträger sind zur Auskunft über die Ansprüche verpflichtet (§ 4a BetrAVG). Rechtsstreitigkeiten mit Arbeitgebern und gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien über betriebliche Altersversorgung werden vor den Arbeitsgerichten, mit anderen Trägern vor den ordentlichen Gerichten geführt. Vor den Arbeitsgerichten ist eine Rechtsvertretung durch Gewerkschaften möglich. Betriebliche Altersversorgung kann steuerlich begünstigt sein (sog. Riester-Rente, §§ 10a, 82 EStG).
9 Europäischer Gerichtshof (EuGH), Urteil vom 01. 03. 2011, C-236/09; EuGH, Urt. v. 13. 05. 1986, C-170/84.
Alter, Rentenversicherung und andere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
6
311
Private Altersvorsorge
Die Bezeichnung ‚private Altersvorsorge‘ ist insoweit unpassend, als sie an eine indi viduelle Regelung wie einen Hofübergabevertrag, eine Leibrente oder individuelle Vermögenseinkünfte aus Vermietung oder Kapital denken lässt. Gemeint sind aber heute zumeist höchst institutionalisierte und rechtlich stark normierte Formen der Altersvorsorge, die auf einem zivilrechtlichen Vertrag beruhen. Vertragspartner sind oft dem Versicherungsvertragsgesetz (VVG) und dem Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) unterliegende Unternehmen, Sparkassen, Banken und Investmentfonds, die im Alter auszahlbare Rentenversicherungen anbieten. Private Altersvorsorge wird während der Beitragsphase steuerlich gefördert (§§ 10a, 82 EStG), wenn sie zertifiziert ist (Altersvorsorgeverträge-Zertifizierungsgesetz – AltZertG) und zu einer monatlichen Zahlung führt, wobei mindestens die eingezahlten Beiträge wieder ausgezahlt werden müssen. Das Konzept der steuerlich geförderten Altersvorsorgepolitik wird heute stark kritisiert (Bode und Wilke 2014), weil von den geförderten Verträgen vor allem Personen mit guter Einkommenssituation Gebrauch machen und so die soziale Ungleichheit im Alter gesteigert wird. Zudem sind Vertriebs- und Verwaltungskosten hoch. Über geförderte private Altersvorsorge beraten auch die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung (§ 15 Abs. 4 SGB VI) sowie die Verbraucherzentralen.
7
Weitere Leistungen zum Lebensunterhalt im Alter
7.1
Beamtenversorgung
Die Altersversorgung der Beamt/-innen erfolgt auf der Grundlage von Gesetzen der Dienstherren (Bund und Länder). Sie erfüllt die Aufgaben der allgemeinen und der betrieblichen Altersversorgung und führt zu einem die gesetzliche Rentenversicherung deutlich übersteigenden Sicherungsniveau der Pensionen. Verfassungsrechtlich gilt sie als durch Art. 33 Abs. 5 GG garantiert. Die Beamtenversorgung ist Teil des öffentlichen Rechts, der Rechtsweg geht zu den Verwaltungsgerichten. 7.2
Versorgungswerke
Für freie Berufe mit Kammern, insbesondere die Rechtsanwaltschaft und Ärzteschaft, können in den Ländern öffentlich-rechtliche Versorgungswerke errichtet werden, die zumeist mit Pflichtmitgliedschaft und Beiträgen Altersversorgung außerhalb der Rentenversicherung gewährleisten (vgl. § 6 Abs. 1, Satz 1, Nr. 1 SGB VI). Auch sie haben ein hohes Versorgungsniveau. Der Rechtsweg geht zu den Verwaltungsgerichten.
312
7.3
Felix Welti
Wohngeld
Eine ergänzende Sozialleistung bei unzureichendem Einkommen ist das Wohngeld nach dem Wohngeldgesetz (WoGG) zur Sicherung angemessenen Wohnens für Personen, die keine Kosten der Unterkunft der Grundsicherung im Alter erhalten, aber deren Einkommen (§§ 13, 14 WoGG) nicht zur Deckung der Miete ausreicht. Die Wohngeldbehörde wird durch Landesrecht bestimmt, das Wohngeld wird je zur Hälfte von Bund und Land getragen. Beratung geben auch die Mietervereine. Der Rechtsweg geht zu den Verwaltungsgerichten.
8
Ausblick
Die rechtliche und politische Diskussion über die Alterssicherung wird weitergehen. In den nächsten Jahren wird dabei voraussichtlich die verbesserte Sicherung von Personen mit niedrigen Alterseinkommen durch eine Grundrente im Mittelpunkt stehen. Auch die gleichmäßigere Heranziehung von Einkommensarten zur Finanzierung der Alterssicherung, die ungleiche Sicherung von Beamten und gesetzlich Versicherten und der faktisch ungleiche Zugang zur betrieblichen und privaten Altersvorsorge werden relevante Themen sein.
Ausgewählte Literatur Becker, Ulrich. 2013. Staatliche Alterssicherung. In Recht der Älteren. Hrsg. Becker, Ulrich, und Markus Roth, 321 – 360. Berlin: De Gruyter. Roth, Markus. 2015. Private Altersvorsorge. In Recht der Älteren. Hrsg. Becker, Ulrich, und Markus Roth, 361 – 400. Berlin: De Gruyter. Ruland, Franz. 2018. Rentenversicherung. In Sozialrechtshandbuch. 6. Auflage. Hrsg. Ruland, Franz, Ulrich Becker und Peter Axer, 896 – 969. Baden-Baden: Nomos.
Alter, Kranken- und Pflegeversicherung Stephan Rixen
1
Soziale Sicherungssysteme als Faktoren der sozialen Arbeit mit alten Menschen
1.1
Kranken- und Pflegeversicherungsrecht als Thema Sozialer Arbeit
Für Theorie und Praxis Sozialer Arbeit, soweit sie sich mit dem sozialpolitisch brisanten Thema ‚Alter(n)‘ befasst, ist es in mindestens dreifacher Hinsicht sinnvoll, die Kranken- und Pflegeversicherung, genauer: ihre rechtliche Ausgestaltung, näher zu betrachten. Zunächst geht es darum, sich die rechtlich-institutionelle Rahmung der Sozialen Arbeit im Interesse alter Menschen (Soziale Altenarbeit) vor Augen zu führen. Diese Arbeit vollzieht sich nicht im institutionell-organisatorisch luftleeren Raum, sondern muss die (sozialversicherungs-)rechtlichen Daten als Möglichkeitsbedingungen fachlich guter Sozialer Arbeit mitreflektieren (vgl. auch Hammerschmidt und Löffler sowie Hammerschmidt und Tennstedt i. d. B.). Ferner gilt, dass insbesondere das neuere Kranken- und Pflegeversicherungsrecht Berufsbilder der Sozialen Arbeit wesentlich ausformt; man denke etwa an das Berufsprofil der Pflege berater/-innen (vgl. auch Abschnitt 3). Schließlich verspricht eine Betrachtung des in Rechtsnormen geronnenen institutionellen Gefüges von Kranken- und Pflegeversicherung für die Soziale Arbeit auch deshalb Erkenntnisgewinn, weil in Rechtsnormtexten und in jedem auf ihrer Basis sich vollziehenden Normanwendungsakt der Sozialadministration und der Gerichte (denen die Rechtswissenschaft als Wissenschaft für die Entwicklung von Auslegungs-, also Handlungsoptionen vorarbeitet) Alterskonzepte, d. h. normative Normalitätsbilder vom Alter bzw. vom alten Menschen gespeichert sind und reproduziert werden (Göckenjan 2000; vgl. auch Rixen 2005, S. 590 ff., Rixen 2008). Sie prägen die Bedeutungshorizonte, in die alle Diskurse über Alter(n) und alte Menschen eingestellt sind (vgl. Sachverständigenrat 2007, S. 354 ff.). © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_26
313
314
1.2
Stephan Rixen
Regelungscharakteristika des Kranken- und Pflegeversicherungsrechts
Weder das Kranken- noch das Pflegeversicherungsrecht sind soziale Sicherungssysteme, die sich dem Thema des Alters bzw. des Alterns spezifisch nähern würden, sie sind altersunspezifische Sicherungssysteme. Als altersunspezifisch konstruierte Sicherungssysteme eröffnen sie gleichwohl auf der Anwendungsebene vielfältige Handlungs- bzw. Gestaltungsoptionen, die im Interesse alternder bzw. alter Menschen genutzt werden können (näher dazu Abschnitte 2 und 3.) 1.2.1 Schlüsselbegriff ‚Krankheit‘
Sowohl das Kranken- als auch das Pflegeversicherungssystem kreisen um den Begriff der Krankheit. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Bundessozialgericht 1988, 1999) ist unter Krankheit ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand zu verstehen, der ärztlicher Behandlung bedarf oder – zugleich oder ausschließlich – Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. Das Bundessozialgericht hat wiederholt entschieden, dass als Krankheit im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung auch solche Regelwidrigkeiten in Betracht kommen, die auf einen Alterungsprozess zurückzuführen sind. So sind laut Bundessozialgericht z. B. Alterserscheinungen wie die Minderung des Seh- und Hörvermögens oder ähnliche Erscheinungen unbestritten Regelwidrigkeiten, die Behandlungsbedürftigkeit auslösen. Die Behandlungsbedürftigkeit setzt nach Ansicht des Bundessozialgerichts voraus, dass auch Behandlungsfähigkeit besteht, also die Krankheit mit Mitteln der Krankenbehandlung beeinflusst werden kann. Dieses hier nur zu skizzierende Krankheitsverständnis fällt dadurch auf, dass es in hohem Maße wertungsabhängig ist. Behandlungsfähigkeit und damit Behandlungsbedürftigkeit hängen von den sich im Laufe der Zeit entwickelnden Möglichkeiten ab, auf eine Krankheit einzuwirken. Namentlich die Einbeziehung alterstypischer Veränderungen in den Krankheitsbegriff ist grundbegrifflich wie kriteriell im Einzelnen nach wie vor ungeklärt (Lang 2018, S. 278); auch das Bundessozialgericht (1999) hat offengelassen, ob altersbedingte Veränderungen generell Krankheiten seien. Mit gutem Grund kann man deshalb die Ansicht vertreten, dass das Alterskonzept, das der gesetzlichen Krankenversicherung implizit zugrunde liegt, einem medikalisierten Verständnis von Alter folgt, das in konzeptionell diffuser Weise Regelwidrigkeiten, mithin Abweichungen von einem vage konturierten Normalzustand, zum Referenzpunkt des Verständnisses von Altern bzw. Alter macht. ‚Medikalisiert‘ bezeichnet hier eine einseitig medizinische Betrachtungsweise, die meint, ein gesundheitlich relevanter Zustand lasse sich in erster Linie oder gar ausschließlich mithilfe ärztlicher Expertise adäquat beschreiben.
Alter, Kranken- und Pflegeversicherung
315
1.2.2 Schlüsselbegriff ‚Pflegebedürftigkeit‘
Diesem medikalisierten Verständnis von Alter folgte bis zu den Änderungen insbesondere durch das Zweite Pflegestärkungsgesetz (PSG II 2015) im Ansatz auch die Pflegeversicherung (zu den Neuerungen unten 3.1). Die Pflegeversicherung war, vereinfacht ausgedrückt, ein System, das um die nicht therapierbare Krankheit angelegt war. Hierbei kreiste sie um einen ‚verrichtungsbezogenen‘ Begriff von Pflegebedürftigkeit. Pflegebedürftig war danach jede Person, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedurfte. Die ‚verrichtungsbezogene‘ Pflegebedürftigkeit fokussierte nicht zu Genüge das Faktum fehlender Teilhabe (obgleich der in der Definition der Pflegebedürftigkeit enthaltene Begriff der Behinderung dergleichen eigentlich nahelegt), sondern bezog sich auf handfeste Verrichtungen, in denen sich die altersbedingten Defizite spiegelten. Gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen im Sinne der früheren Definition von Pflegebedürftigkeit waren im Bereich der Körperpflege das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, das Rasieren, die Darm- oder Blasenentleerung, im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung, im Bereich der Mobilität das selbstständige Aufstehen oder Zubettgehen, das An- und Auskleiden, das Gehen, Stehen, Treppensteigen und/oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung, im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung das Einkaufen und Kochen, das Reinigen der Wohnung, das Spülen, das Wechseln und Waschen der Wäsche, die Sorge um die Kleidung sowie das Beheizen (zum Ganzen der frühere § 14 Abs. 4 SGB XI). Alter – hohes Alter ist die typische Situation, in der Pflegebedürftigkeit entsteht (vgl. Homfeldt sowie Schmidt i. d. B.) – stellte sich so als Auflistung von Handlungsdefiziten dar, die krankheits- bzw. behinderungsbedingt auftraten und durch die Interventionsmöglichkeiten der Pflegeversicherung kompensiert wurden. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff (vgl. dazu Abschnitt 3) löst sich von dieser Perspektive und versucht, die Vulnerabilität der Menschen, um die es geht – etwa von dementen Menschen –, ganzheitlicher abzubilden. Das heißt nicht, dass es auf medizinische Expertise nicht mehr ankäme oder die Gefahr einer einseitig medizinischen – in diesem Sinne: medikalisierten (vgl. dazu Abschnitt 1.2.1) – Perspektive nicht mehr bestünde. Aber das geltende Recht folgt seinem Anspruch nach einem anderen Leitbild, das nicht mehr allzu einseitig auf nur medizinisch abbildbare Hemmnisse der Selbstbestimmung setzt. Nachfolgend soll zunächst mit Blick auf die gesetzliche Krankenversicherung (2.), sodann mit Blick auf die soziale Pflegeversicherung (3.) das Grundprofil des jeweiligen Sozialversicherungssystems verdeutlicht werden, wobei es nicht um eine allge meine Einführung in beide überaus komplexe Rechtsmaterien gehen kann. Ziel der nachfolgenden Ausführungen ist es, für die Altersdimension von Regelungen sensi-
316
Stephan Rixen
bel zu machen, denen man diesen Bedeutungsaspekt möglicherweise auf den ersten Blick nicht ansieht. Es soll also klar werden, wo mit Blick auf das Alter(n) – verstanden als kalendarisch-biologischer Prozess – Gestaltungsoptionen bestehen, die im Interesse alter bzw. hochaltriger Menschen in Versorgungsangebote münden können, deren Profil sich auch durch Konzepte alters- und alternsgerechter Sozialer Arbeit schärfen lässt.
2
Krankenversicherung
2.1
Leistungen der GKV und Altersgrenzen
Zu den wesentlichen Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gehören Leistungen zur Krankenbehandlung sowie Leistungen zur Verhütung sowie Früherkennung von Krankheiten (vgl. § 11 Abs. 1 SGB V); hinzu treten allgemeine Präventions-, Gesundheitsförderungs- sowie Selbsthilfeangebote (vgl. §§ 20 ff. SGB V; vgl. auch Franzkowiak i. d. B.). Sieht man insbesondere von den allgemeinen Präventionsangeboten ab, die die Fitness generell steigern sollen (vgl. § 20 Abs. 1 Satz 1 SGB V), dann ist Voraussetzung dafür, dass Leistungen der GKV in Anspruch genommen werden können (und von der Krankenkasse zu finanzieren sind), immer (mindestens) das Vorliegen einer behandlungsbedürftigen und behandlungsfähigen Krankheit (vgl. Abschnitt 1.2.1). Krankenbehandlungsleistungen sind nicht abhängig von bestimmten Altersgrenzen, allerdings kann in bestimmten Fällen, namentlich beim Zahnersatz, das Alter darüber bestimmen, inwieweit die Krankenkassen zur Kostenübernahme verpflichtet sind (vgl. § 55 SGB V). Explizite Rationierungen in dem Sinne, dass medizinisch notwendige Behandlungen gerade wegen des hohen Alters ausgeschlossen werden, gibt es im GKV-System nicht. Implizite bzw. heimliche Rationierungen derart, dass die verfügbaren Behandlungsressourcen bei jüngeren Menschen möglicherweise etwas ‚motivierter‘ eingesetzt werden als bei hochaltrigen Menschen, sind zwar denkbar, empirisch verlässliche Belege für eine solche Praxis gibt es nicht (vgl. Kingreen 2008). Auch die Leistungen der Verhütung (§§ 20 ff. SGB V) und der Früherkennung (§§ 25 und 26 SGB V) von Krankheiten sind wie die Leistungen der Krankenbehandlung um den Schlüsselbegriff der ‚Krankheit‘ zentriert. Wie etwa die Kinderuntersuchungen (§ 26 SGB V) oder die Zahnprophylaxe (§§ 21, 22 SGB V), aber auch die Gesundheitsuntersuchungen (§ 26 SGB V), z. B. die sog. Krebsvorsorge, zeigen, bestehen hier Altersgrenzen, die erreicht sein müssen, um leistungsberechtigt zu sein. Dem liegen in erster Linie Annahmen über Erkrankungswahrscheinlichkeiten zugrunde. Der Eindruck, dass wegen fortgeschrittenen, hohen Alters der Zugang zu den Behandlungsressourcen der GKV verweigert wird, könnte sich beim Blick auf die Regelungen über die Zahnprophylaxe einstellen (vgl. §§ 21, 22 SGB V), denn diese gilt allerhöchstens nur für Menschen unter 18 Jahren. Sachgrund hierfür ist die Annahme,
Alter, Kranken- und Pflegeversicherung
317
dass eine Verhütung von Zahnerkrankungen in jungen Jahren besonders sinnvoll erscheint. Dem liegt die gesetzliche Wertung (auf der Ebene der Makroallokation also) zugrunde, dass die knappen finanziellen Mittel der GKV für solche Maßnahmen nur altersabhängig gewährt werden sollen, im Übrigen – vorbehaltlich spezieller Vorschriften (dazu sogleich) – werden solche Maßnahmen privatisiert und dem Raum der finanziellen Eigenverantwortung zugeordnet. Was möglicherweise als Altersdiskriminierung erscheinen könnte, fügt sich konsistent in eine Gesundheitspolitik ein, die namentlich die Zahnpflege immer mehr aus dem Leistungsversprechen der GKV ausgegliedert und einer Maßnahme der Kosmetik angenähert hat, die gewissermaßen als Teil der individuellen gesundheitlichen Wellness erscheint. Allgemeine Schlussfolgerungen für die Frage, ob alten Menschen der Zugang zur Gesundheitsversorgung verweigert wird, dürften sich aus dieser Sonderproblematik indes nicht herleiten lassen. Allerdings ist das Bild nicht einheitlich, denn für pflegebedürftige Menschen und Menschen mit Behinderungen gibt es altersunabhängig ebenfalls einen Anspruch auf Gewährung von Leistungen zur Verhütung von Zahnerkran kungen (§ 22a SGB V). Dahinter steht die Einsicht, dass die Mundgesundheit dieser Menschen im Durchschnitt schlechter ist als die der übrigen Bevölkerung. Diese Regelung zeigt, dass der Gesetzgeber jedenfalls bei Leistungen zur Krankheitsverhütung relativ frei ist, sachliche, insbesondere medizinisch begründbare Altersgrenzen zu setzen. 2.2
Feinsteuerung der GKV insbesondere durch Ärzt/-innen und Richtlinien des G-BA
Zur Krankenbehandlung im Sinne des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung gehören die ärztliche Behandlung einschließlich Psychotherapie, die zahnärztliche Behandlung, die Versorgung mit Zahnersatz einschließlich Zahnkronen und Suprakonstruktionen, die Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln, die häusliche Krankenpflege und Haushaltshilfe, die Krankenhausbehandlung sowie Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und diese ergänzende Leistungen (vgl. § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Hinsichtlich des Inhalts der Leistungen ist zu konstatieren, dass er wesentlich durch die ärztliche Einschätzung präjudiziert wird. D. h. der Arzt/ die Ärztin als gatekeeper, als Türhüter/-in des Gesundheitssystems, strukturiert die Inanspruchnahme der Krankenbehandlungsleistungen vor, da den Patient/-innen im Regelfall die Kompetenz fehlt zu entscheiden, welche Behandlung angezeigt ist. Allerdings ist es so, dass das Entscheidungsverhalten der Ärzt/-innen wesentlich durch die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) geprägt wird (Informationen zu diesem Gremium unter www.g-ba.de). Der Gemeinsame Bundesausschuss ist eine Art ‚kleiner Gesetzgeber‘, der die weitmaschigen gesetzlichen Regelungen, die das Parlament erlässt, feinprogrammiert. Damit steuert der G-BA auf der Ebene der Mesoallokation, die der gesetzgeberischen Makroallokation nach- und
318
Stephan Rixen
der ärztlich dominierten Mikroallokation vorgelagert ist, die Verteilung der knappen Mittel, die (auch) alten Menschen in der Gesundheitsversorgung zugutekommen. Aus Sicht alter Menschen ist diese Möglichkeit, die Versorgung zu steuern, deshalb interessant, weil derartige Richtlinien es möglich machen, die altersunspezifische Bedeutung der gesetzlichen Regelung mit Blick auf die Versorgungsbedürfnisse alter Menschen spezifisch zu konkretisieren. Das Gesetz (vgl. § 92 Abs. 1 SGB V) ermöglicht also auf der Anwendungsebene eine Patient/-innendifferenzierung durch Richtliniengebung, die es – ergingen ‚alter(n)ssensible‘ Richtlinien – den Ärzt/-innen erlauben würde, entsprechend differenzierte Versorgungsangebote zu unterbreiten. 2.3
Alterssensible besondere Versorgungsformen
Jenseits dieser sog. Regelversorgung, die für alle (alten) Menschen in Betracht kommt, kennt das Recht der GKV auch noch besondere Versorgungsformen. Sie ermöglichen es unter bestimmten Voraussetzungen, für bestimmte Patient/-innengruppen spezifische Versorgungsangebote zu entwickeln. So ist es etwa im Rahmen der hausarztzentrierten Versorgung (§ 73b SGB V) möglich, den Erfordernissen des Alterns bzw. des Alters in der Versorgungsrealität gerecht zu werden. Das Gesetz weist so auch darauf hin, dass namentlich geriatrische, also auf die Altersmedizin bezogene Kenntnisse, in solchen besonderen Versorgungsmodellen zur Geltung gebracht werden können (vgl. beispielhaft § 73b Abs. 2 Nr. 3 SGB V). Als besondere Versorgung gilt auch die sog. integrierte Versorgung (IV), vgl. § 140a SGB V. Danach kann nach Art einer sehr umfassenden Experimentierklausel parallel zur Regelversorgung eine spezifisch auf die Bedürfnisse von bestimmten Patient/-innengruppen zugeschnittene Versorgung installiert werden. Denkbar ist dies beispielsweise auch für Patient/-innen mit alterstypischem, etwa geriatrischem Behandlungsbedarf. Das Verhältnis der besonderen Versorgungsformen zueinander sowie deren Verhältnis zur sog. Regelversorgung sind im Einzelnen rechtstechnisch und auch versorgungspraktisch umstritten. 2.4
Alterssensible Anwendung des GKV-Rechts
Grundsätzlich gilt, dass die Anspruchsnormen, die Krankenbehandlungsleistungen regeln, altersspezifisch ausgelegt und angewandt werden können. Aus Sicht der Ärzt/-innen ist das ohnehin unumgänglich, denn das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung stellt klar, dass die Krankenbehandlung den Regeln der ärztlichen Kunst folgen muss (§ 28 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Zu diesen Regeln gehört auch die Beachtung und Anwendung geriatrischer sowie sonstiger Behandlungsstandards, die disziplinspezifisch dem Alter(n) Rechnung tragen. Diese altersspezifischen Behandlungsstandards werden gleichsam in die altersunspezifisch formulierten Normen des
Alter, Kranken- und Pflegeversicherung
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Leistungsrechts des SGB V hineinprojiziert und ermöglichen auf der Anwendungsebene eine altersgerechte Versorgung. 2.5
Beispiel: die spezialisierte ambulante Palliativversorgung als Herausforderung für Sozialarbeiter/-innen
Inwieweit dies beim jeweiligen Leistungsanspruch möglich ist, hängt auch vom jeweiligen gesetzlich normierten Profil der in Rede stehenden Leistung ab. So wird man möglicherweise bei der zahnärztlichen Versorgung weniger altersspezifische Behandlungsstandards kennen als etwa im Rahmen der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV; vgl. auch Begemann und Fuchs i. d. B.). Die SAPV stellt eine Ergänzung der bisherigen Regelversorgung in der Weise dar, dass Versicherte mit einer nicht heilbaren, fortschreitenden und weit fortgeschrittenen Erkrankung bei einer zugleich begrenzten Lebenserwartung, die eine besonders aufwendige Versorgung benötigen, einen Anspruch darauf haben, dass genau diese besonders aufwendige Versorgung erfolgt (§ 37b i. V. m. § 132d SGB V). Wenn man bedenkt, dass die Sterbephase (vgl. dazu Dreßke i. d. B.) im hohen Alter häufig mit einem moribunden Zustand einhergehen kann, dann wird deutlich, dass die SAPV als eine spezifische auf den Sterbeprozess bezogene Hilfe nicht zuletzt auch ein Versorgungsangebot im Interesse alter Menschen ist. Die SAPV ist zudem ein Versorgungsangebot, in das zwar nicht durch das Gesetz selbst, aber durch Ausführungsvorschriften die Tätigkeit von Sozialarbeiter/-innen integriert ist. Die SAPV ist ein multidisziplinäres Versorgungsangebot, das ärztliche und pflegerische sowie sonstige begleitende Leistungen verknüpft. Für die damit implizierte Aufgabe des Case-Managements (dieser Begriff wird üblicherweise verwandt, obgleich er in der Fachlichkeitsdiskussion der Sozialen Arbeit umstritten ist) werden die Sozialarbeiter/-innen als die geeigneten Expert/-innen benannt (vgl. § 5 Abs. 3 der Richtlinien des G-BA zur SAPV, abrufbar unter www.g-ba.de). Diese Normen verdeutlichen, dass durch rechtliche Regulierung ein Berufsbild oder doch zumindest bestimmte berufliche Optionen (hier: der Sozialen Arbeit) wesentlich durch das Recht geprägt werden. Wichtig für eine problemsensible Betrachtung der GKV im Hinblick auf die Angebote der Sozialen Arbeit ist der Umstand, dass das GKV-Recht aufgrund zahlreicher normtextlicher Unschärfen, aber auch aufgrund besonderer Versorgungsformen beträchtliche Möglichkeiten eröffnet, den Bedürfnissen alternder bzw. alter Menschen gerecht zu werden. In diesem Sinne hat das GKV-Recht eine Art Rahmencharakter, weil es die Möglichkeit schafft, die Versorgungslandschaft mit Blick auf die Bedürfnisse alter Menschen fortzuentwickeln.
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Stephan Rixen
3
Pflegeversicherung
3.1
Der neue, (auch) alter(n)ssensible Pflegebedürftigkeitsbegriff
Wie erwähnt (vgl. 1.), war die „Soziale Pflegeversicherung“ (so die offizielle Bezeichnung des SGB XI) um ein ‚verrichtungsbezogenes‘, also ein (empirisch leicht operationalisierbares) defizitorientiertes Verständnis von Krankheit zentriert. Ein solches, stark somatisch determiniertes Verständnis von Pflegebedürftigkeit zeigt wenig Gespür für Gebrechlichkeitszustände, die sich, wie etwa die (Alters-)Demenz, weniger verrichtungsbezogen als vielmehr darüber rekonstruieren lassen, dass hier das ‚Her ausfallen‘ kranker (alter) Menschen aus Kommunikationsbezügen durch spezifische Präsenz, durch kommunikatives Dasein von Betreuenden kompensiert werden muss. Nach ersten Reformmaßnahmen hat insbesondere das schon erwähnte Zweite Pflege stärkungsgesetz (PSG II 2015) zu grundlegenden Änderungen des gesetzlichen Designs geführt (Reimer 2016; Kokemoor 2018, S. 112 ff.), die nun in der Praxis mit Leben erfüllt werden müssen. Im neuen Pflegeversicherungsrecht geht es um den Grad der Selbstständigkeit (im Einzelnen §§ 14, 15 SGB XI), der im Hinblick auf sechs Bereiche (Module) anhand eines aufwändigen Begutachtungsinstruments ermittelt wird (§ 14 Abs. 2 SGB XI): Mobilität, kognitive und kommunikative Fähigkeiten, Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, Selbstversorgung, Bewältigung von und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen sowie Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte. Anhand einer gewichteten Gesamtbetrachtung wird sodann der Grad der Pflegebedürftigkeit ermittelt, wobei fünf Pflegegrade (es heißt nicht mehr Pflegestufe) unterschieden werden (§ 15 Abs. 3 Satz 4 SGB XI). Hierbei spielt der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) neben anderen Gutachtern eine entscheidende Rolle (§ 18 Abs. 1 Satz 1 SGB XI). Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff und das neue Begutachtungsinstrument er möglichen eine stärker auf das jeweilige Individuum und seine Bedürfnisse zuge schnittene Ermittlung des Unterstützungsbedarfs. Die ‚Verrichtungen‘ des früheren Rechts spielen zwar durchaus noch eine beachtliche Rolle (sie fallen insbesondere als Teil des Moduls „Selbstversorgung“ mit 40 % ins Gewicht (§ 15 Abs. 2 Satz 8 Nr. 3 SGB XI), aber sie sind nicht mehr so dominant wie früher. Pflegebedürftigkeit erweist sich so als bereichsspezifisch differenzierendes Konzept der Vulnerabilität, die nicht nur auf gleichsam ‚handfeste‘ Verrichtungen fokussiert, sondern auf die Person als kommunikatives, in und von Beziehungen lebendes Wesen. Wie gesagt: Das ist das vom Gesetz statuierte Ideal, das erst in der konsequenten Umsetzung real wird. Aber jenseits der instrumentellen Umsetzungsprobleme geht es um eine symbolische Aussage darüber, wie ein Mensch, der als pflegebedürftig bezeichnet wird, adäquat verstanden wird.
Alter, Kranken- und Pflegeversicherung
3.2
321
Pflegeberatung durch Sozialarbeiter/-innen
Wie in der gesetzlichen Krankenversicherung gilt auch in der Pflegeversicherung, dass die Leistungen, die allgemein als altersunspezifisch beanspruchbar sind, auch – aber eben nur auch – das Alter erfassen. Grundsätzlich gilt hier, dass ambulante Versorgung vor teil- oder vollstationärer Versorgung Anwendung findet. Das geht einher mit der Annahme des Pflegeversicherungsrechts, dass Pflege wesentlich in Privathaushalten erfolgt und im Schwerpunkt gerade nicht außerhalb dieser privaten Räume realisiert wird. Die Abschichtung bzw. Kombinierbarkeit der unterschiedlichen Leistungen (vgl. § 28 SGB XI) bereitet den Berechtigten bzw. denen, die die Interessen der Berechtigten aktualisieren, immer wieder Probleme; nicht zu Unrecht ist die Rede vom „Pflege-Dschungel“ (Dehlinger und Kesselheim 2008, S. 31). Deshalb ist die sog. Pflegeberatung (§ 7a SGB XI; vgl. auch Rubin i. d. B.) geschaffen worden. Danach haben Personen, die Leistungen nach dem SGB XI erhalten, Anspruch auf individuelle Beratung und Hilfestellung durch eine/-n Pflegeberater/-in bei der Auswahl und Inanspruchnahme von bundes- oder landesrechtlich vorgesehenen Sozialleistungen sowie sonstigen Hilfsangeboten, die auf die Unterstützung von Menschen mit Pflege-, Versorgungs- oder Betreuungsbedarf ausgerichtet sind. Aufgabe der Pflegeberatung ist es insbesondere, den Hilfebedarf unter Berücksichtigung der Feststellung der Begutachtung durch den MDK systematisch zu erfassen und zu analysieren, einen individuellen Versorgungsplan mit den im Einzelfall erforderlichen Sozialleistungen und gesundheitsfördernden, präventiven, kurativen, rehabilitativen oder sonstigen medizinischen sowie pflegerischen und sozialen Hilfen zu erstellen, auf die für die Durchführung des Versorgungsplans erforderlichen Maßnahmen einschließlich deren Genehmigung durch den jeweiligen Leistungsträger hinzuwirken, die Durchführung des Versorgungsplans zu überwachen und erforderlichenfalls einer veränderten Bedarfslage anzupassen sowie bei besonders komplexen Fallgestaltungen den Hilfeprozess auszuwerten und zu dokumentieren (§ 7a Abs. 1 Satz 3 SGB XI). Das Gesetz gibt den Pflegekassen auf, diese Pflegeberatung zu realisieren. Als berufene Berater/-innen nennt das Gesetz ausdrücklich auch Sozialarbeiter/-innen mit einer erforderlichen Zusatzqualifikation: „Die Pflegekassen setzen für die persönliche Beratung und Betreuung durch Pflegeberater und Pflegeberaterinnen entsprechend qualifiziertes Personal ein, insbesondere Pflegefachkräfte, Sozialversicherungsfachangestellte oder Sozialarbeiter mit der jeweils erforderlichen Zusatzqualifikation.“ (§ 7a Abs. 3 Satz 2 SGB XI)
Auch hier, in einer Situation, die als Schnittstellen- oder Case-Management eingeordnet werden kann (ohne das hier verkannt würde, dass die Konzepte des Case-Managements variieren), kommt der Beruf des Sozialarbeiters/der Sozialarbeiterin ins Spiel. Die Koordinierung der Sozialleistungen und die damit einhergehenden Ein-
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Stephan Rixen
schätzungen des Hilfebedarfs sollen durch Expert/-innen, die hier die Übersicht behalten und die Klient/-innen über ihre rechtlich geformten Hilfemöglichkeiten informieren, erleichtert werden. 3.3
Alterssensible Handhabung des Pflegeversicherungsrechts – der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff als Chance für die Soziale Arbeit
Ob bzw. inwieweit ein auf Sozialarbeiter/-innen gestütztes Modell von Pflegeberatung in der Praxis funktioniert bzw. sich positiv auf die Situation von Pflegebedürftigen auswirkt, lässt sich schwer einschätzen, da, soweit ersichtlich, empirisch aussagekräftige Evaluierungen noch fehlen. Gut aus- und fortgebildete Fachkräfte kennen die komplexen rechtlichen Regulierungen der Pflegeversicherung. Dieses Wissen muss freilich in eine übergreifende fachliche Perspektive eingebunden sein, die – ausgehend von den Modellen der sog. Sozialberatung – Modelle altersgerechter Sozialberatung entwirft, in die die spezifische Rechtsinformation, wie sie die Pflegeberatung nach dem SGB XI impliziert, integriert ist. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff (vgl. dazu Abschnitt 3.1) erweist sich als kompatibel für Konzepte und Praxisangebote der Sozialen Arbeit, denn er ist anschlussfähig für unterschiedliche Ansätze etwa des Empowerments, die die Selbstwirksamkeit insbesondere im Alter stärken wollen. Hier stellen sich Herausforderungen für die Soziale Arbeit, die traditionelle Konzepte der Altenhilfe anhand neuerer Erkenntnisse insbesondere der Gerontologie und der Pflegewissenschaft überarbeiten muss. Zugleich ist konzeptionelle Arbeit im Hinblick auf Praxisangebote nötig, die den Konzepten durch die Relationierung von ‚Wissenschaftswissen‘ und Handlungswissen eine operable, praxistaugliche Gestalt gibt. Cornelia Schweppe (2012, S. 516 f.) stellt fest, dass es der Sozialpädagogik bisher kaum gelungen sei, eine eigenständige Expertise innerhalb dieses von Medizin, Gerontologie und Pflegewissenschaften geprägten Arbeitsfeldes zu entwickeln und zu verdeutlichen, auf welche Weise sie zur Bearbeitung, Linderung oder Lösung altersspezifischer Problematiken bzw. zur Herstellung von Lebensentwürfen im Alter beitragen kann. Doch nur wenn die Soziale Arbeit, als Disziplin und Profession, hier Fortschritte macht, wird sie die Vagheitsspielräume, die die Normtexte auch im Pflegeversicherungsrecht aufzeigen, im Interesse alternder bzw. alter Menschen nutzen können. In den vergangenen Jahren zeigt sich durchaus ein wachsendes Interesse an der Auseinandersetzung mit entsprechenden Fragestellungen in Forschung und Praxis (vgl. dazu die Beiträge in Teil I i. d. B.).
Alter, Kranken- und Pflegeversicherung
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Resümee
Das Kranken- und das Pflegeversicherungsrecht sind derzeit weit davon entfernt, ein spezifisches ‚Seniorenrecht‘ zu sein. Nach ihrem rechtstechnischen Design handelt es sich überwiegend um altersunspezifische Regelungen, die allerdings auf der Anwendungsebene altersspezifisch interpretiert und angewandt werden können. Sowohl das Kranken- als auch das Pflegeversicherungsrecht eröffnen Gestaltungsoptionen, vermittels derer alters- und alternsgerechte Denkweisen wirkungsvoll implementiert werden können. Das setzt Konzepte und Praxisangebote guter altersgerechter Sozialer Arbeit voraus. Mit ihrer Hilfe lässt sich die sozialpolitische Signatur des Krankenund Pflegeversicherungsrechts verändern; insbesondere durch eine problemsensible und reflexive Handhabung der geltenden Rechtsnormen auch und gerade für ältere Menschen (zu den Feldern und Angeboten vgl. Teil I, Kap. 2 i. d. B.; für einen Überblick über gesundheitsbezogene Soziale Arbeit vgl. Aner und Hammerschmidt 2018, S. 49 – 63).
Ausgewählte Literatur Becker, Ulrich, und Thorsten Kingreen. Hrsg. 2018. SGB V – Gesetzliche Krankenversicherung, Kommentar. 6. Auflage. München: C. H. Beck. Reimer, Sonja. 2016. Überblick über Änderungen des SGB XI durch das Zweite Pflegestärkungsgesetz. In Die Sozialgerichtsbarkeit (SGb) 63. H. 5: 252 – 259. Udsching, Peter, und Bernd Schütze. Hrsg. 2018. SGB XI – Soziale Pflegeversicherung, Kommentar. 5. Auflage. München: C. H. Beck.
Alter, Betreuungsrecht und Vorsorgevollmacht Kathrin Becker-Schwarze
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Einleitung
Der viel beschriebene demografische Wandel wird selbstverständlich strukturelle Auswirkungen auf das Betreuungsrecht haben. Kommt es zu dem erwarteten Anstieg betreuungsbedürftiger Personen, stellt sich spätestens dann erneut die „Systemfrage“, ob das Betreuungsrecht den Anforderungen einer alternden Gesellschaft genügt (Schulte 2012, S. 24 ff.). Ist die Verortung im Bürgerlichen (Familien-)Recht der richtige Weg oder ist das Betreuungsrecht als ein Bestandteil der sozialen Daseinsvorsorge nicht dem Öffentlichen Recht zuzuweisen (Pitschas 2012, S. 61 ff.; Pitschas 2013, S. 137 ff.) ? Diese Grundsatzfragen sind nicht neu, sondern wurden anlässlich der vielen Reformen des Betreuungsrechts immer wieder gestellt. Nach Pitschas (2012, S. 62) ist „Betreuung im Gegensatz zu dieser individualrechtlichen, an Privatautonomie und Geschäftsfähigkeit orientierten familienrechtlichen Grundlegung in erster Linie eine an Prinzipien der sozialen Daseinsvorsorge orientierte, staatlich gesteuerte und gewährleistete Veranstaltung, die dieser Regelung auch bedarf “.
In der Folge müsse sich die Betreuung hin zur Ermöglichung sozialer Teilhabe betreuungsbedürftiger Volljähriger entwickeln. Das setze „einerseits die persönlichkeitsbezogene Unterstützung [Hervorh. i. Org.] in den Bereichen personaler, sozialer, kultureller und instrumenteller Kompetenzen für die Sicherung der lebenspraktischen Autonomie im Alltag voraus. Andererseits ist soziale Unterstützung [Hervorh. i. Org.] in allen Bereichen der sozialen Sicherung erforderlich“ (ebd., S. 63).
Hierbei betont Pitschas (ebd., S. 63) den Einbezug gerade sozialarbeiterischer Kompetenzen. Diese Frage ist bereits in Art. 12 der UN-Behindertenrechtskonvention © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_27
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(UN-BRK), die am 26. 03. 2009 für Deutschland rechtsverbindlich wurde (BGBl. II 2008 Nr. 35, 1419), angelegt (vgl. Degener 2016, S. 205 ff.). Nolting et al. verweisen auf den UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN 2015: Nummer 26 a und b), der in den „Abschließenden Bemerkungen über den ersten Staatenbericht Deutschlands“ empfohlen hat, alle Formen der ersetzenden Entscheidung abzuschaffen und ein System der unterstützten Entscheidung an ihre Stelle treten zu lassen sowie professionelle Qualitätsstandards für Mechanismen der unterstützten Entscheidung zu entwickeln (Nolting et al. 2018, S. 18). Deutschland hatte 2011 dargelegt, dass die Rechtslage in der Bundesrepublik Deutschland den Vorgaben der UN-BRK entspreche (vgl. ebd.). Gleichwohl wurde auf Wunsch der Konferenz der Justizminister/-innen der Länder unter der Leitung des damaligen Bundesministeriums der Justiz eine Interdisziplinäre Arbeitsgruppe zum Betreuungsrecht gebildet, die sich mit den Konformitätsfragen beschäftigen sollte. Diese Arbeitsgruppe hielt das deutsche Betreuungsrecht mit der UN-BRK für vereinbar, hielt aber eine stärkere Berücksichtigung des Grundsatzes der Erforderlichkeit für angebracht (vgl. ebd., S. 18, 19). Mit dem Gesetz zur Stärkung der Funktionen der Betreuungsbehörde vom 28. 08. 2013 (BGBl. I 3396) sollten die Vorschläge der Arbeitsgruppe umgesetzt und der Grundsatz der Erforderlichkeit gestärkt werden, um so der steigenden Zahl von Betreuungen zu begegnen. Ende 2015 gab das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz zwei wissenschaftliche Studien zur Umsetzung des Erforderlichkeitsgrundsatzes in der betreuungsrechtlichen Praxis im Hinblick auf vorgelagerte ‚andere Hilfen‘ unter besonderer Berücksichtigung des am 1. Juli 2014 in Kraft getretenen Gesetzes zur Stärkung der Funktionen der Betreuungsbehörde (Nolting et al. 2018) und zur Qualität in der rechtlichen Betreuung (Matta et al. 2018) in Auftrag. Die Abschlussberichte zu beiden Forschungsvorhaben wurden 2018 veröffentlicht. Die Ergebnisse der Studien werden sicherlich den Reformprozess in der Zukunft mitbestimmen (Fröschle 2018a, S. 110 ff., 2018b, S. 801 ff.). Im Folgenden kann es nur darum gehen, unter Beachtung dieser reformpolitischen Diskussion einen groben Überblick über die betreuungs- und vorsorgerechtlichen Strukturen zu geben, wobei das Thema ‚Rechte des Betreuers‘ und die vergütungsrechtlichen Fragen hier ausgespart werden.
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Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts
Das am 01. 01. 1992 in Kraft getretene Betreuungsgesetz (BGBl. I 1990, 2002) war sicher ein Meilenstein in der Entwicklung des Betreuungsrechts, löste es doch das Entmündigungsrecht sowie die Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige ab. Vor ausgegangen war die Psychiatrie-Enquete (1975) und der Bericht der Kommission für das Recht der freiwilligen Gerichtsbarkeit (1977), die u. a. das Verfahren, die hohe Entmündigungsrate und die Überlastung der Beteiligten kritisierten (Schulte 2011,
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S. 249 ff., 2012, S. 24 ff.). Mit dem Betreuungsgesetz (1992) sollten die Personensorge und das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen gestärkt werden. Das Selbstbestimmungsrecht ist seitdem das zentrale Grundprinzip des Betreuungsrechts und Kern der durch Art. 1 GG geschützten Menschwürde. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verletzt die Bestellung einer Betreuer/-in gegen den freien Willen der Betroffenen diese in ihrem Grundrecht aus Art. 2 I GG (dazu BVerfG 20/1/2015, Neue Juristische Wochenzeitschrift 2015, S. 1666). Die Betreuer/-innenbestellung hat nach § 1902 BGB zur Rechtsfolge, dass die Betreuer/-innen die Betreuten in ihrem jeweiligen Aufgabenbereich gerichtlich und außergerichtlich und damit gesetzlich vertreten. Dieser schwerwiegende Grundrechtseingriff, der dem Schutz der Betreuten vor „erheblichen Schädigungen, missbräuchlicher Einflussnahme, Ausbeutung und Fremdbestimmung“ (Matta et al. 2017, S. 3) gilt, bedarf dafür der gesetzlichen Grundlage, die einen solchen Eingriff rechtfertigt und verhältnismäßig zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechts ist. Fröschle (2018b, S. 804) hält unter Berufung auf Art. 12 II UN-BRK diesen Grundrechtseingriff nur dann für verhältnismäßig, wenn die Bestellung einer Betreuer/-in dazu führt, „dass die Möglichkeiten des Betroffenen zur Verwirklichung seiner Selbstbestimmung im Rechtsverkehr durch einen gesetzlichen Vertreter signifikant höher sind als die, die er ohne einen gesetzlichen Vertreter hat“ (vgl. ebd.).
Die Wahrung des Selbstbestimmungsrechts bezieht sich nicht nur auf die Frage des ‚Ob‘ einer Bestellung, sondern einfachgesetzlich muss im gesamten Betreuungsverfahren das Selbstbestimmungsrecht gewahrt sein (vgl. Münchener Kommentar zum BGB, Schwab, Vorbemerkung §§ 1896 ff. BGB, Rn. 10).
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Voraussetzungen der Betreuung
Die zentrale Norm im Betreuungsrecht ist § 1896 I BGB, wonach für Volljährige, die aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung ihre Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen können, durch das Betreuungsgericht eine Betreuer/-in bestellt werden kann. Jedoch dürfen nach § 1896 II BGB Betreuer/-innen nur für Aufgabenkreise bestellt werden, in denen die Betreuung „erforderlich“ ist. Dieser für das Betreuungsrecht so wichtige Grundsatz betrifft das ‚Ob‘ einer Betreuung und das ‚Wie‘ bezogen auf die Aufgabenkreise der Betreuer/-innen. Der Grundsatz der Erforderlichkeit bezieht sich auf das gesamte Betreuungsrecht, also nicht nur auf die Notwendigkeit einer Betreuer/-innenbestellung, sondern auch auf den Umfang des Aufgabenkreises der Betreuer/-innen, die Dauer der Betreuung und deren Auswirkungen. Sofern nach § 1896 II 2 BGB der Unterstützungsbedarf durch „andere Hilfen“ ebenso gut wie durch eine Betreuer/-in aufgefangen werden kann, ist eine rechtliche
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Betreuung nicht erforderlich. „Andere Hilfen“ sind gesetzlich nicht definiert, waren aber Gegenstand der Studie zur Umsetzung des Erforderlichkeitsgrundsatzes in der betreuungsrechtlichen Praxis im Hinblick auf vorgelagerte „andere Hilfen“ (Nolting et al. 2018). Ohne hier auf die Einzelheiten eingehen zu können, belegte die Studie, dass viele Betreuungen für die Beantragung und Durchsetzung von Sozialleistungen beantragt wurden. „Die rechtlichen Betreuer geben für 24 % aller Betreuungsvorgänge an, dass auf die Beantragung und Durchsetzung von Sozialleistungsansprüchen bei der Übernahme der Betreuung mehr als 90 % der gesamten Betreuungstätigkeit entfielen.“ (Nolting et al. 2017, S. 5)
Hier offenbart sich das bereits oben beschriebene Spannungsverhältnis, dass durch eine Sozialberatung Betreuungen vermieden werden könnten, diese betreuungsvermeidende Wirkung aber nicht eintritt. Fröschle (2018b, S. 804) sieht die Ursache dafür in der „Finanzierungslogik an der Schnittstelle zwischen Betreuungswesen und Sozialleistungsrecht“. „Die Kosten, die durch eine umfangreiche Beratung entstehen würden, können von der Kommune durch die Anregung einer Betreuung in den Landeshaushalt verschoben werden.“ (ebd.). Insofern fehle es hier an einer Anreizwirkung für die Kommunen (ebd.). Wie auch immer dieses Dilemma gelöst werden könnte, so ist Fröschle darin zuzustimmen, dass eine Betreuer/-innenbestellung gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aus Art. 12 Absatz 4 UN-BRK verstößt, wenn einem/einer Betreuten die Hilfe nicht gewährt wird, um ohne eine Betreuer/-in auszukommen (ebd.).
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Subsidiarität der rechtlichen Betreuung gegenüber der Vollmacht und Betreuungsverfügung
Dieser (subsidiären) Betreuer/-innenbestellung bedarf es dann nicht, wenn die Angelegenheiten durch eine/-n Bevollmächtigte/-n besorgt werden können (§ 1896 II BGB). Mit einer Vorsorgevollmacht legt die Vollmachtgeber/-in für den Zeitpunkt der Entscheidungsunfähigkeit eine Vertrauensperson mit Vertretungsmacht fest. Damit trägt das Gesetz dem Grundsatz der umfassenden Selbstbestimmung Rechnung. Zugleich sollen durch die Vorsorgevollmacht die Betreuungsfälle und die damit verbundenen Kosten reduziert werden, denn der/die Bevollmächtigte wird nicht vom Gericht bestellt. Obwohl die Vorsorgevollmacht gegenüber der rechtlichen Betreuung durchweg positiv bewertet wird, sollten bei diesem betreuungsvermeidenden Instrument wichtige Aspekte bedacht werden. Voraussetzung für die wirksame Vollmachtserteilung ist zunächst, dass die Vollmachtgeber/-in geschäftsfähig ist. Das kann in der Praxis dann zu einem Problem werden, wenn die Vollmachtgeber/-in kurz nach Erteilung der Vollmacht hilfebe-
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dürftig wird und sich dann die Frage stellt, ob er/sie zum Zeitpunkt der Vollmachtserteilung noch geschäftsfähig war. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) muss das Gericht bei Zweifeln an der Geschäftsfähigkeit von Amts wegen aufklären. Kann hierbei die Unwirksamkeit einer Vorsorgevollmacht nicht positiv festgestellt werden, ist die Vollmacht als wirksam zu behandeln (BeckOK BGB/MüllerEngels BGB § 1896 Rn. 27). Gleichwohl bleibt das Risiko, dass Dritte die Vollmacht unter Berufung auf diese Bedenken zurückweisen (BGH 3/2/2016, Neue Juristische Wochenzeitschrift 2016, S. 1514). Auch wenn die Vollmacht und ihre Wirkung mit der Entscheidungsunfähigkeit der Vollmachtgeber/-in verbunden sind, sollte die Vollmacht auf jeden Fall ‚unbedingt‘ erteilt werden, d. h. nicht erst bei Eintreten der Entscheidungsunfähigkeit, sondern mit Vorlage der Originalvollmacht. Bei einer ‚bedingten‘ Vollmacht muss positiv über die Entscheidungsunfähigkeit entschieden werden. Das kann in der Praxis, wenn schnelle Entscheidungen zu treffen sind, zu Problemen führen. Zudem sollte die Vollmacht möglichst alle möglichen Bereiche erfassen, um eine Betreuer/-innenbestellung für nicht genannte Angelegenheiten zu verhindern. Bei Entscheidungsunfähigkeit kann eine gegebene Vollmacht nicht widerrufen werden, auch werden die Vollmachtgeber/-innen nicht mehr in der Lage sein, die Bevollmächtigten zu kontrollieren. Das Betreuungsgericht kann diese Funktion erst dann ausüben, wenn Anhaltspunkte für eine Unredlichkeit, einen Missbrauch oder eine Überforderung vorliegen (BeckOK BGB/Müller-Engels BGB § 1896 Rn. 45). Dann besteht die Möglichkeit für das Betreuungsgericht einen Kontrollbetreuer (§ 1896 III BGB) zu bestel len. Insofern sollten die Vollmachtgeber/-innen diese betreuungsvermeidende Alternative nur dann wählen, wenn sie der Person ‚blind‘ vertrauen können (Fröschle 2018b, S. 805) und diese für diese Aufgaben auch geeignet ist. Die Befugnisse der Bevollmächtigten gehen über die der Betreuer/-innen hinaus, weil die Bevollmächtigten (bis auf die Ausnahmen in §§ 1904 BGB (Ärztliche Maßnahmen), 1906 BGB (Freiheitsentziehende Unterbringung und Maßnahmen)) für die sonstigen Geschäfte keiner gerichtlichen Genehmigung bedürfen und somit eine gerichtliche Kontrolle entfällt. Vollmachten, die allgemein gefasst sind, wie z. B. zur Vertretung in allen Angelegenheiten‚ erstrecken sich nicht auf gravierende ärztliche und Unterbringungsmaßnahmen. In diesen Fällen sollte die Vollmacht mit einer Patientenverfügung gekoppelt sein, in der die konkreten Befugnisse ausdrücklich genannt sind. Mit der Vollmacht wird ja das Vertretungsrecht nach außen gegenüber Dritten dokumentiert. Zwar haben die Bevollmächtigten im Innenverhältnis zu den Vollmachtgeber/-innen immer deren Interessen zu vertreten, dennoch ist zu raten, mit den Bevollmächtigten genauestens ihre Einstellungen zu bestimmten Bereichen abzuklären. Für Vorsorgevollmachten bestehen keine besonderen Formvorschriften. Ausnahmen bestehen bei Gesundheits- und Unterbringungsangelegenheiten, bei denen zumindest die Schriftform gefordert ist (§ 1904 V BGB, § 1906 V BGB). Zu empfehlen ist sicherlich wegen der Beweiskraft generell die Schriftform. Inzwischen wird häufig die Vollmacht notariell beurkundet. Auch wenn diese strenge Schriftform gesetz-
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lich nicht gefordert wird, ist damit die größte Rechtssicherheit verbunden. Anders als bei der öffentlichen Beglaubigung, mit der die Unterschrift des Vollmachtgebers/ der Vollmachtgeberin bestätigt wird, erfolgt bei einer notariellen Beglaubigung durch den/die Notar/-in eine inhaltliche Prüfung der Formulierungen auf deren Bestandskraft. Die Betreuungsbehörde kann die Vollmachtunterschrift kostengünstig beglau bigen. Die notarielle Beurkundung hat den großen Vorteil, dass die Vollmachtge ber/-innen über die rechtlichen Folgen ihrer Erklärung belehrt wurden und dass zum Zeitpunkt der Vollmachtserteilung geprüft wurde, ob die Betroffenen die für die Vollmachtserteilung erforderliche Geschäftsfähigkeit besitzen (§§ 11, 17 BeurkG). Aus diesem Grund bietet sich bei Immobiliengeschäften, wenn beispielsweise ein Haus von Vollmachtgeber/-innen verkauft werden muss, diese strenge Form der Beurkundung an. Für die Vertretung nach außen ist entscheidend, dass der/die Bevollmächtigte das Original der Vollmacht hat. Die Vollmacht kann an einem Ort zu Hause aufbewahrt werden, den der/die Bevollmächtigte kennt. Die Vollmachtsurkunde kann auch gleich an den/die Bevollmächtigte/-n gegeben werden oder die Urkunde wird einer Person treuhänderisch gegeben. Die Vollmachtsurkunde kann nach einer notariellen Beurkundung auch dort verwahrt bleiben oder kann bei dem Zentralen Vorsorgeregister der Bundesnotarkammer registriert werden (vgl. BMJV 2018, S. 39 – 40). Anders als bei der betreuungsersetzenden Vorsorgevollmacht, eröffnet die Betreuungsverfügung die Gestaltung der Betreuung. In einer solchen Betreuungsverfü gung, die eine Geschäftsfähigkeit nicht zwingend voraussetzt, können vorsorglich die Modalitäten einer späteren Betreuung festgelegt werden. In der Betreuungsverfügung könnten Personen, die zu Betreuer/-innen bestellt werden sollen, genannt werden, die für das Betreuungsgericht grundsätzlich bindend sind, wenn die vorgeschlagene Person auch zur Betreuer/-in bestellt werden kann und die Bestellung nicht dem Wohl des/der Betroffenen zuwiderläuft (§ 1897 IV BGB). Es kann auch in der Betreuungsverfügung negativ festgelegt werden, wer nicht als Betreuer/-in bestellt werden soll. Außerdem können in einer Betreuungsverfügung Wünsche gegenüber der Betreuer/-in hinsichtlich der Wahrnehmung der Betreuung festgelegt werden. Einer besonderen Form bedarf es zwar für eine solche Betreuungsverfügung nicht, gleichwohl ist die Schriftform dringend anzuraten. Auch Betreuungsverfügungen können im Zentralen Vorsorgeregister eingetragen werden, die dann vom Betreuungsgericht abgefragt werden. Damit das Betreuungsgericht auch Kenntnis von Betreuungsverfügungen, Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen erlangt, statuiert § 1901c BGB eine Ablieferungs- und Unterrichtungsverpflichtung für Personen, die unmittelbar im Besitz dieser Verfügungen sind. Über allgemeine betreuungsrechtliche Fragen, insbesondere über eine Vorsorge vollmacht und über andere Hilfen, bei denen keine Betreuer/-in bestellt wird, zu beraten und informieren, gehört nach § 4 Behördenbetreuungsgesetz (BtBG) zu den Aufgaben der Betreuungsbehörde (s. u.).
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Auswahl der Betreuer/-in
Nach § 1897 BGB bestellt das Betreuungsgericht eine Person, die geeignet ist, in dem gerichtlich bestimmten Aufgabenkreis die Angelegenheiten des/der Betreuten rechtlich zu besorgen und ihn/sie in dem hierfür erforderlichen Umfang persönlich zu betreuen. Dabei ist den Wünschen des/der Betreuten zu entsprechen, wenn es dem Wohl des/der Betreuten nicht zu widerläuft (§ 1897 IV 1 BGB). Hierunter fallen auch die in einer Betreuungsverfügung geäußerten Vorstellungen. Negative Wünsche des/ der Betreuten sind vom Betreuungsgericht zu berücksichtigen (§ 1897 IV 2 BGB). Insofern steht der Wunsch des/der Betreuten bei der Auswahl der Betreuer/-in im Vordergrund, sofern es dem objektiven Wohl nicht widerspricht. Das Gesetz nennt selbst Ausschlussgründe in § 1897 III BGB, wonach eine Person, die in einem Abhängigkeitsverhältnis zu einer Anstalt, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung steht und in dieser der Volljährige untergebracht ist oder wohnt, nicht zum/zur Be treuer/-in bestellt werden kann. Die „persönliche Betreuung“ meint den persönlichen Kontakt zwischen Betreuer/-innen und Betreuten und umfasst alle Tätigkeiten, die erforderlich sind, um die Angelegenheiten des/der Betreuten rechtlich zu besorgen. „Dabei hat der Betreuer den Betreuten zu beraten, ihm die Vor- und Nachteile einer Entscheidung aufzuzeigen, damit der Betreute nach Möglichkeit in die Lage versetzt wird, eine eigene Entscheidung zu treffen. Dies setzt aber wiederum voraus, dass der Betreuer mit dem Betreuten in Kontakt tritt.“ (Matta et al. 2018, S. 10)
Wenn keine Betreuer/-in durch den/die Betreute/-n vorgeschlagen ist, ist bei Auswahl auf die verwandtschaftlichen und sonstigen persönlichen Bindungen des/der Betreuten Rücksicht zu nehmen (§ 1897 V BGB). Findet sich hier auch keine Betreuer/-in, ist vorrangig eine ehrenamtlicher Betreuer/-in auszuwählen (§ 1897 VI 1 BGB). Erst dann besteht die Möglichkeit, eine Berufsbetreuer/-in (§ 1897 VI 1 BGB) zu bestellen. Das Betreuungsrecht geht also vom Grundsatz der ehrenamtlichen Betreuung aus. Dabei besteht prinzipiell auch die Möglichkeit mehrere Betreuer/-innen zu bestellen, wenn die Angelegenheiten des/der Betreuten hierdurch besser besorgt werden können (§ 1899 BGB). Erst wenn der/die zu Betreuende nicht durch einen oder mehrere natürliche Personen betreut werden kann, bestellt das Betreuungsgericht einen anerkannten Betreuungsverein zum Betreuer (§ 1900 I BGB). Kann die Betreuung auch nicht hinreichend durch einen Verein betreut werden, so bestellt das Betreuungsgericht die zuständige Behörde zum Betreuer (§ 1900 IV BGB).
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Weitere Beteiligte: Betreuungsgericht, Betreuungsbehörde
Neben den Betreuer/-innen sind Beteiligte im Betreuungsverfahren das Betreuungsgericht, die Betreuungsbehörde und Betreuungsvereine. Das Betreuungsgericht entscheidet u. a. über die Einrichtung der Betreuung, den Umfang der Betreuung (§ 1896 BGB), den Einwilligungsvorbehalt (§ 1903 BGB) und die Auswahl der Betreuer/-innen (§§ 1897, 1898, 1899 BGB). Zahlreiche Rechtshandlungen der Betreuer/-innen sind durch das Betreuungsgericht zu genehmigen (§§ 1904, 1906, 1906a, 1907, 1908 BGB). Zudem berät das Betreuungsgericht die Betreuer/-innen, führt in die Aufgaben ein (§§ 1908i, 1837 BGB) und führt die Aufsicht gegenüber den Betreuer/-innen (§§ 1908i, 1837 II BGB). Auch entscheidet das Gericht über die Entlassung der Betreuer/-innen nach § 1908b BGB. Der Betreuungsbehörde hat zum einen strukturell steuernde Aufgaben und einzelfallbezogene Steuerungsaufgaben (Matta et al. 2018, S. 13). Zu den ersteren Aufga ben zählen die Vorhaltung eines ausreichenden Angebots zur Einführung der Betreuer/-innen und Bevollmächtigten in ihre Aufgaben und zu ihrer Fortbildung (§ 5 BtBG). Nach § 6 I BtBG hat die Betreuungsbehörde zudem die Förderung der Tätigkeit einzelner Personen und Organisationen (Betreuungsvereine) zugunsten Betreuungsbedürftiger und die Aufklärung und Beratung über Vollmachten und Betreuungsverfügungen vorzunehmen (§ 6 I 2 BtBG). Wie bereits oben erwähnt nehmen speziell die Beratungsaufgabe zur Vorsorge vollmacht und die Beglaubigungen nach § 4 I BtBG einen breiten Raum der Aufga ben der Betreuungsbehörde ein (Nolting et al. 2018, S. 162). Auch wenn die Vorsorge vollmacht als die beste oder gar einzige wirksame ‚andere Hilfe‘ bezeichnet wurde und dadurch präventiv Betreuungen vermieden werden können, so ist der Hinweis von Fröschle nicht unberechtigt, dass die Betreuungsbehörden dennoch auf die Gefahren, die mit einer Vollmacht verbunden sein können, hinzuweisen haben (Fröschle 2018b, S. 804). Zu den weiteren Aufgaben zählt die von den Betreuer/-innen und Bevollmächtigten gewünschte Beratung und Unterstützung bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben (§ 4 III BtBG). Zudem hat sie nach § 5 BtBG dafür zu sorgen, dass in ihrem Bezirk ein ausreichendes Angebot zur Einführung der Betreuer/-innen und der Bevollmächtigten in ihre Aufgaben und zu ihrer Fortbildung vorhanden sind. Zudem unterstützt die Betreuungsbehörde das Betreuungsgericht bei der Gewinnung geeigneter Betreuer/-innen. Wenn sie vom Betreuungsgericht dazu aufgefordert wird, schlägt sie geeignete Personen als Betreuer/-innen oder Verfahrenspfleger/-innen vor (§ 8 II BtBG). Zudem erstellt die Betreuungsbehörde in dem gerichtlichen Anhörungsverfahren u. a. einen Bericht (§ 8 I BtBG) (vgl. Münchener Kommentar zum BGB, Vorbemerkung zu §§ 1896 ff. Schwab, Rn. 19). Da der Grundsatz des Vorrangs der ehrenamtlichen Betreuung gilt, kommt den Betreuungsvereinen in der Praxis eine wichtige Funktion zu. Nach § 1908f I Nr. 2
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muss der Betreuungsverein auch gewährleisten, dass er sich planmäßig um die Gewinnung ehrenamtlicher Betreuer/-innen bemüht, diese in ihre Aufgaben einführt, fortbildet und berät. Beratungstätigkeit gilt nach § 1908f I Nr. 2 BGB auch für Bevollmächtigte und nach § 1908f I Nr. 2a BGB soll der Betreuungsverein planmäßig über Vorsorgevollmachten und Betreuungsverfügungen informieren.
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Aufgaben der Betreuer/in
§ 1901 BGB regelt den Umfang der Aufgaben der Betreuer/-innen im Innenverhältnis zu den Betreuten. Nach § 1901 I BGB umfasst die Betreuung alle Tätigkeiten, die erforderlich sind, um die Angelegenheiten der Betreuten rechtlich zu besorgen. Zudem hat der/die Betreuer/-in nach § 1901 II BGB die Angelegenheiten so zu besorgen, wie es dem Wohl des/der Betreuten entspricht. Ferner gehören zum Wohl des/der Betreuten auch die Möglichkeiten, im Rahmen seiner/ihrer Fähigkeiten sein/ihr Leben nach seinen/ihren Wünschen und Vorstellungen zu genügen (§ 1901 II 2 BGB). „Dabei sind der eigene Lebensentwurf, die konkrete Lebenssituation, die Ressourcen und Fähigkeiten, die konkreten Auswirkungen seiner/ihrer Einschränkungen, die finanzielle Lage des/der Betreuten, nicht aber die Belange anderer Personen oder des/der Betreuers/ Betreuerin zu berücksichtigen.“ (Matta et al. 2018, S. 9)
Fröschle (2018a) sieht hier u. a. Reformbedarf, hinsichtlich des ‚Auch‘ nach § 1901 II 1 BGB, der auf eine objektive Bestimmung des Wohls des/der Betreuten schließen lässt (ebd., S. 111). Unter Berufung auf Art. 12 II UN-BRK sei es nicht mehr vertretbar, dass über das ‚Auch‘ das objektive Interesse des/der Betreuten für die Bestimmung des Wohls eine Rolle spiele. Dem „Wunsch des Betreuten ist nur dann nicht Folge zu leisten, wenn dessen Erfüllung höher rangige Rechtsgüter des Betreuten gefährden oder seine gesamte Lebens- und Versorgungssituation erheblich verschlechtern würde und nicht Ausfluss seines Selbstbestim mungsrechts ist“ (Matta et al. 2018, S. 10).
In § 1896 I 1 BGB wird von „Aufgabenkreisen“ gesprochen, für die Betreuer/-innen bestellt werden. Spezifiziert werden die Aufgabenkreise gesetzlich nicht. Sie werden grob danach unterschieden, ob diese die persönlichen oder die vermögensrechtlichen Angelegenheiten des/der Betreuten betreffen, wobei die Grenzen und Zuweisungen nicht trennscharf sind, z. B. bei dem Aufgabenkreis „Unterhalt und Versorgung“. Zu den persönlichen Aufgabenkreisen u. a. zählen: •• Aufenthaltsbetreuung •• Wohnungsfürsorge
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•• •• •• ••
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Gesundheitsfürsorge Umgang Verfahrensbetreuung Totenfürsorge
Es gibt auch die Möglichkeit, die Fürsorge für „alle Angelegenheiten“ anzuordnen. Hier ist aber auf § 1896 IV BGB hinzuweisen, weil der grundrechtlich geschützte Bereich des Fernmeldeverkehrs, das Öffnen und Anhalten der Post davon nicht automatisch erfasst ist.
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Gesundheitsfürsorge und Patientenverfügung
Die weiteren Ausführungen beschränken sich auf den Aufgabenkreis der Gesundheitsfürsorge und das damit in engem Zusammenhang stehende Instrument der Patientenverfügung. Wenn von Gesundheitsfürsorge gesprochen wird, sind damit die Untersuchung des Gesundheitszustandes, die Heilbehandlung und der ärztliche Eingriff gemeint. Dieser Aufgabenkreis kann allgemein oder nur bezogen auf bestimmte Krankheiten einer Betreuer/-in zugewiesen werden. Was die ärztliche Behandlung angeht, so gilt hier der Grundsatz, dass die betreute Person in die Behandlung einwilligen muss, solange sie einwilligungsfähig ist. Die Einwilligungsfähigkeit des/der Betreuten muss die Betreuer/-in jeweils im Einzelfall ermitteln. Allein die Tatsache, dass für den Aufgabenkreis ‚Gesundheitsvorsorge‘ eine Betreuung bestellt wurde, lässt nicht automa tisch auf Einwilligungsunfähigkeit schließen. Bei einer Einwilligungsunfähigkeit kann der Wille durch eine Patientenverfügung zum Ausdruck kommen. Nach § 630d BGB ist bei Einwilligungsunfähigkeit die Einwilligung eines/einer hierzu Berechtigten einzuholen, soweit nicht eine Patientenverfügung nach § 1901a I 1 BGB die ärztliche Maßnahme gestattet oder untersagt. In einer Patientenverfügung legt der/die Betreute nach § 1901a I BGB schriftlich fest, ob er/sie in bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht unmittelbar bevorstehende Untersuchungen seines/ihres Gesundheitszustandes, Heilbehandlungen und ärztliche Eingriffe einwilligt oder sie untersagt. Insofern geht ein in einer Patientenverfügung konkretisierter Wille der Einwilligung von Bevollmächtigten vor. Der Bundesgerichtshof hat das konkretisiert. Eine Patientenverfügung entfalte nur dann unmittelbare Bindungswirkung, wenn sie neben den Erklärungen zu den ärztlichen Maßnahmen, in die die Ersteller/-in einwilligt oder die er/sie untersagt, auch erkennen lässt, dass sie in der konkreten Behandlungssituation Geltung beanspruchen soll. Die schriftliche Äußerung, dass ‚lebensverlängernde Maßnahmen unterbleiben‘ sollen, enthält für sich genommen nicht die für eine bindende Patientenverfügung notwendige konkrete Behandlungsentscheidung des/der Betroffenen (siehe dazu BGH 14/11/2018, Neue Juristische Wochenzeitschrift 2019, S. 600; BGH 8/2/2017, Neue Ju-
Alter, Betreuungsrecht und Vorsorgevollmacht
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ristische Wochenzeitschrift 2017, S. 1737; BGH 6/7/2016; Deutsche Notar-Zeitschrift 2017, S. 199). Erst wenn die Patientenverfügung nicht vorliegt, oder die Festlegungen nicht auf die aktuelle Lebens- oder Behandlungssituation zutreffen, greift der mutmaßliche Wille des/der Betroffenen. Der/die Betreuer/-in muss dann die Wünsche oder den mutmaßlichen Willen ermitteln (§ 1901a II BGB). Die Einwilligung der Betreuer/-innen in eine Untersuchung, eine Heilbehandlung oder einen ärztlichen Eingriff bedarf dann der gerichtlichen Genehmigung durch das Betreuungsgericht, wenn die begründete Gefahr besteht, dass der/die Betreute aufgrund der Maßnahme stirbt oder einen schweren und länger andauernden gesundheitlichen Schaden erleidet (§ 1904 I 1 BGB). Keiner Genehmigung bedarf es in Eilfällen, wenn mit dem Aufschub eine Gefahr verbunden ist (§ 1904 I 2 BGB). Ebenso bedarf die Nichteinwilligung oder der Widerruf der Einwilligung des/der Betreuers/Betreuerin in die oben genannten Maßnahmen der Genehmigung des Betreuungsgerichts, wenn die Maßnahme medizinisch angezeigt ist und die begründete Gefahr besteht, dass der/die Betreute aufgrund des Unterbleibens oder des Abbruchs der Maßnahme stirbt oder einen schweren oder länger dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet (§ 1904 II BGB). Die gerichtlichen Genehmigungen sind nicht erforderlich, wenn zwischen Betreuer/-in und behandelndem Arzt/behandelnder Ärztin Einvernehmen darüber besteht, dass die Erteilung, die Nichterteilung oder der Widerruf der Einwilligung dem nach der Patientenverfügung festgestellten Willen des/der Betreuten entspricht (§ 1904 IV BGB). Hier muss § 1901b BGB beachtet werden, der bei einer Entscheidungsunfähigkeit des/der Betreuten eine Prüfung des behandelnden Arztes/der Ärztin, welche Maßnahme im Hinblick auf den Gesamtzustand und die Prognose indiziert ist, und eine Erörterung mit dem/der Betreuer/-in vorsieht. Diese Regelungen des § 1904 I – IV BGB gelten auch für Bevollmächtigte (§ 1904 V BGB).
9
Verfahren in Betreuungssachen
Das Verfahren in Betreuungssachen wird entweder durch den Antrag des/der Betroffenen selbst oder auch ohne Antrag von Amts wegen eingeleitet. Zuständiges Gericht ist das Betreuungsgericht beim Amtsgericht, in dessen Bezirk der/die Betroffene seinen/ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort hat. Es gilt der Grundsatz der Amtsermittlung (§ 26 FamFG). Der/die Betroffene ist ohne Rücksicht auf seine/ihre Geschäftsfähigkeit verfahrensfähig (§ 275 FamFG). Das Betreuungsgericht hat eine Verfahrenspfleger/-in für den Betroffenen/die Betroffene zu bestellen, wenn dies zur Wahrnehmung seiner/ihrer Interessen erforderlich ist (§ 276 FamFG). Das kann immer dann der Fall sein, wenn von einer persönlichen Anhörung des/der Betroffenen abgesehen werden soll (§ 276 I Nr. 1 FamFG) oder eine Betreuer/-in für alle Angelegenheiten bestellt bzw. der Aufgabenkreis der Betreuer/-in auf alle Angelegenheiten erweitert werden soll (§ 276 I Nr. 2 FamFG), außer es besteht hierfür offensichtlich
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Kathrin Becker-Schwarze
kein Interesse des/der Betroffenen (§ 276 II FamFG). Die Bestellung eines Verfahrenspflegers soll unterbleiben, wenn die Interessen des/der Betroffenen bereits durch einen Rechtsanwalt/eine Rechtsanwältin oder Verfahrensbevollmächtigte/-n vertreten werden (§ 276 IV FamFG). Der/die Betroffene ist vom Gericht persönlich anzuhören (§ 278 I FamFG), wobei dies aus persönlichen Gründen auch entfallen kann (§ 278 IV FamFG). Das Betreuungsgericht soll sich in dessen üblicher Umgebung einen Eindruck von dem/ der Betroffenen verschaffen und in geeigneten Fällen auch auf die Möglichkeit der Vorsorgevollmacht, deren Inhalt sowie auf die Möglichkeit ihrer Registrierung im zentralen Vorsorgeregister hinweisen (§ 278 II FamFG). Das Betreuungsgericht hat vor Bestellung der Betreuer/-in die sonstigen Beteiligten (§ 274 FamFG) und nach § 279 II FamFG die Betreuungsbehörde anzuhören. Die Anhörung gilt auch auf Verlangen des/der Betroffenen für ihm/ihr nahestehende Personen (§ 279 III FamFG). Zudem muss nach § 280 I FamFG vor Bestellung der Betreuer/-in eine förmliche Beweisaufnahme durch Einholung eines Sachverständigengutachtens über die Notwendigkeit der Maßnahme eingeholt werden. Bei dem/der Sachverständigen soll es sich um einen Arzt/eine Ärztin für Psychiatrie oder mit Erfahrungen auf diesem Gebiet handeln (§ 280 I S. 2 FamFG). Vor Erstattung des Gutachtens und unter Berücksichtigung der Stellungnahme der Betreuungsbehörde ist der/die Betroffene persönlich zu untersuchen und zu befragen (§ 280 II FamFG). Gesetzlich ist in § 280 II FamFG genau festgelegt, auf welche Bereiche sich das ärztliche Gutachten erstrecken muss. Von der Erstellung eines Sachverständigengutachtens kann nach §§ 281, 282 FamFG abgesehen werden. Die Entscheidung über die Betreuer/-innenbestellung ist dem/der Betroffenen, der Betreuungsbehörde und der Betreuer/-in bekannt zu machen. Wirksam wird die Entscheidung nach § 287 I FamFG durch die Bekanntgabe an den/die Betreuer/-in. Auf weitere Besonderheiten des Betreuungsverfahrens (wie z. B. einstweilige Anordnungen bei Eilfällen u. a.) soll hier verzichtet werden.
Ausgewählte Literatur Raack, Wolfgang, und Jürgen Thar. 2018. Leitfaden Betreuungsrecht. 7. Auflage. Köln: Bundesanzeiger. Pardey, Karl-Dieter, und Peter Kieß. 2018. Betreuungs- und Unterbringungsrecht. 6. Auflage. Baden-Baden: Nomos.
Alter und Verbraucherschutz Peter Rott
1
Einleitung
Das Verbraucherrecht ist eine Querschnittsmaterie aus vielen Bereichen des Privatrechts, aber auch des Öffentlichen Rechts und sogar des Strafrechts, die sich dadurch auszeichnet, dass sie den Verbraucher1 in den Mittelpunkt der Betrachtungen stellt. Mit dem Rückzug des Staats aus Bereichen, die früher der Daseinsvorsorge zuge ordnet waren, steigt die Bedeutung des Verbraucherschutzes. Zu diesen Bereichen gehören die Versorgung der Allgemeinheit mit lebenswichtigen Leistungen wie Strom, Gas und Telekommunikationsdienstleistungen wie auch Bereiche, die alte Menschen besonders betreffen, etwa Altersvorsorge, Heimunterbringung und Pflege. Alte Menschen sind zugleich zu aktiven, zahlungskräftigen und damit wirtschaftlich attraktiven Kunden geworden, soweit sie nicht von Altersarmut betroffen sind, sodass sich die werbende Ansprache seitens der Wirtschaft zunehmend spezifisch an ältere Menschen wendet. Hieraus ergeben sich idealtypisch zwei Schienen des Verbraucherschutzes in Bezug auf das Alter: der Schutz von schwachen, abhängigen alten Menschen und der Schutz der wirtschaftlichen Entscheidungsfreiheit am Markt agierender alter Menschen. Letzterer ist weitgehend durch das Verbraucherrecht der EU überformt. Rele vant ist schließlich die Frage der kollektiven Rechtsdurchsetzung, da die schon bei jüngeren Menschen beschränkte Bereitschaft und Fähigkeit zu individueller Rechts-
1 Zahlreiche der in diesem Beitrag verwendeten Begriffe werden vom deutschen und vom europäischen Gesetzgeber und, da dieser Beitrag sich auf die rechtlichen Vorgaben bezieht, auch im Folgenden nur in der männlichen Form verwendet. Dies gilt insbesondere, aber nicht nur, für die Begriffe „Verbraucher“, „Durchschnittsverbraucher“, „Unternehmer“, „Heimbetreiber“ oder „Pflegebedürftiger“. Selbstverständlich sind Verbraucherinnen, Unternehmerinnen usw. ebenso wie Diverse inhaltlich erfasst. Zu Verbesserungsvorschlägen vgl. Maier (2018). © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_28
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Peter Rott
durchsetzung im Alter noch weiter gemindert sein können. Tatsächlich scheinen eher die Angehörigen von älteren Menschen Rechtsrat zu suchen als die Betroffenen selbst.
2
Schutz der wirtschaftlichen Entscheidungsfreiheit
2.1
Lauterkeitsrecht
Geschäftsfähige alte Menschen können uneingeschränkt Verträge abschließen und sind daher Adressat/-innen kommerzieller Kommunikation seitens der Unternehmen. Dieser Bereich ist durch die Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern geregelt, die in ihrer Generalklausel unlautere Geschäftspraktiken verbietet. Was unlauter ist, definiert Art. 5 (2) der Richtlinie wie folgt: Eine Geschäftspraxis ist unlauter, wenn (a) sie den Erfordernissen der beruflichen Sorgfaltspflicht widerspricht und (b) sie in Bezug auf das jeweilige Produkt das wirtschaftliche Verhalten des Durchschnittsverbrauchers, den sie erreicht oder an den sie sich richtet oder des durchschnittlichen Mitglieds einer Gruppe von Verbrauchern, wenn sich eine Geschäftspraxis an eine bestimmte Gruppe von Verbrauchern wendet, wesentlich beeinflusst oder dazu geeignet ist, es wesentlich zu beeinflussen. Mit dem Begriff des Durchschnittsverbrauchers rekurriert die Richtlinie auf die langjährige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, der den Durchschnittsverbraucher als angemessen gut unterrichtet und angemessen aufmerksam und kritisch beschreibt (vgl. Erw.Gr. 18). Dieses Leitbild wurde schon hinsichtlich Menschen durchschnittlichen Alters und durchschnittlicher Bildung als unrealistisch kritisiert, und tatsächlich scheint der Europäische Gerichtshof (EuGH) neuerdings das reale Verhalten und die realen Erkenntnismöglichkeiten wieder stärker in den Blick zu nehmen.2 Der EU-Gesetzgeber hatte aber selbst schon in der Richtlinie 2005/29/EG die besondere Schutzbedürftigkeit einiger Verbrauchergruppen berücksichtigt. Nach Art. 5 (3) werden Geschäftspraktiken, die voraussichtlich in einer für den Gewerbetreibenden vernünftigerweise vorhersehbaren Art und Weise das wirtschaftliche Verhalten nur einer eindeutig identifizierbaren Gruppe von Verbrauchern wesentlich beeinflussen, die aufgrund von geistigen oder körperlichen Gebrechen, Alter oder Leichtgläubigkeit im Hinblick auf diese Praktiken oder die ihnen zugrunde liegenden Produkte besonders schutzbedürftig sind, aus der Perspektive eines durchschnittlichen Mitglieds dieser Gruppe beurteilt. Der Begriff ‚Alter‘ erfasst dabei nach allge meiner Ansicht sowohl Kinder und Jugendliche als auch ältere Menschen (vgl. Sosnitza 2016, Rn. 162; zweifelnd Köhler 2019, Rn. 5.22). Das Folgeproblem besteht darin, Geschäftspraktiken zu identifizieren, die gruppenspezifisch alte Menschen anders beeinflussen als den Durchschnittsverbraucher. 2 EuGH, 04. 06. 2015, C-195/14 – Teekanne, ECLI:EU:C:2015:361.
Alter und Verbraucherschutz
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Dies ist bei alterstypischen Produkten wie Reinigungsmitteln für dritte Zähne oder Senioren-Kreuzfahrten oder bei der Ansprache in alterstypischen Situationen wie in Altersheimen oder auf Senioren-Busreisen denkbar, kann aber auch bei Werbung der Fall sein, die sich an die gesamte Bevölkerung richtet, aber bei unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen unterschiedlich wirkt. Tatsächlich ist Rechtsprechung zur besonderen Schutzbedürftigkeit älterer Menschen nicht ersichtlich, das Problem ist aber im rechtlich gleichgelagerten Gebiet der Werbung, die sich an Kinder oder Jugendliche richtet, deutlich geworden (dazu Jahn/Palzer 2014).3 Kann die Geschäftspraktik als altersbezogen identifiziert werden, stellt sich die Anschlussfrage nach den Besonderheiten der Erkenntnismöglichkeiten alter Menschen. Bei letzteren kann nämlich nicht generell von besonderer Schutzbedürftigkeit ausgegangen werden (Fritzsche 2016, S. 892). Insbesondere kann kaum noch davon ausgegangen werden, dass ältere Menschen weniger erfahren in der Nutzung des Internet sind als jüngere Menschen. Erforderlich ist, dass die Angesprochenen altersbedingt nicht mehr über die Kenntnisse, Aufmerksamkeit oder Kritikfähigkeit verfügen, die einem Durchschnittsverbraucher zugesprochen werden, und daher für bestimmte geschäftliche Handlungen oder die ihnen zugrunde liegenden Produkte besonders anfällig sind (vgl. Erw.Gr. 19 der Richtlinie 2005/29/EG). Praktische Wirkung für den Schutz Älterer hat das Lauterkeitsrecht aufgrund seiner engen Voraussetzungen bisher nicht gezeigt. 2.2
Allgemeine Geschäftsbedingungen
In der Entscheidung Kásler vom April 2014 hat der EuGH den Maßstab des Durchschnittsverbrauchers ins Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) übertragen.4 Nach dem durch die Richtlinie 93/13/EWG überformten AGB-Recht der §§ 307 ff. BGB sind Vertragsklauseln unwirksam, wenn sie den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen. Eine unangemessene Benachteiligung kann sich nach § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB u. a. daraus ergeben, dass die Bestimmung nicht klar und verständlich ist. Anders als im Lauterkeitsrecht sind Sonderregeln für bestimmte Personengruppen hier nicht explizit vorgesehen. Dennoch kann die Rechtsprechung Besonderheiten bei der Auslegung berücksichtigen.5 Das Alter kann zudem bei der Einbeziehung von AGB Bedeutung gewinnen, die nach § 305 Abs. 2 BGB neben einem ausdrücklichen Hinweis auf die AGB die Mög3 Vgl. die „Runes of Magic“-Urteile: BGH, 17. 07. 2013, I ZR 34/12, NJW 2014, 1014, und BGH, 18. 09. 2014, I ZR 34/12, GRUR 2014, 1211. 4 EuGH, 30. 04. 2014, C-26/13 – Kásler, ECLI:EU:C:2014:282. 5 So etwa BGH, 05. 06. 2013, VIII ZR 131/12, JZ 2014, 358, zu Zahlungsmöglichkeiten in Gaslieferungsverträgen, die kontolosen Menschen nicht zur Verfügung stehen.
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Peter Rott
lichkeit voraussetzt, in zumutbarer Weise von den AGB Kenntnis zu nehmen. Dazu gehören u. a. eine entsprechende Schriftgröße und ein entsprechender Kontrast. 2.3
Haustürgeschäfte und Fernabsatzverträge
Das ebenfalls weitestgehend EU-rechtlich, mittlerweile durch die VerbraucherrechteRichtlinie 2011/83/EU determinierte Recht der außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossenen Verträge, im deutschen Recht in den §§ 312b ff. BGB verankert, sieht zwar keine spezifischen Regelungen für ältere Menschen vor, ist aber traditionell gerade für diese relevant, weil ältere Menschen eine besondere Zielgruppe von Haustürwerbern, aber auch von Organisatoren von Freizeitveranstaltungen wie Busreisen sind. Problematisch bei diesen Situationen ist zunächst der Überraschungseffekt, mit dem Angebot von Waren oder Dienstleistungen konfrontiert zu werden, ohne einen Preis- und Qualitätsvergleich mit ähnlichen Waren oder Dienstleistungen vornehmen zu können. Hinzu kommt oftmals psychischer oder gar physischer Druck, einen Vertrag abzuschließen. Seit Inkrafttreten des Haustürwiderrufsgesetzes von 1986 hat der Verbraucher bei solchen Geschäften ein aus dem EU-Recht stammendes, mittlerweile in § 312g BGB verankertes Widerrufsrecht, über das der Unternehmer den Verbraucher informieren muss. Dieses Widerrufsrecht soll die Entschließungsfreiheit des Verbrauchers über den Vertragsschluss hinaus sichern. Er kann noch einmal in Ruhe nachdenken, ob die Ware oder Dienstleistung wirklich benötigt wird, aber auch recherchieren, ob sie anderweitig günstiger zu erhalten ist. Innerhalb einer Frist von 14 Tagen (§ 355 Abs. 2 BGB) kann er den Vertrag daher ohne Begründung widerrufen. Informiert der Unternehmer nicht korrekt über das Widerrufsrecht, was nicht selten vorkommt, so verlängert sich die Widerrufsfrist um ein Jahr (§ 356 Abs. 3 BGB). Das Widerrufsrecht ist auch neben Informationspflichten das Hauptinstrument des Verbraucherschutzes bei Fernabsatzverträgen i. S. d. § 312c BGB, die gerade bei älteren Menschen mit eingeschränkter Mobilität von Bedeutung sein können. In die Kategorie der Fernabsatzverträge fallen u. a. Verträge, die im Internet oder telefonisch abgeschlossen werden. Hier liegt das gegenüber anderen Verträgen erhöhte Schutzbedürfnis insbesondere darin begründet, dass man den Unternehmer nicht kennt und die Ware vor deren Erhalt nicht gesehen hat und sie auch nicht prüfen konnte. 2.4
Finanzdienstleistungen
Finanzdienstleistungen sind für alle Bevölkerungsgruppen besonders gefährlich, weil einerseits Finanzdienstleistungen als Vertrauensgüter für Verbraucher schwer erfassbar sind und andererseits die finanziellen (und sozialen) Folgen von Fehlentscheidun gen besonders gravierend sein können. Daher sehen etwa das Verbraucherkreditrecht
Alter und Verbraucherschutz
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und das Anlegerschutzrecht über die bloße Information hinausreichende Erläuterungs- oder Beratungspflichten vor. Für ältere Menschen gibt es im deutschen Recht zwar keine Spezialregelungen, das Alter kann aber bei der Anwendung allgemeiner Regeln eine Rolle spielen. So ist im Rahmen der Kreditwürdigkeitsprüfung von Bedeutung, ob der Kreditnehmer während der Kreditlaufzeit in Rente geht und sich damit seine Rückzahlungsmöglichkeit verringert.6 Im Anlegerschutzrecht gilt der Grundsatz der anlegergerechten Beratung: Die persönlichen Verhältnisse des Kunden, insbesondere sein Wissensstand, seine Risikobereitschaft und sein Anlageziel, sind zu berücksichtigen. Hat ein älterer Mensch den Wunsch, das Ersparte sicher anzulegen, um die Rente aufzubessern, so kann die (zumeist den Provisionsinteressen geschuldete) Vermittlung einer riskanten Anlage zu Schadensersatz wegen Verletzung eines Beratungsvertrags führen.7 Zu einem wichtigen neuen Gebiet könnten die sog. Immobilienverzehrkredite (equity release) werden. Bei Immobilienverzehrkrediten wird das Eigenheim an die Bank veräußert, die dafür eine lebenslange Rente bezahlt und gleichzeitig Wohnrecht gewährt. Es handelt sich damit um eine Finanzdienstleistung speziell für Menschen, die ihre laufenden Ausgaben aus dem Einkommen nicht mehr bestreiten können, aber ihr Eigenheim zu Leibzeiten nicht mehr verlassen wollen. Eine (dringend notwendige) gesetzliche Regelung für derartige Verträge gibt es bislang nicht, aus dem Anwendungsbereich der Immobilienverbraucherdarlehensverträge sind sie nach § 491 Abs. 3 Satz 3 BGB ausdrücklich ausgeschlossen.
3
Spezieller Verbraucherschutz für ältere Menschen
3.1
Heimpflege
Die Heimpflege weist neben den sozialrechtlichen Verhältnissen zwischen dem Heimbetreiber und der Pflegeversicherung einerseits und dem Leistungsempfänger und der Pflegeversicherung andererseits als dritten Schenkel des ‚pflegerechtlichen Dreiecks‘ ein zivilrechtliches Verhältnis zwischen Heimbetreibern und Pflegebedürftigen als Verbrauchern auf. Das gilt unabhängig davon, dass Heimbetreiber unmittelbar mit der Pflegeversicherung abrechnen. Allerdings wirkt das Sozialrecht auf dieses Vertragsverhältnis ein (Drasdo 2012; dazu sogleich). Hinzu tritt öffentlich-rechtlicher Schutz der Heimbewohner/-innen, seit der Föderalismusreform von 2006 durch die Heimgesetze der Länder. Einigkeit besteht darüber, dass jedenfalls ein Vertrag über reine Pflege- und Betreuungsleistungen nicht als Behandlungsvertrag i. S. d. § 630a BGB zu qualifizieren ist (BT-Drs. 17/10488, S. 17). Vielmehr handelt es sich um einen gemischt-typischen 6 Vgl. LG Berlin, 24. 09. 2010, 4 O 482/09, BKR 2011, 17. 7 Vgl. etwa BGH, 14. 07. 2009, XI ZR 152/08, NJW 2009, 3429.
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Vertrag mit Elementen der Miete, des Dienstvertrags, des Werkvertrags und ggf. auch des Kaufvertrags.8 Daneben hat der Gesetzgeber mit dem 2009 erlassenen Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz (WBVG) ein spezielles Verbraucherschutzgesetz verabschiedet (ausf. Drasdo 2010; Weber 2010; Tamm 2016), das das Heimgesetz ablöste, das trotz seines grundsätzlich öffentlich-rechtlichen Charakters bereits Mindestanforderungen an den Vertragsabschluss und -inhalt zum Schutz der Bewohner/-innen enthielt. Die im WBVG enthaltenen Schutzvorschriften sind nach § 16 WBVG zwingendes Recht. Das WBVG findet nach seinem § 1 Anwendung auf Verträge zwischen einem Unternehmer und einem volljährigen Verbraucher, in dem sich der Unternehmer zur Überlassung von Wohnraum und zur Erbringung von Pflege- oder Betreuungsleistungen verpflichtet, die der Bewältigung eines durch Alter, Pflegebedürftigkeit oder Behinderung bedingten Hilfebedarfs dienen (zu Einzelheiten und zur Abgrenzung zu betreutem Wohnen Weber 2010, S. 338 f.; Tamm 2016, S. 371 f.). Alter ist also keine Voraussetzung für die Anwendung des WBVG, aber doch der häufigste Fall. Auch im Bereich der Heimpflege will der Gesetzgeber zunächst durch umfangreiche vorvertragliche Informationspflichten (§ 3 WBVG) die Entscheidungsfreiheit der Pflegebedürftigen gewährleisten. Die Informationspflichten beziehen sich auf das allgemeine Leistungsangebot des Unternehmers (Ausstattung und Lage des Gebäudes etc. sowie die nach § 115 Abs. 1a Satz 1 SGB XI zu veröffentlichenden Ergebnisse von Qualitätsprüfungen) sowie auf diejenigen Leistungen, die für den konkreten Verbraucher in Betracht kommen. § 7 WBVG enthält die zentralen Pflichten des Unternehmers und des Verbrauchers. § 7 Abs. 1 WBVG legt fest, dass der Unternehmer verpflichtet ist, die vertraglich vereinbarten Pflege- oder Betreuungsleistungen nach dem allgemein anerkannten Stand fachlicher Erkenntnisse zu erbringen. Dies überträgt den sozialrechtlichen Maßstab der §§ 11 Abs. 1 Satz 1, 28 Abs. 3 SGB XI in das Vertragsverhältnis zwischen Unternehmer und Verbraucher. Die Zahlungspflicht des Verbrauchers ist in § 7 Abs. 2 WBVG verankert. Dabei muss das Entgelt insgesamt und nach seinen Bestandteilen im Verhältnis zu den Leistungen angemessen sein; dies ist gerichtlich überprüfbar. In Verträgen mit Verbrauchern, die Leistungen nach dem SGB XI oder XII in Anspruch nehmen, gilt die aufgrund der dort maßgeblichen Bestimmungen festgelegte Höhe des Entgelts als vereinbart und angemessen. Im Falle der Nicht- oder Schlechtleistung kann der Verbraucher in Abweichung vom Dienstvertragsrecht der §§ 611 ff. BGB nach § 10 WBVG Minderung verlangen; die Minderung tritt – anders als beim Mietvertrag –
8 So etwa BGH, 05. 07. 2001, III ZR 310/00, NJW 2001, 2971; BGH, 13. 02. 2003, III ZR 194/02, NJW 2003, 1453, 1454.
Alter und Verbraucherschutz
343
nicht automatisch ein,9 was von Pflegebedürftigen verlangt, sich mit der Heimleitung auseinanderzusetzen (krit. Drasdo 2016). Ändert sich der Pflege- oder Betreuungsbedarf des Verbrauchers, so muss ihm der Unternehmer nach § 8 Abs. 1 WBVG eine entsprechende Leistungsanpassung anbieten, wenn er dies nicht von vornherein schriftlich ausgeschlossen hat und an dem Ausschluss ein berechtigtes Interesse hat, § 8 Abs. 4 WBVG, etwa weil ein neuer Betreuungsbedarf von seinem Leistungskonzept nicht erfasst ist (Tamm 2016, S. 377). Damit einher geht eine entsprechende Änderung der Vergütung. Auch hier ist eine vertragliche Einigung erforderlich. Dies gilt nach § 8 Abs. 2 WBVG aber nicht bei Verbrauchern, die Leistungen nach dem SGB XI oder XII in Anspruch nehmen. Einer Entgelterhöhung aufgrund einer Änderung der Berechnungsgrundlage, etwa der Lohnkosten, muss der Verbraucher nach § 9 WBVG stets zustimmen; sie ist zulässig, wenn sie angemessen ist. Dem Verbraucher steht nach § 11 Abs. 1 Satz 2 WBVG ein Sonderkündigungsrecht zu. Einseitige Entgelterhöhungen sind – anders als noch unter dem HeimG – nach § 16 WBVG unwirksam. Das gilt auch dann, wenn sie lediglich eine neue sozialrechtliche Vereinbarung umsetzen, denn auch dann muss der Verbraucher die Möglichkeit haben, eine informierte Entscheidung darüber zu treffen, ob er vielleicht nach § 11 Abs. 1 Satz 2 WBVG kündigen und in ein anderes Pflegeheim umziehen möchte.10 § 4 WBVG enthält Abweichungen vom Mietrecht des BGB, die der Tatsache, dass der Wohn- und Betreuungsvertrag auf Lebenszeit angelegt ist, Rechnung tragen sollen. So ist der Vertrag grundsätzlich unbefristet zu schließen; die Kündigung des Vertrags ist dem Unternehmer nach § 12 WBVG nur aus wichtigem Grund möglich.11 Der Verbraucher kann hingegen nach § 11 WBVG spätestens am dritten Werktag eines Kalendermonats zum Ablauf desselben Monats kündigen. Außerdem steht ihm eine Art Probezeit von zwei Wochen nach Vertragsschluss zu, in der er jederzeit fristlos kündigen kann. Hinzu kommen außerordentliche Kündigungsrechte bei Entgelterhöhung und fristlos bei Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Vertrags. Mit dem Tod des Verbrauchers endet nach § 4 Abs. 3 WBVG das Vertragsverhältnis, lediglich für die Überlassung des Wohnraums kann die Fortgeltung des Vertrags gegen Fortzahlung der darauf entfallenden Entgeltbestandteile für einen Zeitraum von maximal zwei Wochen nach dem Sterbetag des Verbrauchers vereinbart werden.
9 Vgl. OLG Düsseldorf, 04. 04. 2011, 24 U 130/10, NJW-RR 2011, 1683; OLG Frankfurt, 30. 10. 2013, 1 U 153/12, NJW-RR 2014, 688. 10 Ausf. BGH, 12. 05. 2016, III ZR 279/15, NJW-RR 2016, 944. 11 Vgl. etwa OLG Frankfurt, 22. 07. 2016, 8 W 38/16, NJW-RR 2016, 1394 (Schreiattacken); LG Essen, 18. 03. 2013, 1 O 181/12, NZM 2014, 554 (sexuelle Übergriffe auf wehrlose Mitbewohnerin); LG Freiburg, 05. 07. 2012, 3 S 48/12, NZM 2013, 286 (renitentes Fehlverhalten).
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3.2
Peter Rott
Ambulante Pflege
Sozialrechtlich geregelt ist der Pflegevertrag in § 120 SGB XI, der wie früher das Heimrecht auf das Zivilrecht ausstrahlt, indem er die Vertragsfreiheit durch Vereinbarungen zwischen Kostenträgern (Pflegekassen) und Leistungsträgern (Anbieterverbänden) stark einschränkt (Roth 2013, S. 462 f.). Eine Überprüfung der Pflegeverträge durch die Pflegekassen findet allerdings regelmäßig nicht statt. Teilweise findet sich öffentlich-rechtlicher Verbraucherschutz im Landesrecht, so etwa im Hessischen Gesetz über Betreuungs- und Pflegeleistungen (HGBP), aber auch dort liegt der Schwerpunkt deutlich auf der Heimpflege. Für die trotz der nach § 120 Abs. 4 SGB XI unmittelbar mit der Pflegekasse vorzunehmende Abrechnung als Dienstvertrag i. S. d. § 611 BGB einzuordnende Vertragsbeziehung zwischen dem Pflegedienst und dem Pflegebedürftigen existiert kein dem WBVG entsprechendes Regelwerk, obwohl die praktische Relevanz der häuslichen Pflege mindestens ebenso hoch ist wie die der Heimpflege (Roth 2013, S. 457 ff., 462 ff.). Verbraucherschutz findet hier im Wesentlichen über die AGB-Kontrolle statt. Das Entgelt für die Pflegeleistungen entrichtet zwar grundsätzlich die Pflegekasse, der Pflegebedürftige kann aber zusätzliche Leistungen in Anspruch nehmen, für die er selbst zahlt. Insofern begrenzt § 120 Abs. 4 Satz 2 SGB XI die Vergütung auf das nach § 89 SGB XI Vereinbarte. Danach muss die Vergütung einem Pflegedienst bei wirtschaftlicher Betriebsführung ermöglichen, seine Aufwendungen zu finanzieren und seinen Versorgungsauftrag zu erfüllen unter Berücksichtigung einer angemesse nen Vergütung seines Unternehmerrisikos. Preiserhöhungsklauseln sind zulässig, Preiserhöhungen müssen aber nach der Rechtsprechung mindestens zwei Wochen vor ihrem Wirksamwerden angekündigt werden.12 Preiserhöhungen, die über die Vorgaben des § 89 SGB XI hinausgehen oder intransparent sind, sind unwirksam.13 Ein dem § 10 WBVG vergleichbares Minderungsrecht bei mangelhafter Pflegeleistung kennen weder § 120 SGB XI noch die §§ 611 ff. BGB.14 Allerdings hat der BGH bei einem Pflegevertrag, der auf das SGB V verwies, entschieden, dass der Vergütungsanspruch gegen den Versicherten erlischt, wenn die über die Sachleistung hinausgehende Pflege nicht durch qualifiziertes Pflegepersonal erbracht wird.15 Dies scheint auf einen Pflegevertrag nach § 120 SGB XI übertragbar. Da es sich bei der Pflegebehandlung um Dienste höherer Art handelt, kann der Verbraucher den Vertrag nach § 627 Abs. 1 BGB jederzeit und ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist kündigen. AGB-Klauseln, die Kündigungsgründe benennen oder Fristen festlegen, sind unwirksam.16 Umgekehrt ist der Pflegedienst bei der Kündi12 OLG Stuttgart, 31. 07. 2008, 2 U 17/08, SRa 2010, 228. 13 Vgl. OLG Naumburg, 19. 12. 2008, 10 U 38/08, 14 Dazu BGH, 08. 10. 2015, III ZR 93/15, VersR 2016, 1125. 15 ibid. 16 Vgl. BGH, 09. 06. 2011, III ZR 203/10, NJW 2011, 2955.
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gung nach § 627 Abs. 2 BGB zur Rücksichtnahme verpflichtet, damit sich der Verbraucher die notwendigen Pflegedienste anderweitig beschaffen kann. Unwirksam sind auch die häufigen Klauseln, mit denen sich der Pflegedienst von der Haftung für den fahrlässigen Verlust von Schlüsseln freizeichnet.17 3.3
Versorgung mit Strom, Gas und Telekommunikationsdienstleistungen
Die Versorgung mit Strom, Gas und Telekommunikationsdienstleistungen wurde seit den 1980er Jahren sukzessive liberalisiert und privatisiert. Die Versorgung erfolgt aufgrund privatrechtlicher Verträge. Verbraucherschutz in diesem Bereich verfolgt unterschiedliche Zielsetzungen. Zum einen sollen spezielle Informationspflichten und das Recht, kostenlos den Versorger zu wechseln, den Verbraucher befähigen, das beste Angebot am (liberalisierten) Markt wahrzunehmen. Für Kunden, die weniger aktiv sind oder die aufgrund ihrer geografischen Lage oder – vor allem – aufgrund durch Schufa-Eintrag belegter Zahlungsschwierigkeiten für Versorger nicht interessant sind, sieht das EU-Recht die sog. Universaldienstleistungen vor, mittels derer jedermann Zugang zu Energie und Telekommunikationsdienstleistungen zu erschwinglichen Preisen erhalten soll. Wesentliches Element ist ein Kontrahierungszwang, dem ein oder mehrere Grundversorger unterliegen (ausf. Rott und Willett 2018). Schließlich widmet sich das EU-Recht auch im Bereich der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse den sog. vulnerable customers, etwas unzureichend übersetzt mit „besonders schutzbedürftigen Verbrauchern“. Hintergrund ist vor allem das Phänomen der Energiearmut (vgl. Art. 28 und 29 der Richtlinie (EU) 2019/944). Einkommensschwachen Menschen drohen Versorgungssperren, wenn sie ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen können, denn auch der Grundversorger ist im Grundsatz nur zur Lieferung von Energie bzw. zur Erbringung von Telekommunikationsdienstleistungen verpflichtet, solange die Kunden die Rechnung bezahlen. Versorgungssperren können vulnerable customers härter treffen als Durchschnittsverbraucher, weshalb die Mitgliedstaaten aufgefordert sind, für erstere besondere Schutzmaßnahmen vorzusehen. Hier haben Mitgliedstaaten neben behinderten Menschen und Familien mit kleinen Kindern auch ältere Menschen in den Blick genommen, z. B. weil diese im Winter anfälliger für Erkältungskrankheiten sind und damit vor allem beim Abschalten der Heizung in Lebensgefahr geraten können und weil sie wegen eingeschränkter Mobilität auf ein Telefon angewiesen sind. Im deutschen Recht ist dieser Schutz allerdings im Verbraucherrecht nur in der sehr allgemeinen Formulierung zu finden, dass die Versorgung nicht unterbrochen werden darf, wenn die Folgen der Unterbrechung außer Verhältnis zur Schwere der Zuwiderhandlung stehen (z. B. § 19 Abs. 2 Satz 2 Stromgrundversorgungsverordnung). Im 17 Vgl. etwa OLG Stuttgart, 31. 07. 2008, 2 U 17/08, SRa 2010, 228.
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Peter Rott
Übrigen setzt der deutsche Gesetzgeber auf sozialrechtliche Mechanismen, mit denen verhindert werden soll, dass es zu Zahlungsrückständen und in deren Folge zu Versorgungssperren kommt, was in der Praxis aber nur unzureichend funktioniert (ausf. Rott 2016, S. 195 ff.).
4
Kollektive Durchsetzung des Verbraucherschutzes
Als Element der kollektiven Durchsetzung des Verbraucherschutzes kann man zunächst die öffentlich-rechtliche Durchsetzung ansehen, die allerdings primär im Bereich der Pflege und dort in den meisten Bundesländern nur im Bereich der Heimpflege eingreift. Öffentlich-rechtliche Durchsetzung jedenfalls kollektiver Verbraucherinteressen ist auch den sektorspezifischen Regulierungsbehörden möglich. Die Bundesnetzagentur hat Aufgaben zum Schutz der Verbraucher in den Bereichen Telekommunikation, Post, Bahn und Energie, die sie allerdings am ehesten noch bei Telekommunikationsdienstleistungen wahrnimmt. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) ist nach dem 2015 eingeführten § 4 Abs. 1a, Satz 1 des Gesetzes über die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (FinDAG) „innerhalb ihres gesetzlichen Auftrags auch dem Schutz der kollektiven Verbraucherinteressen verpflichtet“. Eine große Rolle spielen beide Regulierungsbehörden bisher im Verbraucherschutz nicht. Primär liegt die kollektive Rechtsdurchsetzung bei den Verbraucherorganisationen. Diese können, wenn sie sich als sog. qualifizierte Einrichtungen beim Bundesamt der Justiz registrieren lassen, die kollektiven Interessen der Verbraucher nach dem Unterlassungsklagengesetz (UKlaG) verfolgen. Zur Verfügung steht zum einen die Klage gegen den Unternehmer mit dem Ziel der Unterlassung der Verwendung unwirksamer Allgemeiner Geschäftsbedingungen nach § 1 UKlaG, zum anderen nach § 2 UKlaG die Klage auf Unterlassung der Verletzung von Verbraucherschutzgesetzen, zu denen nach § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 10 UKlaG auch das WBVG zählt,18 und auf Beseitigung der Folgen solcher Verstöße. Vor allem die Unterlassungsklage nach § 1 UKlaG spielte schon eine erhebliche Rolle bei der Kontrolle von Heimverträgen sowie in jüngerer Zeit auch von Verträgen über ambulante Pflege (dazu vzbv 2010), sie trägt im Übrigen schon deshalb zum Verbraucherschutz bei, weil qualifizierte Einrichtungen geeignete Fälle bis zum BGH bringen und damit die Klärung strittiger Rechtsfragen ermöglichen.
18 Für einen Fall des § 2 UKlaG vgl. BGH, 21. 05. 2015, III ZR 263/14, NJW 2015, 2573 zur Forderung von Sicherheitsleistungen.
Alter und Verbraucherschutz
347
Ausgewählte Literatur Roth, Markus. 2013. Private Pflege. In Recht der Älteren. Hrsg. Becker, Ulrich, und Markus Roth, 455 – 494. Berlin und Boston: de Gruyter. Rott, Peter, und Chris Willett. 2018. Consumers and services of general interest. In Handbook of Research on International Consumer Law. 2. Auflage. Hrsg. Howells, Geraint, Iain Ramsay und Thomas Wilhelmsson, 267 – 307. Cheltenham: Edward Elgar.
Kapitel 2 Lebenslagen im Alter
Einkommen und Vermögen im Alter Dietrich Engels
1
Einleitung
Mit der Thematik der finanziellen Lebenssituation im Alter lassen sich unterschiedliche Bilder assoziieren: Auf der einen Seite das Bild von lebensfrohen und wohlhabenden Senior/-innen, reiselustig und Konsument/-innen von Qualitätsprodukten, häufig auch großzügige Unterstützer/-innen von Kindern und Enkeln. Dem stehen auf der anderen Seite Berichte über Altersarmut, niedrige Renten bzw. unzureichende Rentenerhöhungen sowie über Angewiesenheit auf staatliche Leistungen gegenüber. Generell lässt sich festhalten, dass die Bundesrepublik Deutschland eine sog. Wohlstandsgesellschaft ist, wovon insbesondere die älteren Bürger/-innen profitieren. Dies lässt sich an der längerfristigen Entwicklung von Alterseinkommen und -vermögen ebenso erkennen wie an vergleichsweise niedrigen Sozialhilfequoten. Ein Grund dafür ist, dass Vermögen im Verlaufe des Lebens aufgebaut wird und gegen Ende des Erwerbslebens seinen höchsten Stand erreicht. Zukünftig ist sogar mit einer verstärkten Vermögenskonzentration zu rechnen, wenn die derzeitigen Vermögensbestände an weniger Kinder vererbt werden. Aber auch mit einer Zunahme niedriger Rentenansprüche ist zu rechnen, wenn diejenigen, die im Zeitraum von den 1980er Jahren (bzw. in Ostdeutschland seit den 1990er Jahren) bis zum Konjunkturaufschwung der Jahre seit 2012 von Arbeitslosigkeit betroffen waren, ihre Rentenansprüche nur noch auf diskontinuierliche Erwerbsbiografien gründen können (Kistler und Trischler 2014). Um zu überprüfen, in welchem Maße ein Teil der Älteren wohlhabend, ein anderer Teil aber armutsgefährdet ist, sind quantitative Analysen erforderlich. Dazu sind – neben den Daten der Bevölkerungsstatistik und -prognose des Statistischen Bundesamts – insbesondere solche Daten auszuwerten, die Einkommen und Vermögen genau erfassen. Diesem Anspruch genügt grundsätzlich die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) am besten, die aber nur fünfjährlich durchgeführt wird. Nicht ganz so © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_29
351
352
Dietrich Engels
differenziert erfolgt die Einkommenserfassung im jährlich erhobenen Mikrozensus, der mit rd. 800 000 Befragten die größte Haushaltsstichprobe in Deutschland darstellt, in dem aber keine Vermögen erfasst werden. Auch in dem alle drei Jahre mit Befragten ab 40 Jahren erhobenen Alterssurvey werden keine Angaben zum Vermögen erhoben, außerdem ist dessen Stichprobe mit 6 600 Befragten im Jahr 2017 vergleichsweise klein, bietet keine Vergleichsmöglichkeit mit jüngeren Altersgruppen und erlaubt auch keine Berechnung von Armutsrisiken. Daher basieren die folgenden Analysen vor allem auf dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP; DIW 2019), das mit Erhebungsdaten aus dem Jahr 2017 zeitnah verfügbar ist, mit 32 397 Befragten in dieser Erhebungswelle eine vergleichsweise große Stichprobe umfasst, das Einkommen und Vermögen sowie umfangreiche Lebenslagen-Indikatoren differenziert erfasst und auch verschiedene Formen des Migrationshintergrunds abbildet. Weitere Datenquellen werden zu einzelnen Aspekten hinzugezogen. Aktuelle Zusammenstellungen von Daten finden sich z. B. im Fünften Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (BMAS 2017a) sowie auf der vom BMAS eingerichteten Homepage „Armuts- und Reichtumsbericht“, auf der 20 Indikatoren zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, 11 Indikatoren zu Aspekten von relativer Armut und 7 Indikatoren zum Thema Reichtum in Deutschland kontinuierlich fortgeschrieben werden (vgl. BMAS 2018).
2
Einkommen und Vermögen im Alter
2.1
Haushaltsformen im Alter
Für die Lebensqualität im Alter hat die Familien- bzw. Haushaltsform einen hohen Stellenwert. Wenn mehrere Personen zusammenleben, können sie sich gegenseitig unterstützen, gemeinsam günstiger wirtschaften und Vermögensbestände aufbauen. Alleinlebende verfügen über diese Möglichkeiten nicht und neben dem sozialen Risiko der Vereinsamung sind für sie auch die Risiken der Verarmung höher. Als Ausgangspunkt für die folgenden Analysen sollen daher zunächst die Haushaltsstrukturen, in denen ältere Menschen in Deutschland leben, dargestellt werden. Aus Tabelle 1 wird deutlich, dass 22 % der Gesamtbevölkerung alleine leben, dies trifft auf 30 % der Personen im Alter von 60 bis 79 Jahren zu (37 % der Frauen und 23 % der Männer). Im Alter ab 80 Jahren ist der Anteil der Alleinlebenden mit 60 % doppelt so hoch, in dieser Altersgruppe leben 73 % der Frauen und 40 % der Männer allein. Als Paar mit Partner/-in leben 29 % der Gesamtbevölkerung zusammen; unter den Personen von 60 bis 79 Jahren sind dies 60 % (55 % der Frauen und 64 % der Männer in dieser Altersgruppe), und im Alter ab 80 Jahren geht dieser Anteil auf 37 % zurück (23 % der Frauen und 58 % der Männer in dieser Altersgruppe). Weitere Haushaltsformen wie Haushalte mit Kindern und sonstige Haushalte, in denen 49 % der Gesamtbevölkerung leben, machen im Alter von 60 bis 79 Jahren noch 10 % und im
Einkommen und Vermögen im Alter
353
Tabelle 1 Bevölkerung insgesamt und ältere Bevölkerung nach Haushaltsform Bevölkerung insgesamt
darunter 60 bis 79 Jahre
ab 80 Jahren
Haushaltsform
Anzahl
Anzahl
Anzahl
Alleinlebend
18 125 200
22 %
5 719 300
30 %
2 726 100
60 %
Frauen
9 736 500
23 %
3 691 700
37 %
1 998 300
73 %
Männer
8 388 800
21 %
2 027 600
23 %
727 900
40 %
23 791 300
29 %
11 232 300
60 %
1 702 600
37 %
Frauen
11 728 800
28 %
5 543 500
55 %
636 600
23 %
Männer
12 062 500
29 %
5 688 800
64 %
1 066 000
58 %
40 750 400
49 %
1 930 100
10 %
151 200
3 %
Frauen
20 193 700
49 %
1 126 200
8 %
50 700
4 %
Männer
20 554 900
50 %
803 900
13 %
100 500
3 %
Insgesamt
82 666 900
100 %
18 881 700
100 %
4 579 900
100 %
Paar ohne Kind
Sonstige Haushalte
Anteil
Anteil
Anteil
Quelle: Eigene Berechnungen; Anzahl hochgerechnet und gerundet, nach SOEP 2017 ©
Alter ab 80 Jahren nur noch 3 % aus. Während also die meisten 60- bis 79-Jährigen als Paar zusammenleben, sind im Alter ab 80 Jahren die meisten Alleinlebende – und zwar vor allem Frauen in diesem Alter (73 %), während die meisten Männer in diesem Alter noch in einem Paarhaushalt leben (58 %). 2.2
Einkommenshöhe und Einkommensquellen im Alter
Tabelle 2 führt die aktuellen Zahlen zum Haushaltsnettoeinkommen auf. Es zeigt sich, dass die durchschnittlichen Einkommen älterer alleinlebender Männer mit monatlich 2 099 € (60- bis 79-Jährige) bzw. 1 990 € (ab 80 Jahren) etwa auf gleichem Niveau liegen wie die aller alleinlebenden Männer (1 997 € pro Monat; Tabelle 2). Die Einkommen der älteren Männer in Paar-Haushalten sind bei den 60- bis 79-Jährigen mit 3 550 € um 78 % höher und bei den älteren Männern ab 80 Jahren mit 3 114 € um 56 % höher als die aller alleinlebenden Männer. Alleinlebende Frauen verfügen insgesamt mit 1 765 € über 88 % des Einkommens alleinlebender Männer und diese Diskrepanz zieht sich durch alle Altersgruppen hindurch: Alleinlebenden Frauen im Alter von 60 bis 79 Jahren stehen mit 1 853 € nur 93 %, den hochaltrigen Frauen mit 1 742 € nur 87 % des Einkommens alleinlebender Männer zur Verfügung. Die Frauen, die in Paarhaushalten leben, verfügen insgesamt mit durchschnittlich 3 640 € über 82 % mehr Einkommen als alleinlebende Männer. Bei den älteren Frauen in Paarhaushal-
354
Dietrich Engels
Tabelle 2 Haushaltsnettoeinkommen insgesamt und der älteren Bevölkerung nach Haushaltsform Alleinlebend
Paar ohne Kind
Altersgruppe
Männer
Frauen
Männer
Frauen
Gesamtbevölkerung
1 997
1 765
3 758
3 640
60 bis 79 J.
2 099
1 853
3 550
3 402
ab 80 J.
1 990
1 742
3 114
2 980
100
88
188
182
60 bis 79 J.
105
93
178
170
ab 80 J.
100
87
156
149
Relation: alleinlebender Mann = 100 Gesamtbevölkerung
Quelle: Eigene Berechnungen nach SOEP 2017 ©
ten sinkt das verfügbare Einkommen auf 3 402 € der 60- bis 79-Jährigen und 2 980 € der ab 80-Jährigen. Somit sind von niedrigen Alterseinkommen vor allem ältere alleinlebende Frauen betroffen (vgl. auch Becker 2019). Diese Betrachtung bezieht sich auf die verfügbaren Einkommen im Alter, nimmt aber nicht die Höhe der Ausgaben in den Blick. Ältere Menschen haben aber höhere Ausgaben für Gesundheitskosten: Während Erwachsene im mittleren Lebensalter etwa 3 % ihres Einkommens für Gesundheitskosten ausgeben, steigt dieser Anteil bei 65- bis 74-Jährigen auf 6,5 % und bei Älteren ab 75 Jahren auf 8,4 % des verfügbaren Einkommens (Brenke und Pfannkuche 2018 auf Basis der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2013). Berechnet man auf Basis des SOEP 2017 das Einkommen der Haushalte, in denen eine pflegebedürftige Person lebt, so liegt der verfügbare Betrag dieser Haushalte mit 3 050 € etwa im Durchschnitt der Älteren ab 80 Jahren. Wenn davon 8,4 % auf Gesundheitskosten entfallen, entspricht dies 256 € pro Monat. Personen im mittleren Erwachsenenalter geben demnach nur etwa 110 € pro Monat für Gesundheitskosten aus und haben damit mehr Geld für andere Ausgaben zur Verfügung. 2.3
Entwicklung der Renten und Pensionen
Ein Blick auf die Entwicklung von Renten und Pensionen zeigt, dass die Älteren an der Wohlstandsentwicklung der letzten Jahrzehnte weitgehend beteiligt wurden. Von den 1970er Jahren bis Ende der 1980er Jahre sind komfortable Rentenerhöhungen zu verzeichnen. Dies gilt später auch für die Rentner/-innen in Ostdeutschland, da nach
Einkommen und Vermögen im Alter
355
der deutschen Einigung im Jahr 1990 deren frühere Erwerbstätigkeit als rentenrelevant anerkannt wurde, was angesichts der hohen Frauenerwerbsquoten in der DDR vor allem für ältere Paare ein gutes Rentenniveau ergab. Die Altersarmut war in den neuen Ländern entsprechend gering, nimmt aber in dem Maße wieder zu, wie diejenigen ins Rentenalter kommen, die in den Jahren nach der deutschen Einigung über mehrere Jahre arbeitslos waren. Dem steht eine schrittweise Annäherung des Rentenniveaus in Ost und West gegenüber. Seit der Rentenerhöhung im Juli 2019 beträgt der Rentenwert in Ostdeutschland (mit 31,89 €) 96,5 % des Rentenwerts in Westdeutschland (33,05 €). Bis Juli 2024 soll der Rentenwert in beiden Teilen Deutschlands auf gleicher Höhe liegen (DRV 2019). 2.4
Einkommensverteilung
Eine Analyse der Einkommenssituation ist anhand des verfügbaren Nettoeinkommens möglich, das zeitnah im SOEP (hier: Jahr 2017) ermittelt wird. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Haushalte mit mehreren Personen oft mehrere Einkommen, aber auch höhere Ausgaben haben als Einpersonenhaushalte. Zugleich können größere Haushalte aber wirtschaftlicher leben, da sie z. B. Haushaltsgeräte gemeinsam nutzen können. Dem wird dadurch Rechnung getragen, dass das gesamte verfügbare Einkommen eines Haushalts anhand von Bedarfsgewichten auf personenbezogene Nettoäquivalenzeinkommen umgerechnet wird. Die Einkommensverteilung wird dann im Vergleich zum mittleren Äquivalenzeinkommen (Median) berechnet. Als ‚armutsgefährdet‘ gilt, wer über weniger als 60 % des Medianeinkommens verfügt, und als ‚wohlhabend‘, wer mehr als 200 % des Medianeinkommens zur Verfügung hat (vgl. BMAS 2017a). 2.5
Wohlstand im Alter
Als ‚wohlhabend‘ kann man diejenigen bezeichnen, deren äquivalenzgewichtetes Nettoeinkommen mindestens doppelt so hoch ist wie das Medianeinkommen. Diese Definition wird auch als ‚Reichtumsgrenze‘ bezeichnet. Allerdings entspricht der Einkommensbereich, der unmittelbar oberhalb dieser Grenze liegt, eher dem oberen Mittelstand als dem, was alltagsprachlich unter ‚Reichtum‘ verstanden wird. Abbildung 1 verdeutlicht, dass 7,9 % der Bevölkerung in diesem Sinne ‚wohlhabend‘ sind, von den Älteren ab 60 Jahren sind es mit 8,1 % nur etwas mehr. Unter den 60bis 79-Jährigen erreicht der Anteil der Wohlhabenden mit 8,9 % einen hohen Wert, während dieser Anteil bei den Hochaltrigen ab 80 Jahren mit 5,0 % deutlich niedriger ist. Markante Unterschiede bestehen in dieser Hinsicht zwischen West- und Ostdeutschland: In der westdeutschen Bevölkerung ist der Anteil der Wohlhabenden mit 8,9 % mehr als drei Mal so hoch wie in Ostdeutschland, wo er bei nur 2,7 % liegt. Diese
356
Dietrich Engels
Abbildung 1 Bevölkerungsanteile im Wohlstand
Insgesamt
7,9 %
Geschlecht Frauen
7,0 %
Männer
8,8 %
Altersgruppe unter 18 J.
4,5 %
18 bis 59 J.
8,7 %
60 bis 79 J.
8,9 %
ab 80 Jahren Frauen ab 80
5,0 % 3,0 %
Männer ab 80
7,8 %
Westdeutschland
8,9 %
ab 60 J. Ostdeutschland ab 60 J.
9,5 % 2,7 % 1,7 %
Quelle: Eigene Berechnungen nach SOEP 2017; ‚Wohlstand ‘ als 200 % des Medianeinkommens ©
Ungleichverteilung ist unter den Älteren noch etwas stärker ausgeprägt als unter den Jüngeren. Im Alter ab 60 Jahren zählen in Westdeutschland 9,5 % zu den Wohlhabenden (dies ist der höchste Wert aller Altersgruppen), in Ostdeutschland aber nur 1,7 %. Diese erheblichen Unterschiede wurden bereits zehn Jahre zuvor auf Basis einer Auswertung des SOEP 2007 in ähnlichem Umfang festgestellt (vgl. Engels 2010), und seither hat sich daran nichts geändert. Die Unterschiede nach Geschlecht sind demgegenüber geringer ausgeprägt, nehmen aber im Alter zu. Insgesamt sind 8,8 % der Männer und 7,0 % der Frauen in diesem Sinne ‚wohlhabend‘, der Abstand beträgt also 1,8 Prozentpunkte. Bei den 60- bis 79-Jährigen steigt dieser Abstand auf 2,5 Prozentpunkte, hier sind 10,2 % der Männer gegenüber 7,7 % der Frauen wohlhabend, und bei den Hochaltrigen sogar auf 4,8 Prozentpunkte und ist dort stärker ausgeprägt als in anderen Altersgruppen: Wohlhabend sind 7,8 % der Männer ab 80 Jahren gegenüber 3,0 % der Frauen ab 80 Jahren. Der Wohlstand dieser Personengruppen hängt eng mit ihrem Bildungsstand zusammen. Von der Bevölkerung ab 60 Jahren mit niedrigem Bildungsstand sind nur 2,8 % wohlhabend, dieser Anteil steigt über 7,1 % bei mittlerem Bildungsstand bis zu 23,5 % der Älteren mit hohem Bildungsstand.
Einkommen und Vermögen im Alter
2.6
357
Vermögensaufbau im Lebensverlauf
Der Aufbau von Vermögen ist – wenn man einmal von einer kleinen Zahl ‚immer schon‘ reicher Familien absieht – ein Prozess, der sich über den gesamten Lebensverlauf erstreckt (Fachinger 2019). Während in jungen Jahren die eng beieinander liegenden Phasen des Berufseinstiegs (mit niedrigem Einkommen) und der Familiengründung oft alle verfügbaren Mittel absorbieren, steigen in der Regel die Erwerbseinkommen mit zunehmendem Alter an. Die Spielräume für die Vermögensbildung nehmen in der mittleren Lebensphase zu, sei es in der Form der Ansparung von Geldvermögen oder als Erwerb von Wohneigentum. Über beide Vermögensformen verfügen daher ältere Menschen in höherem Maße als jüngere. 2.7
Vermögensbilanz im Alter
Angaben zum Vermögen werden im SOEP alle fünf Jahre erhoben. Abbildung 2 zeigt eine Auswertung der durchschnittlichen Vermögensbestandteile nach Altersgruppen auf Basis des SOEP 2017 und ergibt, dass der Anteil des selbst genutzten Wohneigentums von 44 % im Alter von 18 bis 59 Jahren über 54 % im Alter von 60 bis 79 Jahre bis auf 64 % im Alter ab 80 Jahren steigt. Dabei wurde der Wert des selbst genutzten
Abbildung 2 Struktur des Vermögens nach Altersgruppen
44 %
Selbst genutztes Wohneigentum
13 % 16 % 19 %
Geldvermögen
Betriebsvermögen
Sonstiges Sachvermögen
64 %
15 % 14 % 11 %
Sonstige Immobilien
Lebensversicherungen und Bausparverträge
54 %
4% 1%
0%
11 %
8% 7%
18 bis 59 J. 60 bis 79 J. ab 80 J.
8% 5% 4%
Quelle: Eigene Berechnungen nach SOEP 2017; durchschnittlicher Anteil einzelner Vermögenskomponenten; rundungsbedingte Summenabweichungen ©
358
Dietrich Engels
Wohneigentums nach dem aktuellen Verkaufswert geschätzt. An zweiter Stelle steht bei den ab 80-Jährigen Geldvermögen mit einem Anteil von 19 %, das in jüngeren Jahren noch in geringerem Maße angespart wurde (13 % bei den 18- bis 59-Jährigen). Sonstige Immobilien folgen an dritter Stelle, spielen aber in jüngeren Jahren eine etwas größere Rolle als im Alter. Dies gilt vor allem für Lebensversicherungen und Bausparverträge, die im Alter von 18 bis 59 Jahren aufgebaut werden und in dieser Altersphase 11 % des durchschnittlichen Vermögensbestandes ausmachen; mit zunehmendem Alter werden sie aufgelöst bzw. verzehrt. Diese Tendenz zeigt sich auch bei Betriebsvermögen und sonstigen Sachvermögen (Fahrzeuge, Schmuck und andere Sachwerte), deren Wert ebenfalls nach dem aktuellen Verkaufswert geschätzt wurde. Über mindestens eine dieser Vermögenskomponenten verfügen 82 % der Personen im mittleren Lebensalter von 18 bis 59 Jahren (Westdeutschland 83 %, Ostdeutschland 80 %). Im Alter von 60 bis 79 Jahren steigt der Bevölkerungsanteil mit Vermögen auf 88 %, und die Unterschiede zwischen Westdeutschland (88 %) und Ostdeutschland (87 %) sind nur noch gering. Im höheren Alter ab 80 Jahren geht der Bevölkerungsanteil mit Vermögen auf 81 % leicht zurück (West: 82 %, Ost: 79 %), was durch eine Aufzehrung des Vermögens und Schenkungen an Kinder erklärt werden kann. In Abbildung 3 wird die durchschnittliche Höhe des gesamten Vermögensbestandes für die rd. 80 % der Bevölkerung berechnet, die Vermögen in irgendeiner Form haben. Dabei wird das Nettovermögen zugrunde gelegt, d. h. von der Summe der Vermögensbestände wurden ggf. vorhandene Schulden subtrahiert. Für die erwachsene Gesamtbevölkerung ergibt sich eine Vermögenssumme von durchschnittlich 128 249 €, wobei Männer mit 148 011 € über ein Vermögen verfügen, das um 39 % über dem von Frauen mit 106 642 € liegt. Deutlich über diesem Durchschnitt liegt das durchschnittliche Vermögen der Altersgruppe von 60 bis 79 Jahren, das mit 183 794 € um 43 % über dem Durchschnittsvermögen liegt. Die Unterschiede zwischen Männern und Frauen dieses Alters sind größer als in jüngeren Jahren: Männer in dieser Altersgruppe verfügen mit 215 335 € über Vermögen, die um 42 % über dem der gleichaltrigen Frauen von 151 331 € liegen. Im hohen Alter ab 80 Jahren gehen die durchschnittlichen Vermögensbestände auf 144 418 € zurück, liegen aber immer noch um 13 % über dem durchschnittlichen Vermögen der Gesamtbevölkerung. Der Unterschied zwischen dem Vermögen von Frauen und Männern steigt weiter an: Ältere Männer haben mit 177 432 € ein um 51 % höheres Durchschnittsvermögen als ältere Frauen mit 117 434 €. Abbildung 4 zeigt, dass die Unterschiede in der Höhe der Vermögen zwischen West- und Ostdeutschland besonders markant sind. Die durchschnittliche Höhe des gesamten Nettovermögens ist in Ostdeutschland mit 63 185 € weniger als halb so hoch wie im bundesweiten Durchschnitt. Diese ‚Schere‘ geht mit steigendem Alter weiter auseinander: Im Alter von 60 bis 79 Jahren beträgt das durchschnittliche Vermögen in Ostdeutschland (76 768 €) 37 % des durchschnittlichen Vermögens dieser Altersgruppe in Westdeutschland (208 387 €), und im Alter ab 80 Jahren sinkt diese Rela tion auf 30 % (Westdeutschland: 170 575 €, Ostdeutschland 51 233 €).
Einkommen und Vermögen im Alter
359
Abbildung 3 Durchschnittliche Höhe des Vermögens (in €) nach Altersgruppen und Geschlecht
Gesamtbevölkerung
128 249
Frauen
106 642
Männer
148 011
darunter von 60 bis 79 Jahren
183 794
Frauen
151 331
Männer
215 335
ab 80 Jahren
144 418
Frauen
117 434
Männer
177 432
Quelle: Eigene Berechnungen nach SOEP 2017; Nettovermögen nach Abzug von Schulden ©
Abbildung 4 Durchschnittliche Höhe des Vermögens (in €) nach Altersgruppen und Region
128 249 Gesamtbevölkerung
142 139 63 185
183 794
darunter von 60 bis 79 Jahren
208 387 76 768
144 418 ab 80 Jahren
170 575 51 233
Deutschland
West
Ost
Quelle: Eigene Berechnungen nach SOEP 2017; Nettovermögen nach Abzug von Schulden ©
360
Dietrich Engels
Abbildung 5 Durchschnittlicher Wert des Wohneigentums (in €) nach Altersgruppen und Region
60 782 Gesamtbevölkerung
67 154 29 843
96 254
darunter von 60 bis 79 Jahren
108 685 40 673
88 179 ab 80 Jahren
103 193 28 746
Deutschland
West
Ost
Quelle: Eigene Berechnungen nach SOEP 2017; Nettovermögen nach Abzug von Schulden ©
Mittelschicht
Wohlstand
Abbildung 6 Kombination von Einkommenswohlstand und Vermögen (in €)
ab 80
429 458
60 bis 79
620 012
18 bis 59
332 882
ab 80
103 827
60 bis 79
128 091
18 bis 59
59 278
Armut
ab 80
13 420
60 bis 79
21 348
18 bis 59
4 883 0
200 000
400 000
600 000
800 000
Quelle: Eigene Berechnungen nach SOEP 2017; Armutsrisiko: weniger als 60 % des Medianeinkommens, Wohlstand: mehr als 200 % des Medianeinkommens ©
Einkommen und Vermögen im Alter
361
Dieser Unterschied wird maßgeblich darin begründet sein, dass die Bevölkerung Ostdeutschlands über mehrere Jahrzehnte hinweg (einschließlich der wirtschaftlich angespannten Zeit nach der deutschen Einigung) geringere Möglichkeiten des Vermögensaufbaus hatte als die Bevölkerung in Westdeutschland. Weiterhin sind gerade in ländlichen Gebieten in Ostdeutschland die Immobilienwerte vergleichsweise niedrig. In West- wie in Ostdeutschland macht der Vermögenswert des selbst genutzten Wohneigentums durchschnittlich 47 % des gesamten Nettovermögens aus, im Alter steigt dieser Anteil auf 52 % bei den 60- bis 79-Jährigen und auf 61 % bei den ab 80-Jährigen. Abbildung 5 zeigt, dass der Wert des Wohneigentums in Ostdeutschland in der Altersgruppe ab 80 Jahren mit 28 746 € nur 28 % des Werts beträgt, den das Wohneigentum Gleichaltriger in Westdeutschland hat (103 193 €). Dass die Vermögensbildung stark mit dem Einkommen korreliert, ist naheliegend. Dies bestätigt sich, wenn die Einkommensverteilung mit dem Vermögensbestand verknüpft wird. Personen mit hohem Einkommen (mehr als 200 % des Medianeinkommens, s. o.) verfügen über große Vermögensbestände. Abbildung 6 zeigt, dass diese bei 60- bis 79-Jährigen im Durchschnitt rd. 620 000 € und bei Älteren ab 80 Jahren durchschnittlich rd. 430 000 € betragen. Personen mit Armutsrisiko (weniger als 60 % des Medianeinkommens, s. u.) verfügen dagegen nur über geringe Vermögenswerte, die bei 60- bis 79-Jährigen im Durchschnitt rd. 21 000 € und bei Älteren ab 80 Jahren durchschnittlich rd. 13 000 € betragen. Die Vermögenswerte der Bevölkerung unter 60 Jahren sind durchgängig niedriger.
3
Armutsrisiko, Mindestsicherung und Verschuldung im Alter
3.1
Armutsrisiko
Belastete Lebenslagen können neben anderen Gründen wie Krankheit oder Einsamkeit auch durch unzureichende materielle Mittel entstehen. Armut als eine Form der materiellen Belastung kann überwunden werden, wenn beispielsweise durch eine Qualifizierung und/oder Beschäftigungsmaßnahme die Einkommenslage verbessert wird. Wenn aber ältere Menschen jenseits des Erwerbsalters von Armut betroffen sind, sind ihre Möglichkeiten zur Überwindung dieser Situation in der Regel begrenzt. Eine besondere Brisanz von Altersarmut besteht somit darin, dass diese Lage meist bis zum Lebensende andauert. Das Risiko der ‚relativen Armut‘ wird definiert als ein äquivalenzgewichtetes Nettoeinkommen unter 60 % des Medianeinkommens. Abbildung 7 zeigt, dass insgesamt 16,8 % der Bevölkerung in diesem Sinne armutsgefährdet sind. Das Armutsrisiko älterer Menschen ist niedriger: In der Altersgruppe ab 60 Jahren sind 12,8 % armutsgefährdet, und zwar 12,9 % im Alter von 60 bis 79 Jahren und in der Altersgruppe ab 80 Jahren mit 12,4 % noch etwas weniger. Während in der Gesamtbevölkerung das Armutsrisiko von Frauen (17,3 %) nur wenig höher ist als das der Männer (16,4 %, Differenz 0,9 Prozentpunkte), wird dieser Unterschied
362
Dietrich Engels
Abbildung 7 Armutsrisiko nach Geschlecht und Alter
Insgesamt
16,8 %
Geschlecht Frauen
17,3 %
Männer
16,4 %
Altersgruppe unter 18 J.
23,1 %
18 bis 59 J.
17,1 %
60 bis 79 J.
12,9 %
ab 80 Jahren
12,4 %
Frauen ab 80
13,8 %
Männer ab 80
10,3 %
Quelle: Eigene Berechnungen nach SOEP 2017; ‚Armutsrisiko‘ bei weniger als 60 % des Medianeinkommens ©
Abbildung 8 Armutsrisiko nach Bildungsstand, Region und Migrationshintergrund
Insgesamt
16,8 %
Niedriger Bildungsstand
21,5 %
ab 60 J.
16,9 %
Westdeutschland ab 60 J.
16,0 % 12,5 %
Ostdeutschland
20,8 %
ab 60 J.
14,5 %
Mit Migrationshintergrund
27,8 %
ab 60 J.
24,2 %
Ohne Migrationshintergrund ab 60 J.
13,0 % 10,5 %
Quelle: Eigene Berechnungen nach SOEP 2017; ‚Armutsrisiko‘ bei weniger als 60 % des Medianeinkommens ©
Einkommen und Vermögen im Alter
363
mit zunehmendem Alter größer. Frauen ab 80 Jahren weisen mit 13,8 % ein höheres Armutsrisiko auf als Männer dieser Altersgruppe mit 10,3 % (Differenz 3,5 Prozentpunkte). In den letzten zehn Jahren ist die Armutsrisikoquote der Gesamtbevölkerung um 3,1 Prozentpunkte gestiegen, die der Älteren hat in diesem Zeitraum um 2,7 Prozentpunkte zugenommen. Somit ist in der Bevölkerung insgesamt eine Zunahme des Armutsrisikos zu beobachten, von der aber ältere Menschen weniger stark betroffen sind als Menschen jüngeren Alters. Abbildung 8 zeigt, dass auch beim Armutsrisiko die regionalen Unterschiede hervorstechen: Während in Westdeutschland 16 % armutsgefährdet sind, liegt dieser Anteil in Ostdeutschland bei 20,8 %. Von dieser Diskrepanz sind Menschen jüngeren und mittleren Alters stärker betroffen als Ältere, aber auch im Alter ab 60 Jahren ist die Armutsrisikoquote in Ostdeutschland mit 14,5 % höher als die der Älteren in Westdeutschland mit 12,5 %. Während zehn Jahre zuvor das Armutsrisiko älterer Menschen in Ostdeutschland mit 9,1 % noch niedriger war als das der Älteren in Westdeutschland mit 10,5 %, ist dieser Anteil an den Älteren in Ostdeutschland um 5,4 Prozentpunkte gestiegen, in Westdeutschland aber nur um 2 Prozentpunkte. Diese Entwicklung ist u. a. darauf zurückzuführen, dass zunehmend Menschen mit diskontinuierlichen Erwerbsverläufen und längeren Phasen der Arbeitslosigkeit ins Alter hineinwachsen, die in Ostdeutschland in den beiden Jahrzehnten nach der deutschen Einigung besonders stark ausgeprägt waren. Während Wohlstand im Alter mit einem hohen Bildungsstand einhergeht (vgl. Abschnitt 2), ist ein Armutsrisiko entsprechend mit einem niedrigen Bildungsstand verbunden. Personen mit maximal einem Hauptschulabschluss weisen eine Armutsrisikoquote von 21,5 % auf, dies liegt um 4,7 Prozentpunkte über dem Durchschnitt. Im Alter ab 60 Jahren haben 16,9 % der Personen mit niedrigem Bildungsabschluss ein Armutsrisiko, dies liegt um 4,1 Prozentpunkte über dem Durchschnitt in diesem Alter. Die Problematik der ‚Altersarmut‘ konzentriert sich (bisher noch) auf Frauen im hohen Alter. Drei Viertel von ihnen leben allein (gegenüber 55 % der nicht armutsgefährdeten Frauen in dieser Altersgruppe), rd. 40 % von ihnen weisen zudem einen weniger guten bis schlechten Gesundheitsstatus auf (gegenüber rd. 30 % der Männer in dieser Altersgruppe). In dieser Zusammenschau wird eine Kumulation belasteter Lebenslagen bei Frauen im hohen Alter erkennbar. Zu berücksichtigen ist, dass sich die Analyse des Armutsrisikos nur auf Personen in Privathaushalten bezieht. Die Armut unter Hochaltrigen in Einrichtungen kommt nur bei einer Analyse des Bezugs von Leistungen der Mindestsicherung in den Blick. 3.2
Bezug von Leistungen der Grundsicherung im Alter
Ein anderes Kriterium für ‚Armut‘ ist die Angewiesenheit auf Leistungen der bedarfsbezogenen Mindestsicherung, wobei für Ältere insbesondere die Sozialhilfe in
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Dietrich Engels
Form der Grundsicherung im Alter nach Kapitel 4 SGB XII relevant ist. Dabei ist es nur eine abstrakte Diskussion, ob der Leistungsbezug noch ein Indiz für Armut ist oder bereits die Überwindung von Armut, wenn auch mit staatlicher Hilfe, signalisiert. Sicherlich gewährleistet das soziokulturelle Existenzminimum, dass ein lebensbedrohlicher Armutszustand überwunden wird; zugleich ist es aber mit seinen engen Einkommens- und Vermögensgrenzen so knapp bemessen, dass es ein langfristig sparsames Wirtschaften erfordert, das kaum Spielräume für Urlaub, großzügige (Familien-)Feiern oder das Ansparen von Vermögen belässt. Wenn nun aber gerade die längerfristige Angewiesenheit auf Leistungen der Mindestsicherung eine belastete Lebenslage bedeutet, so sind ältere Leistungsbeziehende davon stärker betroffen als jüngere; während Personen jüngeren Alters häufig nur kurzfristig Leistungen beziehen und diese Situation durch Aufnahme oder Ausweitung einer Erwerbsarbeit überwinden, steht dieser Weg im Alter nicht mehr zur Verfügung. Die Bevölkerungsgruppe, die in dieser Perspektive in den Blick rückt, ist mit der oben beschriebenen mit Armutsrisiko nicht deckungsgleich: Das Armutsrisiko wird an einer bundesweiten Durchschnittsgrenze bemessen, während die Mindestsicherung auf individuelle Bedarfslagen reagiert. Ein Teil der Beziehenden von Mindestsicherungsleistungen verfügt über ein Einkommen über der Armutsrisikogrenze, insbesondere dann, wenn ein Mehrbedarf (z. B. wegen Behinderung oder besonderem Ernährungsbedarf) besteht oder wenn Leistungsbeziehende in einer städtischen Region wohnen, in der die Kosten der Wohnung deutlich über dem bundesweiten Durchschnitt liegen. Es gibt aber auch Bevölkerungsgruppen mit einem Einkommen unter der Armutsrisikogrenze, die keine Leistungen der Mindestsicherung beziehen, sei es, weil sie keinen Anspruch darauf haben (wie z. B. Niedrigeinkommensbezieher in ländlichen Regionen, die eine sehr geringe Miete zahlen oder im eigenen Haus wohnen) oder weil sie trotz Bedürftigkeit diese Leistung nicht in Anspruch nehmen wollen. Diese Nichtinanspruchnahme liegt häufig daran, dass der Leistungsanspruch nur gering ist und deshalb auf staatliche Hilfe mit Offenlegung der Einkommensund Vermögensverhältnisse verzichtet wird, teilweise sind aber auch Informationsdefizite der Grund (vgl. Becker und Hauser 2003). Der früher vor allem für Ältere relevante Verzichtsgrund, einen Rückgriff auf das Einkommen der Kinder vermeiden zu wollen, wurde mit dem weitgehenden Rückgriffsverzicht der seit 2003 geltenden Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung begegnet. In langfristiger Perspektive ist der Bezug von Leistungen der Sozialhilfe gerade bei Älteren zunächst zurückgegangen. In der unmittelbaren Nachkriegszeit war die drohende Armut unter Älteren, insbesondere Witwen, ein häufiger Grund für den Sozialhilfebezug. Die Rentenpolitik der 1960er Jahre hatte zur Folge, dass Armut im Alter zunehmend zu einem Randproblem wurde. Auch die Anerkennung von Erwerbsphasen ohne Beitragsleistung bei Rentner/-innen aus der DDR im Zuge der deutschen Einigung hatte den Effekt, Altersarmut in den neuen Ländern wirksam zu vermeiden. Allerdings war ein Teil der niedrigen Bezugsquoten von Älteren auch dadurch bedingt, dass diese zu besonders hohen Anteilen auf Sozialhilfeleistungen ver-
Einkommen und Vermögen im Alter
365
Abbildung 9 Bezug von Grundsicherung im Alter nach Geschlecht
200 000
544 090 227 665 316 425
525 595
512 198
497 433
464 066 293 413
412 081
392 368
399 837
170 653
300 000
262 673
400 000
129 695
500 000
409 958
600 000
436 210
700 000
536 121
800 000
100 000 0 2007
2008
2009
2010
2011
Insgesamt
2012 Männer
2013
2014
2015
2016
2017
Frauen
Quelle: Eigene Berechnungen nach StaBuAmt 2019f ©
zichteten – teils aus Unkenntnis, teils aus Stolz, teils um ihre Kinder vor Rückgriffen zu schützen. Im Jahr 2017 bezogen 544 090 Personen Leistungen der Grundsicherung im Alter. Abbildung 9 zeigt, dass davon 227 665 Männer (42 %) und 316 425 Frauen (58 %) waren. Im Jahr 2007 lag die Zahl der Bezieher/-innen dieser Leistung noch bei 392 368 Personen; in den zehn Jahren bis 2017 ist diese Zahl um 39 % gestiegen. Die Zahl der Frauen mit Bezug dieser Leistung ist in diesem Zeitraum von 262 673 Personen um 24 % auf 316 425 Personen gestiegen. Die Zahl der Männer mit Bezug dieser Leistung ist in diesem Zeitraum von 129 695 Personen auf 227 665 Personen gestiegen, was einem deutlich stärkeren Zuwachs um 76 % entspricht. Diese starke Zunahme der Zahl der Leistungsbeziehenden innerhalb von zehn Jahren ist zum Teil auch demografisch bedingt, denn die Zahl der Älteren ab 65 Jahren ist in diesem Zeitraum um 7 % gestiegen. Die Zahl der älteren Männer ist mit 11 % stärker gestiegen als die Zahl der älteren Frauen mit 4 %, was vor allem darauf zurückzuführen ist, dass zunehmend Nachkriegsgenerationen in diese Altersgruppe hineinwachsen, die nicht mehr vom kriegsbedingt niedrigen Anteil älterer Männer betroffen sind. Allerdings kann die Zunahme des Leistungsbezugs nur zu einem Teil mit der demografischen Entwicklung erklärt werden, da auch die Anteile der älteren Bevölkerung, die auf Leistungen der Grundsicherung im Alter angewiesen sind, zugenommen haben. Dies wird deutlich, wenn man nicht die Zahl der Beziehenden, sondern
366
Dietrich Engels
Abbildung 10 Quoten des Bezugs von Grundsicherung im Alter nach Geschlecht und Region 3,5
3,0
2,5
2,0 Insgesamt Männer Frauen Westdeutschland Ostdeutschland
1,5
1,0 2007
2008
2009
2010
2011
2012
2013
2014
2015
2016
2017
Quelle: Eigene Berechnungen nach StaBuAmt 2019f ©
die Bezugsquote analysiert, also den Anteil der jeweiligen Bevölkerungsgruppe, die diese Leistungen bezieht. Den Entwicklungslinien in Abbildung 10 lässt sich für den Zeitraum von 2007 bis 2017 entnehmen: •• Der Bevölkerungsanteil der Älteren, die auf Leistungen der Grundsicherung im Alter angewiesen sind, ist in Deutschland insgesamt von 2,4 % auf 3,2 % der älteren Bevölkerung gestiegen. Dies ist einerseits eine geringere Quote als z. B. die Quote des Bezugs von SGB II-Leistungen, die am Jahresende 2017 bei 7,5 % der Gesamtbevölkerung lag. Andererseits ist eine kontinuierlich steigende Tendenz erkennbar. •• Der Bevölkerungsanteil älterer Männer mit Bezug von Grundsicherung im Alter ist von 1,9 % der gleichaltrigen Männer in 2007 auf 3,0 % im Jahr 2017 gestiegen und damit stärker als die Bezugsquote der älteren Frauen. Diese lag im Jahr 2007 bei 2,7 % und ist bis zum Jahr 2017 auf 3,3 % gestiegen, somit ist der Anteil der Leistungsbeziehenden an älteren Frauen noch immer höher als der entsprechende Anteil an älteren Männern. •• Die Bezugsquote ist in Westdeutschland mit 3,4 % der älteren Bevölkerung höher als in Ostdeutschland, wo 2,1 % der Älteren auf diese Leistung angewiesen sind. In den vergangenen zehn Jahren ist diese Quote in Westdeutschland um 36 % von 2,5 auf 3,4 je 100 Ältere gestiegen, während sie in Ostdeutschland nur um 17 % von 1,8 auf 2,1 je 100 Ältere gestiegen ist.
Einkommen und Vermögen im Alter
367
88 % der Leistungsbeziehenden der Grundsicherung im Alter wohnen in Privathaushalten und 12 % in Einrichtungen. Die Ausgaben für Wohnen und Pflege in einer Pflegeeinrichtung sind so hoch, dass dieser Personenkreis auch mit einer mittleren Rente oder Pension schon auf ergänzende Leistungen der Grundsicherung angewiesen sein kann. Am Jahresende 2017 gab es in Deutschland 3,4 Millionen Pflegebedürftige, von denen 818 289 Personen in einer Pflegeeinrichtung wohnten, dies entspricht 24 % aller Pflegebedürftigen. Von diesen bezogen 65 587 Personen Grundsicherung im Alter in einer Einrichtung, dies entspricht einer Bezugsquote von 8 %. 3.3
Wohngeldbezug
Eine weitere Leistung, die zur Verbesserung der Lebenslage im unteren Einkommensbereich beitragen soll, ist das Wohngeld. Es wird zwar für Einkommensbezieher/-innen oberhalb der Mindestsicherungsgrenze gezahlt, ist aber auch von dem individuellen Bedarf eines Haushalts abhängig. Dieser ergibt sich aus dem Zusammenwirken von niedrigem Einkommen, Höhe der Miete, Größe des Haushalts und Alter des Wohngebäudes. Wohngeldleistungen beziehen vor allem größere Haushalte sowie Rentner/-innen und Pensionär/-innen. Am Jahresende 2017 gab es in Deutschland 560 681 reine Wohngeldhaushalte, dies entspricht 1,4 % aller Privathaushalte (StaBuAmt 2019g). Fast die Hälfte davon, 270 766 Haushalte bzw. 48 %, waren Haushalte von Rentner/-in nen und Pensionär/-innen. 3.4
Verschuldung
Schulden sind vor allem Kreditschulden, die im Laufe der Zeit abbezahlt werden. Ältere Menschen haben weniger Schulden als jüngere: Nach dem SOEP 2017 hatten 17,4 % der Befragten im Alter von 18 bis 59 Jahren Kreditschulden (ohne Hypotheken), aber nur 6,9 % der Befragten im Alter von 60 bis 79 Jahren und 0,8 % der Älteren ab 80 Jahren. Die Höhe der Schulden der 60- bis 79-Jährigen liegt mit 17 867 € etwa im Durchschnitt der Bevölkerung mit Schulden. Wenn die Älteren ab 80 Jahren Schulden haben, dann liegt deren durchschnittliche Höhe mit 14 447 € darunter. Wenn Schulden nicht mehr zurückgezahlt werden können, spricht man von ‚Überschuldung‘. Nach der Statistik der Schuldnerberatungsstellen (StaBuAmt 2018f) wurden im Jahr 2017 in Deutschland insgesamt 560 673 überschuldete Personen beraten, die schwerpunktmäßig im mittleren Lebensalter waren (74 % im Alter von 25 bis 54 Jahren), während Ältere ab 65 Jahren nur knapp 7 % der beratenen Personen ausmachten (gegenüber einem Anteil dieser Altersgruppe von 21 % an der Gesamtbevölkerung).
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4
Dietrich Engels
Zusammenfassung und Ausblick
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die meisten älteren Menschen in Deutschland in einer guten Einkommens- und vor allem einer guten Vermögenslage befinden. Dabei gibt es allerdings nach wie vor deutliche West-Ost-Unterschiede insbesondere beim Vermögensaufbau, der sich in der Regel über längere Phasen des Lebens erstreckt. Den Älteren in Ostdeutschland war zu Zeiten der DDR und auch in den Jahren nach der deutschen Einigung ein Vermögensaufbau wie im Westen nicht möglich, was sich heute sowohl im Umfang des Gesamtvermögens als auch am Wert des selbstgenutzten Wohneigentums zeigt. Ältere leben zu geringeren Anteilen in Armut als jüngere Altersgruppen; dies zeigen sowohl niedrigere Armutsquoten als auch eine geringere Angewiesenheit auf Leistungen der Mindestsicherung als in anderen Bevölkerungsgruppen. Allerdings sind in den vergangenen Jahren steigende Bezugsquoten der Grundsicherung zu beobachten. Prekär ist die materielle Lage von Hochaltrigen, die auf stationäre Pflege angewiesen sind, da auch mittlere Renten und Vermögen durch die hohen Heimkosten aufgezehrt werden. Für die zukünftige Entwicklung lassen sich verschiedene Tendenzen skizzieren: Erstens wird die Zahl der Personen steigen, die aufgrund ihrer Erwerbsbiografie (insbesondere in prekären Beschäftigungsverhältnissen, mit geringen Verdiensten oder längeren Zeiten der Arbeitslosigkeit) nur geringe Rentenanwartschaften erwerben konnten. Zweitens wird im Zuge der demografischen Entwicklung die Zahl der Pflegebedürftigen steigen, deren Einkommen und Vermögen insbesondere bei stationärer Pflege rasch aufgezehrt werden. Neben diesen armutsfördernden Tendenzen wird drittens aber auch mit einer Konzentration von Vermögen auf weniger Erben zu rechnen sein, sodass insgesamt davon auszugehen ist, dass die Spreizung zwischen armutsgefährdeten Älteren einerseits und wohlhabenden Älteren andererseits zukünftig noch zunehmen wird.
Ausgewählte Literatur Becker, Irene. 2019. Einkommen und Vermögen: Trend zu mehr Ungleichheit hält an. In Berichterstattung zur sozioökonomischen Entwicklung in Deutschland. Exklusive Teilhabe – ungenutzte Chancen. Dritter Bericht. Hrsg. Forschungsverbund Sozioökonomische Berichterstattung, 449 – 488. Bielefeld: wbv Media Bielefeld. BMAS. Bundesministerium für Arbeit und Soziales. 2017. Lebenslagen in Deutschland. Der Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Bonn/Berlin. https://www.armutsund-reichtumsbericht.de/SharedDocs/Downloads/Berichte/5-arb-langfassung.pdf?__blob= publicationFile&v=6. Zugegriffen: 09. Mai 2019. Fachinger, Uwe. 2019. Alterssicherung und Armut. In Alternsforschung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Hrsg. Hank, Karsten, Frank Schulz-Nieswandt, Michael Wagner und Susanne Zank, 131 – 169. Baden-Baden: Nomos.
Wohnen im Alter Dörte Naumann und Frank Oswald
1
Wohnen im Alter
Wohnen ist ein komplexer und sich innerhalb der Lebensphase Alter sowie der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung ausdifferenzierender Person-Umwelt-Austauschpro zess. Individuelle Handlungsspielräume für die Gestaltung des Wohnens werden einerseits durch gesellschaftliche, von sozialen Ungleichheiten geprägte Lebenslagen abgesteckt. Anderseits werden – (sozial-)psychologischen Prozessanalysen zum Wohnen zufolge – Wohnbedingungen auf der individuellen Handlungs- und Erlebensebene gestaltbar und bedeutsam und tragen so zu Wohlbefinden und Gesundheit im Alter bei. 1.1
Wohnen als zentrale Dimension der Lebenslage im Alter
Gesellschaftlich betrachtet gehört Wohnen neben Einkommen, Gesundheit, Partizipation und Infrastruktur im Wohnumfeld zu den zentralen Dimensionen der Lebenslage im Alter und hat eine Schlüsselfunktion für Teilhabe und Lebensqualität (u. a. Voges 2002; Sixsmith et al. 2014; Heinze 2017, S. 218 ff.; Naegele et al. 2016; Bleck et al. 2018 ). Entsprechend gehört die gesellschaftspolitische Gestaltung des Wohnens im Alter zu den zentralen Herausforderungen im demografischen Wandel (BMFSFJ 2016b), zumal sie mit zunehmenden sozialräumlichen Ungleichheiten verknüpft ist (Mahne et al. 2017a; Kümpers und Alisch 2018a). Wohnen im Alter findet aktuell und voraussichtlich auch zukünftig überwiegend im Bereich des Privatwohnens, im höheren Alter zunehmend häufig in Einpersonenhaushalten statt. Dem Deutschen Alterssurvey zufolge lebten im Jahr 2014 rund ein Drittel der über 65-jährigen Männer und mehr als zwei Drittel der Frauen allein (Hoffmann et al. 2017, S. 4). Im Unterschied zur deutschstämmigen Bevölkerung lebt © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_30
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Dörte Naumann und Frank Oswald
rund die Hälfte der älteren Menschen mit Migrationshintergrund mit den erwachsenen Kindern zusammen (Klaus und Baykara-Krumme 2017, S. 359). Auch von den nach SGB XI als pflegebedürftig eingestuften Menschen leben rund drei Viertel im Privathaushalt (StaBuAmt 2018b). Gerade mit Blick auf die mit zunehmendem Alter häufige Haushaltsform des Einpersonenhaushaltes ist die wachsende Bedeutung der Wohnung als zentralem Lebensraum sowie – insbesondere im sehr hohen Alter – der große Anteil im unmittelbaren Wohn- und Nahbereich verbrachter Tageszeit zu unterstreichen (Oswald und Konopik 2015). Dies ist bei der Entwicklung von Angebotsstrukturen für die Unterstützung der selbstständigen Lebensführung und Teilhabe im hohen Alter zu berücksichtigen (Naumann 2006, 2018). 1.2
Differenzierung des Wohnens im Dritten und Vierten Alter
Innerhalb der gesellschaftlich institutionalisierten Lebensphase Alter (Kohli 1985, 2013) hat sich eine Differenzierung nach dem sog. dritten und vierten Lebensalter durchgesetzt (z. B. Laslett 1989). Dieser Differenzierung zufolge leben junge Alte (Drittes Alter) relativ beeinträchtigungsfrei, während bei hochaltrigen Menschen (Viertes Alter) altersbedingte körperliche und psychische Einschränkungen eine Anpassung des Alltagslebens erforderlich machen (vgl. Mayer und Baltes 1999; vgl. auch Pichler i. d. B.). Dabei ist die Grenze zwischen dem Dritten und Vierten Alter fließend und wird aktuell zu Beginn oder eher in der Mitte des achten Lebensjahrzehnts (80 bis 85 Jahre) verortet (Kolland und Wanka 2014). Bezüglich der Analyse der Wohnformen im Dritten und Vierten Alter gilt es Altern als Prozess und nicht als Zustand zu denken und entsprechend Wohnpräferenzen, Wohnbedürfnisse und Wohnentscheidungen, kurz Wohnerleben und -handeln dynamisch zu betrachten und zu verstehen (s. auch weiter unten). Aus gesellschaftlicher Perspektive sind hier die verschiedenen sozio-historischen Kontexte und zunehmend vielfältige Lebensverläufe unterschiedlicher Kohorten Älterer, auch hinsichtlich ihrer Wohnbiografien, bedeutsam. Aus psychologischer Perspektive stellt sich komplementär dazu die Frage, wie sich über die Zeit hinweg Stabilität und Wandel des Wohnens intra- und interindividuell entwickeln. Nicht nur in der gerontologischen Wohnforschung (s. a. Ökologische Gerontologie) sondern auch in der Wohnpraxis (z. B. Beratung, Umzugsassistenz) zeigt sich trotz einer empirisch überwältigenden Standortkontinuität älterer Menschen eine Abkehr von der lange vorherrschenden Meinung, dass man ‚einen alten Baum nicht verpflanze‘, hin zur differenzierenden Frage, für wen wann welche Wohnentscheidung (bleiben, anpassen, umziehen) wünschenswert und angemessen ist. Wohnen zu bleiben um jeden Preis, ist heute als Allgemeinrezept ebenso wenig ratsam wie es die Idee des antizipierten Umzugs in spezielle, womöglich sogar segregierte Altenwohnanlagen in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts waren. Vielmehr ist hier im Sinne der Kontinuitätstheorie davon auszugehen, dass ältere Menschen biogra-
Wohnen im Alter
371
fisch gewachsene Lebensformen im Alter fortsetzen wollen und die Wohnsituation als Ressource für die Gestaltung von biografischer Kontinuität reflektieren und gestalten. Denn der Prämisse der Kontinuitätstheorie zufolge altern diejenigen Menschen zufriedener, die ihren Lebensstil durch innere (z. B. psychische Einstellungen, Eigenschaften, Erfahrungen) und äußere Kontinuität (Beziehungen zu anderen, physische und soziale Umwelt) beibehalten. Innere und äußere Kontinuität stehen dabei in Wechselwirkung (Atchley 1989). Die Tendenz zur differenzierten Auseinandersetzung mit Stabilität und Wandel des Wohnens im hohen Alter hat sich in Forschung und Praxis mit dem Aufkommen des Konzepts von „ageing in place“ in den 1990er Jahren wieder verstärkt (Parmelee und Lawton 1990; Altman und Low 1992). In der Forschung finden sich dafür Belege unterschiedlicher disziplinärer Prägung (z. B. Rubinstein und DeMedeiros 2004; Scharlach et al. 2012; Rowles und Bernard 2013; Scharlach und Diaz-Moore 2016). Zudem transportiert die Forderung nach „ageing in place“ das in der Pflegeversicherung festgeschriebene Primat der häuslichen gegenüber stationärer Pflege. Der Wunsch vieler Menschen, so lang wie möglich (also auch im Vierten Alter) in den eigenen vier Wänden zu bleiben, spiegelt sich wider in Trends wie der Gestaltung alternsgerechter Umwelten („age friendly cities and communities“, WHO 2007; Moulaert und Garon 2016) oder „ambient assisted living“-Technologien (AAL). Konzeptuell verankert sind diese Entwicklungen in einer „Commmunity Gerontology“ oder „Geographical Gerontology“ (Andrews et al. 2007; Greenfield 2012; Buffel et al. 2014; Greenfield et al. 2019) und werden differentiell als Frage nach „ageing in the right place“ (Golant 2015) diskutiert. Das Primat von Wohnortkontinuität wird selten in Frage gestellt, obwohl dies nicht immer nur zum Wohle des älteren Menschen sein muss, da diese auch mit einem aus der Balance geratenen Gleichgewicht von Kompetenzen einerseits und Barrieren andererseits oder mit Gefahren des sozialen Rückzugs einhergehen kann (Wahl et al. 2009; Van Cauwenberg et al. 2011; Stineman et al. 2012; Mahler et al. 2014; Stark et al. 2017; Wanka 2018). 1.3
Sozialräumliche Differenzierung des Wohnens im Alter
Für die gesellschaftspolitische Gestaltung des Wohnens im Alter sind bundesweit zunehmende sozialräumliche Segregationsprozesse im Zuge des gesellschaftlichen und demografischen Wandels zu berücksichtigen (Rüssler et al. 2013; Helbig und Jähnen 2018). Sozialpolitisch sind diese entsprechend dem Modell des „Cumulative Advantage/Disadvantage CAD“ lebensverlaufsbezogen zu betrachten, da Ungleichheiten über den Lebensverlauf hinweg kumulieren (Dannefer 2003). Dem Lebenslagekonzept (Voges 2002) zufolge steht Wohnen im Alter in Wechselwirkung mit weiteren Lebenslagedimensionen, wie materielle Lage, Bildung, soziale Netzwerke, Gesundheit und Zugang zu Infrastrukturen. Ergebnisse des Deutschen Alterssurvey belegen einen Zusammenhang zwischen geringer Wohnqualität, benachteiligter materieller
372
Dörte Naumann und Frank Oswald
Lage und immateriellen Lebenslagedimensionen wie der Qualität nachbarschaftlicher Beziehungen (Nowossadeck und Mahne 2017b, S. 315). Sozialpolitisch sind solche Wohnbedingungen als prekär einzustufen, wenn innerhalb dieser und/oder weiterer Dimensionen der Lebenslage bestimmte Interessen der Menschen nicht zu erfüllen sind oder die dafür notwendigen Gestaltungs- und Veränderungspotenziale nicht ausreichen (Bäcker et al. 2008). Insbesondere in Ostdeutschland wächst die sozialräumliche Ungleichheit beson ders pointiert: Abwanderungsbewegungen aus den ländlichen, strukturschwachen, stark alternden Räumen verschärfen die Unterschiede zu dynamisch wachsenden Ballungszentren mit einem starken Zuzug jüngerer Menschen sowie auch älterer Menschen (Rabe und Hohn 2015; Engfer 2018). In ländlichen, stark alternden Räumen mit ausdünnender Infrastruktur steht die Teilhabe und der Erhalt der selbstständigen Lebensführung im Alter in Frage (Fachinger und Künemund 2015; vgl. dazu auch Hämel und Wolters i. d. B.). In Ballungsräumen, besonders akzentuiert in Ostdeutschland, wächst die soziale und demografische Segregation (Green 2013; Nuissl et al. 2015; Helbig und Jähnen 2018). Die Verdrängungsprozesse sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen aus den zunehmend begehrten Innenstadtbezirken mit rapide steigenden Mieten (Gentrifizierung) können benachteiligte ältere Menschen wegen der häufig hohen Quartiersverbundenheit (Seifert 2015, S. 45) und mobilitätsbedingten Verwiesenheit auf eine bedarfsangemessene Infrastruktur im direkten Wohnumfeld empfindlich treffen (Dale et al. 2019, S. 75). Als besondere Risikogruppen sozialräumlicher Ausgrenzungsprozesse gelten u. a. benachteiligte ältere Frauen und ältere Menschen mit Migrationshintergrund (Kümpers und Alisch 2018a, S. 607 ff.). 1.4
Gesellschaftspolitische Differenzierung der Wohnoptionen im Alter
Vor dem Hintergrund der unter 1.2 und 1.3 knapp umrissenen Differenzierung der Lebensphase Alter sowie der sozial ungleichen Handlungsspielräume ist in den letzten zwei Jahrzehnten gesellschaftspolitisch das Spektrum an Gestaltungsoptionen für das Wohnen im Alter deutlich vergrößert worden. Seit dem Mauerfall 1989 wurde der Wohnstandard in Ostdeutschland deutlich verbessert und dem westdeutschen Niveau angeglichen (Nowossadeck und Engstler 2017a, S. 288). Angesichts des gestiegenen Wohnstandards sowie des Ausbaus an pflegerischen und haushaltsnahen Dienstleistungen hatten hilfe- und pflegebedürftige ältere Menschen noch nie so gute Bedingungen wie heute, wunschgemäß zuhause wohnen zu bleiben. Allerdings bestehen weiterhin regionale Unterschiede in sozial strukturierten, insbesondere materiellen Handlungsspielräumen (Nuissl 2015) sowie in der Infrastruktur (Heinze 2017, S. 137; Nowossadeck und Mahne 2017a, S. 301), und es gibt gravierende Mängel in der barrierefreien Wohnumfeldgestaltung (Heinze 2013, S. 136; KDA 2014, S. 19 f.; Nowossadeck und Engstler 2017b, S. 4 ff.). Selbst in
Wohnen im Alter
373
Haushalten mit mindestens einer pflegebedürftigen Person ist jede zweite Wohnung nicht altengerecht (Barmer GEK 2015, S. 18). Neben einem verbessertem Wohnstandard und technischen Hilfsmitteln (bis hin zu AAL) sowie stark ausgebauten Angebotsstrukturen an haushaltsnahen und pflegerischen Dienstleistungen vergrößern auch alternative Wohnformen, insbesondere das Betreute Wohnen, das Spektrum an Gestaltungsoptionen für das Wohnen im Alter (KDA 2014). Alternative gemeinschaftliche Wohnformen (s. u.) sowie quartiersbasiertes vernetztes Wohnen werden in den letzten Jahren durch Bundes- und Landesmodellprogramme sowie auf kommunaler Ebene gefördert. Für das Gemeinschaftliche Wohnen existieren derzeit Initiativen zur Bündelung der zahlreichen Modellprojekte und zur Überführung der Thematik aus einem Nischendasein heraus näher in das Zentrum des Wohnungsmarktes (Schader-Stiftung und Stiftung trias 2008), unabhängig von der notwendigen Klärung der Frage nach der individuellen Passung von Wohnbedürfnissen und Angebot (Schulz-Nieswandt et al. 2012). Pflegepolitisch wird dieser Prozess flankiert durch die gezielte Förderung von Pflegewohngemeinschaften oder barrierefreier Wohnumfeldgestaltung durch Leistungen der Pflegeversicherung. Allerdings nimmt bislang u. a. aufgrund mangelnder Informationen oder fehlender materieller Ressourcen nur ein Bruchteil der Leistungsberechtigten (3,5 %) Zuschüsse der Pflegeversicherung für wohnumfeldverbessernde Maßnahmen nach § 40 SGB XI in Anspruch (Barmer GEK 2015, S. 20 f.). Trotz aktuell quantitativ marginaler Bedeutung alternativer Wohn- und Pflegeformen ist das öffentliche Interesse an ihnen groß. Die sich noch häufig in einer Experimentierphase befindlichen neuen Wohn- und Betreuungsmodelle müssen systematisch evaluiert und sich bewährende Modelle in bestehende Versorgungsstrukturen und Wohngebiete integriert und vernetzt werden (Kricheldorff 2017b; Kremer-Preiß 2018). Die intensive öffentliche Diskussion quartiersbezogener Wohnalternativen vor dem Hintergrund einer wachsenden Nachfrage trägt viel dazu bei, dass Umzüge im Alter nicht mehr nur aus einer Unterstützungsperspektive, sondern auch als Entwicklungs- und Gestaltungsmöglichkeit diskutiert werden (Wahl und Steiner 2014).
2
Handlungs- und erlebensbezogene Aspekte des Wohnens im Alter und Wohnfolgen
Im folgenden Abschnitt werden nun aus der psychologischen Perspektive handlungsund erlebensbezogene Aspekte des Wohnens sowie exemplarische Wohnfolgen fokussiert. Unter Wohnen werden sowohl die eigenen ‚vier Wände‘ als auch die Nachbarschaft, das Quartier, der Stadtteil oder die Gemeinde, in der man lebt, subsumiert (Oswald et al. 2006b; Oswald et al. 2007; Wahl und Oswald 2016; Oswald und Wahl 2019).
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2.1
Dörte Naumann und Frank Oswald
Handlungsbezogene Aspekte des Wohnens am Beispiel von Umzügen im Alter
Fokussiert man bei Wohnhandeln auf Anpassungen und Umzug, so deutet vieles darauf hin, dass die Möglichkeiten der Wohnraumanpassung in Deutschland noch nicht ausgeschöpft sind. So werden Angebote zur Wohnberatung sowie Informationen über Fachberatungsstellen und Schulungsstandards oder Qualitätsstandards für die Wohnberatung nur wenig nachgefragt (z. B. BAG Wohnungsanpassung e. V.). Privatumzüge können in gewöhnliche Wohnungen oder alternative Wohnformen (z. B. Gemeinschaftliches Wohnen) erfolgen und sind von Umzügen ins institutionalisierte Wohnen (Heim) zu unterscheiden. Grundsätzlich finden jenseits von 65 Jahren sehr viel seltener Privatumzüge statt; zu zwei Dritteln erfolgen sie zudem im Umkreis von 50 Kilometern (Friedrich 2008, S. 186). Objektiv führen diese häufig zu einer besseren Ausstattung – auch weil ältere Menschen häufig nach langer Wohndauer aus altem Wohnbestand ausziehen – aber nicht immer zu weniger Wohnfläche, es sei denn, es wird Wohneigentum aufgegeben (Oswald et al. 2002, S. 283). Häufig stellen sich bei Privatumzügen Fragen nach verfügbaren anregenden und barrierefreien Wohnalternativen, vorzugsweise im unmittelbaren Umfeld. Dabei sollte aber nicht von einer eindimensionalen Motivlage, zum Beispiel nach Verkleinerung und leicht zugänglicher Wohnlage im Erdgeschoß, ausgegangen werden. Vielmehr existieren häufig konkurrierende Wohnwünsche (z. B. nach Zugänglichkeit, Sicherheit und Anregung). Eine Grundlage für gute Beratung liegt im Wissen um die Vielfalt von Wohn- bzw. Umzugsmotiven sowie um biografisch gewachsene Wohnbedeutungen und Bindungen, auch jenseits der Erhaltung von Selbstständigkeit. Umzüge in alternative und innovative Wohnformen scheinen eher selten, aber regional stark schwankend, da derzeit nur ca. 1 – 3 % der über 65-jährigen Personen in Deutschland insbesondere im urbanen Raum in alternativen Wohnformen leben (Claßen et al. 2014, S. 52). Etwa 20 % aller Umzüge im Alter sind Heimeinzüge (Friedrich 2008, S. 191). Umzüge ins institutionalisierte Wohnen stellen qualitativ einen Sonderfall dar, da der Heimeinzug, insbesondere im sehr hohen Alter, häufig die Verlängerung einer medizinischen Intervention nach einem Krankenhausaufenthalt ist, bei der die Person selbst wenig Entscheidungsspielraum hat. Ein grundsätzliches Ziel geriatrischer Rehabilitation ist aber, dass z. B. durch Maßnahmen der Wohnraumanpassung dem Patienten/der Patientin die Rückkehr in die angestammte Wohnumwelt ermöglicht wird. Gelingt dies nicht, so hat das häufig mit der Kumulation von Risikofaktoren zu tun, allen voran schlechte Gesundheit (Multimorbidität), zudem mit fehlender Unterstützung durch andere Menschen, fehlenden Alternativen oder einer schlechten Wohnausstattung (Schneekloth und Wahl 2009, S. 97, 244). Der Heimeinzug wurde lange als traumatisches Ereignis (Relokationstrauma) betrachtet und in frühen Studien wurden dramatische Erhöhungen von Desorientiertheit, Passivität, Depressivität und Mortalität festgestellt (Langer und Rodin 1976; Rodin und Langer 1977; Schulz und Brenner 1977; Coffman 1981; Russel et al. 1997).
Wohnen im Alter
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Aktuelle Studien zeigen, dass insbesondere der unfreiwillige Umzug in ein Heim bei hoher Vulnerabilität zu Funktionseinbußen, geringer Lebenszufriedenheit, niedrigem Wohlbefinden und erhöhter Mortalität führen kann. Zudem ist die Vorstellung eines Heimeinzugs bei vielen älteren Menschen extrem angstbesetzt, unabhängig von der geleisteten Betreuung und von verschiedenen Wohn-, Lebens- und Pflegekonzepten in den Heimen (Schneekloth und Wahl 2009). Es soll an dieser Stelle ausdrücklich darauf verwiesen werden, dass Leben und Wohnen im Heim auch mit multiplen Kompetenzeinbußen und kaum Aussicht auf Verbesserung qualitätsvoll und lebenswert sein kann. Dabei werden nicht nur Konzepte zur Sicherung und Verbesserung der Pflege und der Arbeitsbedingungen im institutionellen Kontext, sondern auch zur Etablierung, Sicherung und Verbesserung von Lebensqualität im Heim diskutiert (z. B. Oswald und Rowles 2006; Becker et al. 2011; Claßen et al. 2014). 2.2
Erlebensbezogene Aspekte des Wohnens im Alter am Beispiel von Verbundenheitserleben mit Wohnung, Nachbarschaft und Quartier
Neben dem häufig in Survey-Studien (z. B. Deutscher Alterssurvey, Sozio-ökono misches Panel) genutzten Konstrukt der ‚Wohnzufriedenheit‘ (Residential Satisfac tion) – als zeitstabile kognitive Einschätzung bzw. Einstellung zur Umwelt – werden heute häufig komplexere Erlebensprozesse der Bewertung und Bindung adressiert. Differenzierte Messungen von Stadtteilverbundenheit oder stadtteilbezogener Identität zeigen dabei nicht nur, dass ältere Menschen häufig eine tief empfundene Verbundenheit zu ihrem Quartier haben. Wird die Identifikation mit dem Stadtteil mit einem differenzierten Fragebogen (z. B. zum urbanen Identitätserleben, vgl. Lalli 1992) erfasst, zeigen sich auch differentielle Unterschiede im Hinblick auf andere Aspekte des Erlebens und des Wohlbefindens. Als Beispiel für soziale Aspekte dieser Verbundenheit kann das Erleben der Nachbarschaft begriffen werden, beispielsweise in Form wahrgenommener informeller sozialer Kontrolle, sozialer Zusammengehörigkeit (Kohäsion) sowie sozialer und dinglicher Unordnung (z. B. Personen auf der Straße kennen versus Graffiti) (z. B. Cagney et al. 2009; Oswald und Konopik 2015, S. 404) oder subtiler Formen sozialer Teilhabe (i. S. eines alltäglichen sozialen Austausches) (Naumann 2006). Wiederum zeigen sich insbesondere in ehemals eigenständigen und eher dörflich strukturierten Stadtteilen stärkere Gefühle der Kohäsion in der Nachbarschaft als in anderen, zentrumsnäheren Stadtteilen. Aktuelle Befunde verweisen zudem darauf, dass Teilhabe am Leben im Stadtteil und sozialer Austausch gerade im sehr hohen Alter wichtig sind, wobei neben institutionalisierten Formen gesellschaftlicher Teilhabe (z. B. dem Engagement in politischen Gruppen) insbesondere auch subtile Formen sozialer Teil habe (mitbekommen, was im Stadtteil geschieht und sich darüber austauschen) in den Vordergrund treten (Oswald und Konopik 2015, S. 405).
376
2.3
Dörte Naumann und Frank Oswald
Wohnfolgen am Beispiel von Wohlbefinden und Gesundheit
In welchem Zusammenhang steht Wohnen (also alle Facetten des Handelns und Erlebens im Wohnbereich) mit Wohlbefinden oder Gesundheit ? Grundsätzlich tragen Wohnraumanpassungen zur Verbesserung der Alltagskompetenz und zur Vermeidung bzw. Reduzierung von Stürzen bei, wenngleich die Datenlage als gemischt eingeschätzt werden muss (Wahl et al. 2009). So ist es genau genommen die Zugänglichkeit, also die Passung zwischen Kompetenzen und Barrieren und nicht die reine Anzahl an Barrieren, die Stürze mit vorhersagen kann (Iwarsson et al. 2009, S. 558). Der gemischten Befundlage zu Wohnraumanpassungen steht ein reichhaltiges Praxiswissen bzw. eine Vielzahl von Best-Practice-Beispielen, etwa in Gestalt von Fallstudien oder diversen Daten- und Dokumentationsbeständen von Wohnberatungsstellen sowie praxisnahen Anleitungen und hilfreichen Beratungen, gegenüber (z. B. Narten 2005). Weiterhin wird Wohnraumanpassung auch zunehmend von techni schen Ausstattungen bestimmt. So werden wir in Zukunft vor allem kombinierte Vorgehensweisen sehen, in denen ‚Low Tech‘ Veränderungen, wie Umbaumaßnahmen und Abbau von Barrieren, mit Elementen von ‚Smart Homes‘, wie sensorgestützten Funktionen, etwa von Temperaturregelung und Rollläden, und der Vernetzung und zentralen Steuerung von Hausgeräten, verknüpft werden (Wahl et al. 2010b; vgl. auch Tonello i. d. B.). Bei der Frage nach Zusammenhängen von Wohnhandeln und Wohnfolgen werden selten Aspekte außerhalb der eigenen vier Wände betrachtet, obwohl Wohnungen ja stets in infrastrukturelle Bedingungen eingebunden sind. Studien mit Älteren in sehr deprivierten Nachbarschaften verweisen beispielsweise darauf, dass einerseits deutlich negative gesundheitliche Folgen schlechter Wohnbedingungen gefunden wurden, andererseits aber weiterhin eine hohe Bindung auch an ‚heruntergekommene‘ Wohngegenden besteht (z. B. Scharf und Keating 2012). Gerade im sehr hohen Alter kann die Abhängigkeit des Wohlbefindens vom Gesundheitszustand durch nachbarschaftliche Zusammengehörigkeit und Stadtteilverbundenheit sogar signifikant abgepuffert werden (Oswald und Konopik 2015, S. 406). Vieles deutet darauf hin, dass grundsätzlich höhere Übereinstimmungen zwischen Wünschen und Gegebenheiten im Hinblick auf Ausstattungsmerkmale in der Wohnung und dem Umfeld mit einer engeren Quartiersverbundenheit und höherem Wohlbefinden einhergehen (Oswald et al. 2005, S. 406).
3
Fazit
Wohnen im Alter wird im Zuge der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung sowie der Ausdehnung und Differenzierung der Lebensphase Alter vielfältiger und ist ein wichtiger Ansatzpunkt für die Förderung des Wohlbefindens und der Teilhabe im Alter. Um Wohnen als Ressource alternder Gesellschaften langfristig zu nutzen, sollten auf der
Wohnen im Alter
377
kommunalen Ebene bei der Förderung eines generationenübergreifend gelingenden Zusammenlebens auf Quartiersebene die psychischen und sozialen Dynamiken auf der Handlungs- und Erlebensebene berücksichtigt werden. Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene gilt es, die wachsenden sozialen und sozialräumlichen Ungleichheiten (vgl. dazu Engels, Brettschneider und Klammer sowie Hämel und Wolters i. d. B.) sowie die auch im Alter zunehmend über der Belastungsgrenze von 30 Prozent des Haushaltseinkommens liegenden Wohnkostenbelastungen in Mietverhältnissen (Nowossadeck und Engstler 2017a, S. 295 ff.) sozialpolitisch zu bearbeiten.
Ausgewählte Literatur Claßen, Katrin, Frank Oswald, Michael Doh, Uwe Kleinemas und Hans-Werner Wahl. 2014. Umwelten des Alterns: Wohnen, Mobilität, Technik und Medien. Stuttgart: Kohlhammer. Mahne, Katharina, Julia K. Wolff, Julia Simonson und Clemens Tesch-Römer. Hrsg. 2017. Altern im Wandel: Zwei Jahrzehnte Deutscher Alterssurvey (DEAS). Wiesbaden: Springer. Oswald, Frank, und Hans-Werner Wahl. 2016. Alte und neue Umwelten des Alterns – Zur Bedeutung von Wohnen und Technologie für Teilhabe in der späten Lebensphase. In Teilhabe im Alter gestalten. Festschrift zum 25-jährigen Bestehen der Forschungsgesellschaft für Gerontologie e. V. Dortmund. Hrsg. Naegele, Gerd, Elke Olbermann und Andrea Kuhlmann, 113 – 130. Heidelberg: Springer.
Soziale Netzwerke im Alter Harald Künemund und Martin Kohli
1
Einleitung
Mit dem Konzept des sozialen Netzwerks werden in der Soziologie Beziehungsgeflechte von Individuen, Gruppen, Organisationen oder auch Gesellschaften beschrieben und analysiert. Diese Netze können z. B. hinsichtlich Umfang und Dichte, aber auch hinsichtlich der Qualität der Beziehungen oder des Austauschs zwischen den Mitgliedern näher untersucht werden. Werden Individuen betrachtet, stehen zumeist die soziale Integration und der Austausch z. B. mit Familienangehörigen, Freunden oder Nachbarn im Mittelpunkt des Interesses. Damit sind zentrale Aspekte des Lebens im Alter angesprochen: Soziale Netzwerke umfassen gesellschaftliche Partizipation, soziale Integration und Unterstützungsleistungen verschiedenster Art (vgl. z. B. Diewald 1991; Litwin 1996; Künemund und Hollstein 2005; Otto 2005b; Mewes 2010; Hormann 2013). Sie können dazu beitragen, negative Lebensereignisse wie Verwitwung zu bewältigen (z. B. Ferraro 1984; Li 2007), sie haben Einfluss auf die Sterblichkeit (z. B. Moen et al. 1989; Musick et al. 2004; Rasulo et al. 2005; Litwin und Shiovitz-Ezra 2006) und generell eine soziale Sicherungsfunktion (Wall et al. 2001; Lyberaki und Tinios 2005). Soziale Netzwerke haben insofern einen erheblichen sozialen, psychischen und ökonomischen Wert, und dies gilt in besonderem Maße im Alter. In Soziologie und Gerontologie hat sich der Schwerpunkt bei der Betrachtung sozialer Integration im Alter mehrfach verschoben. Zunächst standen Tätigkeiten und Aktivität als solche im Mittelpunkt. Aus dieser Perspektive ergab sich mit dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben das Problem der Anpassung an den Verlust der Erwerbsrolle. Ähnlich wurden die Rolleneinbußen im Bereich der Familie (Erwachsenwerden der Kinder, Verlust des Ehepartners/der Ehepartnerin) verstanden. Die Aktivitätskonzepte (z. B. Cavan et al. 1949; Havighurst und Albrecht 1953) gingen in diesem Zusammenhang davon aus, dass diese Verluste im Alter nur durch neue Rol© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_31
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Harald Künemund und Martin Kohli
lenaktivitäten wettgemacht werden könnten. „Erfolgreich altern“ (Lawton 1946) bedeutete schon damals in erster Linie Anpassung an alterskorrelierte Verluste als eine individuelle Leistung, die es psychologisch zu beschreiben und erklären galt (vgl. z. B. auch Baltes und Carstensen 1996). Die Disengagement-Theorie (Henry und Cumming 1959; Cumming und Henry 1961) stellte diese Vorstellungen mit einer soziologischen Blickrichtung systematisch in Frage und kontrastierte das Aktivitätsideal mit einem Rückzugsideal (vgl. zu dieser Strategie Cumming 1975, S. 190). Demnach sei der Rückzug der Älteren aus den Rollen des mittleren Erwachsenenalters unvermeidlich und für sie auch funktional, indem er ihnen Zeit für die Vorbereitung auf ihren späteren totalen Rückzug aus dem sozialen Leben gibt – den Tod. Zugleich ist dies funktional für die gesellschaftliche Ordnung, da die Rollenträger/-innen nicht auf einen Schlag und in unregelmäßiger Folge (bei ihrem Tode) aus allen ihren Rollen herausfallen und eine geregelte Ablösung möglich wird. Die Behauptung einer solchen gesellschaftlichen Funktionalität zog Kritik auf sich und insbesondere die These, ein Rückzug der Älteren aus ihren wesentlichen gesellschaftlichen Rollen sei nicht nur für die Gesellschaft funktional, sondern auch für sie selber befriedigend, wurde zum Gegenstand einer großen Zahl von empirischen Untersuchungen – mit überwiegend negativen Ergebnissen (z. B. Hochschild 1975; vgl. auch bereits die Übersichten bei Tews 1971 und Lehr 1972). Cumming (1975, S. 191) hielt diese Detailfrage allerdings für ein grundlegendes Missverständnis: „Disengagement theory does not predict morale“. Empirisch jedenfalls zeigte sich wiederholt, dass die durchschnittliche Anzahl der Personen im persönlichen Netzwerk in höheren Altersgruppen geringer ist, wobei mit zunehmendem Alter eine Konzentration auf enge Angehörige erfolgt (vgl. exemplarisch für viele Studien Wagner und Wolf 2001; in Längsschnittstudien wird zugleich nicht selten eher Konstanz festgestellt, vgl. z. B. Palmore 1981, S. 83 ff.). Als Erklärungen für diese Konzentration auf enge Angehörige wurden z. B. Normen der Zuständigkeit (z. B. Cantor 1979), Opportunitätsstrukturen und Reziprozitätsverpflichtungen in sozialen Konvois (Kahn und Antonucci 1980) oder auch eine Konzentration auf die emotional bedeutsamsten Beziehungen (Carstensen 1991) angeführt, manchmal sogar auf genetische Grundlagen verwiesen (z. B. Neyer und Lang 2003). Zwar können auch ‚schwache‘ Beziehungen in Netzwerken (Granovetter 1973) bedeutsam sein – etwa bei der Informationsbeschaffung und bei Tätigkeiten, die eine gewisse Spezialisierung oder Expertise benötigen (z. B. Litwak 1985), oder auch im Hinblick auf soziale Integration –, aber im höheren Alter gewinnen ‚starke‘ Beziehungen offensichtlich an Bedeutung. Wie Existenz, Größe und Verlässlichkeit persönlicher Netzwerke im Alter sich zukünftig entwickeln, ist deshalb für die Sozialpolitik seit Jahrzehnten eine zentrale Frage. Wenn die Anzahl älterer Menschen steigt, diese aber über tendenziell kleinere familiale Unterstützungsnetzwerke (in denen ‚starke‘ Beziehungen angenommen werden) verfügen, steigt möglicherweise der Bedarf an Unterstützung durch Staat, Markt und den Dritten Sektor. Wir werden vor diesem Hintergrund im Folgenden
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zunächst einen kurzen Überblick über ausgewählte empirische Befunde zur gegenwärtigen Struktur der Netzwerke geben, um anschließend Argumente für Veränderungen in diesem Bereich diskutieren zu können.
2
Soziale Beziehungen im Alter
Die sozialen Netzwerke älterer Menschen in der Bundesrepublik sind inzwischen mehrfach Gegenstand repräsentativer Untersuchungen gewesen (vgl. hierzu die Übersichten in Künemund und Hollstein 1995; Otto 2005b). Die bislang umfassendste Deskription wurde auf Basis des Alters-Survey 1996 vorgelegt (Kohli et al. 2000; Küne mund und Hollstein 2005), einer repräsentativen Befragung der 40- bis 85-jährigen deutschen Bevölkerung in Privathaushalten. Hier wurden nicht nur die Größe und Struktur der faktischen, sondern auch jene der potenziellen Hilfenetze analysiert und zugleich verschiedene Dimensionen sozialer Unterstützungsleistungen – emotionale, kognitive und instrumentelle Hilfen – wie auch die Einbindung in soziale Interaktionen generell betrachtet (vgl. ausführlich Kohli und Künemund 2005). Wir können an dieser Stelle nur einen sehr knappen Überblick geben, der sich auf das Erhebungsjahr 2014 bezieht – Datengrundlage sind die vom FDZ-DZA des Deutschen Zentrums für Altersfragen (DZA) herausgegebenen Daten des Deutschen Alterssurveys (DZA 2014b). Zunächst bestätigt sich, dass die durchschnittliche Anzahl der Personen im persönlichen Netzwerk mit zunehmendem Alter abnimmt. Ein Grund dafür ist die Verwitwung. Der Anteil der Personen mit Ehe- oder Lebenspartner/-innen geht mit zunehmendem Alter stark zurück; bei den 80- bis 85-Jährigen lag er 2014 nur noch bei 53 %. Allerdings lag dieser Anteil 1996 noch bei 45 %. So gesehen gibt es heute mehr ältere Paare in der Altersgruppe der 80- bis 85-Jährigen als je zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik – neben der steigenden Lebenserwartung ist hier als Erklärung an den kriegsbedingten Frauenüberschuss zu denken, der das Nachkriegsdeutschland bis vor kurzem stark geprägt hatte. Abgesehen von den Partnerschaften sind die Ursachen für die Abnahme der Netzwerkgröße kaum auf demografische Veränderungen in der Familienstruktur zurückzuführen. Über die gesamte Altersspanne von 40 bis 85 Jahren betrachtet haben 2014 jeweils über 70 % der Befragten Angehörige aus mindestens zwei weiteren Generationen, lediglich die Zusammensetzung verändert sich: Sind es bei den Jüngeren eher Eltern und Kinder, so sind es bei den Älteren vor allem Kinder und Enkel. Lebende Kinder haben 89 % der 70- bis 85-Jährigen (auch bei den 80- bis 85-Jährigen sind es 89 %), bei den 55- bis 69-Jährigen sind es 87 %, bei den 40- bis 54-Jährigen 80 % (bei den 40- bis 44-Jährigen nur 76 %). Der oft beschriebene Rückgang der Geburtenhäufigkeit wird also allmählich in der zweiten Lebenshälfte sichtbar, aber dass im Falle einer Pflegebedürftigkeit im Alter zunehmend seltener auf das Pflegepotenzial der eigenen Kinder zurück gegriffen werden kann, wird erst nach 2045 zum Problem werden.
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Harald Künemund und Martin Kohli
Die kleineren Netzwerke älterer Menschen stehen bislang also eher im Zusammenhang mit dem Verlust der (Ehe-)Partner/-innen als dem Fehlen von Kindern. Die Älteren haben auch deutlich seltener Freunde als die Jüngeren – bei den 80- bis 85-Jährigen sind dies 65 %, bei den 40- bis 44-Jährigen 91 %. Ein Vergleich mit den Daten von 1996 zeigt aber, dass der Anteil von Personen mit Freunden deutlich ansteigt (z. B. waren es 1996 bei den 80- bis 85-Jährigen 49 %, bei den 40- bis 44-Jährigen 83 %). Bei Betrachtung von Geburtskohorten zeigt sich in diesem Zeitraum eine relativ hohe Stabilität dieses Anteils, und zwar bei Männern und Frauen (vgl. hierzu auch Böger et al. 2017). Zur Anzahl der Freunde lassen sich mit dieser Datenbasis zwar keine seriösen Angaben machen, aber soweit können wir davon ausgehen, dass künftige Ältere häufiger Freundschaften haben werden. Fehlende Verwandtschaftsbeziehungen ersetzen können diese aber wohl nicht vollständig. Das Beispiel der Kinderlosen, die wir mit den Daten von 1996 näher betrachtet hatten (vgl. Künemund und Hollstein 2005), ist dafür instruktiv: Bei ihnen hatten Geschwister ein höheres Gewicht in den potenziellen Unterstützungsnetzwerken, aber im Vergleich zu den Personen mit Kindern war ein deutlich kleineres Unterstützungspotenzial zu konstatieren: Kinderlose nannten Geschwister und Freunde nicht annähernd so häufig als potenzielle Unterstützer wie ältere Eltern ihre Kinder. Bei den Unterstützungsleistungen – sowohl den faktischen wie den potenziellen – dominierten mit deutlichem Abstand (Ehe-) Partner/-innen und Kinder. Kinderlose erhielten nicht viel seltener Hilfen von Personen außerhalb des Haushalts als Eltern, und auch die durchschnittliche Anzahl der faktischen Helfer/-innen unterschied sich nicht signifikant. Aber es sind eher professionelle Helfer/-innen als Freunde und entfernte Verwandte, die den Kinderlosen instrumentelle Unterstützungen geben. Erwachsene Kinder wohnen seltener als in früheren Zeiten mit ihren Eltern zusammen in einem Haushalt. Der Rückgang der Mehrgenerationenhaushalte an sich ist jedoch kein Indikator für schwindenden familialen Zusammenhalt, im Gegenteil: Die Qualität der familialen Generationenbeziehungen dürfte von einer gewissen räumlichen Distanz und Unabhängigkeit sogar profitiert haben („innere Nähe durch äußere Distanz“, Tartler 1961). Aber auch wenn man das Zusammenleben im gleichen Haus, aber in getrennten Haushalten, oder das Wohnen in der unmittelbaren Nachbarschaft einbezieht, muss man konstatieren, dass die Wohnentfernungen zwischen den Generationen ansteigen (vgl. Mahne und Huxhold 2017). Damit könnte auch regelmäßige Unterstützung durch Kinder schwieriger werden. Und wo Alterseinkünfte nicht ausreichen, fehlende Leistungen am Markt zu kaufen, oder wo die regionale Infrastruktur dies nicht ermöglicht, könnte dies zu besonderen Belastungen der Kinder führen, also sozial und regional differenziert insbesondere die Kinder der geburtenstarken Jahrgänge treffen. Betrachten wir die gesellschaftliche Partizipation im Sinne von Tätigkeiten außerhalb der Familie, Engagement für andere und Mitgliedschaft in formellen und informellen Gruppen verschiedenster Art, zeigt sich bei fast allen Partizipationsformen ein Rückgang in den höheren Altersgruppen. Hier kann aber gezeigt werden, dass
Soziale Netzwerke im Alter
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sowohl Kohorteneffekte als auch Periodeneffekte gegenwärtig zu einer Zunahme des Engagements beitragen (Künemund und Vogel 2020). Die existierende ‚Produktivität‘ der Älteren im Sinne einer gesellschaftlichen Ressource ist beträchtlich und hat in den letzten Jahrzehnten nochmals deutlich zugenommen. Die damit verbundenen ‚schwachen‘ Beziehungen sind zu den ‚starken‘ im engeren Kontext von Familie und informellen Netzwerken hinzuzurechnen. Es wäre insofern auch falsch, die Älteren allein als passive Hilfeempfänger/-innen in ihren sozialen Netzwerken zu betrachten, sie sind im Gegenteil auch als Unterstützungsleistende aktiv. Zwar umfasst der Kreis der sog. Leistungsträger in den meisten Feldern bisher nur eine Minderheit der Älteren, die hinsichtlich ihrer sozio-demografischen Merkmale bevorteilt sind (insbesondere im Hinblick auf Bildung, Gesundheit und Einkommen; vgl. dazu Stiehr und Garrison, Homfeldt, Engels sowie Karl und Kolland i. d. B.). In Zukunft dürfte sich im Zuge der Verbesserung der individuellen Ressourcen dieser Kreis erweitern und damit die Bedeutung zumindest der ‚schwachen‘ Beziehungen zunehmen.
3
Künftige Veränderungen und Herausforderungen
Heute dominieren in der öffentlichen Diskussion zugleich Chancen und Risiken der Zukunft. Befürchtungen hinsichtlich der künftigen Verfügbarkeit und Verlässlichkeit sozialer Unterstützungsnetzwerke älterer Menschen sind weit verbreitet. Dabei werden ganz verschiedene Aspekte und Trends angeführt: Enttraditionalisierung und Individualisierung, Zunahme von Kinderlosigkeit, Scheidungen und Single-Haushalten, Verdrängung informeller Unterstützungen durch den (angeblich zu großzügigen) Sozialstaat, steigende Arbeitsmarktbeteiligung der Frauen und – damit einhergehend – steigende geografische Mobilität. Die drohende Überlastung der mittleren Generation durch Anforderungen aus dem Erwerbsleben und zugleich von Seiten älterer und jüngerer Angehöriger (die sog. Sandwich-Situation) lassen die Zukunft familialer und nachbarschaftlicher Unterstützung älterer Menschen wenig erfreulich erscheinen. Bei genauerer Betrachtung wirken allerdings nicht all diese Entwicklungen zwangsläufig negativ auf die Unterstützungsnetzwerke. Was zunächst die potenzielle Verfügbarkeit von Partner/-innen und Kindern betrifft – den bislang wichtigsten Unterstützungspersonen in den sozialen Netzwerken älterer Menschen –, sind die Veränderungen in den nächsten 20 Jahren wenig dramatisch. Wie bereits beschrieben, wird die Zahl der Kinder in diesem Zeitraum (noch) kaum zurückgehen, und der Anteil älterer Alleinlebender könnte sogar weiter sinken. Dagegen können die steigende Erwerbsbeteiligung und der spätere Austritt aus dem Erwerbsleben zu einer Abnahme des Unterstützungspotenzials für Ältere führen. Allerdings wird eine ggf. aus Erwerbstätigkeit und Pflege resultierende Doppelbelastung nicht generell durch die Existenz von Kindern zusätzlich verschärft, wie dies die These von der Sandwich-Generation nahelegt (vgl. ausführlicher hierzu Künemund 2006). Eindeutig sind auch die Befunde zum Zusammenhang öffentlicher und pri-
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Harald Künemund und Martin Kohli
vater Unterstützungsleistungen: Die häufig unterstellte Verdrängung familialer durch sozialstaatliche Unterstützungsleistungen (crowding out) ist eher die Ausnahme als die Regel (vgl. Kohli 1999; Künemund und Rein 1999; Künemund 2008). Die wohlfahrtsstaatliche Umverteilung von den Erwerbstätigen zu den Rentner/-innen und Pensionär/-innen schafft Freiräume und stellt Ressourcen bereit, welche die Qualität familialer intergenerationeller Beziehungen positiv beeinflussen: Der Rückgang der Notwendigkeit zur direkten finanziellen Unterstützung der Eltern und die Bereitstellung auch von Dienstleistungen (z. B. Pflege) durch den Wohlfahrtsstaat entlastet die einzelnen Familienbeziehungen stark, wo sonst der Zwang zu Pflege oder finanzieller Unterstützung zu angespannten Beziehungen führen würde. Die damit einhergehende Stärkung der gesellschaftlichen und familialen Position der Älteren, die nicht einfach passive Empfänger/-innen von Hilfe bleiben müssen, gibt ihnen die Möglichkeit, im Generationenverhältnis selbst Unterstützung zu leisten. Auch jenseits der Familie ermöglicht der Sozialstaat, indem er den Älteren ihre materielle Existenz sichert, produktive Tätigkeiten und somit die Einbindung in soziale Netze. Der gesellschaftliche Zusammenhalt wird damit gestützt, nicht unterminiert. Der Rückbau sozialstaatlicher Leistungen könnte daher nun das Gegenteil bewirken, vermutlich in sozial differenzierter Weise: Wo fehlende Leistungen am Markt gekauft werden können, wird das weniger ins Gewicht fallen als dort, wo die ökonomische Notwendigkeit zum Rückgriff auf Familienangehörige zwingt. Dies gilt analog auch für die derzeit mit großen Hoffnungen verbundene Entwicklung neuer Technologien, die sowohl bei der Pflege als auch z. B. bei der sozialen Einbindung im Alter zunehmend eingesetzt werden sollen: Auch hier könnten bestehende soziale Ungleichheiten verschärft werden, wenn nur Bessergestellte sich solche Technologien leisten können. Ohnehin bestehen in diesem Bereich durchaus auch Risiken und Nebenwirkungen, belastbare Untersuchungen hierzu fehlen weitgehend (vgl. hierzu z. B. Künemund und Tanschus 2013; Künemund 2015b; Kolland et al. 2019; vgl. auch Tonello i. d. B.). Bislang weist jede jüngere Kohorte beim Übergang in den Ruhestand ein höheres Ausbildungsniveau, eine bessere Gesundheit und eine bessere materielle Absicherung auf, verfügt also über mehr Ressourcen für eine eigenständige Lebensführung, Aktivität und Engagement. Sofern diese Trends anhalten – was Einkommensarmut im Alter betrifft, ist das leider nicht sehr wahrscheinlich (vgl. z. B. Vogel und Künemund 2018) – kann mit einer höheren Partizipation gerechnet werden, weil Gesundheit, materielle Absicherung und vor allem Bildungsniveau starke Prädiktoren der gesellschaftlichen Aktivität der Älteren (z. B. im ehrenamtlichen Engagement) sind. Dies sollte sich auch auf die Dichte persönlicher sozialer Netzwerke und die Funktionsfähigkeit sozialer Beziehungen positiv auswirken.
Soziale Netzwerke im Alter
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Ausgewählte Literatur Hahmann, Julia. 2019. Gemeinschaft, Netzwerke und soziale Beziehungen im Alter. In Handbuch Soziologie des Alter(n)s. Hrsg. Schroeter, Klaus R., Claudia Vogel und Harald Künemund. Wiesbaden: Springer VS. doi: 10.1007/978-3-658-09630-4_28-1. Hollstein, Betina. 2001. Grenzen sozialer Integration. Zur Konzeption informeller Beziehungen und Netzwerke. Opladen: Leske + Budrich. Tesch-Römer, Clemens. 2010. Soziale Beziehungen alter Menschen. Stuttgart: Kohlhammer.
Gesundheit und Krankheit im Alter Hans Günther Homfeldt
1
Einleitung
Gesundheit und Krankheit sind kategoriale sich auf biologische Grundlagen und menschliches Handeln beziehende Begriffe. Je nach Zeit und (sozialem) Raum füllen sie sich neu. Gleichzeitig sind Gesundheit und Krankheit an Wertvorstellungen der Gesellschaft gebunden, indem die Deutungen zu Gesundheit und Krankheit „zwischen den individuellen Körpern des Menschen und gesellschaftlichen Anforderungen an ein bestimmtes Verhalten“ (Labisch 1999, S. 481 f.) vermitteln. Die gesellschaftlichen Erwartungen sind den Körpern kulturell eingeschrieben. Mit wachsender Tendenz haben sich die Erwartungen in der postindustriellen Gesellschaft zu einem profitablen Markt bis ins hohe Lebensalter entwickelt. Gesundheit droht dabei zu einem Fetisch zu verkommen, der das Sterben und den Tod aus dem gelebten und erlebten Alltag verdrängt hat. Eine solche Tendenzbeschreibung artikuliert sich je nach Lebenslage noch einmal unterschiedlich. Fassen wir Lebenslage als Spielraum des Einzelnen, seine materiellen und immateriellen Interessen zu gestalten, so zeigt sich zum einen in substanzieller Hinsicht, dass die Voraussetzungen dazu in allen Lebensaltern ungleich verteilt sind, zum anderen wird konzeptionell sichtbar, dass ein solcher Lebenslagen-Ansatz trotz unterschiedlicher Wurzeln dem Capability-Ansatz von Amartya Sen (1999) nahesteht. Beide Ansätze gehen davon aus, dass der Handlungsspielraum einer Person Einfluss auf ihr Wohlergehen hat (Leßmann 2006, S. 30). Mit der Zunahme von gesellschaftlichen Benachteiligungen sinkt ein solcher Spielraum.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_32
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Hans Günther Homfeldt
Gesundheit und Krankheit
Da Gesundheit und Krankheit im Alter nicht allein durch altersphysiologische Veränderungen von Organen (etwa zelluläre und systemische Veränderungen des Organismus) bedingt, sondern ebenso der Umgang mit Risikofaktoren (z. B. Rauchen, zu wenig Bewegung) in vorangegangenen Lebensjahrzehnten, aber auch äußere Faktoren (wie Lärm und Gifte) wichtige Wirkfaktoren sind, ist es schwierig, zwischen altersbezogenen behandlungsbedingten Erkrankungen und altersbedingten Funktionsverlusten zu unterscheiden (Tesch-Römer und Wurm 2009, S. 11). Wenn auch Gesundheit im Zuge des Älterwerdens zunehmend brüchiger wird, so gilt dies nicht unbedingt für Gesundheit allgemein, wie Tesch-Römer und Wurm (ebd., S. 12 – 15) in Bezug auf somatische und psychische Gesundheit, funktionale Gesundheit und subjektive Gesundheit herausarbeiten. Subjektive Gesundheit reflektiert nicht einfach einen objektiven Gesundheitszustand, sondern sie ist (ebd., S. 14) ein sensitiverer Indikator für das Mortalitätsrisiko als der objektive Gesundheitszustand. Überdies „stimmen subjektive Gesundheitseinschätzung und objektiver Gesundheitsstatus im hohen und höheren Alter im Vergleich zu jüngeren Altersgruppen am geringsten überein“ (ebd.). Die Unterscheidung zwischen altersbezogener Erkrankung und altersassoziierten Veränderungen ist von großer Bedeutung für das eigene aktive Altern. Wird eine altersassoziierte Veränderung als Krankheit wahrgenommen, sinkt voraussichtlich die Motivation, etwas in Bezug auf das beobachtete „Krankheitsphänomen“ zu unternehmen (BMG 2012, S. 20). Entsprechend ist es schlüssig, „dass eine positive Sicht auf das Älterwerden im Längsschnitt mit niedrigerer Morbidität und Mortalität assoziiert ist“ (ebd.). Im Kontext dieser Überlegungen stellt sich die Frage, welche weiteren Wirkgrößen zu Gesundheit und Krankheit im höheren Lebensalter beitragen. Neben der medizinischen und pflegerischen Versorgung sind dies der Lebensstil, mit ihm verknüpft psychosoziale Faktoren, vor allem aber die sozial ungleichen Lebenslagen, die sich als gesundheitliche Ungleichheit in ganz besonderer Weise bemerkbar machen.
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Lebenslage und gesundheitliche Ungleichheit
Im Verlauf der zurückliegenden drei Jahrzehnte belegen internationale wie nationale empirische Studien zunehmend prägnanter den Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Verhältnissen und Gesundheit. Dies trifft nicht nur auf die Morbidität, sondern auch auf ihre Auswirkungen auf funktionelle Kapazitäten bei chronischen Erkrankungen wie auch den Eintritt von Pflegebedürftigkeit zu (ebd., S. 17). In diesem Zusammenhang profitieren bei allgemein steigender Lebenserwartung sozioökonomisch benachteiligte Bevölkerungsgruppierungen deutlich weniger vom Gesundheitsgewinn im höheren Lebensalter als privilegierte Gruppierungen.
Gesundheit und Krankheit im Alter
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Soziale Ungleichheit: Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status tragen
eine ungleich höhere Last bei fast allen Krankheiten und Todesursachen, und zwar in allen Lebensaltern in Deutschland und den meisten anderen Ländern (Huisman 2008, S. 359). Zumindest im Vergleich zu anderen Lebensaltern gibt es im höheren und hohen Lebensalter immer noch relativ wenige Untersuchungen, obwohl in beiden Lebensaltern die größte Krankheitslast feststellbar ist und die Alterung in der Bevölkerung insgesamt immer sichtbarer wird. So wird in der Gesundheitsberichterstattung des Bundes (RKI 2015, S. 410) festgestellt, für typische Gesundheitsprobleme im Alter wie kognitive Einschränkungen, Mobilitätsprobleme und Stürze, Gebrechlichkeit (frailty), Einschränkung von Aktivitäten des täglichen Lebens und Morbidität gebe es nur wenige oder gar keine Daten für Deutschland. Vor allem gelte dies für Personen, die in Institutionen wie Senioren- und Pflegeheimen lebten. Der Einfluss der sozialen Lage auf die gesundheitliche Situation im Alter wird in den Sozialwissenschaften recht unterschiedlich eingeschätzt. So stellen Backes und Amrhein (2008, S. 72) fest, dass die Möglichkeiten zu einer sinnerfüllten Lebensführung im Alter weiterhin aufgrund lebensverlaufsbezogener Differenzierung sozial ungleich verteilt bleiben. Wenngleich empirische Studien eine tendenziell sinkende Relevanz der Lebenslage im höheren Lebensalter bestätigen, ist gleichwohl eine genaue Prognose zur Abschwächung sozialer Gradienten für gesundheitliche Lebenschancen im Alter noch nicht möglich (Bauer und Büscher 2008, S. 23); denn bei besonders belasteten Gruppen schwächt sich der soziale Gradient gesundheitlicher Lebenschancen nicht entsprechend ab. Morbiditäts- und Mortalitätsunterschiede bleiben stabil oder nehmen sogar noch zu. Grundsätzlich ist registrierbar, dass Handlungsspielräume direkt Einfluss nehmen auf das Wohlergehen. Fassbar sind Handlungsspielräume im Sinne von Sen (1999) als ein Bündel von Funktionen (functionings), die aus einem Set von Verwirklichungschancen gewählt werden (Leßmann 2006, S. 30). Die Gesamtmenge an Verwirklichungschancen umfasst den Handlungsspielraum. Mit der Anzahl erreichbarer Lebenssituationen steige das Wohlergehen, weil der Handlungsspielraum größer werde. Das Wohlergehen sei aber über Wahlfreiheiten hinaus auch von der Qualität der erreichbaren Lebenssituationen abhängig (ebd., S. 34). Um Unterschiede in Bezug auf Verwirklichungschancen und mit ihnen die Gestaltbarkeit von Wohlergehen im Alter zu erklären, ist es nicht mehr hinreichend, die sozioökonomischen Indikatoren und die materiellen Ressourcen (z. B. Hauseigentum) heranzuziehen, vor allem kommt es auch auf die ungleiche Verteilung von psychosozialen Belastungen und Ressourcen an. Bedeutsam ist, „dass die Angehörigen benachteiligter Bevölkerungsgruppen über geringere personale und soziale Ressourcen verfügen, um vorhandene psychosoziale Belastungen zu bewältigen“ (Lampert 2016, S. 175). Zur prägnanteren Erfassung der Ursachen gesundheitlicher Ungleichheiten ist zunehmend der Faktor Lebenszeit in den Vordergrund wissenschaftlicher Reflexion gerückt. Auf der individuellen Ebene finden vor allem die Erkenntnisse der lebensverlaufsbezogenen Epidemiologie Berücksichtigung (ebd.).
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Hans Günther Homfeldt
Lebensverlaufsbezogene Epidemiologie: Verstärkt in den Blick ist die Erkenntnis gelangt, dass Lebenslagen im Alter Produkt lebensverlaufsbezogener Entwicklungen sind (vgl. auch Brettschneider und Klammer i. d. B.). Entsprechend hat in den zurückliegenden zwanzig Jahren die lebensverlaufsbezogene Epidemiologie erheblich an Bedeutung gewonnen. Sie zeigt, „wie die Gesundheit durch biologische und soziale Bedingungen beeinflusst wird, die im Lauf des Lebens und sogar über Generationen hinweg interagieren und wie deren ungleiche Verteilung in der Bevölkerung zur Erklärung ungleicher Erkrankungsrisiken beiträgt“ (Siegrist und Marmot 2008, S. 34).
Für diesen Forschungsansatz ist eine öko-soziale Sicht zentral. Die Frage „Beeinflus sen Expositionen in frühen Lebensabschnitten die Entwicklung von gesundheitli cher Ungleichheit im Erwachsenenalter ?“ (Power und Kuh 2008, S. 46) kann auf der Grundlage von Längsschnittstudien zunehmend deutlicher mit Ja beantwortet werden. Wenn auch die sozialen Gradienten im höheren Lebensalter tendenziell an Stabilität einbüßen sollten, so ist doch epidemiologisch bestätigt, „dass produktive Ältere nicht nur eine bessere Gesundheit aufweisen, sondern im Durchschnitt auch länger leben“ (Siegrist und Marmot 2008, S. 36). Eine solche Erkenntnis stimmt überein mit der programmatischen Aussage in der Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation von 1986, in der eine selbstbestimmte, persönlich sinnerfüllte Lebensgestaltung ein zentrales Merkmal von Gesundheit im Alter sei. Gesundes Altern ist – neben körperlichen und seelischen Aspekten – gebunden an aktive Lebensgestaltung und eine positive Einstellung zum Leben (vgl. WHO 1986). Salutogenese: In Anlehnung an die vom israelischen Medizinsoziologen Aron Anto
novsky (1997) entwickelte systemtheoretische Theorie der Salutogenese (Homfeldt und Sting 2018, S. 568), einem dynamischen und heterostatischen Grundverständnis von Gesundheit, ist die zentrale Frage: Warum gelingt es einigen Menschen trotz möglicherweise vieler widriger Gegebenheiten im Leben gesund zu altern ? Da das Kohärenzgefühl die Ordnung und Organisation im Organismus bestimmt, wird eine hohe Ausprägung dieser globalen Lebensorientierung Personen in unterschiedlicher Weise zur (Re-)Aktivierung von generalisierten Widerstandsressourcen (GRRs) befähigen (Wiesmann 2005, S. 75). Im Alter hat sich die bio-psycho-soziale Einheit Mensch mit zunehmend mehr alterungsbezogenen Stressoren auseinanderzusetzen. Nicht zuletzt deshalb ist das Kohärenzgefühl, gegliedert in seine drei Komponenten Verstehbarkeit (comprehensibility), Handhabbarkeit (manageability) und vor allem Sinnhaftigkeit (meanigfulness), von besonders hoher Wichtigkeit. Aufgrund des Alterungsprozesses und mit ihm einhergehender Krankheitsvorgänge wird das Kohärenzgefühl als dynamisches Geschehen immer öfter auf eine Bewährungsprobe gestellt. Lebenserhaltend wirkt dabei vor allem der sinnstiftende Bereich, zu dem auch eine spirituelle Ausrichtung zu rechnen ist. Da sich das biologische, das psychische
Gesundheit und Krankheit im Alter
391
und das soziale System wechselseitig beeinflussen, ist es für ein gesundes Altern unerlässlich wichtig, interpersonelle Beziehungen (Partnerschaft, Familie, Freunde) zu pflegen. Trotz eines ausgeprägt starken Kohärenzgefühls (sense of coherence) nehmen die Risiken physisch zu erkranken mit wachsendem Alter zu.
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Körperliche Erkrankungen im Alter „Neben der größeren Häufigkeit von Krankheiten sind die veränderte, oft unspezifische Symptomatik, der längere Krankheitsverlauf und die verzögerte Genesung wichtige Merkmale von Erkrankungen im Alter.“ (Saß et al. 2009b, S. 32)
Im fortgeschrittenen Lebensalter sind organisch physiologische und morphologische Veränderungen, z. B. in Form nachlassender Seh- und Hörkraft, abnehmender Lungenfunktion etc. registrierbar. Diese Veränderungen sind als irreversible Veränderungen auf zellulärer Ebene zu kennzeichnen. „Alternsprozesse sind […] normale, d. h. nicht krankhafte Prozesse“ (Ding-Greiner und Lang 2004, S. 184). Sie erhöhen aber die Vulnerabilität des Organismus und seine Empfänglichkeit für Krankheiten. Die häufigsten Erkrankungen sind die der Atemwege, Dorsopathien, Arthrosen, Störungen des Lipidstoffwechsels, Diabetes mellitus, zerebrovaskuläre Erkrankungen, ischämische Herzkrankheiten, Herzinsuffizienz und Bluthochdruck. Beeinflusst werden die Krankheiten durch soziale Determinanten. Mit fortschreitendem Alter verschlechtert sich in aller Regel der Gesundheitszustand: Während bereits 40,5 % der 40- bis 54-Jährigen ein gleichzeitiges Vorhandensein von mindestens zwei Krankheiten registrieren, so sind es bei den 70- bis 85-Jährigen schon 79 % (Wurm und Tesch-Römer 2006, S. 374), wobei ein Viertel der 70- bis 85-Jährigen eine ausgeprägte Multimorbidität aufweisen. Gleichwohl schätzen Personen im Alter von 66 bis 83 Jahren 2014 häufiger ihre funktionale Gesundheit besser ein als noch im Jahr 2008, wohingegen der Anteil der Personen mit guter funktionaler Gesundheit unter den unter 66-Jährigen auf der Basis ihrer Selbsteinschätzung zwischen 2008 und 2014 abgenommen hat (Wolff et al. 2017, S. 125). Dabei zeichnen sich Morbiditätskompressionen bei Hochgebildeten und Morbiditätsexpansionen bei Personen mit niedrigerer Bildung ab. Die objektiv bessere Gesundheit von Hochgebildeten gegenüber den anderen Bildungsgruppen hat sich im gleichen Zeitraum weiter vergrößert (ebd., S. 135). Mit der Zunahme von Erkrankungen und der Wahrnehmung körperlicher Veränderungen im höheren Lebensalter gewinnen Gesundheit und Krankheit als interindividuelles Gesprächsthema an Bedeutung. Mit zunehmendem Alter werden Gesundheit und Krankheit zu einem wichtigen Bildungsthema. In der älteren Bevölkerung werden die funktionelle (bzw. objektive) sowie die subjektive Gesundheit zu wichtigen Gesundheitsthemen. So gehen Trachte, Sperlich und Geyer (2015) in einer Untersuchung der Frage nach, wie sich in der Zeit von 1997
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Hans Günther Homfeldt
bis 2010 die subjektive und die funktionelle Gesundheit in der älteren Bevölkerung (65 – 89 Jahre) in Deutschland entwickelt haben (S. 255). Bei der älteren Bevölkerung (75 bis 89 Jahre) zeigt sich demnach zwischen 1997 und 2010 keine Verbesserung der subjektiven Gesundheit. Verbesserungen der funktionellen Gesundheit zwischen den Kohorten (65 bis 74 sowie 75 bis 89) betreffen alle Altersgruppen in gleicher Weise (S. 257). In einem Fazit für die Praxis heißt es entsprechend, präventive und gesundheitsförderliche Maßnahmen können auch im höheren Lebensalter einen Beitrag zur Verbesserung der subjektiven und funktionellen Gesundheit leisten (S. 262). Gunzelmann und Hessel (2005, S. 30) stellen fest, dass das Körpererleben, die psychosoziale Komponente von Alternsprozessen des Körpers, im Lichte von Gesundheit ebenso relevant sind wie die organisch-funktionale Seite des Körpers. Eine wichtige Funktion kommt dabei im Alter psychischen Ressourcen im Sinne von psychischer Widerstandsfähigkeit bei krankheitsbezogenen Belastungen zu. Im Alter verringert sich schrittweise die Einschätzung des allgemeinen Gesundheitszustandes als sehr gut bzw. gut (Lampert und Ziese o. J., S. 184). Frauen und Männer mit Beeinträchtigungen (im Sinne von Aktivitätseinschränkungen) bewerten ihren Gesundheitszustand als wesentlich schlechter als Männer und Frauen ohne Beeinträchtigungen: Schätzen 65- bis 79-jährige Männer ihren Gesundheitszustand mit 59 % (im Vergleich gleichaltrige Männer ohne Beeinträchtigung mit 10 %) als „weniger gut“ bzw. „schlecht“ ein, so sind es bei den Frauen sogar 59 % (im Vergleich zu 12 %) (BMAS 2013, S. 193). Bei Hochbetagten nehmen Gebrechlichkeit und Hinfälligkeit hochgradig zu, sodass zunehmend mehr die verbleibenden Lebenskapazitäten dazu genutzt werden, basale Lebensfunktionen zu erhalten (Ding-Greiner und Lang 2004, S. 200). Ein solches auch als Frailty-Konzept beschriebenes Phänomen ist unabhängig von klinisch manifesten Erkrankungen zu sehen. Es steht einzig in Verbindung mit verminderter Belastungsfähigkeit, einer Verlangsamung von Tätigkeiten wie auch dem Verlust an Reservekapazitäten (ebd., S. 202). Ein solcher Prozess geschieht oftmals schleichend. Um die gesundheitliche Lage und ungenutztes Präventionspotenzial in einer älter werdenden Gesellschaft besser abbilden zu können, sollten Konzepte und Instrumente von Frailty in bevölkerungsbezogene Studien einbezogen werden (Fuchs et al. 2016). Mit Bezug auf die wachsende alternde Gesellschaft stellen sich neben solchen konzeptionellen Fragen auch Fragen nach der Sicherung finanzieller und personeller Ressourcen für die Gesundheitsversorgung. Ambulante und stationäre Versorgungsleistungen nehmen in alternden Gesellschaften und für die alten Menschen selbst einen immer größeren Umfang ein (Winter et al. 2005, S. 73). Je 100 000 Einwohner/-innen wurden 46 900 stationäre Behandlungen durchgeführt, wobei ein Krankenhausaufenthalt älterer Patient/-innen im Durchschnitt neun Tage dauert (StaBuAmt 2012, S. 2). Überproportional steigen die Pro-Kopf-Kosten im Alter, nicht zuletzt wegen der Zunahme chronischer Erkrankungen.
Gesundheit und Krankheit im Alter
5
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Männer und Frauen
Die Genderperspektive ist für Gesundheit und Krankheit nicht nur in frühen Lebensphasen von hoher Bedeutung, sondern auch noch bis ins hohe Alter. Frauen weisen nach wie vor eine erheblich höhere Gesamtlebenszeit als Männer auf. Bei neugeborenen Jungen liegt sie bei 78 Jahren und vier Monaten, bei neugeborenen Mädchen bei 83 Jahren und zwei Monaten. Männer, die ein Alter von 65 Jahren erreicht haben, haben die statistische Wahrscheinlichkeit, weitere 17 Jahre und zehn Monate weiterzuleben. Für 65-jährige Frauen ergeben sich statistisch 21 weitere Lebensjahre (Spiegel Online 2018). Wenn Frauen eine höhere Lebenserwartung aufweisen, dann ist dies nicht zuletzt auch auf eine gesundheitsbewusstere Lebensführung zurückzuführen (Lampert et al. 2008, S. 388). Lampert et al. führen den geschlechtsspezifischen Unterschied im Umgang mit der Wahrnehmung von Krankheitsanzeichen überdies aber auch auf biologische Unterschiede zurück, die im Alter vor allem bei Frauen die Differenz beim sozialen Gradienten abschwächen (ebd.). Überdies treten lebensbedrohliche Erkrankungen fünf bis zehn Jahre später als bei Männern auf, wofür soziale, verhaltensbezogene wie auch biologische Unterschiede verantwortlich gemacht werden. Der Forschungsstand weist aus, dass „die sozioökonomischen Disparitäten in der Mortalität beim Eintritt in die Lebensphase Alter bei Männern stärker ausgeprägt ist als bei Frauen“ (Lampert et al. 2008, S. 388 f.). Wichtigste Gründe sind stärkere arbeitsbezogene Belastungen und gesundheitsriskanteres Handeln. Diese Differenz flacht im Verlauf des Alterns aber zumeist ab.
6
Prävention, Gesundheitsförderung und gesundheitliche Versorgung im Alter
Prävention und Gesundheitsförderung: Wenngleich sich Prävention auf die Vermei-
dung von gesundheitlichen Schwierigkeiten und Gesundheitsförderung auf die Steigerung gesundheitlicher Ressourcen beziehen, sind beide eng miteinander verbunden. Die Nutzung präventiver Angebote, z. B. zu Ernährung und Bewegung, hängt weitgehend vom Gesundheitsbewusstsein der jeweiligen Zielgruppen ab. In Bezug auf eine zielgerichtete Gesundheitsversorgung bedürfen Gruppen mit problematischen Gesundheitschancen im Alter besonderer Beachtung. Zu ihnen sind zu rechnen arme, sozial isolierte, gesundheitlich beeinträchtigte Alte, Hochaltrige wie auch alte Migrant/-innen. Walter und Schneider (2008, S. 291) nennen als wesentliche Handlungsfelder den „Erhalt und die Förderung der körperlichen Funktionsfähigkeit und Bewegung sowie der mentalen Gesundheit […] und eine angemessene Ernährung“. Als zunehmend bedeutend werden soziale Netzwerke eingeschätzt (vgl. auch Künemund und Kohli i. d. B.). So ermitteln Karl und Ramos (2017) in einer qualitativ empirischen Studie mit Hilfe biografischer Interviews und Netzwerkinter-
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Hans Günther Homfeldt
views, dass ältere Migrant/-innen mit einem niedrigeren Bildungsstand im Land Luxemburg in ihrem Zusammenleben fast immer ihre Muttersprache benutzen (S. 58). Hingegen würden ältere Migrant/-innen mit einem höheren Bildungsgrad eher mehrere Sprachen in ihren Netzwerken nutzen. Die Autorinnen folgern, dass sich in sozialen Aktivitäten und Pflegearrangements viele ältere Migrant/-innen sicherer fühlen, wenn sie in ihrer Muttersprache sprechen können. Dies gilt uneingeschränkt auch für Prävention und Gesundheitsförderung. Die wichtigsten drei Ansätze zu Prävention und Gesundheitsförderung im Alter sind der risikogruppenbezogene, der versorgungsbezogene sowie der lebensweltbezogene Ansatz (ebd., S. 292 f.). Geht es dem ersten Ansatz um eine Optimierung von Gesundheitsverhalten, dem zweiten Ansatz um die Verknüpfung von Präven tion mit kurativer, rehabilitativer und pflegerischer Versorgung, so ist der lebensweltorientierte Ansatz vor allem settingbezogen ausgerichtet, z. B. im Stadtteil, aber auch im Krankenhaus und Pflegeheim. Ist im ersten Ansatz vor allem Niedrigschwelligkeit zentral bedeutsam, im zweiten Koordination, u. a. in Form Integrierter Versorgung, so kann im lebensweltorientierten Ansatz die Unterstützung im Aufbau sozialer Netzwerke wichtig sein, um alten Menschen, die über geringe Reservekapazitäten verfügen und erhöht vulnerabel sind, zu ermöglichen, in ihrem vertrauten Sozialraum leben zu können. Ein zentrales Element des lebensweltorientierten Ansatzes ist Partizipation im Umgang mit Gesundheit und Krankheit. Tendenziell setzen die skizzierten Ansätze zur Prävention und zur Gesundheitsförderung bei den Personen, Gruppen, Sozialräumen und Institutionen an. Auf einer gesellschaftlich noch allgemeineren Ebene geht es um eine Änderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für ein gesundes Altern. Hier geht es um Antworten auf die Frage demografischer Alterung und der Ausweitung von Armut mit ihren Folgen für Gesundheit und Krankheit im Alter. Erste Ansätze auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene sind koordinierte Maßnahmen und Netzwerkaktivitäten von Ministerien, Wohlfahrtsverbänden, Landesvereinigungen für Gesundheit, Ärztekammern und Krankenkassen, die sich in den zurückliegenden Jahren zu Kooperationsverbünden wie ‚Gesundheitliche Chancengleichheit‘ und ‚gesundheitsziele.de‘ verdichtet haben (Lampert 2016, S. 176). Die Verringerung gesundheitlicher Ungleichheiten ist z. B. in ‚gesundheitsziele.de‘ (BMG 2012) eine wichtige Querschnittsanforderung. Sie bezieht nicht nur unterschiedliche Zielgruppen ein (z. B. Migrant/-innen), sondern wendet sich auch Überlegungen zum Aufbau von Gesundheitskompetenzen zu. Gesundheitliche Versorgung: Der siebte Altenbericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ 2016b, S. 148) spricht sich dafür aus, gesundheitliche Versorgung als weit mehr als medizinische Versorgung und eine Behandlung von Krankheiten zu betrachten. Es gehe immer auch um die Vorhaltung und Sicherung von Teilhabechancen durch die Ermöglichung einer selbstständigen, selbst- und mitverantwortlichen Lebensführung. Entsprechend wird empfohlen, Gesundheitsförderung, Prävention, Rehabilitation und Palliation bei der Allokation von
Gesundheit und Krankheit im Alter
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Ressourcen im Gesundheitssystem stärker zu berücksichtigen. Dafür sei eine verbesserte Zusammenarbeit der Ärzt/-innen mit anderen Gesundheits- und Sozialberufen wichtig. Überdies hebt der siebte Altenbericht (ebd., S. 151) hervor, dass sich „gesundheitliche Versorgung nur als Koproduktion verschiedener Akteure auf unterschiedlichen Ebenen – Staat, Kommune, Bürgerinnen und Bürger, Wirtschaft, Krankenkassen, Leistungserbringer und Wohlfahrtsverbände etc. – verstehen lässt“. Vor diesem Hintergrund bezögen sich die von alten Menschen an das gesundheitliche Versorgungsystem gerichteten Erwartungen nicht allein auf Begleitung und Beratung bei akuten und chronischen Erkrankungen, sondern auch auf Begleitung bei zum Tode führenden Erkrankungen (ebd., S. 15).
Ausgewählte Literatur BMFSFJ. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. 2016. Siebter Altenbericht. Sorge und Mitverantwortung in der Kommune – Aufbau und Sicherung zukunftsfähiger Gemeinschaften. Drucksache 18/10210. Berlin: Eigenverlag. Mahne, Katharina, Julia K. Wolff, Julia Simonson und Clemens Tesch-Römer. Hrsg. 2017. Altern im Wandel – Zwei Jahrzehnte deutscher Alterssurvey (DEAS). Berlin: Deutsches Zentrum für Altersfragen. RKI. Robert Koch-Institut. Hrsg. 2015. Gesundheit in Deutschland. Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Gemeinsam getragen vom RKI und Destatis. Berlin: Robert Koch-Institut.
Alter und Bildung1 Karin Stiehr und Philipp Garrison
1
Einleitung
Bildung ist einer der maßgeblichen Faktoren, die die Lebenslagen älterer Menschen in Deutschland prägen. Sie gilt als wichtige Ressource für wirtschaftliche Produktivität, gesellschaftliche Statuszuweisung und eine selbstbestimmte Lebensführung bis ins hohe Alter (vgl. Palentien 2005; Kruse 2010; Mielck et al. 2012). Allerdings hängt das Bildungsniveau eines Menschen nicht allein von dessen kognitiven Fähigkeiten ab, sondern auch von gesellschafts- und bildungspolitischen Faktoren. So ist die Bildungsnähe bzw. -ferne einer Person auch eine Folge der sozialen Herkunft und der je nach Zeit und Region äußerst unterschiedlichen Bildungssysteme. Bildung ist außerdem kein zu einem bestimmten Zeitpunkt abgeschlossener Tatbestand. Lebenslanges Lernen gilt mittlerweile als weithin geteiltes gesellschaftspolitisches Ziel. Bildungsaktivitäten älterer Menschen fördern ihre Gesundheit, Selbstständigkeit, Selbstverantwortung und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Einen hohen Einfluss auf Gesundheit und Lebenserwartung üben auch psychische und soziale Faktoren aus, die in direktem oder indirektem Zusammenhang mit Bildungsaktivitäten stehen (vgl. Kolland 2011). Hierzu gehören z. B. Kontakte zu anderen Menschen, Selbstwertgefühl, geistige Beweglichkeit und das Niveau der Anforderungen, denen man sich gewachsen fühlt. Der vorliegende Artikel gibt einen Überblick über das Bildungsniveau und die Bildungsaktivitäten der älteren Bevölkerung in Deutschland. Die Ausführungen beziehen sich vorwiegend auf die institutionalisierten Formen der schulischen und beruflichen Aus- und Weiterbildung. Informelle bzw. nicht-institutionalisierte Bil1 Dieser Artikel aktualisiert den Beitrag „Bildung und Alter“ von Karin Stiehr, Joachim Ritter und Mone Spindler in: Aner, Kirsten, und Ute Karl. Hrsg. Handbuch Soziale Arbeit und Alter. Wiesbaden: VS. 1. Auflage 2010, S. 321 – 329. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_33
397
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Karin Stiehr und Philipp Garrison
dungsprozesse können aus Platzgründen nur punktuell angesprochen werden. Das Hauptaugenmerk gilt dem Einfluss der Variablen Alter, Geschlecht und Region auf die Bildungssituation älterer Menschen. Der ebenfalls relevante Faktor Ethnizität kann an dieser Stelle nicht ausreichend differenziert behandelt werden. Empirische Grundlage des Überblicks ist eine Sekundäranalyse der bildungsbezogenen Daten des Alterssurveys 2014 aus Befragungen von Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit. Es werden drei Altersgruppen unterschieden: vorwiegend noch im Erwerbsleben stehende Menschen (50 – 64 Jahre), Menschen im Alter zwischen 65 und 79 Jahren, die als weitgehend aktive und sozial gut eingebundene Ältere gelten, und Menschen im Alter von 80 und mehr Jahren, die von höheren Risiken der Erkrankung und des Verlusts persönlicher Netzwerke betroffen sind.
2
Alter: Schlechtere Bildungsvoraussetzungen älterer Generationen
Bildung wird vorwiegend durch die Zugehörigkeit zu sehr unterschiedlich mit Bildungsressourcen ausgestatteten Generationskohorten bestimmt. Die Rahmenbedingungen für die schulische und berufliche Ausbildung prägen nicht nur das formale Bildungsniveau, sondern auch das spätere Lernverhalten von Menschen (vgl. u. a. Kade 2007, S. 100 ff.). Im vorliegenden Beitrag geht es um: •• Jahrgänge, deren Schul- und Ausbildungszeit im Nationalsozialismus stattfand und deren Bildungschancen durch den Zweiten Weltkrieg eingeschränkt waren, •• Jahrgänge, deren schulische und berufliche Ausbildung in der Nachkriegszeit unter vergleichsweise guten Rahmenbedingungen erfolgte und die in Teilen die sog. 68-er Generation bilden, sowie •• Jahrgänge, die in der Breite von der Bildungsoffensive der 1970er Jahre profitierten. Auf der Grundlage der Angaben zur schulischen und beruflichen Ausbildung und unter Verwendung von ISCED-Kategorien bedient sich der Deutsche Alterssurvey eines vierstufigen Bildungskonstrukts, in dem schulische und berufliche Bildungsabschlüsse kombiniert werden. Demnach weisen Befragte ohne abgeschlossene Berufsausbildung und mit maximal Haupt-, Realschul- oder POS-Abschluss ein niedriges Bildungsniveau auf. Befragten mit abgeschlossener Berufsausbildung oder (Fach-)Hochschulreife wird ein mittleres Bildungsniveau zugeschrieben. Befragte mit abgeschlossener Aufstiegsfortbildung (Fach-, Meister-, Technikerschule, Berufsoder Fachakademie) haben ein gehobenes, Befragte mit abgeschlossenem Studium (FHS, Hochschule) ein hohes Bildungsniveau. Tabelle 1 gibt eine Übersicht über das Bildungsniveau von Angehörigen der drei gewählten Alterskohorten im Jahr 2014.
Alter und Bildung
399
Tabelle 1 Bildungsniveau älterer Menschen 50- bis 64-Jährige Niedrig
65- bis 79-Jährige
80-Jährige und Ältere
4,6 %
10,9 %
31,6 %
Mittel
53,2 %
53,1 %
46,9 %
Gehoben
14,7 %
13,1 %
8,0 %
Hoch
27,5 %
22,9 %
13,6 %
100,0 %
100,0 %
100,0 %
Gesamt
Quelle: Eigene Berechnungen 2019, gewichtet (n = 4 370), nach DZA 2014a ©
Die geringeren Bildungschancen, die Menschen im Alter von 80 und mehr Jahren in ihrer Jugend hatten, zeigen sich darin, dass etwa jede dritte Person ein niedriges Bildungsniveau aufweist; ein gehobenes bzw. hohes Bildungsniveau zeigt sich bei nur etwa jeder fünften Person. Im Vergleich hierzu erlebten die Nachkriegsgenerationen im Kontext des sog. Wirtschaftswunders einen markanten Bildungsaufstieg, in dem Menschen mit einem niedrigen Bildungsstatus zur Ausnahme wurden. Gute schulische und berufliche Ausbildung waren seitdem kein besonderes Privileg mehr, sondern vielen Menschen zugänglich. Heute entsprechen die Anteile der 50- bis 59-Jährigen mit Realschul- oder höherem Abschluss weitgehend dem Durchschnitt der Bevölkerung ab 25 Jahren (vgl. StaBuAmt und WZB 2016, S. 99). Hinsichtlich der Bildungsaktivitäten älterer Menschen finden sich in der älteren Literatur noch viele Hinweise, dass jüngere Beschäftigte vergleichsweise häufiger berufliche Weiterbildungsprogramme wahrnehmen (vgl. Bosch und Kruse 2005, S. 137; Kolland 2008a, S. 202). Jedoch werden die in diesem Zusammenhang erwähnten Bildungsnachteile älterer Erwerbstätiger durch die Daten des Alterssurveys 2014 nicht mehr bestätigt. Während 79,2 % der Beschäftigten zwischen 40 und 49 Jahren beruflichen Bildungsaktivitäten nachgingen, galt dies für immer noch 76,9 % der Beschäftigten ab 50 Jahren. Auch das Interesse älterer Menschen an allgemeiner Erwachsenenbildung nimmt seit Jahren zu. Zwischen den Wintersemestern 2004/05 und 2014/15 erhöhte sich der Anteil von Gaststudierenden über 65 Jahren an Universitäten von 31 % auf 42 %. Gleichzeitig stieg ihre Beteiligung an Volkshochschulkursen von 7 % auf 16 % an (StaBuAmt und WZB 2016, S. 75 f.). Außerberufliche gesellschaftliche Partizipation schließt nach heutigem Verständnis neben formalen und non-formalen Bildungsaktivitäten auch bürgerschaftliches Engagement ein, das informelle Lernprozesse fördert und organisierte Bildungsaktivitäten begründen kann (vgl. u. a. Kade 2009; Resch und Strümpel 2009; Kolland und Ahmadi 2010). Die Abnahme der außerberuflichen gesellschaftlichen Partizipation mit steigendem Alter ist im Wesentlichen auf zwei Faktoren zurückzuführen: das
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Karin Stiehr und Philipp Garrison
Bildungsniveau und die gesundheitliche Verfassung. Naumann und Romeo Gordo (2010, S. 136) berechneten, dass die Wahrscheinlichkeit für eine außerberufliche gesellschaftliche Partizipation in der zweiten Lebenshälfte bei Menschen mit hohem Bildungsniveau bei 77 %, mit niedrigem Bildungsniveau bei 18 % liegt (vgl. auch Alisch i. d. B.). Die Wahrscheinlichkeit der Teilhabe sinkt zudem von 64 % bei sehr guter Gesundheit auf 13 % bei sehr schlechter Gesundheit. Beide Faktoren treffen die Gruppe der hochaltrigen Menschen in besonderem Maße. Dennoch lohnt sich ein differenzierter Blick. Auch unter Hochaltrigen gibt es einen beträchtlichen Anteil mit mittlerem und hohem Bildungsniveau, und in vielen Fällen werden erfolgreich Bewältigungsstrategien für funktionelle Einschränkungen entwickelt. Der Österreichischen Interdisziplinären Hochaltrigenstudie zufolge war die Hälfte der teilnehmenden 80- bis 85-Jährigen trotz mancher gesundheitlichen Restriktionen in der Lage, ein weitgehend selbstbestimmtes und autonomes Leben zu führen. Jede achte Person wurde sogar als „außerordentlich rüstig“ bezeichnet (ÖPIA 2015, S. 149). Insgesamt liegen die Gründe für die geringe Beteiligung älterer Menschen an organisierten Lernprozessen nicht nur bei ihnen selbst. Bildungsangebote richten sich bisher fast ausschließlich an bildungsnahe ‚junge Alte‘. Die Altersbildung läuft deshalb noch immer Gefahr, bestehende Bildungsunterschiede zu zementieren (vgl. Köster 2007, S. 88). Gleichzeitig untergraben negative Altersstereotypen auch auf der Seite der Anbieter von Bildungs- und Beteiligungsangeboten das Selbstwertgefühl hochaltriger Menschen in der Weise, dass sie häufig auf die Wahrnehmung der Angebote verzichten (Stiehr 2015, S. 26 ff.).
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Geschlecht: Der generationsbezogene Rückgang der Bildungsbenachteiligungen älterer Frauen
Neben altersbezogenen Besonderheiten weisen die Bildungsprofile älterer Menschen auch Unterschiede auf, die mit der geschlechtsbezogenen Arbeitsteilung der Gesellschaft verknüpft sind (vgl. Kade 2007, S. 19). So wurden vor dem Zweiten Weltkrieg geborene Frauen von der geschlechtshierarchischen Bildungspolitik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich benachteiligt. Die damals ohnehin knappe Ressource Bildung war üblicherweise ihren Brüdern vorbehalten. Tabelle 2 zeigt das bis heute durchschnittlich höhere Bildungsniveau älterer Männer. Während jedoch der Anteil der 80-jährigen und älteren Frauen mit niedrigem Bildungsniveau im Jahr 2014 noch 45,2 % betrug, galt dies nur für 6,4 % der 50- bis 64-jährigen Frauen. Die Befunde für hochaltrige Männer und Frauen reflektieren das in ihren jungen Jahren vorherrschende Modell der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung: der männliche Alleinverdiener einerseits, die in der Ehe ihre Bestimmung sehende Hausfrau und Mutter andererseits. Fast die Hälfte der Frauen hatte keine Berufsausbildung. Aber auch der entsprechende Anteil bei Männern lag angesichts
Alter und Bildung
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Tabelle 2 Bildungsniveau älterer Menschen nach Geschlecht 50- bis 64-Jährige
65- bis 79-Jährige
80-Jährige und Ältere
Frauen
Männer
Frauen
Männer
Frauen
Männer
6,4 %
2,8 %
17,7 %
3,7 %
45,2 %
7,4 %
Mittel
56,2 %
50,0 %
58,8 %
47,1 %
42,4 %
54,9 %
Gehoben
12,5 %
17,1 %
9,0 %
17,4 %
3,7 %
14,8 %
Hoch
25,0 %
30,1 %
14,6 %
31,7 %
8,8 %
23,0 %
100,0 %
100,0 %
100,0 %
100,0 %
100,0 %
100,0 %
Niedrig
Gesamt
Quelle: Eigene Berechnungen 2019, gewichtet (n = 4 370), nach DZA 2014a ©
der schwierigen Rahmenbedingungen des Zweiten Weltkriegs fast dreimal so hoch wie heute. Für beide Geschlechter hat sich die Situation inzwischen maßgeblich verändert und gleicht sich allmählich an. Nur noch eine kleine Minderheit der 50- bis 64-jährigen Männer und Frauen hat keine Berufsausbildung. Die Zugewinne älterer Frauen spiegeln sich jedoch nicht nur im mittleren Bildungsniveau. Der Anteil von älteren Frauen mit gehobenem Bildungsniveau hat sich in den vergangenen Jahrzehnten etwa vervierfacht und der mit hohem Bildungsniveau verdreifacht. Die Daten des Alterssurveys 2014 weisen zudem auf geringere geschlechtsbezogene Unterschiede in den Bildungsaktivitäten älterer Menschen hin. Die dort erfassten noch erwerbstätigen Männer und Frauen wurden auch zu ihrer beruflichen Weiterbildung in den letzten zehn Jahren befragt. Bei Beschäftigten ab 50 Jahren zeigen sich nur geringe Unterschiede. Der Anteil der Frauen, die keine Veranstaltung zur beruflichen Weiterbildung besucht hatte, lag mit 25,4 % nur etwas über dem der Männer mit 21,2 %. Eine ähnliche Tendenz zeigt sich für die Häufigkeit von besuchten Veranstaltungen. So nahmen etwa zwei Drittel aller Männer (68 %) und Frauen (65,5 %) an bis zu zehn Weiterbildungsangeboten in den letzten zehn Jahren teil. Rund ein Drittel aller Befragten besuchte mehr als zehn Weiterbildungsangebote, wobei auch hier nur geringfügige Unterschiede zwischen Frauen (34,5 %) und Männern (32 %) zu beobachten sind. Uneinheitlich ist wiederum das Bild bezüglich eventueller Geschlechtsunterschiede in der Teilnahme an allgemeiner, nicht-beruflicher Weiterbildung. Ausgehend von der zu beobachtenden Frauendominanz in organisierten Bildungsangeboten wird Bildung im Alter häufig als ‚weiblich‘ bezeichnet (vgl. Kade 2007, S. 18 f.). Sommer et al. (2014) argumentieren, dass vor allem geschlechtliche Unterschiede in Bezug auf die nachgefragten Bildungsarten und -inhalte bestehen. So werden z. B. der höhere Bedarf älterer Frauen an nachholendem Lernen zum Ausgleich ihrer Bildungsbenachteiligung in jüngeren Jahren, die vermeintlich ‚weibliche‘ Prägung nicht-beruflicher Bildungsangebote sowie die durchschnittlich größere Offenheit älterer Frauen für
402
Karin Stiehr und Philipp Garrison
die Inanspruchnahme institutioneller Bildungsangebote als Gründe für diese geschlechtsbezogenen Unterschiede angeführt (ebd., S. 25; vgl. auch Zwickies 2005). Zum Aspekt des bürgerschaftlichen Engagements als Form der außerberuflichen gesellschaftlichen Partizipation zeigen die Daten des Alterssurveys 2014 eine höhere Beteiligung älterer Männer. So bekleideten 26,4 % der Männer ab 50 Jahren, aber nur 19,5 % der Frauen in diesem Alter eine ehrenamtliche Funktion in Gruppen oder Organisationen und hatten über diesen Weg einen Zugang zu non-formalen oder informellen Lernprozessen. Unberücksichtigt bleibt im Alterssurvey jedoch die stärkere Einbindung älterer Frauen in Pflegetätigkeiten, die in manchen Studien inzwischen ebenfalls als Form des bürgerschaftlichen Engagements verstanden werden. Über die insgesamt erfreuliche quantitative Angleichung der Bildungsbeteiligung älterer Frauen und Männer sollte jedoch nicht vergessen werden, dass Geschlechtsunterschiede auf anderen Ebenen durchaus weiter bestehen.
4
Region: Unterschiedliche Bildungsprofile in Ost- und Westdeutschland
Hinsichtlich regionaler Differenzen innerhalb Deutschlands spielen die nicht selten übersehenen Unterschiede zwischen den alten und neuen Bundesländern die größte Rolle. Sie resultieren maßgeblich aus unterschiedlichen Schulformen und Bildungsverständnissen der DDR und der BRD, die die formale Bildung der im und nach dem Zweiten Weltkrieg Geborenen prägte. In der BRD bestand bis zur Bildungsreform 1964 – 1968 ein dreigliedriges Schulsystem, das mit Volks- und Mittelschule für eine betriebliche oder schulische Berufsausbildung qualifizierte und mit der gymnasialen Bildung den Übergang in ein Studium vorsah. Die Durchlässigkeit der einzelnen Bildungsstränge auf das jeweils höhere Niveau war vor der Bildungsreform gering. Demgegenüber existierte in der Sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR eine achtjährige Grundschule als Einheitsschule, die 1959 durch die zunächst achtjährige, später zehnjährige Polytechnische Oberschule ersetzt wurde. Einen Zugang zum Hochschulstudium boten das Abitur an der Erweiterten Oberschule oder eine Berufsausbildung mit Abitur sowie zahlreiche andere Formen der Erwachsenenbildung. Die vorrangige beschäftigungs- und bildungspolitische Zielsetzung dieses offeneren Bildungssystems war die allgemeine Anhebung des Niveaus der Volksbildung. Bis zum Zweiten Weltkrieg bestand ein traditionelles Bildungsgefälle zwischen den westlichen Regionen des Deutschen Reichs und den weniger dicht besiedelten und industrialisierten östlichen Gebieten. Dieses Verhältnis hat sich für die Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Ostdeutschland bzw. Westdeutschland aufwuchsen und das jeweilige Bildungssystem durchliefen, radikal verändert, wie aus Tabelle 3 ersichtlich ist. 2014 wiesen die 80-Jährigen und Älteren in Ostdeutschland ein insgesamt höheres Bildungsniveau als im Westen auf. Dieses Phänomen gilt für alle Alterskohorten.
Alter und Bildung
403
Tabelle 3 Bildungsniveau älterer Menschen nach Region
Niedrig
50- bis 64-Jährige
65- bis 79-Jährige
80-Jährige und Ältere
Ost
Ost
Ost
West
West
West
1,2 %
5,1 %
5,0 %
11,8 %
20,6 %
30,2 %
Mittel
54,4 %
53,4 %
49,7 %
54,0 %
50,8 %
49,8 %
Gehoben
16,9 %
14,4 %
19,1 %
11,7 %
12,7 %
6,7 %
Hoch
27,5 %
27,2 %
26,2 %
22,5 %
15,9 %
13,3 %
100,0 %
100,0 %
100,0 %
100,0 %
100,0 %
100,0 %
Gesamt
Quelle: Eigene Berechnungen 2019, gewichtet (n = 4 370), nach DZA 2014a ©
Vor allem Befragte mit abgeschlossener Aufstiegsfortbildung (Fach-, Meister-, Technikerschule, Berufs- oder Fachakademie) sind in den Alterskohorten ab 65 Jahren im Osten überdurchschnittlich häufig vertreten. Für Jüngere nivellieren sich die Unterschiede zwischen den Landesteilen allmählich. Nur beim niedrigen Bildungsstatus übertreffen 50- bis 64-Jährige mit 5,1 % im Westen noch augenfällig den Anteil von 1,2 % der Gleichaltrigen im Osten. Die formalen Bildungsvorteile älterer Menschen in Ostdeutschland konnten die gravierenden Auswirkungen der Entberuflichungs- und Desintegrationsprozesse nach der Wende jedoch häufig nicht nachhaltig abmildern (vgl. Olbertz und Prager 2000). Vor diesem Hintergrund lag die Teilnahme an formeller beruflicher Weiterbildung in Ostdeutschland zwischen 1991 und 2000 über dem Niveau in Westdeutschland, während sich dies mittlerweile wieder angeglichen hat (vgl. Bosch und Kruse 2005, S. 137). Im Alterssurvey spiegelt sich diese Erkenntnis insofern wieder, als 75,6 % der befragten Erwerbstätigen in Ostdeutschland ab 50 Jahren in den vergangenen zehn Jahren Veranstaltungen zur beruflichen Weiterbildung besucht hatten, während es im Westen 77 % waren. Keine nennenswerten Unterschiede zeigen sich auch bezüglich der Anzahl der wahrgenommenen Weiterbildungsangebote. In Bezug auf die Teilnahme älterer Menschen an nicht berufsbezogener Weiterbildung wurde beobachtet, dass ihre Teilnahmequote im Osten durchschnittlich niedriger als im Westen war (vgl. ebd., S. 134). Auch im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements als Form der außerberuflichen Partizipation finden sich entsprechende Unterschiede. Im Jahr 2014 hatten 13,2 % der Menschen ab 50 Jahren im Osten eine ehrenamtliche Funktion in Gruppen oder Organisationen, während im Westen dieser Anteil bei 25 % lag.
404
5
Karin Stiehr und Philipp Garrison
Resümee
Die differenzierte Betrachtung der vorliegenden Befunde zum Bildungsniveau und Bildungsverhalten älterer Menschen bestätigt die Heterogenität dieser Bevölkerungsgruppe. Die Bildungsvoraussetzungen verschiedener Alterskohorten, von Frauen und Männern sowie Menschen, die in Ost- oder Westdeutschland aufgewachsen sind, beeinflussen ihre Bildungsprofile. Jahrzehnte der Stabilität von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Bildungsoffensive der 1970er Jahre, der Einfluss der zweiten Frauenbewegung in der Bundesrepublik und nicht zuletzt die Bildungspolitik der ehemaligen DDR haben dafür gesorgt, dass Bildung kein exklusives Gut der Bessergestellten mehr ist. Die gravierenden Unterschiede, die für das Bildungsniveau früherer Generationen älterer Menschen auch in Bezug auf Geschlecht und räumliche Herkunft vorfindlich waren, sind zunehmend in Auflösung begriffen. Es ist somit davon auszugehen, dass die Nachfrage nach außerberuflichen gesellschaftlichen Partizipationsangeboten in Verbindung mit formalen, non-formalen und informellen Lernprozessen in Zukunft insgesamt steigen wird.
Ausgewählte Literatur Bosch, Gerhard, und Andreas Kruse. 2005. Bildung. In Fünfter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Hrsg. BMFSFJ. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 123 – 183. Berlin: Eigenverlag. Kade, Sylvia. 2007. Altern und Bildung. Eine Einführung. Bielefeld: W. Bertelsmann. Naumann, Dörte, und Laura Romeo Gordo. 2010. Gesellschaftliche Partizipation: Erwerbstätigkeit, Ehrenamt und Bildung. In Altern im Wandel. Befunde des Deutschen Alterssurveys (DEAS). Hrsg. Motel-Klingebiel, Andreas, Susanne Wurm und Clemens Tesch-Römer, 118 – 141. Stuttgart: Kohlhammer.
Alter und Geschlecht Martina Brandt und Alina Schmitz
1
Ist das Alter (noch immer) weiblich ?
Geht es um Unterschiede zwischen Frauen und Männern in der sozialwissenschaftlichen Forschung, ist weniger das biologische Geschlecht (‚sex‘), als vielmehr das soziale Geschlecht (‚gender‘) von Interesse. Es sind also vor allem gesellschaftliche Geschlechterrollen bzw. -stereotype (d. h. die Vorstellungen davon, welche Verhaltensweisen und Eigenschaften charakteristisch für Frauen und Männer sind bzw. wie sie sich verhalten sollen), die zu Unterschieden in den Lebensverhältnissen und Verhaltensweisen führen (Krieger 2003). Auf diese Weise wird das Geschlecht zu einer Kategorie sozialer Ungleichheit, die auch im Kontext des Alter(n)s von besonderer Bedeutung ist. Während die Lebensphase Alter in der Biologie mit der postreproduktiven Phase gleichgesetzt wird, stellt in der Soziologie der Eintritt in den Ruhestand und die damit verbundenen Veränderungen der sozialen Rollen und Alltagsgestaltung ein zentrales Kriterium dar (Tesch-Römer und Wurm 2009). Diese soziologische Altersdefinition, die letztlich von einem verallgemeinerten, männlichen Altern ausgeht (Backes et al. 2006, S. 17), kann jedoch aus der Gender-Perspektive kritisch hinterfragt werden. So wird beispielsweise argumentiert, dass bei Frauen der Auszug der Kinder aus dem gemeinsamen Haushalt eine Bestimmungsgröße für das subjektiv empfundene Alter ist (Backes und Clemens 2013). Im Zusammenhang mit der Heterogenität des Alter(n)s wurde auch immer wieder darauf hingewiesen, dass das häufig pragmatisch zur Definition verwendete kalendarische Alter nur bedingt Aussagekraft hat (z. B. Tesch-Römer und Wurm 2009). Betrachtet man hingegen Alternsprozesse, umfassen diese Veränderungen oder Mechanismen, die sich in biologisch-physiologische (z. B. Veränderung der körperlichen Konstitution), psychologische (z. B. kognitive Entwicklung und Persönlichkeit) und soziale Prozesse (z. B. Veränderung der Alltagsgestaltung und des sozialen Netz© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_34
405
406
Martina Brandt und Alina Schmitz
werks) einteilen lassen. Allerdings ist eine Abgrenzung dieser Dimensionen im Hinblick auf Geschlechterunterschiede nicht immer trennscharf zu vollziehen, wie wir im Folgenden darlegen. Frauen leben in sämtlichen Industrienationen länger als Männer. Die Geschlechterunterschiede in der Lebenserwartung sind keineswegs nur biologisch determiniert – vielmehr zeigen sich im Zeitverlauf und auch im Vergleich verschiedener Länder deutliche Unterschiede (Oksuzyan et al. 2018). Hinweise auf die Bedeutsamkeit sozialer Einflüsse liefert auch die sog. Klosterstudie. Bei der Klosterbevölkerung kann von einem sehr ähnlichen Lebensstil und Tagesablauf von Frauen und Männern ausgegangen werden. Verglichen mit der Allgemeinbevölkerung sind die Geschlechterunterschiede in der Lebenserwartung hier um ein Vielfaches geringer – vor allem durch eine höhere Lebenserwartung der Männer (Mönche) bedingt (Luy 2011). In Deutschland war mit Beginn der 1950er Jahre über drei Jahrzehnte hinweg eine stetige Zunahme der Geschlechterunterschiede zum Nachteil der Männer zu beobachten, die in den 1980er bis 1990er Jahren mit rd. 6,5 Jahren ihren Höhepunkt erreichte. Seitdem nehmen die geschlechterbezogenen Unterschiede in der Lebenserwartung tendenziell ab (Wiedemann et al. 2015). Eine Angleichung hat jedoch bis heute bei weitem nicht stattgefunden. So betrug die mittlere Lebenserwartung bei Geburt nach der Sterbetafel 2015/2017 für Frauen 83,2 Jahre und für Männer 78,4 Jahre (StaBuAmt 2018e). Die vorzeitige Sterblichkeit von Männern ist in sämtlichen Altersgruppen zu beobachten, nimmt jedoch mit steigendem Lebensalter zu. Unter den 50- bis 60-Jährigen sind Frauen und Männer noch zu etwa gleichen Anteilen vertreten, danach steigt der Frauenanteil kontinuierlich an. Während er bei den 60- bis 70-Jährigen noch bei etwa 52 % liegt, machen Frauen in der Altersgruppe 70 – 80 Jahre bereits etwa 55 % der Bevölkerung aus. Bei den 80- bis 90-Jährigen sind etwa 61 % Frauen und bei den über 90-Jährigen beträgt der Frauenanteil etwa 76 %. Es lässt sich damit festhalten, dass zumindest das sehr hohe Alter im Sinne einer zahlenmäßigen Überlegenheit von Frauen noch immer weiblich ist, wie auch Abbildung 1 zeigt.
2
Lebenslagen von Frauen und Männern im Alter
Frauen leben länger als Männer und sind zugleich – insbesondere im sehr hohen Alter – stärker von sozialen und gesundheitlichen Problemen betroffen, wie auch die vorangehenden Beiträge i. d. B. zum Teil schon zeigen. Die finanzielle Lage vieler älterer Frauen ist schlechter als die der Männer. So verfügen alleinlebende Frauen im Durchschnitt nur über 88 % des Einkommens von alleinlebenden Männern, sie sind häufiger von Altersarmut betroffen und besitzen über geringere Vermögenswerte (vgl. Engels i. d. B.). Der Ursprung dieser Einkommens- und Vermögensungleichheit ist größtenteils in früheren Lebensphasen zu verorten. So haben – zumindest in den aktuellen Kohorten älterer Menschen – Frauen ein geringeres Bildungsniveau,
Alter und Geschlecht
407
Abbildung 1 Anteile Frauen und Männer an der Gesamtbevölkerung nach Alter 2016
90 J. und älter
80 bis u. 90 J.
Weiblich
70 bis u. 80 J.
Männlich 60 bis u. 70 J.
50 bis u. 60 J. 0%
10 %
20 %
30 %
40 %
50 %
60 %
70 %
80 %
Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Daten von GeroStat 2018 ©
sowohl im Hinblick auf schulische als auch bezogen auf berufliche Abschlüsse (vgl. Stiehr und Garrison i. d. B.). Darüber hinaus sind ältere Frauen häufiger als Männer nicht berufstätig gewesen, haben zu größeren Anteilen in Berufen mit niedrigerem Lohn und/oder in Teilzeit gearbeitet und haben ihre Erwerbstätigkeit wegen Kindererziehung oder der Pflege älterer Angehöriger häufiger unterbrochen. Die damit verbundenen Einkommenseinbußen haben Konsequenzen auf die Rentenanwartschaften (Wagner et al. 2017). Die Mehrheit der Frauen und Männer lebt auch im Alter in einem Privathaushalt (vgl. Engels sowie Oswald und Naumann i. d. B.), wobei Frauen den Großteil der alleinlebenden älteren Menschen in Privathaushalten ausmachen. Zum Jahresende 2017 lebten insgesamt 818 289 Personen vollstationär in einer Pflegeeinrichtung, davon waren rund 70 % Frauen (StaBuAmt 2019d). Insbesondere im sehr hohen Alter steigt der Frauenanteil unter den Pflegebedürftigen stark an: Einerseits, weil Frauen häufiger von einer Reihe von Gesundheitsproblemen betroffen sind, die mit Unterstützungsbedarf einhergehen, und andererseits, weil sie häufiger als Männer den Tod des Lebenspartners erleben (vgl. Künemund und Kohli i. d. B.). Sie sind in der Folge eher auf haushaltsexterne Pflege angewiesen (Saß et al. 2009a). Die zentralen Dimensionen Gesundheit und Unterstützung im Alter werden wir nun im Hinblick auf Geschlechterunterschiede eingehender beleuchten.
408
3
Martina Brandt und Alina Schmitz
Gesundheitliche Ungleichheit von Frauen und Männern im Alter
Der Gesundheitszustand im Alter (vgl. auch Homfeldt i. d. B.) ist von entscheidender Bedeutung für Lebensqualität und die Möglichkeiten zur selbstbestimmten Lebensführung. Der Forschungsstand zu geschlechterbezogenen Gesundheitsunterschieden lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die Lebenserwartung der Frauen übersteigt die der Männer noch immer deutlich. Dies ist im Wesentlichen auf Unterschiede im Krankheitsprofil zurückzuführen: Während Männer häufiger und bereits in jüngeren Jahren von körperlichen Erkrankungen mit hohem Sterblichkeitsrisiko (z. B. Schlaganfall, Herzkreislauferkrankungen und bestimmte Krebserkrankungen) betroffen sind, leiden Frauen häufiger unter nicht-lebensbedrohlichen Erkrankungen, die sich einschränkend auf die körperliche Funktionsfähigkeit auswirken (z. B. Arthritis und Osteoporose). Folglich zeigen sich bei Frauen häufiger Schwierigkeiten bei der Bewältigung von alltäglichen Aktivitäten als bei Männern. Auch im Hinblick auf die psychische Gesundheit sind deutliche Unterschiede zu verzeichnen: Während die Prävalenz von Depressionen und Angsterkrankungen bei Frauen um ein vielfaches höher ist, leiden Männer häufiger unter dissozialen Persönlichkeitsstörungen und Suchterkrankungen (Oksuzyan et al. 2018). Obwohl sich somit im Aggregat deutliche Gesundheitsunterschiede zwischen Frauen und Männern zeigen, lässt sich anhand des Gesundheitszustands jedoch auch veranschaulichen, dass nicht die Geschlechterzugehörigkeit per se für Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern verantwortlich ist. Vielmehr zeigt sich, dass sich spezifische Gruppen von Frauen und Männern (z. B. solche mit einem niedrigen Bildungsstand) in gesundheitlicher Hinsicht ähnlicher sind als unterschiedliche Gruppen innerhalb eines Geschlechts (Kolip und Hurrelmann 2016). Somit sind neben dem Geschlecht weitere Merkmale sozialer Ungleichheit zu berücksichtigen, wenn es um die Analyse der Lebenslagen von Frauen und Männern im Alter geht. Andernfalls werden die sozialen Unterschiede innerhalb der Geschlechtergruppen ausgeblendet und Unterschiede zwischen Frauen und Männern womöglich überbetont (Hammarström et al. 2014). Die Frage nach den Ursachen gesundheitlicher Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern wird kontrovers diskutiert. Mittlerweile besteht weitgehend Konsens, dass neben biologischen Charakteristika (z. B. Unterschiede im Hinblick auf den Hormonstatus) vor allem die ungleichen Lebensverhältnisse und Lebensstile zentrale Einflussfaktoren sind (Read und Gorman 2010). Je nach Lebensphase sind es unterschiedliche Mechanismen, die zu Geschlechterunterschieden in der Gesundheit beitragen. So gilt im mittleren Erwachsenenalter die ungleiche Beteiligung an Erwerbsund Sorgearbeit als wesentliche Determinante von Geschlechterunterschieden in der Gesundheit (Lademann und Kolip 2005). Weitere gesundheitliche Stressoren, mit denen Frauen und Männer in unterschiedlichem Maße konfrontiert sind, werden für weite Bevölkerungsteile dagegen erst im höheren Lebensalter relevant. Belastende
Alter und Geschlecht
409
Situationen, die eher ältere Frauen betreffen, und aus denen sich gesundheitliche Risiken ergeben können, sind zum Beispiel die fehlende eigene materielle Absicherung oder die Pflege von Angehörigen (Backes 2010; Mahne et al. 2017b; vgl. auch Brettschneider und Klammer i. d. B.). Ein zentrales Ergebnis der gesundheitlichen und sozio-ökonomischen Unterschiede zwischen Frauen und Männern und deren Wandel im Laufe des Lebens- und Familienzyklus sind damit auch unterschiedliche Unterstützungsbedarfe und -potenziale in der zweiten Lebenshälfte.
4
Unterstützungsnetzwerke von Frauen und Männern im Alter
Soziale Beziehungen stellen für Frauen wie für Männer eine wichtige Unterstützungsressource dar. Wenn sich im Alter gesundheitliche Probleme, Mobilitätseinschränkungen oder Einschränkungen bei der Ausführung von Aktivitäten des täglichen Lebens einstellen, konzentrieren sich soziale Netzwerke immer stärker auf enge (Familien-)Bindungen (Kahn und Antonucci 1980; Carstensen 1991; Wrzus et al. 2012). Frauen haben in der Regel aber ein größeres soziales Netzwerk als Männer und können im Gegensatz zu Männern, deren Hauptbezugsperson in der Regel die Lebenspartnerin ist, auch nach einer Trennung oder dem Tod des Lebenspartners auf wei tere soziale Ressourcen zurückgreifen (Faltermaier und Hübner 2016). Geht es um die Deckung des wachsenden Unterstützungsbedarfs im Alter, gewinnen das Zusammenspiel zwischen informeller (privater) und formeller (professioneller) Unterstützung an Bedeutung. Der Forschungsstand zu privaten Unterstützungsleistungen für ältere Menschen zeigt folgendes Bild: Über ganz Europa hinweg leisten Personen mittleren Alters den Hauptteil an innerfamilialer Unterstützung an jüngere Kinder und ältere Eltern, wobei aber vor allem Partner/-innen und Töchter (intensive) tatkräftige Unterstützung (Pflege) übernehmen (Haberkern et al. 2015; Wagner und Brandt 2018), während Väter eher finanzielle Leistungen und erwachsene Söhne eher zusätzliche, sporadische Leistungen (Hilfe) erbringen (Deindl und Brandt 2011; Schmid et al. 2012; zum Wandel dieser Muster vgl. Dosch 2018). Die Unterstützungsbedarfe älterer Frauen sind nicht nur im Hinblick auf finanzielle Belange, sondern auch auf Pflege höher und werden eher von Familienangehörigen und dem weiteren sozialen Netzwerk übernommen. Alleinstehende Männer höheren Alters hingegen nehmen (vor allem bei Kinderlosigkeit) eher (öffentliche oder marktwirtschaftliche) formelle Unterstützungsangebote in Anspruch, was sicherlich einerseits ihrer durchschnittlich besseren finanziellen Ausstattung und andererseits ihrer geringeren sozialen Einbindung geschuldet ist (Deindl und Brandt 2017). Insgesamt zeigen sich deutliche Unterschiede in Unterstützungsmustern zwischen verschiedenen europäischen Wohlfahrtsstaaten, die die Verantwortung für soziale Unterstützung mehr oder weniger stark „privatisieren“ und der Familie überlassen (Brandt 2013). In der Zusammenschau der aktuellen europäischen Forschung lässt
410
Martina Brandt und Alina Schmitz
sich sagen: Familialistische Wohlfahrtsstaatsmodelle scheinen gerade in Zeiten der Bevölkerungsalterung auf Kosten der Frauen zu gehen, die eher notwendige und belastende intensive Unterstützungsaufgaben für Familienangehörige übernehmen, wenn keine Alternativen existieren. Zudem lässt sich zeigen: Je geringer soziale Ungleichheit und je ausgebauter sozialund familienpolitische Maßnahmen, desto höher die Unterstützungspotenziale insgesamt und desto geringer auch die Geschlechterunterschiede in der Unterstützung im Alter (Schmid et al. 2012; Brandt 2013; Deindl und Brandt 2015; Haberkern et al. 2015) und je mehr Pflegeangebote, desto höher ist das Wohlbefinden von Pflegenden und Gepflegten (Kaschowitz und Brandt 2017; Wagner und Brandt 2018).
5
Alter und Geschlecht – soziale Unterschiede im Wandel ?
Geschlechterrollen sind über den gesamten Lebenslauf hinweg eine zentrale Determinante für ungleiche Lebensverhältnisse zwischen Frauen und Männern in unterschiedlichen Kontexten. Eine Angleichung der Lebensbedingungen von Frauen und Männern nach dem Renteneintritt, wie sie zuweilen im Sinne einer ‚Feminisierung des Alters‘ postuliert wurde, scheint – zumindest was die heutige Bevölkerung betrifft – nicht der Realität zu entsprechen (Backes 2010; vgl. auch den Sammelband von Doblhammer und Gumà 2018). Auch die Beiträge im vorliegenden Handbuch belegen: Frauen und Männer unterscheiden sich bis heute in nahezu allen behandelten Lebenslagedimensionen deutlich. Geschlecht ist demnach eine grundlegende Differenzierungskategorie, die in allen sozialstrukturellen Untersuchungen Berücksichtigung finden sollte. Dabei reicht es nicht aus, unterschiedliche Lebenslagedimensionen für Männer und Frauen getrennt zu betrachten, vereinen doch Frauen und Männer unterschiedliche Eigenschaften auf sich, die sich gegenseitig bedingen, verstärken, abschwächen oder aufheben können. Dies lässt sich besonders deutlich am Beispiel unterschiedlicher Unterstützungsnetzwerke, -bedarfe und -potenziale demonstrieren: Frauen benötigen, leisten und erhalten im Lebenslauf mehr/andere Unterstützung als Männer aufgrund einer Vielzahl unterschiedlicher gesundheitsbezogener, psychologischer und sozialer Faktoren, die wiederum in Wechselwirkung stehen. Das Zusammenspiel verschiedener Dimensionen gilt es im Hinblick auf die Analyse von Lebensläufen und Lebenslagen von Frauen und Männern im Alter in allen Bereichen zu beachten. Die umfassende Analyse solcher Geschlechterungleichheiten und (Ursache-)Wirkungsgeflechte über den Lebenslauf steckt – der Komplexität der Sache geschuldet – noch in den Kinderschuhen und kann häufig auch nur partiell geleistet werden (z. B. Übernehmen Frauen eher Pflege aufgrund geringerer Erwerbspotenziale oder wird das weibliche Erwerbspotenzial schon in Erwartung etwaigen Pflegebedarfs Angehöriger nicht ausgeschöpft ?). Geschlechterrollen variieren zudem je nach gesellschaftlichem Kontext und sind einem historischen Wandel unterworfen. Die Vorhersage von zukünftigen Verände-
Alter und Geschlecht
411
rungen in Lebensläufen und Lebenslagen von Frauen und Männern in unterschiedlichen wohlfahrtsstaatlichen Kontexten ist ein wichtiges und zukunftsträchtiges Forschungsfeld, und die (sozialpolitischen) Stellschrauben für mögliche (gezielte) Veränderungen sind nicht geklärt. Besonders virulent wird hier sicherlich die Deckung des sich verändernden (steigenden ?) Unterstützungsbedarfs älterer Frauen und Männer bei sich gleichzeitig verändernden (sinkenden ?) Unterstützungspotenzialen in Familie und Gesellschaft. Solche genuin sozialwissenschaftlichen Fragen bedürfen fundierter Analysen, wenn wir Vorhersagen treffen oder gar beeinflussen wollen, welche Konsequenzen der Wandel gesellschaftlicher Geschlechterunterschiede und -verhältnisse auf das Leben einer relativ und absolut wachsenden Zahl älterer Menschen in Zukunft haben wird.
Ausgewählte Literatur Calasanti, Toni. 2010. Gender relations and applied research on aging. In The Gerontologist 50. Heft 6: 720 – 734. Doblhammer, Gabriele, und Jordi Gumà. Hrsg. 2018. A demographic perspective on gender, family and health in Europe. Cham: Springer Open. Schmitz, Alina, und Martina Brandt. 2019: Gendered patterns of depression and its determinants in older Europeans. In Archives of Gerontology and Geriatrics 82: 207 – 216.
Alter und Homosexualität Lea Schütze
1
Einleitung
Unter dem Stichwort „Brücken bauen“ fand Ende Mai 2018 der deutsche Seniorentag statt. Erstmals war auch der Verein BISS – Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren vertreten und präsentierte gemeinsam mit dem Dachverband Lesben und Alter Messestände und Veranstaltungen (BISS 2018a, b). Die Notwendigkeit eines Vertretungsanspruchs für nicht-heterosexuelles Alter(n) formulieren Mitglieder dieser Vereine über Partizipationslücken und mangelnde Sichtbarkeit schwuler und lesbischer Erfahrungen, Lebenslagen und Bedürfnisse in der Altenpolitik. Zugleich zeigt sich derzeit eine vermehrte Forschungstätigkeit zu LGBT im Bereich der Gesundheits- und Pflegeversorgung (vgl. Lottmann und Lautmann 2015; Pulver 2015). Circa 4 % der Bevölkerung in Deutschland über 60 Jahren sind schwul oder lesbisch, das sind mehrere Hunderttausend (vgl. Wortmann 2005, S. 29 ff.). Auch quantitativ bilden schwule und lesbische Senior/-innen daher keine unwesentliche Gruppe ab; umso wesentlicher erscheint die Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse und Lebenssituationen in (alten-)politischen Entscheidungen. Der Mangel an Repräsentationsmöglichkeiten für ältere Schwule und Lesben und ihre Anliegen bildet sich nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in der Wissenschaft ab: Sowohl die nach wie vor starke Heteronormativität der sozialen Gerontologie wie auch die weitgehende NichtBerücksichtigung der Dimension des Alter(n)s in den Queer und (zum Teil) auch in den Gender Studies spiegeln dies wider. Für wissenschaftliche wie politische und praxisbezogene Ansätze ist es wesentlich, spezifische Bedürfnisse und Lebenslagen älterer Schwuler und Lesben zu berücksichtigen, ohne Homosexualität als Identitätskategorie zu vereindeutigen und homosexuelle ältere Menschen zu ‚den Anderen‘ zu machen. Diese Notwendigkeit zeigt sich schon darin, dass schwule Männer und lesbische Frauen mit unterschiedlichen Problemen und Zuschreibungen im Alter zu kämpfen haben. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_35
413
414
Lea Schütze
Dieser Beitrag macht es sich zum Auftrag, spezifische Problemlagen und Frage stellungen zum Thema Homosexualität und Alter(n) aus dem Forschungsstand zum Alter(n) von Lesben und Schwulen sowie aus eigener Forschung (vgl. Schütze 2016, 2017, 2019) zu benennen. Dabei werden Studien beleuchtet, die – abseits defi nitorischer, methodologischer und methodischer Zuschnitte – eine Fokussierung auf Homosexualität und auf die Altersgruppe ab mindestens 60 Jahren aufweisen. Biografische Erfahrungen, gegenwärtige Diskriminierungslinien, die spezifischen Lebenslagen, Ressourcen und Netzwerke sowie das Feld der gesundheitlichen Versorgung (inkl. Pflege) älterer schwuler Männer und lesbischer Frauen stehen im Folgenden im Vordergrund. Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass der Beitrag ‚nur‘ auf lesbische Frauen und schwule Männer, nicht jedoch auf bisexuelle, trans* und inter* Personen eingeht. Deren Lebenslagen und Bedarfe im Alter unterscheiden sich nochmals (vgl. de Vries 2006; Addis et al. 2009; Duffy und Healy 2014), sind aber in der Forschung (wie auch in der Öffentlichkeit), insbesondere in der deutschsprachigen, nochmals unterrepräsentiert.
2
Biografische Erfahrungen: Brüche und Diskriminierungen
2.1
Ältere schwule Männer: § 175 StGB und die Folgen
Heute ältere schwule Männer und lesbische Frauen haben gesellschaftliche Ächtung, Pathologisierung und z. T. auch rechtliche Verfolgung noch selbst erlebt. Der 1969 und 1974 in Westdeutschland entschärfte und schließlich 1994 aus dem bundesdeutschen Strafgesetzbuch gestrichene § 175 StGB stellte sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe. Ca. 50 000 Männer wurden seit Kriegsende nach § 175 verurteilt, zehntausende mehr dürften den Paragrafen als beständige Bedrohung erlebt haben. Für heute ältere schwule Männer ab ca. 70 Jahren war die juristische Diskriminierung genau zu der Zeit wesentlich, in der sie ihre Homosexualität ‚entdeckten‘ und leben wollten, für die ‚jüngeren‘ Älteren wirkten die Folgen gesellschaftlicher Ächtung auch nach der strafrechtlichen Verfolgung weiter und verunmöglichten häufig selbstbewusstes schwules Leben (vgl. Dannecker und Reiche 1974). Für viele der heute Älteren stellt das gesellschaftliche Klima ihrer Adoleszenz und des jungen Erwachsenenalters eine Kontinuität dar, die es noch im Alter erschwert, offen schwul zu leben. Aus den biografisch häufig schwierigen Erfahrungen wird in der Forschung mitunter ein positiver Aspekt abgeleitet: So formuliert etwa Kimmel (1978; vgl. auch Friend 1980), dass die lebenslange Auseinandersetzung mit Diskriminierung und die Verarbeitung von Brüchen im Lebenslauf (etwa durch Diskriminierung am Arbeitsplatz, durch strafrechtliche Verfolgung, Ausschluss aus der Familie) eine Kompetenz ausbildet, mit altersbedingten Schwierigkeiten und Krisen (Einsamkeit, zunehmende Gebrechlichkeit) besser umzugehen. Dieser allzu positiven Deutung von Diskrimi-
Alter und Homosexualität
415
nierung wird inzwischen eher widersprochen (vgl. z. B. Heaphy et al. 2004, Heaphy 2007); auch durch Kimmel (2004) selbst. Die gegenwärtige Lebenssituation älterer schwuler Männer ist laut Forschungsstand vielmehr geprägt von einer „doppelten Stigmatisierung“ (Lottmann und Lautmann 2015; vgl. auch Fox 2007; Boggs et al. 2014). Dies meint, dass ältere schwule Männer entlang ihres Alters in der „Subkultur“, entlang ihrer Sexualität „im gesellschaftlichen Mainstream“ (Lottmann und Lautmann 2015, S. 343) stigmatisiert würden, also von einer Addition von Heterosexismus bzw. Homophobie und Altersdiskriminierung betroffen seien. Neben der grundsätzlichen Frage, ob sich die Bereiche ‚Subkultur‘ und Gesamtgesellschaft überhaupt so deckungsfrei trennen lassen, stellt sich auch die Frage, ob für ältere schwule Männer selbst die Intersektion beider Diskriminierungsformen und -räume für die eigene Lebenssituation nicht entscheidender ist. In der Tat zeigt sich in Selbstbeschreibungen älterer schwuler Männer, dass ein grundlegender Status als Nicht-Subjekt für schwule Männer zwischen 60 und 90 Jahren viel entscheidender für das Selbstbild ist als eine Addition von Stigmatisierungslinien. Offensichtlich gibt es die Erfahrung der Aussortierung und der Abweisung als möglicher Sexualpartner, mithin eine besonders ausgeprägte Altersdiskriminierung in der schwulen Szene bzw. Subkultur (vgl. Schütze 2016, 2019). Diese wird noch dadurch verstärkt, dass das Altern in schwulen Vergemeinschaftungszusammenhängen deutlich früher einsetzt bzw. Menschen früher als alt angesehen werden (vgl. Stümke 1998). Insgesamt ist die mangelnde Erfahrung der Normalität schwulen Alter(n)s in Szene und Gesamtgesellschaft die entscheidendere Erfahrung als eine direkte und doppelte Form der Diskriminierung oder Stigmatisierung. Dies zeigt sich sowohl in einer generellen Unsichtbarkeit wie auch in einem Mangel an Vorbildern und role models (vgl. Schröder und Scheffler 2015, S. 319) für ein gutes, gelingendes Alter(n) homosexueller Menschen. Für das Selbstverständnis älterer schwuler Männer zeigt sich darin aber auch eine Form von Freiheit: Die Position als Nicht-Subjekt ermöglicht es mitunter nämlich auch, sich selbst abseits gesellschaftlich-heteronormierter Altersbilder individuell und freiheitlich zu entwerfen (vgl. Heaphy 2007, S. 204; Schütze 2019). 2.2
Ältere lesbische Frauen: dreifach unsichtbar ?
Die Kontinuität gesellschaftlicher Ächtung, die sich sowohl in konkreter Diskriminierung wie auch in Tabuisierung ausdrückt, betrifft auch heute ältere lesbische Frauen, wenn auch in anderem Maße. So wie ältere Schwule als ‚doppelt stigmatisiert‘ oder ‚doppelt unsichtbar‘ bezeichnet werden, so gilt das laut Forschungsstand für lesbische Frauen ab 65 auf dreifache Weise: Sowohl als Frauen, als ältere Menschen wie auch als Lesben können sie gesellschaftlichen Gruppen zugeordnet werden, die am Rande der Sichtbarkeit und der öffentlichen Verhandlung stehen (vgl. Kehoe 1986; Krell 2016). Die Erfahrung der Unsichtbarkeit machten heute ältere lesbische Frauen bereits in der Vergangenheit: Während männliche Homosexualität geächtet und juristisch ver-
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Lea Schütze
folgt wurde, wurden lesbische Beziehungen häufig als Freundschaften unter Frauen deklariert. Auch wenn es keine direkte strafrechtliche Verfolgung gab wie für Kontakte und Beziehungen zwischen Männern, wurden in der Nachkriegszeit lesbische Frauen, ihre Beziehungen und Orte häufig geheim gehalten und ‚verunsichtbart‘. Wie Lottmann und Lautmann (2015, S. 342) schreiben, war „[d]ie Lebbarkeit lesbischer Existenz […] seit jeher starker Restriktion unterworfen, das betrifft auch heute noch selbst jüngere Frauen“. Im Rahmen einer zunehmenden Sichtbarkeit homosexuellen L(i)ebens, insbesondere seit den 1990er Jahren, ist zwar eine zunehmende gesamtgesellschaftliche Toleranz, zuweilen auch Akzeptanz homosexuellen Lebens festzustellen, die sich etwa in der 2017 vom deutschen Bundestag beschlossenen ‚Ehe für Alle‘ widerspiegelt. In der medialen Öffentlichkeit erschöpft sich homosexuelle Repräsentation zumeist in der Sichtbarkeit schwulen Lebens und schwul lebender Männer. Die Unsichtbarkeit lesbischen Lebens betrifft ältere Lesben dabei in besonderer, und wie oben gezeigt, dreifacher Weise. Die mangelnde öffentliche Sichtbarkeit hat laut Plötz (2006, S. 168) zur Folge, „dass besonders ältere, lesbisch lebende Frauen so selten öffentlich in Erscheinung treten, dass leicht der irrige Eindruck entstehen kann, sie existierten nicht in nennenswerter Anzahl“. Anders als ältere schwule Männer, die sich mit der starken Abwertung und Unattraktivität älterer Körper konfrontiert sehen, werden „in der lesbischen Subkultur Normen der heterosexuell dominierten Gesamtgesellschaft eher in Frage gestellt“ (Krell 2014, S. 78) und daher seltener als Herausforderung für das eigene Selbstbild im Alter gesehen. So wird „im Gegensatz zu heterosexuellen Frauen Attraktivität multidimensional und unabhängig von Jugendlichkeit“ formuliert, was auch dazu führt, dass durch diese „altersunabhängigen Attraktivitätsstandards“ (Krell 2016, S. 118) lesbische Frauen ein insgesamt positiveres Alters(selbst)bild aufweisen. Für ältere Lesben und Schwule wird weiterhin postuliert, dass auch eine geringere geschlechtsidentitäre Sozialisation in Konzepte hegemonialer Männlichkeit und Weiblichkeit und das Erlernen nicht-traditionell geschlechtstypischer Arbeitstätigkeiten, etwa im Haushalt, u. U. eine selbstständige, unabhängige Lebensgestaltung begünstigen und damit Anpassungsprozesse im Alter erleichtern (vgl. Berger 1982; Traunsteiner 2018).
3
Lebenssituationen im Alter: Ressourcen und Netzwerke
3.1
Ältere schwule Männer: arm und einsam ?
Die Forschung zum Älterwerden schwuler Männer greift häufig auf, dass homosexuelle Männer im Alter besonders von Einsamkeit betroffen sind (vgl. Heaphy et al. 2004; Almack et al. 2010). Dies liegt daran, dass sie oft (wenngleich nicht immer) keine Kinder haben und über Schwierigkeiten berichten, einen Partner zu finden. Zudem formulieren sie den Wunsch, selbstständig und abseits gesellschaftlicher Normierungen
Alter und Homosexualität
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und Schablonen zu leben, was mitunter mit Diskriminierungserfahrungen zusammenhängt. Auch der bereits angesprochene Rückzug aus Szene und Communities spielt eine Rolle; sowohl die direkte Erfahrung der Altersdiskriminierung aufgrund des Jugendlichkeitskults wie auch ein Selbstrückzug aus Angst vor Zurückweisung (vgl. Stümke 1998; Bochow 2005; Schütze 2019; für den englischsprachigen Raum z. B. Heaphy 2007, S. 206) werden häufig berichtet. Dabei gibt es auch Ausnahmen: So zeigt eine Studie von Bochow, dass etwa in der sog. Lederszene durchaus auch ältere schwule Männer vertreten sind (vgl. ebd. 1998, S. 225) und dass sich der Rückzug häufiger auf den Bereich der (sexuellen) Kontaktaufnahme bezieht, weniger auf politische Vergemeinschaftungsformen. Wie einsam sich ältere schwule Männer fühlen, hängt des Weiteren stark davon ab, ob und wann sie sich geoutet haben und – häufig damit korrespondierend – inwiefern sie in schwule Subkulturen eingebunden sind (vgl. Schütze 2016, 2019; vgl. auch Heaphy 2007, S. 205). Zum sozioökonomischen Status älterer schwuler Männer gibt es keine Daten; dies liegt an der großen Heterogenität dieser Gruppe. Es ist anzunehmen, dass sich in Deutschland und in anderen (west-)europäischen Ländern eine große Anzahl älterer schwuler Männer findet, die aufgrund von Diskriminierungen im Job oder in der gezielten Suche nach Tätigkeiten, in denen Homosexualität nicht problematisiert wurde, eher geringere Einkommen in Kauf nehmen mussten oder die aufgrund psychosozialer Krisen längere Phasen der Nicht-Erwerbstätigkeit hinnehmen mussten, was auch die (Renten-)Einkommenssituation im Alter verschlechtert (vgl. Heaphy 2007, S. 199). Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass es auch eine große Zahl gut gestellter älterer schwuler Männer gibt, für die die Ausstattung mit materiellen Gütern im Alter und auch im Falle von Pflegebedürftigkeit unproblematisch ist. 3.2
Ältere lesbische Frauen: gut vernetzt und schlecht abgesichert ?
Anders als schwule ältere Männer haben ältere lesbische Frauen häufig ein großes und stabiles Freundschaftsnetzwerk (vgl. Cruikshank 1990; Heaphy 2007; Krell 2014). Im Gegensatz zu Frauen gleichen Alters, die in heterosexuellen Beziehungen leben, beziehen sie ein höheres eigenständiges Einkommen, da sie im Durchschnitt weni ger berufliche Auszeiten (etwa für die Kinderversorgung) nahmen und nehmen und mehr Wert auf finanzielle Unabhängigkeit (auch von der Partnerin) legen (vgl. Traunsteiner 2018). Allerdings gibt es durchaus auch ältere Lesben in finanziell deprivierter Lage, die – anders als ihre heterosexuellen und in Beziehung lebenden Geschlechtsgenossinnen – nicht auf das (in der Regel höhere) Einkommen eines (männlichen Ehe-)Partners zurückgreifen können. Ein in der Regel gut ausgebautes soziales Netzwerk mit anderen jüngeren, gleichaltrigen und älteren Frauen ist häufig hilfreich, die zuweilen finanziell schwierige Lage abzufedern. Die oftmals engen Freundschaftsbeziehungen verstehen sie als nicht heteronormierte Familie, die Verlässlichkeit und Vertrauen bietet (vgl. Heaphy 2007, S. 202). Der Rückzug aus der Szene ist
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bei ihnen – und anders als bei älteren schwulen Männern – häufig selbstbestimmter: Da ältere Lesben eher auf der Suche nach persönlichen, freundschaftlichen Unterstützungsnetzwerken sind, spielt die Szene oder Subkultur mit dem Älterwerden eine immer geringere Rolle (Heaphy et al. 2004, S. 896). Das Knüpfen stabiler privater Netzwerke ist auch für die Lebensphase Alter hilfreich: Deutlich anders als ältere schwule Männer können ältere Lesben auch im Alter auf ein gut funktionierendes Netzwerk aus Freund/-innen und Bekannten zugreifen (vgl. Krell 2016, S. 119). Allerdings berichten lesbische Frauen, die relativ spät im Lebensverlauf ihr Coming-Out hatten, von verstärkten Schwierigkeiten, freundschaftliche Netzwerke mit anderen lesbischen Frauen zu knüpfen und bisherige Freundschaften mit heterosexuellen Personen zu halten (vgl. ebd.).
4
Gesundheitliche Versorgung und Pflege älterer Schwulen und Lesben
Im Kontext von Homosexualität und Alter(n) ist einzig die Thematik der Pflegeund Gesundheitsversorgung älterer Schwuler und Lesben relativ gut erforscht. Dies liegt vermutlich daran, dass sie als Gruppe besonders dann als erforschenswert gelten, wenn sie in wohlfahrtsstaatliche Policies und Infrastrukturen integriert werden (müssen) und die entsprechenden Studien auch finanziert werden. Die Untersuchungen zeigen dabei, dass herkömmliche Einrichtungen der Gesundheits-, Alters- und Pflegeversorgung wenig oder gar nicht auf die Bedürfnisse und Bedarfe älterer NichtHeterosexueller zugeschnitten sind (vgl. Gerlach 2004; Addis et al. 2009; Sdun 2009; Farmer und Yancu 2015). Die besondere Problematik in der gesundheitlichen Versorgung im Alter liegt darin, dass ältere Schwule und Lesben Ängste davor äußern, in bestehende Einrichtungen gehen zu müssen. Dies bezieht sich sowohl auf Institutionen der (Alten-)Pflege (Franks 2004; Pulver 2015; Lottmann 2016) wie auch auf Gesundheitseinrichtungen (vgl. Wolitski et al. 2008; Fenge und Hicks 2011). Insbesondere bei Einzug in ein Pflegeheim befürchten sie, von ihrer sexuellen Orientierung nicht erzählen zu können oder starken Diskriminierungen ausgesetzt zu werden. Nicht nur ein nicht entsprechend geschultes Pflegepersonal, sondern auch die anderen Mitbewohner/-innen werden als Quelle möglicher Ausgrenzungen befürchtet. Dies liegt auch daran, dass derzeitige (Alten-)Pflegeheimbewohner/-innen aus Geburtskohorten stammen, für die die Tabuisierung und Ächtung von Homosexualität noch als Normalität galt und gilt. Diejenigen älteren Homosexuellen, die ihr Leben lang geoutet lebten und z. T. offensiv politisch für Toleranz eintraten und kämpften, befürchten, ihr selbstbewusst schwul oder lesbisch gelebtes ‚Ich‘ im Pflegeheim wieder verstecken zu müssen. Aber auch den älteren Menschen, denen es nicht möglich schien, sich zu outen, bleibt aufgrund dieser Ängste die Möglichkeit versperrt, sich im Lebensabend outen zu können. Entsprechend wünschen sich ältere Schwule und Lesben die Möglich-
Alter und Homosexualität
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keit, in Einrichtungen gehen zu können, die eine verstärke Sensibilität für Nicht-Heterosexualität sowohl in der Ausbildung des Personals wie auch in der Gesamtausrichtung des Hauses in sich tragen (Heaphy et al. 2004; Lottmann 2016; Gerlach und Schupp 2017). Dabei erhoffen sich viele eher eine Integration in bestehende Angebote als in Einrichtungen zu leben, in denen ausschließlich schwule und/oder lesbische ältere Pflegebedürftige sind (Schütze 2019). Die Relevanz stationärer und auch ambulanter Pflegeangebote für ältere Homosexuelle verstärkt sich noch dadurch, dass Betroffene im Pflegefall nicht auf Freund/-innen, Kinder und Partner/-innen zugreifen können oder wollen (vgl. Heaphy et al. 2004, S. 891). Die im Falle der Pflegebedürftigkeit unmittelbare physische, häufig auch psychi sche Abhängigkeit verstärkt den Wunsch, über das eigene Ich und die Selbstbeschreibung autonom verfügen zu können, und macht eine angemessene Berücksichtigung und Sensibilisierung für die Lebensgeschichten, Erfahrungen und die Wünsche für das Leben im Pflegeheim umso notwendiger.
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Ausblick: zukünftige Fragen, politische Notwendigkeiten
Entsprechend der vermehrten Forschung zu Homosexualität(en) und Alter(n) zeigt sich auch in der Altenpolitik eine vermehrte Öffnung für dieses Thema. Zum siebten Altenbericht der Bundesregierung gibt es erstmals eine Expertise zum Thema „Lebenslagen, Partizipation und gesundheitlich-pflegerische Versorgung älterer Lesben und Schwuler in Deutschland“ (vgl. von Gerlach und Schupp 2016). Auch Pflege institutionen öffnen sich: So kann etwa die Münchenstift, ein kommunaler Anbieter von Pflegeversorgung, als ein Beispiel einer bereits bestehenden Einrichtung genannt werden, die sich den Wünschen und Bedürfnissen älterer schwuler und lesbischer Menschen derzeit konzeptuell öffnet. Der Lebensort Vielfalt in Berlin gilt als Beispiel einer Einrichtung, die aus Szenezusammenhängen heraus initiiert wurde. Dort wurde u. a. eine betreute Wohngemeinschaft für ältere schwule Männer mit Pflegebedarf eingerichtet. Abseits des Bereichs der Altenpflege ist die Thematik nicht-heterosexuellen Alter(n)s noch wenig in altenpolitische Entscheidungen eingegangen; die Berücksichtigung von LGBT-spezifischen Themen und die gewollte Integration älterer schwuler und lesbischer Menschen stehen in Einrichtungen und Diensten der Altenhilfe noch am Anfang. In der Sozialen Arbeit mit alten Menschen scheinen ältere Homosexuelle nach wie vor zu wenig präsent und werden selten als Gruppe angesprochen und integriert. Eine angemessene Berücksichtigung ihrer Lebenslagen und Bedarfe würde bedeuten, sich den spezifischen Wünschen und Bedarfen älterer schwuler Männer und lesbischer Frauen zu öffnen und sie zu berücksichtigen, ohne sie als ‚bunte Pfauen‘ vorzuführen oder von einem verallgemeinerbaren Typus des älteren Schwulen oder der älteren Lesbe auszugehen.
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Ausgewählte Literatur Gerlach, Heiko, und Markus Schupp. 2017. Eine Theorie der Anerkennung von Homosexualitäten in der Altenpflege. Dissertation an der Universität Bremen. https://elib.suub.uni-bremen. de/edocs/00106258-1.pdf. Zugegriffen: 18. Juni 2018. Schütze, Lea. 2019. Schwul Sein und Älter Werden. Selbstbeschreibungen älterer schwuler Männer. Wiesbaden: Springer VS. Traunsteiner, Bärbel S. 2018. Gleichgeschlechtlich liebende Frauen im Alter. Intersektionalität, Lebenslagen und Antidiskriminierungsempfehlungen. Wiesbaden: Springer VS.
Alter und Behinderung Katrin Falk und Michael Zander
1
Hintergrund
In der größer werdenden Gruppe alter Menschen mit Behinderung lassen sich zwei Untergruppen unterscheiden: (1) Ältere Menschen, die erst im höheren Alter von dauerhaften körperlichen, kognitiven oder psychischen Beeinträchtigungen betroffen sind – häufig sind diese Folge der mit zunehmendem Alter mit höherer Wahrscheinlichkeit auftretenden chronischen Erkrankungen (RKI 2015, S. 411 f.) – und (2) ältere Menschen, die mit einer schon früher im Lebenslauf erworbenen Beeinträchtigung alt werden. Zum Wachstum beider Gruppen trägt vor allem der allgemeine Anstieg der Lebenserwartung bei, der auf verbesserten Lebensverhältnissen und Fortschritten in der gesundheitlichen Versorgung beruht (RKI 2015, S. 21). Da Menschen mit Beeinträchtigungen im statistischen Durchschnitt in einer schlechteren sozioökonomischen Lage sind als nicht-behinderte Menschen (BMAS 2016, 217 ff.), dürften sie allerdings auch stärker von dem in Deutschland ausgeprägten sozialen Gradienten der durchschnittlichen Lebenserwartung (RKI 2015, S. 22) betroffen sein – d. h. durchschnittlich eine geringere Lebenserwartung haben. Das allmähliche Aufrücken der geburtenstarken Jahrgänge der 1950er – und absehbar auch der 1960er – Jahre ins Alter hat ebenfalls Anteil an der Entwicklung. Die wachsende Zahl älterer Menschen mit einer lebenslang bestehenden Beeinträchtigung ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass mittlerweile die erste Generation behinderter Menschen nach dem Ende des deutschen Faschismus und seiner Vernichtungspolitik das Rentenalter erreicht hat (vgl. Zander 2016a, S. 2).
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_36
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2
Katrin Falk und Michael Zander
Modelle von Behinderung und der Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben
Im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte haben sich die gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten behinderter Menschen und mit ihnen das Verständnis von Behinde rung bedeutend verändert. Lange wurden Behinderungen als unmittelbare Folge gesundheitlicher Beeinträchtigungen betrachtet und die Betroffenen unter Verweis auf vermeintliche oder tatsächliche Leistungsdefizite abgewertet. In der Bundesrepublik Deutschland waren auch nach dem Ende der faschistischen Herrschaft noch Elemente der nazistischen Ideologie einflussreich. So heißt es in einer Definition des Bundesinnenministeriums aus dem Jahr 1958: „Als behindert gilt ein Mensch, der entweder aufgrund angeborener Missbildung […] oder durch Verletzung oder Krankheit […] eine angemessene Tätigkeit nicht ausüben kann. Er ist mehr oder minder leistungsgestört (lebensuntüchtig).“ (zit. n. Bösl 2010, S. 6)
Neben wirtschaftlichen und sozialstrukturellen Faktoren (Zander 2016b) trug die in den späten 1970er Jahren entstandene Behindertenbewegung maßgeblich zu Veränderungen der Wahrnehmung und konkreten Situation behinderter Menschen bei (Köbsell 2006). Aktivist/-innen der Behindertenbewegung begründeten in den 1980er Jahren – zunächst in den angelsächsischen Ländern – die Disability Studies. Letztere betrachten Behinderung primär als gesellschaftliches Phänomen und räumen der Erfahrung der Betroffenen einen besonderen Platz in Theorie und Forschung ein. Von grundlegender Bedeutung für diesen interdisziplinären Forschungsansatz ist das sog. soziale Modell von Behinderung, das der britische Sozialwissenschaftler Oliver (1983) unter Rückgriff auf eine Publikation der Union of Physically Impaired Against Segregation (UPIAS) aus dem Jahr 1976 formuliert hat. Das soziale Modell unterscheidet zwischen impairment, also Beeinträchtigungen, die Gegenstand diagnostischer und therapeutischer Dienstleistungen sein können, und disability, d. h. Behinderung als Inbegriff aller ausgrenzenden und unterdrückenden Praktiken und Strukturen, von denen behinderte Menschen betroffen sind und die nicht kausal auf Beeinträchtigungen zurückgeführt werden können. Das soziale Modell fasst Behinderung als gesellschaftliches Phänomen und relativiert damit zugleich die Expertise klinisch-therapeutischer Professionen, insbesondere der Medizin. Beispiele für Behinderungen sind individuelle Vorurteile, unzugängliche Gebäude, nicht barrierefreie Transportsysteme, segregierende Bildungsstätten, ausgrenzende Arbeitsumgebungen usw. (Oliver 1996, S. 33). Unter dem Einfluss poststrukturalistischer Theorien gaben führende Vertreter/-in nen der deutschen Disability Studies während der 1990er Jahre Diskursanalysen gegenüber materialistischen Ansätzen den Vorzug. So vertritt Waldschmidt (2005) ein sog. kulturelles Modell, das sich um Dekonstruktion, Vielfalt und Repräsentation dreht. Degener (2006) plädiert für einen „Paradigmenwechsel vom medizinischen
Alter und Behinderung
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Tabelle 1 Reformuliertes soziales Modell Beeinträchtigung (impairment)
Behinderung (disability)
Ursachen
•• individuell-zufällig (z. B. Genetik, Geburtsunfall) •• gesellschaftlich-strukturell (z. B. sozial ungleich verteilte Krankheitsrisiken, Arbeitsbelastungen, Krieg) •• gesellschaftlich-verhaltensbedingt (z. B. Alkoholmissbrauch, ‚ungesunder‘ Lebensstil etc.)
•• gesellschaftliche Barrieren •• Diskriminierung (Abwertung, Paternalismus)
(mögliche) Folgen für die Betroffenen
•• hängen von den Charakteristika der Beeinträchtigung ab (z. B. sichtbar/unsichtbar, schmerzhaft/nicht schmerzhaft etc.)
•• Ausgrenzung •• Benachteiligung •• (problematische) Bewältigung
in der allgemeinen Wahrnehmung
•• wird kulturell gedeutet
•• wird kulturell gedeutet •• wird leicht mit Beeinträchtigung verwechselt
Quelle: Eigene Darstellung nach Zander 2015, S. 77 ©
zum menschenrechtlichen Modell“ (ebd., S. 104). Vor diesem Hintergrund hat Zander (2015, S. 76) ein reformuliertes soziales Modell vorgeschlagen, das zwischen Ursachen, Folgen und allgemeiner Wahrnehmung von Beeinträchtigungen und Behinderung unterscheidet und mögliche Beeinträchtigungen stärker nach ihrem individuell-zufällig versus gesellschaftlich bedingten Charakter differenziert. Wie in Tabelle 1 deutlich wird, bezieht es auch die gesellschaftlich-kulturelle Deutung von Beeinträchtigung und Behinderung ein. Ein weiteres Konzept, das im Kontext der Behindertenbewegung entwickelt wurde, ist das des ‚selbstbestimmten Lebens‘. Demnach müssen gesellschaftliche Strukturen und Dienstleistungen so gestaltet werden, dass behinderte Personen im Alltag möglichst im gleichen Maße wie ihre nichtbehinderten Mitmenschen Entscheidungen nach eigenen Wünschen und Vorstellungen treffen können. Dies betrifft etwa die Wahl des Wohn- und Aufenthaltsortes, der Aufsteh- und Schlafenszeiten, der Kleidung oder der Beziehungen. Ein Mittel, um Selbstbestimmung zu ermöglichen, ist die Persönliche Assistenz. Anders als in der konventionellen Pflege üblich, können Menschen im Rahmen Persönlicher Assistenz idealerweise darüber entscheiden, wer ihnen wann, wobei und an welchem Ort hilft (Zander 2015, S. 54 ff.). Für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen sind andere, für sie passende Formen von Unterstützung nützlich, bei denen z. B. Entscheidungen von der unterstützenden Person vorstrukturiert werden. Indes ist Persönliche Assistenz weder für ältere noch für jüngere behinderte Menschen die Regel: Bislang fehlt es an einer einheitlichen sozialrechtlichen Regelung der Assistenz, sodass diese in den Bundesländern unterschiedlich umgesetzt wird und nur für einen kleinen Teil der behinderten Menschen mit
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Katrin Falk und Michael Zander
entsprechendem Bedarf zugänglich ist. Belastbare Daten zur Anzahl derjenigen, die Persönliche Assistenz in Anspruch nehmen, liegen nicht vor. Seit Ende der 1980er Jahre diskutieren Vertreter/-innen der Disability Studies Fragen von Behinderung und Alter (Zola 1988; Zarb und Oliver 1993; Priestley 2003) und Grundgedanken der Disability Studies finden Eingang in (kritisch-)gerontologische Diskurse sowie Überlegungen zur Praxis der Altenhilfe (Kalish 1979; Cohen 1988; Minkler 1990; Minkler und Fadem 2002; Putnam 2002; WHO 2002; Jönson und Larsson 2009; Kröger 2009; Frewer-Graumann und Schäper 2015; Zander 2015). Eine breite Rezeption der Disability Studies in Theorie und Praxis von Gerontologie und Altenhilfe steht jedoch bislang aus.
3
Die (sozial-)rechtliche Rezeption des sozialen Modells von Behinderung
Das soziale Modell hat – zumindest ansatzweise – Eingang in Legaldefinitionen in Deutschland gefunden. Die 2009 in Kraft getretene UN-Behindertenrechtskonven tion (UN-BRK) macht den Vertragsstaaten verbindliche Vorgaben. Allerdings werden die individuellen Beeinträchtigungen dabei nach wie vor als mit konstitutiv für Behinderung verstanden. So wird in der UN-BRK postuliert, dass „Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern“ (UN-BRK, Präambel nach Deutscher Bundestag 2008a).
Die Behinderungsdefinition der UN-BRK wurde auch in das SGB IX übernommen. Als „Menschen mit Behinderungen“ gelten danach „Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleich berechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können“ (§ 2 Abs. 1, SGB IX).
Eine Beeinträchtigung sieht das Gesetz allerdings nur als gegeben an, „wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht“ (§ 2 Abs. 1 SGB IX). Aus diesem Grund werden die erworbenen Beeinträchtigungen von Menschen im höheren Lebensalter nicht in den Kontext des SGB IX gestellt, sondern in den des SGB XI. Das ist insofern von großer Bedeutung, als das Pflegeversicherungsrecht zwar auf die Förderung von Selbstständigkeit und Selbstbestimmung der Pflegebedürftigen zielt (vgl. § 2 Abs. 1 SGB XI), jedoch einem individualisierenden und medikalisierenden Modell folgt. Zentrales Kriterium für das
Alter und Behinderung
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Vorliegen von Pflegebedürftigkeit ist die Angewiesenheit auf Hilfe Dritter aufgrund von „gesundheitlich bedingte[n] Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten“ (§ 14 Abs. 1 SGB XI). Potenziell ermöglichende oder behindernde Umweltbedingungen werden auf dieser Grundlage nicht systematisch erfasst, ja nachgerade ausgeblendet. Hieran wurde weder mit der 2016 durch das sog. Bundesteilhabegesetz (BTHG) begonnenen Neuordnung der sozialrechtlichen Regelungen im Zusammenhang mit Schwerbehinderung noch im Zuge der Änderungen des Pflegeversicherungsrechts in der zweiten Hälfte der 2010er Jahre etwas geändert.
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Lebenslaufbezogene Dynamiken und Heterogenität der Lebenslagen
Die Heterogenität der Lebenslagen (Engels 2008, S. 643) alter behinderter Menschen ergibt sich u. a. aus der Vielfalt des Alters, aber auch daraus, dass gesellschaftliche Gegebenheiten der Vielgestaltigkeit möglicher Beeinträchtigungen unterschiedlich gut entsprechen. Die Frage, wann im Lebenslauf eine Beeinträchtigung eintritt, ist von Belang, weil sich daran ebenfalls spezifische Ausgrenzungserfahrungen und Einschränkungen der Teilhabe knüpfen. 4.1
Datenlage
Die Datenlage in Deutschland zur Lebenssituation von Menschen, die mit Behinderung alt geworden sind, sowie von Menschen, die erst im Alter die Erfahrung von Behinderung machen, ist lückenhaft (vgl. Köhncke 2009; Zander 2016a). Zander (ebd., S. 3) weist darauf hin, dass „Daten über den Eintrittszeitpunkt von Beeinträchtigungen im Lebenslauf “ fehlen, „zudem werden in Gesetzen und amtlichen Berichten und Stellungnahmen uneinheitliche Terminologien verwendet“ (ebd.). Die Schwerbehindertenstatistik erfasst nur Menschen, die einen Antrag auf Anerkennung einer Behinderung gestellt haben, damit erfolgreich waren und denen ein Grad der Behinderung von 50 oder mehr zuerkannt wurde. In großen Repräsentativerhebungen bleiben Menschen, die in stationären Einrichtungen leben, meist außen vor (BMAS 2016, S. 534 ff.). Dasselbe gilt für Menschen, „die aufgrund geistiger oder kommunikativer Beeinträchtigungen nicht anhand eines vorstrukturierten Fragebogens befragt werden können“ (ebd.).
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Lebenslagen alter Menschen mit Beeinträchtigungen oder Behinderung
Ende 2017 lebten in Deutschland rund 7,8 Millionen Menschen (3,9 Millionen Männer und 3,8 Millionen Frauen), d. h. ca. 9,4 % der Bevölkerung mit einer Schwerbehinderung nach § 2 SGB IX; bei den ab 65-Jährigen lag die Quote bei 24,9 % (StaBuAmt 2019h, S. 7). Drei Viertel der Schwerbehinderten waren 55 Jahre und älter, 43,6 % waren 55 bis unter 75 Jahre alt, 33,8 % 75 Jahre und älter (ebd., S. 6). Nur bei 3,3 % aller schwerbehinderten Menschen war die Beeinträchtigung angeboren (ebd., S. 42 ff.). Körperliche Beeinträchtigungen stellten mit 58,3 % die häufigste Behinderungsart bei ab 65-jährigen Schwerbehinderten dar, gefolgt von sonstigen Beeinträchtigungen (17,6 %), Sinnesbeeinträchtigungen (10,3 %), kognitiven (9,6 %) und psychischen Beeinträchtigungen (4,1 %) (ebd.). Der Anteil der Menschen mit Beeinträchtigungen ist weitaus größer als der Anteil derjenigen mit anerkannter Schwerbehinderung: 2013 wies ein Drittel (34,8 %) der 65bis 79-Jährigen und annähernd die Hälfte (47,4 %) der ab 80-Jährigen eine oder mehrere Beeinträchtigungen auf (BMAS 2016, S. 43). Pflegebedürftig im Sinne des SGB XI waren Ende 2017 3,8 % der 65- bis unter 70-Jährigen, 6,4 % der 70- bis unter 75-Jährigen, 11,5 % der 75- bis unter 80-Jährigen und 23,3 % der 80- bis unter 85-Jährigen (StaBuAmt 2018d, S. 19 – 20; eigene Berechnungen). Der Anteil derjenigen, die in ihrem Alltag auf Unterstützung durch Dritte angewiesen sind, jedoch keine Leistungen erhalten, dürfte deutlich höher liegen: Schneekloth und Wahl (2005, S. 61) schätzten auf einer Datenbasis von 2002, dass auf eine zu Hause lebende pflegebedürftige Person etwa zwei Personen kommen, die im Alltag auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind. Zwar wurde der Kreis der Leistungsberechtigten der Pflegeversicherung mit Einführung der Pflegegrade zum 01. 01. 2017 im Hinblick auf kognitive und psychische Beeinträchtigungen ausgeweitet. Ein Anspruch gegenüber der gesetzlichen Pflegeversicherung auf Pflegegeld oder Pflegesachleistungen besteht jedoch erst ab Pflegegrad 2 (vgl. § 28 SGB XI und § 28a SGB XI). 4.3
Armutsrisiko und Erwerbsbeteiligung
Laut den Ergebnissen der Zusatzerhebung „Gesundheit“ des Mikrozensus 2013 lagen die Armutsrisikoquoten der Älteren ohne und derjenigen mit anerkannter Behinderung (d. h. derjenigen, die einen Grad der Behinderung von 20 bis 100 angaben) ähnlich hoch und stiegen von 2005 bis 2013 deutlich an: von 10 % auf 15 % bei den ab 65-Jährigen ohne Beeinträchtigung und von 9 % auf 14 % bei den ab 65-Jährigen mit Beeinträchtigung (BMAS 2017a, S. 473 f.). Besonders hoch ist das Altersarmutsrisiko für Menschen mit chronischen Erkrankungen ohne anerkannte Behinderung (ebd.). Eine ausgeprägte Ungleichheit zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen besteht bei der Erwerbsbeteiligung. Das Statistische Bundesamt (2017e, S. 19)
Alter und Behinderung
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weist auf Basis der Ergebnisse des Mikrozensus 2013 über alle Altersgruppen hinweg für behinderte Menschen eine deutlich geringere Erwerbsquote aus als für nichtbehinderte Menschen. Auch in der Gruppe der 60- bis 65-Jährigen lag der prozentuale Anteil der Erwerbspersonen in der Gruppe der behinderten Menschen im Jahr 2013 mit 33,7 % deutlich unter der Erwerbsquote von 59,1 % der Nichtbehinderten. Zu den „Erwerbspersonen“ werden dabei die „Erwerbstätigen“ gezählt (d. h. Personen, „die […] im [einwöchigen] Berichtszeitraum wenigstens 1 Stunde für Lohn oder sonstiges Entgelt irgendeiner beruflichen Tätigkeit nachgehen bzw. in einem Arbeitsverhältnis stehen“) sowie die „Erwerbslosen“ (d. h. Personen „ohne Erwerbstätigkeit, die sich in den letzten vier Wochen aktiv um eine Arbeitsstelle bemüht haben und sofort, das heißt innerhalb von zwei Wochen, für die Aufnahme einer Tätigkeit zur Verfügung stehen“) (ebd., S. 8). Gründe für die geringere Erwerbsquote behinderter Menschen können beispielsweise darin liegen, dass die Suche nach einer Erwerbstätigkeit aufgrund von Ausgrenzungserfahrungen oder mangelnder Barrierefreiheit aufgegeben wurde, oder auch, dass in einem amtlichen Verfahren eine Einstufung als „erwerbsunfähig“ stattgefunden hat. In der Folge müssen behinderte Menschen ihren Lebensunterhalt früher und häufiger als nichtbehinderte Menschen auf Renten bzw. Pensionen oder Leistungen der Sozialhilfe stützen (ebd., S. 24). Umgekehrt können „Erwerbslosigkeit, Armut oder ein niedriges Bildungsniveau […] die Wahrscheinlichkeit einer Behinderung oder Beeinträchtigung verstärken“ (BMAS 2017a, S. 472). 4.4
Soziale Beziehungen
Behinderte Menschen im mittleren Lebensalter waren 2013 häufiger ledig als Nichtbehinderte, aber auch häufiger verwitwet oder geschieden (StaBuAmt 2017e, S. 17). Je höher die Altersgruppe, desto geringer war dieser Unterschied, wobei in den Altersgruppen ab 65 Jahren der Anteil der Verwitweten bei behinderten wie nicht behinderten Frauen mehr als doppelt so hoch war wie bei den Männern (ebd.). Über alle Altersgruppen hinweg berichteten in der GEDA-Studie 2012/2013 des RKI 25 % der Menschen mit Beeinträchtigung eine geringe soziale Unterstützung durch ihr soziales Umfeld gegenüber 14 % derjenigen ohne Beeinträchtigung, wobei „sich die Einschätzung der sozialen Unterstützung mit zunehmendem Alter verschlechtert“ und sich bei den über 80-Jährigen der Unterschied zwischen Menschen mit und ohne Beeinträchtigung nivelliert (BMAS 2016, S. 74). Studien zur Situation von Menschen, die mit unterschiedlichen Behinderungen alt werden, deuten auf kumulierende gesellschaftliche Benachteiligungen hin. Kaul et al. (2009) beschreiben, gestützt auf Interviews mit gehörlosen Älteren, wie mangelnde Gebärdensprachkenntnisse von Angehörigen, Nachbarn, Mitarbeiter/-innen von Pflegediensten oder anderen Angeboten und Diensten zu Verständigungsschwierigkeiten führen und so verhindern können, dass die notwendige Basis von Sicherheit und Vertrauen entwickelt wird (vgl. ebd., S. 414 – 415): „Alle befragten alten gehör
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losen Menschen fordern daher umfassende Gebärdensprachkompetenz von den Mitarbeitern in Einrichtungen und Angeboten für gehörlose Menschen im Alter“ (ebd., S. 416). Die Studie von Kruse et al. (2012) zur Situation contergangeschädigter Menschen verdeutlicht, dass Belastungen bei der Gestaltung sozialer Netzwerke bei Personen mit niedrigen Einkommen größer sind als bei Personen mit höheren Einkommen (vgl. ebd., S. 49, 51). Dieckmann und Metzler (2013, S. 114 ff.) fanden in einer im Jahr 2011 durchgeführten Erhebung zu Lebensqualität und Lebenserwartung von insgesamt 441 Menschen mit sog. geistiger Behinderung im Alter heraus, dass die Befragten – ihr Durchschnittsalter lag bei 57 Jahren – ihre sozialen Kontakte entlang der im Rahmen der jeweiligen Wohnform (Haushalt der Eltern, ambulant betreutes Wohnen, stationär betreutes Wohnen) gegebenen Möglichkeiten gestalteten: „Häufig beschränkte sich in nahezu allen Bereichen der Kontakt auf einen einzigen Personenkreis“ (ebd., S. 118). 4.5
Gesundheitliche Versorgung
Menschen mit Beeinträchtigungen beschreiben ihre eigene Gesundheit weitaus häufiger als ‚weniger gut‘ oder ‚schlecht‘ als Menschen ohne Beeinträchtigungen (BMAS 2016, S. 310 ff., auf Basis von Daten des sozioökonomischen Panels (SOEP) 2014). In der Altersgruppe 65 bis 79 Jahre traf dies für 51 % der Menschen mit Beeinträchtigungen gegenüber 12 % ohne Beeinträchtigung zu, bei den ab 80-Jährigen auf 59 % gegenüber 15 % ohne Beeinträchtigung (ebd., S. 312). In ihrer partizipativen und betroffenenkontrollierten Interviewstudie mit 63 Menschen mit früh erworbener Beeinträchtigung aus Ostdeutschland verzeichneten Scheier et al. (2017, S. 57) „beinahe bei allen Befragten kleinere bis größere Versorgungslücken“. Zusätzlich zu professionellen Hilfen organisierte private Hilfen fanden im Rahmen „vielschichtige[r] und recht komplexe[r] Netzwerke“ statt (ebd.). Während zwei Drittel der interviewten Frauen alleine lebten, war es bei den Männern nur ein Drittel (ebd., S. 66). Behrisch und Prinz (2014) interviewten 20 kleinwüchsige Menschen, die 40 Jahre und älter waren. Die Hälfte der Befragten berichtete von episodischen psychischen Problemen, u. a. im Zusammenhang mit Burn-out und Mobbing im Beruf (vgl. ebd., S. 17). Manche gaben an, häufiger als in jüngeren Jahren Kontakte und Unternehmungen einzuschränken, da der Umgang mit einer unzureichend angepassten Infrastruktur eine zunehmende Anstrengung bedeute (vgl. ebd., S. 17 f.). Das medizinische Versorgungssystem ist unzureichend auf die Bedürfnisse von Menschen mit Beeinträchtigungen eingestellt. Der größte Teil der Arztpraxen ist „nicht ohne Stufen oder Treppen zu erreichen“ (dpa 2018). Den Behandler/-innen fehlt es häufig an Kenntnissen und Erfahrung mit Beeinträchtigungen. Dies vermindert nicht nur die Qualität der gesundheitlichen Versorgung, sondern schränkt auch die Selbstbestimmung (nicht nur) alter Behinderter empfindlich ein. Die Folge kann sein,
Alter und Behinderung
429
dass die Betroffenen die Inanspruchnahme (notwendiger) gesundheitlicher Dienstleistungen vermeiden. Belastbare Daten zum Umfang, in dem behinderte Menschen solche Behinderungen durch das Gesundheitssystem erfahren, und zu den gesundheitlichen Folgen fehlen jedoch. 4.6
Wohnen, Unterstützung im Alltag und Pflege
Die meisten Menschen mit Beeinträchtigung leben im eigenen Zuhause. Dies gilt auch für die Mehrzahl der zum Jahresende 2017 rund 3,4 Millionen Pflegebedürfti gen in Deutschland, von denen 76 % zu Hause versorgt wurden (StaBuAmt 2018d, S. 16). Ob und in welchem Umfang Menschen mit Beeinträchtigungen Hilfe und Unterstützung beim Wohnen und in der alltäglichen Lebensführung benötigen, hängt stark von der Ausstattung der Wohnung sowie des Wohnumfeldes und der öffentlichen und privatwirtschaftlich unterhaltenen Infrastruktur und Dienstleistungen ab sowie davon, ob und in welchem Umfang kompensatorisch auf individuelle Ressourcen zurückgegriffen werden kann (Falk 2012; Heusinger et al. 2012; Falk und Wolter 2018). Große Lücken bestehen nach wie vor hinsichtlich der Verfügbarkeit von (bezahlbarem) barrierefreiem Wohnraum und der Barrierefreiheit generell – insbesondere bei Gebäuden, Dienstleistungen und Verkehrsmitteln. Etwa 818 000 Pflegebedürftige lebten Ende 2017 in vollstationären Pflegeeinrichtungen (StaBuAmt 2018d, S. 16). In seinem fünften Pflege-Qualitätsbericht stellte der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes der Krankenkassen (MDS) bei „8,9 % der Bewohner […] freiheitseinschränkende Maßnahmen wie Bettgitter, Bauchgurte o. ä.“ fest (MDS 2017, S. 3). Mehr als jede zehnte durch ambulante Pflegedienste versorgte Person mit ärztlicher Verordnung zur Medikamentengabe erhielt „z. B. Medi kamente, für die keine ärztliche Verordnung vorlag, oder Medikamente mit falscher Wirkstoffkonzentration“ (ebd., S. 3 f.). Qualitative Forschungsarbeiten zum Leben mit Pflegebedarf in sozial benachteiligten Wohnquartieren (Falk et al. 2011, S. 54 ff.) oder zum Umgang mit Genderaspekten in der stationären Langzeitpflege (Heusinger 2018) zeigen, wie die „Quasi-Taylorisierung“ (Pfau-Effinger et al. 2008, S. 85) von Pflegeleistungen die zeitliche und inhaltliche Flexibilität der Leistungserbringung einschränkt. Dies führt häufig dazu, dass Pflegebedürftige in existenziellen Bereichen wie der Pflege und hauswirtschaftlichen Unterstützung grundlegende Wünsche nach Selbstbestimmung – „welche Personen zu welchen Zeiten auf welche Weise pflegen“ (Falk et al. 2011, S. 66) – zurückstellen oder gar aufgeben (müssen) (Zander 2018). Ende 2017 waren rund 43 700 Empfänger/-innen von Leistungen der Eingliede rungshilfe, d. h. 5,7 %, 65 Jahre und älter (StaBuAmt 2019b). Knapp zwei Drittel von ihnen erhielten die Leistungen innerhalb von Einrichtungen (ebd.). Frauen mit Beeinträchtigungen, die in Einrichtungen leben, sind überdurchschnittlich häufig von Gewalterfahrungen betroffen (BMAS 2016, S. 40, unter Bezug auf die sog. Bielefel-
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Katrin Falk und Michael Zander
der Frauenstudie). Viele von ihnen haben „ein nur eingeschränktes Vertrauen in die körperliche Unversehrtheit und ihre sexuelle Integrität“ (ebd.). Dies dürfte auch für ältere Frauen gelten. Zu Männern liegen keine Daten vor, doch es scheint plausibel, dass unter institutionalisierten Bedingungen auch sie ein erhöhtes Risiko für Gewalterfahrungen tragen.
5
Ausblick
Trotz der Lücken in der Datenlage zu den heterogenen Lebenslagen alter Menschen mit Beeinträchtigungen in Deutschland sollten die vorangegangenen Ausführungen verdeutlicht haben, dass sich die Situation behinderter Menschen in den vergangenen Jahrzehnten zwar verbessert hat, gesellschaftliche Rahmenbedingungen ihre Selbstbestimmung und Teilhabe jedoch weiterhin existenziell gefährden. Vor diesem Hintergrund stellt die mit dem sozialen Modell eingeführte Unterscheidung von individueller Beeinträchtigung und aus sozialen und materiellen Barrieren resultierender gesellschaftlicher Behinderung oder Teilhabeeinschränkung ein wichtiges Instrument für die Analyse und Verbesserung der Lebenslagen alter behinderter Menschen dar. Dies ist von umso größerer Bedeutung, als im Zuge verbreiteter Austeritätspolitiken in Europa auch die Leistungen für behinderte Menschen zurückgefahren wurden (Hauben et al. 2012).
Ausgewählte Literatur BMAS. Bundesministerium für Arbeit und Soziales. 2016. Zweiter Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen. Berlin: BMAS. Köhncke, Ylva. 2009. Alt und behindert: Wie sich der demografische Wandel auf das Leben von Menschen mit Behinderung auswirkt. Berlin: Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Zander, Michael. 2018. Selbstbestimmung und Pflegebedürftigkeit aus sozialpsychologischer Perspektive. In Alter und Pflege im Sozialraum. Hrsg. Bleck, Christian, Anne van Rießen und Reinhold Knopp, 69 – 83. Wiesbaden: Springer.
Kapitel 3 Spezifische Themen im Kontext von Alter
Armut im Alter Antonio Brettschneider und Ute Klammer
1
Armut im Alter: Definition und Entwicklung
Gemessen an der gängigen Armutsrisikogrenze von 60 % des Nettoäquivalenzeinkom mens galten 2015 – je nach Datenquelle1 – zwischen 15,7 % (Mikrozensus) und 16,8 % (SOEP) der Bevölkerung in Deutschland als armutsgefährdet. Die Armutsrisiko quote von Personen über 65 Jahren wurde im gleichen Jahr mit 14,1 % (Mikrozensus) bzw. 13,1 % (SOEP) berechnet. Das Armutsrisiko von Menschen im Rentenalter liegt damit – wie schon seit Jahren – unter dem allgemeinen Armutsrisiko, vor allem aber unter dem Armutsrisiko von Arbeitslosen- oder Alleinerziehendenhaushalten (BMAS 2018). Niedrigrenten in der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV; vgl. Welti i. d. B.) allein sind noch kein Indikator für Altersarmut. Männer mit niedrigen GRV-Renten haben oft hohe Ansprüche aus anderen Systemen, z. B. aus der Beamtenversorgung, während verheiratete Frauen mit niedrigen eigenen Renten vielfach durch hohe Rentenansprüche ihrer Männer im Haushaltskontext vor Armut geschützt sind. Ein besserer Indikator für niedrige Alterseinkünfte und möglicherweise prekäre Lebensverhältnisse im Alter ist daher die Entwicklung der Anzahl der Grundsicherungsempfänger/-innen. Anspruch auf Grundsicherung im Alter nach SGB XII haben Personen, deren eigenes Einkommen und Vermögen sowie Einkommen und Vermögen des (Ehe-)Partners/der (Ehe-)Partnerin nicht zur Bedarfsdeckung ausreichen (vgl. auch Welti i. d. B.). Die Zahl der Menschen, die Leistungen der Grundsicherung im Alter erhalten, ist seit der Einführung der Leistung 2003 kontinuierlich 1 Zur Berechnung von Armutsquoten wird in Deutschland in der Regel auf eine der folgenden Datenquellen zurückgegriffen: Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), Sozio-Ökonomisches Panel (SOEP), Mikrozensus oder EU-SILC. Auf weitere Armutsdefinitionen wird aus Platzgründen nicht eingegangen. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_37
433
434
Antonio Brettschneider und Ute Klammer
gestiegen. Ende 2018 bezogen etwa 560 000 Personen im Rentenalter Grundsicherungsleistungen (Sozialhilfestatistik). Etwa ein Viertel von ihnen hat keinen Altersrentenanspruch, gut drei Viertel stocken eine niedrige eigene Rente durch Grundsicherungsleistungen auf. Ob Grundsicherungsbezieher/-innen unter oder über der statistischen Armutsschwelle liegen, lässt sich nicht pauschal sagen, da die Leistungsansprüche neben dem Regelbedarf unterschiedlich hohe Kosten für Unterkunft und Heizung und ggf. Mehrbedarfszuschläge umfassen können. Zum Anstieg der Leistungsempfängerzahlen in der Grundsicherung haben diverse Faktoren beigetragen: Zu nennen ist vor allem die Absenkung des Rentenniveaus in Folge der Rentenreform 2001 und neuerer Reformen. Die unzureichende Absicherung von Phasen der (Langzeit-)Arbeitslosigkeit, aber auch Niedrigeinkommen und Versicherungslücken, z. B. durch (neue) Selbstständigkeit, bewirken einen Anstieg der Zahl niedriger Renten. Teilzeitbeschäftigte und Niedrigeinkommensbezieher/-innen können auch bei durchgängiger Erwerbstätigkeit keine Rentenansprüche oberhalb der Grundsicherung mehr erreichen. Studien zeigen, dass auch die betriebliche und die private Vorsorge nicht in der Lage sein werden, diese Lücken für Menschen mit prekären Erwerbs- und Vorsorgeverläufen zu füllen (s. z. B. Joebges et al. 2012; Grabka et al. 2018). Durch die Erhöhung der Bedarfssätze der Grundsicherung kommt es zudem zu einer zunehmenden Überschneidung von Renten und Grundsicherungsniveau. Bezogen auf den Anteil der Älteren an der Gesamtbevölkerung ist die Grundsicherungsquote mit rund 3 % gegenwärtig immer noch niedrig. Allerdings sind einzelne Gruppen bereits heute deutlich stärker auf Grundsicherung angewiesen. Zudem bildet die Grundsicherungsstatistik solche Fälle nicht ab, in denen Leistungsberechtigte die Leistungen nicht in Anspruch nehmen (versteckte Altersarmut). Armut im Alter ist insofern zwar noch kein Massenschicksal, verdichtet sich jedoch in bestimmten Risikogruppen und steigt an. Insofern gilt es, sozialpolitische Lösungsansätze wie auch sozialarbeiterische Unterstützungsleistungen auf typische Risikogruppen bzw. risikoreiche Lebensverläufe auszurichten.
2
Aktuelle und zukünftige Risikogruppen der Altersarmut
2.1
Armut im Alter: Empirische Befunde zu Risikodimensionen und Risikogruppen
Lebensverläufe sind mehrdimensionale Prozesse. Sie erstrecken sich über verschiedene Lebensbereiche, zwischen denen Interdependenzen bestehen (Blossfeld et al. 2014, S. 266). Die Erwerbs- und Versichertenbiografie muss somit immer im biografischen Gesamtzusammenhang betrachtet werden. Dabei lassen sich sieben alterssicherungsrelevante Biografiedimensionen identifizieren: Die Erwerbsbiografie, die Familienbiografie, die Gesundheitsbiografie, die Bildungsbiografie, die Vorsorgebiografie, die
Armut im Alter
435
Migrationsbiografie sowie sonstige biografische Risikoelemente (Brettschneider und Klammer 2016). Meist ist Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter dabei multifaktoriell bedingt. Die Risikoprofile lassen sich zu sozialen Risikogruppen verdichten, deren Mitglieder ein Set an typischen Biografiemustern und Risikokombinationen aufweisen. In einer – von den Autor/-innen durchgeführten, durch das Forschungsnetzwerk Alterssicherung der Rentenversicherung Bund geförderten und als Monografie erschienenen – qualitativen Studie zu den Lebenswegen heutiger Grundsicherungsbezieher/-innen (Klammer und Brettschneider 2016) wurden retrospektiv die charakteristischen Merkmale der Lebensverläufe und Altersvorsorgebiografien der Befragten rekonstruiert, um verallgemeinerbare Konstellationen, Muster und Deter minanten unzureichenden Alterseinkommens zu ermitteln. Abbildung 1 zeigt die fünf zentralen Risikogruppen, die sich innerhalb des Untersuchungssamples unterscheiden ließen.
Abbildung 1 Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter: Zentrale Risikogruppen der Gegenwart 1) Familienorientierte Frauen 2) Ehemalige Selbstständige 3) Zugewanderte Personen •• Arbeitsmigrant/-innen (Gastarbeiter/-innen der ersten Generation) •• (Spät-)Aussiedler/-innen •• jüdische Kontingentflüchtlinge 4) Umbruchsgeprägte Ostdeutsche 5) Komplex Diskontinuierliche Quelle: Brettschneider und Klammer 2016, S. 142 ©
Familienorientierte Frauen: Familienorientierte Frauen haben ihr Lebensmodell an
einem männlichen Haupt- bzw. Alleinverdiener ausgerichtet. Ihre Erwerbs- und Versichertenbiografie weist große Lücken aufgrund von ehe- und familienbedingten Erwerbsunterbrechungen auf. Dieses Muster wurde vor allem in der alten BRD gelebt. Diese Frauen verfügen meist über eine niedrige eigene GRV-Altersrente. Die Analy sen verdeutlichen, dass das sog. Ernährermodell auf bestimmten Normalitätsannahmen und Stabilitätsvoraussetzungen beruht. Erstens muss die (Ehe-)Partnerschaft stabil bleiben. Scheidungen sind für beide Partner/-innen mit finanziellen Einbußen verbunden, wobei sie bei den geschiedenen Frauen im Gesamtlebensverlauf nach wie vor stärker ins Gewicht fallen, weil sie in der verbleibenden Zeit oft auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr ausreichende eigenständige Alterssicherungsansprüche aufzubauen vermögen. Zweitens muss der Ehemann seine Rolle als Haupt- bzw. Alleinernährer erfüllen können: Er muss ein stabiles Einkommen erzielen, das ausreicht, um in der Erwerbs- wie auch in der Nacherwerbsphase die Lebenshaltungskosten des Haushalts zu decken. Ob ihm dies gelingt, ist von seinem Arbeitsmarkterfolg, von seiner Gesundheit und seiner Beschäftigungsfähigkeit abhängig.
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Antonio Brettschneider und Ute Klammer
Innerhalb der Gruppe der familienorientierten Frauen lassen sich zwei Untergruppen unterscheiden, bei denen jeweils eine der beiden genannten Stabilitätsbedingungen des männlichen Ernährermodells nicht gegeben war: Zum einen die Untergruppe der geschiedenen Frauen, bei denen es zu einem Scheitern der Ehe gekommen ist, zum anderen die Untergruppe der verwitweten Frauen, bei denen es zu einem (oft gesundheitsbedingten) Scheitern der Erwerbsbiografie des Ehemannes gekommen ist. In beiden Gruppen zeigt sich, dass die Frauen, die ihre Erwerbstätigkeit dauerhaft eingeschränkt, unterbrochen oder abgebrochen haben, hiermit eine biografische Weichenstellung vorgenommen haben, die sich im Nachhinein kaum korrigieren ließ. Mit dem Scheitern des ehe- und familienorientierten Lebensmodells waren für viele von ihnen soziale Abstiegsprozesse verbunden; die finanzielle Abhängigkeit vom Ehemann bildet oft die Vorstufe der Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter. Ehemalige Selbstständige: Vermutlich bilden ehemalige Selbstständige unter den
westdeutschen Männern mit deutscher Staatsangehörigkeit im heutigen Grundsicherungsbezug die größte Risikogruppe. In der Mehrheit handelt es sich um ehemalige Solo-Selbstständige. Bei der Betrachtung des Alterseinkommens fällt auf, dass alle ehemaligen Selbstständigen im Sample eine GRV-Altersrente beziehen. Keiner verfügt hingegen über Einnahmen aus einem berufsständischen Vorsorgesystem, aus betrieblicher oder privater Altersvorsorge. Die Altersrente der GRV stellt somit für alle das einzige Altersvorsorgeeinkommen dar. Zudem haben die Betroffenen einen erhöhten Bruttobedarf durch Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge für freiwillig bzw. privat Krankenversicherte. Aus der Analyse lässt sich für die Risikogruppe der ehemaligen Selbstständigen ein typisches Biografiemuster ermitteln, welches man als ‚Drei-Phasen-Modell der gescheiterten Selbstständigkeit‘ bezeichnen kann. Fast alle Befragten waren zu Beginn ihrer Erwerbsbiografie sozialversicherungspflichtig beschäftigt; in dieser ersten Phase haben sie oft überdurchschnittlich verdient. Aus dieser starken Position heraus haben sie sich für eine Existenzgründung entschieden, sind aus der GRV ausgeschieden und zu scheinbar attraktiveren privaten Vorsorgeformen (v. a. Lebensversicherungen) gewechselt. Die Phase der Selbstständigkeit war zunächst durch steigende Verdienste gekennzeichnet, bis irgendwann ein Knick im Geschäftsverlauf eintrat. In der Folge kam es zu sinkenden Einnahmen und schließlich zur privaten Insolvenz. Diese war nicht selten mit einem Totalverlust der privaten Vorsorgeersparnisse verbunden. Die Trennung von Privat- und Betriebsvermögen ist in der Lebenswirklichkeit vieler Selbstständiger nicht gegeben; unternehmerisches Risiko und Vorsorge risiko hängen eng zusammen. Die dritte Phase der Erwerbsbiografie war durch meist erfolglose Versuche des Wiederaufbaus des Geschäfts bzw. des Wiedereinstiegs in abhängige Beschäftigung und oft durch Langzeitarbeitslosigkeit, Niedriglohn oder prekäre Beschäftigung geprägt. Im Ergebnis beruht das Alterseinkommen überwiegend auf den bescheidenen Leistungen der GRV, die in der ersten Erwerbsphase erworben wurden. Das Gesamtlebenseinkommen vieler Betroffener wäre also durch-
Armut im Alter
437
aus hoch genug gewesen, um in der Altersphase über ein Einkommen oberhalb der Grundsicherungsschwelle zu verfügen. Zumindest einige Befragte urteilten daher rückblickend, dass eine Versicherungspflicht für Selbstständige in ihrem konkreten Fall sinnvoll gewesen wäre. Zugewanderte Personen: Innerhalb der dritten großen Gruppe im Sample, der Grup-
pe der zugewanderten Personen, lassen sich drei Teilgruppen unterscheiden, für die jeweils unterschiedliche historische, politische, zuwanderungs- und rentenrechtliche Rahmenbedingungen galten: sog. Gastarbeiter/-innen der ersten Generation, (Spät-) Aussiedler/-innen, jüdische Kontingentflüchtlinge. Ein Großteil der während der Anwerbephase (1955 – 1973) zugewanderten Arbeitsmigrant/-innen (Gastarbeiter/-innen) der ersten Generation hat mittlerweile das Rentenalter erreicht. Innerhalb dieser Gruppe tragen insbesondere Zuwanderer aus der Türkei ein erhöhtes Armutsrisiko. Bei ihnen zeigen sich die Risiken des verbreiteten traditionellen männlichen Ernährermodells. Die Teilgruppe der (Spät-)Aussiedler/-innen zeichnet sich durch eine zweigeteilte Erwerbsbiografie aus, deren erster Teil im Herkunftsland und deren zweiter Teil in Deutschland zurückgelegt worden ist. Aufgrund der Verschärfungen und Verschlechterungen des Zuwanderungs- und des Fremdrentenrechts seit 1990 hängt die Anerkennung der im Herkunftsland erworbenen Rentenanwartschaften bei (Spät-) Aussiedler/-innen stark vom Zuwanderungszeitpunkt ab. Je älter die Betroffenen zudem bei ihrer Zuwanderung waren, desto geringer waren ihre Chancen, in Deutschland noch GRV-Anwartschaften zu erwerben. Die im Kontext der historischen Verantwortung Deutschlands nach 1990 aufge nommenen jüdischen Kontingentflüchtlinge haben – anders als die (Spät-)Aussiedler/-innen – keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Fremdrentengesetz. Zudem haben sie aus ihrem Herkunftsland meist kaum Rentenansprüche. Da sie oft erst im höheren Alter zugewandert sind und trotz ihrer vergleichsweise hohen Bildung in Deutschland nur geringe Beschäftigungschancen hatten, haben sie kaum noch sozial versicherungspflichtig arbeiten und GRV-Anwartschaften erwerben können. Die Gruppe ist klein, aber von einem besonders hohen Grundsicherungsrisiko geprägt. Umbruchsgeprägte Ostdeutsche: Der Gruppe der umbruchsgeprägten Ostdeutschen im Sample ist gemeinsam, dass sie nach der Wiedervereinigung Anfang der 1990er Jahre im mittleren Erwerbsalter ihre bisherige Beschäftigung verloren haben und trotz diverser Arbeitsbeschaffungs- und Qualifizierungsmaßnahmen mehr oder weniger dauerhaft arbeitslos blieben. Sie kamen noch nicht für eine Frühverrentung in Frage, waren aber zu alt, um auf dem Arbeitsmarkt noch Fuß fassen zu können. Der Systemwechsel stellte für diese Personen somit eine tiefe biografische Zäsur dar. Während der erste, in der DDR zurückgelegte Teil ihrer Erwerbsbiografie eine hohe Beschäftigungskontinuität aufweist, haben sie nach der Wende durch eigene Erwerbstätigkeit kaum noch Rentenanwartschaften aufbauen können. Die dauerhafte
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Antonio Brettschneider und Ute Klammer
Ausgrenzung aus dem Arbeitsmarkt und die damit verbundenen psychischen und sozialen Belastungen haben teilweise zu einer vorzeitigen Erwerbsminderung geführt. Komplex Diskontinuierliche: Die Risikogruppe mit der größten Heterogenität im Sample bildeten die ‚komplex Diskontinuierlichen‘. Ihre Lebensverläufe sind von Statuswechseln, Brüchen und Verwerfungen gekennzeichnet; hierbei ist es häufig zu einer Kumulation von Belastungs- und Risikofaktoren in verschiedenen Biografiedimensionen gekommen. Alkohol- und Suchtprobleme, Obdachlosigkeit, Verwahrlosung sowie in Einzelfällen auch abweichendes Verhalten bis hin zur Kriminalität spielen dabei eine Rolle. Anders als in den anderen Risikogruppen, bei denen sich strukturelle Risikokonstellationen zeigten, handelt es sich hier eher um Einzelschicksale. Eine Gemeinsamkeit liegt in einer oftmals unglücklichen Kindheit und Jugend. Die Defizite und Fehlentwicklungen in frühen Lebensphasen haben häufig auch im späteren Leben zu instabilen Arbeits-, Partnerschafts- und Lebensverhältnissen sowie zu Prozessen sozialer (Selbst-)Ausgrenzung geführt.
2.2
Zwischenfazit und prognostizierte Entwicklungen
Wie deutlich geworden ist, ist Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter das Ergebnis eines Zusammenspiels aus individuellen und strukturellen Faktoren. Die jetzigen ‚jungen Alten‘ in der Grundsicherung im Alter sind größtenteils noch nicht ‚Opfer‘ der Rentenreformen der 2000er Jahre, sondern in erster Linie Opfer ihrer (gemessen am Kriterium einer eigenständigen Existenzsicherung im Alter) ‚gescheiterten‘ Biografie. Die Analysen haben jedoch gezeigt, dass Armut und Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter oft im Zusammenhang mit strukturellen Risikokonstellationen stehen. Auffallend ist, dass sich in unserer Studie praktisch keine langjährig vollzeitbeschäftigten Geringverdiener/-innen finden. Bei der Mehrzahl der grundsicherungsbedürftigen Personen im Sample handelt es sich vielmehr um sog. GRV-Aussteiger/-innen, die aus verschiedenen Gründen über lange Strecken ihrer Erwerbsbiografie nicht bzw. nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren. Das zentrale Altersarmuts- und Grundsicherungsbedürftigkeitsrisiko liegt damit in der temporären oder dauerhaften (Selbst-)Exklusion aus der GRV. Die Gründe für den Kontaktverlust zur GRV und die resultierenden Versicherungslücken sind vielfältig: Sie reichen von einer traditionellen geschlechtsspezifischen Rollenteilung im Ehekontext über die Aufnahme einer nicht obligatorisch gesicherten Selbstständigkeit bis hin zu gesundheitlichen Einschränkungen oder Arbeitslosigkeit. Hinzu kommen Personen mit Zuwande rungshintergrund, die einen großen Teil ihres Lebens außerhalb Deutschlands bzw. außerhalb von Alterssicherungssystemen verbracht haben, die in die Berechnung der Versorgungsansprüche in Deutschland einbezogen werden. Es ist davon auszugehen, dass sich die Zusammensetzung der Grundsicherungspopulation verändern wird. Ein Teil der identifizierten Risikogruppen wird an Be-
Armut im Alter
439
deutung verlieren; dies gilt insbesondere für bestimmte Zuwanderungsgruppen wie die jüdischen Kontingentflüchtlinge und mittelfristig auch für die (Spät-)Aussiedler/-innen, da es sich hier um weitgehend abgeschlossene Migrationsprozesse handelt. Auch die Gruppe der ‚familienorientierten Frauen‘ dürfte weiter an Gewicht verlieren. Für die Gruppe der ehemaligen Selbstständigen und die allmählich in die Grundsicherung hineinwachsende Gruppe der ‚umbruchsgeprägten Ostdeutschen‘ ist hingegen mit einem weiteren Bedeutungszuwachs zu rechnen. Die erste Generation von ‚Gastarbeiter/-innen‘ wird mittelfristig von der zweiten Generation ihrer in Deutschland geborenen Kinder abgelöst. Angesichts der fortbestehenden Integra tionsprobleme und Benachteiligungen vieler neu zugewanderter, aber auch schon lange in Deutschland lebender Migrant/-innen erscheint die Prognose durchaus plausibel, dass in Zukunft „Altersarmut in wachsendem Maße Ausländerarmut sein wird“ (Seils 2013, S. 367).
3
Handlungsansätze …
3.1
… für die Sozialpolitik
Welche sozialpolitischen Schlussfolgerungen lassen sich im Hinblick auf eine ursachengerechte Strategie zur Begrenzung und Bekämpfung künftiger Altersarmut ziehen ? Festzuhalten ist, dass die Bekämpfung von Altersarmut in den letzten Jahren immer wieder als politisches Ziel formuliert, jedoch nicht konsequent verfolgt worden ist. Während z. B. das 2014 verabschiedete ‚Rentenpaket‘ (RV-Leistungsverbesserungsgesetz) vorrangig der Schließung realer oder vermeintlicher Gerechtigkeitslücken dienen sollte und auch die diversen Pläne für eine sog. Lebensleistungsrente keine flächendeckende Vermeidung von Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter zum Ziel hatten (Brettschneider 2012), lassen auch die aktuell (2018) vom Bundesarbeitsministerium vorgelegten Pläne – trotz der sog. Haltelinien – nicht erwarten, dass hiermit das Risiko von Altersarmut reduziert werden kann. Das viel diskutierte Rentenniveau kann kein Schlüssel zur Bekämpfung von Altersarmut sein, solange nicht eine stärkere Umverteilung zugunsten schwächerer Erwerbsbiografien ins Auge gefasst wird. Während sich die politische Aufmerksamkeit auf die langjährig versicherten Geringverdiener/-innen konzentriert, bleiben die meisten hier identifizierten Risikogruppen von vorgesehenen Aufstockungen ausgeschlossen. Um die Zunahme prekärer Einkommens- und Lebenslagen im Alter wirksam zu begrenzen, erscheint eine Gesamtkonzeption notwendig, die sich nicht aus fiskalischen Kostenbegrenzungszielen, sondern aus einem sozialpolitischen Sicherungsziel ableitet. Diese müsste auf mehreren Ebenen ansetzen: 1) Der beste Schutz gegen Armut im Alter ist eine Erwerbsbiografie, in deren Rahmen ein regelmäßiges Einkommen erzielt werden kann, das sowohl zur Bestrei-
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Antonio Brettschneider und Ute Klammer
tung des aktuellen Lebensunterhalts als auch zum Aufbau ausreichender Rentenanwartschaften ausreicht. Daher kann die Bedeutung von guten tariflichen Lohnabschlüssen, aber auch die Unterstützung flexibler, sozialverträglicher Arbeitszeitmodelle anstelle der Förderung von Minijobs und Erwerbsunterbrechungen nicht genug betont werden. Um eine solche Biografie für viele Menschen möglich zu machen, ist eine bessere Verzahnung von Bildungs-, Arbeitsmarkt-, Beschäftigungs-, Familien- und Gesundheitspolitik im Rahmen einer übergreifenden ‚sozialen Lebenslaufpolitik‘ notwendig (Berner et al. 2010; Klammer 2010; Naegele et al. 2013). 2) Die GRV als zentrale Säule der deutschen Alterssicherung sollte zu einer universellen Bürgerversicherung mit Mindestsicherungsziel ausgebaut werden. Dem Mindestsicherungsziel der eigenständigen Existenzsicherung im Alter entspricht eine Mindestbeitragspflicht während der gesamten Erwerbsphase.2 Die Einbeziehung der bislang nicht obligatorisch abgesicherten Selbstständigen in die GRV wäre in diesem Zusammenhang ein zielführender Schritt. Unter dem Gesichtspunkt der Armutsvermeidung ist zudem die weitere Verbesserung der Absicherung des Erwerbsminderungsrisikos vordringlich. 3) Individuelle Grundsicherungsbedürftigkeit kann im Rahmen eines erwerbs- und vorleistungsbezogenen Systems wie der GRV nie ausgeschlossen werden. Dies gilt insbesondere für Personen, die erst in hohem Alter zugewandert sind und aus ihrem Herkunftsland keine oder nur geringe Versorgungsansprüche mitbringen. Die Höhe des Regelbedarfs der Mindestsicherung sollte daher kontinuierlich überprüft und gegebenenfalls angehoben werden. 3.2
… für die Soziale Arbeit
Wie skizziert, ist der Weg in die Altersarmut multifaktoriell bedingt und können unterschiedliche Lebensereignisse dazu beitragen. Tabelle 1 fasst noch einmal wichtige Risikofaktoren zusammen. Hieraus ergeben sich unmittelbar Ansatzpunkte für die Soziale Arbeit in ihren verschiedenen Arbeitsfeldern. Benötigt werden präventiv ausgerichtete Unterstützungsansätze, die Menschen in ihren Erwerbs- und Lebensläufen begleiten und sie dabei unterstützen, nach Möglichkeit aus eigener Kraft eine eigenständige und existenzsichernde Altersvorsorge aufzubauen.
2 Der Ausbau der GRV zu einer Bürgerversicherung mit Mindestsicherungsziel und Mindestbeitragspflicht ist schon in den 1980er Jahren als „Voll Eigenständiges System“ vorgeschlagen worden (Krupp 1981; Rolf und Wagner 1992).
Armut im Alter
441
Tabelle 1 Altersarmut: Risikofaktoren im Lebensverlauf Erwerbsbiografie
Familienbiografie
Gesundheitsbiografie
•• Langzeitarbeitslosigkeit •• Langjähriger Niedrigverdienst •• Langjährige geringfügige Beschäftigung •• (Solo-)Selbstständigkeit •• Schwarzarbeit •• ‚Stille Reserve‘
•• Ehe- und familienbedingte Erwerbsunterbrechungen •• Angehörigenpflege •• Trennung/Scheidung •• Verwitwung •• Alleinerziehung
•• •• •• •• ••
Bildungsbiografie
Vorsorgebiografie
Migrationsbiografie
•• Fehlender Schulabschluss •• Fehlender Berufsabschluss •• Mangelnde Teilnahme an Weiterbildung •• Dequalifikationsprozesse
•• Mangelnde Vorsorgefähigkeit •• Mangelnde Vorsorgebereitschaft •• Mangelndes Vorsorgewissen •• Gescheiterte Vorsorgestrategie
•• Sprachprobleme •• Später Zuzug •• Aufenthaltsrechtliche Proble me •• Allgemeine Integrations probleme
Erwerbsminderung Behinderung Unfall/Berufskrankheit Psychische Probleme Chronische Erkrankungen
Sonstige biografische Risikoelemente •• Soziale Devianz, Kriminalität •• Sucht, Obdachlosigkeit •• (Selbst-)Exklusion, ‚Schicksalsschläge‘ Quelle: Brettschneider und Klammer 2016, S. 54 ©
Ausgewählte Literatur Brettschneider, Antonio, und Ute Klammer. 2016. Lebenswege in die Altersarmut. Biografische Analysen und sozialpolitische Perspektiven. Berlin: Duncker & Humblot. Thiede, Reinhold. 2017. Warum gibt es Altersarmut ? Definition und Grundprinzipien des deutschen Alterssicherungssystems. In Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit Heft 2: Strategien gegen Altersarmut: 4 – 14. Vogel, Claudia, und Andreas Motel-Klingebiel. Hrsg. 2012. Altern im sozialen Wandel: Die Rückkehr der Altersarmut ? Heidelberg und Berlin: Springer VS.
Alter(n) im ländlichen Raum Kerstin Hämel und Birgit Wolter
1
Einführung
Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Lebenssituation und den Lebensbedingungen alter Menschen, die auf dem Land leben. Das Alter(n) auf dem Land gewinnt zunehmend an Bedeutung, weil der Anteil alter Menschen dort höher als in städtischen Regionen ist. Dieses Phänomen ist in vielen Ländern zu beobachten (vgl. u. a. Krout und Hash 2015, S. 5; Scharf et al. 2016, S. 52 f.), so auch in Deutschland. Im Jahr 1995 lagen die Anteile der Einwohner/-innen ab 65 Jahren auf dem Land (15,4 %) und in der Stadt (15,6 %) noch gleichauf. Im Jahr 2015 war der Anteil auf dem Land mit 22,3 % um rund 2 % höher als in der Stadt (20,5 %) (BBSR Bonn 2018). Der Stadt-Land-Unterschied wird weiter anwachsen: Vorausberechnungen zufolge werden im Jahr 2030 die ab 65-Jährigen 30,7 % der Landbevölkerung und 26,6 % der Bevölkerung in städtischen Regionen stellen (BBSR 2012). Dieses Szenario ist nicht allein dem Gewinn an Lebensjahren geschuldet; es ist auch dadurch bedingt, dass insbesondere jüngere und erwerbstätige Bevölkerungsgruppen aus dem ländlichen Raum in wirtschaftsstarke urbane Zentren abwandern. Besonders in strukturschwachen, meist peripheren ländlichen Regionen, treffen demografische Alterung und Abwanderung zusammen. Diese Entwicklung ist deshalb so folgenreich, weil der Bedarf an professioneller und informeller Unterstützung bei Hilfe- und Pflegebedürftigkeit steigt, jedoch seit einigen Jahren Fachkräftemangel und ein Rück- und Abbau von Infrastrukturen auf dem Land zu beobachten sind – auch als Folge einer gesundheitspolitisch vorangetriebenen Zentralisierung von Versorgungseinrichtungen in städtischen Zentren (Schaeffer et al. 2015). Hinzu kommt, dass Garantien für eine flächendeckend gleichwertige öffentliche Daseinsvorsorge hinterfragt werden (Barlösius 2006; Kersten et al. 2012). Mit der Einrichtung der Kommission für gleichwertige Lebensbedingungen, die 2018 unter Federführung des © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_38
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Kerstin Hämel und Birgit Wolter
Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft ihre Arbeit aufgenommen hat, wurde die Debatte auf die politische Agenda gesetzt. Sich mit dem Alter(n) auf dem Land auseinanderzusetzen ist wichtig, weil sich die Lebenssituationen und -bedingungen alter Menschen in den ländlichen Regionen teilweise anders als im städtischen Raum darstellen: Die Entfernungen zu Versorgungseinrichtungen sind oft weit, der Öffentliche Personennahverkehr ist ausgedünnt und alte Menschen wohnen häufig in der eigenen Immobilie (Held und Waltersbacher 2015). Zugleich führen auch auf dem Land die wachsende Individualisierung der Lebensstile und die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte dazu, dass seltener starke Familienbande und dörfliche Generationengemeinschaften den Erschwernissen des Alter(n)s handfeste Solidaritäten entgegensetzen können. Trotz einer komplexen Problemlage ist der ländliche Raum als Kontext des Alter(n)s aber vergleichsweise wenig untersucht (Skinner und Winterton 2018, S. 15).
2
Der ländliche Raum – Versuch einer Begriffsklärung
Der sog. ländliche Raum ist eine unscharfe Kategorie, die weder eine statistische Größe noch eine räumliche Planungsebene darstellt. In der Raumplanung wird im Allgemeinen die Siedlungsstruktur für eine Unterscheidung zwischen städtischen und ländlichen Räumen herangezogen. Die Siedlungsstruktur wird über die Siedlungsdichte und den Siedlungsflächenanteil berechnet (Schlömer 2015). Die zentralen Größen sind also die Anzahl von Menschen, die auf einer Fläche leben, und die Dichte der Bebauung, d. h. der Anteil der baulich geprägten Flächen, in diesem Raum. Die Raumplanung unterscheidet vier ‚siedlungsstrukturelle Kreistypen‘, nämlich kreisfreie Großstädte, städtische Kreise, ländliche Kreise mit Verdichtungsansätzen und dünn besiedelte ländliche Kreise. Sie grenzt den ländlichen Raum vom städtischen wie folgt ab: „Alle kreisfreien Großstädte sowie die städtischen Kreise bilden den Städtischen Raum, alle ländliche Kreise bilden den Ländlichen Raum.“ (BBSR 2018). Tabelle 1 stellt dar, wie die (Land-)Kreise und kreisfreien Städte in Deutschland nach dieser Systematik dem ländlichen oder städtischen Raum zugeordnet werden. Die Anwendung dieser Definition führt zu einer relativ groben Unterscheidung von städtischem und ländlichem Raum in Deutschland. Während West- und Süddeutschland überwiegend von städtischen Kreisen und Großstädten geprägt sind, zählen weite Bereiche in Nord- und Ostdeutschland wie auch in Bayern, mit Ausnahme einiger Großstädte und Metropolregionen, zum ländlichen Raum. Aus Tabelle 2 geht hervor, dass deutschlandweit 2015 nach dieser Klassifikation ca. 32 % der Bevölkerung im ländlichen Raum bzw. genauer 17,3 % der Einwohner/-innen in ländlichen Kreisen mit Verdichtungsansätzen und 14,7 % in dünn besiedelten ländlichen Kreisen lebten. Diese für Deutschland gängige Klassifikation ländlicher Räume berücksichtigt nicht die Lage der Kreise, d. h. es wird nicht danach unterschieden, ob sich ein dünn
Alter(n) im ländlichen Raum
445
Tabelle 1 Definitorische Abgrenzung der siedlungsstrukturellen Kreistypen in Deutschland Kreistypen
Definition
Kreisfreie Großstädte
Kreisfreie Städte mit mind. 100 000 Einwohner/-innen
Städtische Kreise
Kreise mit einem Bevölkerungsanteil in Groß- und Mittelstädten von mind. 50 % und einer Einwohnerdichte von mind. 150 E./km²; sowie Kreise mit einer Einwohnerdichte ohne Groß- und Mittelstädte von mind. 150 E./km²
Ländliche Kreise mit Verdichtungsansätzen
Kreise mit einem Bevölkerungsanteil in Groß- und Mittelstädten von mind. 50 %, aber einer Einwohnerdichte unter 150 E./km², sowie Kreise mit einem Bevölkerungsanteil in Groß- und Mittelstädten unter 50 % mit einer Einwohnerdichte ohne Groß- und Mittelstädte von mind. 100 E./km²
Dünn besiedelte ländliche Kreise
Kreise mit einem Bevölkerungsanteil in Groß- und Mittelstädten unter 50 % und Einwohnerdichte ohne Groß- und Mittelstädte unter 100 E./km²
Quelle: Eigene Darstellung nach BBSR 2019 ©
Tabelle 2 Siedlungsstrukturelle Kreistypen in Deutschland: Bevölkerung und Flächenanteile 2015 Kreistypen Kreisfreie Großstädte
Anzahl Kreise
Bevölkerung
Anteil Fläche
Anteil Bevölkerung
66
23 827 945
3,4 %
29,0 %
Städtische Kreise
134
32 050 974
28,4 %
39,0 %
Ländliche Kreise mit Verdichtungsansätzen
102
14 225 189
29,0 %
17,3 %
Dünn besiedelte ländliche Kreise
100
12 071 576
39,3 %
14,7 %
Gesamt
402
82 175 684
100,0 %
100,0 %
Quelle: Eigene Darstellung nach BBSR 2017 ©
besiedelter Kreis in räumlicher Nähe zu einer Metropole oder in peripherer Lage, am äußersten Rand einer Region befindet. Demgegenüber berücksichtigt die OECD in ihrer erweiterten Regionentypologie zusätzlich die Distanz einer Region zum nächsten urbanen Zentrum mit mindestens 50 000 Einwohner/-innen (Brezzi et al. 2011). Ähnlich schlägt Schlömer (2015) für Deutschland ein Klassifikationsschema vor, das auf der Überlagerung der Dimensionen Siedlungsstruktur und Lage beruht. Nach diesem Schema wird die Siedlungsstruktur mit Lage-Eigenschaften einer Region von ‚sehr zentral‘ bis ‚sehr peripher‘ verbunden, womit die (Pendel-)Entfernung zu einem Bevölkerungs- oder Arbeitsplatzzentrum – im Allgemeinen einer Großstadt (ebd., S. 27) – erfasst wird. Kühn (2016) kritisiert mit seinem Konzept der Peripherisierung die normative Verknüpfung von Lage und Peripherie und verweist darauf, dass auch
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Kerstin Hämel und Birgit Wolter
zentral gelegene Regionen auf Grund ihrer Sozial- oder Wirtschaftsstruktur ‚abgehängt‘ oder ‚peripher‘ sein können.
3
Alter(n) auf dem Land – zum Stand der Forschung
Die Lebenssituationen und -bedingungen alter Menschen im ländlichen Raum werden seit etwa Ende der 1960er-Jahre in der Sozialen Gerontologie und der Altenarbeit thematisiert (für einen Einstieg: DZA 1991). Allerdings konstatiert Wahl (2015, S. 19), dass es eine „ländlich orientierte Alternsforschung […] damals wie heute nie [schaffte], sich dauerhaft und nachhaltig auf die wissenschaftliche Agenda der Sozial gerontologie zu setzen.“ Vielmehr waren große Alter(n)sstudien wie auch Theorien des Alter(n)s überwiegend an urbanen Lebenswelten orientiert (ebd.). Ältere Menschen, die in ländlichen Regionen leben, gerieten infolgedessen immer wieder aus dem Blickfeld der Forschung. Dies geschah möglicherweise auch deswegen, weil ‚traditionelle‘ dörfliche und familiale Sozialbeziehungen soweit tragfähig erschienen, dass sie ihre Dinge quasi selbst in die Hand nehmen konnten, ohne beispielsweise bei Hilfe- und Pflegebedarf nennenswerte öffentliche Unterstützung zu erfragen (Klie und Marzluff 2012, S. 749). Trotzdem erschienen in den vergangenen Jahren einige Veröffentlichungen zum Thema (z. B. Keating 2008; Sternberg 2010; Walsh et al. 2012; Baumgartner et al. 2013; Fachinger und Künemund 2015), die den Facettenreichtum ländlichen Alter(n)s verdeutlichen. Vor allem im internationalen Diskurs wird eine Stärkung und Fundierung einer rural gerontology sichtbar. Drei Faktoren haben nach Scharf et al. (2016, S. 51) hierzu beigetragen: Erstens wurde diese durch die dynamische Entwicklung der sog. Ökologischen Gerontologie begünstigt, die mit ihrem Fokus auf die Wechselwirkungen individuellen Alter(n)s und sozialer und physischer Umweltbedingungen auch einen theoretisch-konzeptionellen Nährboden für die Erforschung ländlicher Umwelten bereitet hat. Zweitens prägen die großen gesellschaftlichen Veränderungen, die gemeinhin mit der Globalisierung assoziiert sind – Bevölkerungswanderungen, wachsende sozialräumliche Ungleichheiten, Neoliberalismus, Digitalisierung aller gesellschaftlichen Bereiche – diese Umwelten des Alter(n)s neu. Die Auswirkungen auf den ländlichen Raum haben auch das Themenspektrum gerontologischer Studien erweitert. Drittens rückt vermehrt in das Blickfeld, wie ländliches Alter(n) angesichts der vielfältigen Herausforderungen der Versorgung in ländlichen Gemeinden gestaltet werden kann. Insbesondere für Irland (z. B. Walsh et al. 2012) und den nordamerikanischen Raum (z. B. Keating 2008; Hash et al. 2015) liegen umfassende Befunde zum Alter(n) auf dem Land vor. Allerdings sind die Konzepte aus den dortigen, teils sehr dünn besiedelten und abgelegenen Regionen nicht ohne weiteres auf Deutschland übertragbar, wo, wie Schulz-Nieswandt und Wahl (2001, S. 205) betonen, die enge räumliche und funktionale Verflechtung urbaner und ländlicher Räume berücksichtigt werden muss.
Alter(n) im ländlichen Raum
4
447
Daten und Befunde zum Alter(n) auf dem Land
Vor dem Hintergrund einer insgesamt noch eher unbefriedigenden Studienlage in Deutschland nutzen wir im Folgenden die INKAR-Datenbank des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR 2018), um einen einfachen Stadt-LandVergleich vorzunehmen. Entlang der oben vorgestellten siedlungsstrukturellen Kreistypen werden ausgewählte Indikatoren zur Lebenssituation und den Lebensbedingungen der älteren Menschen dargestellt und mit Erkenntnissen aus Studien ergänzt. 4.1
Sozio-ökonomische Situation
Die durchschnittliche sozio-ökonomische Situation älterer Menschen unterscheidet sich zwischen städtischen und ländlichen Räumen, allerdings ergibt sich, wie Tabelle 3 verdeutlicht, hierbei ein uneinheitliches Bild. So folgt der durchschnittliche Zahlbetrag der gesetzlichen Rentenversicherung (unabhängig von dem Geschlecht) einem kontinuierlichen Stadt-Land-Gefälle. Der Rentenzahlbetrag für Frauen liegt in den Großstädten ebenfalls am höchsten, in den städtischen Kreisen hingegen am niedrigsten. In diesen Zahlen ist nicht abgebildet, dass Rentner/-innen in Westdeutschland deutlich häufiger auf Grundsicherung angewiesen sind, denn die heutigen Rentner/-innen in Ostdeutschland hatten recht kontinuierliche Erwerbsverläufe (BBSR 2016, S. 27). Hingegen leben in den ostdeutschen Bundesländern mehr Menschen in Bedarfsgemeinschaften (ebd., S. 30), was in künftiger Altersarmut resultieren dürfte. Zudem verfügen ältere Menschen in den ostdeutschen Bundesländern über deutlich geringere Geld- oder Sachvermögen als
Tabelle 3 Sozio-ökonomische Situation älterer Menschen nach siedlungsstrukturellen Kreistypen 2015 (2010) Raumeinheit
Durchschnitt licher Renten zahlbetrag
Durchschnitt licher Renten zahlbetrag Frauen
Empfänger/-innen von Grund sicherung im Alter je 1 000 EW ab 65J.
Arbeitslosen quote 55- bis 64-Jährige
2015
2015
2010
2015
2015
Kreisfreie Großstädte
927,0 €
729,0 €
37,5
48,6
9,4
Städtische Kreise
906,0 €
623,0 €
17,1
22,0
6,0
Ländliche Kreise mit Verdichtungsansätzen
890,0 €
675,0 €
12,1
15,1
6,9
Dünn besiedelte ländliche Kreise
877,0 €
679,0 €
11,6
14,7
7,9
Quelle: Eigene Darstellung nach BBSR 2018 ©
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Kerstin Hämel und Birgit Wolter
ältere Menschen in westdeutschen Bundesländern und können damit seltener auf Rücklagen zurückgreifen (Lejeune und Romeu-Gordo 2017, S. 117). Ein wichtiger Indikator für Altersarmut ist die Inanspruchnahme von Grundsicherung (vgl. auch Welti sowie Engels i. d. B.). Empfänger/-innen von Grundsicherung leben heute wesentlich häufiger in Großstädten, dort ist ihr Anteil etwa dreimal höher als in dünn besiedelten ländlichen Kreisen. Betrachtet man die Arbeitslosenquote der älteren Menschen im erwerbsfähigen Alter (55- bis 64-Jährige), so ist diese ebenfalls in den kreisfreien Großstädten am höchsten, allerdings – auf niedrigerem Niveau – auch in den dünn besiedelten ländlichen Kreisen erhöht. Die Daten in Tabelle 3 geben Hinweise, dass die ökonomische Situation der älte ren Menschen im ländlichen Raum im Durchschnitt zwar etwas schlechter als im städtischen Raum ist, zugleich aber weniger stark durch Ungleichheit geprägt wird, worauf der geringere Anteil der Empfänger/-innen von Grundsicherung hindeutet. Kleinräumliche Ungleichheiten innerhalb der Regionen werden in dieser Darstellung allerdings nicht sichtbar, ebenso bleiben unterschiedliche Lebenshaltungskosten in den Regionen unberücksichtigt. Hier lohnt sich ein genauerer Blick, denn ungünstige regionale Bedingungen verstärken Ungleichheit und „können von den Älteren in Abhängigkeit von ihrer sozialen Position und ihren Ressourcen unterschiedlich ausgeglichen werden oder eben auch nicht“ (Beetz 2009, S. 122). Ein weiterer Unterschied zwischen Stadt und Land, insbesondere im Hinblick auf künftige Ungleichheit, besteht darin, dass auf dem Land nach wie vor niedrigere Bildungsabschlüsse als in Städten realisiert werden. Dies zeigt Tabelle 4. Die Folge ist, dass sich die gemeinhin mit höherer Bildung verbundenen Ressourcen in städtischen und ländlichen Regionen weiterhin nicht angleichen. Damit besteht auch ein Risiko für eine Verstärkung der ökonomischen Ungleichheit zwischen Stadt und Land, denn es ist eine wachsende Kluft zwischen den Einkommen der 40bis 85-Jährigen in Deutschland mit niedriger und mit höherer Bildung zu beobach-
Tabelle 4 Anteil der Schulabgänger/-innen mit Hochschulreife nach siedlungsstrukturellen Kreistypen 1995 und 2015 in % Raumeinheit
Schulabgänger mit Hochschulreife 1995
2015
Kreisfreie Großstädte
31,3
41,7
Städtische Kreise
23,5
34,1
Ländliche Kreise mit Verdichtungsansätzen
20,2
28,6
Dünn besiedelte ländliche Kreise
19,8
28,1
Quelle: Eigene Darstellung nach BBSR 2018 ©
Alter(n) im ländlichen Raum
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ten: Die Realeinkommen der 40- bis 85-Jährigen mit niedriger Bildung sind von 2002 bis 2014 sogar gesunken und die Armutsquote in dieser Gruppe ist seit 1996 stark angestiegen (Lejeune et al. 2017, S. 103 f.). 4.2
Wohnsituation
Eine Angleichung der ländlichen Familienstruktur an städtische Strukturen wird schon seit längerem in der Literatur diagnostiziert (Schweppe 2005b). Auch die Haushaltsgröße variiert nur gering zwischen Stadt und Land. Wohnen findet auf dem Land, im Gegensatz zu den Großstädten, allerdings überwiegend in Ein- und Zweifamilienhäusern statt, die häufig selbstgenutztes Wohneigentum sind (Küpper 2016, S. 6). Selbstgenutztes Wohneigentum kann als wichtige Ressource älterer Menschen verstanden werden, da Mietfreiheit sinkende Einkünfte im Alter ‚abfängt‘. Zugleich müssen größere Wohnraumanpassungsmaßnahmen meist privat finanziert werden. Die Zuschüsse aus der Pflegeversicherung (gegenwärtig max. 4 000 Euro) decken erforderliche größere Umbaumaßnahmen (z. B. ein altersgerechter Umbau des Bades oder des Wohnungszugangs) oft nicht vollständig ab. Gerade ältere Menschen mit geringen Einkommen und Vermögen können sich daher eine Wohnraumanpassung häufig nicht leisten. Ein Umzug in eine altersgerechte Wohnung oder in die Nähe der Familie kann zudem erschwert werden, wenn es sich nicht ‚rentiert‘ das Wohneigentum zu verkaufen oder sich dieses gar als unveräußerlich herausstellt. Die arbeitsmarkt- und ausbildungsbedingte Abwanderung aus dem ländlichen Raum sowie der deutliche Anstieg der Wohnentfernung zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern zwischen 1996 bis 2014 (Mahne und Huxhold 2017, S. 223) schränken zugleich die Möglichkeiten für alltagspraktische Unterstützung wie auch intensivere familiale Pflege deutlich ein. 4.3
Nahversorgung und außerhäusliche Mobilität
Die teils weite Entfernung zu wichtigen Infrastruktureinrichtungen im ländlichen Raum bildet gerade für mobilitätseingeschränkte Menschen eine zentrale Hürde für das eigenständige Wohnen im Alter. Tabelle 5 stellt die einwohnergewichteten durchschnittlichen Luftliniendistanzen zur nächstgelegenen Haltestelle des Öffentlichen Verkehrs (ÖV), zum nächsten Supermarkt oder Discounter, Hausarzt/-ärztin und Apotheke dar. Burgdorf et al. (2015) haben auf Basis disaggregierter Einwohnerzahlen Luftlinien entfernungen zur nächsten Hausarztpraxis oder Apotheke von bis 19 km gemessen. Das Auto ist für viele (alte) Menschen auf dem Land daher das übliche Fortbewegungsmittel und auch zentral, um soziale Teilhabe aufrechterhalten zu können (Baumgartner et al. 2013, S. 81 f.). Für zahlreiche ländliche Gemeinden sind Schulbusse heute
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Kerstin Hämel und Birgit Wolter
Tabelle 5 Einwohnergewichtete durchschnittliche Luftliniendistanzen zu den Einrichtungen der Nahversorgung nach siedlungsstrukturellen Kreistypen 2015 in Metern Raumeinheit
Haltestellen des ÖV
Supermärkte
Hausärzt/-innen
Apotheken
2015
2015
2015
2015
Kreisfreie Großstädte
211,7
475,0
439,0
511,0
Städtische Kreise
301,8
1027,0
931,3
1151,9
Ländliche Kreise mit Verdichtungsansätzen
411,9
1525,0
1464,3
1877,0
Dünn besiedelte ländliche Kreise
572,6
1785,6
1811,3
2300,3
Quelle: Eigene Darstellung nach BBSR 2018 ©
das einzige öffentliche Verkehrsangebot. Angesichts weiter ausgedünnter Wegenetze des ÖV und der zunehmenden Schließung von Bahnhöfen in Landgemeinden dürfte sich die Situation eher noch verschlechtern. Alternative Mobilitätskonzepte für ältere Menschen, die nicht (mehr) selbst Auto fahren können oder möchten, werden zunehmend erprobt (z. B. Bürgerbusse, Mitfahrsysteme, Rufbusse, Mobilitätslots/-innen) (BMVI 2016), allerdings wissen wir noch zu wenig darüber, wie tragfähig sie sind und inwiefern sie von alten Menschen akzeptiert werden. Die Studie von Walsh et al. (2012, S. 85) zeigt, dass ältere Menschen nur ungerne Nachbar/-innen um Mitfahrgelegenheiten bitten und selbst erhebliche Entfernungen eher zu Fuß zurücklegen bzw. auf den Weg verzichten. 4.4
Soziale Teilhabe und Engagement
Die klassische, eher romantisierende Vorstellung von sozialer Teilhabe im ländlichen Raum basiert meist auf dem Bild einer intakten Dorfgemeinschaft. Diese Idealisierung einer dörflichen Lebensweise weicht zunehmend einer differenzierten Betrachtung (z. B. Schweppe 2005b). Eine Studie aus Irland kommt zu dem Ergebnis, dass es für ältere Menschen, die in ländlichen Regionen leben, besonders herausfordernd ist, soziale Kontakte und Beziehungen zu pflegen, was sich bei einer chronischen Erkrankung noch deutlich verschärft (Burholt und Scharf 2014, ähnlich: Duggleby et al. 2011). In den letzten Jahren wurden in Deutschland zunehmend Programme initiiert, um in den ländlichen Kommunen die soziale Teilhabe alter Menschen speziell durch die Förderung selbstorganisierter Aktivitäten und bürgerschaftlichen Engagements zu stärken (z. B. Klie und Marzluff 2012). In der Tat ist in Deutschland der Anteil frei-
Alter(n) im ländlichen Raum
451
willig engagierter Menschen auf dem Land größer als in der Stadt (Hameister und Tesch-Römer 2017). Allerdings basiert dieser Unterschied auf relativ geringen Engagementquoten in den kreisfreien Großstädten. Zugleich ist gerade auch das Engagement in peripheren, strukturschwachen Regionen begrenzt. Mit dem Fortzug, aber auch als Folge eines arbeitsplatzbedingten Pendelns, sinken die zeitlichen und personellen Ressourcen für ehrenamtliches, nachbarschaftliches Engagement. Vogelsang et al. (2016, S. 35) weisen darauf hin, dass die Ortsverbundenheit von Pendler/-innen abnimmt, und damit ihr Interesse und ihre Bereitschaft, sich für die Belange der Kommune einzusetzen. Damit fehlen nicht nur informelle Unterstützungsnetzwerke, sondern auch bürgerschaftliches Gestaltungs- und Entwicklungspotenzial. Die Arbeitsplatzwanderung führt zu einem Verlust von potenziellen Fachkräften, ehrenamtlich Engagierten und Steuerzahler/-innen, und die „lokale Bürgerschaft verliert an sozialem und wirtschaftlichem Gewicht“ (Vogel 2015, S. 39). Engagement vermag nur bedingt Lücken in Infrastruktur und Daseinsvorsorge auszugleichen, vielmehr werden durch den Abbau von allgemeiner Infrastruktur auch die Voraussetzungen für Engagement entzogen (Albrecht 2009, S. 212; Olk 2014, S. 226 f.). 4.5
Gesundheitliche Situation, Unterstützung und Pflege
Ein höherer Anteil älterer Menschen führt auch zu einem Anstieg der Pflegequote, was insbesondere in strukturschwachen, peripheren Regionen problematisch ist. Unterschiede der Morbiditäts- und Pflegelast zwischen den Regionen sind jedoch nicht allein auf Unterschiede in der Altersstruktur zurückzuführen, sondern mit dem sozio-ökonomischen Status der regionalen Bevölkerung verbunden (Hämel et al. 2013). Gesundheitschancen sind auch bei alten Menschen von Bildung, Schicht, Einkommen etc. abhängig (Kümpers 2008; Lampert und Kroll 2014), und diese sind, wie wir in den letzten Abschnitten skizziert haben, regional ungleich verteilt. Während es für Länder mit ausgeprägten ländlichen und entlegenen Gebieten bereits Hinweise gibt, dass ein schlechterer Gesundheitsstatus der Landbevölkerung auch auf lückenhafte soziale und gesundheitliche Angebote zurückzuführen ist (Duggleby et al. 2011), sind uns für Deutschland keine entsprechenden Studien bekannt. Der Zusammenhang liegt allerdings nahe. Die These, dass die Potenziale für familiale bzw. informelle Hilfe und Pflege auf dem Land besonders hoch sind, wird seit Langem hinterfragt (z. B. Engel 2001, S. 151 ff.). Befunde, nach denen Menschen mit Pflegebedarf in ländlichen Regionen häufiger und intensiver von Familienangehörigen, Freunden und Nachbar/-innen unterstützt werden als in städtischen Regionen (Blinkert und Klie 2006; Blinkert 2008), sind möglicherweise auch als eine Reaktion auf fehlende Angebote auf dem Land zu interpretieren. Infolge der Singularisierung, des Wandels der Geschlechterrollen und des Wegzugs jüngerer Generationen werden allerdings traditionelle Unterstützungsstrukturen in den Dörfern und Kleinstädten brüchiger (z. B. Sternberg
452
Kerstin Hämel und Birgit Wolter
2010). Unbestritten ist, dass das informelle Pflege- und Unterstützungspotenzial auf dem Land sinkt (Rothgang et al. 2012, S. 16) und der Ausbau (nicht Abbau) professioneller Unterstützungsstrukturen erforderlich ist. Dass sich dieser Ausbau als besonders herausfordernd erweist, ist nicht zuletzt auch dem Fachkräftemangel geschuldet, der sich beispielsweise in der Pflege voraussichtlich stärker in ländlichen als in städtischen Regionen zuspitzen wird (z. B. Fuchs 2013; Lauxen und Bieräugel 2013). Dem ist ebenso wie dem Hausärztemangel auf dem Land mit politischen Maßnahmen entgegenzuwirken (Hämel und Schaeffer 2013; SVR 2014).
5
Ländliche Regionen im Wandel: Herausforderungen für die Daseinsvorsorge
Ländliche Regionen unterliegen derzeit erheblichen Veränderungsprozessen, mit denen sich bestehende regionale Unterschiede zum Teil noch zusätzlich verstärken dürften. Der Wandel ist besonders in strukturschwachen, peripheren Räumen problematisch (Deutscher Bundestag 2016a). Die sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen in den ländlichen Regionen bilden eine Herausforderung für die Daseinsvorsorge. Deren Aufgaben orientieren sich an den Grundsätzen gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 3 des Raumordnungsgesetzes: „Die Versorgung mit Dienstleistungen und Infrastrukturen der Daseinsvorsorge, insbe sondere die Erreichbarkeit von Einrichtungen und Angeboten der Grundversorgung für alle Bevölkerungsgruppen, ist zur Sicherung von Chancengerechtigkeit in den Teilräumen in angemessener Weise zu gewährleisten; dies gilt auch in dünn besiedelten Regionen.“
Die Kommunen sind häufig überfordert, mit geringen Haushaltsmitteln die für ein eigenständiges Leben im Alter erforderlichen Dienstleistungen und Infrastrukturen vorzuhalten. Zum einen stehen vielen Kommunen nicht die finanziellen oder personellen Mittel zur Verfügung, Leistungen selbst anzubieten; zum anderen fehlen ihnen die Anreize, um Dienstleister/-innen aus dem Einzelhandel-, Gesundheits- oder Pflegebereich für eine Niederlassung anzuwerben. Erforderlich werden integrierte Konzepte der Daseinsvorsorge mit niedrigschwelligen, kooperativen oder flexiblen Strategien, die auf Versorgungsdefizite reagieren. Beispiele sind Modelle der interkommunalen Zusammenarbeit, z. B. als LEADERRegion im Rahmen des europäischen Förderprogramms zur Entwicklung des ländlichen Raumes (Liaison Entre Actions de Development de l’Economie Rurale) oder integrierte Versorgungskonzepte wie Lokale Zentren für die Primär- und Langzeitversorgung (Schaeffer und Hämel 2016; SVR 2014), die aufsuchende Gesundheitsund Sozialarbeit einschließen sollten (z. B. Hämel et al. 2017). Ein weiteres Instrument sind regionale Netzwerke nach SGB XI § 45c Abs. 9, die zu einer verbesserten Versorgung und Unterstützung von hilfe- und pflegebedürftigen Menschen führen
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sollen. Diese und andere integrierte Konzepte zielen auf eine verbesserte Abstimmung existierender lokaler Angebote und auf die Kooperation und Koordination über Sektoren- und Ressortgrenzen hinweg. Dabei ist die unmittelbare Lebenswelt (Dorf, Quartier, Nachbarschaft) als wesentliche räumliche und soziale Ebene für Teilhabe und Engagement Älterer von zentraler Bedeutung (Wolter 2018). Die Weiterentwicklung der Angebotsstrukturen im ländlichen Raum sollte bei den Bedarfen und Bedürfnissen der älteren Einwohner/-innen ansetzen. Eine Beteiligung alter Menschen ist daher unverzichtbar, auch wenn diese nicht immer leicht zu realisieren ist (Kühnemund und Kümpers 2019). Als Fazit unseres Beitrags lässt sich festhalten: Es gibt nicht den ländlichen Raum, weil die verschiedenen ländlichen Regionen teils sehr unterschiedlichen Bedingungen und Entwicklungsdynamiken unterliegen; ebenso wenig kann von einer homogenen Altenbevölkerung auf dem Land ausgegangen werden. Vielmehr sind Diversität bzw. soziale und gesundheitliche Ungleichheiten prägend. Pauschalisierende Aussagen zu den Lebensbedingungen älterer Menschen auf dem Land müssen daher vermieden werden (Beetz 2009, S. 120; Skinner und Winterton 2018). Die Möglichkeiten und Herausforderungen des Alter(n)s sind von zahlreichen Rahmenbedingungen abhängig und gestalten sich so heterogen wie der ländliche Raum. Allerdings sind die Lebensbedingungen in strukturschwachen, peripheren Räumen für ältere Menschen kritisch bzw. der Mangel an Infrastruktur- und Versorgungsangeboten bildet dort geradezu einen Risikofaktor für Gesundheit und Teilhabe. Insbesondere ältere Menschen mit geringem Einkommen und niedrigem Bildungsstatus verfügen nicht über die Ressourcen, um strukturelle Defizite in ländlichen Räumen auszugleichen. Ihre Situation spitzt sich im Fall von chronischer Krankheit und Pflegebedürftigkeit noch weiter kritisch zu. Ländliche Kommunen sind mit der Gestaltung gleichwertiger Lebensbedingungen und der Aufrechterhaltung der Daseinsvorsorge zum Teil stark gefordert.
Ausgewählte Literatur Fachinger, Uwe, und Harald Künemund. Hrsg. 2015. Gerontologie und ländlicher Raum. Lebensbedingungen, Veränderungsprozesse und Gestaltungsmöglichkeiten. Wiesbaden: Springer VS Scharf, Thomas, Kieran Walsh und Eamon O’Shea. 2016. Ageing in Rural Places. In Routledge International Handbook of Rural Studies. Hrsg. Brown, David L., und Mark Shucksmith, 50 – 61. London: Routledge. Walsh, Kieran, Eamon O’Shea und Thomas Scharf. 2012. Social Exclusion and Ageing in Diverse Rural Communities. Findings from a cross-border study in Ireland and Northern Ireland. Galway: Irish Centre for Social Gerontology. http://www.icsg.ie/sites/www.icsg.ie/files/personfiles/social_exclusion_and_rural_ageing.pdf. Zugegriffen: 19. Dezember 2018.
Alte Menschen mit Migrationshintergrund und Fluchterfahrungen Vincent Horn, Wolfgang Schröer und Cornelia Schweppe
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Einleitung
Das Thema ‚alte Menschen mit Migrationshintergrund‘ hat sich im internationalen Kontext zu einem breiten Forschungsfeld entwickelt (Karl und Torres 2016; Ciobanu, Nedelcu und Fokkema 2017). Aber auch in Deutschland rückt es in den letzten Jahren zunehmend in den Blick der Forschung, der Politik und der sozialpädagogischen Praxis (Hahn 2011; Baykara-Krumme, Motel-Klingebiel und Schimany 2012). Die Diskussion bezieht sich dabei vor allem auf die seit dem Ende der 1950er Jahre – in der Regel aus Mittelmeerländern – angeworbenen Arbeitskräfte. Lange Zeit wurde das Altern dieser Gruppe ausgeklammert (Kricheldorff 2018c). Denn man war davon ausgegangen, dass die Mehrheit nach Beendigung der Erwerbsarbeit wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren würde. Doch viele blieben in Deutschland oder anderen europäischen Industrieländern und treten nun zunehmend in die Phase des Alter(n)s ein (Ciobanu und Ramos 2016; Hoffmann und Romeu Gordo 2016). Neben der Gruppe der alten und alt werdenden Arbeitsmigrant/-innen wird in den letzten Jahren auch die Gruppe der Spätaussiedler/-innen stärker in die fachliche und politische Diskussion einbezogen (Vogel 2012; BAMF 2013). Ältere Flüchtlinge dagegen wurden in den bisherigen Debatten kaum berücksichtigt (Wolff 2016). Laut Statistischem Bundesamt lebten 2017 rd. 1,9 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland, die älter als 65 Jahre waren; rd. 3,8 Millionen hatten das 55. Lebensjahr bereits vollendet (StaBuAmt 2018a). Das Statistische Bundesamt definiert Menschen mit Migrationshintergrund wie folgt: „Eine Person hat einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt“ (StaBuAmt 2018a, S. 4). Migrationshintergrund bedeutet mithin nicht zwangsläufig, selbst migriert zu sein. Nach der Definition des Statischen Bundesamtes macht die Gruppe der 65-Jährigen und Älteren mit Migrationshintergrund aktuell einen Anteil von 11,5 % dieser in Deutsch© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_39
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land lebenden Altersgruppe aus, der Anteil der über 55-Jährigen lag bei 13,5 %. Zum Vergleich hatten 2005 erst rd. 1,2 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland bereits das 65. Lebensjahr erreicht, was einem Anteil von 8 % entsprach (StaBuAmt 2007). Es wird davon ausgegangen, dass die absolute Zahl älterer Menschen mit Migrationshintergrund in den nächsten Jahrzehnten stetig steigen wird. Schätzungen zufolge soll sich allein bis 2030 die absolute Zahl der über 65-jährigen Menschen mit Migrationshintergrund nahezu verdoppeln (Friedrich-Ebert-Stiftung 2017, S. 7).
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Soziale Benachteiligungen älterer Menschen mit Migrationshintergrund
Fragt man nach der Lebenssituation älterer Menschen mit Migrationshintergrund, zeigt sich, dass sie durch soziale Benachteiligungen geprägt ist. Menschen mit Migrationshintergrund verfügen im Alter insgesamt über niedrigere Einkommen als Menschen ohne Migrationshintergrund (Frick et al. 2009; Klaus und Baykara-Krumme 2016). Berentete Menschen aus der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien verfügen dabei im Vergleich zu anderen Migrantengruppen und Menschen ohne Migrationshintergrund über die schlechtesten Einkommen (BAMF 2012a). Das niedrige Einkommensniveau erklärt sich zum einen durch die Erwerbsbiografien in Positionen mit einem niedrigen Lohnniveau. Ebenso waren ältere Menschen mit Migrationshintergrund in ihrer Erwerbsarbeitszeit häufiger und länger von Arbeitslosigkeit betroffen. Darüber hinaus haben sie vielfach kürzere Rentenanwartschaften, da viele unvollständige Versicherungsbiografien aufweisen aufgrund eines späten Versicherungsbeginns und der Tendenz zur Frühverrentung wegen Frühausgliederung durch Arbeitslosigkeit, gesundheitlichen Gründen und/oder Aufhebungsverträgen (Tucci und Yildiz 2012). Die finanziellen Unterschiede zwischen älteren Menschen mit und ohne Migrationshintergrund drücken sich auch in unterschiedlichen Armutsgefährdungsquoten aus. So wird errechnet, dass diese im Jahr 2013 bei der Gruppe der 50- bis unter 65-Jährigen mit Migrationshintergrund bei 22,6 % lag im Vergleich zu 10,5 % der entsprechenden Gruppe ohne Migrationshintergrund. Bei den 65 Jahre alten und älteren lag die Armutsgefährdungsquote für Menschen mit Migrationshintergrund bei 31,9 % im Vergleich zu 10,8 % bei Menschen ohne Migrationshintergrund (Giesecke et al. 2017). Sowohl beim Einkommen als auch bei der Armutsgefährdung zeigen sich jedoch deutliche Unterschiede zwischen älteren Arbeitsmigrant/-innen und älteren Spätaussiedler/-innen. Letztere weisen ein im Durchschnitt höheres Einkommen und damit einhergehend eine geringere Armutsgefährdungsquote auf (Hoffmann und Romeu Gordo 2016). Dieser Unterschied ist in erster Linie auf ein höheres Qualifikationsniveau unter den Spätaussiedler/-innen zurückzuführen. Hinsichtlich der Gesundheitssituation werden bei alten Menschen mit Migra tionshintergrund erhöhte Gesundheitsrisiken im Vergleich zu jenen ohne Migrations
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hintergrund herausgearbeitet; Migrant/-innen gelten als zahlenmäßig wachsende Gruppe mit einem relativ schlechten Gesundheitszustand (BAMF 2012a; FriedrichEbert-Stiftung 2017). Als Gründe lassen sich zum einen Lebenslagenfaktoren wie geringes Einkommen, ein geringes formales Bildungsniveau und schlechte Wohnbedingungen nennen (Wengler 2013; Klaus und Baykara-Krumme 2016). Zum anderen sind aber insbesondere auf Belastungen der Erwerbsarbeit und gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen hinzuweisen (Özcan und Seifert 2004; Razum und Spallek 2012). Studien zeigen jedoch, dass gerade ältere Menschen mit Migrationshintergrund auf verschiedene Hürden im Gesundheitssystem treffen, denen vielfältige (z. B. kulturelle, sprachliche, strukturelle) Faktoren zugrunde liegen (Arora et al. 2018). Die Folgen der Belastungen während der Erwerbsarbeitszeit werden auch beim Thema ‚Pflegebedürftigkeit‘ von älteren Menschen mit Migrationshintergrund sichtbar. So werden Menschen mit Migrationshintergrund durchschnittlich um etwa zehn Jahre früher pflegebedürftig (62,1 Jahre) als Menschen ohne Migrationshintergrund (72,7 Jahre) (BMG 2011, zit. nach Tezcan-Güntekin und Breckenkamp 2017, S. 16). Unterschiede finden sich zudem bei den Pflegeeinstufungen. Demnach sind Menschen mit Migrationshintergrund eher in der höchsten Pflegestufe (jetzt Pflegegrad) eingruppiert als Menschen ohne Migrationshintergrund (BMG 2011, zit. nach BAMF 2012b). Angesichts der demografischen Entwicklung kann davon ausgegangen werden, dass sowohl der medizinische als auch pflegerische Bedarf älterer Migrant/-innen in Zukunft deutlich zunehmen wird (BAMF 2012b). Auf der Basis des Ausgangswerts im Jahr 2013 wird für das Jahr 2030 ein Anstieg um 187 % projiziert. Danach würde der Anteil pflegebedürftiger Migrant/-innen an allen Pflegebedürftigen von 9,8 % im Jahr 2013 auf 13,6 % steigen (Friedrich-Ebert-Stiftung 2017, S. 36). Hinsichtlich der Pflegebedürfnisse und -erwartungen unterscheiden sich Pflegebedürftige mit Migrationshintergrund nicht wesentlich von jenen ohne Migrationshintergrund. Sie wünschen sich vor allem von ihren Kindern oder Verwandten Unterstützung. Tatsächlich findet die Pflege älterer Migrant/-innen weitestgehend durch (weibliche) Familienangehörige statt. Andere Formen der Pflege im Alter werden bislang nur wenig in Anspruch genommen. Diesbezüglich wird festgehalten, dass bei Menschen mit Migrationshintergrund eine größere Distanz zur Nutzung professioneller Pflege bestehe als bei Menschen ohne Migrationshintergrund und sie häufiger nicht von Fremden gepflegt werden wollen (BAMF 2012c, S. 3). Allerdings weisen Studien auch auf einen Einstellungswandel gegenüber professioneller Pflege hin. Gerade bei der türkeistämmigen Bevölkerung wird davon ausgegangen, dass sie zukünftig häufiger professionelle Pflege in Anspruch nehmen wird (Tezcan-Güntekin und Breckenkamp 2017). Gleichzeitig wird darauf verwiesen, dass zunehmend zu beobachten sei, dass nicht alle älteren Menschen mit Migrationshintergrund auf Verwandte in Deutschland zurückgreifen können, die die Pflege ihrer Angehörigen übernehmen können oder wollen (BAMF 2012b; Baykara-Krumme 2015). Obwohl das politische und wissenschaftliche Interesse an der Lebenssituation älterer Menschen mit Migrationshintergrund in den letzten Jahren gestiegen ist, fo-
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kussiert die bisherige Diskussion in Deutschland auf ältere türkischstämmige Migrant/-innen oder Spätaussiedler/-innen aus der ehemaligen Sowjetunion (Strumpen 2012; Baykara-Krumme 2013; Vogel und Sommer 2013). Demgegenüber steht die Forschung zu älteren Menschen mit Migrationshintergrund aus zahlenmäßig kleineren Gruppen noch weitestgehend am Anfang. Dies gilt im besonderen Maße für ältere Menschen mit Fluchterfahrungen, zu deren Lebenssituationen bislang kaum empirische Erkenntnisse vorliegen (Zeman und Kalisch 2008).
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Zur Lebenssituation älterer Menschen mit Fluchterfahrungen: Besondere Schutzbedürftigkeit
Deutschland hat seit Ende des Zweiten Weltkrieges immer wieder Flüchtlinge verschiedener Herkunft und Ethnizität aufgenommen, die nun ebenfalls vermehrt in die Phase des Alter(n)s eintreten. Zu dieser sehr heterogenen Gruppe zählen beispielsweise Menschen aus Vietnam oder dem Iran, die in den 1970er und 1980er Jahren nach Deutschland geflüchtet sind, oder auch jugoslawische Bürgerkriegsflüchtlinge, die in den 1990er Jahren nach Deutschland kamen. Besonders weit fortgeschritten ist die demografische Entwicklung unter den in den 1990er und frühen 2000er Jahren nach Deutschland migrierten jüdischen Kontingentflüchtlingen. Viele von ihnen sind nach ihrer Ankunft einer jüdischen Gemeinde beigetreten und machen einen Großteil ihrer derzeit rund 100 000 Mitglieder aus. Gemäß der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e. V. (2018) haben 47 % von ihnen bereits das 60. Lebensjahr erreicht. Im Zuge der jüngsten Fluchtbewegungen sind zudem nicht nur jüngere, sondern auch Flüchtlinge im Alter von 50 Jahren und älter nach Deutschland gekommen. Sie stammen zumeist aus westasiatischen Ländern (Afghanistan, Irak und Syrien) und machten 2016 einen Anteil von knapp 4 % (in absoluten Zahlen 27 422) an allen Erstantragstellenden auf Asyl aus (BAMF 2016). Bislang ist das Interesse von Politik, Praxis und Wissenschaft an den seit kurzem in Deutschland lebenden älteren Menschen mit Fluchterfahrung sehr gering. Auch in der sozialwissenschaftlichen bzw. sozialpädagogischen Forschung ist die Analyse der Lebenssituationen sowohl in Deutschland gealterter als auch erst im höheren Alter migrierter Menschen mit Fluchterfahrungen weitestgehend ein Desiderat. Auf politischer Ebene scheint der längere Erwerbshorizont jüngerer Flüchtlinge hierfür eine bedeutende Rolle zu spielen. Eine aktuelle Analyse des Integrationsgesetzes der Bundesregierung zeigt, „dass die politischen Konzepte zur Integration von Schutzsuchenden auf allen Ebenen bestimmte Altersgruppen fokussieren und dabei die jüngeren Geflüchteten privilegieren“ (Wolff 2016, S. 47). Dies werde „dadurch sichtbar, dass vor allem Dimensionen wie Bildung, Arbeitsmarkt und Sport eine Schlüsselrolle zugesprochen wird, die grundsätzlich eher auf jüngere Menschen zielen“ (ebd.). Die geringe Beachtung und weitgehende Unsichtbarkeit älterer Flüchtlinge in der Flüchtlingshilfe und Integrationspolitik – auch auf internationaler Ebene – wiegen
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besonders schwer, da ältere Flüchtlinge von internationalen Flüchtlingsorganisatio nen (vgl. UNHCR 2000; Caritas 2013) sowie der Europäischen Union (Richtlinie 2013/33/EU) als besonders schutzbedürftige Personen eingestuft werden. Mit Nachdruck wird bei diesen Akteur/-innen auf ihre Exklusionsrisiken aus den Unterstützungsstrukturen der Flüchtlingshilfe hingewiesen: „Older persons are at risk of exclusion from protection and assistance programmes if humanitarian actors do not fully understand their needs […].“ (UNHCR 2013, S. 5)
Kenntnisse über die Lebenssituationen älterer Flüchtlinge, ihre Bedürfnisse und Perspektiven sind in Deutschland sowie im internationalen Kontext sehr begrenzt; aktuelle Studien fehlen weitgehend. Neben verschiedenen Berichten bzw. Stellungnahmen (Caritas 2013; UNHCR 2013) und einzelnen Berichten aus der Praxis der Flüchtlingshilfe (z. B. Asylkoordination Österreich 2002) gibt es vereinzelte Studien, die die Lebensbedingungen älterer Flüchtlinge fokussieren (z. B. Chenoweth und Burdick 2001). Hieraus geht hervor, dass bei älteren Flüchtlingen flucht- und altersbedingte Problematiken kumulieren und zu sehr belastenden Lebenssituationen führen können. In Bezug auf die Gesundheit von älteren Flüchtlingen verweist die Forschung auf Problematiken, die mit Ereignissen während und vor der Flucht in Verbindung stehen können, z. B. Unterernährung, Kriegsverletzungen, Fehlversorgungen etc. (Toole und Waldman 1997; Bolzman 2014; WHO 2018). Neben körperlichen Beeinträchtigungen wird auch im psychischen Bereich auf besondere Belastungen hingewiesen, wie z. B. Depressionen oder posttraumatische Belastungsstörungen (Morioka-Douglas et al. 2004). Obwohl Verluste und traumatische Erfahrungen zu den zentralen Erfahrungen aller Flüchtlinge gehören, akzentuieren sie sich bei älteren Flüchtlingen (Derges und Henderson 2003; Zeman und Kalisch 2008). So wird beispielsweise der Verlust von Heimat von älteren Flüchtlingen als besonders schmerzhaft und belastend erlebt (Olbermann 2019). Unzureichender Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen aufgrund eingeschränkter Mobilität, fehlender Informationen, Sprachbarrieren etc. wiegen angesichts dessen besonders schwer (Guerin et al. 2007; Rao et al. 2006) Sprachbarrieren werden ebenso für den erschwerten Kontakt zu Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft herausgearbeitet (Oglak und Hussein 2016), wobei zu berücksichtigen ist, dass das Lernen einer neuen Sprache altersbedingt erschwert sein kann (Meulman et al. 2015). Dies hat oftmals eine Fokussierung auf ethnische Communities und die Familie (soweit vorhanden) zur Folge (Bloch 2002). Die starke Eingebundenheit in die Familie ist jedoch keineswegs unproblematisch. Studien zeigen, dass der Fluchtprozess älterer Menschen aufgrund anderer Altersver ständnisse und -positionen im Ankunftsland häufig mit einem deutlichen Rollenund Statusverlust verbunden ist (Griffiths 2002). So tragen ältere Menschen in sog. Entwicklungsländern oft bis ins hohe Alter durch Arbeit zum Haushaltseinkommen bei. Der Zugang zum Arbeitsmarkt im Ankunftsland erweist sich jedoch gerade für ältere Flüchtlinge aufgrund von Altersgrenzen, fehlenden oder nicht anerkannten
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Bildungsabschlüssen als schwierig (Aumüller und Bretl 2008). Gleichzeitig wächst die Abhängigkeit von der jüngeren Generation, insofern als es diese ist, welche die „Älteren in die neue Kultur einführt und sie ihnen verständlich macht“ (Asylkoordi nation Österreich 2002, S. 17). Dieser familiale Rollenwandel kann dazu führen, dass ältere Familienmitglieder an Autorität und Respekt verlieren und ihre Bedürfnisse als nachrangig gelten (Zeman und Kalisch 2008). Ältere Flüchtlinge stehen gleichzeitig besonderen Herausforderungen gegenüber, biografische Anschlüsse sowie Möglichkeiten gesellschaftlicher Partizipation im Ankunftsland zu finden. Ihnen fällt es oft schwer, sich in der neuen Umgebung zu orientieren (Scott und Bolzman 1999; Bolzman 2014). Um die fluchtbedingten biografischen Brüche durch neue Anschlüsse zu lindern, sind Orientierungshilfen im Ankunftsland deshalb von besonderer Bedeutung. Diesbezüglich kommt auch Organisationen, die älteren Flüchtlingen symbolische Orientierung geben, eine wichtige Rolle zu (Ciobanu und Fokkema 2017). Dabei gewinnen religiöse Einrichtungen an lebenspraktischer Relevanz (Schuleri-Hartje 1994; Ceylan 2006). Über religiöse Formen der Partizipation hinaus werden jedoch insbesondere Fragen gesellschaftlicher Partizipation, z. B. durch erhebliche Hürden der Integration in den Arbeitsmarkt oder Schwierigkeiten der Aneignung einer Fremdsprache, virulent.
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Soziale Arbeit und alte Menschen mit Migrationshintergrund
Während die spezifischen Bedürfnisse und Erfahrungen alter Flüchtlinge in Konzeption und Praxis der Sozialen Arbeit und der Altenhilfe bislang kaum berücksichtigt werden, wurden alte Menschen mit Migrationshintergrund in den letzten 20 Jahren zunehmend zu einer adressierten Zielgruppe. Zur Gestaltung der Altenhilfe und sozialpädagogischer Maßnahmen für alte Menschen besteht einerseits zwar ein Grundkonsens, dass es keine zielgruppenspezifischen Unterschiede in den Leitlinien der Altenarbeit (z. B. Befriedigung der wirtschaftlichen und gesundheitlichen Grundbedürfnisse, Sicherstellung der Voraussetzung für eine weitgehend selbstständige und unabhängige Lebensführung, Erhalt der persönlichen Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit, Ausgleich altersbedingter physischer und psychischer Defizite durch bedarfsgerechte Hilfen) geben sollte. Andererseits wird aber auch auf beson dere Anforderungen einer interkulturellen oder kultursensiblen Altenhilfe und Altenarbeit für Menschen mit Migrationshintergrund aufmerksam gemacht. Ein wichtiger Ausgangspunkt war dabei nicht nur die wachsende Zahl älterer Migrant/-innen, sondern auch die Beobachtung, dass sie bislang in Altenhilfeeinrichtungen unterrepräsentiert sind. Insgesamt werden diese Entwicklungen vor allem unter dem Blickwinkel der interkulturellen Öffnung der Altenhilfe und der kultursensiblen Altenarbeit diskutiert: Muttersprachliches Personal, Fachpersonal mit Migrationshintergrund, interkulturell qualifizierte Teams, eine kultursensible Angebotsgestaltung und die Förderung interkultureller Kompetenz des Fachpersonals werden gefordert
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(Hahn 2016). Gleichzeitig wurde dies aber auch kritisch diskutiert und es wurden reflexive Perspektiven eingefordert (z. B. Mecheril 2010). Hamburger (1999, S. 39) wies schon vor 20 Jahren darauf hin, „dass interkulturelles Lernen ein notwendiges Lernen in kritischen Situationen oder ‚Situationen der alarmierenden Entdeckung‘ ist, jedoch nicht dauerhaft institutionalisiert werden soll“. Denn mitunter führt eine interkulturelle Öffnung zu kulturalistisch einseitigen Konzepten der Einrichtungen. Sie läuft Gefahr, dass soziale Unterstützung von der je spezifischen individuellen Lebenswirklichkeit absieht und ethnische Zuschreibungen, Typisierungen und Stereotypen erzeugt bzw. festigt. Insbesondere werden aber auch Mechanismen der strukturellen Diskriminierung, Vorurteile, ökonomische, rechtliche, soziale und bildungsbezogene Benachteiligungen, mangelnde Teilhabechancen und politische Entmündigung unterbelichtet (Sprung 2011). Diesbezüglich ist die Diskussion um diversity (vgl. Hormel und Scherr 2004, Mecheril und Plößer 2011; Soom Amann i. d. B.) in Bezug auf den Zusammenhang von Alter und Migrationshintergrund weiterführend. Entgegen Diskussionen, in denen danach gefragt wird, wie aufgrund heterogener Lebensformen gesellschaftliche Exklusionsprozesse aufgrund von Diskriminierung, mangelnden sozialen Chancen, sozialer Benachteiligung oder Rassismus verhindert werden können, zielt die internationale Diskussion um diversity insbesondere auf die Bedingungen, die social inclusiveness ermöglichen. Die politische und pädagogische Herausforderung wird dabei nicht mehr primär in den Merkmalen einzelner Gruppen – z. B. alte Arbeitsmigrant/-innen mit türkischem Migrationshintergrund – gesehen, die beachtet oder gefördert werden müssen, sondern es wird danach gefragt, wie in unterschiedlichen Kontexten Unterschiede hergestellt werden, welche Implikationen sich aus diesen Unterschieden im Hinblick auf soziale Chancen ergeben und ob und wie die Menschen sich in ihrer Unterschiedlichkeit an der Gestaltung des sozialen Zusammenlebens beteiligen können. Damit erhält die Diskussion auch einen anderen Blick auf die Dimensionen und Bezüge sozialer Ungleichheit. Es kann gesehen werden, dass es soziale Benachteiligungen und Zugangsverwehrungen sind, die z. B. alte Menschen mit Migrationshintergrund in bestimmten Lebenslagen betreffen. Alter(n) und auch das Altern von Menschen mit Migrationshintergrund hängt im Wesentlichen von den Lebenslagen und damit von den Handlungsspielräumen und -optionen, die sich eröffnen, sowie den dadurch anerkannten Bedürfnissen der Menschen ab. Lebenslagen sind dabei „Produkt gesellschaftlicher Entwicklung (strukturiert), zugleich aber Bedingung und Ausgangssituation (strukturierend) der Entwicklung von einzelnen Menschen und Gruppen; Lebenslagen sind Ausgangsbedingungen menschlichen Handelns ebenso wie sie Produkt dieses Handelns sind“ (Amann 1994, S. 324).
Die Lebenslagen im Alter umfassen somit einerseits die politischen und sozialen Vorstellungen von Altern, durch die auch mitbestimmt wird, welche Bedürfnisse der
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Menschen mit Migrationshintergrund anerkannt werden und welche Erwartungen an sie gerichtet werden. Anderseits werden mit dem Begriff aber auch die materiellen, sozialen und kulturellen Ressourcen (Wohnverhältnisse, verfügbares Familieneinkommen, Bildungssituation usw.) betrachtet, die in ihrem alltäglichen Handeln zur Verfügung stehen. Wenn die Lebenslagen älterer Menschen als Ausgangspunkt zur Diskussion um Alter und Migrationshintergrund begriffen werden, dann gilt es zu fragen, •• welche Vorstellungen von alten Menschen mit Migrationshintergrund gegenwärtig vorherrschend sind, •• welche Bedürfnisse von alten Menschen mit Migrationshintergrund wie sozial und politisch anerkannt werden und •• wie die sozialen Handlungsspielräume der alten Menschen mit Migrationshintergrund dadurch gestaltet, begrenzt und geöffnet werden. Die Diskussionen um das transnationale Alter(n) (Horn und Schweppe 2016) weisen darauf hin, dass sich diese Fragen nicht mehr allein im Rahmen einzelner Nationalstaaten beantworten lassen. Dies betrifft auch alte Menschen mit Migrationserfahrungen, deren Lebenswelten oftmals durch grenzüberschreitende Beziehungen und Praktiken geprägt sind. Hierzu zählen das Pendeln zwischen Deutschland und dem Herkunftsland ebenso wie intergenerationale finanzielle Transfers und analoge oder digitale Formen der Kommunikation (Krumme 2003; Senyürekli und Detzner 2008; Strumpen 2012; Vogel und Sommer 2013). Wie die transnationale Alter(n)s forschung zeigt, stellen transnationale Praktiken älterer Migrant/-innen häufig eine Strategie zur Nutzung von Ressourcen im Aufnahme- und Herkunftsland dar (Bolzman, Kaeser und Christe 2016). Sie können sowohl dazu dienen, soziale Beziehungen mit Familienmitgliedern und Freunden im Herkunftsland aufrechtzuerhalten als auch Gesundheitsdienstleistungen an verschiedenen Orten in Anspruch zu nehmen (De Coulon und Wolff 2010; Hunter 2018; Tezcan 2018). Transnationale Optionen im Alter stehen jedoch nicht allen Migrant/-innen im selben Maße offen (z. B. aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen, Krisen im Herkunftsland). Auch sollte berücksichtigt werden, dass ein transnationaler Lebensentwurf nicht zwingend zu einem ‚gelingenden‘ Alter(n) beiträgt. Sozialen Erwartungen sowohl im Aufnahme- als auch Herkunftsland gerecht zu werden, kann beispielsweise als Belastung empfunden werden (Cela, Fokkema und Witter 2016). Für die Soziale Arbeit, die Altenhilfe und Altenhilfepolitik wird hieraus deutlich, dass sie unmittelbar in den Kontext von Gesellschafts-, Sozial- und Migrationspolitik gezogen wird und einer entsprechenden politischen Reflexion bedarf. Sozial- und Migrationspolitik sind daraufhin zu befragen, inwieweit Menschen mit Migrationshintergrund oder Fluchterfahrungen in einer Gesellschaft leben, die ihnen auch im Alter Spielräume und Beteiligungsmöglichkeiten öffnet sowie ihre Bedürfnisse anerkennt, damit sie ihre biografischen Herausforderungen – auch in grenzüberschrei-
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tender Perspektive – bewältigen und bürgerrechtlich gestalten können. Inwieweit können sie subjektiv als sinnhaft erlebte Einbindungen, Tätigkeiten, Beziehungen und Orientierungen leben und finden bei Krisen und Schwierigkeiten eine entsprechende Unterstützung und genügend Rückhalt ? Angesichts oft lebenslanger sozialer Benachteiligung und Diskriminierungserfahrungen aufgrund des Migrationshintergrundes (Reinprecht 2006), von denen zu befürchten ist, dass sie sich im Alter fortsetzen oder sogar verstärken, stellt sich die Frage nach gesellschaftlicher Teilhabe bei alten Menschen mit Migrationshintergrund mit besonderem Nachdruck und rückt Fragen der sozialen Gerechtigkeit, Anerkennung und demokratischer Rechte in den Vordergrund.
Ausgewählte Literatur Baykara-Krumme, Helen, Andreas Motel-Klingebiel und Peter Schimany. Hrsg. 2012. Viele Welten des Alterns. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Hoffmann, Elke, und Laura Romeu Gordo. 2016. Lebenssituation älterer Menschen mit Migrationshintergrund. In Datenreport 2016. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland. Hrsg. Statistisches Bundesamt, 64 – 73. Kricheldorff, Cornelia. 2018. Alter, Migration und Soziale Arbeit. In Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft. Grundlagen – Konzepte – Handlungsfelder. Hrsg. Blank, Beate et al. Wiesbaden: Springer VS, S. 667 – 679.
Alter und Technik Lucia Tonello
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Einführung
Mit dem Themengebiet ‚Alter und Technik‘ wird ein vergleichsweise junges und zugleich prosperierendes Forschungs- und Entwicklungsfeld umrissen, das in den letzten Jahren eine stetige Ausweitung und Ausdifferenzierung erfahren hat (PelizäusHoffmeister 2013, S. 53 ff.; Jokisch und Wahl 2016, S. 11, 43; DGGG 2016, S. 5 f.). Inzwischen werden die vielfältigsten Entwicklungen und Einsatzmöglichkeiten technischer Geräte und Systeme in Bezug auf das Alter(n) bearbeitet, sowohl mit unterschiedlichen disziplinären Schwerpunktsetzungen als auch aus multi- oder interdisziplinär ausgerichteten Perspektiven. Verstärkt wurde diese thematische Expansion vorwiegend über zwei gesellschaftliche Trends, die in Wechselwirkung miteinander stehen: (1) die voranschreitende Technisierung und Digitalisierung und (2) der demografische und sozialstrukturelle Wandel mit seinen (zukünftigen) Folgen (Coughlin 2006, S. 1174; Pelizäus-Hoffmeister 2013, S. 17 f.). Bedingt durch die „Veränderung von Familienstrukturen, […] Singularisierung sowie Pluralisierung“ (Kricheldorff et al. 2017, S. 9), den Anstieg der Lebenserwartung (StaBuAmt 2017d) und die steigende Frauenerwerbstätigkeit (Brenke 2015) in der mittleren Generation zeichnet sich eine Erhöhung des Betreuungs- und Pflegebedarfs bei gleichzeitigem Sinken familialer Pflegepotenziale ab (PelizäusHoffmeister 2013, S. 17). Überdies ist es der Wunsch „einer immer größer werdenden Gruppe hochbetagter Bürger/-innen, möglichst lange selbstbestimmt im gewohnten Umfeld zu leben“ (Kunze und Kricheldorff 2017, S. 7). Dies hat für viele auch symbolischen Wert, da auf diese Weise noch vorhandene Autonomie demonstriert werden kann (Claßen et al. 2014). Wesentliche Zielsetzungen für den Einsatz von Technik, die auch als „politische Strategie verstanden werden“ (Endter 2018, S. 209) können, sind: (1) das Einsparungspotenzial für das Gesundheits- und Sozialwesen (vgl. hierzu z. B. BMFSFJ 2016b, © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_40
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Lucia Tonello
S. 249) durch (2) das Senken des gesellschaftlichen Pflege- und Betreuungsaufwandes (Pelizäus-Hoffmeister 2013, S. 18) bzw. die Erleichterung von Organisation und Umsetzung komplexerer, individualisierter Pflegesettings trotz des zunehmenden Mangels an qualifiziertem Personal (Klein 2010, S. 271) und (3) durchaus auch der Erhalt und die Steigerung von Lebensqualität durch Einsatz von Technik im Alter (Kuhlmann et al. 2018, S. 3). In aktuellen gerontologischen Abhandlungen liegt – ungeachtet der Komplexität der gesellschaftlichen Hintergründe und Ziele – der Fokus inzwischen auf einer umfassenderen positiven Wirkung des Einsatzes von Technik insgesamt, und zwar nicht nur im Kontext von Kommunikation, sozialer Einbindung, Wohlbefinden und Gesundheitsförderung, sondern auch z. B. bei „der emotionalen Anregung und der Entwicklungsförderung“ (Wahl et al. 2018, S. 2). Damit ist bereits Grundlegendes angedeutet: Langanhaltende Selbstständigkeit, Gesundheit, Aktivität, Sicherheit, soziale Teilhabe und Selbstbestimmung sind auch im Alter zentrale Bedürfnisse und werden als Leitziele bzw. Werte technischer Entwicklungen geltend gemacht (Quinn et al. 2015; Kricheldorff und Tonello 2016).
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Historischer Umriss des Forschungs- und Entwicklungsfeldes Alter und Technik
Der Ansatz, durch Hilfsmittel im weitesten Sinne das alltägliche Leben zu erleichtern oder gar die menschlichen Fähigkeiten zu erweitern, ist keinesfalls neu (Wahl et al. 2010a, S. 17). So setzt Coughlin (2006) in seinem Beitrag „Technology“ in The Encyclopedia of Aging den Einsatz eines Gehstocks als Beispiel der Kompensation von körperlichen Einbußen an den Anfang seiner Überlegungen (ebd., S. 1174). Wie die benannten gesellschaftlichen Entwicklungen das Feld Alter und Technik bedingen und damit auch die an Technik gebundenen Zielsetzungen erweitert haben, lässt sich besonders über eine historisch-chronologische Entwicklung des Forschungs- und Entwicklungsfeldes zeigen. Folgt man Pelizäus-Hoffmeister (2013, S. 53 ff.), lässt sich die Entwicklung in vier Phasen unterteilen: (1) Die Frühphase (ab den 1980er Jahren) ist vorwiegend durch ihren visionären Charakter zu beschreiben, in welcher prospektiv zu Potenzialen des Technikeinsatzes für Ältere gearbeitet wird. Ein Beispiel für ein früh erschienenes Werk ist der 1988 veröffentlichte Sammelband Aging in a technological society von LesnoffCaravaglia. Vor allem in den USA als wichtiges Forschungsfeld erkannt, wird es auch in Ländern wie Kanada, Japan und den europäischen Staaten durch die alternde Bevölkerung und deren Technisierungsgrad als bedeutendes Forschungsfeld ausgemacht (Pelizäus-Hoffmeister 2013, S. 57). Auch im deutschsprachigen Raum erscheinen erste Veröffentlichungen zu diesem Themengebiet, wie bspw. der Beitrag „Einstellungsmuster älterer Menschen zu technischen Innovationen“ von Rott (1988). Insgesamt gilt die Aufmerksamkeit der sog. Technikpotenziale vorwiegend dem Aus-
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gleich (altersbedingter) Einschränkungen des Menschen, wobei eine starke technikwissenschaftliche Orientierung zu verzeichnen ist (vgl. hierzu auch Kruse 1994, S. 669; Pelizäus-Hoffmeister 2013, S. 92). Mobilität, Gesundheit, Technik am Arbeitsplatz und Kommunikationstechnik sind in dieser Frühphase ebenso Forschungsprojekte wie die Zukunftsvision „‚Smarthomes‘ – auch ‚Smart Houses‘ genannt“ (Pelizäus-Hofmeister 2013, S. 62), die Personen in ihrer Wohnung unterstützen sollen. Prägend für diese Forschungen waren Überlegungen der ökologischen Gerontologie, die sich seit den 1960er Jahren mit förderlichen Umweltbedingen für ein gutes Altern beschäftigt und die Technik als Umweltausschnitt dessen versteht (ebd., S. 57; vgl. auch Wahl et al. 2010a, S. 19). (2) Die zweite Phase (Beginn der 1990er Jahre) ist von der Etablierung der aus den Technikwissenschaften entstandenen Gerontotechnik geprägt und kann als eigentlicher Beginn des Forschungsfeldes angesehen werden (Pelizäus-Hoffmeister 2013, S. 65 f.). Herman Bouma, der 1997 die International Society for Gerontechnology mitgegründet hat, definiert Gerontotechnik als „the study of technology and aging for the improvement of the daily functioning of the elderly“ (Bouma 1992, zit. n. ebd., S. 65). Bouma et al. (2007) unterstreichen in ihrem Beitrag „Gerontechnology in perspective“ beim Rückblick auf die Entwicklungen seit den 1990er Jahren nochmals explizit die Zusammenführung gerontologischer mit technikwissenschaftlichen Perspektiven und skizzieren dabei eine multi- und interdisziplinäre Ausrichtung. Durch das Konzept des erfolgreichen Alterns bekommt Anfang der 1990er Jahre die Gesamtausrichtung eine neue Prägung. Das „Postulat der prinzipiellen Gestaltbarkeit“ (ebd., S. 67) des Alter(n)s rückt die Bedürfnisse älterer Menschen als zielweisend für die Forschungs- und Entwicklungsvorhaben ins Zentrum (vgl. hierzu auch Schmidt 2015, S. 24 f.). Deutlich werden diese Akzentuierungen z. B. bei Kruse, der in seinem Beitrag „Altersfreundliche Umwelten: Beitrag der Technik“ zum einen die ökogerontologische Perspektive fokussiert und zum anderen eine Ausweitung von zuvor vorwiegend kompensatorischen Ansätzen auf eine „Erweiterung von Fähigkeiten und Fertigkeiten“ (Kruse 1994 S. 668) durch Technik betont, wodurch er einer „Verkürzung der Rolle von Technik“ (Wahl et al. 2010a, S. 17) entgegnet und die Möglichkeit „neue Erlebens- und Erfahrungsbereiche, kurz Potenziale zu erschließen“ (ebd., S. 17) einbezieht. (3) Ab Mitte der 1990er Jahre werden in einer dritten Phase bereits alle wichtigen Forschungsthemen bearbeitet, wobei deutlich wird, dass „in allen Bereichen die Informations- und Kommunikationstechniken eine herausragende Rolle spielen“ (Pelizäus-Hoffmeister 2013, S. 93). Durch den technischen Fortschritt und die damit verbundene Erweiterung des Möglichkeits- und Gestaltungsspielraumes auch für ältere Personen, zeigt sich im Zuge dessen ein weiterer Ausbau der multi- und interdiszi plinären Forschungslinien, sodass die daraus resultierende Bandbreite (auch in den jeweiligen Teilgebieten) kaum eine Schwerpunktsetzung zulässt. Dabei gewinnt auch die Betriebswirtschaftslehre und die Frage der Vermarktungsmöglichkeiten an Bedeutung (ebd., S. 80 f.). In Rückbindung an Ikonen et al. (2002) und Krämer (2000)
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weist Pelizäus-Hoffmeister (2013) auf die programmatische Einforderung von individuellen, sozialen und ethischen Aspekten bei der Entwicklung technischer Geräte hin, konstatiert abschließend jedoch, dass trotz alledem weiterhin die technikwissenschaftlichen Perspektiven überwiegen (ebd., S. 81). (4) Die vierte Phase (ab 2000) ist durch eine zunehmende internationale Zusammenarbeit und eine stärker werdende Differenzierung und Strukturierung der einzelnen Teilgebiete gekennzeichnet (ebd., S. 82). Design for All bzw. das Universal Design, das bereits von den Gründer/-innen der Gerontotechnik in den Blick genommen wird, gewinnt in dieser Phase an Bedeutung. Es besagt, dass die technischen Geräte zur Erleichterung der täglichen Herausforderungen allen, nicht nur älteren Menschen, dienen sollen (ebd., S. 83). Dennoch rücken durch den steigenden Pflegebedarf und die gestiegene Anzahl der Menschen mit Demenz auch die Themenbereiche Gesundheit und Pflege in den Vordergrund (ebd., S. 95). Deutlich wird dies insbesondere durch diverse Telecare-Konzepte (Telemedizin, Tele-Monitoring) (ebd., S. 84), die Weiterentwicklung von Assistenztechniken (Rollstühle, Sauerstoffgeräte etc.) und die vermehrten Anwendungen im Bereich von Robotik, die besonders durch japanische Roboterentwickler/-innen eingebracht werden. Darüber hinaus erfahren Felder wie Smart Homes, Informations- und Kommunikationstechniken, Technik am Arbeitsplatz und Mobilität auf breiter Ebene Bedeutungszuwachs (ebd., S. 86 ff.). Für Deutschland haben Jokisch und Wahl (2016) einen Überblick über die Forschungslage seit 2005 erarbeitet und dabei folgende Forschungsfelder als besonders bedeutsam herausgestellt: Gesundheit, Autonomie und Soziale Teilhabe als repräsentative Hauptfelder sowie Pflege, Mobilität und Bildung. Dabei bearbeiten 75 % der erhobenen Forschungs- und Entwicklungsprojekte mehr als nur eines der Felder. Die Verknüpfungen aus den Feldern Autonomie und Gesundheit, Autonomie und Soziale Teilhabe sowie Gesundheit und Pflege kommen am häufigsten vor (ebd., S. 28) und belegen somit auch für Deutschland den von Pelizäus-Hoffmeister oben skizzierten internationalen Trend.
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Die Herausforderung einer (eingrenzenden) Begriffsklärung
Die skizzierte diskursive, dynamische, multi- und interdisziplinäre Entwicklungscharakteristik des Forschungsfeldes Alter und Technik ist bis heute prägend und verursacht die Herausforderung einer kaum einzugrenzenden oder umfassenden Definierbarkeit. Die Aufhebung der Begrenzung des Technikeinsatzes auf ältere Menschen (Design for All) und die fortschreitende Technisierung nahezu aller Bereiche der Gesellschaft erschweren zusätzlich eine trennscharfe Definition sowohl in Bezug auf die Teilgebiete als auch auf das Feld insgesamt. Da unter dem Wort Technik ganz allgemein sowohl technische Geräte als auch besondere Handlungs- oder Kunsttechniken verstanden werden können, besteht mit Ropohl (2009) die erste Eingrenzung zunächst darin, „immer dann, und nur dann, von ‚Technik‘ zu sprechen, wenn Ge-
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genstände von Menschen künstlich gemacht und für bestimmte Zwecke verwendet werden“ (ebd., S. 30). Diese erste allgemeine Definition schließt das breite Spektrum mechanischer, elektrischer oder elektronischer Geräte ein, selbst drahtlose Techniken haben im Sender und Empfänger eine gegenständliche Entsprechung. Unter ‚Technologie‘ hingegen versteht Ropohl (ebd., S. 31) die „Wissenschaft von Technik“, die den technischen Entwicklungen zugrunde liegt. Folgt man diesen Definitionen, sind anwendbare Techniken, die nicht auf ältere Menschen begrenzt sind, aber eben auch für sie Verwendung finden, mit der Begriffskombination Alter und Technik richtig umschrieben. Allerdings finden sich in der einschlägigen Literatur zum Thema Alter und Technik auch andere Begriffe wie z. B. jener der Gero-Technologie, der in Anlehnung an den jüngst erschienen Beitrag von Schmidt und Wahl (2019) synonym für ‚Alter und Technik‘ Verwendung findet.
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Technik als (eine) Lösungsstrategie – Kategorisierungen
Aufgrund der Komplexität des Feldes ist ein vollständiger Gesamtüberblick in diesem Beitrag ebenso unmöglich (vgl. dazu auch DGGG 2016, S. 4) wie die vollständige Aufzählung der technischen Möglichkeiten in Bezug auf ihre Anwendung. Jedoch sollen im Folgenden verschiedene Kategorisierungen vorgestellt und an Beispielen exemplarisch skizziert werden. In Anlehnung an Klein (2010) liegt der Fokus dabei auf dem Sozial- und Gesundheitswesen. 1) Informations- und Kommunikationstechnologien umfassen alle Techniken, die Informationen erstellen, archivieren und vernetzt kommunizieren (ebd., S. 279). 2) Gebäudeautomatisation und Ambient Assisted Living (AAL): Erstere sind Techniken „zur Überwachung, Steuerung, Regelung und Optimierung von Gebäuden, die nach Möglichkeit über ein zentrales System gesteuert werden“ (ebd.) und letztere „altersgerechte Assistenzsysteme für ein gesundes und unabhängiges Altern“ (ebd.; vgl. auch die Definition des BMBF von 2016). 3) Robotik: Dies ist eine weitere Klassifizierung, die gerade im Sozial- und Gesundheitswesen in Form von Servicerobotern und Personal Robots eine Rolle spielt. „Ein Serviceroboter ist eine frei programmierbare Bewegungseinrichtung, die teil- oder vollautomatisch Dienstleistungen verrichtet“ (Schraft 2007, S. 120 zit. n. Klein 2010, S. 280; vgl. hierzu auch die differenzierte Darstellung von Biniok und Lettkemann 2017, S. 7 f.). Tabelle 1 zeigt die Einsatzbereiche neuer Technologien, für deren Einteilung Klein (2010) wiederum eine Einteilung von Zhiwei aus dem Jahr 2008 (ebd., S. 280) übernimmt. Sie erweitert die dort aufgeführten Kategorien (Prävention, Rehabilitation, Unterstützung für ein autonomes Leben und Unterstützung für Pflegende) aber um
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Tabelle 1 Einsatzbereiche neuer Technologien Einsatzgebiete
IuK-Technologien
Smart Home/Gebäude automation
Roboter
Prävention
Telemonitoring; Information und Beratung über Internet
Barrierefreie Umgebung, Sicherheitstechnologien, Notruf (über Taste, Armband), Sturzsensoren etc.
Haushaltshilfen wie Saugroboter; GangTrainingsgeräte etc.
Rehabilitation
Teletraining z. B. nach Schlaganfall
Sensorteppichboden, der Stürze erkennt und (automatisch) einen Notruf auslösen kann
Trainingsgeräte für physiomotorische Erkrankungen, Exoskelett etc.
Unterstützung von Pflegebedürftigen (und Angehörigen)
Internet, MonitoringFunktionen, Foren zur Unterstützung z. B. von Selbsthilfegruppen
Zugangskontrollen z. B. für Menschen mit demenziellen Erkrankungen etc.
Care-O-bot zur Unterstützung der Mobilität, z. B. für Hol- und Bringdienste
Beschäftigung/ Edutainment
Gedächtnisspiele, Netzwerk-Spiele; Foren etc.
Räume, die sich einzelnen Benutzerprofilen anpassen
Roboter zum Spielen und therapeutischen Einsatz: z. B. therapeutische Robbe
Unterstützung des Pflegepersonals
Telemonitoring/Tele care-Anwendungen
Zugangskontrollen/ Weglaufsperren z. B. für demenziell erkrankte Menschen; Einsatz der Lichttechnik bei best. Krankheitsbildern
Hol- und Bringdienste, Exoskelett zur Unterstützung beim Heben und Transfer
Quelle: Eigene Darstellung nach Klein 2010, S. 281 f. ©
die Kategorien Beschäftigung/Edutainment und Unterstützung des Pflegepersonals (ebd., S. 281 f.). Einen anderen Ansatz zur Kategorisierung wählen Schulz et al. 2014, die eine Systematisierung mit dem Fokus auf die Lebensqualität vornehmen. Wie in Abbildung 1 deutlich wird, systematisieren sie insbesondere jene Technik, die die Person und ihre Alltagskompetenz positiv beeinflusst bzw. eine solche Wirkung intendiert und ggf. auch präventiven Charakter hat. Aufgrund der wachsenden technischen Möglichkeiten durch die sog. digitale Revolution prägen sie dabei den Begriff Quality of Life Technologies. Dazu zählen dann auch hervorgehoben Geräte zur Unterhaltung, zur geistigen Stimulation oder der sozialen Einbindung. Dementsprechend betont die Quality of Life Technology eine erweiterte Definition von Technik gegenüber einer rein kompensatorischen Bedeutung und umfasst damit „gesellschaftlich relevante Kernthemen wie Gesundheit, Autonomie, Funktionsfähigkeit und Wohlbefinden“ (Schmidt 2015, S. 19). Dazu gehören auch technische Systeme, die Betreuende und Pflegende entlasten, unterstützen oder zur Versorgung befähigen. Die einzelnen Kategorien schließen sich dabei gegenseitig nicht aus.
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Abbildung 1 Themenfelder für Technikanwendungen
Physische & Psychische Gesundheit (physical and mental health)
Alltagsaktivitäten/Freizeit (everyday activities and leisure)
Mobilität (mobility) Themenfelder für Technikanwedungen
Sicherheit (safety)
Soziale Teilhabe/ Teilgabe (social connectedness)
Quelle: Eigene Darstellung nach Schulz et al. 2014, S. 726 ©
Eine dritte Möglichkeit der Kategorisierung ergibt sich aus dem Abschlussbericht zu „Nutzen und Finanzierung technischer Assistenzsysteme aus Sicht der Pflegeversicherung und weiterer Akteure der Verantwortungsgemeinschaft am Beispiel der Quartiersvernetzung“ (Weiß et al. 2017). Hier werden Haustechnik (Smart Home), Multimedia (Internet der Dinge) und E-Health-Systeme als Innovationstreiber benannt. Es wird eine Systematisierung anhand des 2017 eingeführten Pflegebedürftigkeitsbegriffs erstellt. Dieser Ansatz legt den Fokus auf den Nutzen der Technik für die Selbstständigkeit und benennt mit Mobilität und Bewegung, Kognition und Kommunikation, Selbstversorgung, krankheitsbedingte Anforderungen und Belastungen, Alltagsleben und soziale Kontakte sowie Haushaltsführung eine weitere mögliche Kategorisierung technischer Assistenzsysteme.
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Viele Entwicklungen, wenig Akzeptanz ?
Wenngleich sich das Möglichkeitsspektrum durch technische Entwicklung stetig ausweitet, so sind doch insbesondere Entwicklungen aus den sog. Modellprojekten oft nicht in eine Regelversorgung übergegangen (Heinze 2018, S. 24). Das liegt zum einen daran, dass ältere Menschen sich zunächst ohne technische Systeme „mit den einfachsten ‚Mitteln‘ an sich verändernde Lebensbedingungen“ (Birken et al. 2018, S. 21) anpassen. Es werden z. B. Möbel so geschickt platziert, dass keine Gehhilfe notwendig wird (ebd.). Zum anderen befürchten potenzielle Nutzer/-innen bspw. „den Verlust ‚echter‘ sozialer Beziehungen, […] neue Abhängigkeiten […] oder auch Überwachung“ (Künemund und Fachinger 2018, S. 9; vgl. auch Künemund und Tanschus 2013). Die Komplexität der Anwendungsmöglichkeiten und die z. T. nicht erreichte „‚Unsichtbarkeit‘ von allen technischen Geräten“ (Pelizäus-Hoffmeister 2013, S. 317) können eine Umweltüberforderung oder Ablehnung zur Folge haben. Heinze (2018, S. 24) konstatiert, dass darüber hinaus für die Techniknutzung „sozialstrukturelle Indikatoren wie Einkommen und Bildung“ relevant sind und auch Birken et al. (2018, S. 1) betonen, dass die Entwicklungen immer noch technologiegetrieben sind und aufgrund dessen partizipative Forschungsdesigns zur Erfassung einer realen „Analyse der alltäglichen Lebensführung“ unterstützt werden müssen. Im Hinblick auf die „Schnittstelle Gesellschaft-Technik-Person“ (Kricheldorff et al. 2017, S. 9) wird besonders deutlich, dass sowohl partizipative Forschungsvorhaben als auch mögliche Anwendungen von sozialwissenschaftlichen und ethischen Implikationen begleitet sind. Folglich müssen diese in einem prozessbegleitenden, ethischen Dialog (Kricheldorff und Tonello 2016) und in Entscheidungsprozessen aufgegriffen werden. Dafür sind im Forschungs- und Anwendungsfeld Alter und Technik bereits Instrumente und Fragenkataloge entwickelt worden: u. a. Materia (Quinn et al. 2015), MEESTAR (Manzeschke et al. 2013), IDA (Kricheldorff und Tonello 2016). Nichtsdestotrotz ist Künemund und Fachinger (2018, S. 10) beizupflichten, dass „um die negativen Aspekte zu minimieren und die positiven zu stärken […] eine ganze Reihe von Rahmenbedingungen gegeben“ und Selbstbestimmung und Datenschutz gewährleistet sein müssen.
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Ausblick und Schlussbemerkung
Der oben beschriebene Prozess der Ausdifferenzierung und der stärkeren Einbindung von sozialwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Perspektiven, aber auch von solchen außerhalb der Wissenschaft, ist längst nicht zu Ende. So reichen die Expertisen zum Siebten Altenbericht 2017 bereits von technischen Systemen im Pflege- und Versorgungsmix für ältere Menschen über die Nutzerakzeptanz, die Frage von Möglichkeiten und Sinnhaftigkeit, die ethischen Implikationen bis hin zur Frage ‚Was tut die Wohnungswirtschaft ?‘. Darüber hinaus wird nicht mehr nur über einen
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Technikeinsatz außerhalb des Menschen diskutiert. Zwar sind technische Geräte zur Erhaltung der Vitalfunktionen (z. B. Herzschrittmacher) in der medizinischen Behandlung längst Standard. Doch nun sehen etwa Kruse und Wahl (2010) in ihren Überlegungen zu Möglichkeiten von Technik auch und gerade in Bezug auf kogni tive Alternsverluste neues Entwicklungspotenzial: „Es wird wohl die Zeit kommen, in der wir alle selbstverständlich Technik nutzen, um manche altersbezogenen Verluste, nicht zuletzt im Bereich der kognitiven Funktionen, auszugleichen.“ (ebd., S. 138). Dass die Chancen, Risiken und Auswirkungen des tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformationsprozesses im Bereich Technisierung und Digitalisierung für ältere Menschen in den Fokus geraten, wird auch daran deutlich, dass die Achte Altenberichtskommission der Bundesregierung zum Thema ‚Ältere Menschen und Digitalisierung‘ arbeitet (BMFSFJ 2018a; vgl. auch Schulz-Nieswandt i. d. B.). Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass die oben angedeuteten weitreichenden Folgen des Technikeinsatzes zur Mitgestaltung dieser dynamischen Entwicklung aufrufen. So konstatiert Remmers (2016) in seiner Expertise zum Siebten Altenbericht: „Sollten assistierende Technologien in größerem Ausmaße einseitigen Rationalisierungszwecken (vorrangig Einsparung durch Personal) dienen, so könnte eine Kultur der Fürsorge, der emotionalen Zuwendung Schaden nehmen und könnten sich Trends einer sich schon jetzt partiell abzeichnenden Mechanisierung des Caring, eines Prozesses institutionellen Erkaltens durchsetzen.“ (ebd., S. 11; vgl. auch Remmers et al. 2014)
Ausgewählte Literatur Pelizäus-Hoffmeister, Helga. 2013. Zur Bedeutung von Technik im Alltag Älterer. Theorien und Empirie aus soziologischer Perspektive. Hrsg. Backes, Gertrud M., und Wolfgang Clemens. Wiesbaden: Springer VS. Kricheldorff, Cornelia, und Lucia Tonello. 2016. IDA. Das interdisziplinäre Dialoginstrument zum Technikeinsatz im Alter. Lengerich: Pabst Science Publishers. Künemund, Harald, und Uwe Fachinger. Hrsg. 2018. Alter und Technik. Sozialwissenschaftliche Befunde und Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS.
Freizeit im Alter Franz Kolland und Vera Gallistl
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Einleitung
In den 1970er Jahren wurde als Folge der gesellschaftlichen Reformbewegungen in Nordamerika und in Europa das Potenzial der Freizeit in der Lebensphase Alter entdeckt. Darüber hinaus hat die Ausdehnung der nicht erwerbsgebundenen Zeit die Forschungen zur Verwendung und Gestaltung der Freizeit stimuliert. In der Freizeit wurden in der Folge Möglichkeiten selbstbestimmten Handelns, der Chancengleichheit und der Lebensqualität geortet (vgl. Popp 2006). Dieser Bedeutungszugewinn von Freizeit in der Gesellschaft lässt sich auch in verschiedenen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit nachzeichnen. Ob dies nun freizeitbezogene Angebote in der Jugendarbeit betrifft (z. B. Jugendzentren) oder Angebote in der Altenarbeit (z. B. Altentagesstätten oder Tageszentren, vgl. Aner in Kap. I.1 sowie Karl und Kolland i. d. B.). Sie alle verweisen auf eine Ausdehnung sozialarbeiterischen Handelns. Wesentlich für diese neu entstandene Freizeitsozialarbeit (Opaschowski 1996) sind Aspekte wie selbst gewählte und aktive Zeitgestaltung, Prävention im Zusammenhang mit Erkrankungen im Alter (z. B. Gedächtnistraining oder Fitness) und soziale Inklusion. In den letzten Jahrzehnten hat die Freizeitindustrie die Zielgruppe der Senior/-innen zunehmend in den Blick genommen (Brinkmann 2015). Sie werden verstärkt mit Reise-, Bewegungs- und Kulturangeboten angesprochen. Freizeit wird deswegen als Lebensbereich des Konsums untersucht (Twigg und Martin 2014).
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Methoden der Freizeitforschung
Mit dem Bedeutungszugewinn von freizeitorientierten Programmen in der Sozialen Arbeit stellt sich auch die Frage nach den Methoden ihrer Beforschung. Welche so zialwissenschaftlichen Methoden werden zur Messung des Freizeitverhaltens verwen© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_41
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det ? Zwei Datenerhebungstechniken dominieren die Forschung zum Freizeitverhalten älterer Menschen. Diese sind Aktivitäts- und Zeitbudgeterhebungen. Außerdem ist in den letzten Jahren eine ansteigende Verbreitung von Online-Erhebungsmethoden und eine Ausdifferenzierung qualitativer Methoden zu beobachten. Die am häufigsten verwendete Methode der Freizeitforschung bezieht sich auf die Erhebung von Aktivitäten in Listen. Abgefragt werden verschiedene Aktivitäten in einem bestimmten Zeitintervall. Versuche, die in der Regel sehr langen Listen von Freizeitaktivitäten zu Gruppen bzw. Dimensionen zusammenzufassen, sind bislang wenig ausgereift. So geschieht eine Zusammenfassung erst nach der Datenerhebung, wobei dann beispielsweise zwischen Outdoor- und Indoor-Aktivitäten, zwischen aktiver und passiver Freizeit, oder nach Lebensstilmustern der Befragten unterschieden wird. Diese Einteilung erfolgt häufig auf Basis des empirischen Materials und ist wenig theoriegeleitet. Eine andere Methodik sind Zeitbudgeterhebungen. Anhand von Tagebuchaufzeichnungen wird das Freizeitverhalten rekonstruiert. Diese Untersuchungen werden vorrangig von nationalen Statistikbüros durchgeführt und umfassen die Gesamtpopulation. Sie sind ein Weg, durch Informationen über Art, Dauer und Verlauf der Zeitverwendung ein Bild der Alltagsgestaltung zu liefern. Die Ergebnisse von Zeitbudgeterhebungen geben einen Eindruck davon, wie Menschen die Ressource Zeit zur Gestaltung der individuellen Entwicklung und Daseinsvorsorge einsetzen. Zeitbudgetstudien sind nicht unumstritten. Ihre Qualität hängt davon ab, wie fein zwischen verschiedenen Zeitsegmenten und Aktivitäten unterschieden wird. Es ist wenig sinnvoll, nach der zeitlichen Aufteilung zwischen Arbeit und Freizeit zu fragen, weil mit solchen Klassifikationen zu viel Information verloren geht und die diesbezüglichen Zuordnungen nach Maßgabe von individuellen Einschätzungen variieren können. Überdies kann mit einem zu engen Kategorienraster die Zeitverwendung verschiedener Gruppen, die sich nicht in eine solche Dichotomie pressen lassen, nur ungenügend erfasst werden. Schwerwiegender als diese Kritik sind Einwände gegen die inhaltliche Aussagekraft von Zeitbudgetstudien. So wird etwa kritisiert, dass reine Zeitangaben für bestimmte Aktivitäten keine Aussagen über deren Bedeutung und Bewertung durch die Akteure zulassen. Simovici (1984) fand in einer Studie zum Freizeitverhalten in den 1980er Jahren heraus, dass 50 % der Befragten Lesen als eine Alltagsbeschäftigung einstuften und lediglich 5 % als Freizeitaktivität. Zudem wird die Frage nach den Ursachen unterschiedlicher Zeitbudgets kaum je systematisch untersucht. Kontextuelle und sozio-strukturelle Merkmale werden häufig ungenügend erhoben, sodass keine exakten Aussagen über die Ursachen unterschiedlicher Zeitverwendungen möglich sind. Die Messungen von Aktivitäten bzw. Zeitbudgetstudien geben zwar Aufschluss über das Ausmaß gesellschaftlicher Beteiligung und die Struktur im Tages- und Wochenrhythmus, aber sie geben keinen Aufschluss über die interindividuellen Schwankungsbreiten, die sich in bestimmten Freizeitstilen niederschlagen (vgl. hierzu auch Karl und Kolland i. d. B.). Solche Aufschlüsse können nur gewonnen werden, wenn
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ergänzend qualitative Erhebungen gemacht werden, die auch subjektive Dimensionen abdecken. Neuere qualitative Forschungen untersuchen die subjektive Bedeutung und das Verständnis von Freizeit unterschiedlicher sozialer Gruppen (z. B. Annear et al. 2014). Studien untersuchen hier, mit welchen Zielsetzungen, Motiven und Erwartungshaltungen ältere Menschen ihre Freizeit gestalten. Breheny und Stephens (2017) zeigen, dass die Erwartung, ein aktives und produktives Alter zu leben in der Freizeitgestaltung im Alter eine zentrale Rolle spielt. Sie rekonstruieren anhand von qualitativen Interviews zwei Verständnisse von Freizeit: Freizeit als produktive Zeit und als persönliche Zeit. Einen anderen Zugang in diesem Forschungsparadigma wählen Studien, die visuelle Methoden zur Erforschung der Freizeit im Alter anwenden. Diese Studien verwenden Fotografien, die ältere Menschen in ihrer Freizeit selbst anfertigen. Einerseits sind diese Fotografien Ausgangspunkt für Interviews (sog. Fotointerviews/ photo elicitation) und andererseits werden die Bilder selbst analysiert. Mit diesen Methoden können komplexe und wechselseitige Beziehungen zwischen der räumlichen Umwelt älterer Menschen und ihrer Freizeitgestaltung differenziert untersucht werden (Annear et al. 2014). Ein Zukunftsfeld in den Methoden der Freizeitforschung sind Online-Erhebungen. So werden klassische Erhebungsmethoden, wie Zeitverwendungsstudien oder die Erhebung von Aktivitäten in Onlineformate transformiert. Untersucht werden kann auf diese Weise, ob und inwiefern Online-Aktivitäten bisherige Freizeitaktivitäten ersetzen oder erweitern (Nimrod 2017). Einen weiteren Zugang stellen Netnografien dar. Diese sind von der Ethnografie inspiriert und werden vor allem dazu verwendet, die Nutzung sozialer Medien zu untersuchen (Kozinets 2015; Berdychevsky und Nimrod 2017). Dabei werden Postings in sozialen Medien und Blogs dokumentiert und mit qualitativen Auswertungsmethoden, wie z. B. der Grounded Theory, bearbeitet. Diese Zugänge geben Aufschlüsse über ein sich neu entwickelndes Feld der E-Leisure und fragen danach, wie sich die Freizeitgestaltung älterer Menschen durch die Digitalisierung der Gesellschaft verändert. Online-Methoden sind allerdings nicht unumstritten. So kann ihre Verwendung dazu führen, dass nur jene Personen an den Erhebungen teilnehmen, die über einen Zugang zu digitalen Medien verfügen. Damit sind manche Zielgruppen der Sozialen Arbeit ausgeschlossen.
3
Empirische Befunde zum Freizeitverhalten
Die Einbindung in Freizeitaktivitäten trägt zu einem positiven Erleben des eigenen Alters bei. Seit den 1960er Jahren beschäftigt sich die Forschung intensiv mit Aktivitätsmustern älterer Menschen und deren Beitrag zum physischen, psychischen und sozialen Wohlbefinden (Gibson und Singleton 2012). Je stärker die Einbindung in Freizeitaktivitäten ist, desto höher ist das subjektive Wohlbefinden von älteren Menschen (Nimrod und Shira 2014). Mit ansteigendem Lebensalter verstärkt sich die-
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ser Zusammenhang sogar. Übersichtsstudien belegen die positive Wirkung kreativer und kultureller Aktivitäten auf die Lebensqualität im Alter (Fraser et al. 2015). Wer seine Freizeit aktiv gestaltet, hat auch ein geringeres Risiko an Demenz zu erkranken (Fallahpour et al. 2016). Es zeigt sich allerdings ein moderierender Effekt von sozioökonomischen Variablen. Besonders jene Personen, die am stärksten von einer aktiven Freizeitgestaltung profitieren können, sind gleichzeitig jene, die die meisten Barrieren bei ihren Freizeitaktivitäten erleben (Nimrod und Shira 2014). Empirische Daten zum Freizeitverhalten verweisen zunächst darauf, dass ein Großteil der Freizeitaktivitäten alterskorreliert ist, d. h. je älter jemand ist, desto geringer ist das durchschnittliche Niveau der allgemeinen Ausübung von Freizeitaktivitäten. Mayer und Wagner (1996) fanden in der Berliner Altersstudie einen deutlichen statistischen Zusammenhang zwischen diesen beiden Faktoren. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen in einer Vier-Länder-Studie mit zwei Messzeitpunkten Mollenkopf und Ruoppila (2000). Auch in dieser Untersuchung ging mit höherem Alter die Beteiligung an Freizeitaktivitäten zurück. Doch dieser Zusammenhang, der allein auf Alter und Aktivität beruht, verdeckt sowohl die verschiedenen sozio-ökonomischen Faktoren, die moderierend wirken, als auch die beträchtliche Variabilität innerhalb des Freizeitverhaltens. So stehen beispielsweise das Interesse an kulturellen Veranstaltungen (Theater, Konzert) und die Häufigkeit der Besuche von Museen und Ausstellungen pro Jahr in einem deutlichen Zusammenhang mit dem sozialen Status. Kulturelle Aktivitäten zeigen sich verglichen mit anderen Freizeitaktivitäten als am stärksten stratifiziert nach Schulbildung (Scherger et al. 2011). Je höher die Schulbildung, desto häufiger die Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen. Das trifft allerdings nicht auf alle Aktivitäten zu. Bei Medienkonsum, Bewegungsaktivitäten mit niedriger Zugangsschwelle (z. B. Spazierengehen) und bei religiösen Aktivitäten sind sowohl geringe Unterschiede nach dem Lebensalter als auch nach sozialem Status gegeben (Strain et al. 2002). Ein weiterer Aspekt, der als entscheidend für Freizeitaktivitäten eingeschätzt wird, ist Gesundheit. Dabei geht es nicht nur um den objektiven Gesundheitszustand, sondern auch um das subjektive Gesundheitsempfinden. Eine als gut eingeschätzte Gesundheit wirkt als eine Art Aktivierungsmittel, welche zu mehr Aktivitäten führt. Erwartungsgemäß hat eine gute subjektive Gesundheit vor allem Auswirkungen auf Aktivitäten, die physische Anstrengungen oder Mobilität verlangen. Schweizer Daten (Höpflinger und Stuckelberger 1999) zeigen: Wer seine Gesundheit besser einschätzt, übt häufiger Aktivitäten im Garten aus, macht mehr Sport, geht häufiger ins Theater oder in Konzerte und macht mehr Ausflüge und Reisen. Unterstützt werden diese Befunde durch die English Longitudinal Study of Ageing (ELSA), die ebenfalls zu dem Ergebnis kommt, dass Gesundheit und Freizeitgestaltung zusammenhängen (Jivraj et al. 2015). Auf Basis einer schwedischen Längsschnittstudie (Umea 85+) für hochaltrige Personen zeigen Silverstein und Parker (2002), dass eine Verstärkung von Freizeitaktivitäten als adaptive Strategie gesehen werden kann, um soziale und physische
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Defizite zu kompensieren. Dieser Effekt ist besonders stark für hochaltrige verwitwete Männer gegeben, die wenig Kontakt zu Familienangehörigen aufweisen und gesundheitlich eingeschränkt sind. Allerdings gilt nicht allgemein, dass ein höheres Aktivitätsniveau besser ist. Insgesamt finden sich deutliche Unterschiede in der Freizeitgestaltung nach Geschlecht (Iso-Ahola 1994). Dass Frauen und Männer Freizeit unterschiedlich leben und gestalten und unterschiedliche Formen der Freizeitgestaltung attraktiv finden, sind Aspekte, die für die Soziale Arbeit im Alter relevant sind. Frauen geben Freizeitaktivitäten und Freizeitinteressen eher auf, wenn diese mit anderen Anforderungen, wie Betreuungsaufgaben kollidieren (Kelly 1983). Dazu kommen Einstellungsunterschiede, und zwar dahingehend, dass Frauen eher das Gefühl haben, kein Recht auf Freizeit zu haben und ihre Freizeitbedürfnisse hinter Bedürfnisse ihrer Angehörigen zurückstellen zu müssen (Riddick 1993). Ergebnisse von Längsschnittstudien zum Freizeitverhalten verweisen auf persis tierende soziale Ungleichheit über den Lebenslauf (Scherger et al. 2011). Die Autor/-innen untersuchen auf Basis der English Longitudinal Study of Ageing die Häufigkeiten, mit der ältere Menschen angeben, ein Hobby zu haben, zu einem Club zu gehören oder an kulturellen Veranstaltungen teilzunehmen. Freizeitaktivitäten folgen – so die Daten – über alle sozioökonomischen Gruppen dem Muster der Kontinuität: Jene Aktivitäten, die vor der Pensionierung die Freizeit bestimmt haben, sind auch jene Aktivitäten, die nach der Pensionierung ausgeübt werden. Trotz geringer Effektstärken unterscheiden sich diese Muster allerdings für die verschiedenen sozioökonomischen Gruppen. Für Personen mit höherem sozio-ökonomischem Status ist es wahrscheinlicher, ein neues Hobby zu beginnen oder ein bestehendes zu intensivieren als für Personen mit niedrigem sozio-ökonomischem Status. Ähnliche Ergebnisse finden sich im Deutschen Alterssurvey (DEAS). Dieser zeigt für verschiedene Erhebungszeitpunkte (1996, 2002, 2008), dass Personen mit höherer Bildung und gehobenen Berufen eine höhere Wahrscheinlichkeit aufweisen, sich kontinuierlich an nachberuflicher Bildung zu beteiligen und sich ehrenamtlich zu engagieren. Der sozio-ökonomische Status beeinflusst damit nicht nur altersbedingte Veränderungen im Freizeitverhalten, sondern auch, wo und wie lange ein aktives Freizeitverhalten möglich ist (Simonson et al. 2013). Eine Möglichkeit, Freizeitaktivitäten und Freizeitzufriedenheit im Vergleich von Kohorten bzw. Generationen darzustellen, bietet das Sozioökonomische Panel (SOEP). Hier wurden verschiedene Alterskohorten zu mehreren Messzeitpunkten befragt (Jahrgänge 1911 – 1925 und 1926 – 1935 in den Befragungswellen 1984 und 2005). In der Erhebung 2005 zeigte sich, dass zu den häufigsten Freizeitaktivitäten das Zusammensein mit Familie und Freund/-innen zählt. Danach folgen Nachbarschafts hilfe, Sportaktivitäten, der Besuch von kulturellen Veranstaltungen und die Ausübung eines Ehrenamts. Hinsichtlich des Besuchs kultureller Veranstaltungen zeigt sich im Vergleich der Befragungszeitpunkte ein Rückgang bei der älteren Kohorte; bei der jüngeren Kohorte lässt sich kein Trend feststellen. Beim Besuch von Kino, Tanz- und Sportveranstaltungen erkennt man sowohl im Vergleich verschiedener Kohorten als
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auch innerhalb einer Kohorte einen Rückgang mit dem Alter. In der ehrenamtlichen Tätigkeit ist ebenfalls im Vergleich der Kohorten ein Rückgang bei der älteren Alterskohorte feststellbar, in der jüngeren Alterskohorte lässt sich kein Trend feststellen. Bei beiden Alterskohorten kommt es ab 1992 zu einem Rückgang der Gruppe derer, die Nachbarschaftshilfe leisten. Bei der jüngeren Kohorte gibt es zu allen Befragungszeitpunkten mehr Personen, die ihren Nachbarn helfen.
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Freizeitverhalten im Alter und Digitalisierung
Die Neuen Medien, die zu einer Online-Freizeit, sog. E-Leisure (Nimrod und Adoni 2012) geführt haben, sind ein neues Forschungsfeld im Bereich des Freizeitverhaltens älterer Menschen. Die Nutzung von Informations- und Kommunikationstechno logien (IKT) gehört für breite Bevölkerungsgruppen im Dritten Alter (60 – 80 Jahre) zu einem selbstverständlichen Teil der Freizeitgestaltung. Allerdings zeigen die Forschungsergebnisse, dass weiterhin eine digitale Spaltung zwischen älteren und jüngeren Menschen besteht. In der CiLL-Studie (Competencies in Later Life) gaben drei Viertel der über 75-Jährigen an, überhaupt keine Erfahrung mit Computern zu haben (Schmidt-Hertha 2014). Dies spricht einerseits für unzureichende Technik erfahrungen älterer Menschen über den Lebenslauf, andererseits zeigen die Ergebnisse der PIAAC (Programme for the International Assessment of Adult Competencies), dass Kompetenzen im Kontext neuer Technologien in den höheren Altersgruppen geringer sind (Kolland et al. 2014). In der Befragung von 66- bis 80-Jährigen in Deutschland wurden die Kompetenzen im Kontext neuer Technologien von älteren Menschen getestet. Bei dieser Testung konnte maximal die Kompetenzstufe Drei erreicht werden. Niemand der Befragten schaffte es, dieses Kompetenzniveau zu erreichen. 11 % erreichten die Kompetenzstufe Zwei (Schmidt-Hertha 2014). Der Zusammenhang zwischen der Nutzung neuer Technologien und einem positiven Alterserleben ist von der Forschung nicht eindeutig geklärt. Unklar ist nach wie vor, ob unterschiedliche Funktionen des Internets, unterschiedliche Nutzungsmotivationen oder unterschiedliche Nutzer/-innen einen Einfluss auf die Lebensqualität im Alter haben (Lifshitz et al. 2018). Während einige Übersichtsstudien eine positive Beziehung zwischen Internetnutzung und Wohlbefinden im Alter nachweisen können (Forsman und Nordmyr 2017), zeigen andere, dass es keinen oder sogar einen negativen Zusammenhang zwischen den beiden Variablen gibt. Matthews und Nazroo (2015) kommen zu dem Ergebnis, dass die Nutzung des Internets im Alter signifi kant mit dem Gefühl von Einsamkeit korreliert. Dies verlangt nach einer differenzierten Betrachtung der Potenziale des Internets hinsichtlich der Gestaltung eines positiven Alterns. Eine Möglichkeit der Differenzierung besteht darin, unterschiedliche Online-Aktivitäten in ihrer Wirkung zu untersuchen. So zeigen Übersichtsstudien positive Effekte des Spielens von Online-Spielen (Toril et al. 2014), während die Nutzung von
Freizeit im Alter
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sozialen Medien gemischte Ergebnisse in Hinsicht auf ihre Wirkung liefert. Werden sozio-ökonomische Merkmale mitberücksichtigt, dann zeigt sich, dass bewusste Online-Aktivitäten sich positiv auf das Wohlbefinden älterer Menschen auswirken, während beiläufig ausgeübte Aktivitäten (Informationsbeschaffung, Erledigungen) das nicht tun. Einen zweiten Ansatzpunkt zur Differenzierung stellt die Dauer der Internetnutzung dar. In einer Befragung von Internetnutzer/-innen in Österreich, Israel, den Niederlanden, Spanien und Kanada zeigt sich, dass es vor allem Personen mit niedrigem sozio-ökonomischen Status und schlechter Gesundheit sind, die die längste Internetnutzung am Vortag angeben (Gallistl und Nimrod 2019). Diese Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass ältere Personen mit niedrigem sozialen Status und gesundheitlichen Einschränkungen besonders viel Zeit online verbringen. Für die Soziale Arbeit ist dies ein Potenzial, da das Internet zur Erreichbarkeit marginalisierter älterer Zielgruppen genutzt werden kann.
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Schlussfolgerungen für die Soziale Arbeit
Was kann aus den Forschungsergebnissen für eine präventive Altenarbeit abgeleitet werden ? Bislang setzten gut gemeinte Aktivierungsprogramme bei individueller Kompetenzerhaltung und Kompetenzförderung an. Heute ist die Wirksamkeit solcher Interventionsansätze zumindest umstritten, und es steht zur Diskussion, inwieweit durch persönliche Anstrengungen Alternsprozesse verändert werden können. Einerseits bestehen Zweifel, dass mehr Aktivität zu stärkerer sozialer Interaktion führt, andererseits – und dies ist ein klassisches Dilemma sozialer Arbeit – können Aktivierungsprogramme für ausgewählte Zielgruppen genau die Abhängigkeit, Marginalisierung oder gar Stigmatisierung erzeugen und verstärken, deren Aufhebung sie anstreben. Präventive Altenarbeit sollte angesichts der Heterogenität der älteren Menschen Situationen schaffen, Gelegenheiten eröffnen und Kontakte ermöglichen, ohne sich des älteren Menschen zu bemächtigen. Die Digitalisierung der Freizeitwelt hat auch die Freizeitgestaltung alter Menschen erfasst. Dies gilt besonders für die jungen Alten. Die digitale Revolution beeinflusst ihre Lebenslagen und Lebenschancen. Forschungen zur Freizeit im Alter sind in dieser Hinsicht mit einer doppelten Herausforderung konfrontiert: Wie kann E-Exklusion vermieden werden und wie kann gleichzeitig eine selbstbestimmte und kritische Verwendung der neuen sozialen Medien gewährleistet werden ? Um diese Fragen beantworten zu können, braucht es sowohl gesellschaftspolitisch fundierte Theorieansätze als auch neue Praktiken Sozialer Arbeit. Weiter zu verfeinern sind die Forschungstechniken, um stärker am Alltagshandeln älterer Menschen ansetzen zu können. Die fortschreitende Integration qualitativer Forschungsmethoden stellt hier einen fruchtbaren Weg dar. Abgesehen von begrifflichen Unklarheiten, die eine systematische Analyse erschweren, orientiert sich
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Franz Kolland und Vera Gallistl
die aktuelle Forschung zu sehr an Begriffen wie Abwechslung, Unterhaltung, persönliche Entfaltung und Geselligkeit. Diese Begriffe sind einerseits zu wenig in einen theoretischen Zusammenhang eingebunden, andererseits sind sie zu allgemein für spezifische Anwendungsbereiche. Sie berücksichtigen außerdem zu wenig, wie sehr sich Menschen im Dritten und Vierten Lebensalter voneinander unterscheiden. Schon jetzt, und auch in Zukunft, wird es zudem eine stärkere Vermischung von Erwerbsarbeit, Freiwilligenarbeit, Pflegearbeit und Freizeit geben. Damit verwischen sich die Konturen, und es muss über neue Techniken und Instrumente der Datenerhebung nachgedacht werden, die der Diversität alltäglichen Handelns gerecht werden. Ausgegangen werden sollte von der Vorstellung eines multizentrischen Lebensmodells, d. h. „späte Freiheit“ (Rosenmayr 1983) realisiert sich nicht ausschließlich in der freien Zeit im Alter. Späte Freiheit schließt auch Engagement in Bürgerinitiativen und politische Beteiligung ein. Es geht primär um den Aspekt der Selbstbestimmtheit in den gewählten Aktivitäten.
Ausgewählte Literatur Gibson, Heather, und Jerome Singleton. 2012. Leisure and aging: Theory and practice. Champaign und Illinois: Human Kinetics. Popp, Reinhold. 2006. Zukunft: Freizeit: Wissenschaft. Münster: Lit. Rosenmayr, Leopold. 1983. Die späte Freiheit. Berlin: Severin & Siedler.
Partnerschaft und Sexualität im Alter Stephan Baas und Marina Schmitt
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Einleitung
Partnerschaft und Familie sind die dominierenden Formen sozialer Beziehungen im Alter – dies zeigen repräsentative Untersuchungen bzw. die amtliche Statistik. In einer soziologischen Perspektive werden dabei häufig Generationen- oder Austauschbeziehungen thematisiert (vgl. Mahne und Huxhold 2017), die Beziehung zwischen den (Ehe-)Partner/-innen bleibt in dieser Betrachtung allerdings häufig außen vor. Ausnahme sind Unterstützungsleistungen zwischen Ehepartner/-innen bei Pflege und gesundheitlichen Einschränkungen (vgl. Klaus und Tesch-Römer 2017). In der psychologischen Lebenslaufforschung werden vor allem Übergänge thematisiert – etwa derjenige in den beruflichen Ruhestand (vgl. Kruse 2014) oder in die Hochaltrigkeit (vgl. Schilling und Wahl 2014), nicht aber Entwicklungsverläufe von Partnerschaften. Auch die Theorie der Sozioemotionalen Selektivität (vgl. Carstensen und Lang 2007) misst zwar Kindern und Partner/-innen bedeutsame Rollen zu, analysiert aber nicht die Beziehungen zwischen (Ehe-)Partner/-innen. Soziale Beziehungen und damit auch diejenige zum/zur (Ehe-)Partner/-in besitzen zwar eine zentrale Bedeutung für Lebenslagen im Alter und wirken „auf die psychische Gesundheit und Kompetenz“ (Backes und Clemens 2013, S. 245). Dieser Einschätzung stehen in Bezug auf Partnerschaften im Alter aber Erkenntnislücken gegenüber. Vor diesem Hintergrund befasst sich dieser Beitrag im ersten Teil mit der Zahl der Partnerschaften im Alter, im zweiten Teil mit Partnerschaftszufriedenheit und Entwicklungsaufgaben und im dritten Teil mit der Sexualität älterer Menschen.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_42
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Stephan Baas und Marina Schmitt
Partnerschaften im Alter
Das Leben in einer Ehe ist nach wie vor die häufigste Lebensform von Personen vor allem im dritten Lebensalter. Hinweise finden sich insbesondere in der Analyse des Familienstandes älterer Menschen, allerdings mit Unterschieden zwischen Frauen und Männern (vgl. Statisches Bundesamt 2019). So sind im 7. Lebensjahrzehnt etwa drei Viertel der Männer und zwei Drittel der Frauen verheiratet, die durchschnittliche Ehedauer beträgt in der Altersgruppe 65 bis 85 Jahre 43 Ehejahre (Generali Deutschland AG 2017, S. 133). An der Schwelle zum sog. vierten Lebensalter ändert sich das Bild deutlich: Aufgrund unterschiedlicher Lebenserwartung und Heiratsalter sind Frauen in dieser Lebensphase deutlich häufiger als Männer verwitwet. Vereinfacht formuliert: Männer leben im Alter bis zu ihrem Tod überwiegend in einer Partnerschaft, nur ein kleinerer Teil von ihnen ist verwitwet. Frauen überleben ihre Ehemänner und leben bis zu ihrem Tod in Witwenschaft. Erst ab einem Alter von 85 Jahren und mehr sind auch über ein Drittel der Männer in dieser Altersgruppe verwitwet. Eine querschnittliche Analyse des Familienstands verdeckt mögliche Kohortenunterschiede. So finden sich in der aktuellen Analyse des Familienstandes insbesondere Personen in langjährigen Partnerschaften, die zwischen 1930 und 1950 geboren sind und eine historisch einzigartige Heiratsziffer bei vergleichsweise geringem Scheidungsrisiko aufweisen. In jüngeren, nach 1959 geborenen Altersgruppen, steigen insbesondere die Anteile geschiedener und lediger Personen. Nun schließen diese Familienstände eine nichteheliche Partnerschaft auch bei getrennten Haushalten nicht aus. Aus der Betrachtung der amtlichen Statistik folgen damit zwei weitere Erkenntnisse: Die Zahl aller Partnerschaften im Alter dürfte noch etwas höher liegen als es diese Perspektive vermuten lässt. So geht die Generali Altersstudie (ebd., S. 130) davon aus, dass von verwitweten und ledigen Personen (im Alter von 65 bis 85) jeder Zehnte eine/-n Partner/-in hat, von geschiedenen Personen jede/-r Fünfte. Zum zweiten gibt es Hinweise darauf, dass die Pluralisierung der Lebensformen auch im höheren Erwachsenenalter bereits erkennbar ist. So bescheinigt etwa der Deutsche Alterssurvey (Engstler und Klaus 2017) in einer Verknüpfung von Längs- und Querschnitt den heute älteren Kohorten durch die steigende Lebenserwartung insgesamt die Möglichkeit eines längeren Zusammenlebens. Dies zeigt sich in der Abnahme von verwitweten Personen in jüngeren Altersgruppen bzw. der Zunahme von verheirateten Personen in älteren Altersgruppen. Auf der anderen Seite lässt sich in jüngeren Altersgruppen bereits eine Verringerung des Anteils verheirateter Personen und eine Zunahme von geschiedenen Männern und Frauen feststellen (vgl. ebd., S. 205). Dies hat Auswirkungen auf die zukünftige Ausgestaltung von Lebensformen im höheren Erwachsenenalter: Bedingt durch eine abnehmende Heiratsneigung und Stabilität von Ehen werden zukünftig „von den jüngeren Jahrgängen weniger Menschen in der Lebensform der ersten Ehe ins Seniorenalter gelangen“ (ebd., S. 212). Zunehmen werden hingegen die Anteile von nicht verheirateten Personen oder denjenigen, die wieder verheiratet sind.
Partnerschaft und Sexualität im Alter
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Hingewiesen werden soll noch auf eine mögliche Zunahme von Singles im höheren Erwachsenenalter, also Personen, die unabhängig von der Haushaltsform nach eigener subjektiver Einschätzung keine feste Partnerschaft führen (vgl. Baas et al. 2008, S. 27). Es muss davon ausgegangen werden, dass vor allem in den geburtenstarken Jahrgängen der 1960er der Anteil von Singles infolge von Trennungen und Scheidungen auch nach langjährigen Beziehungen bzw. Ehen zunehmen wird, aber auch von Singles, die bereits im mittleren Erwachsenenalter als Single leben – und in der Folge auch im höheren Erwachsenenalter.
3
Partnerschaftszufriedenheit und Entwicklungsaufgaben
Der Zusammenhang zwischen Morbidität, Mortalität und Familienstand ist aufgrund der untersuchten Alterspannen, Todesursachen sowie der Differenzierung des Familienstandes nicht eindeutig geklärt. Es besteht jedoch Konsens, dass auch im Alter Personen in einer Partnerschaft eine geringere Mortalität aufweisen (RKI 2014, S. 170). Diese Zusammenhänge werden auf Selektions- und Protektionseffekte zurückgeführt: Psychisch und physisch gesündere Personen heiraten eher und verfügen über bessere Ressourcen und ein besseres Gesundheitsverhalten und haben weniger Stress (ebd., S. 169). Viele Untersuchungen betonen die Bedeutung der Partnerschaftsqualität für das psychische und physische Wohlbefinden (vgl. Brandstätter 2011; Carr et al. 2014; Brose und Zank 2019). Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden die Befunde zur Partnerschaftszufriedenheit dargestellt. 3.1
Partnerschaftszufriedenheit im Alter
Ältere Paare blicken meist auf eine lange gemeinsame Lebensgeschichte zurück, teilen gemeinsame Erfahrungen, wissen um ihre Stärken und Schwächen und haben bewährte Routinen im Umgang mit Herausforderungen entwickelt. Neunzig Prozent der älteren Paare sind nach Ergebnissen des Deutschen Alterssurvey mit ihrer Partnerschaft zufrieden (Nowossadeck und Engstler 2013, S. 10). Während sich keine Altersunterschiede zwischen über 70-Jährigen und 55- bis 69-Jährigen zeigen, bewerten ältere Frauen ihre Paarbeziehung seltener mit ‚sehr gut‘ als Männer. Zudem berichten ältere Paare und Frauen häufiger von Meinungsverschiedenheiten in der Partnerschaft (ebd., S. 11). Der Schluss von der Stabilität einer Partnerschaft auf deren Qualität ist nicht immer haltbar. Die Ehezufriedenheit kann im Verlauf einer Partnerschaft bzw. je nach Status im Familienzyklus deutliche Schwankungen ausweisen – unklar ist jedoch, wie diese Verläufe aussehen. In Querschnittuntersuchungen wurden drei mögliche Verlaufsformen identifiziert: 1) konstante Verläufe auf hohem, mittlerem oder niedrigem Niveau ohne Zusammenhang mit Ehedauer bzw. Familienzyklus, 2) kontinuierliche
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Verschlechterung über den Familienzyklus, die sich mit der Berentung des Mannes verstärkt, 3) ein u-förmiger Verlauf mit einem Höhepunkt zu Beginn, einem Absinken beim Übergang zur Elternschaft bis auf einen Tiefpunkt beim Älterwerden der Kinder und einem Wiederanstieg nach deren Auszug (Schmitt 2001, S. 31). Längsschnittlich konnte keiner dieser Verläufe bestätigt werden. Querschnittliche Befunde zum u-förmigen Verlauf können durch Kohorteneffekte oder Selektionseffekte erklärt werden: Unzufriedene Paare können sich im Partnerschaftsverlauf getrennt haben, eher zufriedene Paare verbleiben in der Partnerschaft, oder schwerwiegende eheliche Konflikte sind im höheren Alter rückläufig und die Kosten einer Trennung höher (Bookwala 2012). Ergebnisse von Längsschnittstudien zeigen einen Rückgang der Partnerschaftszufriedenheit in den ersten Jahren und ein Einpendeln auf einem geringeren Niveau sowie im hohen Alter einen leichten Wiederanstieg (Silverstein und Giarrusso 2010; Suitor et al. 2016, zit. nach Klaus und Mahne 2019). Ansätze, die sich mit den Voraussetzungen für hohe Partnerschaftszufriedenheit beschäftigen, lassen sich in zwei Forschungsstränge teilen (vgl. Schmitt 2001): Intrapersonalen Modellen zufolge beeinflussen Faktoren, die beide Partner/-innen in die Beziehung einbringen, wie z. B. sozioökonomische Aspekte oder Persönlichkeitseigenschaften, die Partnerschaftszufriedenheit. Allerdings zeigen hier Studien keine eindeutigen Ergebnisse (vgl. Schmitt und Weber 2004). Vielversprechender sind Ansätze, die sich mit Beziehungscharakteristika, wie Interaktions- und Kommunika tionsprozessen, als Prädiktoren für Ehezufriedenheit beschäftigen. Sie sind von hoher Bedeutung für Beziehungsqualität und -stabilität, nicht jedoch Anzahl und Inhalt von Konflikten (vgl. Gagliardi et al. 2015). Die dyadische Stressbewältigung (Bodenmann et al. 2011) bildet dabei eine wichtige Voraussetzung für eine hohe Partnerschaftszufriedenheit (Nussbeck et al. 2012). Landis et al. (2013) fanden bei älteren Ehepaaren Zusammenhänge zwischen dyadischen Copingstrategien und höherer Ehezufriedenheit. Die erlebte Unterstützung des Partners/der Partnerin trug dabei stärker zur Ehezufriedenheit bei als die eigene geleistete Unterstützung. Aus älteren Studien (Bodenmann und Widmer 2000) existieren jedoch Hinweise auf ein geringeres Vorkommen dyadischer Stressbewältigung bei älteren Ehepaaren aufgrund traditioneller Ehemodelle. Eine Überprüfung steht für heute älter werdende und ältere Paare noch aus. 3.2
Partnerschaftliche Entwicklungsaufgaben
Vor dem Hintergrund der Schwankungen der Partnerschaftszufriedenheit in der Paargeschichte stellt sich die Frage, welchen Herausforderungen sich Paare im Alter gegenübersehen. Bereits die Phase der „nachelterlichen Gefährtenschaft“ (Imhoff 1981) kann als eine Entwicklungsaufgabe für älter werdende Paare angesehen werden. Einerseits fallen durch den Auszug der Kinder Belastungen weg und die Ehezufriedenheit kann
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ansteigen. Andererseits steigt das Risiko des Scheiterns, wenn es dem Paar nach dem Auszug der Kinder nicht gelingt, die Partnerschaft neu zu bestimmen. „Dabei geht es um die Herstellung einer Balance von Intimität, Bezogenheit und Autonomie, von gegenseitiger Unterstützung und Solidarität und der (Weiter-)Entwicklung eigener und gemeinsamer Interessen bzw. Aktivitäten sowie auch das Aushandeln veränderter Machtstrukturen.“ (Schneewind und Grandegger 2005, S. 466)
Während der Übergang zur „nachelterlichen Gefährtenschaft“ eher von Frauen als Umorientierung im Lebenslauf und als mögliche Bestimmungsgröße von Alter gedeutet wird, ist für Männer der Übergang in den beruflichen Ruhestand in Bezug auf das Alter bedeutsamer (vgl. Backes und Clemens 2013, S. 138). Bei heute älteren Paaren besteht eine Herausforderung darin, dass der Mann mit dem Ausscheiden aus dem Beruf seine zentrale Rolle aufgibt. Mittlerweile wird aber auch das weibliche Altern immer stärker von Berufsausgliederungsprozessen bestimmt, was die (nicht immer konfliktfreie) Abstimmung der beiderseitigen Berufsaufgabe notwendig macht (vgl. Mètrailler 2018, S. 64). In jedem Fall stellt der Übergang in die nachberufliche Phase eine Herausforderung dar, die von beiden Partner/-innen Anpassungsleistungen verlangt. Die Zunahme gemeinsamer Zeit führt zu neuen Interaktionsmöglichkeiten und einer stärkeren Konzentration auf die Partnerschaft. Dies ist umso herausfordernder, wenn die Partner/-innen vorher kaum gemeinsame Aktivitäten hatten. Weiterhin gilt es, ein neues Gleichgewicht zwischen Abstand und Intimität zu verhandeln. Es kann auch zu einer Wiederaufnahme ungeklärter Konflikte kommen, wenn partnerschaftliche Vereinbarungen, Rollen- und Machtverteilungen nicht überprüft werden (vgl. Schmitt und Re 2004, S. 378). Dies gilt auch für die Verteilung der Hausarbeit, praktizieren die heute älteren Paare doch überwiegend noch eine eher traditionelle Arbeitsteilung. Im Ruhestand werden die während der Erwerbsphase praktizierten Rollenmuster meist fortgesetzt: 56 bis 57 Prozent der im Deutschen Alterssurvey befragten Senior/-innen geben an, dass Hausarbeit überwiegend von den Frauen erledigt wird, bei 35 Prozent erledigen der Mann und die Frau etwa gleich viel, nur bei sechs bis sieben Prozent ist überwiegend der Mann zuständig für die Hausarbeit (Nowossadeck und Engstler 2013, S. 11 f.). Dabei sind 64 Prozent der Männer mit der Aufgabenteilung sehr zufrieden, wenn überwiegend die Frau die Hausarbeit macht. Frauen hingegen schätzen besonders eine Gleichverteilung der Haushaltsaufgaben. Eine gute Gesundheit ist eine wichtige Voraussetzung für Lebensqualität, selbstständige Lebensführung und sinnstiftende Aktivitäten. Beeinträchtigungen der Gesundheit und daraus resultierende Pflegebedürftigkeit sind daher weitere Herausfor derungen für Paare im Alter. Fehlende emotionale Nähe und Veränderungen in der Alltagsbewältigung, Übernahme neuer Tätigkeiten und Verantwortungen, An passung des Selbst- und Fremdbildes des Partners oder der Partnerin, Korrektur der Zukunftsperspektive sowie körperliche und psychische Belastungen auch des/der ge-
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Stephan Baas und Marina Schmitt
sunden Partner/-in gehen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen einher und wirken sich negativ auf die Paarzufriedenheit aus (Suitor et al. 2016). Pflege erfolgt überwiegend im häuslichen Bereich und unter Einbeziehung der nächsten Angehörigen. So werden nach Angaben der Pflegestatistik 2013 70,9 Prozent der Pflegebedürftigen (1,86 Millionen Menschen) zu Hause versorgt. Hauptpflegepersonen sind meist enge Familienangehörige, überwiegend Frauen, meist Töchter (26 %) oder Ehefrauen (19 %) (Schmidt und Schneekloth 2011, S. 27). Bookwala (2012, S. 111) verweist auf einen Zusammenhang zwischen der Abnahme der Ehezufriedenheit bei gesunden Partner/-innen und einer chronischen oder progredient verlaufenden Erkrankung der jeweils anderen Partner/-innen, wovon vor allem pflegende Ehefrauen betroffen sind (s. dazu auch Klaus und Mahne 2019). Inwieweit die Pflege eines Partners/einer Partnerin auch mit individuellen und partnerschaftlichen Wachstumsprozessen einhergehen kann, bedarf noch weiterer Untersuchungen. So sehen Schneewind und Grandegger (2005, S. 467) auch, dass das Sorgen für die geliebte Person befriedigend sein und mit verstärktem Commitment und Nähe einhergehen kann.
4
Sexualität im Alter
Das Erkenntnisinteresse an Sexualität ist häufig biologisch geprägt und thematisiert Aspekte wie Funktionsfähigkeit und Häufigkeit sexueller Aktivitäten. Ältere Menschen werden dabei unzureichend berücksichtigt, das Thema Sexualität erfährt in der Alternsforschung geringe Beachtung (vgl. Brose und Zank 2019, S. 521). Obwohl es für eine zufriedenstellende Sexualität keine Altersgrenze gibt, wird die Sexualität älterer Menschen, wenn überhaupt, dann häufig tabuisiert oder einseitig dargestellt. Der Mythos vom asexuellen Alter trifft hier auf den gesellschaftlichen Imperativ vom aktiven Alter(n) (vgl. van Dyk 2015; Brose und Zank 2019). Die mit dem Alter häufig assoziierten Merkmale wie Verlust der körperlichen Attraktivität, Zunahme an Erkrankungen und körperlichen Funktionseinschränkungen scheinen im Gegensatz zu Lust, Sinnlichkeit und Erotik zu stehen. Ebenfalls uneindeutig ist die Definition von Sexualität im Alter bzw. ab welchem Alter z. B. in einer biologischen Perspektive von Alterssexualität gesprochen werden kann (vgl. Brose und Zank 2019, S. 522). Ebberfeld (2005, S. 36) macht darauf aufmerksam, dass dies wesentlich von sozialen Normen und dem Verständnis der jeweiligen Forscher/-innen abhängt. Die wenigen empirischen Befunde sind damit nur bedingt vergleichbar – häufig werden nur sexuelle Aktivität wie Geschlechtsverkehr oder Masturbation erfragt, nicht aber Zärtlichkeiten oder die Zufriedenheit mit dem sexuellen Austausch. Einigkeit besteht darüber, dass Sexualität und Zärtlichkeit zu den menschlichen Grundbedürfnissen gehören. Sexuelle Interessen, Bedürfnisse und Wünsche bestehen damit unabhängig vom Lebensalter (Schultz-Zehden 2013a, 2013b). Sexualität umfasst nicht nur Geschlechtsverkehr, sondern auch Berührungen, Zärtlichkeiten,
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Fantasien, Masturbation, körperliche Nähe und Wärme. Dazu kommen mit dem Alter einhergehende Veränderungen, die sich durch ein höheres Bedürfnis nach Austausch von Zärtlichkeiten ausdrücken (vgl. Brose und Zank 2019, S. 522). Verschiedene Studien weisen auf ein Nachlassen der sexuellen Aktivität, insbesondere der Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs, bei älteren Menschen (z. B. Schick et al. 2010; Karraker et al. 2011). Schon 2005 hatte Fooken auf mögliche Veränderungen im Ausdruck der Intimität weg von einer eher sexuell-genital orientierten Form hin zu einer eher sensuellen, auf Zärtlichkeit basierenden Variante von Sexualität hingewiesen. Frauen sind dabei sexuell weniger aktiv als Männer (vgl. Bach et al. 2013; Beckman et al. 2014), wobei zudem Kohortenunterschiede zu beachten sind (vgl. Beckman et al. 2014). Neben Geschlechtsverkehr ist Masturbation das sexuelle Verhalten, das am zweithäufigsten in vorliegenden Studien genannt wird (vgl. Schick et al. 2010). Viele Befunde thematisieren nur das sexuelle Verhalten, nicht aber die Zufriedenheit oder den persönlichen Bedeutungsgehalt von Sexualität im Alter (vgl. Ebberfeld 2005). Eine aktuelle Studie auf Basis von Daten der BASE-II-Studie unterscheidet verschiedene Aspekte von Sexualität im Alter: Verhalten (sexuelle Aktivität bzw. Praktiken), kognitive Aspekte (sexuelle Gedanken und Wünsche) und emotionale Aspekte (Intimität, wie z. B. Geborgenheit, Sicherheit und Akzeptanz). Bestätigt wird eine mit steigendem Alter abnehmende sexuelle Aktivität, auch sexuelle Gedanken und Wünsche sind seltener. In Bezug auf Intimität hingegen zeigen sich kein Alterseffekt bzw. nur geringfügige Unterschiede zu einer deutlich jüngeren Vergleichsgruppe (vgl. Kolodziejczak et al. 2019, S. 396 f.). Allerdings weisen die Forscher/-innen auf individuelle Unterschiede hin: Psychosoziale Aspekte (wie z. B. der Beziehungsstatus oder die Zufriedenheit mit der Beziehung) sind in Bezug auf Sexualität im Alter bedeutsamer als physische Aspekte (z. B. Gesundheit oder Krankheit). Insgesamt ist davon auszugehen, dass Intimität zu einer bedeutsamen Komponente von erfolgreichem Altern wird (ebd., S. 390). Ein wichtiges Element der Sexualität älterer Menschen sind die biografischen Erfahrungen, Einstellungen und Verhaltensweisen. Ein zeitlebens sexuell aktiver Mensch, der Sexualität positiv gegenübersteht, wird diese auch im Alter als wichtigen Teil des Lebens betrachten und versuchen, seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Dem können Einschränkungen durch den Verlust des Partners/der Partnerin oder Krankheit bzw. Behinderung im Alter entgegenstehen. Brose und Zank (2019) weisen darauf hin, dass Krankheit und Pflege häufig mit der Vorstellung verbunden sind, dass keine Sexualität mehr gelebt wird: „Auffallend ist hierbei, dass ein sich veränderndes gesellschaftliches Bild zur Sexualität im Alter offenbar nur denjenigen zugestanden wird, die dem Typus des gesunden, aktiven älteren Menschen entsprechen.“ (ebd., S. 533)
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Schlussbemerkung und Ausblick
Die Forschung zu Partnerschaften thematisiert meist die Entstehung von Partnerschaften oder die Situation von Partnerschaften im mittleren Lebensalter, etwa die Prädiktoren für Scheidungen. Bezüglich der Entwicklung langjähriger Ehen, deren Entwicklungsaufgaben oder Qualität im höheren Erwachsenenalter gibt es nur wenig Informationen. Gerade die Analyse der wechselseitigen dyadischen Beeinflussung von Erleben und Verhalten von (Ehe-)Partner/-innen im Hinblick auf Partnerschaftsqualität und -stabilität wäre aber dringend notwendig, um gezielte Beratungsangebote für ältere Menschen zu Partnerschaftsproblemen machen zu können. Hier sind dyadische längsschnittliche Untersuchungen notwendig. Auch die Rolle von Sexualität und Intimität im höheren Erwachsenenalter und in langjährigen Partnerschaften sowie die Bedeutung für Wohlbefinden und Gesundheit ist nur unzulänglich erforscht. Es liegen kaum Untersuchungen vor, die die Bedeutung biografischer Aspekte auf Sexualität im Alter analysieren oder sich mit der Frage befassen, wie und warum sich Sexualität im Lebensverlauf verändert. Schließlich lässt die bestehende Forschung eine entscheidende Perspektive der Gerontologie weitestgehend außen vor: Wie und in welcher Weise sind Partnerschaft, Sexualität und Intimität Voraussetzung für erfolgreiches Altern ? Hier ist weitere Forschung notwendig, die auch die zukünftige Pluralisierung von Lebensformen im höheren Erwachsenenalter berücksichtigt.
Ausgewählte Literatur Engstler, Heribert, und Daniela Klaus. 2017. Auslaufmodell „traditionelle Ehe“ ? Wandel der Lebensformen und der Arbeitsteilung von Paaren in der zweiten Lebenshälfte. In Altern im Wandel. Zwei Jahrzehnte Deutscher Alterssurvey (DEAS), 201 – 213. Wiesbaden: Springer VS. Kolodziejczak, Karolina, Adrian Rosada, Johanna Drewelies, Sandra Düzel, Peter Eibich, Christina Tegeler, Gert G. Wagner, Klaus M. Beier, Nilam Ram, Ilja Demuth, Elisabeth Steinhagen-Thiessen und Dennis Gerstorf. 2019. Sexual activity, sexual thoughts, and intimacy among older adults: Links with physical health and psychosocial resources for successful aging. In Psychology and Aging 34: 389 – 404. doi: 10.1037/pag0000347. Landis, Marion, Melanie Peter-Wight, Mike Martin und Guy Bodenmann. 2013. Dyadic Coping and Marital Satisfaction of Older Spouses in Long-Term Marriage. In GeroPsych. doi. org/10.1024/1662-9647/a000077.
Gewalt gegen ältere Menschen Katharina Gröning und Yvette Yardley
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Einführung
1.1
Zur Verbreitung des Phänomens
Gewalt gegen ältere Menschen ist Ende der 1980er Jahre erstmals in den USA untersucht worden. Danach wurden in verschiedenen Ländern Studien durchgeführt. Als eine gesicherte Erkenntnis aus diesen Studien gilt, dass sich das Risiko Opfer von Gewalt zu werden erhöht, wenn ein Mensch pflegebedürftig wird und sich dadurch größere Abhängigkeiten von seiner Umwelt entwickeln. Mit Gewalt sind nicht nur körperliche Misshandlungen und finanzieller Betrug an älteren Menschen gemeint, sondern auch die Unterlassung von Hilfeleistungen und andere Handlungen, die sich negativ auf die Lebenssituation und das Selbstbild der hochaltrigen Menschen auswirken (Graß und Walentich 2006; Görgen und Greve 2006; Hirsch 2006). Das Opferwerdungsrisiko nach der Polizeilichen Kriminalstatistik 2017 (BKA 2017) sinkt im höheren Lebensalter. Im Vergleich der Opferwerdungen wären dann Mord, Totschlag und Tötung auf Verlangen sowie Raubdelikte die höchsten Gefährdungen von polizeilich registrierten Gewalttaten bei Menschen über 50 Jahren. Auch die Tabuisierung von Gewalt gegen ältere Menschen wirkt sich als negativer Faktor in der Statistik aus. Dabei ist sexuelle Gewalt gegen alte Menschen wegen des asexuellen Altersbildes noch einmal deutlich stärker tabuisiert, vor allem bei pflegebedürftigen Menschen. Es ist also von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Hinzu kommt, dass Gewalthandlungen, die die Würde einer Person verletzen, missachten oder entwürdigende Rituale nicht als Straftatbestand gelten. Die Forschung zur Gewalt gegen ältere und hilfebedürftige Personen hat in der Bundesrepublik spät eingesetzt (Görgen und Greve 2005b). Eine internationale Literaturrecherche (Sowarka et al. 2002) hat ergeben, dass ältere Menschen eine Prävalenzrate von bis zu 9 % haben, im nahen Umfeld Opfer von Gewalthandlungen zu © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_43
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werden. Diese Zahl basiert auf bekannten Fällen, sodass nach dem ‚Eisbergprinzip‘ von einer höheren Zahl auszugehen ist. Dabei ist zu beachten, dass einige Studien keine Aussagen über Hochaltrige und Pflegebedürftige zulassen, da ein Großteil von ihnen aufgrund von Multimorbidität sich nicht an Befragungen beteiligen können (Sowarka et al. 2002; Görgen und Greve 2006). Um die Forschungslücke aufzuhellen, wurde 2009 vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen die multimethodale Studie „Kriminalität und Gewalt im Leben alter Menschen“ veröffentlicht, die sich mit dem Risiko der Viktimisierung allgemein und in der häuslichen Pflege durch Fachkräfte und Angehörige beschäftigt. Dazu wurden diese zu ihrem Handeln in den vergangenen 12 Monaten befragt. Professionelle Pflegekräfte haben zu gut 40 % angegeben, selbst problematisch gehandelt zu haben. Angehörige gaben an, zu 47,6 % psychisch und zu 19,4 % physisch misshandelnd agiert zu haben (Görgen et al. 2009, S. 14 ff.). 2016 hat das Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung e. V. (DIP) eine Befragung zum Erleben und zur Einschätzung von Gewalt in der Pflege mit Pflegepersonal durchgeführt und hat damit im Wesentlichen die bekannten Ergebnisse bestätigt (Weidner et al. 2017). Das Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) bietet einen aktuellen Überblick zum Thema Gewalt in der Pflege und Präventionsmöglichkeiten auf seiner Homepage an (ZQP 2017). 1.2
Formen und Deutungen der Gewalt gegen Ältere
Der Forschungsdiskurs ist von bestimmten Annahmen stark beeinflusst, nach denen es sich bei der Gewalt gegen ältere und pflegebedürftige Menschen vor allem um einen Ausdruck von Überforderung und Überlastung eigentlich moralisch moti vierter und handelnder, meist weiblicher Pflegepersonen und Pflegekräfte handele. Diese Deutung gilt sowohl für die häusliche Situation als auch für die stationäre Pflege (Gröning et al. 2004). Görgen und Greve (2005b) gingen davon aus, dass es sich bei Gewalthandlungen im Bereich der privaten Pflege in den seltensten Fällen um kalkulierte Kriminalität handelt, sondern überwiegend um Überlastungssymptome oder affektiv kurzfristige Taten. Als zweiter Faktor werden biografische Verstrickungen genannt, die in Gefühle von Abhängigkeit gegenüber der Pflegeperson und des Ausgeliefertseins münden. Im Bereich der stationären Einrichtungen gelten schwach besetzte Nachtdienste sowie Reaktionen auf Stuhlinkontinenz als Gefahrenpotenzial (ebd.). Sie benennen weiterhin die Selbsteinschätzungen von Pflegekräften, die auf vorangegangene Gewalt der Pflegebedürftigen ebenfalls gewalttätig reagieren, diese mit Gewalt zu Handlungen oder Unterlassungen zwingen oder ihnen unbeabsichtigt Schmerzen zufügen. Gewalt gegen Pflegebedürftige scheint also vor allem eine Spi rale von Überforderung, Stress, Belastung und Regression zu sein (Görgen et al. 2009). Diese Spirale wird zu gewaltförmigem Handeln, wenn die sozialen Bedingungen dies ermöglichen, wie durch das Pflegedual, stillschweigende Duldung, die Angst und
Gewalt gegen ältere Menschen
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Scham Übergriffe zu melden etc. (Brucker et al. 2017, S. 31 ff.). Der deutsche Familien gerichtstag e. V. forderte schon 2005 eine Gesetzgebung hin zu dem Recht auf gewaltfreie Pflege um schutzbedürftige Mitglieder der Gesellschaft zu schützen (Deutscher Familiengerichtstag e. V. 2005). Im Bereich der familialen Gewalt dominieren stresstheoretische und therapeutische Sichtweisen, wobei die Familiengeschichte vor allem als Beziehungsgeschichte aufgefasst wird. Strukturelle Faktoren wie das Geschlecht und das Familienerbe werden dagegen in der Forschung wenig berücksichtigt, d. h. die Forschung geht von einem modernen, vom Prinzip der Wahlfreiheit bestimmten Leitbild häuslicher Pflege aus (Eckstein 2009). Das Zusammenleben mehrerer Generationen und eine gegenseitige Unterstützung (besonders die Pflege alter Eltern) wird als frei gewählte biografische Entscheidung verstanden, die aber in ihrer Tragweite nicht umfassend in den Blick genommen wird (Gröning et al. 2017). Materielle Abhängigkeit der Generationen voneinander sowie materielle Interessen werden nicht systematisch berücksichtigt; ebenso wenig die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der häuslichen Pflege. In der Gewaltforschung zur häuslichen Pflege spielt die Pflegekonstellation ‚(Schwieger-)Tochter pflegt einen alten Menschen‘ eine wichtige Rolle. Ehepartnerpflege und pflegende (Schwieger-)Söhne wurden lange Zeit nicht systematisch in die Thesenbildung einbezogen (Schimany und Hörl 2004). Deswegen untersucht Dosch (2018) die Gestaltung der Pflegearrangements von (Ehe-)Partnern und Söhnen im erwerbsfähigen Alter und deren Pflegeverhalten in Bezug auf die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf. Allerdings gibt es zu geschlechtlich konnotierten Gewaltpotenzialen und der Prävention im Bereich der Pflege kaum Aussagen (siehe Abschnitt 3.3). Auch in der heutigen Forschung zu Gewalt in Institutionen wird das gewaltfördern de Potenzial von institutionellen Strukturen als Ganzes sowie die institutionelle Matrix des Pflegeheims in ihren Konsequenzen kaum beachtet (Brucker et al. 2017, S. 14). Dies führt zu einer Unterbewertung der Gewaltformen von Bewohner/-innen untereinander; die Gewalt scheint nur in den Pflegebeziehungen vorzukommen. Dies ist jedoch empirisch anzuzweifeln. Es muss angenommen werden, dass gerade Bewohner/-innen untereinander sich gruppendynamisch zum einen nach ‚Rangordnungen‘ verhalten, zum anderen nach Distinktion, was besonders zu einer Ausgrenzung von dementen und inkontinenten Mitbewohner/-innen führt. Das Pflegepersonal ist wie das pädagogische Personal gehalten, zwischen den Bewohner/-innen zu vermitteln, was praktisch kaum möglich ist. Sowohl das Verhalten der Patient/-innen gegenüber dem Personal als auch das der Bewohner/-innen untereinander kann also aggressiv und gewalttätig sein. Dadurch entsteht dann eine aggressive Stimmung, die wiederum bei anderen Anwesenden (Bewohner/-innen wie Pflegefachkräften) die Aggressivität erhöhen kann. Das Pflegepersonal ist sich bewusst, wenn es Gewalt ausübt und z. B. gegen den Willen der Menschen handelt, und schätzt sich in diesen Situationen dann als unsicher ein (Weidner et al. 2017). Die Möglichkeit, erlebte Gewalt nachzubereiten oder sich im präventiven Umgang intern bilden zu lassen, schätzen die befragten Pflegefach-
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kräfte und Pflegeschüler/-innen als eher unzureichend ein. Vielfach wird aggressives Handeln und Vernachlässigen von Wünschen/Bedürfnissen der Menschen in Institutionen mit der unterbesetzten Station erklärt und mit der Vervielfachung von Aufgaben, besonders der Dokumentationspflichten als Bürokratieaufwand, und dem Fachkräftemangel.
2
Gewalt gegen pflegebedürftige Ältere im Pflegeheim
2.1
Strukturelle Ursachen
In den älteren Theorien zur Gewalt in der professionellen Pflege überwiegen strukturelle Ansätze (wie dies z. B. von Goffman 1972 beschrieben wurde). Mehrheitlich werden die Institutionsmatrix des Altenheims und der gesellschaftliche oder kulturelle Kontext als Verursacher von Gewalt analysiert. Über die Gewalt in der institutionellen Pflege wird gesagt, dass sie dinglich geworden ist (Foucault 2005, 2008), das Gewaltverhältnis stelle sich als ein Sachzwang und Ausdruck einer instrumentellen Rationalität dar. Das Auftreten von Gewalt in klinischen Institutionen wird zudem auf deren gesellschaftliche Containerfunktion zurückgeführt. Das alte, behinderte Leben soll ausgesondert werden, um es zu hindern, die Gesellschaft zu (zer-)stören, und um zu garantieren, dass die Gesellschaftsmitglieder frei von der Last ihrem modernen und nützlichen Leben nachgehen können (Dörner 1989). Die Gewalt in den entsprechenden Institutionen steht insofern in einem Zusammenhang mit dem Nutzenkalkül der Institutionen und mit der potenziellen Bedrohung, die von den Träger/-innen der Krankheit, vom Alter und von der Andersartigkeit ausgeht. Ein gewaltfördernder Aspekt liegt nach der Theorie von Goffman (1972, 2005) in der Entehrung der Bewohner/-innen und Patient/-innen. Ausgeübt wird diese Entehrung in alltäglichen kleinen Zeichen der Verunreinigung, in der Zerstörung sog. Identitätsausrüstungen und in der sozialen Distanzlosigkeit. Der Körper wird veröffentlicht. Dies weist dem/ der Bewohner/-in einen abhängigen Status zu. Bedeutend ist die distanzlose, gedankenlose Art der Veröffentlichung der Körperlichkeit und der damit innewohnenden Beschämung (Koch-Straube 1997). Die Folge ist, dass vor allem Bewohner/-innen und Patient/-innen von Langzeiteinrichtungen ihrerseits ihre Identität verändern, sie nehmen eine Anstaltsidentität an. Sie veröffentlichen ihre Körperlichkeit, sie werden schamlos, und dies wiederum wird von den Pflegenden als große Belastung erlebt. Eine Spirale aus unangenehmer Nähe, Entehrung und Scham wird auf diese Weise in Gang gesetzt (Gröning 2018). Gewalt unter Heimbewohner/-innen stellt ein Forschungsdesiderat dar (Brucker et al. 2017, S. 28), wird aber von Pflegekräften immer wieder als Problem angesprochen. Meist wird diese Gewaltform als außerhalb des Heimes, quasi vor den Türen des Systems, betrachtet und nicht als Gewalt registriert, sondern als Unfall codiert. Trotzdem sprechen Praktiker/-innen immer wieder von Aggressionen zwischen den
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Bewohner/-innen. Die Übergriffe sind schwer und ziehen erhebliche Verletzungen nach sich, besonders das Schlagen mit Gegenständen, das Stoßen und Zu-Fall-Bringen. Durch die Unterbringung in Doppelzimmern wird die Verletzungsgefahr zudem erhöht (Fussek und Loerzer 2005). Gewalt gegen pflegebedürftige Patient/-innen in Krankenhäusern ist als besonderes Phänomen auch noch zu untersuchen. 2.2
Expressive Gewalt
In den 1990er Jahren verändert sich der Forschungsdiskurs zur Gewalt in der professionellen Pflege und richtet sich mehr auf expressive Gewalt (z. B. Schmidbauer 1992; Gröning 2000, 2018). Dies ist u. a. ausgelöst durch eine Reihe von Patiententötungen, die die Öffentlichkeit erschütterten und die Psychodynamik der Gewalt sowie die Motivation zur Gewalt stärker in den Fokus der Forschung brachten. Forschungen zur expressiven Gewalt sind vor allem psychoanalytische Forschungen von Supervisor/-innen, Organisationsberater/-innen und Seelsorger/-innen und wurden als Einzelstudien und Reflexionen publiziert. Im Mittelpunkt der Fragestellungen stehen die Gewaltszene, die Gewalteskalation und auch das innere Erleben im Kontext der Gewalthandlungen. Bedeutend sind auch die Beiträge zur Psychodynamik des hohen Alters und der Pflegebedürftigkeit, um alte Menschen als Beteiligte der Gewaltszene zu berücksichtigen. Durch körperliche und seelische Veränderungen müssen pflegebedürftige Menschen ihre Identität gerade im hohen Alter immer wieder neu bestimmen (vgl. Radebold und Hirsch 1994). Dadurch sind sie mit umfangreichen Entwicklungsaufgaben konfrontiert. Die Entwicklungsaufgaben des hohen Lebensalters sind bisher nur teilweise beschrieben und fehlen für den Lebensabschnitt der hochaltrigen und pflegebedürftigen Menschen weitgehend (vgl. Baltes 2003). Die klassischen Theorien zu den Entwicklungsaufgaben des Lebenszyklus formulieren indessen, dass auch Prozesse des körperlichen und seelischen Abbaus bzw. der Veränderung in das Identitätskonstrukt zu integrieren sind und die Person an sich selbst arbeiten muss (Erikson 1970). Für Radebold (1992) ist dies im Sinne seiner Traumatisierungsthese vor allem der Umgang mit Verlusten. Bauer (2008) spricht von Anerkennung des Abschieds und Schließen des Lebenskreislaufes, ältere Theorien wie die von Grotjahn (1960) nennen die Hochaltrigkeit und Pflegebedürftigkeit eine schwere narzisstische Kränkung, die der Identitätsarbeit bedarf. Diese „Identitätsarbeit“ wird erschwert, wenn „Menschen wie Sachen“ behandelt werden (Dörner und Plog 1996). Dörners Argumentation ist, dass die vorwiegend negativen und fast nur problembezogenen Sichtweisen gegenüber hochaltrigen Menschen ein beachtliches gewaltförderndes Potenzial enthalten. Der Tod würde als „Erlösung“ buchstabiert. Dies ist die gesellschaftliche Legitima tion eines „tödlichen Mitleids“, einer Haltung der Euthanasie, die in der aktuellen Diskussion um Sterbehilfe ihren modernen Ausdruck findet (vgl. Dörner 1989, Dörner und Plog 1996).
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Die Reduktion auf Verrichtungen in der Pflege stellt ein Schampotenzial (Gröning 2018) für ältere Menschen dar, das durch besondere Rituale der Anerkennung (Goffman 2005) pflegerisch wieder gut gemacht werden müsste, wozu im Alltag der Pflege zumeist ‚keine Zeit‘ ist. Die Pflegesituation ist grundsätzlich bei Pflegeperson und Pflegebedürftigen Scham auslösend, weil die Veröffentlichung der Körperlichkeit eine kulturelle Schamgrenze überschreitet, die noch einmal verstärkt wird, wenn der Körper in seiner Naturhaftigkeit offen zu Tage tritt. Befremden und Ekel können hier Reaktionen sein – vor allem dann, wenn provokative Schamlosigkeit in die Pflegesituation einfließen. Kränkungen durch die Bewohner/-innen, Dominanz von Bewohner/-innen, die nicht dem Bild des dankbaren und passiven alten Menschen entsprechen, stellen ein Gefahrenpotenzial für Gewalt in der Pflege dar. Um jedoch gewalttätig zu werden, muss das Gewissen des Täters dies erlauben. Nach Wurmser (1993) muss es zu einem Bruch der Loyalität mit den Pflegebedürftigen durch das Gefühl kommen, dass einem ein entsetzliches Unrecht geschehen ist, was nach Wiedergutmachung verlangt. Das Über-Ich, eigentlich eine reflexive und moralische Instanz, verlangt die Gewalt als Wiederherstellung von Würde und Ehre. Neben der Beschämung hält Wurmser diese Verletzung des Gerechtigkeitsgefühls deshalb für eine wichtige Voraussetzung, welche dem Gewissen die Gewalt erlaubt, zur Herstellung der eigenen Ehre sogar befiehlt. Wurmser (ebd.) nennt dieses Ressentiment „Seelenvergiftung“ (ausführlich bei Gröning 2018). 2.3
Beschleunigungen – ein neues gewaltförderndes Potenzial
Das Pflegeversicherungsgesetz (PflVG) und die u. a. aus ihm folgende Ökonomisierung der Alten- und Pflegeheime hat diese einer neuen Qualität von Beschleunigung (Rosa 2004) ausgesetzt, deren Sinnbild die Pflege im Minutentakt ist. Dabei handelt es sich nicht um ein lebensweltliches Erleben von Pflegekräften. Seit dem 01. 01. 2017 gilt ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff (ausführlicher vgl. Schmidt sowie Rixen i. d. B.). Die Pflegebedürftigkeit wird auf fünf mögliche Pflegegrade geprüft. Im Mittelpunkt steht die noch vorhandene Selbstständigkeit des/der Pflegebedürftigen. Körperliche und psychische Erkrankungen sind gleichgestellt. Damit sind Menschen mit Demenzerkrankungen gleichwertig im System. Trotzdem wird weiterhin in der Pflege nach Minuten sowie Erkrankungen/Anlässen gearbeitet, in stationären Einrichtungen wie im ambulanten Bereich. Die Versorgungen der Menschen muss in festen Zeitfenstern erfolgen, um anschließend weitere Fälle zu bearbeiten oder die Menschen für andere Behandlungen vorbereitet zu haben. Damit werden wichtige ethische und kommunikative Aspekte in der Pflege übersehen, die für die zu Pflegenden eine große Rolle spielen (Wingenfeld und Schaeffer 2001). Dies wird traditionell als strukturelle Gewalt (Galtung 1988) bezeichnet. Zu den Handlungen, die nicht als Gewalt wahrgenommen werden, gehören unterschiedliche Fixierungen wie Bewegungsblockaden, Festbinden und vorsorgliche medikamentöse
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Ruhigstellung. Diese Maßnahmen werden in stationären Einrichtungen oft ausge führt, um die Bewohner/-innen vor einem Sturz zu bewahren und um den täglichen Arbeitsablauf flüssiger zu gestalten. Die Vergabe von Medikamenten ist abhängig vom Personalschlüssel; je mehr examinierte Personen in einer Einrichtung arbeiten, desto weniger wird auf die Ruhigstellung durch Psychopharmaka gesetzt (Hirsch et al. 2000). In beiden Bereichen, dem stationären und dem ambulanten, sind als strukturelle Merkmale die enge Zeitvorgabe für Pflegeverrichtungen und der Personalschlüssel zu benennen, die sich als Gewalt fördernd erwiesen haben. Neben den Veränderungen der Bewohner/-innen wie Hochaltrigkeit, Multimorbidität und Demenz, die der Altenpflege schon seit Beginn der 1990er Jahre als Bewohnerstrukturwandel angekündigt worden sind (vgl. Naegele und Tews 1993), sind es vor allem die Methoden des Qualitätsmanagements wie Pflegestandards und Pflegeplanung etc., die das Pflegeheim verändert haben. Diese den Modernisierungsstrategien innewohnenden sozialen und technischen Beschleunigungen haben nicht zu mehr Qualität geführt, sondern zu einer institutionellen Anomie (Gröning et al. 2004). Der Anomiekonflikt liegt in der enormen Spannung zwischen den offiziellen professionellen (kulturellen) Zielen der Institution begründet, wie sie im PflVG und ebenso in den Leitbildern der Einrichtungen und Pflegeverständnissen der Krankenund Altenpflege vorgeschrieben sind, und dem Organisationszwang, den eine technische und rationale Organisation mit sich bringt.
3
Gewalt gegen pflegebedürftige Menschen zu Hause
3.1
Prävalenz und strukturelle Ursachen
Im Dezember 2015 waren knapp 2,9 Millionen Menschen im Sinne der PflVG pflegebedürftig, davon wurden 73 % zuhause versorgt, z. T. mit Unterstützung durch professionelle Dienste. Im Vergleich zu 2013 sind das 9 % mehr pflegebedürftige Menschen. Von den 2,9 Millionen Menschen wiesen 42 % eine erheblich eingeschränkte Alltagskompetenz auf, d. h. in den meisten Fällen, dass diese Menschen an einer Demenz erkrankt sind. Zusätzlich gab es weitere 180 000 Menschen, die eine eingeschränkte Alltagskompetenz hatten, aber noch nicht so pflegebedürftig waren, dass sie eine Pflegestufe1 bekommen hätten (StaBuAmt 2017f). Dieser Teil der zuhause Versorgten in häuslicher Pflege ist einem höheren Risiko an Gewalthandlungen ausgesetzt, da nur Menschen mit anerkanntem Pflegebedarf einen Anspruch auf Leistungen zur Pflege haben. Das Wissen, dass jemand erkrankt ist, kann eine entlastende Funktion haben und das veränderte Verhalten als krankheitsbedingt und nicht als Angriff gegen die eigene Person erklären. Des Weiteren ermöglicht der Leistungsbezug Beratungen zur Pflege und dem Pflegealltag inklusive der Entlastungsleistungen und kann 1
Pflegegrade wurden erst ab 01. 01. 2017 eingeführt, Daten beziehen sich auf das vorherige System.
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so zum Einsatz von Unterstützungsleistungen im Pflegealltag führen. Das Verständnis der Pflegeperson für die Situation sowie die verbesserten Alltagsbedingungen durch den Leistungsbezug können die häusliche Situation entspannen und das Risiko von aggressivem Verhalten gegenüber dem pflegebedürftigen Menschen senken. Ein hervorzuhebendes gewaltförderndes Merkmal ist im häuslichen Kontext die (Stuhl-)Inkontinenz von pflegebedürftigen Menschen (Görgen und Greve 2006; Gröning 2018). Gewalthandlungen entstehen nach Görgen et al. (2009) im häuslichen Bereich vorwiegend durch die Belastungen der Pflege und zwar dann, wenn die Bedingungen der Pflege als ungerecht empfunden werden. Somit spielen im häuslichen Bereich die Familiendynamik und die Generationsbeziehungen eine wichtige Rolle: zum einen die Beziehungsstrukturen zwischen der pflegenden und der zu pflegenden Person, zum anderen die Beziehungsstrukturen in der eigenen Familie. Zudem ist bei Gewalt gegen Pflegebedürftige im Rahmen der Partner/-innenpflege zu beachten, dass hier lange zurückliegende eheliche Gewaltstrukturen ins Spiel kommen, die sich in Pflegeverhältnissen verfestigen oder umkehren können und so in wachsende Gewaltspiralen übergehen (Franke 2014). Durch die Anonymisierungstendenz verliert die Pflegeforschung die Beziehungsstrukturen aus dem Auge und vernachlässigt damit eine Erklärungsebene. Es ist wichtig, die betroffenen Personen in ihrer Familienposition zu sehen (nicht Frau pflegt Frau, sondern Tochter pflegt Mutter) um ggf. auch länger zurückliegende Konflikte in ein Verständnis für Gewalt gegen Pflege bedürftige einzubeziehen (Gunzelmann 1991; Fussek 1997). Erkennen und Aufdecken von Gewalt werden im Kontext der häuslichen Pflege durch mehrere Faktoren erschwert. Die Opfer schämen sich, zusätzlich zur Pflege bedürftigkeit Opfer von Gewalthandlungen zu sein. In familiären Strukturen ist diese Schamgrenze hoch, da niemand gern zugibt, vom eigenen Kind geschlagen zu werden. Zum zweiten gilt das Loyalitätsgebot. Ein dritter Faktor ist das Gefühl und/oder Wissen, auf die pflegende Person angewiesen zu sein. Die Benennung der Gewalt hat wahrscheinlich zur Folge, dass das Pflegearrangement neu strukturiert werden muss (vgl. Gabler et al. 2016, S. 59 ff.). Ein weiterer Faktor ist die Unfähigkeit der Opfer, bedingt durch ihr Krankheitsbild, die erlebten Gewalthandlungen zu artikulieren. Gerade im häuslichen Bereich ist der Respekt der Privatsphäre bei der Aufdeckung und Erfassung hinderlich, da entweder die Gewalthandlungen in der Wohnung ohne Zeug/-innen passieren oder als Privatangelegenheit abgetan werden. Gewalthandlungen lassen sich bei pflegebedürftigen Menschen auch deshalb nicht gut erkennen, da z. B. Liegegeschwüre auch bei guter Pflege entstehen können. Ein weiterer Faktor ist die Unsicherheit von Außenstehenden, jemanden der Gewalthandlung zu bezichtigen, gerade weil einige Verletzungen z. B. durch Stürze entstanden sein könnten, oder zu Pflegende haben aggressiv reagiert und sich dabei selbst verletzt (Landespräven tionsrat NRW 2006).
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3.2
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Finanzielle Bereicherung
Brendebach (2000) zeigt auf, dass neben der psychischen Misshandlung vor allem die finanzielle Bereicherung einen vorderen Platz einnimmt. Internationale Forschungsdaten bestätigen dies und zeigen differenziert die damit verbundenen Gewalthandlungen auf (Brucker et al. 2017, S. 148 ff.) Die Aneignung des Erbes, der Ersparnisse und der Rente der Älteren sowie Todeswünsche müssen als besondere Merkmale der Gewalt gegen Ältere angesehen werden. Insofern ist kalkulierte Kriminalität gegen ältere und pflegebedürftige Personen durch Aneignung des Erbes oder auch des Einkommens motiviert. Hier tritt die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung als bedeutender Faktor auf. In traditionellen Pflegearrangements gilt es als ‚normal‘, dass (Schwieger-) Töchter pflegen, während Söhne erben (Kosmann 2001; Hötger 2003). Görgen und Greve (2005b) verweisen auf Unfairness und Unentrinnbarkeit als kritische Faktoren. 3.3
Der Geschlechteraspekt
Insgesamt deuten Studien auf eine relative Geschlechtsneutralität bei der Gewalt gegen Ältere hin (z. B. Brendebach 2000; Görgen und Greve 2005b). Sowohl Männer als auch Frauen werden Opfer von Gewalt, Männer wie Frauen werden zu Täter/-innen. Durch den hohen Anteil an weiblichen Pflegepersonen zu Hause wie in der professionellen Pflege ist es ein anerkannter Tatbestand, dass mehr Frauen als Männer zur Gruppe der Täter/-innen gehören. Allerdings verweist Brendebach (2000) in ihrer Studie auf den hohen Anteil an männlichen Tätern, gemessen an ihrem geringen Anteil an den Pflegepersonen. Die Studienlage ist uneindeutig bei der Geschlechtszugehörigkeit der Opfer. So werden Frauen einerseits Faktoren wie Sozialisation und Erziehung, konstitutionelle Schwäche oder die zahlenmäßige Überlegenheit in der Gruppe der Pflegebedürftigen und Hochaltrigen zugeschrieben (ebd.). Andererseits nehmen Pillemer und Finkelohr (1989) eine größere Betroffenheit der Männer im Kontext der Ehepartnerpflege an. Geschlechtsspezifische Bedeutung hat die Gewalt auch dort, wo sie als eheliche Misshandlung auftritt.
Ausgewählte Literatur Görgen, Thomas, Ruben Bauer, Nina Fritsch, Werner Greve, Sandra Herbst, Sandra Kotlenga, Bekie Mauder, Nico Mild, Juliane Nachtmann, Barbara Nägele, Sabine Nowak, Christian Pfeiffer, Susann Rabold, Kathrin Rauchert, Michael Schröder, Clemens Tesch-Römer und Birgit Winkelsett. 2009. „Sicherer Hafen“ oder „gefahrvolle Zone“ ? Kriminalitäts- und Gewalterfahrungen im Leben älterer Menschen. Ergebnisse einer multimethodalen Studie zu Gefährdungen älterer und pflegebedürftiger Menschen. Berlin: Publikationsversand der Bundesregierung. Gröning, Katharina. 2018. Entweihung und Scham. Grenzsituationen bei der Pflege alter Menschen. 6., umfassend überarbeitete Auflage. Frankfurt a. M.: Mabuse.
Delinquenz älterer Menschen Thomas Görgen, Werner Greve und Arnd Hüneke
1
Einleitung
Mit ‚Altern‘ ist weithin die Vorstellung von nachlassenden Kräften und eingeschränkten Möglichkeiten, kurz: von Verlusten verbunden; das Bild, das wir uns im Alltag vom Alter machen (Filipp und Mayer 1999), ist nach wie vor nicht immer freundlich (Kruse und Schmitt 2005; Amrhein und Backes 2007, vgl. auch Göckenjan sowie Pichler i. d. B.). Alternsbezogene Forschung, insbesondere auch die Entwicklungspsychologie der Lebensspanne, hat seit nunmehr drei Dekaden versucht, dieses Bild zu ergänzen und teilweise zu korrigieren – mit einigem Erfolg (Rothermund und Mayer 2009; Kornadt et al. 2017). Zwar ist, wie Paul B. Baltes (1996) konzedierte, auch dies eine „Hoffnung mit Trauerflor“, aber die Perspektive hat sich deutlich zugunsten eines widerstandsfähigen, vielfach auch aktiven Alterns gewandelt (Greve und Staudinger 2006; Staudinger und Greve 2015; Zaidi und Howse 2017). Damit freilich geraten auch solche Aktivitäten älterer Menschen verstärkt in den Blick, die weniger erwünscht sind als Ehrenämter, aktives Großelternengagement oder berufliche Tätigkeiten über die konventionellen Ruhestandsgrenzen hinaus. Auch wenn spektakuläre Fälle wie die in Teilen der Presse sog. Opa-Bande (drei Männer im Alter von 64, 73 und 74 Jahren, die zwischen 1988 und 2004 12 Banküberfalle mit einer Beute von insgesamt 1,3 Millionen Euro begangen hatten) selbst auf lange Sicht extreme Ausnahmen bleiben dürften: Delinquentes Verhalten Älterer wird (ebenso wie die Bedrohung Älterer durch Kriminalität und Gewalt) vor dem Hintergrund des demografischen Wandels an Bedeutung gewinnen (Greve 2000). Selbst wenn sich die Relationen jüngerer zu älteren Delinquent/-innen (mit einer starken Unterrepräsentation Älterer; s. u.) nicht verändern, werden die absoluten Zahlen zunehmen, und es ist nicht auszuschließen, dass sich mit einer Veränderung der soziodemografischen Relationen auch diejenigen im Bereich der Kriminalität verändern werden. Mög© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_44
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licherweise wird es auch aufgrund steigender Altersarmut (vgl. dazu Engels sowie Brettschneider und Klammer i. d. B.) zu Veränderungen kommen. Obwohl numerische Größenordnungen hier nicht alleine den Ausschlag geben können, werden damit auch Fragen drängender, ob das System der Strafrechtspflege und insbesondere der Strafvollzug adäquat auf alte Menschen reagieren kann, ob ein eigenständiges Altersstrafrecht erforderlich ist und inwieweit eine auf alte Täter/-innen angepasste Kriminalprävention entwickelt werden muss. Vor allem aber wird die Bedeutung von über justizielle Reaktionen hinausgehenden Präventions- und Interventionsmöglichkeiten wachsen, und damit die Notwendigkeit differenzierter Erklärungen.
2
Deskriptive Befunde zur Delinquenz älterer Menschen
Altersdelinquenz gehört nach wie vor zu den wenig untersuchten Bereichen der Entwicklung im höheren und hohen Lebensalter. Die einschlägige Forschung war lange Zeit fast ausschließlich auf Hellfelddaten, d. h. auf Informationen zu behördlich registrierten Delikten angewiesen. Hier ist insbesondere die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) des Bundeskriminalamtes wichtig, die (unter Ausklammerung der Verkehrsstraftaten) über die von den Polizeien des Bundes und der Länder registrierten Fälle, die Tatverdächtigen und die Opfer Auskunft gibt; eine bundesweite PKS liegt seit dem Berichtsjahr 1993 vor. Wichtiger als die absolute Zahl tatverdächtiger Älterer (obwohl auch sie politische Aktivität forcieren könnte) ist hierbei die sog. Tatverdächtigenbelastungszahl (TVBZ), d. h. die Zahl der registrierten Verdächtigen je 100 000 der Wohnbevölkerung in der gleichen Altersgruppe. Allerdings dürfen auch diese Daten nur vorsichtig interpretiert werden: Sie hängen nicht nur von der Registrierungsgenauigkeit, sondern vor allem von der Kontrollintensität, der Anzeigebereitschaft und der Aufklärungsquote ab, die zwischen Zeitpunkten, Deliktsbereichen, Regionen und Altersgruppen erheblich variieren können. Solche Belastungsdaten werden vom Bundeskriminalamt nur mit Blick auf deutsche Tatverdächtige ausgewiesen, da die Bevölkerungsstatistik viele Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit (z. B. Tourist/-innen, Durchreisende, Personen, die sich illegal in der BRD aufhalten) nicht abbilden kann. Das grundsätzliche Bild, das sich auf der Grundlage der PKS zeichnen lässt, ist sehr klar: Nach einem steilen Anstieg zu Beginn des Jugendalters ist ab dem mittleren Erwachsenenalter ein deutlicher und sich bis ins höhere Alter fortsetzender Rückgang von Kriminalität zu verzeichnen. Von den insgesamt rund 2,11 Millionen registrierten Tatverdächtigen im Berichtsjahr 2017 waren knapp 153 181 (7,3 %) zum Zeitpunkt der Straftat 60 Jahre oder älter. Unter den Deutschen lag der Anteil der Tatverdächtigen im Alter von 60 Jahren und mehr mit 9,5 % etwas höher. Zehn Jahre zuvor waren auf die Altersgruppe ab 60 Jahren noch 6,5 % aller Tatverdächtigen und 7,5 % aller deutschen Tatverdächtigen entfallen. Über alle Delikte hinweg lag für das Berichtsjahr 2018 die TVBZ für (strafunmündige) Kinder (8 – 13 Jahre) bei 1 190, für Jugendliche (14 – 17 Jahre) bei 4 765 und für im strafrechtlichen Sinne Heranwachsen-
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de (18 – 20 Jahre) bei 5 321. Für die Altersgruppe ab 21 Jahren weist die PKS insgesamt eine Belastungszahl von 1 771 aus, und innerhalb dieser Gruppe ist ein kontinuier liches Sinken der TVBZ von 4 442 unter den 21- bis 24-Jährigen über 3 106 bei den 30- bis 39-Jährigen zu lediglich 870 in der Altersgruppe 60 – 69 Jahre zu verzeichnen. Unter den noch Älteren sinkt die Belastung noch deutlich unter diejenige, die für Kinder konstatiert wurde (70 – 79 Jahre: 514; 80 Jahre und älter: 262). Wird grob nach Delikten differenziert, ist die Belastung der Älteren am höchsten beim einfachen (i. e. zumeist Laden-) Diebstahl (TVBZ 60 – 79 Jahre: 159; 80 Jahre und älter: 78), der Beleidigung (116/34), dem Betrug (91/14) und der einfachen Körperverletzung (91/32). Auch hier ist die registrierte Kriminalität der 60-Jährigen und Älteren deutlich geringer als in der (deutschen) Gesamtbevölkerung. Im vergangenen Vierteljahrhundert (1993 – 2018) hat sich die polizeilich regis trierte Kriminalitätsbelastung der (deutschen) Bevölkerung ab 60 Jahren zunächst recht kontinuierlich von 591 Tatverdächtigen pro 100 000 (1993) auf 712 (2004) erhöht; in den Folgejahren (2005 – 2014) lag sie zwischen 653 und 687, um zuletzt (2018) auf 609 zu sinken. Die Belastung der 21- bis 59-jährigen deutschen Erwachsenen zeigt auf einem anderen Niveau einen ähnlichen Verlauf mit einem Höchstwert von 2 933 ebenfalls im Jahr 2004 und einem deutlichen Rückgang auf zuletzt 2 459 im Jahr 2018. Wird der Blick auf den Bereich der Gewaltdelikte konzentriert (sog. Summenschlüssel Gewaltkriminalität, der einfache Körperverletzungsdelikte nicht berücksichtigt), hat sich die Belastung der Altersgruppe 60+ im Zeitraum 1993 – 2005 stetig von 15 auf 24 Tatverdächtige pro 100 000 erhöht, stagniert seither weitgehend und ist im Vergleich zur Belastung aller anderen Altersgruppen gering. Im Jahr 2018 gab es unter den 60-Jährigen und Älteren 26 der Gewaltkriminalität Verdächtige pro 100 000; der entsprechende Wert lag etwa für die 21- bis 24-Jährigen bei 458 und war selbst in der Gruppe der 51- bis 59-Jährigen mit 68 deutlich höher. Alles in allem sind Ältere im polizeilichen Hellfeld somit eine zu wenig Besorgnis Anlass gebende Gruppe. Sie treten seltener als andere Altersgruppen und darüber hinaus ganz überwiegend im Bereich leichter Kriminalität in Erscheinung (jeweils BKA 2019). Das Bild einer geringen Kriminalitätsbelastung im höheren Lebensalter findet sich auch international. Nach FBI-Daten für den Zeitraum 1980 – 2004 wurden in den USA Ältere (55 Jahre und älter) seltener polizeilich auffällig als jede andere Altersgruppe (mit Ausnahme von Kindern unter 12 Jahren) und begingen zudem vor allem Delikte geringer Schwere (Feldmeyer und Steffensmeier 2007). Das Ausmaß der Alterskriminalität in den USA blieb den FBI-Daten zufolge in allen Deliktsbereichen über den 25-Jahreszeitraum von 1980 bis 2004 entweder gleich oder sank sogar (ebd.). Kratcoski und Edelbacher (2016) betrachten ebenfalls auf der Basis von Daten des FBI den Zeitraum 2000 – 2013 und stellen fest, dass sich der Anteil von 60-Jährigen und Älteren an allen Festnahmen wegen sog. Indexdelikte (schwere Gewalttaten, Diebstahlsdelikte und Brandstiftung) von 1,0 % auf 2,2 % erhöht hat (siehe auch Kratcoski 2018). Auch mit diesem Zuwachs bleibt die Belastung der Älteren weit unter der anderer Gruppen von Erwachsenen.
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Befunde auf der Basis polizeilicher oder auch justizieller Daten sind naturgemäß auf jene Kriminalität begrenzt, die den Strafverfolgungsinstanzen zur Kenntnis gelangt ist (sog. Hellfeld). Während insbesondere für Jugendliche eine große Zahl an Selbstberichtsstudien zu eigenem delinquenten Verhalten vorliegt (stellvertretend für viele Baier et al. 2009, Boers et al. 2014), sind entsprechende Dunkelfelddaten für Erwachsene und erst recht für das höhere Lebensalter in Deutschland auf wenige Studien begrenzt. Aus der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) liegen aus den Jahren 1990 und 2000 Befragungsdaten zu einigen Massendelikten (Steuerhinterziehung, Schwarzfahren, Ladendiebstahl, Fahren unter Alkoholeinfluss) vor, die auch Personen im mittleren und höheren Erwachsenenalter einschließen (vgl. dazu Lüdemann 2002; Mehlkop und Becker 2004). Kunz (2014) befragte in Südbaden ca. 2 000 Personen im Alter zwischen 49 und 81 Jahren. Etwa jeder vierte Befragte gab für die letzten zwölf Monate mindestens ein eigenes Delikt an. Am weitesten verbreitet waren Fahren unter Alkoholeinfluss, Steuerbetrug, Schwarzfahren, Diebstähle am Arbeitsplatz, Schwarzarbeit und Versicherungsbetrug. In der Gruppe der über 70-Jährigen ging die Delinquenz deutlich zurück. In Niedersachsen wurde 2014 eine repräsentative Stichprobe von ca. 6 000 Personen zwischen 16 und 97 Jahren u. a. nach eigener Delinquenz in den letzten zwölf Monaten befragt. Baier (2015) fand heraus, dass in der Altersgruppe ab 61 Jahren die Deliktmuster Schwarzfahren, Alkoholfahrten, Schwarzarbeit, Einkommenssteuerbetrug, Bestechung und Ladendiebstahl in einem über Einzelfälle hinausgehenden Maß berichtet wurden (so gaben 4,7 % der 61- bis 70-Jährigen für die letzten zwölf Monate mindestens eine Alkoholfahrt an, 0,4 % einen Ladendiebstahl), während z. B. Sachbeschädigung, Körperverletzung oder Fahrzeugdiebstahl jenseits der sechsten Lebensdekade praktisch nicht mehr vorkamen. Wenig ist darüber bekannt, wie sich kriminelle Karrieren im höheren und hohen Alter entwickeln. Sampson und Laub (2003, 2005) berichten, dass im Alter die kriminelle Aktivität auch bei zuvor intensiv delinquenten Personen und in Hochrisiko gruppen zurückgeht. Dabei gibt es allerdings eine große Variabilität individueller Verläufe. Personen mit langen kontinuierlichen Delinquenzkarrieren sind biografisch durch Instabilität in Bezug auf Wohnen, Arbeit und Partnerschaft, durch Inhaftierungen, unkonventionelle Lebensstile sowie Probleme beim Aufbau und der Aufrechterhaltung enger Beziehungen geprägt. Blokland et al. (2005) fanden in einer Studie der Entwicklung normbrechenden Verhaltens (Altersspanne 12 – 72 Jahre) heraus, dass es high-rate persisters gibt, die auch nach dem 50. Lebensjahr in beträchtlichem Maße kriminell aktiv sind und dabei eine Konzentration auf den Bereich der Eigentumsdelikte zeigen.
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Erklärungsansätze zur Kriminalität im Alter
Studien zur Phänomenologie von Alterskriminalität und Altersdelinquenz (vgl. u. a. Taylor und Parrott 1988; Fazel et al. 2002; Haesen et al. 2019) jenseits der Auswertung polizeilicher oder justizieller Statistiken konzentrieren sich, vermutlich auch wegen einer guten Verfügbarkeit, stark auf inhaftierte Ältere. Sie zeigen eine Dominanz von Diebstahlsdelikten und eine hohe Prävalenz psychiatrisch relevanter Störungsbilder (vor allem Alkoholabhängigkeit und psychotische Symptome, aber auch Persönlichkeitsstörungen, Depressionen, Angststörungen, Demenzen; Taylor und Parrott 1988; Fazel und Grann 2002; vgl. Brooke et al. 2018; Haesen et al. 2019); in einzelnen Arbeiten werden altersspezifische Erscheinungsformen delinquenten Handelns hervorgehoben (z. B. Stehlen als „sexuelle Ersatzhandlung“ und „bei Bewusstseinstrübung“; Möller 1977). Bereits in frühen, meist psychiatrisch orientierten Arbeiten (vgl. u. a. Fürst 1958; Bürger-Prinz und Lewrenz 1961) werden Straftaten Älterer – im Fokus hier häufig Sexualdelikte – insbesondere vor dem Hintergrund hirnorganischer Erkrankungen und alterskorrelierter Abbauprozesse betrachtet. Allerdings wird man bei verminderter Schuldfähigkeit in derartigen Fällen von Kriminalität im engeren Sinne gar nicht mehr sprechen. In ihrer südbadischen Dunkelfeldbefragung fand Kunz (2014) heraus, dass Delinquenz im Alter eher bei Personen mit mittlerem bis hohem sozialen Status anzutreffen war und sich insoweit keine Hinweise auf Altersarmut als treibende Kraft ergaben. Delinquentes Verhalten im Alter war hingegen verknüpft mit Merkmalen, die auch bei Jüngeren erklärungsmächtig sind – etwa mit Norminternalisierung, Selbstkontrolle oder den wahrgenommenen Einstellungen des sozialen Umfelds. Derartige Befunde werfen die Frage auf, inwieweit es altersspezifischer Erklärungsansätze für kriminelles Handeln bedarf. Der statistische Rückgang der Kriminalitätsbelastung mit dem Alter wird in einschlägigen Arbeiten mit schwindender körperlicher Kraft und Leistungsfähigkeit sowie sich durch Veränderungen von Lebensstilen und sozialen Rollen reduzierenden Tatgelegenheiten in Verbindung gebracht. Auch sehen Ältere möglicherweise Sanktionen und insbesondere Freiheitsstrafen vor einem verkürzten Zeithorizont als gravierendere Bedrohung an (Kreuzer und Hürlimann 1992; Steffensmeier und Allan 2000; Feldmeyer und Steffensmeier 2007). Insbesondere Dunkelfeldstudien können Hinweise darauf geben, inwieweit sich mit dem Alter das Profil (statistisch) präferierter Delikte in einer Weise ändert – etwa von der Körperverletzung zur Beleidigung, vom Diebstahl zum Betrug –, die mit anderen Anzeigewahrscheinlichkeiten und anderen Risiken der Strafverfolgung verknüpft ist. Die Dunkelfeldstudie von Kunz (2014) zeigt etwa, dass von der sechsten zur achten Dekade das alkoholisierte Fahren zurückgeht, während die relative Bedeutung von Schwarzfahren und Steuerbetrug zunehmen. Mit Blick auf künftige Entwicklungen könnten sich – jenseits demografischer Veränderungen – Ausmaß und Erscheinungsbild von Alterskriminalität auch vor dem Hintergrund der Veränderung von Alternsprozessen wandeln; wenn Men-
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schen länger leistungsfähig und aktiv bleiben, wächst auch die Wahrscheinlichkeit, dass eine verlängerte Aktivitätsphase bei einer Minderheit der Älteren ihren Ausdruck auch in biografisch später Delinquenz findet.
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Normative Perspektiven: Altersspezifische Sanktionierung ?
Die PKS kann naturgemäß nur Tatverdächtige registrieren; nicht in jedem Fall lässt sich der Verdacht erhärten und nicht in jedem Fall folgt hieraus eine Sanktion. Die Strafverfolgungsstatistik (StaBuAmt 2018g), die im Unterschied zur PKS auch Verkehrsstraftaten berücksichtigt und zwischen Verurteilten im Alter von 60 bis unter 70 Jahren sowie ab 70 Jahren differenziert, zeigt, dass im Jahr 2017 lediglich 5,9 % aller Verurteilten auf Personen im Alter ab 60 Jahren entfielen (42 324 von 716 044 Verurteilten insgesamt). Es wurden 27 376 Personen im Alter von 60 bis unter 70 Jahren und 14 948 im Alter von 70 Jahren und mehr verurteilt. Unter den Personen im Alter von 70 Jahren und mehr machen Verurteilungen wegen Verkehrsstraftaten 60,5 % aller Verurteilungen aus. Ein Überwiegen von Verurteilungen wegen Verkehrsdelikten findet sich in keinem anderen Alter. Unter den 60- bis 69-Jährigen entfallen 39,8 % der Verurteilungen auf Straftaten im Verkehr, über alle Altersgruppen hinweg sind es 22,2 %. Von Älteren werden insgesamt eher weniger schwerwiegende Delikte begangen. Hinzu kommt die verschiedentlich geäußerte Vermutung einer tendenziell milderen justiziellen Behandlung Älterer. Tatsächlich weisen mehrere Arbeiten (Flynn 2000; Steffensmeier und Motivans 2000; Terry und Entzel 2000; Fazel und Jacoby 2002; Lachmund 2011) darauf hin, dass Ältere bei im Erscheinungsbild vergleichbaren Taten seltener zu Freiheitsstrafen verurteilt werden als Jüngere und dass die gegen sie verhängten Haftstrafen kürzer ausfallen. In derartigen Strafzumessungsunterschieden kommen zugleich richterliche Überlegungen zum Ausdruck, bei denen zugeschriebene Rückfallwahrscheinlichkeiten, die individuelle Schuldhaftigkeit des Handelns, aber auch Vollzugskosten eine Rolle spielen (Steffensmeier und Motivans 2000). Im Strafvollzug der Bundesrepublik Deutschland saßen am 31. März 2018 insgesamt 2 104 Personen im Alter von über 60 Jahren ein. Langfristig ist die Zahl der Älteren im Vollzug trotz einer insgesamt im letzten Jahrzehnt von fast 65 000 auf rund 50 000 gesunkenen Zahl von Strafgefangenen angestiegen (1993: 537, 1998: 985; 2010: 2 043; vgl. StaBuAmt 2018h). Für diesen Anstieg werden mehrere Gründe verantwortlich zu machen sein (Görgen und Greve 2005a); neben der naheliegenden Vermutung, dass härtere Strafen bei jüngeren Erwachsenen zu längeren Strafdauern und damit zu einer älteren Population in den Strafvollzugsanstalten führen, wäre auch eine härtere Sanktionierung älterer Straftäter/-innen denkbar. Die Diskussion, ob es als Reaktion auf Altersdelinquenz nicht – ähnlich wie bei Jugendlichen und Heranwachsenden – eines eigenständigen Altersstrafrechts bedürfte (vgl. etwa bereits Amelunxen 1960; zum Stichwort „Seniorenstrafrecht“ vgl. auch Igl i. d. B.), dauert an. Dies betrifft u. a. Fragen der Strafzumessung, die insbesondere in
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Bezug auf Freiheitsstrafen und deren Dauer Bedeutung erlangen. Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs gibt weder das Alter des Täters/der Täterin noch die statistische Lebenserwartung eine Strafobergrenze vor. Vielmehr ist die Strafzumessung nur dadurch zu treffen, dass dem Verurteilten eine gewisse Chance verbleibt, sein Lebensende nach dem Vollzug der Freiheitsstrafe in Freiheit zu verbringen. Allerdings wurde nach einer Entscheidung des BGH bei einem außergewöhnlich hochaltrigen Angeklagten (hier 91 Jahre, Anklage wegen Mordes in 59 Fällen bei einer Vergeltungsmaßnahme 1944 in Italien) das Verfahren eingestellt (BGH NStZ 2005, S. 36), weil hier die Gefahr bestehe, dass der Angeklagte nur noch als Objekt der Strafverfolgung behandelt werde. Abgesehen von der im Einzelfall schwierigen Frage, ob (ältere) Straftäter/-innen das Unrecht ihrer Tat einsehen und danach handeln können, ist stets zu prüfen, inwieweit Strafe bei einem sehr alten Menschen über den Schuldausgleich hinaus noch einen Zweck erfüllen kann: Der Schutz der Gesellschaft wird durch einen 90-Jährigen gewiss anders herausgefordert als durch einen 30-Jährigen. Kreuzer und Hürlimann (1992, S. 76) wiesen in diesem Sinne auf die Möglichkeit hin, hohes Alter und einen schlechten Gesundheitszustand als bei der Strafzumessung zu gewichtenden Aspekt in § 46 StGB aufzunehmen. In der Fachliteratur wird heute mehrheitlich die Position vertreten, dass es – nicht zuletzt mit Blick auf die Heterogenität von Alter sowie auf Stigmatisierungs- und Ausgrenzungsrisiken – nicht sinnvoll ist, ein spezifisches Altersstrafrecht zu schaffen, es aber zugleich eines besonderen Schutzes Älterer im Strafverfahren bedarf (u. a. Poltrock 2013; Fünfsinn 2015). Fünfsinn (2015) regt in diesem Sinne die Einrichtung einer spezifischen Altersgerichtshilfe an. Naheliegend dürften insbesondere Vollzugslösungen sein, etwa die Gewährung vorzeitiger Haftentlassungen oder Lockerungen. Fraglos ist insbesondere der Strafvollzug gefordert, dem fortschreitenden Alter seiner Insassen adäquat zu begegnen (Görgen und Greve 2005a; Greve und Mößle 2007). Dabei stehen u. a. Fragen nach realistischen und altersangemessenen Vollzugszielen, die hohen Vollzugskosten insbesondere im Bereich der Gesundheitsversorgung, die relativ geringe Gefährlichkeit der meisten älteren Täter/-innen (Laubenthal 2015) sowie die Frage einer Separierung des Erwachsenenvollzugs nach Altersgesichtspunkten und der Schaffung besonderer Anstalten für ältere Gefangene im Mittelpunkt. Während in Deutschland mit der Außenstelle der JVA Konstanz im baden-württembergischen Singen lediglich eine spezielle Seniorenanstalt (für Gefangene ab 62 Jahren) besteht (vgl. Schramke 1996; Rennhak 2007), haben Anstalten in mehreren Bundesländern inzwischen Abteilungen für ältere Gefangene eingerichtet (JVA Schwalmstadt in Hessen, vgl. Porada 2007; Fleck 2014; JVA Detmold in Nordrhein-Westfalen, vgl. Zahn 2014; JVA Waldheim in Sachsen, vgl. Ast 2015). Die Gefangenen sind in diesen Einrichtungen meist unter wohngruppenähnlichen Bedingungen untergebracht und erhalten altersspezifische Hilfe- und Behandlungsangebote. Die JVA Hövelhof in Nordrhein-Westfalen verfügt sogar über eine Pflegeabteilung (Oberfeld 2015). In den USA mit ihren hohen Zahlen bis zum Lebensende Inhaftierter (Auerhahn 2002) haben Palliativmedi-
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zin und Hospizpflege bereits in breiterem Maße Einzug in die Haftanstalten gehalten (Linder und Meyers 2007; Maschi et al. 2014), doch ist der Strafvollzug insgesamt noch unzureichend auf ältere, hochaltrige, pflegebedürftige und in Haft sterbende Täter/-innen eingestellt (Balazs 2001; Aday 2006; Yorston und Taylor 2006). Jenseits einer justiziellen Erledigung stellt sich die Frage, wie unter Delinquenzund insbesondere Sanktionsbedingungen, im Extremfall im Strafvollzug, ein ‚gelingendes Altern‘ überhaupt gefördert werden kann. Gesellschaftliche Reaktion darf ja nicht nur den Schutz der Gemeinschaft (der im Regelfall kaum ernstlich bedroht sein dürfte) und auch nicht nur Sühne- oder, zeitgemäßer, Normverdeutlichungsgesichtspunkte im Auge haben, sondern muss auch die Chance der (Wieder-)Eingliederung in die soziale Gemeinschaft eröffnen. Wenn dies bei „alten Kunden“ (Hasenpusch 2007) auch zunehmend weniger aussichtsreich sein mag, wird es doch eine (wachsende) Gruppe von in höherem Alter erstmals auffälligen Straftäter/-innen geben, die gewiss gesellschaftlichen Einsatz sehr spezifischer Art benötigen – und verdienen. Dazu ist der Bezug auf theoretische und empirisch fundierte Modelle gelingenden Alterns unerlässlich (Greve und Staudinger 2006). Sie in praktische Programme auch bei Altersdelinquenz umzusetzen, ist die Herausforderung der – vermutlich nahen – Zukunft.
Ausgewählte Literatur Greve, Werner, und Regine Mößle. Hrsg. 2007. Ältere Menschen im Strafvollzug. Kriminal pädagogische Praxis (Themenheft) 35. Kreuzer, Arthur, und Michael Hürlimann. 1992. Alte Menschen als Täter und Opfer: Alterskriminologie und humane Kriminalpolitik gegenüber alten Menschen. Freiburg: Lambertus. Kunz, Franziska, und Hermann-Josef Gertz. 2015. Straffälligkeit älterer Menschen. Heidelberg: Springer.
Demenz als soziales Phänomen Peter Wißmann
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Einleitung
Demenz wurde lange Zeit als ein rein medizinisches Problem, allenfalls noch als eine pflegerisch relevante Herausforderung begriffen. Mittlerweile wird sie immer mehr als soziales Phänomen thematisiert. Kognitive Beeinträchtigungen haben zum einen (psycho-)soziale Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen und deren soziale Bezugspersonen. Zum anderen sind es nicht so sehr neurobiologische, sondern vielmehr soziale Faktoren, die ausschlaggebend für die Lebensqualität der betroffenen Menschen mit und trotz einer demenziellen Behinderung sind. Dazu zählen Fragen von Verständnis, Toleranz und Wissen auf Seiten der Menschen (Bürger/-innen allgemein, An- und Zugehörige, beruflich und freiwillig Unterstützende und viele mehr). Schließlich kommt es insbesondere auch auf die Verfasstheit des gesellschaftlichen Umfeldes an: Setzt es nur auf Versorgung und Betreuung oder eröffnet es Möglichkeiten der Teilhabe und Mitwirkung ? Ist es inklusiv ausgerichtet und ermöglicht dadurch die Erfahrung von Normalität und Begegnungen mit anderen Menschen oder exkludiert es die Betroffenen, indem es Sonderwelten schafft ?
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Neurokognitive Veränderungen durch Demenz
Eine spezielle Herausforderung, mit der sich vorrangig ältere Menschen inklusive ihres sozialen Umfelds konfrontiert sehen, sind neurokognitive Veränderungen, die zu einem Verlust an Alltagskompetenzen führen und die Selbstständigkeit sowie die Selbstbestimmung der betroffenen Personen massiv bedrohen. Diese werden in der Regel unter dem Terminus Demenz diskutiert, sowohl im Fachdiskurs als auch im alltäglichen Sprachgebrauch. Es wird jedoch auch Kritik an dem Begriff Demenz formuliert, weil dieser zu unspezifisch, wissenschaftlich nicht haltbar (Whitehouse und © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_45
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Peter Wißmann
George 2009), vor allem aber diskriminierend (de mens = weg vom Geist, geistlos) und Angst sowie Abwehr erzeugend sei (Wißmann 2015, S. 65 ff.). Im US-amerikanischen Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) (Falkai und Wittchen 2018) findet der Terminus Demenz keine Verwendung mehr. Hier ist stattdessen von neurokognitiven Störungen die Rede. Die Zahl der von kognitiven Beeinträchtigungen betroffenen Menschen ist hoch. In Deutschland sollen es gegenwärtig 1,7 Millionen Personen sein. Weltweit geht man von rund 47 Millionen Betroffenen aus (ADI 2015) und prognostiziert einen stetigen Anstieg der Zahlen. Auch wenn einige jüngere Kohortenstudien für Europa einen Rückgang für möglich halten (Roehr et al. 2018), ändert das nichts an der Tatsache, dass die alternde Gesellschaft mit einem großen Anteil kognitiv veränderter Personen leben und sich darauf einstellen muss.
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Entwicklungen im Umgang mit Demenz
Sowohl die (medizinische) Betrachtung als auch die Diskussion des Phänomens Demenz hat in den zurückliegenden Jahrzehnten in Deutschland und anderen westlichen Industriegesellschaften unterschiedliche Phasen durchlaufen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Zeit ab Mitte der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Forschung und Medizin entdeckten das Thema nach einer Phase relativer Ruhe neu (Wetzstein 2005, S. 37 ff.). Es begann ein Prozess, der in einer steigenden Zahl an Publikationen, Vorträgen, vor allem aber Forschungsvorhaben mündete. Charakteristisch für diese Phase war der ausschließlich medizinisch orientierte Blick auf das Phänomen. Demenz wurde als rein neurologisch-biologisches Konstrukt verstanden. Die intensive Auseinandersetzung mit ihm galt der Suche nach einer pharmakologischen Lösung. Dass es eine solche generell und zudem in einem absehbaren Zeitraum geben würde, galt als selbstverständlich. Entsprechend vollmundig klangen auch die kontinuierlich abgegebenen Versprechen in Richtung Politik, Gesellschaft und natürlich auch der Finanziers der schnell expandierenden Grundlagen- und Pharmaforschung. Aus dem Demenzdiskurs von Medizin und Neurobiologie entwickelte sich nach und nach auch eine pflegerische Auseinandersetzung mit der Zielgruppe ‚verwirrter‘ (alter) Menschen. Noch etwas später meldeten sich pflegende Angehörige solcher Personen zu Wort und brachten ihre Perspektive und Bedarfe als sekundär Betroffene in die Diskussion ein. Der medizinische Mono-Diskurs hatte sich geweitet, blieb aber immer noch einer (irrealen) Hoffnung auf eine pharmakologische Problemlösung und einem äußerst defizitären Demenzbild verhaftet. Mit seinem Konzept der person-zentrierten Pflege brachte der britische Sozialpsychologie Tom Kitwood (2016) dieses Defizit-Bild ins Taumeln. Wo bis dato vom Verschwinden des Personseins einer kognitiv veränderten Person die Rede war, hieß es nun, dass dieses Personsein auch in einem demenziellen Prozess potenziell existent
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bleibt und zur Entfaltung gebracht werden kann. Hierzu bedarf es laut Kitwood der Unterstützung der Begleitenden. Das Personsein zu ermöglichen, wurde von ihm zur zentralen Aufgabe jeglicher Begleitung betroffener Menschen erklärt. Aus dem Demenzkranken kann so die Person mit Demenz werden. Kitwoods Einfluss auf die Betreuungspraxis war und ist erheblich. Gleichwohl fehlten bis dahin noch zwei wichtige Orientierungen: Wo blieben in dem Geschehen die Betroffenen selbst ? Wieso wurde immer noch eher über sie oder für sie gesprochen, anstatt dass sie selbst zu Wort kamen und als Expert/-innen in eigener Sache wahrgenommen wurden ? Inspiriert von Aktivitäten aus dem Vereinigten Königreich Großbritannien, die unter dem Motto Hearing the voice of people with dementia (Goldsmith 1996) stattfanden, wurden auch in Deutschland Initiativen gestartet, die den Blick auf die Betroffenen selbst richteten und Artikulations- sowie Partizipationsmöglichkeiten eröffnen wollten (Demenz Support Stuttgart 2010). Im Weiteren wurde über die immer noch primär auf die Einzelperson gerichtete person-zentrierte Perspektive hinaus das Gemeinwesen als zentrales Handlungsfeld entdeckt. Auch hier kam der Impuls aus Großbritannien, konkret aus Schottland. Unter dem Stichwort ‚demenzfreundliche Kommune‘ und zivilgesellschaftlich inspiriert entwickelte sich der Versuch, ein akzeptierendes Umfeld zu schaffen, das die Andersartigkeit der sog. Demenz nicht als Exklusionsgrund nimmt, sondern als Teil einer Gesellschaft der Verschiedenartigkeit wertschätzt. Personen mit kognitiver Beeinträchtigung sind dann nicht primär oder gar ausschließlich Kranke, sondern Bürger/-innen, die ein Recht auf Inklusion und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben haben (Wißmann und Gronemeyer 2008). Damit sind die zentralen Stichworte benannt, um die es in der Auseinandersetzung mit dem Phänomen kognitiver Beeinträchtigungen heute gehen muss. Sie lauten Partizipation bzw. gesellschaftliche Teilhabe, Inklusion, Befähigung, Selbstbestimmung, Selbstartikulation, Bewusstseinsveränderung und Schaffung einer sorgenden Gemeinschaft sowie Sozialraumentwicklung und Gemeinwesenarbeit. Blickerweiterung: Bevor diese Stichworte in die Praxis umgesetzt werden können, muss jedoch mit einem blinden Fleck im Umgang mit dem Thema Demenz aufge räumt werden. Sowohl im Alltagsverständnis der meisten Menschen als auch im Bewusstsein professioneller Helfer/-innen sowie Expert/-innen findet in der Regel eine Fokussierung auf Personen statt, die sehr stark in ihren Kompetenzen einge schränkt sind und einen hohen Unterstützungsbedarf haben. Diese Reduktion führt jedoch dazu, dass all diejenigen von kognitiver Beeinträchtigung betroffenen Menschen nicht wahrgenommen werden, die diesem Bild nicht entsprechen. Diese oftmals eher unbefriedigend als Frühbetroffene titulierte Personengruppe ist jedoch sehr groß, hat spezifische Anforderungen an eine adäquate Unterstützung (die sich von denen schwerbetroffener Menschen stark unterscheiden) und verfügt potenziell über viele Fähigkeiten, im Sinne von Selbstartikulation, Selbstbestimmung und Teilhabe aktiv zu werden (vgl. Müller 2018).
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Blickrichtungswechsel: In den zurückliegenden Jahren hat sich vieles in der gesell-
schaftlichen Wahrnehmung des Phänomens Demenz positiv verändert. Gleichwohl sind auch wohlwollende Bilder von sog. Demenzbetroffenen immer noch stark an eine fürsorgliche Haltung gebunden, die für die/den Andere/-n tut und sie/ihn vor allem als Empfänger/-in von Unterstützung betrachtet. Pflege und Betreuung prägen nach wie vor den Umgang mit den betroffenen Menschen. Betrachtet man die politische Diskussion zum Thema Demenz, scheint sie vor allem ein pflegerisches Problem darzustellen, dessen man durch den Ausbau von Unterstützungsleistungen im Pflegeversicherungsgesetz und durch einen Stellenausbau in den Betreuungseinrichtungen Herr werden möchte (vgl. BMFSFJ 2002a). In der Tat wurden in den zurückliegenden Jahren durch gesetzgeberische Maßnahmen kontinuierlich neue Unterstützungsleistungen und Finanzierungsmöglichkeiten für pflegebedürftige Menschen sowie für pflegende Angehörige eingeführt. Eine zentrale Rolle spielten hierbei die Reformen des Sozialgesetzbuches XI, die unter Bezeichnungen wie beispielsweise Pflegeleistungsergänzungsgesetz vor allem erhöhte Geldleistungen für Unterstützungsmaßnah men eröffneten, die spezifischen Bedarfe kognitiv veränderter Menschen jedoch nur unzureichend berücksichtigten. Mit den Pflegestärkungsgesetzen (PSG) I, II und III wurde vom Gesetzgeber der Versuch unternommen, diese Fehlstellung zu korrigieren (BMG 2019). Doch sind Verbesserungen sozialrechtlicher Leistungen nicht ausreichend, wenn es um grundlegende Fragen wie die nach der gesellschaftlichen Teilhabe demenziell veränderter Menschen geht. Jedoch wird man das Wort Demenz eher selten in den diversen Inklusions- und Teilhabegremien sowie Arbeitszusammenhängen auf lokaler und übergeordneter Ebene zu hören bekommen. Dabei müsste es spätestens seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention – kurz BRK (vgl. BMAS 2011) – im Jahr 2009 klar sein, dass eine demenzielle Beeinträchtigung ebenso als eine Behinderung anzusehen ist wie beispielsweise Blindheit. Und dass die zentralen Leitziele daher nicht Versorgung und Pflege, sondern Inklusion und Teilhabe lauten. Teilhaben und mitreden: Die Möglichkeit zur Teilhabe an den gesellschaftlichen Res-
sourcen stellt laut BRK ein Menschenrecht dar, die auch für diejenigen Bürger/-innengruppen sicherzustellen ist, die aufgrund einer körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigung daran gehindert werden. Doch nicht allein diese rechtliche Normierung sollte als Begründung für eine teilhabeorientierte Ausrichtung (nicht nur) Sozialer Arbeit herangezogen werden. Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen formulieren in der Regel als zentrale Wünsche und Forderungen an ihr Umfeld, Teil der Gemeinschaft bleiben zu können, nicht ausgeschlossen zu werden und weiterhin Dinge tun zu können, die ihnen bedeutsam sind (vgl. Alzheimer’s Association 2008; Alzheimer’s Society 2010; Demenz Support Stuttgart 2010). Das ist nichts anderes als die alltagssprachliche Definition der Fachtermini Inklusion und Teilhabe. In einem fürsorglich-versorgenden Denken, das als nach wie vor vorherrschend beschrieben wurde, ist die gesellschaftliche Teilhabe demenziell veränderter Menschen
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kaum vorstellbar. Denn diese erfordert einen Abschied von tradierten Demenzbildern (s. o.). Dabei kann an erfolgreiche Praxisbeispiele angeknüpft werden. So wurden beispielsweise Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung dabei unterstützt, sich in Buchform, in speziellen Workshop-Formaten, im Rahmen von Veranstaltungen, durch die Mitwirkung an Forschungsprojekten oder auch in kulturellen Formen, z. B. in Form einer Rap- sowie einer Schlager-CD, zu artikulieren (Wißmann 2019). Mit dem YouTube-Kanal www.kukuk-tv.de wurde sogar eine mediale Möglichkeit geschaffen, kontinuierlich die Perspektive älterer und altersbedingt beeinträchtigter Menschen öffentlich zum Ausdruck zu bringen. Die genannten Beispiele sind jedoch nicht allein Ausdruck praktizierter Selbstartikulation, sondern ebenso praktischer (sozialer, politischer, kultureller) Teilhabe sowie Teilgabe, also einem aktiven Geben und Beitragen (Dörner 2012, S. 52). Die Beispiele leisten zudem einen wichtigen Impuls zur Veränderung gesellschaftlicher Bilder von sog. Demenz. Unterstützte Selbsthilfe: Neue Bilder von Demenz spielen auch mit Blick auf ein weiteres Stiefkind im Umfeld des Themas Demenz eine wichtige Rolle. Ist hier nämlich von Selbsthilfe die Rede, ist damit automatisch stets die Selbsthilfe pflegender Anund Zugehöriger gemeint, wie sie sich seit vielen Jahren im deutschsprachigen Raum entwickelt hat und mittlerweile fester Bestandteil des Unterstützungssystems ist. Dass viele Menschen mit kognitiver Veränderung sich jedoch selbst – ganz ohne Angehörige und lenkende Fachkräfte – gegenseitig unterstützen können, scheint überwiegend undenkbar zu sein. Vor einigen Jahren haben sich jedoch Demenzbetroffene mit Unterstützung professioneller Helfer/-innen, sicherlich nicht zufällig alle aus dem Bereich der Sozialen Arbeit, daran gemacht, das Konzept unterstützter Selbsthilfe zu formulieren (Demenz Support Stuttgart 2012). In diversen Gruppen wird es praktiziert und bietet den Teilnehmenden eine für sie unersetzliche Unterstützung. Inklusive Gesellschaft: Selbsthilfegruppen stellen einen wichtigen Baustein im Konzept von Teilhabe dar. Und das, obwohl ihr Kern und ihre Bedeutung ja gerade in einer Mono-Struktur begründet sind (ausschließlicher Zusammenschluss Gleichbetroffener). Das macht im Kontext von Selbsthilfegruppen Sinn bzw. stellt ein unabdingbares Merkmal dar. In solchen Gruppen erfahren betroffene Menschen Stärkung, die oftmals dazu führt, dass sie wieder Anschluss an das gesellschaftliche Leben suchen oder gar den Schritt in die Öffentlichkeit wagen. Auch wenn es für bestimmte Personen und Bedürfnisse immer auch spezielle Angebote und Settings geben muss, muss jedoch mit Blick auf gesellschaftliche Teilhabe im Ganzen die Notwendigkeit von Strukturen der Vielfalt betont werden. Dort, wo umfassend Spezialwelten für bestimmte Bürger/-innengruppen vorherrschen, kann Teilhabe nicht stattfinden. Gefordert sind vielmehr inklusive Settings, die prinzipiell allen offen stehen und ein Miteinander ermöglichen. Das in Jahrzehnten im deutschsprachigen Raum entstandene System des Umgangs mit dem Thema Demenz steht jedoch im eklatanten Wider
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spruch zu dieser Aussage. In ihm dominieren Separierung von Personengruppen und eine immer weiter voranschreitende Spezialisierung von Angeboten. Man kann daher aus guten Gründen von einer Parallelwelt sprechen (Wißmann 2015). So ist es üblich Tanzcafes, Sportangebote, Malen, Gottesdienste und vieles mehr als Spezialangebote für Menschen mit Demenz zu schaffen, ohne sich die Mühe zu machen zu prüfen, wie die ‚normalen‘ Angebote – sei es ein Offenes Atelier, ein Sportangebot oder auch der gemeindliche Gottesdienst – für Personen mit kognitiver Einschränkung nutzbar gemacht werden könnten. Staatliche Förderprogramme unterstützen diese Fehlentwicklung oftmals. Eine solche Ausrichtung verhindert jedoch gesellschaftliches Lernen (Miteinander umgehen, Bilder korrigieren) und widerspricht dem Leitbild eines inklusiven, Teilhabe ermöglichenden Gemeinwesens. Gegensteuern ließe sich, indem neue inklusive Freizeit-, Kultur- und soziale Angebote initiiert und geschaffen werden (Demenz Support Stuttgart 2017). Dazu müssten gesellschaftlich relevante Akteure wie zum Beispiel Vereine bei einer inklusiven Öffnung für die Zielgruppe der Menschen mit kognitiver Problematik begleitet (Demenz Support Stuttgart 2016), oder im Rahmen von sozialräumlichen Entwicklungsprozessen die Zielgruppe aktiv eingebunden und ihre Interessen eingebracht werden. Dabei geht es dann jedoch nicht um die Schaffung demenzgerechter Umwelten, sondern um die Schaffung eines Gemeinwesens, in dem auch Menschen mit demenzieller Behinderung ihren Platz als Bürger/-innen haben (BMFSFJ 2018b). Und die schwer Beeinträchtigten ? Auf den ersten Blick mag es so erscheinen, als
nähme das bis hierhin Ausgeführte ausschließlich die bisher vernachlässigten Frühbetroffenen in den Fokus und verlöre dafür diejenigen Menschen aus dem Auge, die mit sehr schweren kognitiven Beeinträchtigungen leben müssen. Doch darum kann es nicht gehen. Teilhabe stellt eine übergeordnete Zielsetzung dar, die alle Menschen betrifft. Kognitiv schwer Behinderte haben ebenso Anspruch auf gesellschaftliche Teilhabe, wie Menschen mit keinen oder mit weniger schweren Beeinträchtigungen. Die von schwereren Formen der Demenz Betroffenen werden anders und noch stärker auf die Unterstützung durch Dritte angewiesen sein, doch gerade das stellt die Begleiter/-innen vor hohe Herausforderungen. Sie dabei zu begleiten, eine teilhabe orientierte Blickweise auch bei den Personen zu entwickeln, die stets Gefahr laufen, nur noch unter den Aspekten von Pflege und Versorgung betrachtet und behandelt zu werden, könnte eine Aufgabe der Sozialen Arbeit sein. Zur Herausbildung einer solchen ‚Teilhabebrille‘ können vor allem aber auch die kognitiv beeinträchtigten Menschen selbst beitragen, die aufgrund ihrer Kompetenzen in der Lage sind, sehr intensiv Partizipations-, Selbsthilfe- und Selbstartikulationsaktivitäten zu entwickeln (vgl. hierzu Demenz Support Stuttgart 2017). So lässt sich ein gesellschaftlicher Bewusstseinswandel fördern, der letztendlich allen zu Gute kommt.
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Ausblick
Im Bereich von Medizin und Pharmaforschung ist mit Blick auf demenzielle Veränderungen wenig Neues zu vermelden. Zwar findet hier die jahrzehntelange Praxis der Ankündigung neuer bahnbrechender Lösungen ihre Fortsetzung. Jedoch konnten diese Ankündigungen in der Praxis bisher in keinem Fall eingelöst werden. Erst 2016 scheiterte wieder einer der euphorisch gefeierten Hoffnungsträger, als der USPharmakonzern Eli Lilly mitteilen musste, dass das Mittel Solanezumab sein Ziel, Gedächtnisabbau zu verlangsamen oder zu verhindern, nicht erreicht hat (Laschet 2018). Ein anderer Pharmariese, der Pfizer-Konzern, stellte mittlerweile seine Forschung nach Alzheimermedikamenten ein (Glaeske und Ludwig 2018, S. 312). Als äußerst schwierig erweist sich auch die Situation im Bereich der ambulanten und der stationären Versorgung kognitiv beeinträchtigter Personen. Der akute Personalmangel stellt dabei eines der Hauptprobleme dar (Isfort et al. 2014, S. 73 ff.). Von Seiten der Bundespolitik sind zwar vermehrt Versuche zu registrieren, das Problem der Rekrutierung von Fachkräften ernsthaft anzugehen (vgl. Gesetz zur Stärkung des Pflegepersonals/Pflegepersonal-Stärkungsgesetz – PpSG vom 11. Dezember 2018; vgl. auch Osterloh 2018), doch sind Zweifel erlaubt, ob diese Maßnahmen ausreichen werden, spürbare Verbesserungen zu bewirken. Mit Blick auf pflegende Angehörige muss es zukünftig darum gehen, neue Formen der Unterstützung zu entwickeln und umzusetzen. Angebote wie eine mobile Demenzberatung (Reichert et al. 2016) oder Versuche, Familienbegleitung durch engagierte Freiwillige (Kricheldorff und Brijoux 2016) zu leisten, weisen in die richtige Richtung, sind bisher jedoch nur vereinzelt vorzufinden oder kommen über eine Modellphase nicht hinaus. Verbessert haben sich die Bedingungen für die Schaffung gemeinschaftlicher, kleiner Wohn- und Versorgungseinheiten, wie Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz, und alternative Pflegesettings (Kricheldorff und Hewer 2016). Diese leisten nicht nur einen Beitrag zur Versorgungsvielfalt, sondern bieten die Chance, einen Paradigmenwechsel zu bewirken: von Pflege und Versorgung hin zu mehr Normalität, Alltagorientierung und gesellschaftliche Teilhabe (Klie et al. 2017). Der Trend zu solchen Wohn- und Pflegesettings dürfte in der Zukunft weiter anhalten. Nicht zuletzt deshalb, weil sie sowohl im Kontext ländlicher Räume als auch kleinteiliger städtischer Quartiere einen Großteil des Versorgungsbedarfs abdecken und eine regionale Verankerung sicherstellen können. Ohnehin geht es bundesweit immer stärker darum, den Fokus auf kleinteilige räumliche Einheiten als Handlungsfeld zu richten. Ausdruck hierfür sind unter anderem landesspezifische Programme zur Förderung von Quartiersstrukturen, so beispielsweise das Programm Quartier 2020 in Baden-Württemberg (MSI BW 2019). Sind diese übergreifend auf die dort lebenden Menschen ausgerichtet, richten sich zunehmend auch Bemühungen darauf aus, die Belange älterer sowie demenziell beeinträchtigter Personen in ihrem Kontext adäquat aufzugreifen (BMFSFJ 2018b).
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In diesem Zusammenhang spielen zunehmend auch regionale Netzwerke eine zentrale Rolle. Eine Evaluationsstudie zeigte auf, dass regionale Demenznetzwerke „zur Überwindung von Schnittstellenproblematiken und somit zu einer Versorgungs sicherheit und besseren sozialen Integration von Betroffenen beitragen können“ (Wolf-Ostermann et al. 2017, S. 23). Gemeint sind hier professionelle Netzwerke, in denen vorrangig bis ausschließlich die Anbieter und Erbringer von Dienstleistungen ihre Aktivitäten bündeln und aufeinander abstimmen. Wenn es jedoch um die soziale Inklusion und gesellschaftliche Teilhabe kognitiv veränderter Menschen geht, reichen diese versorgungsorientierten Profi-Strukturen nicht aus, sondern bedarf es zivilgesellschaftlich angelegter Netzwerkstrukturen, in denen Akteure wie Vereine, Kirchengemeinden, Gewerbetreibende, Institutionen wie beispielsweise Volkshochschulen und engagierte Bürgerinnen und Bürger vertreten sind. Solche Verbundbildungen zu fördern war das Ziel des vom BMFSFJ aufgelegten Förderprogramms „Lokale Allianzen für Menschen mit Demenz“, das seine Fortsetzung in der Einrichtung einer Netzwerkstelle fand, die als Anlaufstelle für bestehende Allianzen und Akteure, die neue Netzwerke aufbauen wollen, fungiert (BAGSO 2018). Eine große Herausforderung stellen jedoch nach wie vor Handlungsansätze dar, in denen es darum geht, reale Möglichkeiten der Selbstvertretung und der Partizipation für Menschen mit kognitiver Einschränkung zu entwickeln und zu erschließen. Hier bedarf es in der Zukunft vor allem Angeboten, die der Vermittlung kreativer und innovativer Vorgehensweisen und Methoden dienen, da es oftmals vor allem an der Phantasie fehlt, die notwendig ist, um festgefahrene Denkstrukturen und Handlungsroutinen zu überwinden. Aktuelle Initiativen im Bereich der unterstützten Selbsthilfe und Selbstvertretung von Menschen mit kognitiver Einschränkung können hier wichtige Impulse geben (vgl. etwa die Beiträge in demenz. DAS MAGAZIN 41/2019).
Ausgewählte Literatur Demenz Support Stuttgart. Hrsg. 2017. Beteiligtsein von Menschen mit Demenz. Praxisbeispiele und Impulse. Frankfurt am Main: Mabuse. Müller, Matthias. 2018. Zur Soziologie früher Demenz. Doing dementia. Opladen, Berlin und Toronto: Barbara Budrich. Wißmann, Peter, und Reimer Gronemeyer. 2008. Demenz und Zivilgesellschaft – eine Streitschrift. Frankfurt am Main: Mabuse.
Nachkriegskindheiten und Altern Insa Fooken
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Ist Alter(n)swissenschaft eine historische Wissenschaft ?
Die Gerontologie als genuin interdisziplinäre Wissenschaft, in der die mit dem Altsein und dem Älterwerden verbundenen Phänomene aus natur-, human-, sozial-, kulturund geisteswissenschaftlicher Perspektive betrachtet werden, kommt oft erstaunlich ahistorisch daher. Zwar wird die Bedeutung zeitgeschichtlicher Kontexte für Lebensverläufe in der Regel pauschal postuliert, selten wird aber mentalitätsgeschichtlich und/oder psychohistorisch ausgelotet und präzisiert, wie sich epochale Ereignisse in individuellen Lebensgeschichten strukturell und dynamisch niederschlagen. Kruse und Thomae (1992, S. 1) kritisierten in diesem Zusammenhang schon vor ge raumer Zeit die eher globale und inhaltsleere Verwendung des Konzepts der Kohorte in quantitativen Untersuchungsansätzen. Meist geht es hier um reine Alters- und Generationenvergleiche in Bezug auf Outcome-Variablen, die sich mit standardisierten Verfahren psychometrisch ‚sauber‘ erfassen lassen wie beispielsweise kognitive Leistungsfähigkeit und Persönlichkeitseigenschaften (vgl. Hülür 2017). Dabei besteht der wissenschaftliche Mehrwert der Nutzung des Kohortenkonzepts ja genau darin, Menschen in ihrer individuellen Entwicklung in der Zeitgeschichte zu verorten. Die Kohortenzugehörigkeit markiert die Stellen, an denen gesellschaftlich-institutionelle Rahmenbedingungen und herrschende Bildungs-, Erziehungs-, Einstellungs- und Wertesysteme auf einen biografisch eingebetteten, individuellen Entwicklungsstand treffen. Auch wenn an diesen Schnittstellen von Zeit- und Lebensgeschichten keine determinierenden Festlegungen erfolgen, konturieren sich hier Lebenslagen im Sinne von Spielräumen für nachfolgende Entwicklungsoptionen und Lebensverläufe. Wie die Valenz historischer Kontexte in ihren Auswirkungen auf psychische Strukturen forschungsmäßig erfasst werden kann, zeigen zahlreiche Beispiele aus der erfahrungswissenschaftlich und mentalitätsgeschichtlich ausgerichteten zeithistori schen Forschung. Hier knüpft man an soziologische und psychologische Erklärungs© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_46
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modelle für menschliche Lebenslagen, Deutungsmuster und Handlungsstrukturen an, um die Erfahrung einer spezifischen Generationalität psychohistorisch auszuloten (Reulecke 2003). Als Beispiel für solche Forschungsansätze sei die Arbeit von Kohut (2017) genannt, in der es um die Deutung der Lebensgeschichten von ehemals jugendbewegten Menschen im Alter geht. Ähnlich ist auch die Studie von Wierling (2002) zu bewerten, die den ersten Geburtsjahrgang (1949) nach Gründung der DDR in seinen Lebensverläufen untersucht hat. In sozialen und klinischen Forschungs- und Praxisfeldern waren es insbesondere Arbeiten zu den Auswirkungen von Kriegskindheiten, in denen über qualitative Verstehenszugänge die Zusammenhänge von zeitgeschichtlicher Prägung und subjektivem Alter(n)serleben nachgewiesen wurden (vgl. Janus 2006; Radebold et al. 2009; Ermann 2010; Fooken und Heuft 2014). Darüber hinaus spiegelt sich auch der ‚lange Arm‘ der Zeitgeschichte in vielen psychotherapeutischen Settings wieder, in denen es um Erinnerungsarbeit und lebensgeschichtliche Reflexivität geht, ähnlich wie in den einschlägigen Feldern von Sozialarbeit, Pflege, Seelsorge, Erwachsenenbildung und Selbsthilfebewegungen (vgl. Radebold 2015; Peters 2018). Nicht zuletzt prägen zahlreiche journalistische Arbeiten die öffentlichen Diskurse. Beispielhaft seien hier die Veröffentlichungen der Journalistin Sabine Bode genannt, die in auflagenstarken Büchern zur „vergessenen Generation“ der Kriegskinder und zu den „Nachkriegskindern“ in einer Vielzahl von Fallgeschichten die Langzeitfolgen der oft unbewussten frühen Prägungen dokumentiert hat (Bode, S. 2015, 2018). Insofern lautet die Antwort auf die in der Überschrift formulierte Frage: Ja, Alter(n)swissenschaft ist in ganz besonderer Weise eine historische Wissenschaft.
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Nachkriegskindheiten aus unterschiedlichen Perspektiven
2.1
Nachkriegskinder als Kinder – zeitgeschichtliche Eingrenzung
Das Phänomen der Nachkriegskindheiten umfasst im Wesentlichen die Geburtsjahrgänge 1935 – 1955, obwohl die Abgrenzung zu älteren und jüngeren Jahrgängen immer etwas willkürlich ist. Dabei ist es nicht so einfach, das Ende der Nachkriegszeit genau zu bestimmen, weil es nicht nur erhebliche Unterschiede zwischen Ost- und WestDeutschland gab, sondern weil die Kriegsfolgen in den verschiedenen Regionen auch unterschiedlich lange nachwirkten. Dies hängt mit Fluchtgeschehen, Umsiedlungen, Vertreibungen, mit den unterschiedlichen Zuständen in den Besatzungszonen und historisch-politischen Ungleichzeitigkeiten zusammen. Insofern könnte der hier vorgegebene Rahmen von Nachkriegskindheiten auch auf drei Dekaden erweitert werden und die Jahrgänge 1930 – 1960 einbeziehen. Auch die Ältesten unter ihnen, die am Ende des Krieges etwa 15 Jahre alt waren, haben im engeren Sinne keine eigenen soldatischen Erfahrungen, so waren sie auch keine Kindersoldaten mehr, wie es beispielsweise bei der nur leicht älteren Generation der Flakhelfer noch der Fall
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war. Dennoch dürfte ein Teil von den Älteren mit den Werten und Leitbildern der nationalsozialistischen Kinder- und Jugendorganisationen identifiziert gewesen sein, während ein anderer Teil möglicherweise die andere Seite von Unterdrückung, Verfolgung und drohender Vernichtung erfahren hat. In jedem Fall ist es sinnvoll, von Nachkriegskindheiten im Plural zu sprechen, da es sich um äußerst heterogene Sozialisationsbedingungen gehandelt hat, sowohl in objektiver Hinsicht als auch in der subjektiven Deutung. So bezeichnen sich manche derjenigen, die noch vor dem oder im Krieg geboren wurden, als ‚Kriegskinder‘, andere wiederum definieren sich als ‚Nachkriegskinder‘, weil sie davon ausgehen, als Kind nichts oder nicht viel vom Krieg mitbekommen zu haben. In beiden Fällen gilt, dass sie in der Zeit nach dem Krieg immer noch Kinder waren bzw. am Übergang zum Jugendalter standen. Hinsichtlich ihrer Vorerfahrungen, ihres psychosozialen und kognitiven Entwicklungsstands, aber auch der gesellschaftlich-institutionellen Rahmenbedingungen unterscheiden sich die älteren deutlich von den jüngeren Nachkriegskindern. So haben die älteren zumeist hautnah die im engeren Sinne kriegsbezogenen Belastungen und Traumata erlebt (Bombardierungen, soziale Verluste und Trennungen, fehlende Väter, Flucht, Gewalt etc.) und sie waren, ähnlich wie die in den unmittelbaren Nachkriegsjahren Geborenen, dem physisch-existenziellen Mangel an Nahrung, Wohnraum, Hygiene, Kleidung, Schulunterricht etc. ausgesetzt. Manche von ihnen, insbesondere unter den Jungen, nahmen diese Zeit angesichts der partiellen Abwesenheit von elterlicher Kontrolle aber auch als Gegenentwurf zur tristen Alltagswelt der Erwachsenen wahr im Sinne einer Art von Abenteuerspielplatz. Dieses Gefühl grenzenloser Freiheit endete zumeist jäh mit der Rückkehr der (Soldaten-) Väter und der Rekonstituierung der Erziehungsinstitutionen spätestens ab den 1950er Jahren. Der disziplinierende Zugriff und Anpassungsdruck auf Kinder und Jugendliche durch die Elterngeneration nahm zu, Widerständigkeit zeigte sich, wenn überhaupt, eher bei Jungen (Stichwort: Halbstarke), denn für Mädchen galt noch mehr das Gebot, gehorsam, sittsam und bescheiden zu sein. Für die Jüngeren gestaltete sich die Situation nochmals anders: Zum einen änderten sich die äußeren Rahmenbedingungen, denn sie wurden in sich allmählich konsolidierende politisch-gesellschaftliche Verhältnisse hineingeboren und waren somit deutlich stärker vom Aufbruchsgefühl des sog. Wirtschaftswunders geprägt als von der Mangelsituation der unmittelbaren Nachkriegsjahre. Zum anderen schwächten sich das Ausmaß an Disziplinierung und der Anpassungsdruck auf kindliches Wohlverhalten auch ab. Dennoch gilt, dass sich erst gegen Ende der 1960er Jahre die Stellung des Kindes in der Familie und das herrschende Familienleitbild allmählich von einer Befehls- in eine Verhandlungsstruktur änderte (Schütze 1988; Du Bois-Reymond 1994). Insofern teilen viele der Nachkriegskinder gemeinsam die Erfahrung, dass die Generation ihrer Eltern (und Erzieher/-innen) über lange Zeit in die Leitbilder und die Geschehensdynamik von nationalsozialistischer Ideologie, Verfolgungspraxis, Kriegshandlungen etc. eingebunden war – sei es als Täter/-innen, Soldat/-innen, Mit-
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läufer/-innen, innerlich Emigrierte, Widerständler/-innen oder auch als Opfer. Ältere wie jüngere Nachkriegskinder waren somit in der Zeit ihres Aufwachsens in nicht unerheblichem Ausmaß dem nationalsozialistisch infizierten ‚mentalen Gepäck‘ ihrer Elterngeneration samt den daraus folgenden autoritären und psychisch beschädigenden Erziehungs- und Sozialisationspraktiken ausgesetzt (vgl. Müller-Münch 2012; Bode, S. 2015). Dazu gehören in gewisser Weise auch die vielen und vielschichtigen Varianten von Transmissionsprozessen, in denen die Tabus und Traumata der älteren Generation auf die nachfolgende Generation übertragen wurden. Was im öffentlichen Diskurs teilweise durchaus als Schuldzuweisung an die ältere Generation formuliert werden konnte, wurde im familialen Kontext oft beschwiegen und lief somit ohne Worte hinter dem Rücken der Betroffenen ab (Qindeau et al. 2012; Bohleber 2014). 2.2
Alte Nachkriegskinder – der ‚lange Schatten‘
Die hier als Nachkriegskinder bezeichneten Geburtsjahrgänge sind mittlerweile (im Jahr 2018) im Alter zwischen 63 und 83 Jahren (in der erweiterten Sicht zwischen 58 und 88 Jahren). Mehrheitlich stehen sie nicht mehr im Erwerbsleben, wobei die strukturellen und kulturellen Begleiterscheinungen des allgemeinen gesellschaftlichen Wandels ihre Lebensverhältnisse im Alter entscheidend beeinflusst haben. Dazu gehören beispielsweise Merkmale der sog. jungen Alten (zum Begriff vgl. Pichler i. d. B.): ein höheres Einkommen, eine verbesserte Gesundheit, eine längere Lebenserwartung, veränderte Konsum- und Lebensstile, veränderte Geschlechter-Arrangements, aber auch so etwas wie eine ausgeprägtere Singularität im Alter (insbesondere durch Scheidungen; zu sozialen Netzwerken im Alter vgl. Künemund und Kohli i. d. B.), der Wechsel von Pflicht- zu Selbstbestimmungswerten sowie nicht zuletzt eine größere Bereitschaft zur Inanspruchnahme von Psychotherapie. So kann man konstatieren, dass es zum einen vielen Menschen im Alter gut geht, sie zum anderen aber auch neue Bereitschaften zur selbstreflexiven Aneignung ihrer eigenen Lebensgeschichten entwickelt haben. Damit sind sie in gewisser Weise auch offener gegenüber dem Phänomen des „Aufwachens der Kindheit im Alter“ (vgl. Gadamer 1993) geworden. Lange Zeit verdrängte und abgewehrte Themen der Lebensgeschichten werden zugelassen, auch wenn das durchaus Formen einer Trauma-Reaktivierung im Alter auslösen kann (vgl. Heuft 1999). So erlebt sich ein Teil der alt gewordenen Nachkriegskinder kontaminiert mit den unverarbeiteten Lasten ihrer Eltern und Großeltern, insbesondere dann, wenn die Gemengelage aus problematischen Leitbildern, Erziehungsnormen, Geschlechterrollen, abgewehrten Schuldgefühlen, traumatisierenden Erfahrungen und psychisch belasteten Familienstrukturen nicht ans Licht kommen durfte (vgl. Radebold et al. 2008). Ähnlich wie bei der mittlerweile recht gut erforschten Gruppe der Kriegskinder (im engeren Sinn) wird man davon ausgehen können, dass sich etwa ein Drittel der alt gewordenen Nachkriegskinder von den ‚langen Schatten‘ ihrer Kindheiten bestimmt fühlen. Kennzeichnend dabei ist,
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dass viele der frühen psychischen Beschädigungen erst nach und nach ins Bewusstsein gerückt sind bzw. überhaupt erst im Alter, im Sinne einer Trauma-Reaktivierung (vgl. etwa Heuft 1999), zum ersten Mal zur Sprache kommen.
3
Beforschte Nachkriegskindheiten – zeithistorische und aktuelle Perspektiven
3.1
Zeitnahe Forschungsaspekte
In der unmittelbaren Nachkriegszeit, das heißt, in den Jahren zwischen 1945 und 1950, bestand ein ausgeprägtes Bewusstsein über das Ausmaß von Traumatisierung und psycho-physischer Schädigung, denen Kinder im Umfeld des Krieges mit all seinen Begleiterscheinungen und Folgen ausgesetzt waren. Das galt in besonderer Weise für jüdische Kinder, die den nationalsozialistischen Vernichtungsterror überlebt hatten, das galt aber auch ganz generell – über Länder und Staaten hinweg – für alle von Krieg, Verfolgung und Flucht betroffenen Kinder und Jugendlichen. Man war hellsichtig, schaute genau hin, registrierte und dokumentierte das objektivierbare Ausmaß von existenziellem Mangel und physischer Not und war sich der gesellschaftlichen Verantwortung für die weitere Entwicklung der Betroffenen bewusst (vgl. Fooken 2009). Auch das seelische Leid und seine Auswirkungen, sowohl für die Kinder als auch für die Gesellschaft, wurde in den Blick genommen. In einer bemerkenswerten qualitativen psychologischen Studienreihe wurde in den Jahren von 1947 bis 1950 die psychosoziale Situation (Trauer, Ängste, Albträume etc.) von Kriegskindern erfasst, die zur Kur auf die Insel Langeoog verschickt worden waren (Lippert und Keppel 1950). Dabei ging es um das Erleben und die Sicht der Kinder und nicht so sehr um den Einsatz diagnostischer Verfahren zur Bestimmung des Ausmaßes von psychischer Gesundheit oder Pathologie. Auf die Not der Kinder bezog man sich auch in der pädagogischen Schriftenreihe „Kindernöte“, die sich in den Jahren von 1950 bis 1958 vor allem an Erzieher/-innen und Eltern richtete (vgl. Nitsch 2017). Diese Sensibilität gegenüber dem kindlichen Leid und die Bereitschaft, die Kinder anzuhören und sich in der Forschung damit zu befassen, ist insofern erwähnenswert, als in den beginnenden 1950er Jahren oft anders bzw. gar nicht mehr zu diesen Themen geforscht wurde. Exemplarisch für diese ganz andere Art der Forschung sei die Zielsetzung der im Jahr 1952 begonnenen, längsschnittlich angelegten, überregionalen und interdiszipli nären Studie zur Situation der deutschen Nachkriegskinder genannt. Ihre Zielsetzung lautete: „Am Ende dieses Krieges wurde immer wieder gefragt, inwieweit denn nun die deutschen Kinder durch den Krieg in ihrer Entwicklung beeinträchtigt worden sind, welche Schäden und Folgen für die Zukunft zu erwarten sind und in welchem Umfang diese Schäden und Folgen wieder ausgeglichen werden können.“ (Coerper et al. 1954, S. 11)
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Kinderärzt/-innen, Konstitutionsmediziner/-innen (sic), Schulfachleute, Psycho log/-innen, Soziolog/-innen und Fürsorger/-innen untersuchten insgesamt 4 500 Kinder und Jugendliche der Jahrgänge 1938/39 und 1945/46 (vgl. Costa 2005). Nicht nur die Untersuchungsmethoden, sondern auch die Bilanz und Botschaft der Studie wirken befremdlich (vgl. Hagen et al. 1962). Aspekte der materiellen Umwelt (Wohnraumgröße, Einkommen etc.) sowie der sozialen Umwelt (Kinderzahl, Familienzusammenhalt, mütterliche Erwerbstätigkeit, altersgemäße Beschulung, Stadt – Land etc.) wurden akribisch zahlenmäßig erfasst und resultierten in der Erkenntnis: Die Verhältnisse normalisieren sich, die Kinder sind nachgereift, selbst Flüchtlingskinder fallen nicht (mehr) durch Besonderheiten auf. Noch irritierender ist aber die Fülle anthropometrischer Messungen und konstitutionstypologischer Zuordnungen. Die Kinder waren Untersuchungsmaterial, sie wurden vermessen und klassifiziert. Lediglich die psychologischen Verfahren erlaubten partiell einen Einblick in inneres Erleben. Die Diktion der Ergebnisdarstellung wirkt abschätzig, das kindliche ‚Fallmaterial‘ wird in seinen äußerlichen Erscheinungsformen im wahrsten Sinne des Wortes unverschämt aufbereitet. Die Definitionsmacht über kindliche Befindlichkeiten liegt bei den Erwachsenen, es geht um Funktionalität und Anpassungsbereitschaft. Die Stimme der (Nachkriegs-)Kinder ist hier kaum zu hören. Es lässt sich erahnen, wie und warum vor dem Hintergrund solcher Haltungen – sowohl in Familien als auch in Fürsorge-Institutionen – die verschiedensten Formen von Gewalt und Missbrauch gegenüber Kindern so lange unbehindert praktiziert werden konnten und diese Themen oft erst heute zur Sprache kommen. 3.2
Forschung aus der Perspektive des Alters
Viele der Erkenntnisse zu den Besonderheiten von Nachkriegskindheiten und zu den Spuren, die sie im Leben und in den psychischen Strukturen heutiger alter Menschen hinterlassen haben, sind nicht zeitnah entstanden, sondern oft erst Jahrzehnte später im Rahmen klinischer und gerontologischer Forschungsarbeiten ermittelt worden. So sind es vor allem Studien mit älteren Menschen und deren Berichten über Kindheitserfahrungen, die den Blick auf die Belastungen und deren Folgen bei den aktuell von Krieg betroffenen Kindern geschärft haben. Mittlerweile weiß man besser als man es damals wissen konnte oder wollte, wie aversive Lebensumstände in Kindheit und Jugend mit lebenslangen inneren Beschädigungen bis ins Alter hinein zusammenhängen können. Mittlerweile weiß man auch, dass es dabei nicht nur um chronifizierte Vulnerabilität gehen muss, sondern dass die Auseinandersetzung mit diesen Erfahrungen und das Sprechen darüber auch zu Resilienz und Lebensbewältigung führen können. Die aktuelle diesbezügliche Forschungslandschaft ist vielfältig und vermeidet in der Regel typisierende Zuschreibungen. Generell finden sich aber in repräsentativen Bevölkerungsstichproben wie in selektiven Stichproben überzeugende Hinweise auf
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nachhaltige psychische und somatische Störungen durch die erfahrenen Belastungen in Krieg und Nachkriegszeit (Ängste, larvierte Depressionen, Beziehungsstörungen, Müdigkeit etc., vgl. Decker und Brähler 2009; Kindler et al. 2013). Dabei werden mittlerweile auch die bis ins Alter hinein wirksamen schädigenden Folgen gewalttätiger Erziehungseinstellungen und entsprechender Erziehungspraktiken in den Blick genommen, bei denen es typisch war, dass Kinder ‚gelernt‘ hatten, so zu tun, als ob nichts wäre (vgl. Grundmann et al. 2009; Kiess et al. 2014). Zieht man eine kurze Bilanz zu den frühen kriegs- und nachkriegsbezogenen Prägungen, dann geht es vor allem um drei Erfahrungskontexte. Neben dem Nachweis lebenslanger Folgen durch die Erfahrung von Flucht, Umsiedlungen und Vertreibungen (vgl. Peters 2018) sind es zwei weitere Themenfelder, die in ihren Auswirkungen für die Nachkriegskinder intensiver untersucht wurden. Das gilt zum einen für den (kriegsbedingten) Vaterverlust bzw. die Abwesenheit der Väter, deren Folgen sich für Jungen anders auswirkten als für Mädchen, wenngleich sich beide durch diese Erfahrung in ihrer unsicheren Beziehungsfähigkeit bestimmt fühlten. Für Jungen spielte u. a. die fehlende Identifikationsmöglichkeit mit einem real erfahrbaren Vater und die Gefahr der frühen Parentifizierung durch die Mutter eine zentrale Rolle (vgl. Schulz et al. 2009; Radebold 2010), für Mädchen eine diffuse Sehnsucht und tiefe Verun sicherung, verbunden mit dem Gefühl, nicht in die Welt eingeführt worden zu sein und damit sehr grundlegend Defizite erfahren zu haben (Stambolis 2012, 2013; Fooken 2014). Das gilt zum anderen für die Auswirkungen der massiven Bombardierungen, wie sie am Beispiel des Hamburger Feuersturms im Jahr 1943 intensiv untersucht wurden (vgl. Lamparter et al. 2013). Hier fällt neben den Folgen für die damaligen unmittelbaren Zeitzeug/-innen, die im Alter zunehmend die eigenen Beschädigungen anerkennen konnten, vor allem die indirekte Betroffenheit der ‚zweiten Generation‘ der Nachkriegskinder auf, deren Angstsysteme strukturprägend betroffen sind und die bis heute in eine „von Ambivalenz gekennzeichneten Grunderfahrung“ (Lamparter und Holstein 2014, S. 207) verstrickt sind. Darüber hinaus gibt es aber eine Reihe von jahrzehntelang beschwiegenen Themen, die erst in jüngster Zeit ins Blickfeld gekommen sind, nachdem die Betroffenen – oft erst im Zuge des Bewusstseins der eigenen Endlichkeit – in die Abgründe ihrer Lebensgeschichten geschaut haben. Das betrifft zum einen das Thema der sexuellen Gewalterfahrungen und Vergewaltigungen (vgl. Eichhorn und Kuwert 2011) – vor allem während des Krieges, aber auch während der Besatzungszeit. Manche Nachkriegskindheit ist davon bestimmt, dass die Betroffenen aus Kriegs- und Nachkriegsumständen heraus geboren wurden, ein Schicksal, das von der sozialen Umwelt oft massiv vertuscht und verdrängt wurde und/oder von Stigmatisierung und Ausgrenzung bestimmt war (vgl. Kleinau und Mochmann 2016). Das betrifft zudem auch das Thema sexueller Gewalt in Heimen und kirchlichen Einrichtungen, das in seiner Tragweite erst allmählich ans Tageslicht kommt. Und nicht zuletzt sei hier auch die massive Verunsicherung erwähnt, die manche alt gewordenen Nachkriegskinder einholt, wenn sie – beim ‚Aufräumen‘ der elterlichen Haushalte in den Koffern und
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Kisten auf Speichern und in Kellern – auf das unvorstellbare Ausmaß an national sozialistischer Verstrickung und verleugneter Schuld der Eltern stoßen, sodass das Gefühl entsteht, möglicherweise in einem ‚falschen‘, von den Lebenslügen der Eltern bestimmten Leben gelebt zu haben (von Wrochem 2016). 3.3
Verarbeitungsformen älterer und jüngerer Nachkriegskinder im Vergleich – das Beispiel ‚späte Scheidungen‘
Ging es bei den bisher erwähnten Studien genau um die Frage möglicher Folgen von Krieg und Nachkriegszeit, stößt man manchmal in ganz anderen Forschungszusammenhängen auf den ‚langen Schatten‘ früher Prägungen. Im Rahmen einer Studie über Formen der Auseinandersetzung mit Scheidungen nach langjährigen Ehen, in der (spät) geschiedene Männer und Frauen der Jahrgänge 1940 und 1950 befragt wurden, zeigten sich in diesen beiden Kohorten sehr unterschiedliche Verarbeitungsformen (vgl. Lind 2001; Fooken 2006). Interessanterweise waren die älteren Studien teilnehmer/-innen deutlich stärker in Delegationsaufträge ihrer Elterngeneration verstrickt als die jüngeren. Gemeinsam war beiden, dass sie sehr früh geheiratet hatten – die Älteren allerdings eher im ‚Auftrag‘ der Eltern (Herstellung von Normalität), die Jüngeren, die partiell bereits Teil der Emanzipationsbewegungen der 1970er Jahre waren, eher, um dem elterlichen Einfluss zu entkommen. War bei den Jüngeren letztlich klar, dass das Trennungsgeschehen mit Problemen in der Beziehung zusammenhing, schien bei den Älteren eine andere Gefühls-Gemengelage vorzuliegen. Hier blieb man lange Zeit in äußerst unbefriedigenden Beziehungskonstellationen, ohne dass letztlich klar war, warum man sich nicht für eine Trennung entschied (vgl. Fooken 2008). Erst der Tod der zumeist hochaltrigen Mütter löste dann oft eine rasante Trennungsdynamik aus, als ob erst dadurch der Bann gebrochen wurde, der elterlichen Delegation zur Herstellung einer unbeschadeten, heilen Welt weiterhin entsprechen zu müssen (ebd.).
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Fazit
Zwei Empfehlungen lassen sich aus den hier zusammengestellten Überlegungen ableiten. Erstens: ‚Wir haben eine Geschichte, wir sind Geschichte und wir verkörpern Geschichte‘ – so lautet eine der zentralen Erkenntnisse aus den Studien zur Bedeutung von (Nach-)Kriegskindheiten (vgl. Radebold 2010). Um demnach die vielschichtigen zeit- und lebensgeschichtlichen Verschränkungen in den Lebensverläufen alter Menschen sowohl in Forschungs- als auch Praxisfeldern adäquat zu erfassen, sollte nicht nur das kalendarische Alter, sondern immer auch der jeweilige Geburtsjahrgang berücksichtigt und zeithistorisch ausgelotet werden. Zweitens: Die Einbeziehung literarischer Zeugnisse sensibilisiert im Kontext Sozialer und biografischer Arbeit mit Äl-
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teren. Als Beispiel sei der Schriftsteller Peter Härtling (1997, S. 105) zitiert, der dafür plädiert, sich – gerade im Alter – auf das Kind einzulassen, das man war: „Das Kind in mir – die Lebensalter haben es nicht nur verändert. Ich habe es vergessen, nicht wahrhaben wollen, und ich habe es wiederentdeckt, seine Emotionen, Erwartungen, Bewegungen. […] Nein, das Kind spielt nicht mehr. Ich bin alt. Der Alte spielt jetzt mit dem Kind, das er gewesen ist und, in der Erinnerung ihm nahekommend, mehr und mehr wird. Meine Gegenwart bekommt Tiefe. Was ich eben erlebe, misst sich an einer Geschichte, die ich mir, nicht zuletzt im Blick auf das Kind, bewusst mache.“
Ausgewählte Literatur Fooken, Insa, und Gereon Heuft. Hrsg. 2014. Das späte Echo von Kriegskindheiten. Die Folgen des Zweiten Weltkriegs in Lebensverläufen und Zeitgeschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Radebold, Hartmut, Gereon Heuft und Insa Fooken. Hrsg. 2009. Kindheiten im Zweiten Weltkrieg. Kriegserfahrungen und deren Folgen aus psychohistorischer Perspektive. 2. Auflage. Weinheim: Juventa. Bode, Sabine. 2015. Nachkriegskinder. Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter. 3. Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta.
Sterben und Tod Stefan Dreßke
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Einführung
Sterben ist als körperlicher Abbauprozess definiert, der zum irreversiblen Funktionsverlust lebenswichtiger Organe – dem Tod – führt. Als Teil des Lebens unterliegt das Sterben gesellschaftlichen Bedingungen und wird als Passage vom Leben zum Tod in sozialen Routinen vermittelt. Diese zielen auf das Lösen sozialer Bindungen in sozial vermittelten Ausgliederungsprozessen ab, also auf das Schließen von Lücken, die Sterbende im Netz sozialer Zuweisungen und Positionen hinterlassen. Tod und Sterben sind ganz dominierend ein Problemkreis des Alters und damit der Alterswissenschaften geworden. 2015 starben in der Bundesrepublik Deutschland 925 200 Menschen, von denen 784 365 (85 %) über 64 Jahre und 639 876 (70 %) über 74 Jahre alt waren (StaBuAmt 2017a).
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Geschichte des Todes
In historischer Perspektive zeichnet Ariès (1976) die Entwicklung der Todesvorstellungen in Europa nach: Vom Mittelalter bis zum 18./19. Jahrhundert überwiegen theologische Deutungen. Sterben ist alltägliches Geschehen, eingebettet in das öffentliche und gemeinschaftliche Leben. Die Vertrautheit mit dem Tod sichert nicht zuletzt die Anerkennung der sozialen und natürlichen Ordnung im Rahmen religiöser Rituale. Der Tod ist allgegenwärtig und auf das Lebensende, das jederzeit eintreten kann, ist sich vorzubereiten. Mit dem 18./19. Jahrhundert setzt zunehmend eine Verweltlichung der Sterbekultur ein. Lebensbilanzierung in Form des Testaments reduziert sich auf die ökonomische Absicherung der Hinterbliebenen und vom Sterbenden wird immer weniger erwartet, Regisseur seines Sterbens zu sein. Im Sinn des romantischen Ideals der auf Liebe und Vertrauen basierenden Familie wird der Ver© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_47
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lust eines signifikanten Familienmitglieds in emotionalisierten Trauer- und Bestattungsritualen inszeniert. Die Trennung von Leben und Tod symbolisierend werden Friedhöfe aus den Stadt- und Dorfkernen in eigens dafür vorgesehene Bereiche in die Randzonen der Wohnbereiche ausgelagert. Mit dem 20. Jahrhundert wird das Sterben zunehmend im Krankenhaus organisiert. Die Institutionalisierung des Sterbens steht im Wechselspiel mit der voranschreitenden Privatisierung, womit dem Tod eine über die Familie hinausgehende gemeinschaftsstiftende Bedeutung abgesprochen wird, da Sterbende aus den wesentlichen öffentlichen Bereichen (vor allem dem der Arbeit) bereits ausgegliedert sind. Das Sterben wird dem Sterbenden verheimlicht, Emotionen und Störungen der institutionellen Abläufe werden minimiert, ein Innehalten ist in den Lebensroutinen praktisch nicht mehr vorgesehen. Der Tod ist nicht mehr ein Übergang, sondern schlicht das Ende des Lebens (Elias 1982).
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Todesursachen und demografischer Wandel
Die Veränderung der Sterbedeutungen muss vor dem Hintergrund des demografischen Wandels infolge eines veränderten Morbiditäts- und Mortalitätsspektrums gesehen werden (Dinkel 1994). Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts dominieren Infektionskrankheiten als Todesursache, verschärft im 18./19. Jahrhundert infolge von Industrialisierung, Verstädterung und Pauperisierung. Die hohe Mortalität betrifft vor allem Säuglinge und Kinder bei einer gleichzeitigen hohen Geburtenrate, während die Sterblichkeit in den Erwachsenenaltern hoch, aber etwa gleichmäßig verteilt ist. Von Ende des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts verschiebt sich das Todesursachenspektrum auf chronisch-degenerative Krankheiten, die insbesondere die älteren Populationen betreffen. Die Lebenserwartung bei Geburt erhöht sich bei gleichzeitiger Abnahme der Geburten. Ab Ende des 20. Jahrhunderts ergeben sich Zugewinne an Lebenserwartung vor allem im höheren Alter. Aus diesen Entwicklungen folgt eine relative Zunahme der älteren gegenüber der jüngeren Bevölkerung (demografische Alterung). Der Alterstod wird zur normativen Erwartung und der Tod in den mittleren Lebensaltern und insbesondere der von Kindern zu einem selteneren, aber überaus tragischen Ereignis.
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Institutionalisierung des Sterbens
Ab den 1950er Jahren wurden Sterben und Tod sowohl öffentlich als auch sozialwissenschaftlich unter der Perspektive der Verdrängung und Tabuisierung diskutiert. Tatsächlich gehört Sterben in der modernen Gesellschaft nicht mehr zum unmittelbaren Alltag. Es handelt sich jedoch eher um Prozesse sozialer Differenzierung, um die Delegation komplexer Probleme an dafür zuständige professionelle Organisationen sowie um Konsequenzen veränderter demografischer und epidemiologischer
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Rahmenbedingungen. Das frühzeitige Erkennen der Nichtkurierbarkeit und die Absehbarkeit der Krankheitsverläufe sowie die verbesserte medizinische und pflegerische Versorgung bilden den Hintergrund für eine zunehmende Institutionalisierung des Sterbens in den letzten 60 Jahren. Für terminale und häufig auch multimorbide Krankheitsverläufe ist eine Versorgung im Krankenhaus notwendig, in dem 2015 in Deutschland 427 201 (46 %) Sterbefälle vorkamen (StaBuAmt 2017b). Dieser Anteil ist in den letzten 15 Jahren leicht rückläufig und verlagert sich durch den hohen Pflege bedarf im Zusammenhang mit dem ausgedünnten bzw. überforderten familiären Hilfenetz auf Pflege- und Altenheime (Schneekloth 2006). 68 % der zumeist weiblichen Heimbewohnenden sind 80 Jahre und älter bei einem Durchschnittsalter von 82 Jahren. Mit zunehmendem Alter erhöht sich die Wahrscheinlichkeit der Heimaufnahme, so leben in der Altersgruppe der über 79-Jährigen 14 % in stationären Pflege einrichtungen (Schneekloth 2006). Einer Studie zufolge verbringen 2011 dort 19 % der Sterbenden ihr Lebensende, 23 % zu Hause, 51 % im Krankenhaus und 3 % in der stationären Palliativ- und Hospizversorgung (Dasch et al. 2015). Sterben im Krankenhaus: Das Krankenhaus bietet zwar Versorgungssicherheit, aber die Kurativorientierung steht strukturell den Bedürfnissen Sterbender entgegen. Ihnen wird die Rolle von Kranken zugewiesen, mit den entsprechenden Rechten und Pflichten, und der Tod ist aus ärztlicher Sicht eine Niederlage im Kampf gegen die Krankheit (Sudnow 1973; Glaser und Strauss 1974). Die Kritik am Krankenhaus richtet sich vor allem gegen Heilungsanstrengungen bis kurz vor dem Tod, gegen unzureichende Schmerzbekämpfung sowie gegen kommunikative Vernachlässigung (z. B. Illich 1977). Unter dem Einfluss der Hospizbewegung (vgl. Begemann und Fuchs i. d. B.) wird die Krankenhausversorgung zwar humaner, allerdings sind Sterbende immer noch dominierend Adressat/-innen medizinischer Behandlung, müssen sich im Zweifelsfall den Dringlichkeitsinteressen unterordnen und werden in ihrem Sterbeprozess kaum unterstützt (George et al. 2013). Ein weiterer Institutionalisierungsschub ergibt sich mit der ambulanten und stationären Palliativ- und Hospizversorgung ab den 1990er Jahren, wobei zunehmend stabile und an den Bedürfnissen Sterbender ausgerichtete Versorgungsketten entstehen. Die spezialistische Sterbendenversorgung richtet sich allerdings nur an Patient/-innen, die an langsam sich verschlechternden und gut prognostizierbaren terminalen Krankheiten leiden, insbesondere an bösartigen Neubildungen, die die Ursache von einem Viertel aller Sterbefälle im Jahr 2015 sind. Etwa 38 % aller Sterbefälle werden durch Herz-Kreislauf-Krankheiten verursacht, deren Verläufe weniger gut vorhersehbar und steuerbar sind, wodurch auch die Palliativversorgung in geringerem Umfang anwendbar ist (StaBuAmt 2017c). Sterben und Trauer in der modernen Gesellschaft: Mit der Thematisierung von Tod und Sterben in der Öffentlichkeit und in den lebensweltlichen Nahbereichen, durch die Ausdehnung der Sterbephase und deren Erwartbarkeit sowie durch die zunehmende Institutionalisierung unterliegt das Sterben eigenen Regelungsanforderun-
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gen und wird zu einer eigenständigen Lebensphase mit entsprechenden Rechten und Pflichten (vgl. Walter 1994; Seale 1998; Feldmann 2010). Paradigmatisch dafür sind Typisierungen der neueren Sterbevorstellungen als ‚traditionell‘, ‚medizinisch korrekt‘ und ‚individualistisch‘, die vor allem am Sterben anhand von Krebskrankheiten formuliert und in Hospizen organisatorisch durchgesetzt werden (Dreßke 2005). In der Öffentlichkeit dominiert noch das Bild des ‚traditionellen‘ Abschiednehmens zu Hause im Kreis der Familie (Sterbe- und Totenbettszene). Dieser Idealisierung vom Abschied aus der Gemeinschaft widersprechen allerdings die eigenen Sterbewünsche des schnellen und schmerzlosen Todes (Friedrich 2006). Die Ausgliederung aus den gesellschaftlichen Zentralbereichen Arbeit und Öffentlichkeit hat bereits durch den Pensions- und Renteneintritt begonnen und wird danach mit der stetig sich verschlechternden Gesundheit in den lebensweltlichen und familiären Nahbereichen fortgesetzt. Mit der den Tod antizipierenden Trauer wird familiärer Zusammenhalt demonstriert und Sterbende werden schon zu Lebzeiten aus den familiären Rollen entpflichtet. Soziale Reorganisation und ein Innehalten nach dem Tod sind damit kaum noch notwendig. Das ‚medizinisch-korrekte‘ Sterben wendet sich dagegen an den Körper, der – auch als Leiche – sein ‚gesundes‘ Erscheinungsbild behalten soll. Krankheitssymptome, vor allem Schmerzen, sind zu behandeln und der Sterbeprozess wird nach dem Vorbild des langsamen Einschlafens nach dem Bild des natürlichen Todes kontrolliert (Streckeisen 2001). Im institutionellen Kontext kann Trauer zwar geäußert werden, wird aber dann zum Gegenstand supervidierender Professionalitätsansprüche. Die dritte Dimension ist das selbstbestimmte (individualistische) Sterben nach den Vorstellungen des modernen Leitbildes eines aktiven und selbstreflexiven Subjekts. So repräsentieren die weit rezipierten Sterbephasen nach Kübler-Ross (1974) ein Sterbeideal der inneren Reifung. Demnach ist das Sterben mit der Aufgabe verbunden, sich vom sozial erwünschten Kampf gegen den Tod zu lösen und das Unausweichliche zu akzeptieren. Dabei wird Biografie gebündelt, letzte Dinge werden geregelt und letzte Wünsche erfüllt. Mit diesen psychologisierenden Deutungen werden präskriptive Einschätzungen vom gelingenden und vom pathologischen Sterben möglich. Zunehmende Bedeutung zur Vorbereitung des Sterbens erhalten Patientenverfügung und Vorsorgevollmachten. Pluralisierung und Individualisierung bezieht in ähnlicher Weise Trauer als einen Prozess der Selbstvergewisserung und die Bestattungskultur ein. Dabei kommt es nicht zu einem Bedeutungsverlust, sondern zu einem Bedeutungswandel von Bestattungsritualen und der Friedhofskultur sowie zu einer Ausweitung der Formen des Gedenkens (z. B. auf das Internet und in Friedwäldern) (Benkel 2016). Bestattungsformen sind immer weniger selbstverständlich, sondern werden von den Beteiligten entsprechend persönlicher Wünsche und Bedürfnisse ausgehandelt und Totenrituale der Verabschiedung teilweise neu ‚erfunden‘. Bestatter/-innen übernehmen pädagogische Aufgaben für die Trauerbearbeitung und die Auseinandersetzung mit dem Sterben.
Sterben und Tod
531
Sterbehilfe, Suizid und gewaltsames Sterben: In historischer Perspektive wird der Tod als Gestaltungsaufgabe des Staates zunehmend als natürliches Sterben mit der Konsequenz pazifiziert, dass ein langes und sicheres Leben erwartet wird. Die vom Staat beanspruchte absolute Todeskontrolle wird insbesondere durch das gewaltsame Sterben herausgefordert. Fortwährenden Klärungsbedarf verlangt insbesondere die Sterbehilfe als Form selbstbestimmten Sterbens durch die ärztlich bzw. medikamentös herbeigeführte Abkürzung des Leidensweges. Die definitorische Abgrenzung von Sterbehilfeformen und -praktiken sowie deren rechtliche Einordnung (aktive, passive, indirekte Sterbehilfe, assistierter Suizid) ist allerdings umstritten und nicht einheitlich (Ruß 2002; Duttge 2006). Während die passive Sterbehilfe als humane Praxis der Unterstützung eines natürlichen Sterbens allgemeine Zustimmung findet, wird die aktive Sterbehilfe zwar vom Großteil der Bevölkerung befürwortet (Institut für Demoskopie Allensbach 2014), aber von Vertreter/-innen der Wohlfahrtsinstitutionen, der Politik sowie der Ärzt/-innen in Deutschland mehrheitlich abgelehnt. Nicht-natürliche Todesfälle aufgrund von Unfällen, vorsätzlichen Selbsttötungen und vorsätzlichen Angriffen machen mit 36 496 Todesfällen (3,9 %) im Jahr 2015 nur einen kleinen Teil im deutschen Mortalitätsspektrum aus. Die 65-Jährigen und Älteren stellen in absoluten Zahlen jedoch eine besonders vulnerable Gruppe dar, da auf sie über 60 % (23 118) der nicht-natürlichen Todesfälle fällt (StaBuAmt 2017c). Während aus der Perspektive der Gesellschaft Suizid auf zu lockere und nicht mehr funktionierende soziale Bindungen hinweist, kann aus der Perspektive des Einzelnen die Möglichkeit eines Suizids entlastend wirken und auf diese Weise soziale Bindungen sogar stabilisieren. 2015 wurden in Deutschland 10 078 Suizide ausgeübt, wobei der Anteil an der Gesamtmortalität seit zwei Jahrzehnten rückläufig ist. Die Hälfte aller Suizide wird allerdings von 65-Jährigen und Älteren begangen, eine besonders vulnerable Gruppe aufgrund schwächer werdender sozialer Bindungen (StaBuAmt 2017a). Von Tötungen sind ältere Menschen nicht überdurchschnittlich betroffen. Allerdings ist für die hohen und höheren Lebensalter eine hohe Dunkelziffer zu vermuten, weil Gewalteinwirkungen aufgrund von Gebrechlichkeit, Schwäche und dem Vorhandensein von Krankheiten nicht erkannt werden (ausführlich zum Suizid im Alter vgl. Lindner und Müller-Pein i. d. B.).
5
Fazit
Entsprechend den Orientierungen einer pluralistischen Gesellschaft, die keine letztendliche moralische Autorität kennt, werden die Anforderungen an das moderne Sterben in einem interessengeleiteten Diskurs ausgehandelt, wobei Idealisierung und Wirklichkeit durchaus auseinanderklaffen. Der gemeinsame Nenner kann aber in dem – für die Sozialarbeit und Sozialpädagogik richtungsweisenden – Bestreben gesehen werden, das biologische und soziale Sterben möglichst zu synchronisieren. Dazu gehört die Herstellung einer kontinuierlichen Versorgung Sterbender, die ihren physischen, psychischen und sozialen Bedürfnissen gerecht wird. Konkret ge-
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Stefan Dreßke
schieht dies bereits in Ansätzen – z. B. durch die Vorbereitung auf das Sterben ganz allgemein durch Beratung zu Patientenverfügung und Vorsorgevollmachten (vgl. Becker-Schwarze i. d. B.), durch Vorkehrungen für typische Risiken wie Pflegebedürftigkeit und Demenzen mithilfe geeigneter Wohnformen und Pflegearrangements, durch die Organisation ehrenamtlicher Unterstützung sowie durch spezialisierte ambulanten Palliativversorgung (SAPV; vgl. Rixen i. d. B.), Palliative Care und Hospizarbeit (vgl. Begemann und Fuchs i. d. B.).
Ausgewählte Literatur Elias, Norbert. 1982. Die Einsamkeit des Sterbenden. Frankfurt: Suhrkamp. Feldmann, Klaus. 2010. Tod und Gesellschaft. Wiesbaden: VS. Seale, Clive. 1998. Constructing death. Cambridge: Cambridge University Press.
Suizid im Alter Hannah Müller-Pein und Reinhard Lindner
1
Einleitung
Suizidhandlungen und ihre Folgen sind ein gesundheitspolitisches Problem, das oft unterschätzt wird. Jährlich nehmen sich rund 3 500 Menschen über 65 Jahre das Leben. Damit trägt der Suizid die Handschrift des Alters. Häufig ist es ein stiller Tod, der von anderen kaum wahrgenommen wird. Hinter der Absicht, sich zu töten und dem Entschluss zu einer Suizidhandlung verbirgt sich oft eine verengte, ausweglos erscheinende Lebenssituation. Schwere Einbußen an Lebensqualität, sei es durch physische oder psychische Erkrankungen, Verlusterfahrungen und soziale Isolation können sich zu einer schweren Krise verdichten. Bei alten Menschen wird als Folge eines oft negativen Altersbildes (vgl. dazu Göckenjan, Pichler i. d. B.) eine Suizidhandlung eher gebilligt als bei jungen Menschen. Trotz des erhöhten Suizidrisikos im Alter werden immer noch zu wenige Anstrengungen unternommen, den Ursachen vorzubeugen und Hilfsangebote für ältere Menschen in suizidalen Krisen vorzuhalten. Suizidale Tendenzen von älteren Menschen zu erkennen, ernst zu nehmen und bei Bedarf weitere Hilfen einzuleiten, ist eine wichtige Aufgabe der Sozialen Arbeit mit älteren Menschen.
2
Epidemiologie
In Deutschland sterben jährlich etwa 10 000 Menschen durch Suizid. Suizidversuche werden nicht systematisch erfasst. Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht jedoch davon aus, dass auf jeden vollendeten Suizid etwa zehn bis zwanzig Suizidversuche kommen. Suizidalität wird verstanden als © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_48
533
534
Hannah Müller-Pein und Reinhard Lindner
„die Summe aller Denk- und Verhaltensweisen von Menschen oder Gruppen von Menschen, die in Gedanken durch aktives Handeln, Handeln lassen oder passives Unterlassen den eigenen Tod anstreben bzw. als mögliches Ergebnis einer Handlung in Kauf nehmen“ (Wolfersdorf 2000, S. 18).
Im Jahr 2017 suizidierten sich in Deutschland 9 235 Menschen. Darunter waren knapp 7 000 Männer. Die durchschnittliche Suizidrate betrug 11,2 Suizide pro 100 000 Einwohner. Das durchschnittliche Sterbealter durch einen Suizid lag bei 57,8 Jahren, im Jahr 1998 lag die Zahl noch bei 53,2 Jahren. Insbesondere bei Männern steigt die Suizidrate mit dem Alter erheblich. So lag die Suizidrate im Jahr 2017 bei Männern zwischen 65 und 70 Jahren bei 22,1 und bei Männern zwischen 80 und 85 Jahren bei 49,7. Der Anstieg der Suizidrate wird in Abbildung 1 dargestellt. Das ‚ungarische Muster‘, wie man den Zuwachs an Suiziden im höheren Lebensalter nach dem Land der Erstbeobachtung bezeichnet, lässt sich in Deutschland seit den frühen 1950er Jahren beobachten. Ältere Menschen wenden häufiger ‚harte Methoden‘ wie das Erhängen, Erschießen und ‚Sprung aus Höhe‘ an. Suizidversuche treten bei jüngeren Menschen häufiger auf als bei älteren (Schmidtke et al. 2008). Bei Menschen im höheren Lebensalter, die durch Suizid sterben, findet sich seltener ein Suizidversuch in der Vergangenheit. Das liegt zum einen am Einsatz der ‚harten Methoden‘ wie auch an der körperlichen Konstitution, die es wahrscheinlicher macht, dass ein Suizidversuch letal endet. Insbesondere im hohen Lebensalter muss bei der Erfassung von Suiziden von einer erheblichen Dunkelziffer ausgegangen werden. Die amtlichen Statistiken beinhal ten keine indirekten suizidalen Handlungen, wie beispielsweise riskantes Verhalten im Straßenverkehr, Nichtbefolgung ärztlicher Maßnahmen (falsche Dosierung von Medikation) oder auch das Einstellen von Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr mit der Intention, zu sterben (Schaller und Erlemeier 2014). Auch verhält es sich so, dass in der Todesursachenstatistik häufig die vorangegangene somatische Erkrankung und nicht das suizidale Handeln oder die körperlichen Krankheiten, die in Folge eines Suizidversuches auftreten, erfasst werden. Durch den demographischen Wandel ist mit einer weiteren Zunahme hochaltriger Menschen mit ihrer besonderen Suizid gefährdung zu rechnen.
3
Risiko- und Schutzfaktoren
Suizidalität ist immer Ausdruck einer seelischen Krise, die von Verzweiflung, Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit gekennzeichnet ist. Häufig engt sich der Blickwinkel der Betroffenen so ein, dass sie nicht mehr in der Lage sind, alle Optionen, die sich ihnen bieten, zu erkennen und zu bewerten. Man spricht von einem ‚Tunnelblick‘ in der suizidalen Krise. Dieser Krise liegt immer eine individuelle und komplexe innerpsychische Dynamik zugrunde. Die meisten Menschen, die Suizidgedanken haben,
2,6
3,2
2,2
10,7
4,1
12,7 3,6
14,3 4,2
14,3 5,3
8,4
20,9
7,3
22,3
Frauen
7,2
21,1
6,6
22,1
24,9
8
9,7
33,8
9,2
49,7
12,5
71,6
11,5
89,9
Quelle: Eigene Berechnungen nach StaBuAmt 2019c ©
1 bis 15 bis 20 bis 25 bis 30 bis 35 bis 40 bis 45 bis 50 bis 55 bis 60 bis 65 bis 70 bis 75 bis 80 bis 85 bis 90 Jahre unter unter unter unter unter unter unter unter unter unter unter unter unter unter unter unter und älter 15 Jahre 20 Jahre 25 Jahre 30 Jahre 35 Jahre 40 Jahre 45 Jahre 50 Jahre 55 Jahre 66 Jahre 65 Jahre 70 Jahre 75 Jahre 80 Jahre 85 Jahre 90 Jahre
0,3 0,2
6,2
9,7
19,5
Männer
Abbildung 1 Suizide pro 100 000 Einwohner/-innen im Jahre 2017 nach Lebensalter
Suizid im Alter 535
536
Hannah Müller-Pein und Reinhard Lindner
sind sehr ambivalent: Sie hegen nicht zwangsläufig den Wunsch zu sterben, sondern möchten ein Leben mit weniger Leiden führen. Die Ambivalenz zeigt sich aber auch in einem Erleben innerer Konflikte zwischen Bindungen an wichtige Personen, Aufgaben oder Überzeugungen und dem unterschiedlich drängenden Wunsch, sich aus dem Leben zu lösen (Gerisch et al. 2000). Ein zentraler Risikofaktor ist dabei das Erleben von Verlusten. Das Alter ist geprägt von inneren und äußeren Verlusten. Mit dem Renteneintritt gehen in der Regel finanzielle Einbußen einher, das Fehlen einer tagesstrukturierenden Beschäftigung und die Loslösung aus einer sozialen Einbindung in eine sinnstiftende Tätigkeit. Auch ist das Alter der Lebensabschnitt, in dem Todesfälle im nahen persönlichen Umfeld am häufigsten auftreten, Familienangehörige, Partner/-innen und Freunde gehen verloren. Die Zunahme körperlicher Erkrankungen im Alter und damit Verluste auf funktioneller Ebene können es notwendig machen, dass ältere Menschen ihre gewohnte Umgebung verlassen, sei es durch Umzüge in eine barrierefreie Wohnung oder in die stationäre Altenpflege. Zu den weiteren Risikofaktoren für Suizidalität gehören psychische Erkrankungen. Bei bis zu 90 % der Menschen, die sich suizidieren oder einen Suizidversuch unternehmen, ist eine psychische Störung, und hier insbesondere die Depressionen, in der Vorgeschichte bekannt (Wolfersdorf et al. 2015). In der Altersgruppe der über 65-Jährigen leidet etwa jeder Vierte unter einer psychischen Erkrankung (Erlemeier und Sperling 2014), wobei affektive Störungen überwiegen. Depressionen sind im Alter etwas häufiger als in jüngeren Jahren, wobei Frauen auch im höheren Lebensalter häufiger von Depressionen betroffen sind als Männer (Verhältnis 2 : 1). Beim Blick auf diese Daten darf nicht vergessen werden, dass sich alte depressive Männer oftmals erheblich zurückziehen und keine Hilfen in Anspruch nehmen. Zu den körperlichen Störungen, die besonders mit Suizidalität im Alter assoziiert sind, gehören Schmerzsyndrome, Herz- und Niereninsuffizienz, obstruktive Lungenerkrankungen, hirnorganische Anfallsleiden, Inkontinenz und Karzinome (Lindner 2019). Dabei sind es aber nicht die körperlichen Veränderungen selbst, die mit diesen Erkrankungen einhergehen, sondern deren psychosoziale Folgen, die Menschen suizidal werden lassen. Bei Betrachtung lebensgeschichtlicher Ereignisse zählen zu den Risikofaktoren für Suizidalität im Alter die Erfahrung körperlicher und sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend, emotionale Vernachlässigung wie auch andere zerstörerische Bezie hungserfahrungen und ihre Verarbeitung und unbewältigte Entwicklungsanforde rungen über den Lebensverlauf (Briggs et al. 2012). Es lässt sich feststellen, dass viele der genannten Risikofaktoren zu ubiquitären Erfahrungen von älteren Menschen gehören. Ein psychodynamisches Verständnis der Suizidalität im Alter kann helfen zu verstehen, warum sich bei manchen Älteren diese, beinahe jeden alten Menschen betreffenden Erlebnisse zu einer suizidalen Krise zuspitzen können. Aus einer psychoanalytischen, objektbeziehungstheoretischen Perspektive führen die dem Bewusstsein meist zugänglichen Auslöser suizidalen Er-
Suizid im Alter
537
lebens, wie beispielweise o. g. Verlusterfahrungen, zur Labilisierung der bis dahin funktionsfähigen psychischen Abwehr. Eine Regression auf entwicklungspsycholo gisch früher angesiedelte Formen der Abwehr und eine Reaktualisierung früher intrapsychischer Konflikte (um Aggression, Autonomie und Abhängigkeit), sowie ReInszenierungen konflikthafter dyadischer Beziehungserfahrungen können zu einem Erleben von tiefster Ohnmacht und zu massivem Handlungsdruck führen (Gerisch et al. 2000; Lindner 2006). Der Unterschied zwischen suizidalen und nicht-suizidalen älteren Menschen liegt also in spezifischen Verarbeitungsmustern von Verlusterfahrungen und intrapsychischen, wie auch interpersonellen Konflikten. Interne Schutzfaktoren: Ein zentraler Schutz vor Suizidalität ist die Fähigkeit, mit Anforderungen in unterschiedlichen belastenden und schwierigen Situationen flexibel und adäquat umgehen zu können. Dies bedarf einer reifen Frustrationstoleranz und einer optimistischen Lebenshaltung. Deutlich zeigt sich, dass im Alter die Einstellung zu Religiosität und Spiritualität als Erfahrungsdimension im Erleben von Transzendenz einen Schutzfaktor darstellen (Sperling 2014). Das eigene Bild vom Altern und dem Alter, die aktive und realistische Auseinandersetzung mit den damit einhergehenden Prozessen sowie die Fähigkeit, damit verbundene mögliche Einschränkungen zu reflektieren und darin möglicherweise auch Chancen zu sehen, können weitere Schutzfaktoren sein. Eine kreative und selbstbewusste Auseinandersetzung mit der Endlichkeit und der möglichen Autonomieeinbuße unterstützt die Fähigkeit, Alter auch als Gewinn zu erleben, was daher ein stabilisierender Faktor ist. Auch eine optimistische Lebenseinstellung sowie ein positiver Denkstil, dass Situationen beeinflusst werden können, also eine Form der Selbstwirksamkeit vorhanden ist, sind als Schutzfaktoren von Bedeutung. Externe Schutzfaktoren: Generell ist einer der wichtigsten äußeren Schutzfaktoren
die soziale Unterstützung. Das Eingebundensein in soziale Interaktionen, das Gefühl, gebraucht zu werden und eine Aufgabe in der Gemeinschaft zu haben, kann suizidalen Krisen vorbeugen. Dafür kann es im Alter notwendig sein, persönliche Netzwerke zu pflegen, zu reaktivieren oder umzustrukturieren, wobei die Soziale Arbeit hier unterstützen kann. Auch die Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben spielt eine wichtige Rolle, um Gefühlen von Isolation und Einsamkeit vorzubeugen (Schneider et al. 2014).
4
Suizidprävention im Alter
Gesellschaftlich wird der Suizid eines hochbetagten Menschen auch deshalb eher akzeptiert als der eines jüngeren Menschen, da vermutet wird, dass dieser noch eher seinem Leben eine positive Wendung geben kann. In Folge dessen wird bei älteren Menschen eher von ‚Freitod‘ oder ‚Bilanzsuizid‘ gesprochen. Beide Begriffe legen
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Hannah Müller-Pein und Reinhard Lindner
nahe, dass der ältere Suizident seine Entscheidung nach reiflicher Überlegung getroffen hat und missachten dabei, dass sich das innerpsychische Geschehen in einer suizidalen Krise bei jüngeren und älteren Menschen nicht unterscheidet. Auch im hohen Alter ist Suizidalität immer ein Ausdruck einer großen psychischen Not und keinesfalls ein ‚natürlicher Prozess‘. Für die Suizidprävention im Alter bedarf es einer multiprofessionellen Zusammenarbeit, in der die Soziale Arbeit eine wichtige Rolle einnimmt. Die Unterteilung nach Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention weicht in der Suizidprävention einem multifaktoriellen System (Lindner et al. 2014a): Indizierte Interventionen: Sie sollen der Reduktion des Suizidrisikos bei hochgefähr-
deten älteren Menschen dienen, beispielsweise, wenn diese schwer depressiv sind oder einen Suizidversuch überlebt haben. Darunter fallen gezielte professionelle Hilfen für die Betroffenen, aber auch für Angehörige. Neben den psychotherapeutischen und psychiatrischen Behandlungen, kann die Soziale Arbeit Hilfen in Form von Krisenintervention und Beratung leisten.
Selektive Interventionen: Sie werden bei Menschen angewandt, die zu spezifischen Risikogruppen gehören (vgl. auch 3.). Ein zentrales Bemühen der selektiven Suizidprävention ist das sogenannte Gatekeeper-Training, bei welchem sowohl professionelle, wie auch Laien-Helfer im Erkennen von Warnzeichen für Suizidalität geschult und über wirksame Weiterverweisungen im Gesundheitssystem informiert werden. Entsprechend sind auch Professionelle in der Altenhilfe gezielt hinsichtlich Erkennen und Behandeln von Depressionen und Suizidalität bei Älteren in Aus-, Fort- und Weiterbildung zu schulen. Universelle Interventionen: Diese Interventionen hingegen betreffen die gesamte (äl-
tere) Bevölkerung. Hier gilt es z. B., Bildungsangebote zu implementieren, die auf physische wie psychische Gesundheit im Alter abzielen. Dadurch können ältere Menschen erkennen, dass Depressivität nicht ein hinzunehmender Bestandteil des Alterns ist, sondern ein Hinweis auf eine Störung. Widerstandsfähigkeit und eine ressourcenorientierte Gesundheitsförderung sollten dabei im Mittelpunkt stehen. Weitere Interventionen sind gesundheitspolitische Maßnahmen, die den Zugang zu gesundheitlicher Versorgung verbessern (Lindner et al. 2014a).
5
Suizidale ältere Menschen in der helfenden Beziehung
In der Arbeit mit suizidalen älteren Menschen konnten Interaktionsmuster festgestellt werden, die als besonders häufig und typisch identifiziert wurden. Es gilt, Professionelle, die in helfenden Berufen mit alten Menschen arbeiten, für diese Beziehungsmuster zu sensibilisieren, also eine Awareness zu befördern, die dabei hilft, suizidale ältere Menschen zu erkennen, auch wenn diese selbst nicht das suizidale Erleben an-
Suizid im Alter
539
sprechen (Lindner 2012). Dies gilt insbesondere für die Soziale Arbeit in der stationären Altenhilfe, in der Geriatrie und in der Sozialberatung in Krankenhäusern. Ein typisches Muster kann dabei in einem Autonomie-Abhängigkeitskonflikt begründet sein. Der drohende Verlust der Eigenständigkeit und Kontrolle über sich kann nicht mehr genug abgewehrt werden, sodass Verzweiflung entsteht, weil weder den Anlehnungswünschen nachgegangen werden kann, noch die vertrauten Muster des ‚Sich-Zusammen-Reißens‘ mehr greifen. Solche Personen schwanken ambivalent zwischen dem Wunsch, sich zu entlasten, Hilfe anzunehmen und der Angst, es nicht alleine zu schaffen, die eigene Autonomie zu verlieren, hilflos, ausgeliefert und ohnmächtig zu sein. In der Arbeit mit betroffenen alten Menschen kann es bisweilen schwierig sein, suizidale Absichten zu erkennen, da sie sich entweder in ihrem Auto nomiebedürfnis stark zurückziehen und beispielsweise Gespräche ablehnen oder aber mit unrealistischen Heilungs- und Hilfswünschen die Pflegenden herausfordern; beide Verhaltensmuster können auch abwechselnd auftreten. Wenn es möglich wird, das konflikthafte innere Erleben nicht wertend, sondern entlastend anzusprechen, gelingt oft auch eine deutliche Beruhigung, sowohl im Erleben der Patient/-innen, Bewohner/-innen einer Einrichtung bzw. Adressat/-innen Sozialer Altenarbeit wie auch in der Interaktion zwischen ihnen und den Fachkräften. Auch der psychosoziale Rückzug ist eine Dynamik, die bei Suizidalität häufig auftritt. Ein besonderes Augenmerk sollte daher auf älteren Menschen liegen, von denen eine Tendenz ausgeht, gar keinen Kontakt aufzunehmen, diesen oberflächlich zu halten oder sich aktiv dem Kontakt zu entziehen. Wenn diese Menschen bei den Helfenden selbst keine Resonanz erzeugen, oder auch Ärger und Frustration auslösen, so ist eine genaue Selbstreflexion gefragt. Im Team muss dann gerade über diejenigen Patient/-innen, Bewohner/-innen bzw. Adressat/-innen gesprochen werden, die unscheinbar sind und wenig auffallen. Hier ist es sinnvoll, das Vorliegen suizidaler Tendenzen zu beachten, nachzufragen und weitere Hilfen einzuleiten (Lindner 2012).
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Exkurs: Sterbehilfe und der assistierte Suizid
Insbesondere in der gesellschaftlichen Wahrnehmung sind die Themenkomplexe Alter, Suizidalität und Sterbehilfe eng miteinander verwoben. Deshalb ist zunächst eine Begriffsbestimmung notwendig, bevor dann auf die aktuelle Rechtslage nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum § 217 StGB vom 26. Februar 2020 eingegangen wird. Assistierter Suizid: Der assistierte Suizid setzt voraus, dass die Person, die sterben will,
das Suizidmittel eigenmächtig einnimmt. Die Assistenz bezieht sich dann auf das Beschaffen und Bereitstellen des Suizidmittels. Im englischen Sprachraum wird von assisted suicide und von physician assisted suicide (PAS) gesprochen.
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Hannah Müller-Pein und Reinhard Lindner
Tötung auf Verlangen: Tötung auf Verlangen beinhaltet, das das Handeln einer Per-
son direkt zum Tod einer anderen Person führt und dass dies von letzterer gewünscht wurde. Der Handlungsablauf ist vom assistierten Suizid recht gut zu unterscheiden, der geäußerte Wunsch nach Unterstützung bei der Selbsttötung jedoch nicht zwingend. So ist nicht ohne weiteres definiert, in welchem zeitlichen Zusammenhang die Äußerung des Wunsches nach Hilfe beim Suizid zum vollendeten Suizid steht. Auch ist nicht definiert, welche kommunikative Bedeutung dies hatte. Im englischen Sprachraum wird von euthanasia gesprochen. Sterbebegleitung: Sie umfasst einerseits medizinische Hilfe zur Leidensminderung,
Schmerztherapie und Pflege, andererseits psychosoziale Hilfe zur psychischen Unterstützung und Bereitstellung sozialer Hilfen, zur Mobilisation vorhandener Ressourcen und zur Gesprächsbegleitung. Zur Sterbebegleitung kann auch das Unterlassen und Beendigen lebenserhaltender Maßnahmen gehören, wenn diese den palliativ medizinischen Zielen widersprechen. Unter Umständen wird damit eine Lebensverkürzung in Kauf genommen. Palliativmedizin: Die Palliativmedizin unterscheidet sich von der heilenden (kurati-
ven) Medizin durch ihre Zielsetzung. Nicht Heilung und Lebensverlängerung sind mehr Ziele, sondern die Linderung von Beschwerden und der Erhalt von Lebensqualität. Palliativmedizin kann im häuslichen Bereich ambulant und im Krankenhaus und in speziellen Einrichtungen realisiert werden. Hospizarbeit: Betreuung am unmittelbaren Lebensende findet entweder im häusli-
chen Rahmen (Begleitung durch vorwiegend ehrenamtliche, geschulte Fachkräfte) oder in spezialisierten stationären Einrichtungen (Hospiz) statt (zu Sterbebegleitung, Palliativ- und Hospizarbeit vgl. auch Begemann und Fuchs i. d. B.).
Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVG) zum § 217 StGB: Im Jahr 2015 trat der § 217 StGB in Kraft, der die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung in Deutschland unter Strafe stellte, sodass ‚Sterbehilfevereine‘ in Deutschland nicht legal agieren konnten. Nachdem zahlreiche Verfassungsbeschwerden in Karlsruhe eingingen, wurde die Rechtmäßigkeit des Paragraphen im April 2019 vor dem BVG verhandelt. Am 26. Februar 2020 erklärten die Richter den Paragraphen für verfassungswidrig und somit als nichtig. Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben in jeder Phase menschlicher Existenz war dabei ein zentraler Punkt der Argumentation. Eine völlige Freigabe des assistierten Suizides behindert eine wirksame Suizidprävention gravierend. Individuelle Suizidprävention findet in einem Beziehungsraum statt, der die weitgehende Freiheit des suizidalen Menschen akzeptiert und zugleich helfend und schützend Alternativen zu Suizid anbietet. Die freie Verfügbarkeit von Suizidmitteln steigert empirischen Untersuchungen zufolge die Wahrscheinlichkeit, dass Suizide auch vollzogen werden (AG „Alte Menschen“ im Nationalen Suizidpräven
Suizid im Alter
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tionsprogramm für Deutschland 2015). Andererseits gibt es suizidale Personen, die allein aufgrund der Vorstellung, im Falle zu großen Leidens Suizid begehen zu können, stabilisiert werden und den Suizid nicht begehen. Menschen am Lebensende benötigen Behandlungsangebote, die auf ihre individuelle existenzielle Situation angepasst sind. Dazu gehören Krisenintervention, psychosoziale und seelsorgerische Beratung in suizidalen Krisen, aber auch psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung. Hospiz- und Palliativvereine bieten zudem die Begleitung Sterbender sowohl durch Professionelle wie auch durch Laien an. Nach dem Urteil bleibt abzuwarten, wie der Gesetzgeber die vom BVG angeregten prozeduralen Sicherheitsmechanismen umsetzen wird.
Ausgewählte Literatur Arbeitsgruppe „Alte Menschen“ im Nationalen Suizidpräventionsprogramm für Deutschland. 2019. Wenn das Altwerden zur Last wird. https://www.bmfsfj.de/blob/95512/03e414bd01deff4bf 704d6e9e5ce4dab/wenn-das-altwerden-zur-last-wird-data.pdf. Zugegriffen: 22. Februar 2020. Lindner, Reinhard, Daniela Hery, Sylvia Schaller, Barbara Schneider und Uwe Sperling. Hrsg. 2014. Suizidgefährdung und Suizidprävention bei älteren Menschen. Eine Publikation der Arbeitsgruppe „Alte Menschen“ im Nationalen Suizidpräventionsprogramm für Deutschland. Berlin: Springer. Schneider, Barbara, Uwe Sperling und Hans Wedler. 2011. Suizidalität im Alter. Frankfurt a. M.: Mabuse.
Teil III Soziale Konstruktionen des Alters
‚Alter‘ als soziale Konstruktion – eine soziologische Einführung Klaus R. Schroeter und Harald Künemund
1
Einleitung
Das Alter ist in modernen Gesellschaften eine im Alltag allgegenwärtige Größe. Neben rechtlichen Regelungen – etwa zum Beginn der Schulpflicht, der Volljährigkeit, der Berechtigung zum Führen von Fahrzeugen oder dem Bezug von Altersrenten – existieren zahlreiche Normen und Regeln, wie man sich altersgemäß zu verhalten habe. Beispielsweise werden „Alterserwartungscodes“ formuliert, „in denen explizit oder beiläufig Alter immer wieder konstruiert, Verpflichtungen erinnert, Erwartungen modifiziert, kontinuierlich Zeitdeutungen produziert werden“ (Göckenjan 2000, S. 25, vgl. auch Göckenjan i. d. B.). Zugleich werden regelmäßig individuelle Merkmale mit entsprechenden Durchschnittswerten anderer Personen ähnlichen Alters verglichen – z. B. schulische Leistungen oder gesundheitliche Beeinträchtigungen – und Kollektive hinsichtlich ihres Durchschnittsalters bewertet – z. B. Fußballmannschaften, Beschäftigte in einem Unternehmen oder ganze Bevölkerungen. Schließlich werden jährlich wiederkehrende Ereignisse gefeiert, Geburts- oder Namenstage, und es lässt sich vermuten, dass viele Menschen die Jahre bis zur Volljährigkeit oder Rente in freudiger Erwartung zählen. All diese Praktiken sorgen dafür, dass ein jeder ständig sein eigenes Alter kennt und dieses bei einer entsprechenden Frage ohne großes Nachdenken nennen kann (oder zumindest – falls dem einmal nicht so sein sollte – dieses leicht z. B. durch Subtraktion des Geburtsjahres vom aktuellen Jahr errechnen kann). Man kann also sagen, das Alter strukturiert unser tägliches Leben wie auch unsere biografischen Perspektiven – Bilanzierungen und Erwartungen –, eröffnet und begrenzt Handlungsspielräume und weist uns einen Platz in der Gesellschaft an. Das Alter scheint dabei eine ganz natürliche Gegebenheit zu sein, eine Naturtatsache sozusagen. Dass dies nicht der Fall ist, sondern Alter vielmehr als eine soziale Konstruktion betrachtet werden muss, machen historische und interkulturelle Vergleiche schnell deutlich – zu anderen Zeitpunkten und in anderen Gesellschaften existieren © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_49
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mitunter gänzlich andere Altersnormen oder Altersgrenzen. Selbst die Zeit, die Jahre, in denen das Alter in unserer Gesellschaft ‚gemessen‘ wird, ist eine soziale Konstruktion. Und streng genommen sind Jahre – dem völlig selbstverständlichen Gebrauch im Alltag zum Trotz – eine weitgehend ungeeignete ‚Maßeinheit‘ für das menschliche Alter. Dies ist eigentlich auch lange bekannt (vgl. z. B. Sorokin und Merton 1937), die damit verbundenen Probleme sind aber u. E. noch immer nicht zufriedenstellend gelöst, z. T. auch wohl noch nicht hinreichend erkannt. Unser Beitrag zielt vor diesem Hintergrund im Wesentlichen auf die soziale Konstruktion von Alterskategorien (vgl. Künemund und Schroeter 2014). Damit sind die sozialen Konstruktionen des Alters und des Alterns jedoch keineswegs erschöpft. Vielmehr gehen wir in Anlehnung an die Überlegungen von Berger und Luckmann (1969) davon aus, dass alle sozialen Strukturen aus individuellen Handlungen entstehen, die dann wiederum auf das individuelle Handeln einwirken, und dass diese Strukturen von den Individuen aber als äußerliche Phänomene wahrgenommen werden. Dementsprechend gehen wir davon aus, dass Altern a) in einem umfassenden symbolischen Verweisungszusammenhang konstruiert wird, sich b) in der sozialen Interaktion stets reifiziert und in der sozialen Organisation gesellschaftlichen Handelns als objektive Struktur realisiert, sich c) in der Somatisierung gesellschaftlicher Machtverhältnisse materialisiert und d) zugleich in seiner sinnlich empfunde nen Qualität konstitutiver Bestandteil subjektiver Identitäten ist. Entsprechend kann die soziale Konstruktion des Alterns mindestens auf vier Ebenen in den Blick genommen werden: a) symbolische Ebene: allgemeine Alternssemantiken, Alternsdefinitionen, symbolische Alternsordnungen; b) interaktive Ebene: Doing Age, soziale Performanz, korporale Präsentation und Inszenierung, interaktive Interpretation; c) materiell-somatische Ebene: Soziosomatik der Altersdifferenzen, Formierung der Körper, Körperpolitik und Körperstrategien; d) leiblich-affektive Ebene: Altern als gespürte Realität, Spüren des Leibes, subjektiv empfundenes Alter) (vgl. dazu im Einzelnen Schroeter 2007, 2009, 2012, 2014a, 2018). Der Beitrag beginnt mit einigen knappen, eher wissenschaftstheoretischen Anmerkungen, mit denen zum einen deutlich gemacht wird, dass sich die Wirklichkeit und damit auch das Altern sowie die Theorien und Diskurse über das Altern als Teile der Wirklichkeit nur in einem andauernden Herstellungs- bzw. Konstruktionsprozess befinden. Zum anderen wird gezeigt, dass diese Wirklichkeiten niemals vollständig begrifflich eingefangen, sondern nur symbolisch repräsentiert werden können. In einem zweiten Schritt möchten wir am Beispiel der Zeit verdeutlichen, was in diesem Zusammenhang die Rede von einer ‚sozialen Konstruktion‘ bedeutet, und vor diesem Hintergrund die Eignung des Kalenders als Messinstrument für das menschliche Alter grundsätzlich in Frage stellen. Wir stützen uns dabei auf frühere Überlegungen (Künemund 2005), die insbesondere durch Elias (1984) und anschließende Recherchen etwa bei Wendorff (1980) angeregt wurden (ähnlich argumentieren mit Blick auf die Gerontologie aber z. B. auch bereits Hendricks und Hendricks 1976 oder Baars 1997). Abschließend wird der sozialen Konstruktion von Altersstufen und Al-
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tersgrenzen nachgegangen und gezeigt, dass jedwede Alterseinteilungen immer nur als idealtypische Konstrukte zu begreifen sind, die zwar nicht realiter vorzufinden sind, aber in substanzialisierter Form als real existierend gedacht werden und daher auch reale Konsequenzen haben (vgl. zu den Ursachen und Konsequenzen von Altersgrenzen auch Künemund und Vogel 2018).
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Vom allgemeinen Bedeutungsüberschuss der Begriffe zur sozialen Konstruktion von Alternssemantiken
Aus der allgemeinen Wissenschaftstheorie ist bekannt, dass die Wirklichkeit immer schon symbolisch vermittelt und nur als solche wahrnehmbar ist – mit Hilfe sprachlicher Symbole. Demzufolge ist auch das, was wir unter Alter, Altern, Altsein oder Altwerden verstehen, stets in irgendeiner Form sozial konstruiert. Wenn der Mensch seine Umwelt nur vermittelt wahrnehmen kann und Beobachtungs- und Wahrnehmungsprozesse selber auch immer Interpretationen, Formungsprozesse sind (Plessner [1928] 1975; Cassirer [1923] 1997, [1924] 1997, [1929] 1997), so heißt das auch, dass das Alter immer erst durch die Beobachter/-innen seine Form erhält. Das heißt fernerhin, dass ein wie auch immer gefasster Begriff – nicht nur der des Alterns – stets mehr bedeutet als das, was er zu sein scheint. Dies sei im Folgenden näher erläutert. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist, dass ein jeder Organismus nur in Relation zu der ihm spezifischen Umwelt gedacht und beurteilt werden kann. Plessner ([1928] 1975) hat gezeigt, wie sich der Mensch auf seine Umwelten ausrichtet und wie er diese Umwelten für sich einrichtet. Als „exzentrisches Wesen“ ist er gewissermaßen „ortlos, zeitlos im Nichts stehend, konstitutiv heimatlos“. Er muss erst „etwas werden“ und sich ein Gleichgewicht schaffen. Und das gelingt ihm nur mithilfe „der außernatürlichen Dinge, die aus seinem Schaffen entspringen“ (ebd., S. 310 f.). Als weltoffenes (Scheler [1928] 1998) und exzentrisch positioniertes Wesen (Plessner [1928] 1975) lebt der Mensch in keiner abgesicherten Einpassung in einer artspezifischen Umwelt, sondern in einem Überraschungsfeld (Gehlen [1940] 1986), in dem er sich gleichsam handelnd seine „zweite Natur“ schafft, nämlich Kultur und Orien tierung. Um überhaupt zu erkennen, muss der Mensch tätig sein, sodass durch erste Erfahrungsbewegungen im Chaos der Reizüberflutung Symbole entstehen, „an denen das einsetzen kann, was Erkenntnis zu nennen ist“ (ebd., S. 51). Und auf dieser Grundlage werden dann alltägliche Handlungsmuster, Gewohnheiten, Routinen, Rituale, Institutionen – eben Alltagsbildungen geschaffen. Durch sie wird die Weltoffenheit des Menschen ‚produktiv bewältigt‘ und es eröffnet sich eine Unendlichkeit an Handlungsentwürfen. Die kulturellen Formen werden differenzierter und komplexer, die Handlungsketten immer länger und die Umwelten immer undurchsichtiger, zumal sie für jeden Einzelnen unterschiedlich sind, was letztlich auch heißt, dass sie Beobachter/-innen als Umwelten anderer Formen gar nicht zugänglich sind: „Wer von der Umwelt eines anderen spricht, konstruiert, er beschreibt also nicht eine ‚tat-
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sächliche‘ Umwelt des anderen, sondern das, was er selbst beobachtet“ (Voss 2006, S. 110). Die Beobachter/-innen mögen ihre Umwelt erahnen und diese Ahnung mit Begriffen und Symbolen belegen. Doch spätestens im Moment der begrifflich-symbolischen Bearbeitung des Beobachteten wechselt das Beobachtete seine Form. Das dynamische Geschehen gerinnt zur vergegenständlichten Form. Es wird dabei nicht das Ganze, sondern eher die Summe seiner Teile wahrgenommen und weiter bearbeitet. Es bleiben blinde Flecken, die dann nur aus einer Beobachtung höherer Ordnung erkennbar sind, aber wiederum ihre eigenen blinden Flecken hinterlassen. Kurzum: Es ist grundsätzlich unmöglich, eine ‚Ganzheit erster Ordnung‘ reflexiv zu erfassen. Das hat notwendigerweise Konsequenzen für die Begriffsbildung: Auch wenn man von konkreten Erscheinungen abstrahiert und Substanzbegriffe durch Kunstbegriffe (z. B. Lebensphasen, Altersklassen, -gruppen, -stufen) ersetzt, so laufen sie doch Gefahr, durch ihre ständige Verwendung verdinglicht und als identische und real existierende Phänomene betrachtet zu werden. Doch das Problem bleibt, denn: „Kein Begriff lässt sich finden, der tatsächlich ist, was er zu sein vorgibt“ (ebd., S. 112). Und deshalb lässt sich weder im Alltag noch in der Wissenschaft die Bedeutung der Beobachtungen exakt bestimmen. Man mag noch so klug definieren oder fein operationalisieren, das Bedeutende lässt sich weder durch Begriffe noch durch Zahlen vollständig einfangen. Vielmehr lässt sich durch Begriffe und Zahlen auf Bedeutendes hinweisen. Alternssoziologisch gewendet bedeutet dies, dass relationale Wechselwirkungen zwischen Menschen und Umwelten (i. S. von Außen-, Innen- und Mitwelt) durch mehr oder weniger statische Begriffsfestlegungen (Lebenslauf, Generation, Hochaltrigkeit, Ruhestand usw.) substanzialisiert und damit als objektive und invariante Tatbestände suggeriert werden. Durch das begrifflich Fixierte und/oder empirisch Gemessene wird zwar etwas für (wissenschaftliche) Beobachter/-innen Bedeutungsvolles erfasst, doch es bleibt stets ein Bedeutungsüberschuss. Und schon Husserl (1985) wusste, dass das aktuell Wahrgenommene „von einem dunkel bewußten Horizont unbestimmter Wirklichkeit“ (ebd., S. 132; Hv. i. O.) durchsetzt und umgeben ist. Nun sind weder Begriffe noch Zahlen, weder Definitionen noch Theorien bedeutungslos. Sie verweisen ja geradezu auf etwas für bedeutend Erachtetes, über das dann weiter kommuniziert und das auch weiter beobachtet wird. Und so entsteht ein wissenschaftlicher Diskurs, in dem wissenschaftliche Beobachter/-innen über ihre wissenschaftlichen Beobachtungen kommunizieren und dabei gleichsam ein wissenschaftliches Artefakt konstruieren, das für die Beteiligten durchaus real erscheint. Doch diese künstliche Realität ist eine reduzierte Realität mit blinden Flecken, geschaffen aus der verengten Perspektive eigener Beobachtungen. Das Beobachtete wird durch Erfahrungsakte – also empirisch – und Begriffsbildungen – also symbo lisch – geformt und von anderen Formen abgegrenzt. Das Ergebnis ist dann der wissenschaftlich vermittelte Eindruck von Formen mit real existierender Konstanz – so auch beim Altern.
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Bilder, Vorstellungen, Definitionen usw. vom Alter sind insofern Kommunika tionskonzepte (vgl. Saake 1998). Und in diesem Sinne existiert Alter „nicht als Wirklichkeit […], sondern als Idee, als Deutungsmuster und als soziale Praktiken, nicht als biologische Entität“ (Göckenjan 2000, S. 15). Diese Ideen oder Theorien mögen das wahrnehmbare Geschehen mehr oder weniger gut beschreiben und erklären, es ist aber sehr wahrscheinlich, dass diese im Lauf der Zeit durch neue – und zumindest im Bereich der Wissenschaft idealiter bessere – Ideen und Theorien ersetzt werden. Aber gibt es nicht faktisch doch das empirische Phänomen des Alterns, auch wenn die Begriffe und Theorien sozial konstruiert sind ? Aus einer humanbiologischen Perspektive ist beispielsweise „Altern […] eine bei allen Menschen mit zunehmendem Lebensalter […] sich schleichend entwickelnde, progressiv verlaufende und nicht umkehrbare (irreversible) Verminderung der Leistungsfähigkeit von Geweben und Organen des Organismus (körperliche und geistige Einschränkungen). Ferner nimmt die Wahrscheinlichkeit kontinuierlich zu, an altersassoziierenden Krankheiten zu sterben“ (Schachtschabel 2005, S. 53 f.).
Doch Alter und Altern als bloße bio-physische Erscheinungen zu verstehen, wäre unterkomplex und deshalb ein reduziertes Altersverständnis. Schon Mannheim (1964 [1928], S. 527) wusste, dass die biologische Rhythmik des Menschen, „das Faktum des Lebens und Sterbens, die begrenzte Lebensdauer und die mit dem Altern gegebenen körperlich-geistig-seelischen Wandlungen“ lediglich den Ausgangspunkt des Alterns- und Generationenphänomens stellen. Und so wird in der (sozialen) Alternsforschung auch immer wieder auf die gesellschaftliche Überformung auch der biologischen Abläufe selbst, nicht nur ihrer Wahrnehmung und Interpretation, verwiesen. Mit der heuristischen Trennung von biologischem und sozialem Altern wird vor allem das Augenmerk von den ‚natürlichen‘ auf die sozialen und gesellschaftlichen Unterschiede des Alterns gelenkt. Aber auch hier gilt, dass das Beobachtete immer erst durch die Beobachtenden seine Form erhält. Doch wenn man den Menschen als ein weltoffenes und exzentrisch positioniertes Wesen begreift, dann gehören nicht nur die sozial hervorgebrachten und kulturell geformten Lebenspraxen, sondern eben auch die im Alltag eingelagerten wissenschaftlichen Erkenntnisse – auch die aus Biologie und Naturwissenschaften – zu seiner ‚zweiten Natur‘. Insofern ist dann Alter ein symbolisch vermitteltes Ergebnis kultureller (Erkenntnis-)Prozesse. Alter und Altern sind also keine rein natürlichen, quasi präkulturellen Erscheinungen. Das biologisch Vorgegebene und das gesellschaftlich Konstruierte lassen sich im Erkenntnisprozess nicht voneinander trennen. Auch biologisches, medizinisches, naturwissenschaftliches Wissen ist eine Konstruktion. Und die Erkenntnis über den ‚natürlichen‘ Alterungsprozess kann nicht mit dem wahrgenommenen oder dem mit Bedeutung versehenen biologischen Altern gleichgesetzt werden. Auch die biologischen Theorieangebote zum Altern (u. a. Freie-Radikale-Theorie, Mutationstheorie, Autoimmun-Theorie) und die biologischen Erklärungen zu den organischen Verän
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derungen sind zunächst einmal Konstruktionen. Das Altern ist somit nicht einfach etwas natürlich Vorgegebenes. Vielmehr ist die für seine biologische Verwirklichung erforderliche alltägliche, wie auch wissenschaftlich-methodische Wahrnehmung kulturell geformt. Auch die Lebens- und Naturwissenschaften bilden die (Alters-)Wirklichkeit in Form von symbolischer Repräsentanz ab und arbeiten mit Begriffen und Symbolen als Bedeutungsträger. Wenn man die naturwissenschaftliche Bestimmung des Alterns selbst als soziale Konstruktion begreift, fällt auch die logische Trennung zwischen biologisch-natürlichem und sozial-kulturellem Altern in sich zusammen und bleibt lediglich als idealtypische Trennung für spezifische Konnotationen bestehen. Das bedeutet nicht, dass nichts jenseits der Konstruktion existieren würde, nur – wie bereits genannt – dass sich z. B. biologisch Vorgegebenes und gesellschaftlich Konstruiertes im Erkenntnisprozess nicht eindeutig voneinander trennen lassen. Insofern muss sich der Mensch als „exzentrisch organisiertes Wesen“ erst zu dem machen, was er schon ist. Dabei bleibt er immer eingebunden in die ihn selbst erst hervorbringenden Umwelten. Und in jeder dieser Umwelten „hat er es mit Sachen zu tun, die als eigene Wirklichkeit […] ihm gegenübertreten. Alles ihm Gegebene nimmt sich deshalb fragmentarisch aus, erscheint als Ausschnitt, als Ansicht, weil es im Licht der Sphäre, d. h. vor dem Hintergrund eines Ganzen steht“ (Plessner [1928] 1975, S. 293).
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Die soziale Konstruktion des kalendarischen Alters
Am Beispiel des Kalenders lässt sich der Aspekt der sozialen Konstruktion besonders gut veranschaulichen. Der Kalender – den wir im Alltag mindestens ebenso auswendig kennen wie unser Alter, welches wir auf der Grundlage dieses Kalenders in Jahren ausdrücken, ist über viele Generationen hinweg entwickelt worden, um soziale Interaktionen koordinieren zu können (vgl. ausführlicher hierzu insbesondere Wendorff 1980 sowie Elias 1984; Hohn 1984; Levine 1997). Dabei hat man sich zunächst an beobachtbaren Veränderungen in der Umwelt – Ebbe und Flut, Wechsel der Jahreszeiten, Planetenkonstellationen usw. – orientiert. Erst relativ spät in der Menschheitsgeschichte gelang es dabei, den Kalender so zu konstruieren, dass er mit diesen wahrnehmbaren Veränderungen auch über längere Zeitspannen weitgehend übereinstimmte. Zwar existierten wohl schon im alten Ägypten und im antiken Griechenland Kalender, aber diese mussten jeweils schon nach kurzer Zeit erneut mit den Beobachtungen am Himmel in Einklang gebracht werden. Erst im antiken Rom wurde mit einer Reform von Julius Cäsar eine etwas verlässlichere Basis für die u. a. auch militärisch vorteilhafte Koordination von sozialen Interaktionen geschaffen, die später als julianischer Kalender bezeichnet wurde. Aber auch dieser Kalender mit je 30 und 31 Tagen pro Monat (mit Ausnahme des Februars mit 29 Tagen) und einem zusätzlichen Schalttag alle vier Jahre im Februar war noch nicht perfekt. Einmal abgesehen
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von kleineren und eher willkürlich anmutenden internen Verschiebungen – der ursprünglich einmal fünfte Monat Quintilis wurde z. B. Julius Caesar zu Ehren in Juli umbenannt, der nachfolgende Sextilis später dann in August, Kaiser Augustus zu Ehren, wobei Letzterer aber der Legende zufolge keinen Tag weniger haben sollte als der Monat seines Vorgängers, weshalb der Februar einen weiteren Tag abgezogen bekam und fortan nur noch 28 bzw. im Schaltjahr 29 Tage hatte – stimmte das von Julius Cäsar eingeführte Modell mit 365,25 Tagen pro Jahr noch immer nicht mit der tatsächlichen Umlaufzeit der Erde um die Sonne überein: Diese liegt nach unseren derzeitigen Maßeinheiten bei ca. 365 Tagen, 5 Stunden, 48 Minuten und 46 Sekunden, mithin 365,2422 Tagen. Daher lief auch der julianische Kalender gewissermaßen irgendwann ‚aus dem Ruder‘ und wurde durch den gregorianischen Kalender ersetzt, der im Jahre 1582 festlegte, dass das Schaltjahr in solchen Jahren ausfallen müsse, die ohne Rest durch 100 teilbar sind, nicht aber in jenen, die ohne Rest durch 400 teilbar sind. Aus diesem letzten Grund war das Jahr 2000 dann auch ein Schaltjahr, wie schon zuvor das Jahr 1600. Man kommt der tatsächlichen Dauer eines Sonnenjahres also näher, wenn alle vier Jahre ein Schaltjahr eingefügt wird, dieses alle hundert Jahre ausfällt, alle vierhundert Jahre aber dann doch nicht ausfällt – was die Komplexität dieser Konstruktion schon recht deutlich macht. Heute – im Atomzeitalter – werden in unregelmäßiger Folge Schaltsekunden eingefügt. Diese Beschreibung ließe sich weiter fortführen und weiter komplizieren, etwa durch den Blick auf andere Kulturen – noch heute existieren ja verschiedene Kalender – oder den Einbezug der Zeitmessung in Stunden und Minuten. Bevor man sich hier an der Atomzeit orientierte, wurden verschiedenste Mittel und Wege probiert, den Tag in gleichmäßige Abschnitte zu teilen, wiederum zum Zwecke der Koordination sozialer Interaktionen. Noch heute kennt man z. B. Wasser-, Sand- und Kerzenuhren, erst viel später dann wurde die mechanische Uhr mit Hemmung entwickelt, mit der die Zeit dann über Länder und Kontinente hinweg vereinbart werden konnte. Aber bereits so weit lässt sich an dieser Stelle festhalten: Zu verschiedenen historischen Zeitpunkten wie auch in unterschiedlichen Gesellschaften bestanden (und bestehen noch heute) ganz unterschiedliche Konzepte und Zeitvorstellungen, ebenso ganz unterschiedliche Messinstrumente. Bei der Entwicklung all dieser Messinstrumente stand aber nie die Bestimmung des Alters von Menschen im Zentrum, sie liefern daher auch keine validen Messergebnisse hierfür. Auch diese Erkenntnis ist nicht völlig neu – es kam sogar schon die Frage auf, ob Gerontologie vielleicht eine Teildisziplin der Astrologie sei (O’Dono hue 1992). Das kalendarische Alter ist in unterschiedlichen Kontexten fraglos mehr oder weniger nützlich, z. B. „as a useful symbol for the complex conditions which age brings with it“ (McGeoch 1942, S. 207), erlaubt aber leider keine präzise Bestimmung oder gar Erklärung solcher komplexen Bedingungen und Prozesse. Dies ist im Alltag wohlbekannt: Jeder kennt eine Person, die ‚für ihr Alter‘ noch sehr jung ist oder eben auch sehr alt. Diesbezügliche Definitionen sind soziale Konstruktionen, sie verändern sich über die Zeit und unterscheiden sich zwischen verschiedenen
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Kulturen, aber auch zwischen verschiedenen Anwendungsbereichen. Oftmals werden z. B. biologisches, psychisches und soziales Alter differenziert (vgl. ausführlicher Kohli 1998; Kohli und Künemund 2000). Biologisches Alter kann dabei die Entwicklungsstadien des Organismus zwischen Geburt und Tod bezeichnen – z. B. Wachstum und Zerfall von Zellen –, psychisches Alter diejenigen des personalen Systems – z. B. Reife und Weisheit, oder wie alt man sich fühlt –, soziales Alter schließlich den Ort der Person im gesellschaftlich gegliederten Lebenslauf, d. h. ihre Zugehörigkeit zu einer der gesellschaftlich abgegrenzten Altersphasen und Altersgruppen. All diese Prozesse werden nun oft in eine Beziehung zum kalendarischen Alter gesetzt, obgleich sie gar nicht immer linear und irreversibel und auch nicht immer zwangsläufig ablaufen, schon gar nicht in Abhängigkeit von den Planetenkonstellationen und der Erdrotation. Kalendarisch gleichaltrige Personen können z. B. durchaus biologisch mehr oder weniger ‚gealtert‘ sein – besonders drastisch macht dies das HutchinsonGilford-Syndrom (Progerie) deutlich. Sie können auch unterschiedlich ‚weise‘ und in verschiedenen sozialen Kontexten sogar gleichzeitig unterschiedlich ‚alt‘ sein – man denke etwa an einen Fußballspieler, der in diesem Zusammenhang mit z. B. 30 Jahren schon zu den Alten zählt, während er in anderen sozialen Kontexten durchaus noch zu den Jungen zählen dürfte. Entsprechend können Altersgrenzen als soziale Konstruktionen betrachtet werden, die Lebensläufe nach Lebensphasen strukturieren und dabei am Kalender ausgerichtet werden. Dass es sich auch bei Altersgrenzen um soziale Konstruktionen handelt, ließe sich ebenfalls sehr leicht dekonstruieren, indem man verschiedene Gesellschaften oder Epochen hinsichtlich ihrer jeweiligen Altersgliederung vergleicht – dann zeigt sich z. B. eine große Varianz von Altersgrenzen wie auch eine enorme Vielfalt von Regeln, die das Erreichen und Überschreiten der jeweiligen Grenzen betreffen (vgl. Göckenjan i. d. B.). Es sollte so weit sowohl deutlich geworden sein, dass im Kontext ‚Alter‘ nicht nur das Messinstrument Kalender für die meisten Zwecke unpräzise oder gar ungeeignet sein dürfte, aber zugleich auch, dass es nicht eine allgemeine Definition von ‚Alter‘, sondern derer viele gibt, und dass sich Begriffe wie Messinstrumente über die Zeit verändern. Mit diesen Veränderungen – aber zugleich auch in Abhängigkeit von anderen sozialen Prozessen – wandeln sich Altersbilder, Vorstellungen vom Alter und dem Altern, Altersnormen usw., d. h. die sozialen Konstruktionen des Alters wirken zugleich auf die Lebenspraxis wie auch auf das Erkennen und Beschreiben dieser Praxis, die wiederum in der Beobachtung und Interpretation zu Altersbildern, Normen usw. gerinnt. Wir möchten daher nun in einem weiteren Schritt auf diese Prozesse eingehen.
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Die soziale Konstruktion von Altersstufen
Fast jede Kultur hat den Lebensprozess in abgrenzbare Abschnitte unterteilt oder zyklisch gedacht. Von Aristoteles wissen wir, dass er das menschliche Leben in Jugend,
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mittleres Lebensalter und Alter eingeteilt hat. Altern wurde als Abfolge von Wachstum, Stillstand und Niedergang gesehen, wobei der mittleren Phase die höchste Wertschätzung zuteil wurde. Weit häufiger als diese Dreiteilung findet sich jedoch die Einteilung in Vierer-, Siebener- oder Zehnerstufen. Die Einteilung in die vier Lebensalter pueritia, adolescentia, constans aetas und senectus, wie sie etwa von Cicero vorgenommen wurde, steht in Analogie zu den vier Jahreszeiten (Frühling – Sommer – Herbst – Winter), den vier Elementen (Erde – Feuer – Luft – Wasser) oder zu den vier Lebenssäften (Blut – gelbe Galle – schwarze Galle – Schleim). Schon früher hatte der athenische Staatsmann und Dichter Solon ein Modell von zehn Lebensalters stufen von je sieben Jahren entworfen. Die Zahl Sieben (vgl. u. a. die sieben Weisen, die sieben Weltwunder, die sieben Sakramente, sieben Todsünden, sieben Wochentage) erfährt ihre Magie dabei möglicherweise aus den sieben angeblich das Geschick bestimmenden Planeten. Die Menschen wurden als in eine allumfassende kosmische Ordnung eingebettet gedacht. Und so gab es nach der von dem alexandrinischen Astronomen Claudius Ptolemäus entwickelten planetarisch bestimmten Lebensalterslehre sieben Lebensabschnitte, die den Planeten zugeordnet werden (0 – 4 Jahre: wandelbarer Mond; 5 – 14 Jahre: geschäftiger Merkur; 15 – 22 Jahre: lustvolle Venus; 23 – 41 Jahre: herrschende Sonne; 42 – 56 Jahre: Unruhe stiftender Mars; 57 – 68 Jahre: segensreicher Jupiter; 69+n Jahre: langsamer Saturn). Und auch in den hippokratischen Schriften wird der Aufbau der Welt aus sieben Teilen (Kälte [Nebel, Hagel], Sterne, Mond, Sonne, Luft, Erde, Wasser) geschildert. Demnach gibt es nicht nur sieben Jahreszeiten (Saatzeit, Winter, Pflanzzeit, Frühling, Sommer, Herbst und Spätherbst), sondern auch sieben Lebensalter: Kind, Knabe, Jüngling, Jungmann, Mann, bejahrter Mann, Greis. Die gängigen Einteilungen der Altersstufen im Mittelalter sind uns nicht nur durch die zahlreichen Holzschnitte und Gemälde, sondern auch durch Literatur und Dichtung überliefert. Ein Beispiel finden wir in der Spätrenaissance, in der Shakespeare ([1599] 2000, S. 143 ff.) den Edelmann Jacques in seiner Komödie „As You Like It“ das menschliche Leben in sieben Stadien darstellen lässt. Die Vorstellung von sieben Altersstufen hielt sich noch bis ins Zeitalter des Barock. Dann entstehen auch die ersten Darstellungen der Lebenstreppe, wie sie z. B. von Grimm [1863] 1984, S. 218) in seiner „Rede über das Alter“ eindrücklich beschrieben wurde. Auch in der Wissenschaft wurde der Gedanke einer steten Aufeinanderfolge der Altersstufen frühzeitig eingebracht. Nachdem zunächst insbesondere die frühen ethnologischen und kulturanthropologischen Studien ihren Blick auf die unterschiedlichen Altersdifferenzierungen in den sog. primitiven Gesellschaften richteten, haben dann die Sozialwissenschaften den Generationenbegriff populär gemacht und damit den sozialen Wandel in den Blick genommen. Hier waren es vor allem Mannheim (1964 [1928]), Eisenstadt (1956) sowie Riley et al. (1972), die Gesellschaft immer auch als Generationengefüge betrachteten und das Alter – ebenso wie die soziale Klasse – als eine Kategorie sozialer Ordnung begriffen. Doch während die Klassenstratifikation im Wesentlichen nach ökonomischen und sozialen Kriterien (Ungleichheit von
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Einkommen, Einfluss, Macht usw.) vorgenommen wird, ist die Altersstratifikation nach Zeit geordnet, sodass die Mobilität innerhalb der Altersschichten grundsätzlich unumkehrbar ist, was aber nicht ausschließt, dass sich das Generationengefüge bzw. das Altersstratifikationssystem ändern kann. Wenn das Alter kalendarisch so schlecht zu fassen ist, dann muss man die Wirklichkeit des Alterns begrifflich anders ordnen. Ein möglicher Weg, die verschiedenen und komplexen Wirklichkeiten des Alterns zu differenzieren, besteht in der Bildung von Idealtypen. So sind z. B. die Unterscheidungen zwischen den ‚jungen Alten‘ und den ‚alten Alten‘ (Neugarten 1974; vgl. auch Pichler i. d. B.) zu verstehen. Heute wird (neben dem Ersten Alter als eine Phase der Abhängigkeit, Unreife und Erziehung und dem Zweiten Alter als eine Phase der Unabhängigkeit, Reife und Verantwortung) auch zwischen dem Dritten Alter als eine Phase der persönlichen Errungenschaften und Erfüllung und dem Vierten Alter als eine Phase der unabänderlichen Abhängigkeit, Altersschwäche und des Todes unterschieden (Laslett 1995, S. 31 ff.). Dem hat Rosenmayr (1996, S. 35) noch eine weitere Differenzierung hinzugefügt, als er neben dem „chancenreichen“ dritten und dem „eingeschränkten“ Vierten Alter noch ein „abhängiges“ Fünftes Alter unterschied. Als gedanklicher Pate der Phaseneinteilung des Ruhestandes ist aber vielleicht auch Atchley (1976) zu nennen, der in seiner Soziologie des Ruhestandes ein Modell von sieben Phasen konstruierte, von denen sich zwei (remote, near) auf die Zeit vor und fünf (retirement [honeymoon, immediate retirement routine, rest and relaxation], disenchantment, reorientation, retirementee routine, termination of retirement) auf die Zeit nach dem Eintritt in den Ruhestand beziehen. Solche Unterscheidungen und Phaseneinteilungen sind, wie oben dargestellt, nicht neu. Sie sind jedoch – und darauf muss man immer wieder hinweisen – keine Realklassifikationen, die sich aus grundlegenden Axiomen ableiten lassen, sondern lediglich gedanklich aus der beobachteten Wirklichkeit konstruierte Idealtypen. Sie bleiben ein heuristisches Mittel, mit dem „durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluss einer Fülle von diffus und diskret […] vorhandenen Einzelerscheinungen“ aus der empirisch beobachteten Wirklichkeit Alternsbilder konstruiert werden, die zwar so „nirgend in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar“ sind, die aber zum Zwecke der Veranschaulichung, „vorsichtig angewendet“ ihre „spezifischen Dienste (leiste[n])“ (Weber [1904] 1991, S. 73 f.). Das Verbinden solcher Typen mit dem kalendarischen Alter – also den Beginn eines Vierten Alters bei z. B. 85 Jahren anzusetzen – liefe dann aber in eine falsche Richtung und verspielt den spezifischen Vorteil des Idealtypus. Hinzu kommt noch das Problem des nicht validen Messinstruments, wie besonders prägnant die Idee der Einführung von Altersgrenzen im Gesundheitswesen zeigt: Im Lichte der vorangegangenen Überlegungen würde die Forderung nach solchen Grenzen bedeuten, die Einführung neuer sozialer Ungleichheiten mit einer gewissen Anzahl wiederkehrender Planetenkonstellationen zu begründen.
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Ausgewählte Literatur Elwert, Georg, Martin Kohli und Harald K. Müller. Hrsg. 1990. Im Lauf der Zeit. Ethnographische Studien zur gesellschaftlichen Konstruktion von Lebensaltern. Saarbrücken u. a.: Breitenbach. Green, Bryan S. 1993. Gerontology and the construction of old age. A study in discourse analysis. New York: Aldine de Gruyter. Hazan, Haim. 1994. Old age. Constructions and deconstructions. Cambridge: Cambridge University Press.
Altersbilder in der Geschichte Gerd Göckenjan
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Einleitung
Altersbilder sind Vorstellungen, Konzepte, Stereotypen zu Alter und Altern. Alter sind die unterschiedlichen Unterteilungen des Lebenslaufs. Alle Gesellschaften haben Vorstellungen eines ganzen Lebens und seiner Untergliederungen in Phasen, Stufen oder Gruppen entwickelt. Diesen werden vielfältige, auch widersprüchliche Deutungen und soziale Erwartungen zugeordnet und in Bildern, in Symbolisierungen unterschiedlicher Art ausgedrückt. Im folgenden Beitrag geht es um das höhere und hohe Alter und um sprachliche Symbolisierungen in Alterswürdigungsdiskursen. Altersbilder beruhen auf gesellschaftlich erfolgreichen, geteilten Normen, die in Diskursen im historischen Verlauf immer wieder aktualisiert, also erinnert, bestätigt und modifiziert werden. Altersbilder in diesem Sinne werden nicht einfach erfunden und können nicht beliebig politisch hantiert werden. Letzteres ist eine Gegenwartssicht, etwa wenn eine Familienministerin qua Amt feststellt: „Wir brauchen ein neues Bild des Alters und einen neuen Umgang mit älteren Menschen“ (BMFSFJ 2005b, o. S.). Was hier gefordert wird, gefunden und in politische Kampagnen und ggf. wohlfahrtsstaatliche Regeln umgesetzt werden soll, sind Gelegenheitsbildungen (zur Gegenwartsanalyse vgl. Featherstone und Hepworth 2005). Sie haben ihre Pendants in der Bilderproduktion der Medien und der Werbeindustrie und sie haben mit ihnen die regelmäßig kurzen Verfallszeiten gemeinsam. Ganz wenige dieser Altersbilder überdauern den Tagesgebrauch und gehen in das landläufige Altersvokabular ein. Terminologische Innovationen sind typisch für Medien- und Konsumgesellschaft und Interessenpolitik. Erfolgreiche Termini modernisieren das bestehende Altersvokabular. Alter wird durch dieses allerdings eher selten neu oder anders verstanden. Gerade die erfolgreichen Termini – wie ‚Senior/-innen‘ statt ‚Alte‘, ‚aktives Alter‘ statt ‚Ruhestand‘ – sind wahrscheinlich erfolgreich, weil sie Struktur gewordene Konventionen zwar neu formulieren aber nicht zu verlassen suchen. Andere rhetorische © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_50
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Erfindungen – von ‚Unruhestand‘ bis ‚best-ager‘ – haben dagegen keinen Kontakt zu gesellschaftlichen Strukturbedingungen und entwickeln kein semantisches Gewicht. In Deutschland wurden seit den 1950er Jahren ‚alt‘ und ‚Alter‘ als diffamierende Begriffe aufgefasst und es ist entsprechend versucht worden, diese zu vermeiden. ‚Alt‘, ‚Alter‘, ‚Altern‘ sind aber nur als Termini vermeidbar, als reale soziale Strukturierungen nicht. Eine alters-irrelevante Gesellschaft wird utopischer Entwurf bleiben. Entsprechend sind auch dem Alter konventionell zugewiesene Bedeutungen und Deutungen bis heute erfolgreich, weil sie in Gesellschaft und Interaktionsanforderungen offensichtlich orientierungstauglich sind. Es wird also sinnvoll sein, sich der Geschichte der Alterswürdigung zu versichern. Die Geschichte zeigt, dass Altersbilder auf ausgeprägten Konventionen beruhen, die in Europa bis in die Anfänge der schriftlichen Zivilisation zurückreichen und bis heute die Stereotypen prägen. Schon in der frühen griechischen Literatur finden sich die beiden „Prototypen“ der Alterswürdigung (Höffe 2009, S. 13). Aus der Geschichte der Altersdiskurse gesehen, ist es aber wenig sinnvoll, ein positives oder ein negatives Altersbild alleine identifizieren zu wollen. Es findet sich beides, zu jeder Zeit, oftmals in den gleichen Texten. Insbesondere, wenn versucht wird eine Epoche durch ihre besondere Altenfeindlichkeit oder Altenbewunderung zu charakterisieren, dann ist das Diskursmaterial unzureichend gesichtet und analysiert worden.
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Alter als soziales Ordnungskonzept
Altersbilder sind nur auf den ersten Blick vielfältig bunt und wirr widersprüchlich, sie sind in Diskursen und Diskurstraditionen zu verorten und zu verstehen. Die systematische, historisch rekonstruktive Analyse der Diskurse kann feststellen, dass Altersdiskurse gesellschaftliche Regelungsinteressen, Ordnungsvorstellungen formulieren (Göckenjan 2000). Das allgemeinste Motiv der Diskurse ist die Erinnerung, Bestätigung, gelegentlich auch Modifikation der geteilten sozialen Normen zur Alterspositionierung. Die Gründe hierfür sind aus der heutigen Perspektive der Omnipräsenz des Alters und alter Leute nicht sofort einzusehen. Ein hohes Alter zu erreichen, gehörte nicht zu den Standardrisiken oder Standardchancen älterer Gesellschaften, die daher unbedingt durch normative und institutionelle Vorkehrungen hätten begleitet werden müssen. Allerdings gab es in allen Gesellschaften eine ausreichende Anzahl Älterer, mit denen die verschiedenen Implikationen des hohen Alters sozial präsent waren. Demografische Studien plausibilisieren für die Frühe Neuzeit, aber auch für die römische Antike, einen Bevölkerungsanteil der über 60-Jährigen zwischen 5 % und 10 % (Ehmer 1990, S. 206; Wagner-Hasel 2009, S. 27). Allerdings ist zu erinnern, dass in älteren Gesellschaften Alter in der Regel nicht als numerische oder kalendarische, sondern als eine relationale Bestimmung von Gewicht war. Chronologische Alterszählungen gehen auf obrigkeitliche Verwaltungsbedürfnisse zurück und setzen sich seit der Frühen Neuzeit erst langsam durch. Im 18. Jahrhundert kennen große Be-
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völkerungsanteile ihr exaktes chronologisches Alter nicht (Thomas 1977, S. 207) und auch im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts wird das noch für die Unterschichten behauptet (Burdach 1829, S. 8). Alle Gesellschaften umfassen Ältere und Jüngere, die in Verhältnissen, in Austausch- und Hierarchiebeziehungen stehen. Entscheidend ist, dass Alter in allen komplexeren Gesellschaften als soziales Orientierungs- und Ordnungsmuster, als Codierungssystem entwickelt ist. Dabei wenden sich die historischen Altersdiskurse meist nicht an alte Leute, sondern an die Jungen. Auch sind es systematisch nicht die Alten, die diese Diskurse führen, sondern die mittlere Generation in der Genera tionenfolge, die – idealtypisch – ihre Autorität gegen die Älteren und die Jüngeren zu verteidigen hat. Allerdings kommt es in der Regel nicht so sehr auf individuelle Redner/-innen an, da es sich um normative Texte handelt, die den Korpus der Diskursgeschichte bilden. Hier werden in stark konventionalisierten Positionen die gute Ordnung und das richtige Verhalten im Alter typisiert. Erst um 1800 finden sich Texte, in denen Alte als Alte über das Alter reden und oft abweichende, individualisierende Positionen markieren.
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Alterslob und Altersschelte
Seit der griechischen Antike sind vier Diskursstrategien überliefert, die die Qualitäten des Alters pointieren und inszenieren (Gnilka 1983; Göckenjan 2000). Zunächst die Strategie des Alterslobs, für die Platon, insbesondere in dem Text „Nomoi“, in Anspruch genommen wird. Die Alten, so heißt es hier, sind erfahren, tugendsam, ehrwürdig, weise, sie sind die idealen Hüter der Gesetze und natürlichen Oberhäupter der Staaten. Dagegen steht die Altersschelte, die in der Regel mit Aristoteles Rhetorik verknüpft ist. Zwischen Lob und Schelte ist dieser allgemeine Alterswürdigungsdiskurs aufge spannt. Lob wie Schelte markieren Anforderungspositionen. Als binäre Codierung werden soziale Grundnormen, richtiges und falsches Verhalten zwischen gleichzeitig lebenden Generationen formuliert. Alter ist eingebunden in Macht- und Disziplinardispositionen. Der Diskurs thematisiert gesellschaftliche Grunderfordernisse von Kontinuität, Sicherheit und Ordnung. Daher reicht der Diskurs historisch so weit zurück und kommt doch immer wieder zu ähnlichen stereotypen Figurationen. In der Grundfigur des konventionellen Altersdiskurses wird soziale Autorität an Alter gebunden und werden Rechte und Pflichten festgelegt, mit denen Autorität ausgeübt werden soll. Genauso werden Würdigkeitsverpflichtungen formuliert, die in den beschworenen Gegenseitigkeitsbeziehungen nicht nur die Alten, sondern auch die Jungen binden sollen. Diese soziale Bindung der Jungen ist entscheidend wichtig, nicht zuletzt, wenn am ‚schlimmen Rand des Lebens‘ keine Autorität mehr ausgeübt werden kann, und ein Interesse der Gemeinschaft am Schutz des gebrochenen Alters, und damit der nicht voll funktionsfähigen Mitglieder allgemein, besteht.
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Im Altenlob muss Alter Autorität sein. Alter symbolisiert Dominanz: Erfahrung, Weisheit, Verfügungsgewalt, Macht. In dem Bildprogramm der Lebensaltersstufen im 16. Jahrhundert kann der 80-Jährige sich auf Krücken schleppend und durch Knaben verlacht und gehänselt dargestellt werden; aber gut bekleidet und mit demonstrativ wohl gefüllter Geldtasche geht er ungerührt seinen Weg (Lebenstreppe 1983, S. 46 f.). Mit ‚Alter‘ wird gute Regierung und Selbstregierung thematisiert. Hierbei repräsentiert die Generationsfolge eine ‚natürliche‘ soziale Hierarchie. Ordnung und Herrschaft werden in der Vaterfiguration gedacht. In den Volksweisheiten, die nur zwei Statuspositionen kennen, ist die Autoritätszuweisung unzweideutig: „Die Alten zum Rat, die Jungen zur Tat“ heißt es – wie alles andere in vielen Varianten; oder: „Das Alter soll man ehren, die Jugend soll man lehren“; oder auch: „Der Jugend soll man wehren“. Und dann gerade heraus: „Das Alter befiehlt, die Jugend gehorcht“; oder: „Die Alten regieren, die Jungen dienen“ – und, wenn es Begründungen dafür gibt, dann heißt es: „… denn das Alter ist erfahren und weise, die Jugend aber ist ungezügelt und unverständig“ (Körte 1837, S. 12 ff.; ähnlich schon in der Antike: vgl. Wagner-Hasel 2009, S. 25). Die Autorität des Alters ist aber an Voraussetzungen gebunden, die Autorität soll angemessen ausgeübt werden. Was angemessen ist, wird seit Beginn des Diskurses in einem polarisierenden Schema thematisiert. Wenn Platon etwa den Greis mit Gesetz und Vernunft synonym setzt, was als das höchst mögliche Alterslob gilt, dann kennt er genauso die Altersschelte. So, wenn er in einem entscheidenden Regelungsbereich – den Verfügungsrechten über Besitz – den Egoismus und Machtanspruch der Alten kritisiert: Es stehe eben nicht frei, Besitz nach Gutdünken zu verteilen, eventuell nach erhaltenen Gunstbezeugungen und Hilfeleistungen. Besitz gehöre dem gesamten Geschlecht, dem vergangenen wie dem kommenden, und streng genommen dem Staat (Platon: Nom. XII). Am bekanntesten ist sicher, weil sie Cicero berichtet, diese Episode: dass Sophokles zwar bis ins höchste Alter Tragödien dichtete, aber sein Hauswesen vernachlässigte und deshalb von seinen Söhnen wegen Schwachsinns verklagt wurde. Cicero kommentiert: „Wie auch nach unserer (der römischen, G. G.) Sitte gewöhnlich schlecht wirtschaftenden Vätern das freie Verfügungsrecht über ihren Besitz abgesprochen wird.“ (Cicero: VII, 22 [1987])
Wer die gemeinsame Existenzgrundlage der Generationen veruntreut, kann nur „schwachsinnig“ sein. Allerdings soll es Sophokles durch Vortrag seines letzten Wer kes gelungen sein, die Richter davon zu überzeugen, dass seine Sinne nicht geschwächt seien. Wenn Alter in Autoritäts- und Machtbeziehungen thematisiert wird, dann geht es auch um Nachfolgeregelung, um das Ende von Autorität, Status und Funktionen. Der Alte kann von seinen Söhnen abgesetzt werden, wenn dessen körperliche und geis-
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tige Fähigkeiten die ordnungsgemäße Ausübung der Verpflichtungen nicht mehr erlauben. Die Sittenspiegel thematisieren die entsprechenden Kriterien (Sprandel 1984, S. 114).
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Verfall und Endlichkeit: Altersklage und Alterstrost
Alterslob und Altersschelte werden kommentierend durchkreuzt und verstärkt durch die Diskursstrategien der Altersklage und des Alterstrostes. Die Altersklage formuliert Alter als Verlust und Verfallsprozess. Diese kann scharf und bitter sein, wie in dem klassischen Text des Lyrikers Mimnermos aus der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts vor Christus: „Wenn einmal das schmerzliche Alter da ist, das den Menschen häßlich und unnütz macht, so verlassen die bösen Sorgen sein Herz nicht mehr, und die Strahlen der Sonne spenden ihm keinen Trost. Er ist den Kindern widerwärtig, und die Frauen verachten ihn. So ist uns das Alter von Zeus gegeben, voller Leid.“ (Mimnermos, zit. nach: Beauvoir 1983, S. 85)
Die Altersklage umfasst den Themenkomplex der Vergänglichkeit und Vergeblichkeit, der dahinfließenden Zeit und das Bedürfnis nach Dauer. Es ist ein beliebter literarischer Topos, nicht etwa die Rede der Alten selbst, auch wenn hier Alternserfahrungen eingefangen sein mögen. Die Klage hat im Alterstrost ihr Echo und ihre Antworten. Als klassischer Alterstrost gilt der Text von Cicero „Cato der Ältere“, in Deutschland sicherlich der einflussreichste Text über das Alter und bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts Teil des humanistischen Bildungskanons. Der Trost besteht in der Versicherung, dass alle Altersmängel weniger auf das Alter selbst als auf Haltungen und Einstellungen der Betroffenen zurückgeführt werden können, und daher auch die Altersklage abgewiesen werden kann. Defizite und Verluste des Alterns gelten als nicht unumgänglich. Die Beschwerlichkeiten des Alters müssen für Cicero nicht bestritten werden, sie sind vielmehr Anlass, sich in Philosophie und guter Lebensführung zu üben, Fähigkeiten zu entwickeln, die für alle Lebensalter wichtig sind. Damit ist allerdings der Trost zugleich Pflicht, wie Cicero (XI, 35[1987]) das auch ausführt: „Zur Wehr setzen muss man sich gegen das Alter, – und seine Gebrechen muss man durch Umsicht ausgleichen. Kämpfen wie gegen eine Krankheit muss man gegen das Alter.“
Die Altersklage formuliert das Ende der Ansprüche und des sozialen Status, in diesem Sinne den Beginn des Alters. Der Alterstrost verweist dagegen auf die Stärken eines vernunftbegabten und asketischen Alters, das sich in seinen Positionen halten kann, wenn es denn die typischen Schwächen des Alters vermeidet und ausgleicht. Weit entfernt davon, ein bedrängtes Alter zu bemitleiden und zu entschuldigen, malt
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Cicero (XX, 72 [1987]) ein heute fremd anmutendes, elitäres Alter und weist ihm die Aufgabe zu, bis zum Ende zu kämpfen, oder aber abzugehen von der Bühne. „Dem Alter ist aber keine bestimmte Grenze gesetzt, und das Leben in ihm ist gerechtfertigt, solange man seine Pflicht erfüllen und für sich sorgen kann, und zwar dem Tode zum Trotz.“
Dieses heroische Altersbild hat nicht zuletzt die Honoratiorengesellschaft des 19. Jahrhunderts motiviert. Man könnte es auch ein Bild des Alters nennen, das zäh und unnachgiebig an Macht und Einfluss festhält. Seine soziale Orientierungsfähigkeit ist mit der Entwicklung des Sozialstaats und dem Altersgrenzeninstrumentarium untergegangen.
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Alter als soziale Leistung
Die genannten vier Würdigungsstrategien vermessen die Territorien des Alters als soziale. In den Würdigungsdiskursen repräsentiert Alter gesellschaftlich wichtige Werte wie Erfahrung, Weisheit, Urteils- und Leitungsfähigkeit und symbolisiert damit Dauer und Kontinuität. Aber Alter ist auch eine transitorische Figuration, an der die Gefährdungen sozialer Kontinuität personifiziert werden können. Alter wird dann vielfältig mit Schwäche und Verfall gleichgesetzt: „Alt und schwach“, „hinfällig und stumpf “, so lauten landläufige Assoziationen; oder: „alt und krank“, „Alter – eine einzige Krankheit“; „Nimmer-weiß, der Kinderspott“, das sind Etikettierungen in den Alterstreppen (Grimm 1864). Oder die drastische Zusammenstellung, wie sie seit Aristoteles das unerwünschte Alter typisiert: Das Alter ist böse und mißtrauisch, geizig und feige, furchtsam und geschwätzig usw. Alter repräsentiert Schwäche und Verfall und Störungen der fairen Gegenseitigkeit, wie durch Geiz, Hartherzigkeit, Misstrauen oder Verstocktheit. Thematisiert ist die allgemeine Idee sozialer Gegenseitigkeit, dass Alter Leistungen für Gemeinschaft und Gesellschaft zu erbringen habe. Alter ist in diesem Sinn nicht vordringlich Lebensphase oder biologisch-physiologische Konstellation. Diese sind vielmehr Voraussetzungen und ggf. Folge der Alterszuweisungen. Alter ist eine soziale Leistung. Diese Leistung kann als substanzielle Attributierung oder als Altersrollenzuweisungen formuliert werden. Insofern Alter natürliches Symbol für soziale Autorität ist, werden vor allem Ordnungsleistungen, Systemerhaltungsaufgaben gefordert. Alter als soziale Leistung soll erbracht werden für die Gemeinschaft, die als Reziprozitätsleistung verspricht, das Alter am Ende der Autoritätskarriere zu würdigen und entsprechend seinen Verdiensten zu ehren, wenn denn Alte sozial nicht mehr dazu in der Lage sind, sich selbst zu ehren bzw. ihre Ehre selbst zu sichern. Alter tritt eben nicht allein als Statusposition, sondern immer zugleich als individuelle Personifikation auf. So sind Alte auch die Personen, die alle möglichen Arten geforderter
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Leistungen nicht erbringen, diese vielleicht nie erbrachten, die verfallen, sich selbst nicht mehr zu helfen wissen, die dahinsterben. Welche Art sozialer Leistungen von Alten gefordert wird, variiert nach historischen und vielfältigen sozialen Umständen. Aber es sind Variationen um recht einfache Eckpunkte, um die Zuweisung von Statuspositionen, um Rechte und Pflichten in generationalen Beziehungen: Autoritätsansprüche und Folgen und deren Ende, Besitz- und Funktionsübergaben, Nachfolgedienlichkeit, Hinwendung an die spirituellen Aufgaben, Sterbevorbereitung.
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Beginn des Alters
Die konventionellen Alterswürdigungsdiskurse lassen keinen Zweifel zu: Das Alter ist kein Spaß. Das Freizeit- und Vergnügungsalter ist Erfindung aus den 1980er Jahren, es hat in den Deutungskontexten früherer Zeit keinen Raum. Die Redewendung: „Jeder will alt werden, niemand will alt sein“, geht durch die Jahrhunderte. Wer aber ist alt ? Wann beginnt das Alter ? Alter unterliegt in den Zeiten vor der Etablierung des Wohlfahrtsstaates keiner eindeutig und allgemein verbindlichen Institutionalisierung. Alter beginnt nicht mit dem Erreichen einer Altersgrenze. Alter beginnt mit der Zuschreibung entsprechender Merkmale und Qualitäten, mit Mängeln und Unfähigkeiten. Wenn diese dazu führen, dass Aufgaben und Pflichten nicht mehr angemessen durchgeführt werden können, sind am Ende Konsequenzen daraus zu ziehen, die von den Betroffenen nicht mehr abgewiesen werden können. So kann etwa in dem konventionellen Altersphasendenken der Zeit formuliert werden, dass das ‚mittlere Alter‘ vorbei sei, wenn Rechte und Pflichten nicht mehr ausgeübt werden können. Falls aber den Verpflichtungen nachgekommen wird, dann dauert das mittlere Alter bis zum Tode (Ersch und Gruber 1819, S. 218). Damit ist gesagt, dass auch in einem vollständigen Lebenslauf das hohe oder Greisenalter bzw. dessen Folgen für Statuseinbußen nicht unbedingt eintreten muss. Dennoch gibt es auch Altersmarkierungen, die dazu eine verblüffende Kontinuität aufweisen. 60 Jahre könnte als die wichtigste konventionalisierte Markierung gelten (etwa: Troyansky 2005, S. 176). Es gibt sie im römischen Recht, allerdings neben anderen Markierungen, etwa bei 55, 65 oder 70 Jahren, die ebenfalls Freistellungen bzw. Beendigung von öffentlichen Pflichten und Ämtern beinhalten, aber keine überhistorischen Orientierungen wurden (Gutsfeld 2003). Ottaway (2004), die sehr viel Mühe darauf verwandt hat, herauszufinden, wann im England des 18. Jahrhunderts der Beginn des Alters angesetzt wurde, stellt fest, dass 60 Jahre eine besonders wichtige Altersmarkierung gewesen sei. Aber sie findet keine Regeln, nach denen chronologisches Alter bei Passageentscheidungen ausschlaggebend waren, auch an den Schnittstellen zu Organisationen und staatlichen Instanzen nicht: „People were never required to retire, enter a workhouse, or accept a pension merely because of their age“
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(ebd., S. 63). Thomas (1977, S. 237) hat für die gleiche Zeit festgestellt, dass die Übernahme wichtiger gesellschaftlicher Ämter in einem Alterskorridor um die 60er Jahre nur noch in Ausnahmen vonstattenging. Amtsinhaber haben in diesem Korridor ihr Amt aber nicht unbedingt aufgeben müssen. Die 60-Jahre-Marke ist eine immer retrospektive Stilisierung, die bei geringer Verbreitung der Kenntnis des eigenen Alters von dem Glanz runder Alterszahlen gelebt hat, aber offenbar nie als Zäsur angesprochen werden kann. Konventionen bestimmten Zeiträume, Umfang und sonstige Modalitäten, nach denen die Übergabe von Funktionen und Besitz stattfand, und sie waren immer auch auf die Umstände des Einzelfalls bezogen (vgl. etwa Taeger 1990). Übergaberegeln werden von den Betroffenen gestaltet, solange ihre Leistungsfähigkeit unbestritten und ihr Wille durchsetzungsfähig ist. Das meint die sprichwörtliche Wendung, dass man sich nicht ausziehe, wenn man sich nicht niederlegen will. Das Alter ist hier überall der Lebensrest, der durchlebt wird, wenn die Rollen des Erwachsenenlebens nicht mehr ausgeübt werden können, wenn das Erwachsenenleben vorbei ist. Der Alterswürdigungsdiskurs der geforderten Fähigkeiten und Einstellungen thematisiert und umkreist diese schmale Trennlinie zwischen dem Normalstatus des Erwachsenenalters und dem des reduzierten Alters, das abzutreten und sich anderen, dann auch wieder ‚altersgemäßen‘ Tätigkeiten zu widmen hat. Dies sind wesentlich die beiden großen Themen ‚Nachfolgedienlichkeit‘ und ‚Sterbevorbereitung‘. Dabei besteht kein Zweifel, dass die gesellschaftlich verfügbaren Altersrollen immer Ersatz und Kompensation sind, und wenn es besonders geehrt und gewürdigt zugeht, dann ist auch das Rhetorik. Der Diskurs ist an der Kontinuität der Generationsabfolge interessiert, und daher eher an der Diskontinuität des Status der Altengeneration, nicht an den Kontinuitätswünschen der Alten selbst.
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Etappen der Alterswürdigung
Seit dem 16. Jahrhundert findet sich im deutschen Sprachraum ein zunehmendes Interesse an Altersthematisierungen. Und wenn Alter immer deutlicher als Synonym für Autorität und gute Lebensführung problematisiert wird, dann nicht, weil jetzt diese Macht zugewiesen und damit Alter aufgewertet würde. Das Diskursinteresse liegt vielmehr auf der Bestimmung von guter Lebensführung und an den Voraussetzungen der Ausübung von Macht allgemein. Der Altersdiskurs des 18. Jahrhunderts ist derart interpretiert worden, als drücke sich damit eine Epoche der höchsten Altenschätzung aus (Borscheid 1987). Und tatsächlich findet sich auch fast ausschließlich der Diskurstyp des Alterslobs und wirklich erreicht die Altenverehrungsrhetorik eine verblüffende Höhe. Aber diese Rhetorik ist imprägniert mit einem Alterserwartungscode, der höchste Anforderungen an das ehrwürdige und zu ehrende Alter stellt. Das Lob gilt nur dem moralisch hochgestimmten, exzeptionellen Alter. Die Autoritätszuweisung wird gelegentlich pathe-
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tisch in die Nähe göttlicher Autorität gerückt – aber das ist nicht prinzipiell neu. Neu ist die Dichte des Diskurses, d. h. wie die Autorität des Alters besprochen, bewertet und begrenzt wird, und natürlich die Direktheit mit der diese Alterswürdigung an Nützlichkeitserwartungen geknüpft ist: Das so hoch geehrte Alter kann nichts als dienende Autorität sein. Das hohe Alter, der Greis, ist Andachtsfigur bürgerlicher Werte. Jetzt geht es nicht nur um Zucht und Ordnung, um ein gottgefälliges Leben, sondern viel direkter auch um ‚Nachfolgedienlichkeit‘ im familialen wie bürgerlichen Sinne. Eine derartige Diskurslogik findet sich auch, wie gesehen, bei Cicero. Aber anders als in den historisch vorhergehenden Diskursen wird jetzt auf dem höchst möglichen moralischen Nötigungsniveau dem Greis nahegelegt, die vorgestellten Altersrollen anzunehmen und abzutreten. Die hochgestimmte Alterserwartungsrhetorik endet mit der Aufklärung. Nach 1800 findet sich kaum ein ausdrückliches Interesse an der Thematisierung des Alters. Moralische und pädagogische Diskurse legen nahe, dass die Differenzen zwischen den Generationen geringer werden. Das Du zwischen den Generationen verdrängt das Sie. Um die Jahrhundertmitte entsteht das eher kleine Thema der „Erfindung“ der Großmutter, die als emotionales Zentrum und als dienende Figuration in der Familie auftritt. Die Großmutter ist hier in ihrer Kinder- und Enkelorientierung Symbol der Unterordnung innerhalb der Familienhierarchie (Göckenjan 2009). Das Alter scheint die Autoritätsposition verloren zu haben, offenbar besteht keine Notwendigkeit, sich daran abzuarbeiten, hier bindet sich keine Regelungsnotwendigkeit an Alter. Die weit verbreitete und herausragende Rede „Über das Alter“ von Grimm von 1860 vermittelt dann das Bild des Alters in der Defensive. Auch hier gliedert sich das Alter ein und den herrschenden Verhältnissen unter. Das hohe Alter hat keinen Sonderstatus und keine Sonderrolle zu fordern, der alte Mensch erfüllt seine Pflichten und Erwartungen. Das hohe Alter wird in die Kontinuität des Lebens gestellt, eine eigene Stilisierung ist nicht notwendig. Die Fähigkeit zur Kompensation der Nach teile, die Fähigkeit, einer veränderten Situation Vorteile abzugewinnen, ermöglicht die Fortsetzung und die Kontinuität des Erwachsenenalters in der aufrecht gehaltenen Arbeitsethik: „Die alte Biene kommt spät, aber sie kommt doch.“ Denn: „Solange uns die Sonne leuchtet, ist Zeit des Wirkens.“ (Grimm 1864, S. 205, 209) Biografische Studien des 19. Jahrhunderts zeigen, dass Alte durchaus ihre Statuspositionen sehr lange und bis ins höchste Alter beibehalten können, mit Hilfe von Dienstpersonal und zugeordneten Hilfskräften. Wenn sie sich in einer Autoritätsposition befinden, ändert sich hieran nichts, aber das produziert keinen Diskurs. Soziologisch wird die Situation so zu verstehen sein: Die Positionierungsräume für die gleichzeitig lebenden Generationen nehmen zu, trotz steigendem Bevölkerungsdruck, aufgrund der Mobilitäts- und Modernisierungsgewinne der Gesellschaft. Die Sukzessionsregeln bestehen weiter aber es gibt viel mehr Auswege und Umwege für die Nachfolgegenerationen. Je näher die Gegenwart rückt, umso mehr Teildiskurse entstehen. Die Frage ist dann, welche Rolle solche Teildiskurse in der jeweiligen Diskursformation spielen.
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Das betrifft etwa die sozialpolitischen Aktivitäten der sog. Bismarck-Ära, die nicht in die allgemeine Diskursformation eingehen. Die alte Arbeiter/-innen sind eine Unterkategorie der Invaliden, die unter den Bedingungen beschleunigten sozialen Wandels abgesichert werden müssen. Eine Privilegierung des Alters ist nicht vorgesehen, ein neues Altersbild entsteht nicht. Die Pensionierungsregeln von 1882 (Preußen) bzw. 1886 (Deutsches Reich) (vgl. dazu Hammerschmidt und Tennstedt i. d. B.) produzieren dagegen in der Beamtenliteratur einen heftigen Diskurs. Hier ist von Anfang an auch der Generationswechsel direkt thematisiert: Jungen Kräften Platz zu machen, ist das entscheidende Motiv der Beamtenpensionierung, eine Politik, der die Betroffenen aber wenig abzugewinnen in der Lage sind und die bis in die 1920er Jahre heftig umstritten ist. Mit der 65-Jahres-Zwangspensionierungsregel (1920 Preußen, 1923 Deutsches Reich) würden „in verschwenderischer Weise wertvolle Kräfte nach einer bloßen Schablone vorzeitig brach gelegt“, so wird in einem Text von 1922 geklagt. Der pensionierte Beamte werde sozial stigmatisiert, so das Argument, „denn ein abgedankter, gesunder, arbeitsfähiger Mann wird beim schaffenden Volk über die Achsel angesehen“, wie in einer Lehrerzeitung noch 1926 zu lesen ist (zit. Göckenjan 2000, S. 347). Hier wird fraglos ein neues soziales Alter eingeführt und als solches kritisiert. Die vorhergehenden Diskursverschiebungen bündeln sich jedenfalls um 1900. Die Jahrhundertwende ist bekanntlich die Zeit der massiven Jugendrhetorik, die den Eindruck vermitteln will, dass endgültig mit Alter und Alten aufgeräumt werden müsse. Der entscheidende Punkt ist, dass um 1900 Alter – in Selbstverständnis und Selbstthematisierung der Gesellschaft – die bisherige Funktion, die wichtigsten gesellschaftlichen Werte zu repräsentieren, verliert. Jugend wird endgültig zur Metapher der Moderne. Alter bleibt die Repräsentation von Überholtem und Veraltetem. Fortschritt, Schnelligkeit, Neuheit verdrängen als Leitwerte Konstanz, Sicherheit, Erfahrung, die traditionell mit Alter identifiziert sind. Die neue Zeit schafft und erfordert den neuen Menschen, der neue Mensch aber ist jung – das sind die Schlagworte. Dabei entstehen durch Jugendbewegung und Jugendstil, zellulare Verjüngungstheorien und einiges Anderes mehr Denkformen, die zur Neubestimmung und Verschärfung der zentralen Denkfigur der Beziehung zwischen den Generationen führen. Diese wird nicht mehr als gegenseitige Achtung der Lebensbedürfnisse unter der Dominanz des Alters gedacht, sondern als Kampf um Lebenschancen. Dieses auch heute immer wieder zugezogene Motiv ist keineswegs uralt, es wird vielmehr in einem eigenen literarischen Genre der Generationsliteratur ausformuliert, das in mehreren literarischen Wellen zwischen den 1880er und 1920er Jahren Generationsbeziehungen zeichnet.
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‚Rentner/-in‘ als Leitbegriff des Alters
Diskurspolitisch hat Alter um 1900 die kulturelle Dominanz verloren und danach auch nicht mehr zurückgewonnen. Allerdings ist nicht der Wechsel der Denkfigur in dieser Zeit die entscheidende Zäsur zu der heutigen Alterswürdigung, sondern die Epoche der sog. Großen Rentenreform von 1957 (Göckenjan 2007). Erst jetzt wird ‚Rentner/-in‘ als Topos des sozialpolitisch formierten Alters durchgesetzt und verallgemeinert. Sofort wird auch klar, dass die systematische Schwäche des sozialpolitisch formierten Alters, die Abhängigkeit von individuell nicht beeinflussbaren gesellschaftlichen Transferzahlungen, in einer Parteiendemokratie durch die reine Zahl zur institutionalisierten Macht einer Großgruppe werden kann. Die Warnung etwa vor dem institutionalisierten Alter, als einer „parasitären pressure group“ (Pollock 1958, S. 126), wird 1958 geäußert. Die Rentenreform von 1957 (vgl. dazu Hammerschmidt und Tennstedt i. d. B.) gilt als zentrale Wende: fort von den bisherigen Sozialrenten, die immer nur Ergänzung zur Lebenshaltung sein sollten, hin zu Lebenshaltungskosten deckenden, dynamisierten, an das Wirtschaftswachstum angeschlossenen Renten und dem Ende des Arbeitslebens. Eine sichere Versorgung im Alter als staatlich gewährleistete Aufgabe war nach allen sozialen und wirtschaftlichen Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein in der Bevölkerung weit verbreiteter Wunsch und dem wurde mit Instrumenten der Sozialversicherung und politischen Kalkülen entsprochen. Die Veränderungen lassen sich derart skizzieren: Die nicht intendierte Folge der Rentenversicherungsreform war die Entstehung der sozialen Figuration eines Rentenalters, d. h. des Alters als eine eigenständige, institutionell formierte Lebensphase der Ruhe und Freizeit. Diese Lebensphase wird verstanden als Kompensation vorhergehender Mühen und Anstrengungen und steht unter dem Diktum der endgültigen Beendigung der gesellschaftlich als einzig entscheidend bewerteten Lebensphase Berufstätigkeit. Die neue Lebensphase ist einerseits als abgesicherte Freistellung von Erwerbsverpflichtungen gefeiert worden. Sie ist andererseits als endgültige Bestätigung des Verlustes von entscheidenden Rollen, Aufgaben und Lebenssinn im Alter beklagt und theoretisiert worden. Alter, das sei „das nackte Dasein ‚ohne Funktion‘, und das heißt: Dasein ohne Sinn“ (Groth 1954, S. 53). Auch für Schelsky (1912 – 1984), den Meinung prägenden Alternssoziologen dieser Zeit, ist Alter der sozialen Einbindung und Verortung beraubt und „entwurzelt“. Es handele sich um eine Folge des „säkularen sozialen Strukturumbruchs“, der in der Rentenreform nur bestätigt werde: Denn es gibt keine „grundsätzlichen“ oder substantiellen Funktionen mehr für das Alter, „kaum noch sozial kennzeichnende und angesonnene Altersverhaltensweisen“ (Schelsky 1959, S. 209). Alte Leute verlören daher mit ihren Funktionen „Lebenshalt“ und es drohe, wenn die Adaption an neue Lebensbedingungen nicht gelinge – und die Chancen dafür sah Schelsky als gering an – eine finale Katastrophe. Die Freizeitbeschäftigungen müssten dann, so Schelsky, „den Totalsinn der Lebensvollzüge des Alltags tragen“ (ebd., S. 216). Das ist zeitge-
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nössisch für die Mehrheit der Rentner/-innen eher eine ironische Pointe als konkrete Erfahrung. Mit dem freigestellten und abgesicherten Rentenalter, der sozial formierten Alterslebensphase, geht also ein homogenisiertes Altersbild der Rentnerin/des Rentners einher mit den Merkmalen des Abgeschobenseins, der Funktionslosigkeit, der Sinnleere und Abhängigkeit. Alter ist typisiert als strukturelle Entwurzelung, eine auskömmliche, aber knappe Rente – an mehr ist in den 1950er Jahren nicht gedacht worden – ändert nichts an dem Status der Statuslosigkeit, oder, wie das der amerikanische Soziologe Burgess (1886 – 1966), im Folgenden viel zitiert, formuliert hatte: an der „Rolle der Rollenlosigkeit“ (Burgess 1960a).
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Alter, ein großer offener Raum
Die soziale und sozialpolitische Organisation des heutigen Alters hat die materiellen Grundlagen für Altersvorstellungen und Alterszuschreibungen in zwei Dimensionen grundlegend verändert: durch den Wandel des Alterstatus und die Verlängerung des Alters. Alter, im Sinne der Beendigung des Erwachsenenlebens, der Ausübung aller Rollenerwartungen, ist von der meist kurzen Neige des Lebens zu einer ganzen Lebensphase von 20 bis 30 Jahren geworden. Diese Lebensphase umfasst auch Zeitspannen, die ehemals dem uneingeschränkt ‚tätigen Leben‘ zugerechnet wurden. Dieses tätige Leben ist in der Gegenwartsgesellschaft auf Berufstätigkeit bzw. Erwerbsarbeit reduziert und im Verhältnis zur Gesamtlebenszeit enorm geschrumpft. Die Altersphase ist so „der große offene Raum“ geworden (Göckenjan und von Kondratowitz 1988, S. 14), der sich durch die Entlassung aus der gesellschaftlich verpflichteten Tätigkeit und den Bezug von Transferleistungen definiert. Zugleich hat Alter durch die sozialpolitische und rechtliche Regulierung des Generationswechsels aufgrund von Altersgrenzen soziale Statuszuschreibungen eingebüßt. Der positiv-negativ Code der traditionellen Alterswürdigungsdiskurse besteht weiter, aber Alter ist eben nicht mehr Personifikation sozialer Ordnungsleistungen zwischen sozialer Kontinuität und sozialem Wandel. Altersdiskurse sind entsprechend nicht mehr Ordnungs-, sondern Altersinteressen- und advokatorische Klienteldiskurse. Daher sind Altersvokabular, Alters- und Diskursentwürfe heute vielfältig, beliebig und unverbindlich. Das ist, wie gesagt, früh gesehen und formuliert worden: Die Gegenwartsgesellschaft habe keine besonderen normativen Erwartungen an Alte entwickelt (Schelsky 1959). Der Amerikaner Rossow formulierte sogar, es sei der Gesellschaft gleichgültig, was Alte denken und tun, vorausgesetzt allerdings, dass die in den vorhergehenden Lebensphasen aufgebauten zivilisatorischen Standards erhalten bleiben (Rossow 1974). Allerdings hat der große offene Raum des heutigen Alters seit Anbeginn, also mit der Medienoffensive um die große Rentenreform von 1957, nach Ausdeutungen und semantischen Hilfen gerufen. In Deutschland geben sich spätestens seit den 1980er
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Jahren Medienberichte und Zeitkommentatoren fasziniert von diesem sog. neuen Alter, als neue Freiheit und Jahrmarkt der Möglichkeiten, aber auch erschreckt aufgrund der sichtbaren und unterstellten Maßlosigkeit des Ressourcenverbrauchs in einer ‚Rentner-Gesellschaft‘. Entsprechend werden den Altenpopulationen ein gesell schaftliches Bedrohungs- und Destabilisierungspotenzial oder gesellschaftlich unerlässliche Hilfsquellen zugeschrieben. Vermutet wurde gelegentlich, dass dieses Alter kompensiere für die Einschränkungen und Demütigungen aus den vorhergehenden Arbeits- und Erwerbsbedingungen. Der Altersphase wurde damit die Leistung zugetraut, einen wesentlichen Beitrag zur sozialen Integration der wohlfahrtsstaatlichen Leistungsgesellschaft darzustellen. In der Tat wiederholen die Alterslebensstile der ‚aktiven Freizeitalten‘, wie sie in den 1980er Jahren entdeckt, aber nicht erfunden wurden, Altersverhalten, das in den wohlhabenden Schichten unter anderen ökonomischen und kulturellen Bedingungen schon sehr lange möglich war und gelebt wurde. Aber das war kein Ruhestand, sondern Lebenskontinuität mit einem allerdings meist veränderten Verhältnis von Pflichten und Freiheiten. Die Novität und wohl auch Einmaligkeit der historischen Situation seither ist die Breite, in der Altengenerationen an einem solchen Alterslebensstil des gesicherten Wohlstandes partizipieren. Der große offene Raum der Altersphase wird durch Wohlstandszuwachs, Sozialstaat und Transferzahlungen ermöglicht und es kann erwartet werden, dass er genauso auch wieder eingeschränkt werden wird. Die Pfade der Reduktion der Transferzahlungen sind jedenfalls gelegt und werden beschritten.
Ausgewählte Literatur Ehmer, Josef, und Otfried Höffe. Hrsg. 2009. Bilder des Alters im Wandel. Historische, interkulturelle, theoretische und aktuelle Perspektiven. Altern in Deutschland. Band 1. Halle (Saale): Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina e. V. Göckenjan, Gerd. 2000. Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Thomas, Keith. 1977. Age and authority in early modern England. In Proceedings of the British Academy 62: 205 – 248.
Aktuelle Altersbilder – ‚junge Alte‘ und ‚alte Alte‘ Barbara Pichler
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Einleitung
Altersbilder sind konkurrierende, mitunter stereotype Vorstellungen von der Rolle, den Eigenschaften und dem Wert alter Menschen in der Gesellschaft. Mit Bildern einer alternden Gesellschaft – ‚Überalterung‘, ‚Pflegelawine‘, ‚Generationenkrieg‘ – werden Schreckensszenarien beschworen und wird das Alter als Last und Bedrohung rein negativ besetzt. Gleichzeitig gibt es das Bestreben, das Alter mit positiv konnotierten Attributen zu schmücken. So wird von den ‚jungen‘, ‚aktiven‘ und ‚produktiven‘ Alten gesprochen, den Best Agers oder Golden Oldies, denen die Möglichkeit offen steht, erfolgreich und autonom das Leben im Alter zu gestalten. Diese werden entweder als konsumfreudig und reiselustig dargestellt oder als Potenzial für die Gesellschaft. Mit ihrem ehrenamtlichen Engagement können und sollen sie noch ihren Beitrag für die Gemeinschaft leisten. Als andere Seite der Medaille kommen jedoch auch Bilder hochaltriger, oft pflegebedürftiger und dementer Menschen zum Vorschein. Die Differenz, die in diesen unterschiedlichen Altersbildern zu Tage tritt, ist die Differenz jung/alt. Die positiven Altersbilder korrespondieren mit einer jugendlichen Vorstellung vom Alter, während die negativen Bilder das ‚wirkliche‘ Alter markieren. Alter ist eine Differenzkategorie, d. h. dass ‚alt‘ sich nur in Relation zu ‚jung‘ bzw. ‚neu‘ bestimmen lässt. Durch die Kategorie Alter zieht sich, verfolgt man die aktuellen Altersbilder, diese grundlegende Differenzierung nochmals hindurch und differenziert sich selbst wiederum über ‚jung‘ und ‚alt‘ aus. Als Ergebnis dieser Unterscheidung treten die ‚jungen Alten‘ und die ‚alten Alten‘ hervor.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_51
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Barbara Pichler
Altersbilder als wirkmächtige und normative Konstrukte
Alter ist wie Geschlecht, Klasse und ethnische Zugehörigkeit eine grundlegende Kategorie, nach der die Gesellschaft organisiert wird und als solche stellt diese eine unübersehbare Markierung sozialer Differenz dar. Personen werden nach bestimmten Kriterien unterschieden und einer Kategorie zugeordnet. Durch diesen Ordnungsvorgang wird nicht die Realität abgebildet, sondern dieser erfolgt vielmehr nach Kriterien der Bedeutungszuschreibung und Differenzierung, die kulturell und historisch variabel sind (vgl. Haller und Küpper i. d. B.). Kategorien sind so gesehen nicht als Ursprung und Ursache zu denken, sondern als Effekte von Diskursen zu begreifen. Butler (1991) weist bezüglich der Kategorie Frau darauf hin, dass es falsch wäre, von vorneherein anzunehmen, dass es diese Kategorie naturgegeben gibt und deshalb einfach mit verschiedenen Bestandteilen wie Bestimmungen der Klasse, Ethnie und Sexualität gefüllt werden müsste, um vervollständigt zu werden: „Wenn man dagegen die wesentliche Unvollständigkeit dieser Kategorie voraussetzt, kann sie als stets offener Schauplatz umkämpfter Bedeutungen dienen.“ (ebd., S. 35) Eine Kategorie als Kampfschauplatz zu umschreiben, weist bereits darauf hin, dass Bedeutungen nicht in einem herrschafts- und gewaltfreien Raum ausgehandelt werden, sondern dass es sich um einen Ort handelt, an dem sich unterschiedliche Kräfte messen. Butler (1991) prägte diesbezüglich den Begriff „Gender trouble“. Haller (2004, 2005), auf Butler Bezug nehmend, spricht in Zusammenhang mit Alter von „Ageing trouble“. Dieses „trouble“ soll das Unbehagen an den wirkmächtigen Alterskonstruktionen ausdrücken. Amann (2004) bringt das Ringen um die Sichtweisen auf das Alter folgendermaßen zum Ausdruck: „Es ist ein ständiger Kampf um Macht. Vor allem symbolische Macht, […]. Wer rigoros behauptet, die Alten seien eine Last für die Gesellschaft, und dies womöglich noch mit Statistiken zu belegen sucht, kämpft um das Vorrecht, einseitig definieren zu können, wie die Welt gesehen werden muss.“ (ebd., S. 13)
Altersbilder sind demnach immer vor dem Hintergrund von Machtverhältnissen zu betrachten und sie sind insofern wirkmächtig, als dass sie nicht einfach Wirklichkeit abbilden, sondern Wirklichkeit herstellen. Altersbilder „beeinflussen unsere Wahrnehmung, prägen mit Nachdruck unser Handeln und senken ihre vielfältigen Keime ins Altwerden jedes einzelnen Menschen selbst“ (ebd., S. 15). Altersbilder sind somit nicht bloß deskriptiv, sie sind vielmehr normativ.
3
‚Junge Alte‘
Zu den Merkmalen des Altersstrukturwandels zählen laut Tews (1993b) neben Feminisierung, Singularisierung und Hochaltrigkeit die Entberuflichung und Verjün-
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gung der Alterskohorten. Die frühe Ausgliederung aus dem Berufsleben ist historisch neu, was zur Folge hat, dass ein großer Teil, der sich in Ruhestand Befindenden zwar als zu alt für die Erwerbsarbeit gilt, sich gleichzeitig aber nach wie vor guter Gesundheit erfreut. Die Rede ist hier von den „jungen Alten“ (van Dyk und Lessenich 2009). Laslett (1995) hat für diesen Lebensabschnitt den Begriff des Dritten Alters geprägt. Synonym dazu wird auch von den ‚neuen Alten‘ gesprochen, eine Bezeichnung, die im deutschsprachigen Raum seit den 1980er Jahren Verbreitung findet (Aner 2005, S. 34 ff.; Aner et al. 2007). 3.1
Wissenschaftliche Diskurse über die ‚jungen Alten‘
Eine wichtige Rolle bei der Entstehung neuer Altersbilder spielen wissenschaftliche Diskurse (vgl. dazu auch Künemund und Schroeter sowie Wahl und Schmitt i. d. B.). Die Wissenschaft ist nicht nur ein Korrektiv stereotyper Altersbilder, sondern sie wirkt selbst aktiv an der Konstruktion von Altersbildern mit. Wissenschaftlich erkun detes Wissen von Expert/-innen ist wirkmächtig, da es vielfach das Fundament für Konzepte Sozialer Altenarbeit und die Altenpolitik bietet. „In den fachspezifischen Diskursen wird das Wissen zu einem allgemeinen Aussagesystem formiert, auf dessen Grundlagen Erwartungen und Verpflichtungen konstruiert und die Menschen entsprechend gefördert, gestärkt und therapiert werden.“ (Schroeter 2002, S. 85)
Auch politische und mediale Diskurse knüpfen an wissenschaftliche Diskurse an bzw. sind mit ihnen und ineinander verstrickt. So können wissenschaftliche Konzepte zu einem aktiven, erfolgreichen und produktiven Alter als Grundlage für eine aktiv gesellschaftliche Mobilisierung des Alters herangezogen werden. Der gerontologischen Forschung muss dennoch der unzweifelhafte Verdienst zugesprochen werden, dass das Alter heute nicht mehr als bloßer Abbauprozess gesehen wird, sondern auch als ein Entwicklungsprozess (ebd., S. 87 f.). Im Folgenden werden Konzepte aus der sozialgerontologischen Forschung vorgestellt, die die Grundlage für Leitbilder eines jungen Alters bieten und auch für die Soziale Altenarbeit relevant waren und sind (vgl. Aner i. d. B.). Aktives Alter(n): Das Leitbild des aktiven Alter(n)s geht auf die Aktivitätstheorie zurück, deren Konzeption bereits in den 1960er Jahren als Reaktion auf die Defizit- und Disengagementheorie angesehen werden kann – die Defizittheorie geht von einer generellen Abnahme der geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit aus; die Disengagementtheorie besagt, dass Alte ein natürliches und notwendiges Rückzugsverhalten aus Aktivitäten haben. In der Aktivitätsthese wird hingegen die Ansicht vertreten, dass alte Menschen die gleichen psychischen und sozialen Bedürfnisse ha-
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ben wie im mittleren Lebensalter. Kommt es zu einem Rückzug alter Menschen, so liegt dies nicht an deren psycho-physischem Abbau, sondern vielmehr an einer gesellschaftlichen Ausgliederung alter Menschen, in der ihnen die Beschäftigungsmöglichkeiten entzogen wurden (Lenz et al. 1999a, S. 38 ff.; van Dyk 2007, S. 97). Die Aktivitätsthese ist deshalb von besonderer Bedeutung, da „ihre Grundannahmen zur normativen Basis der Gerontologie im Allgemeinen sowie der Altenhilfepolitik der 1970er und 1980er Jahre geworden sind“ (van Dyk 2007, S. 98) und sie auch der WHO (2002) als Grundlage ihrer Vorschläge für politisches Handeln dient. In den vergangenen Jahren gewann das Leitbild erneute Popularität, da das Jahr 2012 von der Europäischen Kommission zum „Europäischen Jahr für aktives Altern und Solidarität zwischen den Generationen“ (European Union o. J.) ausgerufen worden ist. In der sozialen Altenarbeit zielt das Leitbild des aktiven Alter(n)s auf Teilhabe am sozialen Leben. Unterschiedliche Spielarten dieses Leitbildes bzw. jenes des aktiven Seniors finden sich in diversen Modellprogrammen wie auch sog. Erzählcafés oder Wissensbörsen (Karl 2006, S. 303 f.). Erfolgreiches Alter(n): Der Begriff des erfolgreichen Alter(n)s hat sich v. a. aus einer
entwicklungspsychologischen Perspektive entwickelt. Eingeführt wurde die Bezeichnung successful aging bereits in den frühen 1960er Jahren von Havighurst (Schroeter 2002, S. 88). Durch die Publikation von Baltes und Baltes (1989b) haben Ausarbeitungen des psychologischen Konzepts eines erfolgreichen Alter(n)s im deutschsprachigen Raum Verbreitung gefunden. Holstein und Minkler (2003) sehen seit Rowes und Kahns Arbeiten zum successful aging in den USA ein neues, mehr oder weniger unhinterfragtes Paradigma in der Gerontologie: „Successful Aging is perhaps the single most recognized work in recent gerontology“ (ebd., S. 787). Das Konzept geht davon aus, dass altersbedingte Veränderungen und Verluste nicht einfach passiv hingenommen werden müssen, sondern aktiv gestaltend von jedem einzelnen in diesen Alterungsprozess eingegriffen werden kann. Zentral in diesem Konzept ist das Prinzip der Optimierung durch Selektion und Kompensation (SOK-Modell), das von einer Adaptivität (Verhaltensplastizität) des Organismus ausgeht. Dabei geht es um einen Ausgleich nicht mehr leistbarer Aktivitäten und um eine Optimierung durch eine Konzentration auf das Wesentliche (vgl. Baltes und Baltes 1989b). Produktives Alter(n): Die Begriffsbestimmung eines produktiven Alter(n)s ist unklar und uneinheitlich. Bei Margret M. Baltes (1996) überschneidet es sich mit ihrem Konzept eines erfolgreichen Alter(n)s. Es gibt Definitionen, die produktive Tätigkeiten hauptsächlich im Bereich der Erwerbsarbeit und Freiwilligenarbeit im Dienstleistungsbereich ansiedeln, während andere Definitionen den Bereich der persönlichen Entfaltung und der Hausarbeit mit einbeziehen (van Dyk 2007, S. 101). Zentral am Leitbild des produktiven Alter(n)s ist die Diskussion der gesellschaftlichen (Wieder-) Verpflichtung bzw. der ehrenamtlichen Arbeit. Tews (1996) setzt sich explizit dafür
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ein, die Produktivität des Alters mit gesellschaftlicher Nützlichkeit zu verbinden und scheut nicht davor zurück, dies verpflichtend einzufordern. In der gerontologischen Debatte rief dies Gegenreaktionen hervor, wobei weniger mit dem Verweis auf den ‚wohlverdienten Ruhestand‘ oder die ‚späte Freiheit‘ argumentiert wird, sondern damit, dass die Stimulierung freiwilligen Engagements nutzbringender für die Gesellschaft sei als die Verpflichtung dazu (van Dyk 2007, S. 102 f.). Auch hier geht es wie bei Tews um das prinzipielle Potenzial, das alte Menschen für die Gesellschaft bereithalten. Damit ändert sich die normative Sichtweise auf den alten Menschen nur dahingehend, dass andere Ansichten darüber vertreten werden, wie die ‚Ressource alter Mensch‘ erschlossen werden soll. Das zu gestaltende Alter: Schweppe (2002b, S. 333 ff.) sieht seit Beginn der 1990er Jahre unter dem Leitbild des zu „gestaltenden Alter(n)s“ einen Reformschub in der offenen Altenarbeit, da es aus ihrer Sicht auf die aktuellen Veränderungen der Altersphase zu reagieren vermag. Ausgangspunkt dieses Leitbildes sind Überlegungen, die aus der Gesellschaftsdiagnose einer Reflexiven Moderne und der Individualisierungsthese abgeleitet werden. Demnach hat sich das Bild des Alters pluralisiert. Durch Freisetzungsprozesse aus traditionellen Lebensvollzügen ergeben sich neue Chancen und Risiken für das Alter. Da vorgegebene Wege brüchig geworden sind, wird die eigene Biografie gestaltungsnotwendig bzw. eröffnet sich die Möglichkeit, das eigene Leben selbst zu gestalten. Die neuen Ansätze der offenen Altenarbeit, zu denen Schweppe Modellprojekte wie Seniorengenossenschaften oder die Initiative Drittes Lebensalter zählt, zielen „auf die Förderung einer Kultur eigenverantwortlich gestalteten Alters und die Ermöglichung und Findung individuellen Lebenssinns und individueller Lebensbalance“ (Schweppe 2002b, S. 334). Das autonome Alter(n): Die Bilder vom jungen Alter und die Konzepte, die diese nähren, sind durchzogen vom gesellschaftlichen Leitbild „einer ‚autonomen‘ Subjektivität“ (Lemke et al. 2000, S. 30), indem auf Eigenverantwortlichkeit, Selbstbestimmung und Eigeninitiative verwiesen wird. Autonomie stellt einen zentralen Wert für alte Menschen dar und ist bereits seit den 1990er Jahren zu einer Leitkategorie der Sozial- und Bildungspolitik für Alte avanciert (Kade 1994a, 1994b). In der sozialen Altenarbeit soll im Gegensatz zu bisherigen Ansätzen fürsorglicher Bevormundung die Autonomie und Selbstbestimmung von alten Menschen in den Vordergrund gerückt werden (Otto und Schweppe 1996, S. 66; Schweppe 2002b). Abgeleitet wird die Notwendigkeit zur Autonomie auch aus der Individualisierungsthese. Neben der Freisetzung aus traditionellen Rollen und Solidarmilieus bedeutet Individualisierung außerdem, den Zwang, aber auch die Chance zu haben, das Leben im Alter autonom zu gestalten und dafür die Verantwortung zu tragen (Kade 1994a; Schweppe 2002b).
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3.2
Barbara Pichler
Bilder des jungen Alters in der Kritik
Der allzu euphorische Blick auf die jungen Alten lenkt jedoch gerade von jenen ab, die dem Bild der dynamischen Alten nicht entsprechen. Kritische Lebensereignisse werden damit in das Alter jenseits der 80 verlagert und aus dem Aufmerksamkeitsfokus verdrängt (Aner et al. 2007a, S. 23). Mit der Konzentration auf Aktivität, Produktivität und Erfolg wird ein Leistungsdenken als Normalitätsfolie gesetzt, das dem mittleren Erwerbsalter entspricht, und Alterserscheinungen werden damit als abweichende Besonderheiten ins Abseits geschoben (Lenz et al. 1999a, S. 41). Entgegen der Absicht der Entstigmatisierung trägt diese Konzentration auf Leistung wiederum selbst zur Stigmatisierung und Tabuisierung des Alters bei, indem durch die Nicht-Thematisierung von Gebrechlichkeit, Krankheit und Einsamkeit eine mögliche Pflegebedürftigkeit ausgeblendet und nur auf ein ‚gesundes Alter‘ Bezug genommen wird (Karl 2006, S. 304; van Dyk 2007, S. 98). Mit der erforderlichen Fähigkeit, sein Leben selbstbestimmt und aktiv in die Hand zu nehmen, werden vorrangig privilegierte Personengruppen angesprochen. Es wird von strukturellen Bedingungen wie Geschlecht und sozialer wie ethnischer Herkunft abstrahiert und das Individuum für das Gelingen und Scheitern indirekt selbst verantwortlich gemacht (Holstein und Minkler 2003; Karl 2006, S. 303; van Dyk 2007, S. 98 f.). Aus gouvernementalitätstheoretischer Perspektive entpuppt sich die in den Bildern zum ‚jungen Alter‘ propagierte Autonomie und Freiheit zum Handeln als neoliberaler Machtmechanismus (Karl 2006; Pichler 2007a, 2007b, 2009, 2016). „Die Förderung von Handlungsoptionen ist nicht zu trennen von der Forderung, einen spezifischen Gebrauch von diesen ‚Freiheiten‘ zu machen, […]. Im Rahmen neoliberaler Gouvernementalität signalisieren Selbstbestimmung, Verantwortung und Wahlfreiheit nicht die Grenze des Regierungshandelns, sondern sind selbst ein Instrument und Vehikel, um das Verhältnis der Subjekte zu sich selbst und zu den anderen zu verändern […].“ (Lemke et al. 2000, S. 30)
Diese Responsibilisierung des Individuums, die mit der Schaffung des neuen Altersbildes einhergeht, kann als Merkmal der Wende von einem versorgenden zu einem aktivierenden Staat gesehen werden. Dieser Wandel geht mit einem Abbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen einher. Soziale Dienstleistungen werden zunehmend ins Private und in den Bereich des bürgerschaftlichen Engagements verlagert. Die jungen Alten sollen gemäß einer active society in die Erbringung sozialer Dienstleistungen eingebunden werden, wie z. B. in die Übernahme von Betreuungs- und Pflegetätigkeiten und die Ausübung ehrenamtlicher Tätigkeiten in Vereinen oder in eigens geschaffenen Modellprogrammen wie den Seniorenbüros. Dabei sollen weniger Pflichtdienste, sondern vielmehr die Rahmenbedingungen geschaffen werden, dass sich die Alten freiwillig und selbstbestimmt engagieren können (Karl 2006; Aner et al. 2007; Aner und Hammerschmidt 2008; van Dyk und Lessenich 2009).
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„[…] die aktivgesellschaftliche Entdeckung des Alters [erscheint] als allen Seiten zu Gute kommende, in ihrer positiven Konnotierung sowie der darin angelegten Alltagsplausibilität kaum hintergehbare win-win-Situation. Wer mag schon auf den Vorzügen eines ‚negativen‘, ‚unproduktiven‘, ‚alten‘ Alters bestehen ?“ (van Dyk 2007, S. 93)
4
‚Alte Alte‘
Thane (2005b, S. 290) stellt für das Ende des 20. Jahrhunderts resümierend fest, dass es, auch wenn es noch nie so viele rüstige 60- und 70-Jährige gegeben hat, gleichzeitig noch nie zuvor so viele chronisch kranke alte Menschen. Wenn vom ‚alten Alter‘ gesprochen wird, so ist wichtig zu beachten, dass wesentlich mehr Frauen das hohe Alter erreichen als Männer. So lag z. B. in Österreich 2016 der Frauenanteil bei den 75-Jährigen und Älteren bei 60,9 % (STATISTIK AUSTRIA 2018), in Deutschland waren 2016 64 % der 80-jährigen und älteren Frauen (StaBuAmt und WZB 2018, S. 16). Was das ‚alte Alter‘ anbelangt, lassen sich kaum Anstrengungen verbuchen, dazu Altersbilder zu schaffen. Diesbezügliche Bilder der Hochaltrigkeit gibt es dennoch, diese sind nicht aus der Welt zu schaffen und tauchen in den Medien v. a. rund um den Diskurs der Pflege alter Menschen immer wieder auf. Es handelt sich nicht um Bilder, die zugunsten einer differenzierten Sicht auf das Alter propagiert werden. Es sind Bilder, die trotz der vielen neuen Altersbilder übrigbleiben, sozusagen ein ‚Rest‘, der inmitten einer aktiven und juvenilen Gesellschaft insofern stört, als dass er nicht gänzlich negiert werden kann. Thiersch (2002) wendet sich in einem Essay zum Altwerden den „dunkeln, mühsamen Seiten des Alters“ (ebd., S. 174) wie z. B. körperliche Schwächen, Trauer, Hilflosigkeit zu, die gerade in den Alltagserfahrungen v. a. im Vierten Alter immer wieder brisant werden und neben den positiven Altersbildern einen nur „randständigen Strang der allgemeinen Altersdiskussion“ (ebd.) ausmachen. Dieses Zur-Sprache-Bringen der negativen Seiten des Alters stößt nicht immer auf Gegenliebe, wie die Reaktion von engagierten Mitgliedern des IFG (eine Projektgruppe des Seniorenstudiums der Universität zu Köln) auf einen Beitrag von Brinkmann (2007) zeigt, der in Anlehnung an Amery sich auch mit den leidvollen Aspekten des Alter(n)s auseinandersetzt: „Malte Brinkmann hat uns in seinem Beitrag sehr eindringlich vor Augen gehalten […], wovor wir allzu oft die Augen verschließen. Dennoch ist das IFG der Meinung, dass auch eine Überbetonung der Schattenseiten des Alters der Etablierung eines neuen Umgangs mit dem Alter(n), einer neuen Alter(n)skultur nicht zweckdienlich sein würde.“ (Wehn und Schröder 2007, S. 174)
Die leidvollen Seiten des Alters erfüllen demnach in der Entwicklung einer neuen Alter(n)skultur aus Sicht dieser älteren Menschen keinen Zweck. Bezeichnenderweise wird in der Gerontologie auch die Unterscheidung zwischen einem normalen und ei-
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Barbara Pichler
nem pathologischen Alter gemacht (Baltes und Baltes 1989b; Baltes 2004). Das ‚normale‘ Alter ist das funktionstüchtige, während das ‚pathologische‘ (nicht normale) Alter von körperlich bedingten Krankheitsprozessen geprägt ist. Bei Higgs und Gilleard (2014) wird diese Sicht auf das hohe Alter kritisch als „othering“ des Vierten Lebensalters bezeichnet. Bereits bei Schachtners (1999) zivilisationskritischen Altersreflexionen wird das Alter als „das Andere“ benannt: „Alte Menschen sind der sichtbare Beleg dafür, dass das Nicht-Funktionale, das Andere, weil es nicht erwünscht ist, nicht schon als besiegt gelten kann. Vom Alter droht Enthüllungsgefahr; es enthüllt, dass die Beherrschbarkeit menschlichen Lebens Grenzen hat. Insofern ist das Alter subversiv. […] Der Kampf gilt der Verletzlichkeit, dem Ungewissen, Unplanbaren, dem Werden und Vergehen.“ (ebd., S. 200)
Während im Alltagsverständnis nach wie vor eine defizitäre Sicht auf das Alter präsent ist, gilt das Defizitmodell in gerontologischen Kreisen als überholt und durch neue Konzepte korrigiert. Doch bei den Überlegungen zum Vierten Alter zeigt sich, dass das defizitäre Altersbild dennoch zum Vorschein kommt. Anhand Baltes Artikel „Das hohe Alter. Mehr Bürde oder Würde“ (2004) soll dies im Folgenden aufgezeigt werden. Seine Sicht wird mit Jean Amérys resignativ revoltierendem Altersbild (Améry 1968) kontrastiert, bevor das in einer Sozialpädagogik des Alters etablierte Bild eines ‚abhängigen Alters‘ vorgestellt wird. 4.1
‚Defizitäres‘ Alter(n) – revisited
Gerade Paul Baltes (2004, S. 1), einer der prominentesten Vertreter eines ‚erfolgreichen Alter(n)s‘ konstatiert, „dass das Älterwerden der Ältesten der Alten […] künftig nicht nur mit Würden, sondern mit erheblichen Bürden einhergehen könnte“. Diese Einschätzung beruht auf der Einsicht, dass die positiven wissenschaftlichen Erkenntnisse sich auf das Dritte Alter beschränken, während sich im Vierten Alter „unbarmherzig die biologische Unfertigkeit des Menschen“ (ebd.) offenbart. Im Rahmen der Berliner Altersstudie (Mayer und Baltes 1996) hat sich gezeigt, dass bei Gedächtnistests auch mental gesunde Hochbetagte beim Erlernen neuer Inhalte extrem beeinträchtigt waren. Weiter stößt die adaptive Ich-Plastizität an Grenzen, sodass die Lebenszufriedenheit sinkt. Auch weitere medizinische, psychologische und soziale Parameter weisen für die Hochaltrigen beträchtliche Verluste auf (Baltes 2004, S. 3 f.). Diese Ergebnisse sind für Baltes der Beleg, „dass der Lebensweg im hohen Alter zunehmend zum Leidensweg gerät, dass die Grenzen der menschlichen Anpassungsfähigkeit erreicht und oft auch überschritten werden“ (ebd., S. 4). Durch Baltes pessimistische Sicht auf das Vierte Lebensalter wird das als widerlegt gegoltene Defizitmodell rehabilitiert. Der psychophysische Abbau beginnt demnach nicht bereits im Dritten Alter, sondern das defizitäre Alter verschiebt sich nach hinten und zeigt
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im Vierten Alter seine Schattenseiten. Für Baltes gehören diese altersbedingten Veränderungen jedoch nicht zu einem normalen Menschsein, sondern sind vielmehr ein Artefakt der Natur, bedingt durch die evolutionäre Unfertigkeit des Menschen. Deshalb setzt Baltes trotz seiner negativen Aussagen zum hohen Alter Hoffnung auf mehr biologisch-medizinische Forschung, um eine „‚altersunfreundliche‘ biogenetische Architektur des Lebensverlaufs so zu verändern, dass sie kulturellen und psychologischen Einflüssen besser zugänglich wird“ (ebd., S. 15). Eine weitere negative Sicht auf das Alter halten Amérys (1968) Introspektionen bereit. Er vergleicht das Altern und den körperlichen Abbau mit einer unheilbaren Krankheit (ebd., S. 44). Aufgrund dieser resignativen Darstellung des Alters wirft Brinkmann (2007, S. 159) die Frage auf, ob Améry nicht „der Propagandist des Defizitmodells des Alters“ ist. Améry wendet sich dezidiert gegen positive Einstellungen zum Altern, denen er entfremdende Praxen zuspricht. „Der im Idyll Alternde und Alte nimmt die Ver-Nichtung durch die Gesellschaft so wenig zur Kenntnis wie der aufgeregte Junggebliebene“ (Améry 1968, S. 85). Der Autor sieht die Chance, in Würde zu altern, vielmehr in der Wahrhaftigkeit, die in der Anerkennung der Ambiguität liegt. „Er nimmt die Ver-Nichtung an, wissend, dass er in dieser Annahme sich selbst nur dann bewahren kann, wenn er sich revoltierend gegen sie erhebt, dass aber […] seine Revolte zum Scheitern verurteilt ist.“ (ebd., S. 85 f.)
In Anlehnung an Améry drückt Brinkmann (2007, S. 166) folgendermaßen aus, was es heißt, in Würde zu altern: „Ich anerkenne das Altern in allen seinen resignativen Konsequenzen, aber ich finde mich nicht damit ab und behaupte gerade darin gegen alle Rollenzwänge, Diktate und Entfremdungen meine persönliche Freiheit. […]. Altersbilder und Alternsforschung, die nicht von der leiblich-endlichen Ambiguität ausgehen und das existentielle Ent-setzen vor Tod und Vernichtung ausblenden, verspielen in diesem Ausschluss die Chance auf Würde und Eigensinn des Alterns.“
Im Unterschied zu Baltes defizitärem Blick auf das hohe Alter, mit dem durch die ‚pathologischen‘ Erscheinungen des Alters die Würde des Menschen in Frage gestellt wird, gelangt der Alte bei Améry erst zur Würde, indem er sich der Wahrheit des Schmerzes stellt. Während die Hoffnung bei Baltes auf einer biotechnologischen Korrektur und Ausmerzung eines evolutionären Artefaktes liegt und somit ein Ausgrenzungsdiskurs gegen ‚Abweichungen‘ geführt wird, werden bei Améry die leidvollen Erscheinungen des Alters revoltierend anerkannt (Pichler 2011).
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4.2
Barbara Pichler
Das ‚abhängige Alter‘
Das hohe Alter, das mit Hilfsbedürftigkeit, Verlusten und Abbau einhergeht, wird häufig als ‚abhängiges Alter‘ umschrieben, das den gegenüberliegenden Pol des autonomen, individualisierten und biografisierten Alters darstellt (vgl. Schmidt 1994; Böhnisch 2001; Schweppe 2002b, 2005a). Während die Offene Altenarbeit sich am Leitbild des zu gestaltenden Alters orientiert, stellen der ambulante und (teil-)stationäre Bereich der Altenarbeit Abstufungen in Richtung ‚abhängiges Altern‘ dar. Im stationären Bereich werden meist sehr alte Menschen begleitet, die aufgrund geistiger, seelischer oder körperlicher Einschränkungen nicht mehr im eigenen Haushalt leben können (Schweppe 2002b). Schweppe gibt zu bedenken, dass es der Sozialpädagogik kaum gelungen ist, eine eigenständige Expertise innerhalb dieses von Medizin und Pflege beherrschten Arbeitsfeldes zu entwickeln und gibt eine gewisse sozialpädagogische Ratlosigkeit gegenüber dem ‚abhängigen Alter‘ zu. In einer auf Lebensbewältigung ausgerichteten Sozialen Altenarbeit ist der Fokus auf die Herstellung bzw. Aufrechterhaltung biografischer Handlungsfähigkeit und sozialer Integration gerichtet, während das ‚abhängige Alter‘ gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass sich Handlungsfähigkeit in vielen Fällen nicht mehr herstellen lässt (Schweppe 2000, S. 343 f.). „Thiersch ist aber wahrscheinlich Recht zu geben, dass die eigentliche sozialpädagogische Provokation der Alten eher in jenen Lebenslagen liegt, die aufgrund geistigen und körperlichen Verfalls durch hilfsbedürftige Abhängigkeit und unkompensierbare Verluste geprägt sind. Denn Sozialpädagogik und Pädagogik zielen im mainstream auf Entwicklung und Verbesserung, müssen sich nun aber einlassen auf Dasein, Dabeisein, Aushalten, auch auf das Aushalten von Hilflosigkeit der anderen und der eignen. Was ansteht ist die Frage, wie die Sozialpädagogik dazu beitragen kann, trotz unrevidierbarer Hilflosigkeit und Abhängigkeit, alten Menschen ein ‚eigenes Leben‘ zu ermöglichen […].“ (Schweppe 2005a, S. 43 f.)
Schweppe benennt mit dem Bild des ‚abhängigen Alters‘ auch die Schattenseiten des Alters und spart sie nicht aus. Indem sie die sozialpädagogischen Provokationen anspricht, die das Alter bereithält, spiegelt sie allgemeine gesellschaftliche Wertvorstellungen wider, gegen die sich das hohe Alter sperrt. Dennoch stellt sich die Frage, wie hilfreich jene Begriffswahl ist, in der das ‚autonome‘ Alter einem ‚abhängigen‘ gegenübergestellt wird. Bedeutet diese Gegenüberstellung, dass Hilfsbedürftigkeit jegliche autonome Bemühungen ausschließt ? Ist man entweder abhängig oder autonom ? Oder sollte die anstehende Frage nicht viel eher lauten, inwieweit in einem Zustand von Hilfsbedürftigkeit Autonomie ermöglicht werden kann ? Auch die Annahme, dass das Alter durch nicht mehr herstellbare Handlungsfähigkeit gekennzeichnet sei, ist sehr drastisch. Hier gilt es zu fragen, ob Passivität so absolut sein kann, dass sie jegliche Möglichkeit aktiven Handelns zum Erlahmen bringt. Handlungsfähigkeit einem hilfsbedürftigen alten Menschen abzusprechen, entspricht einem ausschließen
Aktuelle Altersbilder – ‚junge Alte‘ und ‚alte Alte‘
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den Denken, indem zugleich der Mythos eines unabhängigen, handlungsfähigen Menschen geschaffen wird, der ohne (passives) Empfangen auszukommen scheint. Diese Kritik sollte exemplarisch zeigen, dass auch Bilder eines ‚alten Alters‘, die die negativen Aspekte des Alterns nicht leugnen, einseitige Bestimmungen vornehmen, die der Doppeldeutigkeit des Subjekts nicht gerecht werden und einem ethisch bedenklichen exkludierenden ‚Entweder-Oder-Denken‘ verhaftet sind, das auch empirisch nicht zu rechtfertigen ist (vgl. dazu etwa Falk et al. 2011; Kuhlmey und TeschRömer 2013).
5
Herausforderungen
Die aktuellen Altersbilder von einem ‚jungen Alter‘ und einem ‚alten Alter‘ sind von „dichotomen Kontrastierungen“ (Karl 2006, S. 302) geprägt: aktiv/passiv, autonom/ abhängig, normal/pathologisch usw. Die beiden Pole stehen sich oppositionell gegenüber und sind in sich hierarchisch. Gronemeyer (2002, S. 140) benennt diese Trennung in Gegensätze als „gespaltenes Sein“, in der die Kehrseiten des Lebens abgetrennt werden zugunsten einer glatten Erscheinungsform. „Subjektivität im Sinne eines starken Ich ist gewonnen durch bloßes Weglassen und Verleugnen dessen, was die Stärke bedroht.“ (Meyer-Drawe 2000, S. 89) Die Bilder zum jungen Alter strotzen vor Ich-Stärke, während die bedrohliche Passivität, Abhängigkeit und das Pathologische dem (anderen) alten Alter zugeschrieben werden. Graumann und Offergeld (2013) geben insbesondere bei der Zielgruppe der Menschen mit Demenz und älteren Menschen mit lebenslangen Behinderungen zu bedenken, dass die Gefahr besteht, dass diese ausschließlich als ‚abhängige Alte‘ wahrgenommen werden und ihnen damit der Subjektstatus abgesprochen wird. Die Herausforderung für die Schaffung zukünftiger Altersbilder besteht darin, dieser Spaltung entgegenzuwirken und die Dichotomien nicht einseitig aufzulösen. Dazu ist es notwendig, den (alten und jungen) Menschen in seiner Doppeldeutigkeit als Subjekt und Objekt zu begreifen, der weder nur autonom noch nur abhängig ist, der nicht nur aktiv ist, sondern Passivität als konstitutive Bedingung von Handlungsfähigkeit anerkennt. Der autonome alte Mensch, begriffen als bloßer Akteur, würde die Verwobenheit und Abhängigkeit von Anderen und von Herrschaftsverhältnissen verkennen. Und dennoch ist das Subjekt niemals nur abhängig, auch wenn es sehr alt ist und aufgrund des Nachlassens körperlicher, geistiger und psychischer Kräfte bei den täglichen Verrichtungen Hilfe bedarf. Die Gerontologie in Theorie, Forschung und Praxis ist damit herausgefordert „autonome Möglichkeiten des Subjekts zu begreifen, ohne sie transmundan zu übersteigen oder resignativ abzuschreiben“ (Meyer-Drawe 2000, S. 41). Diese Spannung zwischen den Extremen der Existenz gilt es auszuhalten, ohne die alten Menschen im Zuge junger Altersbilder als bloß frei, aktiv, produktiv und autonom oder im Rahmen alter Altersbilder als ausschließlich abhängig, passiv und unterdrückt darzustellen. Es sind Bilder gefragt, die Sowohl-als-
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auch-Konstellationen zulassen: „Demenz-Aktivistinnen“ (Rohra 2016), energische Immobile, hilfebedürftige Produktive, faltige Schönheiten, leidenschaftliche NichtHandelnde.
Ausgewählte Literatur Aner, Kirsten, Fred Karl und Leopold Rosenmayr. Hrsg. 2007. Die neuen Alten – Retter des Sozialen ? Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Pichler, Barbara. 2016. Alter und Autonomie. In Aktuelle Leitbegriffe der Sozialen Arbeit. Ein kritisches Handbuch, Band 3. Hrsg. Bakic, Josef, Marc Diebäcker und Elisabeth Hammer, 11 – 23. Wien: Löcker. van Dyk, Silke. 2007. Kompetent, aktiv, produktiv ? Die Entdeckung der Alten in der Aktiv gesellschaft. PROKLA Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 37: 93 – 112.
Psychogerontologische Konzepte des Alter(n)s Hans-Werner Wahl und Marina Schmitt
1
Bedeutung und Schlüsselfragen der psychologischen Alternsforschung
Gerontologie war lange Zeit von medizinischen bzw. biologischen Forschungen dominiert. Trotz erster verhaltenswissenschaftlicher Erforschung des Alterns, zunächst vor allem des kognitiven Alterns in den 1920er Jahren, ist die Alternspsychologie erst seit den 1950er Jahren zu einer voll anerkannten Disziplin geworden (Wahl und Heyl 2015). Heute ist völlig unstrittig, dass Altern als Veränderung auch in psychischen Bereichen begriffen werden muss (Elsässer et al. 2017). Psychisches Altern ist stets im Kontext anderer Systeme zu sehen, beispielsweise der Ebene hirnorganischer Alternsveränderungen, aber ebenso auch auf der Ebene gesellschaftlicher Einflüsse und Prägungen des Alterns (Kruse und Wahl 2007). So ist die Fokussierung von psychischen Alternsprozessen besonders durch ihre ‚Scharnierfunktion‘ zwischen biologischem Altersgeschehen und gesellschaftlich-politischen und historischen Überformungen des Alters gekennzeichnet. Insbesondere vier grundlegende Fragestellungen sind schon früh von Weinert (1992) für die psychologische Gerontologie identifiziert worden: (1) Beschreibung und Analyse der Alternsveränderungen psychischer Merkmale und Mechanismen
Hier steht die differenzierte Beschreibung des Verlaufs und der Variationen psychi scher Leistungen, von Verhalten und Erleben, primär altersbezogen, aber auch als Abstand vom Tode oder getrieben von markanten Lebenserfahrungen, im Vordergrund. Es geht um die Identifikation von Verlaufsmustern, aber auch um die Multidimensionalität und Multidirektionalität von Verläufen in unterschiedlichen Bereichen der psychischen Entwicklung. Multidimensionalität hebt ab auf die Notwendigkeit, innerhalb psychischer Phänomene weitere Differenzierungen vorzunehmen (z. B. jene © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_52
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zwischen der Mechanik und Pragmatik geistiger Leistungsfähigkeit, s. u.). Multidirektionalität weist auf die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen in der psychischen Entwicklung hin, d. h. Abbau, Stabilität und Wachstum können parallel auftreten. Weiterhin geht es um grundlegende Fragen nach der Bedeutung der Dauer, z. B. die Dauer der Auswirkungen einer chronischen Erkrankung auf das psychische Befinden. Thematisiert werden auch sog. turning points in der lebenslangen Entwicklung, wie Scheidungen, Kriegserfahrungen oder schwere Erkrankungen. Danach tritt nicht selten eine Entwicklung ein, die sich aus dem vorherigen Lebensweg keineswegs abzeichnete, z. B. als auffälliger Rückzug aus sozialen Beziehungen. (2) Analyse der sich psychologisch manifestierenden Bedingungen menschlichen Alterns
Hier steht die Frage im Vordergrund, in welcher Weise psychische Entwicklungen Alternsverläufe und Alternsausgänge beeinflussen. Obwohl vielfach behauptet wird, dass psychische Phänomene angesichts der (angeblichen) Übermacht biologischer Alternsveränderungen eher eine Nebenrolle spielen, liegt heute vielfache Evidenz dafür vor, dass diese für Alternsausgänge zentral sind. So gehört die subjektive Gesundheit zu den entscheidenden Prädiktoren von Wohlbefinden, Lebensqualität und Mortalität, auch nach Kontrolle der objektiven Gesundheit. Positive Bewertungen des eigenen Älterwerdens korrespondieren mit Krankheiten und der Dauer des Überlebens; alternde Menschen mit positiveren Sichtweisen ihres Alterns zeigen eine geringere Krankheitsrate und leben länger (Westerhof et al. 2014). Der Verlust der kognitiven Leistungsfähigkeit ist eine, wenn nicht die bedeutsamste Erklärung für Einschränkungen der Alltagskompetenz sowie Hilfe- und Pflegebedürftigkeit im Alter (Diehl und Marsiske 2005; Elsässer et al. 2017). Diese psychischen Prozesse wirken zusammen mit anderen Einflüssen auf Altern ein und machen eine interdisziplinäre und multikausale Sicht von Altern erforderlich. So sind bei Verlusten in der Alltagskompetenz neben der kognitiven Leistungsfähigkeit sensorische Beeinträchtigungen (vor allem des Sehens), Aspekte der Motivation (z. B. erhöhte Depressivität) und das Wohnumfeld (Barrierehaftigkeit) zu berücksichtigen (Diehl und Marsiske 2005; Wahl 2012). Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass nach Kontrolle derartiger Bedingungen die Bedeutung des chronologischen Alters in der Regel deutlich abgeschwächt wird bzw. seine Bedeutung als ‚erklärende‘ Variable völlig einbüßt. (3) Untersuchung der psychischen Verarbeitung und Bewältigung des Alters bzw. der mit dem Älterwerden verbundenen Defizite, Einschränkungen und Verluste
Die psychologische Alternsforschung kann am ehestens Antworten geben auf die folgenden Fragen: Wie gehen ältere und sehr alte Menschen mit den Herausforderungen des Alterns, insbesondere mit den damit verbundenen Mehrfachverlusten um ? Wie können alternde Menschen überhaupt, körperlich und psychisch, ‚überleben‘, wenn sie über längere Zeit eine Akkumulation von Einschränkungen erfahren ? Eine
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in diesem Zusammenhang bedeutsame Thematik hat unter der Bezeichnung Wohlbefindensparadoxon ihren Niederschlag gefunden: Danach erhalten Menschen im Durchschnitt bis weit in ihr Alter ein hohes Maß an Wohlbefinden aufrecht; erst im sehr hohen Alter bzw. in der Nähe zum Tod ist ein bedeutsamer Rückgang zu verzeichnen, der allerdings nicht als eine gravierende Abnahme der Lebenszufriedenheit zu verstehen ist (Schilling 2006; Gerstorf et al. 2010). Die Erklärung dafür liegt darin, dass alternde Menschen es meist durch vielfältige psychische Anpassungsmechanismen schaffen, den Widrigkeiten des Alterns etwas entgegenzusetzen bzw. positive Deutungen der eigenen Lebenssituation vorzunehmen. Wesentliche Mechanismen sind hierbei die flexible Anpassung von Lebenszielen (Brandtstädter 2007), die gezielte Abgabe von Kontrolle (Heckhausen et al. 2010) und hilfreiche Kompensationen von eingetretenen Verlusten, die sogar dazu führen, dass in ausgewählten Lebensbereichen Entwicklungsgewinne eintreten können. Viel Aufmerksamkeit hat dabei das Modell der selektiven Optimierungen gefunden (SOK-Modell, Baltes und Baltes 1990; Freund 2007). Danach ist es spät im Leben sehr adaptiv, sich auf wenige Bereiche zu konzentrieren (Selektivität), in diesen Bereichen weiterhin erfolgreich zu sein (Optimierung) sowie dort, wo es nötig ist, entsprechende Kompensationen etwa durch Hilfsmittel oder Hilfspersonen vorzunehmen. (4) Psychosoziale Beeinflussung unerwünschter Erscheinungen und Begleiterscheinungen des Altwerdens
Ursula Lehr hat Alters-Interventionen bereits 1979 definiert als das „Insgesamt der Bemühungen, bei physisch-psychischem Wohlbefinden ein hohes Alter zu erreichen“ (Lehr 1979, S. 1). Die Entstehung der Interventionsgerontologie war ein sehr bedeutsamer Schritt in der Alternsforschung, denn lange Zeit ging man davon aus, Altern sei ein relativ unveränderliches, kaum beeinflussbares biologisches Abbauprogramm (Kruse 2007; Wahl et al. 2012). Die Interventionsgerontologie besitzt nicht nur eine eminent wichtige praktische Bedeutsamkeit, sondern trägt auch viel zu grundlegenden Einsichten zum Altern bei: Sie zeigt, was alles in Bezug auf den Verlauf des Alternsprozesses möglich ist bzw. wäre und gibt damit vielfältige Hinweise auf die ausgeprägte Plastizität des Alternsprozesses. Erkenntnisse über Plastizität im Alter sind zudem bedeutsam, um gegen das negative Altersstereotyp in unserer Gesellschaft anzukämpfen. Gesellschaftlich und versorgungsbezogen betrachtet unterstreicht sie die Bedeutung der Schaffung entsprechender Rahmen-, Trainings- und Anregungsbedingungen. Die angestellten Überlegungen zeigen auch die Notwendigkeit einer Lebensspannenperspektive, um den Verlauf und die Vielfalt von Altern zu verstehen (Staudinger 2007). Schließlich sollte klargeworden sein, dass die Lebensspannen- und Alternspsychologie einen Entwicklungsbegriff benötigt, der das traditionelle Verständnis von Entwicklung im Sinne von Fortschritt und dem Durchschreiten aufeinander aufbauender Stufen hinter sich lässt. Entwicklung kann in dieser Sichtweise nur bedeuten, dass Gewinne und Verluste in jeder Lebensphase nebeneinander existieren,
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wenngleich sich im Laufe des Lebens die Gewinn-Verlust-Bilanz zugunsten von Verlusten verschiebt (Baltes et al. 2006). Im Folgenden nehmen wir vor diesem Hintergrund drei Ressourcenbereiche mit besonderer Relevanz für eine psychologische Alternsperspektive (kognitive Leistungsfähigkeit, Persönlichkeit und Selbst, soziale Beziehungen) in den Blick.
2
Zentrale Ressourcen psychischen Alterns
2.1
Zur Entwicklung der geistigen Leistungsfähigkeit im Alter: Wechselspiel von Mechanik und Pragmatik
Hinsichtlich der geistigen Leistungsfähigkeit hat es sich bereits früh als notwendig und sinnvoll erwiesen, zwischen einer grundlegenden und stark geschwindigkeitsabhängigen Komponente der geistigen Leistungsfähigkeit, als Mechanik der Intelligenz bzw. fluide Intelligenz bezeichnet, und einer stark auf Wissenselementen und Erfahrung basierenden Komponente, Pragmatik bzw. kristalline Intelligenz genannt, zu unterscheiden (Kray und Lindenberger 2007). Insgesamt liegen derzeit robuste Befunde vor, dass mechanische Leistungen einen deutlichen Abfall mit dem Alter zeigen und pragmatische Leistungen stabil bleiben. Allerdings existieren auf jeder Altersstufe sehr große Unterschiede zwischen alten Menschen, wie etwa auch die Berliner Altersstudie gefunden hat (Reischies und Lindenberger 2010). Es bestätigt sich hier also nicht nur die Notwendigkeit einer multidimensionalen, sondern auch einer multidirektionalen Betrachtungsweise des Alternsprozesses (siehe auch Martin und Kliegel 2010). Die Entwicklung der geistigen Leistungsfähigkeit findet nicht im ‚luftleeren‘ Raum statt, sondern ist vielfältigen Einflüssen und Wechselwirkungen unterworfen. Einerseits spielen gesundheitliche Veränderungen, z. B. kardio-vaskuläre Erkrankungen oder Stoffwechselerkrankungen, eine bedeutsame Rolle. Andererseits lassen sich durch verbesserte Bildungsbedingungen im Kindes- und Jugendalter bei den heute älteren Menschen, speziell bei Frauen, im Vergleich zu Älteren etwa in den 1960er Jahren, deutliche Verbesserungen in kognitiven Teilleistungen beobachten. Es liegen deutliche positive Kohorteneffekte vor, d. h. jüngere Kohorten älterer Menschen zeigen eine höhere geistige Leistungsfähigkeit als Zugehörige älterer Kohorten (Schaie 2013). Geistige Leistungsfähigkeit erschöpft sich allerdings nicht in den Aspekten der Mechanik und Pragmatik. Berufliches Lernen, die Auseinandersetzungen mit anderen Menschen, die Konfrontation mit Grenzsituationen, das Erleben der eigenen körperlichen und geistigen Veränderungen im Zuge des Lebens – all dies führen alternde Menschen integrativ in einer auch stark kognitiven Leistung zu ‚Lebenserfahrungen‘ zusammen. Gelingt es, die gemachten Lebenserfahrungen miteinander in Einklang zu bringen, das Erreichte zu würdigen, das Nicht-Erreichte zu akzeptieren und auch die Grenze des Lebens anzunehmen, so entsteht so etwas wie Ich-Integrität, worin
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sich Lebenssinn mit Lebenserfahrung verbindet (Erikson 1959). Andere Forscher wie Gisela Labouvie-Vief (2015) gehen davon aus, dass unser Denken mit dem Älterwerden komplexer und ‚tiefschürfender‘ wird, dass es zunehmend gelingt, nebeneinander Stehendes zu verbinden, Widersprüchliches zu ertragen und vorhandene Wissenselemente neuen Interpretationen und Einsichten zuzuführen. Solchem Erfahrungswissen kommt große Bedeutung für den Umgang mit Grenzsituationen zu oder gehört zu den Stärken älterer Mitarbeiter/-innen in der Berufswelt (Kruse und Wahl 2007). Zu nennen sind schließlich Forschungsarbeiten zu Lebensweisheit und Lebenssinn (Staudinger 2005). Weisheit wird dabei verstanden als Generierung und Zusammenführung von hochwertigem Fakten- und Strategiewissen, von Wissen über die Relativität von Sichtweisen, der Bildung von Zusammenhängen zwischen Lebensphasen und der Anerkennung von Ungewissheiten des Lebens. Es konnte gezeigt werden, dass die Merkmale für Weisheit bzw. der Score für weisheitsbezogene Leistungen ein hohes Maß an lebenslaufbezogener Stabilität aufweisen (Staudinger und Baltes 1996), allerdings keinen altersbezogenen Anstieg. 2.2
Zur Entwicklung der Persönlichkeit und der Bewältigung von Belastungen im Alter
Was sind grundlegende Persönlichkeitseigenschaften ? Die Antworten der Persönlichkeitspsychologie sind vielfältig, jedoch haben sich in den letzten etwa drei Jahrzehnten fünf ‚große‘ Merkmale (man spricht auch von den Big Five) herauskristallisiert. Anhand derer, so argumentieren ihre ‚Erfinder‘, die amerikanischen Psychologen Costa und McCrae, lassen sich derzeit am prägnantesten Persönlichkeitsunterschiede zwischen Menschen charakterisieren (Costa und McCrae 1992): 1) Neurotizismus: Hier geht es um die Anfälligkeit für Stress und Belastungen der unterschiedlichsten Art. 2) Extraversion: Hier geht es um die Suche nach sozialem Miteinander und darum, uns im Spiegel anderer bzw. der Öffentlichkeit zu erfahren, ja, diese Erfahrungen zu genießen. 3) Offenheit: Hier geht es um die Durchlässigkeit der Person für neue Erfahrungen, aber auch um die Bereitschaft, andere Meinungen zuzulassen bzw. zu tolerieren. 4) Verträglichkeit: Hier geht es darum, inwieweit Personen dazu neigen, in ihren sozialen Beziehungen konflikthaft zu agieren bzw. auf Ausgleich aus sind. 5) Gewissenhaftigkeit: Hier geht es um Zuverlässigkeit, die Organisiertheit der eigenen Handlungen und um die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Vorliegende Langzeitstudien unterstützen die Annahme, dass die Ausprägung dieser Persönlichkeitsmerkmale im Laufe des Erwachsenenlebens und Alterns relativ stabil bleibt (Costa und McCrae 1994). Relativ stabil bedeutet dabei, dass viele alternde
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Personen ihre Rangposition im Hinblick auf die Ausprägung in den Persönlichkeitseigenschaften bis ins höchste Lebensalter bewahren. Dies ist durchaus vereinbar mit gewissen normativen Veränderungen in Persönlichkeitseigenschaften: Gerade, weil diese Veränderungen normativ sind, bleibt die Rangposition einzelner alternder Menschen relativ gut erhalten. So wissen wir, dass Neurotizismus mit dem Altwerden leicht zurückgeht. Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit nehmen schon früh im Erwachsenenleben etwas zu, was wohl vor allem mit den neuen Entwicklungsaufgaben (Partnerschaft, Elternschaft, Aufbau und Ausbau eines beruflichen Weges) zusammenhängt. Offenheit und Extraversion gehen im höheren Lebensalter eher etwas zurück: Menschen binden sich, je älter sie werden, zunehmend an Vertrautes, sie suchen und pflegen vor allem den Kontakt mit Personen, die ihnen viel bedeuten und emotional viel geben (vgl. auch Abschnitt 2.3). Allerdings sind für das Verstehen des Umgangs mit Belastungen im Alter weitere Persönlichkeitskonstrukte notwendig. Zwei Denk- und Methodiktraditionen haben dabei die gerontologische Forschung in besonderer Weise geprägt: in der Tradition der Stressforschung stehende Arbeiten, in denen Bewältigungsstrategien (Coping) in ihrem Alternsverlauf untersucht werden (Filipp und Aymanns 2005), und biografisch orientierte Ansätze (Kruse 2005), in denen auf der Grundlage halb-strukturierter Explorationen den Formen der Auseinandersetzung alter Menschen mit ihren Belastungen im Zuge ihrer Lebensgeschichte nachgegangen wird. Eine zentrale Frage lautet hier, ob Altern zwangsläufig mit einem Rückfall in sog. primitive, regressive oder inkompetente Formen der Bewältigung verbunden sei. Entsprechende Befunde haben eines gemeinsam: Es gibt nur sehr schwache Belege für eine Altersregression im Umgang mit Lebensproblemen. Falls solche Tendenzen beobachtet werden, so scheinen sie vor allem durch unterschiedliche Entwicklungsaufgaben im Alter erklärbar und nicht durch das chronologische Alter selbst. Beispielsweise haben Diehl, Coyle und Labouvie-Vief (1996) bei älteren Menschen eine stärkere Tendenz zur positiven Deutung von Konfliktsituationen gefunden, die eher mit der relativen Unveränderlichkeit von bestimmten Belastungen des höheren Lebensalters, wie chronische Krankheiten, Rollenverluste oder Verluste im sozialen Umfeld, zusammenhängen dürfte und weniger mit dem kalendarischen Alter. Allerdings hat eine Nachfolgestudie, in der die Teilnehmer/-innen der Studie von 1996 über zwölf Jahre hinweg weiterverfolgt wurden, auch ergeben, dass vor allem im sehr hohen Alter die Effizienz in Bewältigungsprozessen nachzulassen scheint (Diehl et al. 2014). Auch im Bereich der Bewältigungskompetenz ist auf die hohe interindividuelle Variabilität zu verweisen, d. h. alte Menschen unterscheiden sich sehr im Umgang mit kritischen Anforderungen. In einer eigenen Studie mit sehbehinderten und blinden alten Menschen (Wahl 1997) fanden wir z. B. eine erste Gruppe von älteren Sehbeeinträchtigten, die offensichtlich sehr gut mit der Behinderung umgehen konnten und über ein hohes Bewältigungspotenzial verfügte. Eine zweite Gruppe zeigte sowohl in der Verhaltenskompetenz als auch im Erleben sehr ungünstige Werte. Diese älteren Menschen bewegten sich an der Grenze ihrer Bewältigungsfähigkeit und hätten in
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viel größerem Ausmaß einer Stützung von außen bedurft. Eine dritte Gruppe zeigte ein ambivalentes Anpassungsmuster mit befriedigenden Werten im emotionalen Erleben, jedoch eher geringer Verhaltenskompetenz. Die Widerstandsfähigkeit (Resilienz) des Alters und hohen Alters gegenüber möglicherweise erdrückenden Verlusten in zentralen Lebenssphären hat in den letzten 20 Jahren viel Forschungsaufmerksamkeit gefunden (Greve und Staudinger 2006). In einer Untersuchung von Staudinger et al. (1999) wurden ‚extrem resiliente‘ sowie ‚extrem vulnerable‘ alte Menschen verglichen. Dabei zeichneten sich die extrem Resilienten durch hohe Zufriedenheit trotz relativ hoher körperlicher und sozio-ökonomischer Risiken aus, die extrem Vulnerablen durch geringere Zufriedenheit trotz relativ niedriger körperlicher und sozio-ökonomischer Risiken. Die extrem Resilienten zeichneten sich ferner durch mehr positive Gefühlszustände, einen höheren Optimismus, eine höhere Konzentration klar definierter und realistischer Lebensziele und geringere Neurotizismuswerte aus. So führen Untersuchungen zur Resilienz im Alter unterschiedliche theoretische Zugänge und Ansätze (wie z. B. die Emotionsforschung, die Big Five) in neuartiger Weise zusammen. In diesem Zusammenhang spielen auch Ansätze der Selbstregulation eine bedeutsame Rolle. Brandtstädter (z. B. 2007) sieht hier zwei fundamentale Tendenzen als bedeutsam an (sog. Zweiprozess-Modell): Einerseits streben wir danach, durch andauerndes Gefügig-Machen der Situationen und Lebensumstände die Verwirklichung unserer Ziele zu erhöhen (Assimilation oder hartnäckige Zielverfolgung). Andererseits können wir Ziele, Präferenzen und Erwartungen anpassen, herunterschrauben, ggf. ganz aufgeben (Akkommodation). Vieles spricht dafür, dass mit zunehmendem Alter Akkommodation wichtiger wird, da bedeutsame Ziele schwieriger aufrechtzuerhalten sind. Gelingt dies nicht, so ist dies wahrscheinlich dysfunktional und für die psychische Widerstandskraft nicht förderlich. 2.3
Zur Entwicklung von sozialen Beziehungen im Alter
Soziale Beziehungen gehören zu den wichtigsten individuellen Ressourcen für den Umgang mit altersassoziierten Veränderungen und Herausforderungen. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Herstellung bzw. Erhaltung von subjektivem Wohlbefinden, Gesundheit und Selbstständigkeit im Alter, dienen als Puffer gegen kritische Lebensereignisse und die Entstehung psychischer Störungen und wirken dabei in sehr differenzierter Weise innerhalb unterschiedlicher Kontexte (Cohen 2004; Antonucci et al. 2013; Fuller-Iglesias et al. 2013). Innerhalb der Forschung zu sozialen Beziehungen werden zwei Perspektiven unterschieden: Die Netzwerkforschung (vgl. dazu auch Künemund und Kohli i. d. B.) beschäftigt sich mit Beziehungsmustern und betrachtet objektivierbare strukturelle Aspekte (Laireiter et al. 2001) wie die Netzwerkgröße (d. h. die Anzahl der Kontaktpersonen), zentrale Merkmale der Netzwerkpartner/-innen (z. B. deren Alter, Ge-
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schlecht, die Kontakthäufigkeit, die Beziehungsdauer, die räumliche Distanz) oder zentrale Merkmale der Beziehung (z. B. deren Intensität/Stärke, die Intimität/Vertrautheit). Forschung zur sozialen Unterstützung – definiert als das Ausmaß, in dem individuelle Bedürfnisse durch soziale Interaktion erfüllt werden (Kaplan et al. 1977) – beschäftigt sich mit der Qualität von Beziehungen bezüglich des Austauschs von Hilfs- und Unterstützungsleistungen, wie emotionale Anteilnahme, instrumentelle Hilfe, Informationen als auch Einschätzungen zur Person (Kaplan et al. 1977). Ein wichtiger Beitrag zur Erforschung sozialer Beziehungen leistet das Convoy-Modell sozialer Beziehungen (für einen Überblick s. Antonucci et al. 2013). Das Modell, das Aspekte beider Ansätze miteinander vereint, geht davon aus, dass Individuen während ihres Lebenslaufs von unterstützenden Beziehungen begleitet werden, die hinsichtlich ihrer Nähe, Qualität, Funktion und Struktur variieren, von persönlichen und situationsspezifischen Charakteristika beeinflusst werden und einen je spezifischen Einfluss auf wichtige Outcomes von Gesundheit, Wohlbefinden oder Mortalität haben (vgl. dazu z. B. Antonucci et al. 2010). Untersuchungen zu Netzwerken verweisen auf eine Verringerung der Netzwerkgröße und der Kontakthäufigkeiten mit zunehmendem Alter (Antonucci et al. 2004) Die Anzahl wichtiger, enger Beziehungen bleibt jedoch bis ins hohe Alter relativ konstant (Wrzus et al. 2013). Netzwerke älterer Menschen bestehen häufig aus nahen Familienmitgliedern und engen Freunden (Hoff 2006; Antonucci et al. 2013). Als Erklärungen für die Verringerung der Netzwerkgröße, die sich in nennenswertem Umfang jedoch erst ab einem Alter von ca. 80 Jahren einstellt (Smith 2002), werden der Verlust von Beziehungen zu Kolleg/-innen, die Zunahme von Verlustereignissen (z. B. durch Tod oder Erkrankungen der Netzwerkpartner/-innen) oder der freiwillige und selbstbestimmte Abbruch von Beziehungen durch die älteren Menschen angeführt (Lang et al. 2005). Ein früher Erklärungsansatz – die Disengagement-Theorie (Cumming und Henry 1961) – brachte die geringere Netzwerkgröße mit der Nähe des Lebensendes und dem Verlust von Fähigkeiten in Verbindung, worauf ein wechselseitiger Abbruch der Beziehungen zwischen älteren Menschen und anderen Mitgliedern der Gesellschaft erfolge. Dieser führe zu mehr Freiheit in deren Alltagsverhalten und diene dem Finden eines neuen inneren Gleichgewichts. An deren Stelle ist ein aktuellerer Erklärungsansatz auf der Basis der sozio-emotionalen Selektivitätstheorie von Carstensen (2006) getreten: Die Verringerung der Netzwerkgröße wird danach – angesichts der mit zunehmendem Alter reduzierten Zeitperspektive – auf eine Veränderung der Motive älterer Menschen zur Aufrechterhaltung von sozialen Beziehungen zurückgeführt (siehe auch Wahl und Heyl 2015). Zentrale Annahme und empirisch gut belegt ist, dass ältere Menschen ihre Kontakte aktiv und selektiv mit dem Ziel der Erreichung bzw. Erhaltung eines hohen subjektiven Wohlbefindens ausrichten (Lang 2007). Zusammenfassend lassen sich strukturelle Veränderungen sozialer Netzwerke im Alter sowohl auf altersspezifische Gegebenheiten (im Sinne von unterschiedlichen Gelegenheitsstrukturen) als auch auf vom Individuum selbst initiierte Veränderungen zurückführen.
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Eine Reihe von Studien zu sozialer Unterstützung hat Aspekte der Qualität von Beziehungen bezüglich des Austauschs von Hilfs- und Unterstützungsleistungen thematisiert. Der Ehepartner/die Ehepartnerin stellt dabei bis ins hohe Alter die Person dar, an die sich ältere Menschen bei Problemen am häufigsten um Unterstützung wenden. Diese häufig bereits mehrere Jahrzehnte dauernden Beziehungen sind in der Regel durch eine hohe eheliche Zufriedenheit, tiefe Verbundenheit und gute Abstimmung der Interaktions- und Kommunikationsmuster gekennzeichnet (Schneewind et al. 2004). Dies trägt dazu bei, dass die zahlreichen Herausforderungen, vor die sich ältere Individuen (z. B. die Bewusstheit der geringer werdenden Zeitperspektive und des eigenen Todes) und das Paar gestellt sehen (z. B. die Entwicklung einer zufriedenstellenden Form der gemeinsamen Alltagsgestaltung, Suche nach neuen Lebensinhalten und sinngebenden Aktivitäten, der Umgang mit Verlustängsten und Todesfällen im sozialen Umfeld, Unterstützung des Partners/der Partnerin bei Krankheit oder Pflegebedürftigkeit) zufriedenstellend gemeistert werden können. Eigene Untersuchungen zeigen, dass es gerade die Qualität der erlebten sozialen Unterstützung ist, die zu einer hohen Partnerschaftszufriedenheit im Alter beiträgt (Schmitt und Kliegel 2006; vgl. auch Baas und Schmitt i. d. B.).
3
Potenziale der psychologischen Interventionsforschung
Im Folgenden wollen wir auf zwei genuin psychologische Interventionsmöglichkeiten eingehen: auf die geistige Leistungsfähigkeit als Grundlage von alltäglichem Handeln und Erleben (kognitives Training) und auf psychosoziale Funktionsfähigkeit als Fähigkeit des Erlebens positiver Emotionalität, von Handlungsautonomie, hoher Selbstwertschätzung und sozialer Kompetenz (Psychotherapie). 3.1
Kognitives Training
Bei Interventionen im Bereich der geistigen Leistungsfähigkeit geht es darum, zentrale Denkleistungen (das schnelle Erkennen von Gemeinsamkeiten in Sachverhalten, logisches Denken oder die Durchführung von Rechenaufgaben) systematisch zu üben. Gedächtnisinterventionen zielen darauf ab, Behaltens- und Erinnerungsleistungen mittels in der Regel angeleiteter Übungen systematisch zu optimieren. Neben solchen Trainings im Bereich des normalen Alterns hat es auch Versuche gegeben, die geistige Leistungsfähigkeit bei alten Menschen zu verbessern, die bereits – typischerweise in Folge einer demenziellen Erkrankung – schwerwiegende kognitive Verluste erlitten haben. Die Erfolge von Trainingsstudien sind vor allem im Bereich des normalen Alterns relativ konsistent (Willis und Belleville 2016). Besonders erwähnenswert ist, dass es mit Hilfe kognitiver Trainingsverfahren gelingt, auch fluide, relativ nahe am biologischen Substrat liegende Intelligenzfaktoren zu verbessern.
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Auch im Bereich von Gedächtnistrainingsstudien liegen klare empirische Belege für den Erfolg von systematischer Gedächtnisübung im Zuge des normalen Alterns vor. Kognitive Trainings bei bereits eingetretenen demenziellen Erkrankungen scheinen hingegen in ihrer Wirkung, soweit sie überhaupt noch systematisch durchführbar sind, sehr begrenzt zu sein. Allerdings gibt es gut bestätigte empirische Hinweise dahingehend, dass Trainings in Frühstadien der Erkrankung einen gewissen hinauszögernden Effekt besitzen, d. h. die geistige Leistungsfähigkeit sowie die Alltagskompetenz scheinen auf diesem Wege länger erhalten zu bleiben (Schwenk et al. 2010). Besonders wichtig erscheinen ferner Kombinationen von Trainingsprogrammen, die durch das gleichzeitige Angebot von Übungsprogrammen, die an unterschiedlichen Funktionssystemen des alternden Menschen ansetzen, zu überadditiven Effekten führen könnten. Eine der bislang wichtigsten Studien in diesem Bereich ist die in Finnland durchgeführte FINGER-Studie (Finnish Geriatric Intervention Study to Prevent Cognitive Impairment and Disability). Die Interventionsgruppe erhielt eine Ernährungsberatung sowie körperliches und kognitives Training, die Kontrollgruppe nur eine allgemeine Gesundheitsberatung. Die kognitive Leistung der Interventionsgruppe war auch nach zwei Jahren noch deutlich höher als jene der Kontrollgruppe (Ngandu et al. 2015). 3.2
Psychotherapie
Aus tiefenpsychologischer Sicht können auch alte Menschen noch an ungelösten innerpsychischen Konflikten, pathologischen Beziehungserfahrungen und Traumatisierungen leiden und unterscheiden sich so nicht von jüngeren (Heuft et al. 2000). Die klassische Verhaltenstherapie versucht demgegenüber eine Veränderung beobachtbaren Verhaltens durch spezielle Übungsprogramme zu erreichen. Die kognitive Verhaltenstherapie zielt auf eine Veränderung kognitiver Strukturen, wie Gedanken, Einstellungen, Bewertungen, die Verhalten und Erleben entscheidend beeinflussen. Psychotherapien werden bei psychischen und psychosomatischen Störungen (z. B. Depressionen, Ängsten, Somatisierungsstörungen) durchgeführt, und die Wirksamkeit dieser Behandlungen ist, auch für Ältere, recht eindeutig belegt (Pinquart und Sörensen 2015). Dennoch gehen Expert/-innen von einer massiven Unterversorgung älterer Menschen im Bereich Psychotherapie aus. Einem geschätzten psychotherapeutischen Behandlungsbedarf von etwa 10 % steht eine reale Inanspruchnahme von höchstens 1 – 2 % gegenüber.
4
Resümee
Ergebnisse der psychologischen Gerontologie unterstreichen die Bedeutung einer differenzierten Sicht von Alter und Altern, welche weder in überzogener Weise po-
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sitiv noch negativ getönt ist. Sie unterstützen auf vielfältige Weise die Stärken älterer Menschen bzw. substanzieller Teilgruppen derselben, ohne die Schwächen von ebenso bedeutsamen Teilgruppen zu vernachlässigen. So wissen wir, dass die alterskorrelierten Verluste im Bereich der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit im Alltag lange Zeit weitgehend und oftmals im sozialen Miteinander kompensiert werden. Auch bei Selbstständigkeitsrisiken greifen Ältere zu vielfältigen und kreativen Formen der Kompensation, um sich ein relatives Höchstmaß an Kompetenz zu bewahren. Ebenso scheinen im Bereich des subjektiven Wohlbefindens und der Bewahrung einer positiven Emotionalität viele ältere Menschen über eine erstaunliche Widerstandskraft zu verfügen, wenn bedrohliche Ereignisse wie schwere chronische Erkrankungen oder der Tod von Angehörigen eintreten. In Bezug auf soziale Beziehungen zeigen neuere Befunde ebenso die Zielgerichtetheit und Proaktivität von Älteren, sogar von Hochaltrigen, in der Sicherstellung ihrer sozial emotionalen Bedürfnisse. Die Schattenseiten von Alter und Altern häufen sich demgegenüber dann, wenn Menschen vom Dritten ins Vierte Alter jenseits von 80 bis 85 Jahren übergehen. Wahrscheinlich wird es angesichts der zukünftig weiter zu erwartenden Steigerung auch der fernen Lebenserwartung noch viel stärker der Fall sein, dass der Übergang von einem aktiven Dritten Alter, das wahrscheinlich zunehmend eher als Periode des mittleren Erwachsenenalters, nicht des Alters betrachtet werden wird, in ein verletzliches Viertes Alter zu einer der großen und schwierigen Herausforderungen werden wird (Wahl und Heyl 2008). Hier liegen sowohl für die einzelne Person als auch für die Gesellschaft neue Herausforderungen, zu deren Bewältigung Befunde der psychologischen Alternsforschung einen gewichtigen Beitrag leisten können (Wahl und Schilling 2018).
Weiterführende Literatur Elsässer, Valerie, Martina Miche und Hans-Werner Wahl. 2017. Psychologische Aspekte des Alterns. In Ethik in den Biowissenschaften – Sachstandsberichte des DRZE D. Hrsg. Sturma, Dieter, und Dirk Lanzerath, 59 – 105. Freiburg und München: Karl Alber. Wahl, Hans-Werner 2017. Die neue Psychologie des Alterns. Überraschende Erkenntnisse über unsere längste Lebensphase. München: Kösel (Random House). Wahl, Hans-Werner und Vera Heyl. 2015. Gerontologie: Einführung und Geschichte. 2. völlig überarbeitete Auflage. Stuttgart: Kohlhammer.
Kulturwissenschaftliche Alternsstudien Miriam Haller und Thomas Küpper
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Alter als kulturelles Konstrukt – Kulturwissenschaftliche Alternsstudien
In den letzten Jahrzehnten hat die verstärkte Beschäftigung mit dem Kulturbegriff in den Wissenschaften eine breite interdisziplinäre Auseinandersetzung sowie die kulturwissenschaftliche Wende weiter Teile der Geisteswissenschaften bewirkt. Dabei wird der Kulturbegriff sehr unterschiedlich verwendet. Begriffsgeschichtlich begründet, schwanken die Konnotationen zwischen einer Betonung der Prozesshaftigkeit von Kultur als Pflege, Weitergabe, Erziehung und Bildung einerseits und einer stärkeren Akzentuierung des Produktcharakters von Kultur andererseits, wobei Kultur entweder im Sinne eines erreichten Status bzw. Habitus oder im Sinne von Manifestationen menschlicher Anstrengung in Gesellschaft, Wissenschaften und Künsten verstanden wird (vgl. Williams 1957, S. 29). Will man diese beiden Akzentuierungen zusammenfassen, werden Kulturen als „Zeichen- und Symbolsysteme konzipiert, deren symbolische Ordnungen, kulturelle Codes und Wertehierarchien sich in kulturspezifischen Praktiken und Sinnstiftungsprozessen manifestieren“ (Sommer 2005, S. 113). In Relation zum Begriff des Sozialen wird Kultur als „Textur des Sozialen“ verstanden, als „Transfervorgang […], der das Soziale ins Symbolische ‚übersetzt‘ und ihm dieserart eine Textur aufprägt, d. h. dem Gewebe des Sozialen lebensweltliche Bedeutungen aufprägt“ (Musner 2004, S. 82). Die kulturwissenschaftliche Wende, u. a. bedingt durch die Infragestellung und Transformation des Geistbegriffs (vgl. Frühwald et al. 1991), bringt mit sich, dass neben den genuinen geisteswissenschaftlichen Gegenstandsbereichen Sprache und Schrift verstärkt auch performative Praktiken oder allgemeiner: die kulturellen Inszenierungen von Geschlecht, sozialer Schicht und ethnischer Zugehörigkeit mit ihren jeweiligen Praktiken der In- und Exklusion zu Forschungsgegenständen werden. Von daher erklärt sich auch das verstärkte kulturwissenschaftliche Interesse an gegenwär© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_53
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tigen und populären kulturellen Phänomenen, das die epilogische, auf Hochkultur konzentrierte Ausrichtung der Geisteswissenschaften abgelöst hat. Trotz der aktuellen Inflation der Alters- und Generationendiskurse, in denen immer häufiger von der notwendigen Entwicklung einer neuen Alterskultur (Lehr 2005; Fangerau et al. 2007; IFG 2007) gesprochen wird, besteht noch erheblicher Forschungsbedarf hinsichtlich der symbolischen Ordnungen und kulturellen Praktiken von „doing age“ (Schroeter 2008) bzw. „undoing age“ (Haller 2010b). Theoretische Konzepte aus dem Kontext von Strukturalismus, Poststrukturalismus und Systemtheorie, die in den Kulturwissenschaften sowie den Cultural Studies (zur Unterscheidung vgl. Gerbel und Musner 2002; Friese 2004; Assmann 2006) breit rezipiert werden und deren Rezeption im deutschsprachigen Raum seit den 1990er Jahren sogar maßgebliche Voraussetzung für die kulturwissenschaftliche Wende der Geisteswissenschaften ist (vgl. Bachmann-Medick 2006), lassen auch in den Alternswissenschaften neue Blickwinkel und anregende Anstöße für die Theoriebildung erwarten. Im Bereich der multidisziplinären Gerontologie eröffnen kulturwissenschaftlich ausgerichtete Alternsstudien neue Perspektiven. Das zeigen die Aging Studies, die im anglophonen Wissenschaftsraum schon auf eine längere Tradition zurückblicken können; als Plattformen des Austauschs haben sich unter anderem das „European Network in Aging Studies“ (ENAS) sowie das „North American Network in Aging Studies“ (NANAS) eingerichtet, auch Zeitschriften wie das „Journal of Aging Studies“ (JAS), das „International Journal of Ageing and Later Life“ (IJAL), „Age, Culture, Humanities“ und nicht zuletzt „Medien & Altern – Zeitschrift für Forschung und Praxis“ tragen dazu bei. Überblicke über maßgebliche Ansätze und weiterführende englischsprachige Literatur werden vermittelt durch das „Handbook of the Humanities and Aging“ (Cole et al. 2000), den Band „Ageing, Media, and Culture“ (Harrington et al. 2014) sowie das „Routledge Handbook of Cultural Gerontology“ (Twigg und Martin 2015). Im deutschsprachigen Raum sind kulturwissenschaftliche Alternsstudien durch Graduiertenkollegs und weitere Initiativprojekte (wie etwa „Alter(n) als kulturelle Konzeption und Praxis“, Düsseldorf, oder das DFG-Netzwerk „Material Gerontolo gy“) auf den Weg gebracht worden, aber dauerhafte Institutionalisierungen stehen großenteils noch aus. Aus den Initiativen ist eine facettenreiche Forschungsliteratur hervorgegangen. Einige konzeptionell markante kulturwissenschaftliche Ansätze von Alternsstudien werden im Folgenden perspektivisch aufgefächert vorgestellt. Im Kontext des Handbuchs haben wir außerdem den Grad ihrer Anschlussfähigkeit an die Disziplin Soziale Arbeit sowie ihr Potenzial für eine kritische (Selbst-)Reflexion der Gerontologie zum Auswahlkriterium gemacht. Zentral für die Selbstreflexion Sozialer Altenarbeit und die sie leitende Konstruktion ihrer Adressat/-innen ist die Frage nach den expliziten und impliziten Altersbildern, die die professionelle Praxis, die wissenschaftliche Forschung, die Sozialpolitik sowie die Selbstkonstruktionen von Senior/-innen bestimmen (vgl. Zeman 1996; Amrhein und Backes 2007; BMFSFJ 2010; Berner et al. 2012a, 2012b; Haller 2015). Die Altersbild-Forschung orientiert sich zu einem großen Teil, sowohl in ihrer Quellen-
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auswahl als auch in ihren Fragestellungen, an den disziplinären Standards der Sozialpsychologie, der kognitiven Psychologie und der Soziologie; häufig liegt der Schwerpunkt in Vorurteils- bzw. Stereotypenforschung und der Fokus wird auf die Differenz zwischen Selbst- und Fremdbild gerichtet (vgl. Tews 1991; Filipp und Mayer 1999; Schmitt 2004). Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive lassen sich bei einigen dieser Ansätze fragwürdige Engführungen feststellen, vor allem, wenn „das Polarisierungs-Konzept des Alters […] nicht Gegenstand, sondern Grundlage der Analyse“ (Göckenjan 2000, S. 17) ist. Als eine Möglichkeit, eben jene hierarchisierenden dualistischen Polarisierungen durch Altersbilder zu untersuchen und zu problematisieren, stellt sich das Konzept der Ambivalenz heraus (Casado Gual 2015; Küpper 2016d; Lüscher und Haller 2016; Richter 2016). Kampmann (2010a, 2015a) weist zudem darauf hin, dass Altersbilder auch in ihrer medialen Struktur als Bilder zum Gegenstand gemacht werden müssen; zu fragen wäre also im wörtlichen Sinne nach den Bildern vom Alter in der visuellen Kultur. Gegenstände kulturwissenschaftlicher Alternsstudien sind damit die Praktiken, Medien und Diskurse, in denen Alter(n) kulturell konstruiert und bewertet wird. Alter(n) wird aus kulturwissenschaftlicher Perspektive nicht als unvermittelt gegebene Lebenstatsache betrachtet; vielmehr fokussieren kulturwissenschaftliche Analysen auf die Performativität, Materialität, Medialität und Diskursivität der Alter(n)skulturen in unterschiedlichen Manifestationen, wie z. B. in Literatur, Film, Fernsehen, Theater, Musik und Tanz, im bildkünstlerischen Bereich oder in Architektur und Städtebau.
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Gender Studies und Aging Studies
Bereits de Beauvoir (1970), die man mit einigem Recht als Begründerin der kulturwissenschaftlichen Alternsstudien ansehen kann, hat nahegelegt, Verschränkungen der Kategorien Alter und Geschlecht in den Blick zu nehmen. Wie produktiv an der Schnittstelle dieser Begriffe kulturwissenschaftliche Forschungen anknüpfen können, zeigen beispielhaft die Sammelbände des Greifswalder Forschungskollegs „Alter – Geschlecht – Gesellschaft“ (Hartung 2005; Hartung et al. 2007). Dort finden sich kulturwissenschaftliche Analysen der Relation von Alter und Geschlecht in literarischen Texten, im bildkünstlerischen Bereich, in der Werbung und in der Medizingeschichte sowie Ansätze zur Implementierung theoretischer Konzepte der Gender Studies in die Alternsstudien (vgl. Haller 2005). Einsichten in die wissenschaftspolitische und wissenschaftshistorische Entwicklung der Gender Studies sind für die Eta blierung von Aging Studies als Cultural Studies (vgl. Gullette 2000) wie auch für die Etablierung von transdisziplinären Alternsstudien (vgl. Ferring et al. 2008) von nicht zu unterschätzendem heuristischen Wert, weil beide Ansätze ihren Untersuchungsgegenstand erst als kulturelles Konstrukt sichtbar machen müssen (vgl. Maierhofer 2003, S. 26; Küpper 2010a; Cruikshank 2013, S. 207; Marshall 2015). Produktiv anschlussfähig für die Soziale Altenarbeit im Bereich von Gesundheit und Pflege er-
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Miriam Haller und Thomas Küpper
scheinen beispielsweise Twiggs „Bathing studies“ (Twigg 2000), die auf der Folie von Körpertheorien aus den kulturwissenschaftlichen Gender Studies den pflegerischen Umgang mit dem alten Körper und die biopolitischen Aspekte dieser Körperarbeit untersuchen (vgl. auch Twigg 2004).
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Postkoloniale Ansätze in Alternsstudien
Theorien der Postcolonial Studies bieten kulturwissenschaftlichen Alternsstudien ebenfalls viele Inspirationen, vor allem da in beiden Bereichen Konzeptionen von Andersheit und Fremdheit von Bedeutung sind (Kunow 2005; Freiburg und Kretzschmar 2012, S. 9; Süwolto 2016, S. 26; eine kritische Diskussion unterschiedlicher Ansätze findet sich bei Kunow 2016). Zimmermann weist darauf hin, dass Postcolonial und Aging Studies sogar gemeinsame Wurzeln haben, insbesondere nämlich in Sartres Phänomenologie des Anderen (Zimmermann 2016). H. Hartung (2016) macht für die Aging Studies Saids Auffassung produktiv, dass künstlerische Spätwerke als eine Art von Exil gesehen werden können. Van Dyk (2016) betrachtet anhand postkolonialer Konzepte von Othering die gesellschaftlich einflussreiche Unterscheidung zwischen jungen Alten und alten Alten (vgl. Pichler i. d. B.). Zudem lässt sich Bhabhas Begriff der Mimikry dazu verwenden, das Verhältnis von jungen Alten zum mittleren Erwachsenenalter zu beschreiben: Nach gesellschaftlichen Vorgaben sollen die jungen Alten noch in Maßen produktiv, fit und aktiv sein und sich insoweit, halbwegs, an Normen des mittleren Alters orientieren; zugleich aber werden deutliche Abgrenzungslinien zwischen mittlerem Alter und jungen Alten gezogen, sodass die Letzteren nur fast denselben Status wie das mittlere Alter erlangen können, aber nicht ganz. Durch diese für Mimikry kennzeichnende Ambivalenz von Annäherung und Abweichung können sich – gewollt oder nicht – parodistische Verzerrungen von Vorbildern des mittleren Alters ergeben (Küpper 2016a; Küpper 2016b; Küpper 2016c). Die Debatten, die durch solche postkolonialen Ansätze in Aging Studies angestoßen werden, sind erst in den letzten Jahren in Gang gekommen.
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Kulturgeschichte und Ethnografie des Alters. Alter im historischen und interkulturellen Vergleich
Kulturgeschichtliche und ethnografische Forschungen führen vor Augen, in welchem Maß Definitionen und Bewertungen des Alters von gesellschaftlichen Kontexten abhängen und wie verschieden sie sich somit ausprägen (Elwert und Kohli 1990, S. 4): Als kulturell relativ erweisen sich sowohl die vermeintlich natürlichen Einteilungen des Lebens in Phasen, wie Jugend und Alter, als auch die Normen für altersgemäßes Verhalten, zum Beispiel in Bezug auf Sexualität (Rosenmayr 1995, S. 88 f.). Zugleich berichtigen die Untersuchungen verbreitete, klischeehafte Vorstellungen von
Kulturwissenschaftliche Alternsstudien
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früheren ‚goldenen Zeitaltern‘ oder ‚intakten Gesellschaften‘, in denen die Alten geehrt und als Autoritäten hoch geachtet wären (Conrad und von Kondratowitz 1993, S. 3). Gegen Idealisierungen der vorindustriellen Vergangenheit, in der Alt und Jung vermeintlich perfekt harmonierten, sind nach Borscheid „die Historiker aufgerufen richtigzustellen und die konkrete Lebenslage der alten Menschen in früheren Gesellschaften […] zu rekonstruieren“ (Borscheid 1989, S. 10). Borscheid (ebd., S. 11) zeichnet in seiner vielbeachteten „Geschichte des Alters“ nach, wie sich der soziale Status und das Prestige alter Menschen epochal gewandelt haben. Der Versuch, historische Phasen der Hoch- bzw. Geringschätzung des Alters voneinander abzugrenzen, ist allerdings mit Problemen verbunden: Zum einen stellt sich heraus, wie heterogen die Urteile über das Alter in den jeweiligen Epochen sind, sodass nicht von Wert- und Normsetzungen ausgegangen werden kann, die zu einer Zeit allgemeingültig wären. Alterslob und Altersspott lösen nicht periodisch einander ab, sondern finden sich nebeneinander (vgl. auch Ehmer 1990, S. 16; Gestrich 2004, S. 64; Herrmann-Otto 2004a, S. 3). Zum anderen bleibt zu fragen, in welchem Verhältnis die verfügbaren Quellen – etwa Kunstwerke, philosophische Texte, medizinische Abhandlungen (dazu Engelhardt 1995; Schäfer 2004), religiöse Schriften – zur konkreten Lebenslage alter Menschen der betreffenden Zeit stehen (Ehmer 1990, S. 16). Wenn literarische Texte sich z. B. dem Programm verschreiben, Wirkliches zu verklären und zu idealisieren, kann von ihnen kaum erwartet werden, dass sie die Situation von Alten in der Gesellschaft getreu spiegeln. Ablesbar wird an solchen Kunstwerken möglicherweise vielmehr ihre Art, mit Genre-Elementen zu spielen. Dennoch lassen sich Kunstwerke nicht aus der Kulturgeschichte des Alters wegdenken; schließlich sind sie als Kommunikationen Teil des sozialen Geschehens. Entsprechend versuchen kulturgeschichtliche Arbeiten nicht nur die sozialen Verhältnisse von kalendarisch alten Menschen zu rekonstruieren, sondern auch die Altersbilder, die sich unter anderem in der Kunst manifestieren (z. B. Thane 2005a; Kampmann 2010b; Baro 2015; Kampmann 2015b). Gerade text- und bildwissenschaftliche Ansätze können einen Beitrag dazu leisten, die jeweils gattungsspezifische oder auch rhetorische Konzeption solcher Altersbilder zu analysieren und im Hinblick auf ihre politischen Funktionalisierungen kritisch zu hinterfragen (vgl. Pichler i. d. B.).
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Literatur- und bildwissenschaftliche Altersstudien. Topos- und Stereotypenforschung
Mit dem Instrumentarium der kunst-, medien-, kultur- und literaturwissenschaftlichen Disziplinen lassen sich gesellschaftliche Konstruktionen des Alters daraufhin befragen, in welchen Darstellungstraditionen sie stehen und welche Alterstopoi und -stereotype sie aufgreifen. Gnilka (1971; im Anschluss Göckenjan 2000; vgl. auch Göckenjan i. d. B.) unterscheidet vier Alterstopoi der antiken Überlieferung: Alterslob, Altersspott, Alterstrost und Altersklage. Berücksichtigt man, dass noch in der Mo-
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Miriam Haller und Thomas Küpper
derne derartige Schemata der Auf- oder Abwertung des Alters zur Verfügung stehen, lassen sich Bilder und Texte auf ihre bereits konstruierten Vor-Bilder zurückführen, anstatt geradewegs von einer ‚authentischen‘ Alterserfahrung oder von einem Zeugnis realer Lebenslagen auszugehen. Insbesondere auch in der wissenschaftlichen Arbeit mit Seniorstudierenden kann auf diese Weise analytische Distanz zu verbreiteten Redeweisen über das Alter hergestellt werden (vgl. Literarische Alter(n)s- und Generationenbilder 2018). Die Muster, in denen Literatur vom Altern erzählt, sind zum Beispiel nicht loszulösen von Gattungstraditionen wie der des Bildungs- oder des Reifungsromans (Haller 2009; Hartung 2015). Auch mit Thematisierungen von Weisheit etwa kann sich Literatur auf sich selbst beziehen, auf den eigenen Status als Erinnerungsinstanz und den Nutzen (oder auch die Zwecklosigkeit) des Erzählens (Gunreben 2016, S. 13). Entsprechend ist es zwar nicht möglich, Altersbilder der Kunst und Literatur unmittelbar auf die außerkünstlerische Wirklichkeit zu projizieren, doch lassen sie sich zumindest als Beiträge zu Altersdiskursen lesen, die in der Gesellschaft wirkungsmächtig sind. Daher lohnt es sich beispielsweise, nach dem historischen Wandel von Bildern der ‚alten Frau‘ zu fragen (Maierhofer 2003; Haller 2005; Worsfold 2005; Pott 2008, S. 136 ff.; Seidler 2010, S. 81 ff.; Swinnen 2012; Hülsen-Esch 2014) und unter anderem Schilderungen von Liebe und Sexualität zu berücksichtigen (Jung 2005; Seidler 2007; Vahsen 2007; Herwig 2009a; Küpper 2010b, S. 63 ff.; Hartung 2011; Herwig 2014a; Marshall und Swinnen 2014; Seidler 2014; Dackweiler und Styn 2015; Hartung, A. 2016; Strauß und Philipp 2017, S. 181 ff.). Die gesellschaftliche bzw. politische Relevanz literarischer und filmischer Alter(n)sdarstellungen wird in vielen einschlägigen Arbeiten zum Thema. Herwig (2016a) beispielsweise untersucht, wie in Spielfilmen Umgangsweisen mit Demenz erprobt werden und stellt die sozialpolitische Bedeutung der Filme heraus. Unter solchen Aspekten lassen sich auch Ausstellungen zum Alter(n) in der Kunst betrachten – schließlich verschaffen diese Ausstellungen Fragen nach neuen Alterskulturen Aufmerksamkeit und geben laufenden öffentlichen Debatten darüber Impulse, nicht zuletzt mit den jeweiligen Katalogen (z. B. „Altersbildnisse in der abendländischen Skulptur“ 1996; „Die Macht des Alters“ 1998; „Späte Freiheiten“ 2000; „!Alterskultur ?“ 2003; „Zum Sterben schön“ 2006; „Die Kunst des Alterns“ 2008; „Faltenreich“ 2009; „Ages“ 2013) und mit intergenerationellen Konzepten („Hey Alter … !“ 2013). Das öffentliche Interesse richtet sich nicht nur auf das Altern als Motiv der Kunst, sondern auch auf das Altern von Künstler/-innen selbst, ähnlich wie auf das von Musiker/-innen (Kleiner 2012; Wilke 2013). Künstlerinnen etwa rücken als Beispiele für weibliche Kreativität des Dritten Lebensalters in den Blick (Gagel 2008; zur Kreativität des Alters in der Kunst und Spätstilen vgl. auch Baumann 1981; Raupp 1993; Wyatt-Brown 2000; Schonlau 2007; Zanetti 2012; Swinnen 2017). Die Auseinandersetzung mit Altersbildern der Kunst ist nicht zuletzt für die ger agogische Praxis relevant: Künstlerische Altersdarstellungen lassen sich in der Ger agogik dazu heranziehen, eine Konfrontation mit fremden Biografien zu ermöglichen als Diskussionsanregung zur Aufarbeitung der eigenen Biografie (Ullrich 1999).
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Kulturwissenschaftliche Konzepte von Gedächtnis und Erinnerung
Nicht nur in der Biografiearbeit (Aner und Richter 2018) sind Gedächtnis und Erinnerung ein zentrales Thema, sondern auch für Kulturwissenschaften: Sowohl der Wert von Erinnerung für den Einzelnen steht im Blickpunkt als auch der Wert für die Kultur in ihrer Gesamtheit. Konzepte von kulturellem Gedächtnis sind grundlegend für Kulturwissenschaften: Das Augenmerk richtet sich auf Zusammenhänge „zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis, zwischen mentalen Prozessen und materiellen Objekten, zwischen Kulturen und Individuen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart und, nicht zuletzt, zwischen Erinnern und Vergessen“ (Assmann 2002, S. 42).
Die Frage, was die Erfahrung des Alters in der Gesellschaft zählt, gehört zu diesem Themenkomplex (Assmann 1991). Entsprechend kann etwa im Rahmen einer kulturwissenschaftlichen Narratologie untersucht werden, welche Autorität einer Erzählinstanz zukommt, deren Stimme als alt markiert ist – ein Vorbild für solche Forschungen ist die feministische Narratologie, die auf die Bedeutung der Geschlechterdifferenz für die Autorität von Erzählinstanzen hinweist (vgl. Lanser 1992; Allrath und Gymnich 2002; Neumann 2005, S. 161 ff.). Nicht zuletzt stellt sich die Frage, anhand welcher Erzählmuster Alternsprozesse und Lebensläufe – beispielsweise in (Auto-)Biografien – entworfen werden und wie Altersphasen dabei jeweils voneinander abgetrennt und definiert werden (Hartung und Maierhofer 2009; Haller 2010a; Kriebernegg und Maierhofer 2013).
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Mediennutzung und Kommunikation im Alter
Neben der Produktion kultureller Alterskonstruktionen stehen auch die Rezeptionsprozesse und die Mediennutzung durch Ältere im Fokus kulturwissenschaftlicher Alternsforschung. Empirische Studien aus der Psychologie, der Mediengeragogik und Sozialpädagogik, aber auch aus dem Bereich der Literatur-, Medien-, Sprachund Kommunikationswissenschaften analysieren die Funktionen des Lesens im Alter (Wittkämper 2006) und allgemeiner die Spezifika der Mediennutzung im Alter (Schön 2004; Klingler 2005; Schorb et al. 2009; Claßen et al. 2014, S. 110 ff.; Doh 2015; Seifert und Doh 2016; König et al. 2018). Sprach- und kommunikationswissenschaftlich werden zudem auch die kommunikativen Konstruktionen von Altersidentität (Fiehler 2001; Rossow und Koll-Stobbe 2015) und die Auswirkungen des Alters auf das Kommunikationsverhalten sowie auf linguistische Kompetenzen untersucht (Fiehler und Thimm 1998; Thimm 2000) – Analysen, die für alle Felder der Sozialen Arbeit mit älteren und alten Menschen von Belang sein dürften.
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Miriam Haller und Thomas Küpper
Transdisziplinäre Alternsstudien
Kulturwissenschaftliche Studien sind grundsätzlich interdisziplinär, bisweilen auch transdisziplinär ausgerichtet. Dieser Ansatz kann sie mit der Wissenschaft der Sozialen Arbeit verbinden, für die Transdisziplinarität ebenfalls von zentraler Bedeutung ist (vgl. Wendt 2003; Büchner 2012). Auch im Bereich der Alternswissenschaften wird das Forschungsprinzip der Transdisziplinarität als vielversprechende Zukunftsperspektive angesehen (Mittelstraß et al. 1992; Amann 2008; Karl, F. 2008; Breinbauer et al. 2010; Afzali 2013). Die Kulturwissenschaftliche Forschungsgruppe Demographischer Wandel (kfdw) beispielsweise vertrat einen transdisziplinären Forschungsansatz (vgl. IFG 2004; IFG 2007; Ferring et al. 2008). In enger Kooperation mit dem „Centrum für Alternsstudien“/„Center for Aging Studies“ der Universität zu Köln verfolgte sie ein Forschungsprogramm, das gesellschaftliche Akteure und insbesondere Initiativen von Senior/-innen partizipativ in den Forschungsprozess einbindet. Diese Versuche greifen den Ansatz des „Birmingham Centre for Contemporary Cultural Studies“ (CCCS) auf, in dem die Cultural Studies eng mit Erwachsenenbildung verschränkt waren (vgl. Haller 2007; Marchart 2008, S. 26 ff.; Haller 2010b, S. 232 ff.). Ein weiteres Beispiel für die transdisziplinäre Vernetzung und Bündelung von Kompetenzen kulturwissenschaftlicher Aging Studies mit Kulturgeragogik, kultureller Bildung und Sozialer Arbeit ist „kubia – das Kompetenzzentrum für kulturelle Bildung im Alter und Inklusion“. Auch vor diesem Hintergrund können kulturwissenschaftliche Alternsstudien neue Perspektiven für die Soziale Arbeit mit älteren und alten Menschen und für die Geragogik eröffnen.
Ausgewählte Literatur Twigg, Julia, und Wendy Martin. Hrsg. 2015. Routledge Handbook of Cultural Gerontology. London: Routledge. Breinbauer, Ines M., Dieter Ferring, Miriam Haller und Hartmut Meyer-Wolters. Hrsg. 2010. Transdisziplinäre Alternsstudien. Gegenstände und Methoden. Würzburg: Königshausen und Neumann. Herwig, Henriette, und Andrea von Hülsen-Esch. Hrsg. 2016. Alte im Film und auf der Bühne. Neue Altersbilder und Altersrollen in den darstellenden Künsten. Bielefeld: transcript.
Alter und Recht Gerhard Igl
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Befassung mit dem Thema Alter und Recht in der Bundesrepublik Deutschland
Das Thema Alter und Recht ist in der Bundesrepublik Deutschland erst spät zu einem Gegenstand inhaltlicher, politischer und wissenschaftlicher Befassung geworden. Einen breit angelegten Überblick über die Entwicklung der Altenpolitik und des Niederschlags dieser Entwicklung im Recht liefern die Beiträge zur Altenpolitik in den Bänden zur Geschichte der Sozialpolitik Deutschlands seit 1945 (Münch 2001, 2005a, 2005b, 2006, 2007, 2008; Gerlach 2007; zur Geschichte des Rechts der Älteren vgl. auch Ruppert 2013; Hammerschmidt und Löffler sowie Hammerschmidt und Tennstedt i. d. B.). In den Anfängen der Nachkriegsrepublik wurde das Alter rechtlich vor allem auf drei Gebieten diskutiert: Zuerst ging es um die finanzielle Situation im Alter. Diese Diskussion fand im Zusammenhang mit der Rentenversicherung statt. Daraus resultierte dann 1957 die erste große Rentenreform der Republik, mit der von einer fürsorgeorientierten Alterssicherung Abschied genommen und eine arbeitsleistungsbezogene und dynamisierte, d. h. an die Entwicklung der Arbeitslöhne angepasste Rentenversicherung eingerichtet wurde. Im Zuge dieser Diskussion wurde die Situation älterer Menschen auch unter fürsorgerischen und individuellen Gesichtspunkten reflektiert. Diese Diskussion fand im Zusammenhang mit der Reform des Fürsorgerechts statt. So wurde in das Bundessozialhilfegesetz von 1961 eine Vorschrift zur Altenhilfe aufgenommen (§ 75 BSHG), die bis heute die einzige Rechtsvorschrift im deutschen Bundesrecht ist, die neben den Renten wegen Alters explizit Belange älterer Menschen zum Gegenstand hat (jetzt § 71 SGB XII). Einen rechtlichen Altersbezug hatte schließlich auch die 1974 initiierte Heimgesetzgebung. Deren Anliegen war es, „das leibliche, geistige und seelische Wohl“ von älteren Menschen in Alten© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_54
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Gerhard Igl
heimen, Altenwohnheimen und Pflegeheimen zu schützen (Igl und Sulmann 2017).1 Diese Bundesgesetzgebung ist im Zuge der Föderalismusreform ab 2006 in die Gesetzgebungskompetenz der Länder gefallen, die mittlerweile alle über entsprechende Gesetze verfügen (zur Geschichte des HeimG vgl. Dahlem et al. 2009 ff.). Die Tatsache, dass sich auf Bundesebene bis heute kaum Gesetze finden, die sich explizit und nur mit dem Alter befassen, ist darauf zurückzuführen, dass dem Bund keine Gesetzgebungskompetenz speziell für Angelegenheiten des Alters zusteht. Vielmehr sind es bis heute die Länder und die Kommunen, die hierfür zuständig sind. Wie schwierig es war, dem Bund eine Gesetzgebungskompetenz zu verschaffen, in der es zwar nicht explizit um die Belange älterer Menschen ging, sondern um besonderes Gesundheitspersonal, das sich mit der Pflege älterer Menschen befassen soll, haben die Debatten um die Einführung eines Gesetzes über die Berufe in der Altenpflege2 gezeigt. Allerdings ging es hier um die spezielle verfassungsrechtliche Frage, ob diese Berufe als Heilberufe zu verstehen sind. Die politische Sensibilisierung für das Thema Alter und Recht hat auch dann zugenommen, als erstmals ein Bundesministerium für Senior/-innen errichtet worden ist (Bundesministerium für Familie und Senioren, 1991). Schon vorher waren im Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit unter Leitung der Altersforscherin Prof. Dr. Ursula Lehr (1988 – 1991) wichtige seniorenpolitische Akzente gesetzt worden (vgl. auch Aner in Kap. I.1 i. d. B.). Ursula Lehr hat damals im Ministerium den Auftrag erteilt zu eruieren, welche Altersgrenzen im Recht existieren (Büsges 1990). Ihr ist es auch zu verdanken, dass das Thema Alter und Recht in der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie Aufnahme gefunden hat (vgl. Igl 1990). Es war dann der Rechtswissenschaft vorbehalten, das Thema Alter und Recht weiter zu durchdringen, wobei bis heute festzustellen ist, dass dieses Thema nach wie vor eher randständig ist. Anders als in den USA hat sich in der Bundesrepublik Deutschland kein „Elder Law“ entwickeln können (Igl und Klie 2007a, S. 18). Die Schwierigkeiten, das Thema Alter und Recht wissenschaftlich in den Griff zu bekommen, zeigt der Titel eines Festschriftbeitrages aus dem Jahr 1993 (Igl 1993). Trotzdem hat sich das Thema, wenn auch langsam und mühsam, seinen Weg gebahnt (Becker 2004). Im Jahr 2007 wurde der Versuch unternommen, erstmals einen Reader zu diesem Thema zusammenzustellen (Igl und Klie 2007b). Zwischenzeitlich hat insbesondere das Thema der Altersgrenzen im Recht (vgl. u. a. Nussberger 2002; Lenz et al. 2006; Mann 2007; Igl 2010, 2013a) und insbesondere im Arbeitsrecht (vgl. umfassend Temming 2008), auch aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (vgl. ebd.) und
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§ 2 des Gesetzes über Altenheime, Altenwohnheime und Pflegeheime für Volljährige (Heimgesetz – HeimG) vom 7. August 1974, BGBl. I S. 1873. 2 Gesetz über die Berufe in der Altenpflege (Altenpflegegesetz – AltPflG). Zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24. 10. 2002, Az: 2 BvF 1/01 siehe Igl 2017, S. 151 ff.
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dort vor allem unter Altersdiskriminierungsaspekten (vgl. z. B. Müller 2011), vielfache rechtswissenschaftliche Erörterung erfahren. Eine Zusammenfassung der wissenschaftlichen Befassung findet sich in einem Handbuch aus dem Jahr 2013, das vorläufig den Abschluss dieser allgemeinen Debatte markiert (Becker und Roth 2013; zur rechtswissenschaftlichen Bearbeitung des Themas Alter und Recht vgl. u. a. Ganner 2005, 2012). Auch die Gerontologie hat das Thema Alter und Recht gebührend berücksichtigt (vgl. Igl 2004; Igl et al. 2017).
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Besonderheiten und Charakteristika des Themas Alter und Recht
In der Bundesrepublik Deutschland gibt es kein Rechtsgebiet ‚Recht der älteren Menschen‘, ‚Altenrecht‘ oder ‚Seniorenrecht‘. Dieser Befund ist in zweierlei Hinsicht erstaunlich, einmal unter dem Blickwinkel der Rechtswirklichkeit, zum anderen im internationalen Vergleich. In der Rechtswirklichkeit und in der Rechtspraxis stellt sich eine Vielzahl von Rechtsfragen, die mit dem Alter zusammenhängen. Es seien nur genannt die Gebiete der Alterssicherung, der rechtlichen Handlungsfähigkeit, der vielfältigen sozialen Hilfen, der Teilhabesicherung und der Altersdiskriminierung. Das Recht, das ältere Menschen betrifft, ist meist nicht ausschließlich an die älteren Menschen gerichtet. Das gilt in der Rentenversicherung, die wesentlich mehr und anderes regelt als lediglich Themen der Altersrenten. Das Betreuungsrecht enthält Schutzvorschriften für alle Menschen mit Behinderungen. Das Heimrecht stellt nicht nur Pflegeheime für ältere Menschen unter eine besondere staatliche Aufsicht, sondern alle Heime für volljährige Menschen mit Behinderungen, in denen eine strukturelle Abhängigkeit der Bewohner/-innen von den Einrichtungen gegeben ist. Die Pflegeversicherung reagiert zwar in besonderer Weise auf typische Bedarfssituationen bei hochbetagten pflegebedürftigen Menschen, sieht aber ebenso Leistungen für pflegebedürftige Kinder schon ab der Geburt vor (§ 15 Abs. 2 SGB XI). Straf- und Strafvollstreckungsrecht sind altersunabhängig ausgestaltet (vgl. dazu Görgen et al. i. d. B.). Das deutsche Verfassungsrecht kennt keinen besonderen Schutz der Rechte des älteren Menschen. Manche Grundrechte haben aber besondere Bedeutung für die Belange älterer Menschen: das Prinzip der Menschenwürde (Art. 1 GG), das gerade gegen Exklusion und unwürdige Lebensbedingungen älterer Menschen Maßstäbe setzt, besonders an deren Lebensende, oder die Freiheitsrechte aus Art. 2 Abs. 1 und 2 GG als Abwehrrechte gegen fürsorgliche Bevormundungen und Einschränkungen und als Schutz vor Zwang durch freiheitsentziehende Maßnahmen (Höfling 2013). Auch das Benachteiligungsverbot für Menschen mit Behinderungen (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG) ist für ältere Menschen von großer Bedeutung, können sich doch alterstypische Einschränkungen der Leistungsfähigkeit und vor allem Pflegebedürftigkeit rechtlich als Behinderung darstellen. Anders als das Grundgesetz kennen einige Landesver-
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fassungen spezifische Regelungen für das Alter bzw. ältere Menschen, die im Wesentlichen programmatische Qualität haben. Sie zielen auf sozialen Schutz, auf Beratung und auf Integration (Igl 2004, S. 595 f.). Der Befund, dass das Recht der älteren Menschen vor allem altersunspezifisches Recht ist, darf nicht zu dem vorschnellen Schluss verführen, dass es keiner Zusammenfassung und synthetischen Durchwirkung dieses Rechts bedürfte. Auch in anderen europäischen und westlichen Ländern ist das Recht der älteren Menschen meist altersunspezifisches Recht. Trotzdem hat sich in den USA, in Kanada und im Vereinigten Königreich ein Bereich des Elder Law entwickelt. Dies geschah auf der Seite der Rechtspraxis wie auf der Seite der Rechtswissenschaft. Vorreiter waren die USA, wo sich vor dem Hintergrund einer aus den siebziger Jahren stammenden Gesetzgebung gegen Altersdiskriminierung das Rechtsgebiet des Elder Law gefestigt hat und zahlreiche Fachzeitschriften und Lehr- und Handbücher auf diesem Gebiet entstanden sind. Auch in Deutschland hat der Deutsche Anwaltverein das Seniorenrecht als Tätigkeitsfeld erschlossen und führt jährlich den Seniorenrechtstag durch.
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Altersbegriffe und rechtliche Verwendung von Altersbegriffen
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Alter in den Sozialwissenschaften
In den Sozialwissenschaften wird Alter als soziale Konstruktion bezeichnet (vgl. dazu die anderen Beiträge zu Teil III i. d. B.). Dafür ist maßgeblich das Lebenslaufregime: Ausbildungs-, Erwerbs- und Ruhestandphase, so wie es häufig ohne Hinweis auf die Familienphase definiert worden ist (Klie 2015; Künemund 2015a). Die soziale Konstruktion besteht dann vor allem darin, Alter mit dem Eintritt in den Ruhestand beginnen zu lassen (Igl 2007). Als weitere Möglichkeiten, Kriterien für die Bestimmung des Alters zu finden, könnten die Selbstwahrnehmung im Sinne einer subjektiven Empfindung, zu den älteren Menschen zu gehören, oder die Erfahrung körperlicher und geistiger Beeinträchtigungen gelten. Eine ganz andere Herangehensweise, das Alter zu bestimmen, wäre von demografischen Elementen geprägt. Den älteren Menschen wären demnach zuzurechnen alle Angehörige eines Geburtsjahrgangs, von dem an ein bestimmter Prozentsatz verstorben ist. Die Wahl dieses Prozentsatzes müsste allerdings wieder politisch bestimmt werden. 3.2
Kalendarisches Alter
Rechtsnormen bedürfen für die Bestimmung ihres personellen Anwendungsbereichs klar zuzuordnender Kriterien. Soll eine bestimmte Rechtsnorm für Menschen eines
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bestimmten Alters gelten, wird deshalb in der Regel auf das Lebensalter im Sinne des kalendarischen Lebensalters abgestellt (Künemund 2015a). Dies ist z. B. in der Gesetzlichen Rentenversicherung der Fall, in der die Regelaltersgrenze für den Bezug der Regelaltersrente künftig mit Vollendung des 67. Lebensjahres erreicht ist (§ 35 SGB VI). 3.3
Alter ohne Nennung eines Alters
Ohne Nennung eines bestimmten Alters kommt die sozialhilferechtliche Vorschrift zur Altenhilfe (§ 71 SGB XII) aus. In dieser Vorschrift heißt es, dass die Altenhilfe dazu beitragen soll, Schwierigkeiten, die durch das Alter entstehen, abzuhelfen. In der Kommentierung zur Ursprungsvorschrift (§ 75 Bundessozialhilfegesetz/BSHG) heißt es, dass zu den alten Menschen alle diejenigen Männer und Frauen zu rechnen seien, bei denen, durch das Alter bedingt, besondere Schwierigkeiten auftreten oder zu befürchten seien oder die Gefahr der Vereinsamung bestehe. Die Kommentierung führt hierzu subjektive Merkmale wie den Zustand der körperlichen und geistigen Kräfte ebenso wie objektive Merkmale des Fehlens eines Anschlusses an eine Familiengemeinschaft oder an einen Kreis sonstiger nahestehender Personen von Bedeutung an (Gottschick und Giese 1985, S. 375 f.). In jüngeren Kommentierungen wird darauf hingewiesen, dass altersbedingte Schwierigkeiten auch in einem früheren Alter einsetzen können, wenn Krankheit oder Behinderung hinzukommen (Grube und Wahrendorf 2014). Bei diesen Definitionen von Alter werden demnach Merkmale eingesetzt, die im Lebenslauf typischerweise verstärkt eintreten können.
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Relevante Rechtsgebiete eines Rechts der älteren Menschen
Die für das Alter relevanten Rechtsgebiete gelten in der Regel nicht nur für ältere Menschen, sondern können für alle Altersgruppen relevant sein. In den meisten rechtlichen Darstellungen zum Thema Alter und Recht (Igl und Klie 2007b; Becker und Roth 2013) werden einige Rechtsgebiete immer wieder besonders herausgestellt. Diese Rechtsgebiete spiegeln Lebensbereiche wieder, in denen ältere Menschen mit besonderen Betroffenheiten konfrontiert sind. 4.1
Selbstbestimmung
Das gilt für den gesamten Bereich der Selbstbestimmung, der durch das Betreuungsrecht markiert wird (Spickhoff 2013; vgl. auch Becker-Schwarze i. d. B.). Hier geht es um die rechtliche Handlungsfähigkeit von körperlich, geistig oder seelisch behinderten Menschen. Mit dem Betreuungsrecht (§§ 1896 bis 1908k BGB) ist ein inter-
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Gerhard Igl
national beachtetes rechtliches Institut geschaffen worden, das dem Wohl und den Wünschen des behinderten älteren Menschen dient, der seine Angelegenheiten nicht mehr selbst besorgen kann. In Abkehr vom stigmatisierend wirkenden Vormundschaftsrecht mit der regelhaften Entmündigung geistig beeinträchtigter älterer Menschen, schützt das Betreuungsrecht in besonderer Weise die Rechte der Betreuten. Es spricht ihnen nicht automatisch ihre Handlungsfähigkeit ab, sondern stellt ihnen einen Beistand zur Seite, den Betreuer/die Betreuerin, der/die nur das Wohl und die Wünsche der betreuten Person als Maßstab für sein/ihr Handeln gelten lassen darf (Klie 2017, S. 276 f.). 4.2
Krankheit und Pflegebedürftigkeit
Krankheit und Pflegebedürftigkeit sind keine altersspezifischen Risiken, es finden sich aber altersspezifische Ausprägungen dieser Risiken. Alter ist typischerweise verbunden mit Multimorbidität und Chronifizierung von Erkrankungen. Die Prävalenzraten der Pflegebedürftigkeit steigen deutlich mit hohem Alter der Person, insbesondere der 80-jährigen und älteren Menschen. Gleichwohl enthält das Leistungsrecht der Kranken- und Pflegeversicherung (vgl. auch Rixen i. d. B.) so gut wie keine spezifischen Leistungen für ältere Patient/-innen, etwa solche, die erst ab einer bestimmten Altersgrenze einsetzen würden. Es sind gerade die Rentner/-innen, die die meisten Gesundheitsleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung in Anspruch nehmen. Die Gesundheitsreformen der letzten Jahre hatten besonders die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung für ältere Menschen im Blick. Aber auch hier wird nicht gezielt auf die älteren Menschen abgestellt. Gesetzliche Rationierungen zu Lasten älterer Menschen kennt das deutsche Krankenversicherungsrecht nicht. Faktisch können aber indirekte Rationierungsmechanismen wirken. So wird eine geria trisch-rehabilitative Medizin trotz des an verschiedenen Stellen des Kranken- und Pflegeversicherungsrechtes niedergelegten Grundsatzes der Prävention und der Rehabilitation vor Pflege nicht konsequent umgesetzt. Die 1994 eingeführte Pflegeversicherung anerkennt Pflegebedürftigkeit als ein allgemeines Risiko, das einer solidarischen Absicherung bedarf. Als erster Sozialversicherungszweig hat sie den Charakter einer Volksversicherung, auch wenn nicht alle Teile der Bevölkerung in ihr geschützt sind. Anders als die gesetzliche Krankenversicherung vermittelt die Pflegeversicherung keinen umfassenden Schutz, was volkstümlich als Teilkaskoversicherungscharakter dieses Versicherungszweiges apostrophiert wird. Die Pflegeleistungen selbst sind gedeckelt; bei vollstationärer Pflege sind Unterkunft und Verpflegung nicht Leistungsbestandteil. Darüber hinaus werden nur Teilleistungen für Teilbedarfe im Zusammenhang mit der Pflegebedürftigkeit abgedeckt. Mit der Einführung eines teilhabeorientierten Pflegebedürftigkeitsbegriffes ist der Kreis der Leistungsbezieher/-innen deutlich erweitert worden (Igl 2018, S. 982; vgl. auch Schmidt sowie Rixen i. d. B.).
Alter und Recht
4.3
609
Alterssicherung
Obwohl die Gesundheitsleistungen im Alter eine zunehmende Bedeutung für den älteren Menschen erlangen, verstehen sich die Schutzbelange im Alter vor allem als Einkommensschutzbelange. Dieser Einkommensschutz wird in Deutschland für die meisten Bürger/-innen in der gesetzlichen Rentenversicherung (SGB VI) gewährleistet. Gleichzeitig stellt der Schutz aus der gesetzlichen Rentenversicherung in der Regel den ökonomisch wichtigsten Schutz dar. Eine betriebliche Altersversorgung und privates Vermögen tragen in der Bundesrepublik immer noch weniger zur individuellen Alterssicherung bei als die gesetzliche Rentenversicherung. In der Geschichte des deutschen Sozialrechts war es nicht selbstverständlich, dass eine öffentliche Pflichtversicherung Leistungen für das Alter vorsieht. Alter wurde zu Zeiten der Bismarckschen Sozialversicherung als typisiertes Invaliditätsrisiko verstanden (Igl 2007). Die Altersgrenze für den Bezug einer Altersrente war das 70. Lebensjahr. In diesem Alter war ein Arbeiter/eine Arbeiterin in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts in der Regel invalide; man konnte ihm/ihr ohne besondere medizinische Prüfung des Gesundheitszustandes eine Rente gewähren. Aus diesem Grunde kennt das deutsche Sozialversicherungsrecht auch keine Altersversicherung als eigenständigen Versicherungszweig, sondern eine Rentenversicherung, in der die Invaliden- und Altersrenten zusammengefasst sind.3 Die Altersgrenze der typisierten Invalidität wurde dann für die Arbeiter/-innen erst 1916 auf 65 Jahre herabgesetzt, während diese Altersgrenze für die Angestellten bereits mit der Einführung des Versicherungsgesetzes für Angestellte im Jahre 1911 galt.4 Heute konstituiert diese Altersgrenze ganz wesentlich die Altersphase eines Menschen: mit dem (sozialrechtlich nicht zwingenden, de facto aber zwangsweisen) Austritt aus dem Erwerbsleben. Dabei entspricht die rechtlich vorgesehene Regelaltersgrenze von künftig 67 Jahren nicht dem tatsächlichen Durchschnittsalter des Eintritts in den Ruhestand (Sackmann 2008). Dieses liegt wesentlich früher. Rechnet man Zeiten der Arbeitslosigkeit älterer Arbeitnehmer/-innen am Ende ihrer beruflichen Laufbahn noch mit hinzu, verschiebt sich diese Grenze noch weiter nach unten. Die Regelaltersgrenze ist gerontologisch nicht begründbar und wird erwartbar in den nächsten Jahrzehnten nach oben hin korrigiert, wenn ein Arbeitskräftemangel und die Probleme der Rentenfinanzierung die bisherige Altersgrenze nicht mehr als opportun erscheinen lassen. Flankiert wird die Rentenversicherung schon heute durch eine bedarfsorientierte Grundsicherung, deren ursprüngliches Anliegen es war, Rentner/-innen aus der Sozialhilfebedürftigkeit zu führen und sie nicht dem Makel eines Gangs zum Sozialamt auszusetzen (§§ 41 bis 46b SGB XII). Mit der Reform des Sozialhilferechts und seiner Eingliederung in das Sozialgesetzbuch als dessen Zwölftes Buch (SGB XII) ist
3 4
Gesetz betreffend die Invaliden- und Altersversicherung vom 22. 6. 1889, RGBl. 1889 I, S. 97 ff. Gesetz vom 22. 12. 1911, RGBl. 1911 I, S. 989.
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Gerhard Igl
von diesen ursprünglichen Erwägungen nicht mehr viel übrig geblieben. Durch die Grundsicherung soll Armut im Alter und bei Invalidität bekämpft werden. 4.4
Alter und Straf- und Strafvollzugsrecht
Das Strafrecht nimmt den älteren Menschen nur als Straftäter/-in, nicht als ältere/-n Straftäter/-in wahr (zur Straffälligkeit älterer Menschen vgl. die Beiträge in Kunz und Gertz 2015 sowie Igl 2016; vgl. auch Görgen et al. i. d. B.). Es gibt keine besonderen Regeln bei der Strafbarkeit und bei der Strafzumessung, wenn ältere Menschen straffällig werden. Altersbedingte Einschränkungen und Besonderheiten können im Rahmen der Prüfung der Schuldfähigkeit und bei der Würdigung der Strafzumessungskriterien ausreichend berücksichtigt werden. Es bedarf also keines Seniorenstrafrechts. Auch im Strafvollzug gibt es keine besonderen Erleichterungen für ältere Menschen. Bei der Prüfung der Haftfähigkeit wird auch berücksichtigt, welche Haftanstalt geeignet ist. Mittlerweile existiert erstmals in Deutschland in Singen ein Senior/-innengefängnis, in dem auf ältere Strafgefangene ausgerichtete Angebote existieren (Spiekermann 2017). Andere Justizvollzugsanstalten richten zum Teil besondere Abteilungen für ältere, auch pflegebedürftige Strafgefangene ein. 4.5
Alter und Sozialhilfe
Die für die Soziale Arbeit mit älteren Menschen wichtigste Vorschrift findet sich in § 71 SGB XII (in der bis zum 31. 12. 2019 gültigen Fassung): § 71 Altenhilfe (1) Alten Menschen soll außer den Leistungen nach den übrigen Bestimmungen dieses Buches Altenhilfe gewährt werden. Die Altenhilfe soll dazu beitragen, Schwierigkeiten, die durch das Alter entstehen, zu verhüten, zu überwinden oder zu mildern und alten Menschen die Möglichkeit zu erhalten, selbstbestimmt am Leben in der Gemeinschaft teilzunehmen und ihre Fähigkeit zur Selbsthilfe zu stärken. (2) Als Leistungen der Altenhilfe kommen insbesondere in Betracht: 1. Leistungen zu einer Betätigung und zum gesellschaftlichen Engagement, wenn sie vom alten Menschen gewünscht wird, 2. Leistungen bei der Beschaffung und zur Erhaltung einer Wohnung, die den Bedürfnissen des alten Menschen entspricht, 3. Beratung und Unterstützung im Vor- und Umfeld von Pflege, insbesondere in allen Fragen des Angebots an Wohnformen bei Unterstützungs-, Betreuungs- oder Pflegebedarf sowie an Diensten, die Betreuung oder Pflege leisten, 4. Beratung und Unterstützung in allen Fragen der Inanspruchnahme altersgerechter Dienste,
Alter und Recht
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5. Leistungen zum Besuch von Veranstaltungen oder Einrichtungen, die der Geselligkeit, der Unterhaltung, der Bildung oder den kulturellen Bedürfnissen alter Menschen dienen, 6. Leistungen, die alten Menschen die Verbindung mit nahe stehenden Personen ermöglichen. (3) Leistungen nach Absatz 1 sollen auch erbracht werden, wenn sie der Vorbereitung auf das Alter dienen. (4) Altenhilfe soll ohne Rücksicht auf vorhandenes Einkommen oder Vermögen geleistet werden, soweit im Einzelfall Beratung und Unterstützung erforderlich sind. (5) Die Leistungen der Altenhilfe sind mit den übrigen Leistungen dieses Buches, den Leistungen der örtlichen Altenhilfe und der kommunalen Infrastruktur zur Vermeidung sowie Verringerung der Pflegebedürftigkeit und zur Inanspruchnahme der Leistungen der Eingliederungshilfe zu verzahnen. Die Ergebnisse der Gesamtplanung nach § 58 sowie die Grundsätze der Koordination, Kooperation und Konvergenz der Leistungen nach den Vorschriften des Neunten Buches sind zu berücksichtigen.
Die Vorschrift zeigt, dass altersbedingte Schwierigkeiten der Auslöser für die aufgeführten Hilfen sein sollen. Diese Hilfen, die auch noch erweitert werden können, sind als Soll-Hilfen konfiguriert. Das heißt, sie werden von den Trägern der Sozial hilfe nicht als Pflichtleistungen obligatorisch erbracht. Dies stellt ein Manko dar, denn viele Träger der Sozialhilfe verzichten aus Kostengründen auf den Einsatz dieser Hilfen. Außerdem unterstehen diese Hilfen dem Grundsatz des Nachrangs, was zur Folge hat, dass Einkommensgrenzen gelten (§§ 19 Abs. 3, 85 SGB XII). Für die persönlichen Hilfen in Form von Beratung und Unterstützung gilt allerdings eine Ausnahme vom Nachrangprinzip (§ 71 Abs. 4 SGB XII). So können z. B. kulturelle Veranstaltungen für ältere Menschen vom Sozialhilfeträger institutionell gefördert werden (Grube 2018 § 71, Rn. 18.) Unter inhaltlichen Gesichtspunkten kann gesagt werden, dass mit den dargestellten Leistungen ein wesentlicher Kern der Sozialhilfe für ältere Menschen beschrieben wird. 4.6
Alter, Altersgrenzen und Antidiskriminierungsrecht
Das Thema Altersgrenzen und damit teilweise zusammenhängend das Thema der Diskriminierung aus Gründen des Alters hat zur bisher eingehendsten Befassung auf dem Gebiet Alter und Recht geführt (Igl 2000, 2010; Klie 2015). Altersdiskriminierung ist in Deutschland verfassungsrechtlich nicht von den Diskriminierungsverboten in Art. 3 Abs. 3 GG erfasst, ist jedoch unionsrechtlich und einfachgesetzlich verboten (vgl. § 1 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz – AGG; Igl 2013b; Schulte 2015). Das Diskriminierungsverbot erstreckt sich vor allem auf die Arbeitswelt und die dortigen Rechtsverhältnisse, aber auch auf den Sozialschutz einschließlich der sozialen Sicherheit und der Gesundheitsdienste sowie die sozialen Vergünstigungen
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und den Zugang zur Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, einschließlich von Wohnraum (§ 2 Abs. 1 AGG). Im europäischen internationalen Recht findet sich anders als im nationalen Recht eine Vielzahl von Garantien für das Alter (Dieck et al. 1993). Die älteste europäische Institution, der Europarat, hat in der Europäischen Sozialcharta ein Grundrecht älterer Menschen auf ein würdiges und unabhängiges Leben und auf Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben niedergelegt. Es handelt sich hier um Art. 23 der revidierten Fassung der Europäischen Sozialcharta, die die Bundesrepublik unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert hat. Weiter hat der Europarat eine Empfehlung des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten zur Förderung der Menschenrechte älterer Menschen formuliert (Council of Europe Committee of Ministers 2014). Auf der Ebene der Vereinten Nationen wird zurzeit in einer UN-Arbeitsgruppe zu den Rechten älterer Menschen die Möglichkeit der Schaffung einer internationalen Konvention zum Schutz der Rechte älterer Menschen geprüft (Mahler 2017).
5
Besondere rechtliche Belange bei der Sozialen Arbeit mit älteren Menschen
Für die Soziale Arbeit mit älteren Menschen setzt das Recht Rahmenbedingungen. Im Unterschied zur Kinder- und Jugendsozialarbeit sind diese Rahmenbedingungen nicht an einem zentralen gesetzlichen Ort niedergelegt, wie es beim SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) der Fall ist. Außerdem ist der bundesrechtliche Rahmen mit der Vorschrift zur Altenhilfe (§ 71 SGB XII) im Vergleich zur Kinder- und Jugend hilfe verhältnismäßig schmal ausgestattet. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die zahlreichen anderen Bereiche, die in der Sozialen Arbeit mit älteren Menschen von Relevanz sein können, durchaus hohe Reglementierungsdichte aufweisen. Das gilt insbesondere für den Bereich, in dem es um die gesundheitlichen und pflegerischen Angelegenheiten älterer Menschen geht (Igl 2017). Das gilt auch für das Gebiet des Betreuungsrechts, des Heimrechts und der Alterssicherung und insgesamt der finanziellen Sicherung im Alter. Bei der finanziellen Sicherung im Alter wird von der Sozialen Arbeit nicht erwartet werden, hier Auskünfte mit Rechtsverbindlichkeit geben zu können, außer dies geschieht im entsprechenden institutionellen Kontext (vgl. §§ 13, 14 und 15 SGB I). Wenn bei der finanziellen Sicherung unterstützende Beratung geleistet wird, dann vor allem in Richtung auf die gesetzlich vorgesehenen Möglichkeiten von der Grundsicherung bis zu den Gestaltungsformen beim Rentenbezug. Hier sind aber in der Regel die zuständigen Behörden und Träger der sozialen Sicherheit für die Beratung zuständig. Neben diesen Rahmensetzungen seitens des Bundesrechts sind es vor allem die Vorschriften auf der Ebene der Länder und der Kommunen, auch im Zusammenhang von Altenhilfeplänen auf diesen Ebenen, die für die Soziale Arbeit mit älteren Men-
Alter und Recht
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schen von Bedeutung sind. Für die auf diesem Gebiet tätigen Sozialarbeiter/-innen besteht daher die Notwendigkeit, sich die entsprechenden rechtlichen Informationen für die Grundlagen und den Rahmen ihrer Arbeit zu beschaffen. Wenn Soziale Arbeit für ältere Menschen in institutionellen Zusammenhängen stattfindet, so etwa im Rahmen eines Wohlfahrtsverbandes oder einer Behörde, sollten diese die Informationen bereithalten. Rechtliche Regulierungen in Form von Gesetzen und Verordnungen sind, anders als etwa bei der Sozialen Arbeit im Krankenhaus (Welti und Fuchs 2008), eher wenig vorhanden. Vielmehr ist manches in Verwaltungsvorschriften, Richtlinien oder Empfehlungen geregelt.
Ausgewählte Literatur Igl, Gerhard, und Thomas Klie. Hrsg. 2007b. Das Recht der älteren Menschen. Baden-Baden: Nomos. Becker, Ulrich, und Markus Roth. Hrsg. 2013. Recht der Älteren. Berlin und Boston: De Gruyter. Klie, Thomas. 2017. Das Recht und die Lebensphase Alter. In Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 50: 275 – 280.
Teil IV Altersforschung
Altersforschung als interdisziplinäres Projekt Hermann Brandenburg und Katharina Steinhauer
1
Einleitung
Interdisziplinarität ist ein vielfach „strapazierter Begriff“ (Korber 2017, S. 11) – auch in der Altersforschung (Gerontologie). Die grundsätzliche Notwendigkeit wurde immer wieder belegt, Definitionsversuche sind legendär (Lehr 1998), die Herausforderungen und Probleme vielfältig bestimmt (Schneider 2000; Karl, F. 2008; Brandenburg 2015), Lösungsmöglichkeiten wurden angedeutet (Voigt 2010). Dabei wurde deutlich gemacht, dass die Fragen des Alterns nicht ausschließlich aus der Perspektive einer wissenschaftlichen Disziplin bearbeitbar sind. Allein schon bei der Klärung der Frage, was unter Altern bzw. einem ‚guten‘ Altern zu verstehen ist, müssen sowohl Merkmale der gesundheitlichen Lage, der psychischen Situation wie auch der sozialen Integration betrachtet werden. Aus ärztlich-pflegerischer Sicht geht es dabei vorwiegend um die Behandlung von Krankheiten und die Aufrechterhaltung einer selbstständigen Lebensführung. Die Soziale Arbeit rückt stärker die soziale Partizipation der Betroffenen und ihrer Familien in den Vordergrund. Die genannten Aspekte müssen mit einem grundlegenden Diskurs (in der Regel durch die Philosophie und Theologie) verbunden werden. Denn der Gegenstand, um den es hier geht – das Altern – kann unter dem Aspekt der Gestalt- oder Hinnehmbarkeit auf sehr verschiedene Art und Weise ausgelegt und beforscht werden (zum Ater als soziale Konstruktion vgl. die Beiträge zu Teil III i. d. B.). Das geschieht in der Altersforschung nicht nur monodisziplinär, d. h. in einzelwissenschaftlicher Perspektive, sondern interdisziplinär. Aber Interdisziplinarität in der Forschung (wie auch in der Praxis) ist mit Herausforderungen verbunden. Dazu zählen vor allem die nach wie vor bestehenden Barrieren in den Köpfen und im Handeln. Dieser Situation muss sich die Altersforschung stellen. Mehr noch – so unsere These –, sie muss einen Schritt weitergehen und sich als ‚transdisziplinäres Projekt‘ neu positionieren. Diesbezüglich kann sie einiges von anderen Disziplinen lernen (vgl. z. B. Remmers 2011). © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_55
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2
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Interdisziplinarität – Formen der Integration
Neben dem Begriff der Interdisziplinarität (im Sinne der Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen) gibt es konkurrierende Begriffe, z. B. Intra-, Multi-, Pluri-, Crossund Transdisziplinarität. Als Unterscheidungsmerkmal wird häufig der Grad der Integration genannt. Dieser ist z. B. gering, wenn disziplinäre Perspektiven nur nebeneinander gestellt werden, wenig aufeinander bezogen sind und der wechselseitige Austausch begrenzt ist. Damit sollen keineswegs die bekannten Formate (Ringvorlesung, wissenschaftliche Tagungen, Sammelbände etc.) diskreditiert werden. Sie haben durchaus das Potenzial, zumindest das Verständnis für die anderen Zugänge zu wecken. Jedoch werden theoretische und methodische Querbezüge in diesen Formaten eher zurückhaltend und nicht systematisch formuliert. Kurz: Eine echte Integration der unterschiedlichen Zugänge findet nicht statt. Man könnte also von schwacher Interdisziplinarität sprechen (vgl. hierzu Löffler 2013; siehe auch Stöckler 2017, S. 49 – 55; umfassend: Jungert et al. 2013). Die ersten drei der oben genannten Begriffsvarianten könnte man dazu rechnen. Für die Gerontologie reicht ein Nebeneinander von Disziplinen nicht aus. Denn sie ist selbst bereits ein hybrides System, in dem verschiedene wissenschaftliche Zugänge miteinander in Beziehung gesetzt werden. Wenn man die Gerontologie als (übergeordnete) Wissenschaftsdisziplin ansieht (siehe die Statements der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie), dann wären die Fächer einzelwissenschaftlich geprägte Schwerpunktbereiche, z. B. die biologisch und naturwissenschaftlich ausgerichtete Altersmedizin, die psychologische Entwicklungs- und Persönlichkeitsforschung, die soziologische Ungleichheits- und Lebenslagenforschung oder die erziehungswissenschaftlich ausgerichtete Geragogik. Wenn man so will, ist Interdisziplinarität bereits in der Gerontologie selbst angelegt. Es muss also ein starker Begriff von Interdisziplinarität zur Anwendung kommen. Ein sachlicher Kern muss vorhanden sein, ohne den es keine fruchtbare Zusammenarbeit geben kann. Hinzu kommen weitere Voraussetzungen, die Lehr (1998, S. 54) – auf Erfahrungen mit gerontologischen Längsschnittstudien zurückblickend – formuliert hat: Gemeinsamkeiten beim Forschungsgegenstand (inklusive der Festlegung der Stichprobe), Vergleichbarkeit beim methodischen Programm und der Datenverarbeitungsmodelle (aus verschiedenen Disziplinen) sowie die Notwendigkeit einer gemeinsam vorgenommenen Interpretation der Daten. Ähnlich akzentuieren auch andere Forscher/-innen der Bonner Tradition, dass die Befunde der beteiligten Disziplinen am Ende aufeinander bezogen und im Kontext verschiedener theoretischer Ansätze diskutiert werden müssen (Thomae et al. 1994, S. 3). Dies ist jedoch nicht einfach. In der Folge bleiben Anlage, Durchführung und Auswertung solcher Forschungsprojekte eine Herausforderung. F. Karl (2008) wies am Beispiel der Bonner Gerontologischen Längsschnittstudie des Alterns (BOLSA) kritisch darauf hin, dass zwar der Anspruch an Interdisziplinarität zu Recht erhoben wurde, in der Auswertung der Daten jedoch häufig eine bestimmte Perspektive, vor-
Altersforschung als interdisziplinäres Projekt
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nehmlich die der Entwicklungspsychologie, dominierte. Auch bei der Berliner Altersstudie (BASE) habe es sich – so der genannte Autor – nicht vermeiden lassen, dass – trotz Integration verschiedener Disziplinen (Medizin, Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaften etc.) – bei der Popularisierung der zentralen Befunde letztlich doch wieder einzelwissenschaftliche Perspektiven dominant wurden. Die genannte Problematik verweist einerseits darauf, dass Interdisziplinarität (nicht nur in der Gerontologie) eine organisierende Disziplin braucht, die ‚den Laden schmeißt‘. Andererseits ist ein Konzept für die Kultur der Zusammenarbeit von Beginn an notwendig, um zu verhindern, dass manche Perspektiven ‚unter die Räder‘ kommen.
3
Barrieren der interdisziplinären Zusammenarbeit
Auf die Hemmnisse ist wiederholt verwiesen worden (vgl. u. a. Krüger 1987: Schneider 2000: Sukopp 2010). Brandenburg (2015, S. 221) hat sie wie folgt zusammengestellt: „Bezogen auf wissenschaftsstrukturelle Aspekte ist die Abhängigkeit der wissenschaftlichen und beruflichen Karrieren von der ‚Mutterdisziplin‘ zu nennen. Einzelwissenschaftliche Denk- und Forschungsstrategien werden dadurch grundgelegt. Hinzu kommen die Sozialisation und der Kompetenzerwerb von Wissenschaftler/-innen als Spezialist/-innen einer Disziplin – und weniger als Generalist/-innen. Problematische Wirkung entfalten Weltbilder und Paradigmen dann, wenn sie absolut gesetzt werden. Aber auch die jeweils favorisierte Fachsprache und die angewandten Methoden gelten manchem als sakrosant und dürfen nicht angetastet werden. Sozialpsychologische Hindernisse sind ebenfalls bedeutsam. Nach der Theorie sozialer Identität kann die Differenzierung in separate Gruppen mit einer Höherbewertung der eigenen und einer Abwertung anderer Gruppen verbunden sein. Und nach der Theorie des realistischen Konflikts werden Konkurrent/-innen um seltene Güter (Ehre, Geld, Macht) abgewertet und eigene Beiträge als unrealistisch hoch eingeschätzt. Bekannt ist, dass der Kampf um Forschungsgelder nicht selten einem ‚Haifischbecken‘ gleicht (Zitat eines Ministerialbeamten, der für die Zuteilung von Forschungsgeldern zuständig ist). Praktische Probleme werden häufig unterschätzt. Gemeint ist, dass Forschungsprojekte in der Regel zeitlich begrenzt sind und Mitarbeiter/-innen, die gut eingearbeitet sind, ausscheiden (müssen). Fruchtlose Debatten, verbunden mit einem enorm hohen Abstimmungsbedarf und ohne Erkenntnisgewinn, wirken demotivierend. Aufwändig (und wenig ergiebig) sind ‚Einführungsveranstaltungen‘ für Projektpartner/-innen aus den jeweils anderen Disziplinen, damit diese wenigstens ungefähr verstehen, worum es geht. Hinzu kommt die mangelnde Erfahrung der Hochschulen mit interdisziplinären Forschungsprojekten, die als ein wesentlicher Faktor für die Grenzen erkannt werden muss. Ein letzter Punkt betrifft das Erkenntnispotenzial von Interdisziplinarität. Hierzu hatte sich der Psychologe Heckhausen wie folgt geäußert: ‚Wir dürfen nicht übersehen, dass Forschung im Sinne schärfster Erkenntnis nur intradisziplinär, d. h. monodisziplinär im
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Hermann Brandenburg und Katharina Steinhauer
Hinblick auf das theoretische Integrationsniveau des gewählten Fachs unvermengt betrieben werden kann. Mit der monodisziplinären Betrachtung müssen konkurrierende Sichtweisen anderer Disziplinen mit ihren abweichenden theoretischen Integrationsniveaus unvermeidlicherweise ausgeblendet werden. [Ausblendung] ist der Preis, der für die Möglichkeit vertiefter und wissenschaftlich ‚disziplinierter‘ Erkenntnis zu zahlen ist‘ (Heckhausen 1987, S. 139 f.).“
Man mag zu diesem letzten Aspekt stehen wie man will. Tatsache ist aber, dass sich hier jemand skeptisch gegenüber Interdisziplinarität äußert, der über sehr viel Erfahrung in diesem Bereich verfügt. Wenn man jetzt nicht das ‚Kind mit dem Bade ausschütten möchte‘ und ganz auf Interdisziplinarität verzichten will, dann muss man sich darüber im Klaren zu sein, dass Interdisziplinarität nicht ‚einfach so‘ gelingt, sondern Konzepte und Strategien notwendig sind. Themenbezogene Arbeitsgruppen, Workshops und gemeinsame Veröffentlichungen sind nur einige Vorschläge, welche die Verantwortlichen der großen interdisziplinären gerontologischen Studie „Autonomie trotz Multimorbidität“ (AMA), an der 50 Wissenschaftler/-innen unterschiedlicher Disziplinen beteiligt waren, formuliert haben (Richter et al. 2013). Die entsprechenden Erfahrungen sollten ernst genommen und es sollte aus ihnen gelernt werden.
4
Interdisziplinarität in der gerontologischen Forschung – einige Schlaglichter
Im folgenden Abschnitt werden empirische Ergebnisse dargestellt, die durch eine Ad-hoc Befragung von Beteiligten an vier größeren gerontologischen (Forschungs-) Projekten gewonnen wurden. Die Projekte waren an der Schnittstelle von Altern, interprofessioneller Qualifikation und (ambulanter) Versorgung verortet und bezeichnen sich selbst als interdisziplinär. Es handelte sich um Vertreter/-innen verschiedener Professionen (Medizin, Pflege, Soziale Arbeit). Ergänzt wurde die Befragung durch ein Experteninterview mit einer in der Altersforschung führenden Person, um die Befunde in einen Gesamtrahmen einordnen zu können. Die inhaltsanalytisch (vgl. Mayring 2010) eruierten Befunde sind nicht repräsentativ, in der Aussagekraft limitiert, dennoch aber anschlussfähig an den oben skizzierten Forschungsstand. Fördernde Faktoren: Wichtig war es zunächst, dass eine gemeinsame Sprache gefun-
den wurde bzw. zumindest eine Verständigung bezüglich der zentralen Leitideen, Konzepte und Vorgehensweisen im Projekt. Auch die Tatsache, dass gemeinsame Teamsitzungen durchgeführt und ein Austausch ermöglicht wurden, ist von den Beteiligten positiv qualifiziert worden. Ebenfalls ist eine wertschätzende, anerkennende Haltung auf der persönlichen Ebene hilfreich für die Zusammenarbeit genauso wie die Offenheit der Akteur/-innen neuen ‚fachfremden‘ Themen gegenüber. Erwähnt wird auch, dass die interdisziplinäre Zusammenarbeit durch beobachtbare positive
Altersforschung als interdisziplinäres Projekt
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Effekte, etwa im Hinblick auf den Transfer in die Praxis, motivierend gewirkt hat. Allerdings wird dieser Transfer häufig durch die Beteiligung der ‚Praktiker/-innen‘ implizit mitgedacht (und erwartet), jedoch in der Regel nicht strategisch weiterverfolgt. Hemmende Faktoren: Auch hier wurden unterschiedliche Aspekte thematisiert. Allein schon Terminfindungen sind ein nicht zu unterschätzendes Problem. Vor allem deswegen, weil die Projekte eng getaktet sind und die Zeit für einen intensiven Austausch immer zu kurz ist. Statusunterschiede, aber auch teilweise fehlendes Verständnis anderen Akteur/-innen gegenüber, müssen als Herausforderungen einer interdisziplinären Arbeit ernst genommen werden. Hinzu kommt auch, dass manchen Akteur/-innen, die nicht einer klinischen Logik entsprechen, wenig Raum gewährt wurde.
Insgesamt muss (auch unter Einbezug der Expertenmeinung) festgestellt werden, dass interdisziplinäre Zusammenarbeit eine Herausforderung darstellt: Dabei ist nicht nur an den hohen Zeitaufwand auf organisatorischer Ebene zu denken. Auch ein für eine tiefer gehende Zusammenarbeit notwendiges übergreifendes Wissen ist häufig nicht oder nur ansatzweise vorhanden. Zwar ist der Konsens, dass sich komplexe Probleme nur interdisziplinär lösen lassen, durchaus vorhanden. Allerdings ist es problematisch (und häufig nicht der Fall), dass in Forschungsanträgen eine koordinierende Stelle benannt (und finanziert) wird, um Interdisziplinarität authentisch verankern zu können. Ein grundlegendes Problem muss im kompetitiv und spezialisiert ausge richteten Wissenschaftssystem gesehen werden.
5
Transdisziplinarität
Geht man noch einen Schritt weiter und fasst eine die Wissenschaftsgrenzen sprengende Kooperation mit der Praxis ins Auge, kann der Begriff der Transdisziplinarität zur Anwendung kommen (vgl. schon früh und richtungsweisend: Mittelstraß 1996). Damit ist sicher der stärkste Begriff von interdisziplinärer Integration bezeichnet. Denn neben der Forschung im engeren Sinne stellt die außerwissenschaftliche Wirkung von Forschungsprojekten auf Politik und Gesellschaft ein zentrales Anliegen dar. Dabei ist die Einbindung der Praxis durchaus unterschiedlich und weist ein Spektrum von „consulting transdisciplinarity“ bis hin zu „participatory transdisciplinarity“ auf (Defila 2016, S. 18; konkret für die Altersforschung siehe das Diskussionspapier des Arbeitskreises Kritische Gerontologie in der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie, vgl. Arbeitskreis Kritische Gerontologie 2016). Transdisziplinarität ist für die Altersforschung von besonderer Bedeutung. Warum ? Sie formuliert den Anspruch, als angewandte Forschung, Interventionsgerontologie und Praxiswissenschaft (im weitesten Sinn) gesellschaftlich und politisch wirksam sein zu wollen (und zu können) und Einfluss auf die Praxis zu nehmen. Es lohnt sich daher,
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aktuelle Studien zur Transdisziplinarität mit Akzentsetzung auf die Altersforschung (vgl. z. B. Breinbauer 2010; Hülsen-Esch et al. 2013 und zu methodischen und praktischen Herausforderungen Bergmann et al. 2010, vor allem aber Defila et al. 2016, 2018) genauer anzuschauen. Das kann im vorliegenden Beitrag allerdings nur exemplarisch geschehen Statt an dieser Stelle die „üblichen Definitionskunststücke“ (Stöckler 2017, S. 36) zu versuchen, sollen – und das ist gerade auch für gerontologische Forschungsprojekte mit dem Anspruch eines Theorie-Praxis-Transfers hoch relevant – hier einige Ausgangsbedingungen transdisziplinärer Forschung skizziert werden, von denen man lernen kann. Konkret ist die Rede von sog. Hotspots (siehe umfassend hierzu Defila et al. 2016, sehr instruktiv im Hinblick auf die gesellschaftliche Wirkung transdiszi plinärer Forschung sind Kaufmann et al. 2016; speziell zu methodischen Aspekten vgl. Defila und Di Giulio 2018). Sie wurden im Kontext von zehn Forschungsverbünden mit 28 Teilvorhaben und einem Begleitforschungsprojekt dialogisch und evidenzbasiert entwickelt, die sich mit dem Themenschwerpunkt „Vom Wissen zum Handeln – neue Wege zum nachhaltigen Konsum“ beschäftigt haben. Diese Thematik wurde durch das BMBF im Rahmen der Sozial-Ökologischen Forschung in den Jahren 2008 bis 2013 gefördert. Ein sog. Hotspot bezeichnet spezifische Ausgangskonstellationen der Kooperation von Forschung und Praxis (und später des Transfers), der alle Beteiligten vor Anforderungen stellt. Beispielhaft soll einer von acht Hotspots betrachtet werden, nämlich Hotspot 1: Der Tätigkeits-Rhythmus im Praxisfeld bestimmt die Forschungsplanung. Hier geht es darum, dass das Praxisfeld durch eine spezifische und vorgegebene Taktung von Arbeitsprozessen gekennzeichnet ist, die wenig variabel ist. Die Forschung ist dann gehalten, sich mehr oder weniger organisch an diese Strukturen zu adaptieren und damit von diesen Prozessen abhängig. Einerseits kann das klare Zeitkorsett entlastend sein und die Einbindung der Forschungsaktivitäten kann die Stringenz und Synthesearbeit im Projekt fördern. Andererseits besteht die Gefahr, dass der Rhythmus des Praxisfelds die Forschung in ihren Abläufen zu stark dominiert und am Ende die Forschungs-Architektur so destabilisiert, dass die Arbeit im Projekt zu einer Aneinanderreihung von ‚Notfallübungen‘ verkommt. Alle, die Forschung im Bereich des Gesundheits- und Versorgungssystems betreiben, wissen hiervon ein Lied zu singen. Abläufe und Restriktionen in Kliniken, Pflegeheimen oder häuslichen Settings bestimmen letztlich auch die Möglichkeiten und Grenzen, vor denen die gerontologische Forschung steht. Der Nutzen eines Hotspots liegt darin, den Blick auf die Bedingungen zu lenken, unter denen (transdisziplinäre) Forschung stattfindet. Deren kritische Reflexion ist entlastend für alle Beteiligten. Es wird ein Bewusstsein dafür gefördert, welche Potenziale mit dem Projekt verbunden sind wie auch dafür, welche Risiken (des Scheiterns) bestehen. Das wiederum bedeutet, ein bewusstes Risiko management zu betreiben, d. h. einen Plan B auszuarbeiten für den Fall, dass Risiko X, Y oder Z eintritt. Gegebenenfalls müssen bestimmte Maßnahmen ergriffen werden, um ein spezifisches Risiko zu vermeiden oder zu mildern. Dieses Risiko-
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management sollte von Beginn an von den Förderinstitutionen als notwendiger Projektbestandteil akzeptiert werden. Das Erkennen von und Arbeiten mit Hotspots ist also nichts anderes als die Sensibilisierung für die Faktoren, die ein Projekt zum Erfolg führen oder eben für sein Scheitern verantwortlich sind.
6
Abschluss: Altersforschung – ein transdisziplinäres Projekt ?
Der Wandel der Wissenschaftsproduktion ist eine Herausforderung, mit der sich auch die Altersforschung als akademische Disziplin auseinandersetzen muss. Die tra ditionell eher getrennten Bereiche von Wissenschaft, Forschung und Praxis beeinflussen sich zunehmend wechselseitig, und das hat Vor- und Nachteile. Einerseits hat sich mittlerweile eine „Implementierungswisssenschaft für Pflege und Gerontologie“ (so der Buchtitel einer Veröffentlichung von Hoben et al. 2016) herausgebildet – vor allem in den USA, Kanada und Großbritannien. Von einer entwickelten Forschungsrichtung dieser Provenienz, die sich vor allem mit Theorien und Strategien des Theorie-Praxis-Transfers beschäftigt, kann aber in Deutschland nicht die Rede sein. Andererseits lässt sich wachsender Einfluss einer zunehmend durch kommerzielle Interessen dominierten Praxis beobachten, der auch mittelbar oder unmittelbar über die Finanzierung von Forschungsprojekten Einfluss ausübt (vgl. hierzu auch Aner und Kricheldorff 2016). Das unterstützt eine Machbarkeitslogik, die z. B. in den evidenzbasierten Konzepten unterschiedlicher Disziplinen erkennbar wird und grundlegende (auch gesellschaftspolitische) Fragen ignoriert. Als Chance muss jedoch das Verschwinden der Demarkationslinien begriffen werden, und zwar auch für die Altersforschung. Die Wissenschaftstheoretiker/-innen um Helga Nowotny, Peter Scott und Michael Gibbons (Gibbons et al. 2006; Nowotny 2009) haben sich mit der zunehmenden Verflochtenheit von Wissenschaft und Gesellschaft intensiv auseinandergesetzt und sprechen – im Unterschied zur klassischen Wissensproduktion – von einer neuen Form der Wissensproduktion, die sie „Modus-2-Wissenschaft“ nennen. Diese wird eher als Ergänzung und nicht als Ersatz von „Modus-1-Wissenschaft“ gesehen. Den zentralen Unterschied zur traditionellen Form markiert die Anwendungsorientierung, die als „Kontextualisierung“ bezeichnet wird. Hierfür werden drei Merkmale genannt, die auch für die Altersforschung (als interdisziplinäres Projekt) interessant sind (Schrems 2009, S. 50 ff.): Neue Form der Zusammenarbeit, bei der die monodisziplinären Grenzen gesprengt werden: Denn anwendungsorientierte Problemlösungen erfordern die Integration
des Wissens verschiedener Disziplinen (Multi- und Interdisziplinarität) und ebenfalls die Bereitschaft mit Akteur/-innen aus der Praxis direkt zu kommunizieren und den Transfer selbst als wissenschaftliche Herausforderung zu verstehen (Transdisziplinarität). Es reicht also nicht nur aus, Befunde zu produzieren, stärker muss nach ihrer Relevanz, Umsetzbarkeit und Veränderung in der Praxis gefragt werden.
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Hermann Brandenburg und Katharina Steinhauer
Soziale Verantwortung und Reflexivität: „This is because the issue on which research is based cannot be answered in scientific and technical terms alone. The research towards the resolution of these types of problems has to incorporate options for the implementation of the solutions and these are bound to touch the values and preferences of different individuals and groups that have seen as traditionally outside of the scientific and technological system.“ (Gibbons et al. 2006, S. 7) Das schließt natürlich auch die Partizipation der ‚Beforschten‘ ein, die vorwiegend in der Kritischen Gerontologie (vgl. z. B. Arbeitskreis Kritische Gerontologie 2016) diskutiert wird. Qualitätskontrolle: Diese bezieht sich nicht nur auf wissenschaftlich-methodische
Exzellenz, sondern auch auf Ergebnisse öffentlicher Anhörungen, Konsensuskonfe renzen, Folgeabschätzungen oder Evaluationen. Dort werden gegebenenfalls noch andere Aspekte der Qualität (außer traditionellen Gütekriterien wissenschaftlichen Arbeitens) thematisiert, die sich stärker an den Bedarfen der Zielgruppen orientieren. Ob und inwieweit Forschungsbefunde tatsächlich umgesetzt werden können, muss genauso debattiert werden wie ihre mögliche Verwertbarkeit im Sinne von Geschäftsmodellen bzw. ihr Beitrag zum Gemeinwohl. Abschließend: Inter- und Transdisziplinarität zwingen die Gerontologie zur Refle xion ihres eigenen Standpunkts. Sie muss sich einerseits intern verständigen, d. h. zwischen und innerhalb verschiedener Disziplinen. Und sie muss andererseits ihre disziplinären Logiken in gewisser Weise auflösen und offen für einen fairen Dialog mit der Praxis werden. Für den Innenblick ist es hilfreich auf erfolgreiche „Modelle der Kooperation“ (vgl. Voigt 2013) zurückzugreifen und diese intensiv zur Kenntnis zu nehmen. Diese gehen nicht von der naiven Vorstellung aus, dass der Gegenstand ‚an sich‘ Kooperation ermöglicht, denn genau über diese Frage lässt sich trefflich streiten. Auch die Annahme, dass Methoden hier ein Scharnier bilden könnten, ist nicht weiterführend. Sowohl im standardisierten wie auch im nicht standardisierten Bereich haben sich mittlerweile ganze ‚Schulen‘ etabliert, die nicht einfach miteinander ins Gespräch zu bringen sind. Es ist klug, die Art und Weise der Kooperation selbst in den Vordergrund zu rücken, denn: „Die andauernde Kooperation selbst ist der Aufweis eines solchen Gelingens. Dieser Aufweis ist keinen ihm externen Kriterien unterworfen, denn er besteht ja in dem Versuch, das bisher vertraute Feld von Gegenstandsbereichen und Methoden zu erweitern. […] Interdisziplinäre Kooperation, und nur sie, stellt die genuine Form wechselseitiger Anerkennung als wissenschaftliche Disziplin dar.“ (Voigt 2013, S. 42)
Für den Außenblick ist es erforderlich, dass die Gerontologie die Großwetterlage im Blick behält, dem Ansinnen ihrer Instrumentalisierung durch Politik und Praxis widersteht und das in ihr inhärente kritisch-reflexive Potenzial zur Geltung bringt.
Altersforschung als interdisziplinäres Projekt
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Ausgewählte Literatur Breinbauer, Ines Maria, Dieter Ferring, Miriam Haller und Hartmut Meyer-Wolters. Hrsg. 2010. Transdisziplinäre Alter(n)sstudien. Gegenstände und Methoden. Würzburg: Königshausen & Neumann. Defila, Rico, und Antonietta Giulio. Hrsg. 2016. Transdisziplinär forschen – zwischen Ideal und gelebter Praxis. Hotspots, Geschichten. Wirkungen. Frankfurt und New York: Campus. Jungert, Michael, Elsa Romfeld, Thomas Sukopp und Uwe Voigt. Hrsg. 2013. Interdisziplinarität. Theorie, Praxis. Probleme. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Sozial- und verhaltenswissenschaftliche Gerontologie in Deutschland Clemens Tesch-Römer und Andreas Motel-Klingebiel
1
Einleitung
Die Themen Alter und Altern stehen seit längerer Zeit im Zentrum gesellschaftlichen Interesses, und dies wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch so bleiben (vgl. Schüller 1996; Niejahr 2004; Schirrmacher 2004; Wurm, Berner, und Tesch-Römer 2013 im Themenheft „Alternde Gesellschaft“ der Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte, sowie die Altenberichte der Bundesregierung). Für die sozial- und verhaltenswissenschaftliche Gerontologie ist es eine wesentliche Frage, welche Konsequenzen Gesellschaften wie Individuen aus der verlängerten Lebensdauer ziehen, die einerseits Ausdruck gesellschaftlichen Erfolges ist, zugleich aber auch gesellschaftliche wie individuelle Entwicklungsherausforderungen nach sich zieht. Sozial- und verhaltenswissenschaftliche Alterns- und Lebenslaufforschung und soziale Gerontologie stellen dabei weniger eine Disziplin als vielmehr ein prototypisch multidisziplinäres Wissenschaftsfeld dar (Wahl und Heyl 2004), das vornehmlich durch die spezifische Beschäftigung mit thematischen Bereichen bestimmt ist. Ziel sozial- und verhaltenswissenschaftlicher Forschung ist es, sowohl die Bedingungen gelingenden Alterns von Individuen und Gesellschaften zu erforschen als auch Kenntnisse über jene Faktoren zu erlangen, die zu Lebenssituationen im Alter führen, in denen Hilfe und Unterstützung notwendig sind. Gegenstand sind dabei die Beschreibung von Alternsverläufen und Verteilungen sowie die Analyse von individuellen Voraussetzungen und sozialen Bedingungen vor dem Hintergrund bestehender Theorieangebote wie auch in der Anwendungsperspektive politikorientierter Alternsforschung. Im Zentrum alternswissenschaftlicher Überlegungen stehen dabei die Perspektiven der individuellen Entwicklung, des sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Wandels sowie der gesellschaftlichen Verteilung, Differenzierung und sozialen Ungleichheit. Damit gibt es eine Reihe von Anknüpfungspunkten zwischen sozial- und © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_56
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verhaltenswissenschaftlicher Alternsforschung und der Sozialen Arbeit, die ebenfalls Forschungsfeld und handlungsorientierte Profession ist. Definiert man als zentrale Aufgaben der Sozialen Arbeit (a) die Beschäftigung mit der Untersuchung, Verhinderung und Lösung sozialer Probleme, (b) die Förderung der Entfaltung persönlicher oder kollektiver Potenziale und (c) die Unterstützung sozialer und materieller Chancengleichheit und gesellschaftlicher Teilhabe, so sind Verbindungslinien zur Ausrichtung der sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Gerontologie zu erkennen. Die Situation in der sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Alternsforschung ist differenziert zu beurteilen (Tesch-Römer et al. 2017). Die Landschaft der gerontologischen Forschungseinrichtungen und -netzwerke ist in Bewegung: Einerseits waren in den vergangenen Jahren Tendenzen zur Verkleinerung oder Schließung zu beobachten, andererseits gab es Neugründungen bzw. Neubesetzungen von interdisziplinären Instituten oder Netzwerken. Die Produktivität der sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Alternsforschung ist dabei erfreulich hoch, wenn man dies an der Beteiligung an nationalen und internationalen Zeitschriften sowie der Veröffentlichung von Überblickswerken misst (Kruse und Martin 2004; Filipp und Staudinger 2005; Oswald et al. 2006c; Brandtstädter und Lindenberger 2007; Wahl und Mollenkopf 2007; Wahl et al. 2007; Backes und Clemens 2008; Kuhlmey und Schaeffer 2008; Künemund und Schroeter 2008; Staudinger und Häfner 2008; Zank und Hedtke-Becker 2008; Wahl et al. 2012; Naegele et al. 2016; Hank et al. 2018; Schramek et al. 2018). Im Folgenden wird ein knapper Überblick über die Themen, Forschungseinrichtungen, Forschungsförderung und Forschungsprojekte sozial- und verhaltenswissenschaftlicher Gerontologie in Deutschland gegeben. Für zentrale Befunde und weiterführende Perspektiven sollten die genannten Überblickswerke konsultiert werden.
2
Themen sozial- und verhaltenswissenschaftlicher Gerontologie in Deutschland
Sozial- und verhaltenswissenschaftliche Gerontologie ist in Deutschland in einer Reihe von disziplinären Kontexten angesiedelt. Von den beteiligten Disziplinen sind vor allem Soziologie, Psychologie, Politikwissenschaften, Ökonomie, Gesundheitswissenschaften und Pflegewissenschaften zu nennen. Im Folgenden werden bedeutsame Fragestellungen und Themen der Alternssoziologie und Alternspsychologie skizziert. Zentrale disziplinäre Befunde können entsprechenden Übersichtsarbeiten entnommen werden (für die Soziologie etwa Backes und Clemens 2008; Voges 2008; für die Psychologie etwa Brandtstädter und Lindenberger 2007; Wahl et al. 2008).
Sozial- und verhaltenswissenschaftliche Gerontologie in Deutschland
2.1
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Themen der sozialwissenschaftlichen Gerontologie (Alternssoziologie)
In der deutschen Alternssoziologie stehen zwei Fragen im Mittelpunkt des Interesses: Gesellschaft als Bedingung des Alterns sowie Altern als Faktor gesellschaftlichen Wandels (Backes und Clemens 2007). Schon in der frühen sozialgerontologischen Forschung wurde die Frage nach den sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen des Alterns gestellt. Die Analyse des Verhältnisses zwischen Bedarfen älterer Menschen und ihrer Versorgung durch sozialstaatliche Sicherungssysteme hat in der sozialen Gerontologie eine bedeutende Tradition (Dieck und Naegele 1978, 1993), wobei die Sicht des Alters als ‚soziales Problem‘ auch kritisch diskutiert wird (von Kondratowitz 1999). Theoretische Ansätze, die die Soziologie des Alterns aktuell beeinflussen, sind u. a. der Lebenslauf-Ansatz, die Theorie der kumulativ wachsenden Ungleichheit, die Politische Ökonomie des Alterns sowie Theorien zur Gestaltung intergenerationaler Beziehungen (Tesch-Römer 2018). In der Soziologie des Alterns geht es um die sozialen Bedingungen des Alterns, seine gesellschaftliche Konstruiertheit und seine Bedeutung als Sozialstrukturmerkmal. Gefragt wird danach, wie gesellschaftliche Strukturen und Institutionen die Lebensphase Alter prägen und die Lebenslagen älter werdender und alter Menschen beeinflussen. Im Mittelpunkt stehen die soziale Lage älterer Menschen in der Gesellschaft sowie die sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen der Erwerbsarbeit, der sozialen Sicherung und materiellen Lage, der sozialen (insbesondere familiären) Beziehungen, der gesundheitlich-pflegerischen Lage und Versorgung sowie der gesellschaftlichen Beteiligung alter Menschen. Zentral ist dabei, welche Effekte soziale Differenzierung und soziale Ungleichheit für den Prozess des Altwerdens und die Lebenslage im Alter haben und wie der Zugang älterer Menschen zu gesellschaftlichen Gütern und Versorgungsleistungen von ihrer gesellschaftlichen Situation beeinflusst wird. Die Aufgaben sozialwissenschaftlicher Altersforschung umfassen die Beschreibung der Lebenslage älterer Menschen, die Beurteilung sozialer Sachverhalte (im Sinne des Aufzeigens gesellschaftlicher Probleme) sowie der Unterstützung von praktischen und politischen Interventionen durch Bereitstellung von Informationen und Evaluation von Maßnahmen. Die soziologische Forschung zu den gesellschaftlichen Bedingungen des Alterns hat eine Reihe von bedeutsamen Erkenntnissen zur Lebenslage von Menschen in der zweiten Lebenshälfte erbracht (Börsch-Supan et al. 2005; Tesch-Römer et al. 2006). Gerade für die Soziale Arbeit sind jene Arbeitsschwerpunkte der Alternssoziologie von hoher Bedeutung, in denen die sozialstrukturellen Bedingungen für soziale Ungleichheit im Alter analysiert werden. Stärker theoretisch ausgerichtet ist die Frage nach der gesellschaftlichen Konstitution des Alterns und des höheren Lebensalters als Teil des Lebenslaufs (Kohli 1985; Mayer und Diewald 2007) sowie die Frage, wie die demografischen Veränderungen zu einem Faktor sozialen und gesellschaftlichen Wandels werden (Kaufmann 2008). Hier geht es vor allem um die Frage, wie sich Altern gesellschaftlich konstituiert und wie Alter und Altern selbst als Triebfeder des sozialen Wandels und der gesellschaftli-
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Clemens Tesch-Römer und Andreas Motel-Klingebiel
chen Entwicklung wirken (vgl. auch Haller und Küpper, Pichler, sowie Schroeter und Künemund i. d. B.). In diesem Zusammenhang wird nach der gesellschaftlichen Konstruktion von Lebensläufen gefragt sowie untersucht, welche Wirkung die Institutionalisierung von Lebensläufen hat, mit der Personen eines bestimmten chronologischen Alters ein sozialer Status zugesprochen wird (Kohli 1985). Auch die Frage nach der Konstitution von Generationen als soziale Lagerung der Angehörigen bestimmter Geburtsjahrgänge in der historischen Zeit fällt in den weiter gefassten Bereich der Soziologie des Alterns. Schließlich geht es auch um die Frage, wie sich Gesellschaften verändern, in denen der Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung zunimmt und der Anteil der jüngeren Menschen abnimmt. Die empirische Alternsforschung ist eine bedeutsame Grundlage für Ansätze einer ‚sozialen Lebenslaufpolitik‘, die Rahmenbedingungen für gelingende Lebens läufe in den zentralen Entwicklungsbereichen Arbeit, Familie und Gesundheit setzen kann (Hank und Brandt 2014). Die Forschung in diesem Bereich hat mit der Verfügbarkeit von langjährigen Panelstudien wie dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) und dem Deutschen Alterssurvey (DEAS) zugenommen (Börsch-Supan et al. 2013). In diesen Untersuchungen geht es beispielsweise um den Zusammenhang zwischen Kindheitsbedingungen und erfolgreichem Altern (Brandt et al. 2012) oder die Gestaltung der Lebensphase Alter in unterschiedlichen sozialen und regionalen Kontexten (Hank und Jürges 2010). Dabei lässt sich auch eine zunehmende Verfügbarkeit von Regionalinformationen erkennen, die eine Analyse von Kontexteffekten aus regionaler und kommunaler Perspektive erlaubt – ein zukunftsträchtiger Bereich, wie nicht zuletzt der Siebte Altenbericht „Sorge und Mitverantwortung in der Kommune – Aufbau und Sicherung zukunftsfähiger Gemeinschaften“ der Bundesregierung belegt (BMFSFJ 2016b). Im Zusammenhang mit dem Paradigma des aktiven Alterns und dem European Year of Active Ageing and Solidarity Between Generations (2012) werden Potenziale für ehrenamtliches Engagement und Bedingungen für Wohlbefinden und Produktivität bis ins höhere und hohe Alter beleuchtet (z. B. Tesch-Römer 2012). So gibt der Band „Teilhabe im Alter gestalten. Aktuelle Themen der Sozialen Gerontologie“ (Naegele et al. 2016) einen Überblick über wichtige Perspektiven und Themen in diesem Feld. Zu beachten sind aber auch Diskursbeiträge, die eine kritische Beschäftigung mit den Schlagworten ‚Aktives Altern‘ und ‚Partizipation‘ fordern (Denninger et al. 2014). 2.2
Themen der verhaltenswissenschaftlichen Gerontologie (Alternspsychologie)
In der verhaltenswissenschaftlichen Alternsforschung (vgl. auch Wahl und Schmitt i. d. B.) der letzten zehn Jahre ist die Arbeit an den großen entwicklungspsychologischen Theorien und Modellen in den Hintergrund gerückt. Diese bilden allerdings noch immer die Grundlage für methodisch anspruchsvolle Arbeiten, die auf experi-
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mentell oder längsschnittlich gewonnenen Daten basieren und einen weiten Themenbereich abdecken (Tesch-Römer et al. 2017). Zentrale theoretische Ansätze, die die verhaltenswissenschaftliche Forschung in Deutschland bestimmen, sind theoretische Ansätze zur Entwicklungsregulation, die sozio-emotionale Selektivitätstheorie Laura Carstensens sowie die Stereotype Embodiment Theory von Becca Levy (TeschRömer 2018). Mittlerweile gibt es eine Reihe von Längsschnittstudien, mit denen Alternsverläufe (und nicht allein querschnittliche Altersunterschiede) analysiert werden können (etwa das Sozio-oekonomische Panel/SOEP, oder der Deutsche Alterssurvey/ DEAS). Der Blick auf die große Unterschiedlichkeit in den Entwicklungsverläufen in der zweiten Lebenshälfte hat eine wirkungsmächtige Tradition alternspsychologischer Arbeiten begründet. Dabei hat gerade die Entdeckung von Verteilungen in Alternsverläufen große Bedeutung, denn unterschiedliche individuelle Entwicklungen über die Lebensspanne deuten auch auf die Wirksamkeit moderierender Faktoren hin. Dies führte zu der Frage, ob und gegebenenfalls wie der Verlauf des Alterns modifiziert werden kann (Kliegl et al. 1989), und damit zu der Einführung des Konzepts der Plastizität, also der Beeinflussbarkeit von Alternsverläufen (Wahl et al. 2012). Themenbereiche psychologischer Alternsforschung sind beispielsweise Verlauf und Bedingungen der kognitiven Leistungsfähigkeit sowie die Entwicklung von Selbst und Persönlichkeit (Wahl et al. 2008). Gerade in der Untersuchung der kognitiven Entwicklung kann man die zentralen Untersuchungsfragen der Alternspsychologie gut erkennen. Themen der Forschung zum kognitiven Altern sind interindividuelle Unterschiede in Entwicklungsprozessen, kognitive Plastizität sowie Bildungsprozesse. Die Alternspsychologie leistet auch wichtige Beiträge zur Diagnostik kognitiver Fähigkeit im Alter, die gerade im Zusammenhang der Entdeckung von Demenz von großer Bedeutung ist. Die psychologischen Arbeiten zu Möglichkeiten und Grenzen kognitiver Plastizität, also der Beeinflussung von Wahrnehmung, Denken, Lernen und Erinnern, haben auch außerhalb der Grenzen verhaltenswissenschaftlicher Alternsforschung Aufmerksamkeit gefunden. Forschung zur kognitiven Entwicklung wird in Deutschland, etwa in der Arbeitsgruppe um Ulman Lindenberger, theoretisch und methodisch auf höchstem Niveau betrieben (Lindenberger 2014). Ein weiterer großer Themenbereich alternspsychologischer Forschung ist die Frage der Entwicklung von Selbst und Persönlichkeit. Mit Blick auf den Einfluss von Entwicklungsübergängen und Umweltbedingungen ist die Frage der Stabilität von Persönlichkeit im höheren Lebensalter anhand von Längsschnittanalysen neu beant wortet worden: Obwohl Persönlichkeit über die gesamte Lebensspanne recht stabil ist, gibt es auch im höheren Erwachsenenalter nachweisbare Veränderung von Persönlichkeitseigenschaften (Luhmann et al. 2014). Auch das ‚Paradox der Lebenszufriedenheit‘ gibt weiterhin Anlass zu empirischer Forschung: Obwohl mit dem Älterwerden mehr Entwicklungsverluste als gewinne zu verzeichnen sind, bleibt die Lebenszufriedenheit bis in das sehr hohe Lebensalter recht stabil. Lösungsvorschläge zu diesem Phänomen wurden mit Modellen der Entwicklungsregulation vorgelegt, in denen darauf verwie-
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sen wurde, dass Menschen nicht allein versuchen, Ziele zu realisieren, sondern auch über die adaptive Fähigkeit verfügen, Ziele der Realität anzupassen, wenn diese als unveränderlich wahrgenommen wird (Brandtstädter und Renner 1990; Heckhausen und Schulz 1995). Verschiedene Forschungsgruppen arbeiten in Deutschland auf der Basis von Laura Carstensens sozial-emotionaler Selektivitätstheorie. So untersucht die Arbeitsgruppe um Frieder Lang in Nürnberg etwa das Investment in soziale Beziehungen älterer Menschen (z. B. Lang et al. 2013) und das Team um Denis Gerstorf in Berlin erforscht die gegenseitige Beeinflussung älterer Paare (z. B. Gerstorf et al. 2013). Forschung zu subjektivem Altern konnte zeigen, dass die subjektive und gesellschaftliche Wahrnehmung von Alter und Altern den Prozess des Älterwerdens und die Lebenserwartung nachweisbar beeinflusst (z. B. Westerhof et al. 2014). Diese Forschung zu den Themen Altersbilder und Altersstereotype war eine der wichtigen Grundlagen für die Erstellung des Sechsten Altenberichts der Bundesregierung mit dem Titel „Altersbilder in der Gesellschaft“ (BMFSFJ 2010). Auch in der verhaltenswissenschaftlichen Alternsforschung ist das Thema des ‚erfolgreichen Alterns‘ nach wie vor bedeutsam, allerdings wird es mittlerweile weniger euphorisch behandelt als dies in der Vergangenheit häufig der Fall war. So wird beispielsweise gefragt, ob (und wenn ja, wie) erfolgreiches Altern mit gesundheitlichen Einschränkungen und Pflegebedarf möglich ist (Tesch-Römer und Wahl 2016). Es ist daher nachvollziehbar, dass es mittlerweile eine produktive Zusammenarbeit zwischen verhaltens- und pflegewissenschaftlicher Alternsforschung gibt, etwa mit Blick auf die Belastungen pflegender Angehöriger (Heidenblut et al. 2013; Wilz et al. 2015). Und schließlich erlaubt es der Perspektivwechsel auf die Restlebenszeit (zeitliche Distanz zum Tod), die Grenzen erfolgreichen Alterns zu erkunden, wenn sich das Leben dem Ende nähert und in diesem Prozess sich Abbauprozesse beschleunigen – ein Vorgang der auch „terminal decline“ genannt wird (Diegelmann et al. 2016).
3
Forschungsaktivitäten der sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Gerontologie in Deutschland
Sozial- und verhaltenswissenschaftliche Alternsforschung wird in Deutschland an Universitäten, Fachhochschulen, in außeruniversitären Forschungseinrichtungen sowie in privaten Forschungsinstituten betrieben. Im Folgenden wird eine Auswahl an universitären und außeruniversitären Forschungseinrichtungen und -netzwerken vorgestellt, in denen alternssoziologische und alternspsychologische Forschung betrieben wird. Zudem wird ein kurzer Überblick über die Forschungsförderung in diesem Bereich gegeben.
Sozial- und verhaltenswissenschaftliche Gerontologie in Deutschland
3.1
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Gerontologische Forschungsstrukturen
In den ersten zwei Jahrzehnten sozial- und verhaltenswissenschaftlicher Alternsforschung in Deutschland (seit dem Beginn der 1960er Jahre) existierten nur wenige Standorte und Zentren, vor allem Bonn, Berlin, Köln und Heidelberg. Zwischen 1980 und 2000 erfolgte dann eine deutliche quantitative und qualitative Ausdifferenzierung (z. B. in Dortmund, Erlangen-Nürnberg, Kassel und Vechta). Seitdem gab es auf der einen Seite eine Konsolidierung durch Lehrstuhlwechsel und den Ausbau von Forschungszentren, andererseits findet sich auch Wachstum mit der Entstehung neuer Zentren, z. B. in den neuen Bundesländern, und zugleich auch Schrumpfung – so wurde das Deutsche Zentrum für Alternsforschung an der Universität Heidelberg wieder geschlossen und die zuvor bedeutsamen Forschungsaktivitäten in Bonn und Trier traten seitdem in den Hintergrund. Die aktuellen Strukturen in der sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Alternsforschung in Deutschland ermöglichen spannende und lebendige Forschung, aber die Ausbauhoffnungen der 1980er Jahren haben sich nur in Teilen erfüllt. Sozialwissenschaftliche Lehrstühle mit deutlichen Alternsbezügen gibt es in Deutschland an den Universitäten Dortmund, Jena, Kassel, Köln, München und Vechta. An der Universität Köln wird zurzeit die wegweisende Hochaltrigenstudie NRW 80+ durchgeführt. Verhaltenswissenschaftliche Lehrstühle mit Alternsbezügen finden sich an den Universitäten in Berlin (Humboldt Universität), Erlangen-Nürnberg, Jena, Leipzig und Heidelberg. Zudem gibt es stark interdisziplinär angelegte Lehrstühle und Zentren in Frankfurt, Heidelberg, Köln und Bremen. Gemeinsam tragen die Universitäten Heidelberg und Mannheim das Netzwerk Alternsforschung, in dem die klassischen sozial- und verhaltenswissenschaftlichen sowie epidemiologischen und ökonomischen Betrachtungsweisen zum Thema Altern mit modernen molekularbiologischen und medizinischen Möglichkeiten in engen Austausch gebracht werden sollen. In Kooperation mit den Berliner Universitäten befasst sich das Deutsche Zentrum für Altersfragen (DZA) in Berlin mit der Lebenslage alternder und alter Menschen. Am DZA wird unter anderem die kohorten-sequenzielle Längsschnittstudie „Deutscher Alterssurvey“ (DEAS) durchgeführt. 3.2
Gerontologische Forschungsförderung
Sozial- und verhaltenswissenschaftliche Alternsforschung wird auf europäischer und deutscher Ebene gefördert. Gerade weil es sich bei der Gerontologie nicht um ein an den Universitäten bereits umfassend etabliertes Fach handelt, kommt der öffentlichen Forschungsförderung eine große Bedeutung bei der Herausbildung von Forschungsschwerpunkten zu. In der Förderpraxis ist zwischen themenoffenen bottomup- und thematischen top-down-Strukturen zu unterscheiden. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft ist die zentrale Selbstverwaltungseinrichtung der Wissenschaft zur Förderung der Forschung an Hochschulen und öffentlich
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finanzierten Forschungsinstitutionen in Deutschland – und fördert thematisch offene Vorhaben in allen Wissenschaftsgebieten. Wissenschaftliche Exzellenz, Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses, Interdisziplinarität und Internationalität gehören zu den Eckpunkten der Förderung. In solchen bottom-up-Strukturen – neben der Deutschen Forschungsgemeinschaft gilt das ähnlich auch für den European Research Council – geht es darum, dass Forschungsgruppen innerhalb von Grundlagenforschung innovative Ideen sowie neuartige Methoden entwickeln und damit das bestehende bisherige Wissen erweitern. Begutachtungsstrukturen im Rahmen von bottom-up organisierten Förderungsstrukturen entsprechen dem akademischen Fächerkanon. Hier zeigt sich, dass es für sozial- und verhaltenswissenschaftliche Alternsforschung aufgrund ihrer geringen Institutionalisierung und nicht zuletzt durch ihren zumeist interdisziplinären Charakter schwierig ist, sich in die entsprechenden Bewertungsraster einzupassen. Thematisch gebundene top-down-Ausschreibungen – beispielsweise der Bundes ministerien für Familie, Senioren, Frauen und Jugend oder für Bildung und Forschung und für Gesundheit, aber auch der Volkswagenstiftung und ähnlicher Einrichtungen – richten sich nicht nur an die sozial- und verhaltenswissenschaftliche Alternsforschung, sondern (häufiger) auch an die biologische und medizinische Alternsforschung. Ein Beispiel hierfür ist das Europäische Forschungsförderprogramm „Horizon 2020“, das stark auf die biomedizinische Alternsforschung ausgerichtet ist. Ein Programm, das sich vorrangig an die sozial- und verhaltenswissenschaftliche Alternsforschung richtet, ist die „Joint Programming Initiative: More Years, Better Lives“ (JPI-MYBL). Für die Weiterentwicklung sozial- und verhaltenswissenschaftlicher Alternsforschung wäre es wünschenswert, wenn beide Möglichkeiten der Forschungsförderung verbessert würden (bottom-up und top-down gesteuerte Förderungsprogramme). Aber auch die langfristige Investition in Forschungsinfrastrukturen lohnt sich: Längsschnittstudien sollten nicht projektförmig (also für einen begrenzten Zeitraum), sondern langfristig gefördert werden. Längsschnittstudien sind zwar teuer, aber sie haben als Infrastruktur hohen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Nutzen. 3.3
Gerontologische Forschungsprojekte
Die Landschaft der sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Forschungsvorhaben in Deutschland gestaltet sich in zunehmendem Maße komplex. Wir möchten im Folgenden vier aktuelle Studien vorstellen, die für die sozial- und verhaltenswissenschaftliche Alternsforschung in Deutschland von besonderer Bedeutung sind. Deutscher Alterssurvey (DEAS): Der Deutsche Alterssurvey (DEAS) ist eine bundesweit repräsentative Quer- und Längsschnittbefragung von Personen, die sich in der zweiten Lebenshälfte befinden, d. h. 40 Jahre und älter sind. Der DEAS wird aus Mit-
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teln des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gefördert und am Deutschen Zentrum für Altersfragen (DZA) durchgeführt (Klaus et al. 2017). Die umfassende Untersuchung von Personen im mittleren und höheren Erwachsenenalter dient dazu, Mikrodaten bereitzustellen, die sowohl für die sozialund verhaltenswissenschaftliche Forschung als auch für die Sozialberichterstattung genutzt werden. Die DEAS-Daten bilden damit auch eine Informationsgrundlage für politische Entscheidungsträger, die interessierte Öffentlichkeit und für die wissenschaftliche Forschung. Mittlerweile liegen Längsschnittdaten über einen Zeitraum von 21 Jahren mit Erhebungen in den Jahren 1996, 2002, 2008, 2011, 2014 sowie 2017 vor. Study of Health and Retirement (SHARE): Die Studie „Study of Health and Retirement“ (SHARE) ist eine interdisziplinäre, europäische Surveystudie zu Gesundheit, Altern und Ruhestand (Börsch-Supan et al. 2013). SHARE stellt einerseits Daten für die wissenschaftliche Forschung bereit und versteht sich andererseits als Basis für die wissenschaftliche Politikberatung. SHARE weist über Europa hinaus. Die Studie folgt einerseits den Modellen der English Longitudinal Study of Ageing (ELSA) und der US-amerikanischen Health and Retirement Study (HRS). Andererseits hat sie weltweit Folgestudien wie die Irish Longitudinal Study on Ageing (TILDA) oder den Chinese Health and Retirement Survey (CHARLS) angeregt. Inhaltlich zielt die Studie auf die komplexen Zusammenhänge zwischen sozialen, ökonomischen, gesundheitlichen und psychologischen Determinanten und ihren Bezug zur Lebensqualität im Alter im Gesellschaftsvergleich ab. Forschungsleitende Themen sind unter anderem „Sparen und Vermögen“, „Soziale Sicherheit“, „Renten und Pensionen“ sowie „Arbeitsmarkt“, das Verhältnis von Gesundheit und wirtschaftlichen Ressourcen, die Bedeutung der Familie und intergenerationale Transfers. Sozio-oekonomisches Panel: Das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) ist eine reprä-
sentative Wiederholungsbefragung von über 12 000 Privathaushalten in Deutschland (SOEP Group 2001). Die Befragung wird im jährlichen Rhythmus seit 1984 immer bei denselben Personen und Familien durchgeführt. Die befragten Personen und Familien repräsentieren die in Deutschland lebenden Menschen. Das SOEP wird am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) durchgeführt und ist eine Infrastruktureinrichtung der Leibniz-Gemeinschaft. Kölner Hochaltrigenstudie (NRW80+): Das an der Universität zu Köln angesiedelte Projekt „Lebensqualität und subjektives Wohlbefinden hochaltriger Menschen in NRW“ (NRW80+) untersucht die Lebensqualität der über 80-Jährigen in NordrheinWestfalen. Das spezifische theoretische und methodologische Design der Studie ergibt sich dabei aus der Berücksichtigung der zahlreichen methodologischen und theoretischen Besonderheiten, die eine Befragung dieser Bevölkerungsgruppe mit sich bringt (Wagner et al. 2018). Ausgehend von einem speziell entwickelten theore-
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tischen Rahmenkonzept soll die NRW80+ Befragung bislang weitgehend ungenutzte Möglichkeiten für den Einschluss von Hochaltrigen in repräsentative Surveys aufzeigen, eine Grundlage für zukünftige Forschung bilden und Politik für ältere Menschen befruchten. Die methodische Qualität der sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Alternsfor schung in Deutschland ist mittlerweile als hoch zu bewerten. Dies lässt sich insbe sondere an den eben genannten längsschnittlich angelegten Mehrthemenstudien im Bereich der Alternsforschung erkennen. Mittlerweile stehen auch retrospektive Informationen zu früheren Lebensabschnitten zur Verfügung und es sind Verknüpfungen mit administrativen und regionalen Daten möglich. Beispielsweise können Daten der „Study of Health and Retirement in Europe“ (SHARE) mit Daten der deutschen Rentenversicherung verknüpft werden oder Daten des „Deutschen Alterssurvey“ (DEAS) mit Daten aus der Datenbank „Indikatoren und Karten zur Raum- und Stadtentwicklung“ (INKAR-Datenbank) des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR). Mit diesen Datensätzen kann also nicht nur der gesellschaftliche Wandel analysiert werden, sondern es können wegen ihres Bezugs zu Institutionen, Ländern und Regionen kontextualisierte individuelle Veränderungs- und Alternsprozesse erforscht werden. Zudem können nun auch Kohorten- und Alterseffekte getrennt analysiert werden (z. B. Spuling et al. 2015).
4
Ausblick: Zur Zukunft sozial- und verhaltenswissenschaftlicher Gerontologie in Deutschland
Eine alternde Gesellschaft wird die Bedingungen des menschlichen Zusammenlebens grundlegend ändern und neue, zum Teil nur schwer abschätzbare, politische und wirtschaftliche Herausforderungen zu bestehen haben. Zwar sind die radikalen Veränderungen in der Altersstruktur der industrialisierten Gesellschaften der kommenden Jahrzehnte bereits seit einigen Jahrzehnten vorhersehbar. Dennoch war der Altersstrukturwandel bis vor kurzem nur Gegenstand von Expertendiskussionen und manchem Zeitungskommentar. Diese waren häufig Teil einer allgemeineren Sozialstaatsdiskussion und zumeist beschränkt auf die Probleme der Rentenfinanzierung und der Generationengerechtigkeit. Im vergangenen Jahrzehnt hat jedoch ein Wandel stattgefunden: ‚Alter‘ und ‚Altern‘ haben inzwischen allgemein hohe Konjunktur und gelten als gesellschaftliche Zukunftsthemen schlechthin. Dies schlägt sich auch in einer wachsenden Aktivität der sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Gerontologie nieder. Die Qualität der sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Gerontologie und die Nutzung der vielfältigen Ergebnisse aus dieser Forschung sind für die erfolgreiche Gestaltung von Gesellschaften des langen Lebens von hoher Bedeutung. Bei der Gestaltung gesellschaftlicher Herausforderungen wird sozial- und verhaltenswissenschaftliche Alternsforschung eine weiter zunehmend wichtige Rolle
Sozial- und verhaltenswissenschaftliche Gerontologie in Deutschland
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spielen. Bedeutsame Themen der Zukunft sind Entwicklungspfade in das hohe Alter mit ihren Übergängen in Hilfe- und Pflegebedürftigkeit, das Zusammenspiel unterschiedlicher Kontextfaktoren, die Bedeutung individueller Ressourcen für ein gutes Leben im Alter sowie die Herausforderungen, die durch Vielfalt und Ungleichheit in der Lebensphase Alter entstehen. Trotz ähnlicher Erkenntnisinteressen ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Alternssoziologie und Alternspsycholo gie aber keineswegs die Regel, sondern immer noch die Ausnahme, ganz abgesehen von Kooperationen mit anderen Disziplinen. Zudem sollte sich die sozial- und verhaltenswissenschaftliche Alternsforschung vermehrt darum bemühen, durch angewandte Forschung sowie die Beratung von Akteur/-innen in Gesellschaft und Politik dazu beizutragen, kreative Lösungen für gelingendes Altern und einen erfolgreichen Umgang mit den Herausforderungen der Gesellschaften des langen Lebens zu finden.
Weiterführende Literatur Brandtstädter, Jochen, und Ulman Lindenberger. Hrsg. 2007. Entwicklungspsychologie der Lebensspanne. Ein Lehrbuch. Stuttgart: Kohlhammer. Hank, Karsten, Frank Schulz-Nieswandt, Michael Wagner und Susanne Zank. Hrsg. 2018. Alternsforschung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Baden-Baden: Nomos Heyl, Vera und Hans Werner Wahl. 2015. Gerontologie. Einführung und Geschichte. 2. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer.
Die Altenberichte der Bundesregierung Themen, Paradigmen, Wirkungen Frank Schulz-Nieswandt
1
Einleitung
Die Altenberichterstattung des Bundes soll im Folgenden nicht referiert, sondern in ihrer „Ordnung der Dinge“ rekonstruiert werden. Diese „Ordnung der Dinge“ (Foucault 1974) ist ein story-telling: Wissenschaft erzählt eine bedeutungsvolle Geschichte. Dies für die Altenberichte nachzuvollziehen, erfordert eigentlich in wissenssoziologischer Achtsamkeit eine aufwendige Forschungsleistung, die weit über eine inhaltsanalytische Dokumentensichtung hinausgeht. Um den latenten Sinnstrukturen in den mittlerweile sieben vorliegenden Berichten auf die Spur zu kommen, bedürfte es einer Tiefenhermeneutik, die auch verdeckten kulturellen Deutungsmustern auf der Spur wäre. Das ist hier nicht zu leisten. Dennoch sollen im Folgenden Fragen gestellt und mögliche Antwortperspektiven angedeutet werden. Statt Hypothesenvalidierung steht in abduktiver (neue Gesichtspunkte entdeckender) Perspektive die Hypothesenformulierung im Vordergrund. Wie also ‚ordnet‘ die Arbeit der sog. Altenberichtkommissionen die Erfahrungs-, Wissens- und Forschungsbefundelandschaft zum Altern zum Bild einer kohärenten Gestalt, um daraus gesellschaftspolitisch nicht nur auf den Staat bezogene rele vante Schlussfolgerungen zur Gestaltung des sozialen Wandels zu ziehen ? Welcher konstruktiven Tiefengrammatik folgt die Erzählung ? Nicht die einzelnen Befunde sind unterschiedlich erzählbar, wohl aber die Geschichte, die aus der Arbeit am Gewebe der Einzelbefunde zu einer großen Erzählung resultiert (Schulz-Nieswandt 2018). Die Paraphrase des vorliegenden Beitrages ist folgende: Diese ‚große Geschichte‘ in der kohärenten Abfolge der Berichte ist die des Humanismus (Schulz-Nieswandt 2018b), einer philosophischen Anthropologie der Möglichkeit eines gelingenden Alter(n)s. Gesellschaftlich aggregiert öffnet sich so als Blick auf das Phänomen der alternden Gesellschaft das Deutungsmuster eines politischen Handlungskorridors zwi© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_57
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schen Dramatisierung einerseits und Verharmlosung andererseits. Alter(n) ist dann herausfordernde Belastung und Chance zugleich, Verlust und Gewinn. Dieses Bild vom Alter(n) ist nicht falsch. Im Gegenteil: Es hat weitgehend eine in der differenziellen Gerontologie theoretisch fundierte empirische Evidenz. In einem gewissen Sinne wird das Alter(n) im Lichte antiker Philosophie als Inbegriff des ‚guten Lebens‘ in der Polis als ontologische Wahrheit erkannt. Aber dennoch wird am Ende des Beitrages darüber zu reflektieren sein, ob und inwieweit mit der Altenberichterstattung der Bundesregierung die Differenz – der Abstand – zwischen platonischer Idee und sozialer Wirklichkeit (Schulz-Nieswandt 2017a, 2018, 2018b) hinreichend kritisch vermessen wird.
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Zur Politik der Erforschung sozialer Wirklichkeit
Sozialberichterstattungen gehören heute – wie schon seit ihrer Entstehung (Schmidt 2005) – in allen Policy-Feldern der Sozialpolitik als Teil der Gesellschaftspolitik zur Logik des politischen Systems der gestaltenden Verwaltung des sozialen Wandels. Bund, Länder und Kommunen (aber auch die EU und die UN) beteiligen sich hier ebenso wie z. B. die Verbände der Sozialversicherungen und der freien Wohlfahrtspflege oder Stiftungen. Die Formate sind vielfältig. Kommissionen, Beiräte, Expertisen bzw. Gutachten, Forschungsförderungen, Evaluationsprojekte usw. haben die Diskurslandschaft zur Vorbereitung der Politik der Gesetzgebung verändert. Insge samt hat sich das Feld der fachlichen und wissenschaftlichen Beratung der Politik in ihren verschiedenen Formen verändert, differenziert, vertieft und verdichtet und sodann in den diversen medialen Räumen eingebracht und verbreitet. Unser Wissen über die Wirksamkeit dieser Kultur des Regierens des sozialen Wandels ist begrenzt.
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Die Arbeiten der Altenberichtkommissionen
2018 hat die Achte Altenberichtskommission des Bundes ihre Arbeit aufgenommen. Ihr Thema ist die Digitalisierung und der ältere und alte Mensch. Dazu lautet es auf der Homepage des BMFSFJ: „Die Altersberichte sind wichtige Entscheidungsgrundlage für die Seniorenpolitik des Bundes. […] Die Bundesregierung will mit ihrer Seniorenpolitik die Menschen darin unterstützen, im Alter selbstbestimmt leben und an der Gesellschaft teilhaben zu können. Dabei kommen seit einigen Jahren die Digitalisierung vieler Lebensbereiche und damit besonders der Einsatz technischer Produkte und Anwendungen immer stärker in den Blick. Mit der Digitalisierung und besonders der Entwicklung und Verwendung von Technik für das Leben im Alter wird vor allem die Hoffnung verbunden, das Alltagsleben und die Versorgung älterer Menschen verbessern zu können. Es gibt aber auch andere
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Gründe, auf die Digitalisierung zu setzen: mit ihren Potenzialen und besonderen Nutzungsmöglichkeiten für das Leben im Alter ist sie auch ein Treiber für Forschung und für technologische Entwicklungen. Die Sachverständigenkommission zur Erstellung des Achten Altersberichts der Bundesregierung soll deshalb in ihrem Bericht herausarbeiten, welchen Beitrag Digitalisierung und Technik zu einem guten Leben im Alter leisten können und welchen Nutzen und Mehrwert dies für ältere Menschen hat. Ebenso sollen die gesellschaftlichen, sozialen und ethischen Fragen beleuchtet werden, die eine zunehmende Technisierung des Alltags älterer Menschen mit sich bringt. Der Bericht soll im November 2019 der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend übergeben werden.“ (BMFSFJ 2018a)
Die bisherigen Kommissionen sind thematisch einem Wechselrhythmus gefolgt: Abwechselnd wird entweder eine umfassende Lebenslagenberichterstattung oder eine besondere Thematik fokussiert. Zu den thematischen Schwerpunkten der Berichte gehörten das Wohnen, die (Vulnerabilität der) Hochaltrigkeit, die (sozialen und wirtschaftlichen) Potenziale des Alter(n)s, die (Wandlungen der) Alter(n)sbilder und die Rolle der Kommunen (mit Blick auf eine sozialraumorientierte Bildung sorgender Gemeinschaften im Kontext regionaler Versorgungslandschaften, vgl. dazu SchulzNieswandt 2018a). Die Kommissionen arbeiten autonom. Sie sind multi-disziplinär besetzt und in der Regel vergeben sie zu Teilfragen externe Expertiseaufträge. Die Bundesregierung nimmt nach Vorlage des Berichtes Stellung. Der Bericht erscheint als BundestagsDrucksache und findet auch in verschiedenen Formaten Verbreitung. Die Geschäftsstelle ist am Deutschen Zentrum für Altersfragen (DZA) in Berlin angesiedelt. Dort finden sich auch leicht zugänglich alle Berichte als PDF auf der Homepage (www. dza.de).
Die bisherigen „Altenberichte“ der Bundesregierung
2016: Siebter Altenbericht „Sorge und Mitverantwortung in der Kommune – Aufbau und Sicherung zukunftsfähiger Gemeinschaften“ (BT-Drs. 18/10210) 2010: Sechster Altenbericht „Altersbilder in der Gesellschaft“ (BT-Drs. 17/3815) 2006: Fünfter Altenbericht „Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft – Der Beitrag älterer Menschen zum Zusammenhalt der Generationen“ (BT-Drs. 16/2190) 2002: Vierter Altenbericht „Risiken, Lebensqualität und Versorgung Hochaltriger – unter besonderer Berücksichtigung demenzieller Erkrankungen“ (BT-Drs. 14/8822) 2001: Dritter Altenbericht „Alter und Gesellschaft“ (BT-Drs. 14/5130) 1998: Zweiter Altenbericht „Wohnen im Alter“ (BT-Drs. 13/9750) 1993: Erster Altenbericht zur „Lebenssituation älterer Menschen“ (BT-Drs. 12/5897)
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Die Leitung der Kommissionen lag im Dritten Bericht und im Fünften bis Siebten Bericht und liegt aktuell im Achten Bericht in den Händen von Prof. Dr. Dr. h. c. Andreas Kruse (Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg). Es wird im Folgenden die grundlegende These sein, dass die personelle Kontinuität der Leitung der Kommissionen einen subjektiven Faktor im Gesamtgeschehen der (Choreografie der) paradigmatischen Konturen darstellt und ein roter Faden im Trend der Berichterstattungen erkennbar wird. Auf diese durchgängigen Trendmuster der Berichterstattung soll die nachfolgende Analyse abstellen.
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Deutungsmuster der Alterung, anthropologische Grundannahmen, ethische und gesellschaftspolitische Orientierungen
Aktualisierend aufbauend auf meine vorgängigen Analysen zur Altenberichterstattung (Schulz-Nieswandt 2008; Schulz-Nieswandt und Mann 2010) können einige gestalt-bildende Elemente im Analyseparadigma anatomisch festgehalten werden. Dabei stelle ich eine weitere zentrale These auf: Es zeichnet sich ein hoher (fachwissenschaftlich weitgehend als Mainstream konsensfähiger) interner Kohärenzgrad der Altenberichtsanalysen über den Trend hinweg ab, allerdings sind auch verborgene Lücken in der Tiefe einer de-konstruktiven Selbstreflexion im Sinne Kritischer Gerontologie post-strukturaler Ausrichtung zu finden. Im Einzelnen lässt sich festhalten: a) Die Berichte sind in der transaktionalen differenziellen Gerontologie fundiert. Betont wird die intra- wie inter-individuelle Varianz des Alter(n)s. Der Mensch ist durch eine für ihn konstitutive Plastizität bis ins hohe Alter hinein geprägt. Altern ist eine – insofern transaktional modellierte – Entwicklungsdynamik der Wechselwirkung des Menschen und seiner Umwelt. Eine Biografie ist immer eine sozial überformte Biografie. Interventionen müssen beide Seiten dieser transaktionalen Ordnung im Blick haben. Aus dieser Sicht der Dinge resultiert auch die Differenzierung des Alters. Das ist u. a. relevant für den nächsten Punkt. b) Die Berichte kennzeichnen Alter(n) als Herausforderung und Chance und sichten einen Entwicklungskorridor zwischen der Vulnerabilität der Hochaltrigkeit und den Potenzialen der Generativität des Alters. Mit dem Alter werden Risiken und Verletzbarkeiten deutlich. Altern ist aber keine einfach zu denkende Verlustfunktion, sondern kann auch die Potenziale und somit den Gewinn des Alterns zum Ausdruck bringen. Dies spielt in verschiedenen Diskursen um kristalline Intelligenz, Weisheit, Reife und Generativität eine Rolle.
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c) Die Berichte insistieren auf differenzierte Altersbilder. Aus a) und b) resultiert eine differenzierte, nicht von diskriminierenden Vorurteilen stereotypartig verkürzte Sicht auf das Alter(n). Dabei geht es grundsätzlich um eine Prävention von Ageism, aber auch um die dergestalt erst mögliche passungsfähige Ausdifferenzierung der immer auf die Befähigung abstellenden Care- und Cure-Systeme der Versorgung. d) Die Berichte gründen auf einer philosophischen Anthropologie der (Rechtsphilosophie und Ethik der) Selbstbestimmung, Selbstständigkeit und Teilhabe – zwischen Autonomie, Abhängigkeit und Mitverantwortung. aa) Das normativ-rechtliche Mehr-Ebenen-System von Völkerrecht, Europarecht, Verfassungsrecht und das System der Sozialgesetzbücher, Bundeslandesgesetzgebungen etc. stellen auf die grundrechtlichen Werte der Autonomie und der Teilhabe ab. Dem folgt auch die Altenberichterstattung. In der Alternsauffassung der Kommissionsarbeiten ist die soziale Mitverantwortung im Lichte der Reziprozität der Rollen aller auf partizipative Autonomie angelegten Subjekte die Kehrseite der Freiheit. Freiheit ist nur in einer Ordnung der mitmenschlichen Verantwortung möglich. bb) Aus der Verschachtelung der Punkte a) bis d) resultiert als bb) die psychodynamische Entwicklungsaufgabe, die im Alter sich einstellende Abhängigkeit aus der Haltung der Selbstliebe heraus zu akzeptieren. Es geht also um die Offenheit gegenüber Care-Ordnungen. Diese Offenheit ist für die Stabilisierung der Lebensqualität auch unter der Bedingung von Funktionseinschränkungen wichtig, aber auch mit Blick auf die Vermeidung von Unter- oder Fehlversorgungssituationen. e) Die Forderung ‚Aktualgenese statt sozialer Tod‘ wird mit der Betonung der Bedürftigkeit nach einem aufgabenorientierten Altern (Generativität) aufgestellt. Im Alter keine oder kaum noch eine Rolle zu spielen, nicht mehr angefragt zu werden, bedeutungslos geworden zu sein, wird in der Ethnologie als sozialer Tod bezeichnet. Im Lichte von aa) muss eine Umwelt für das weitere Wachstum und Werden der Person bis ins letzte Lebensjahr hinein anregend und förderlich sein. Der aus Traditionen der Gestaltpsychologie und der Humanistischen Psychologie stammende Begriff der Aktualgenese bezeichnet diesen Charakter der Umwelt für die Person: Die Person benötigt, allerdings wiederum transaktional gedacht (oben Punkt a und b), diese ihre Welt, in die sie gestellt ist, zur Selbsttranszendenz. Allerdings muss sie (vgl. im Lichte von Punkt bb) dazu die notwendige Haltung der Offenheit gegenüber ihrer Umwelt aufbieten. Das Thema ist für eine Inklusionsskalierung von Wohn- und Care-Settings von fundamentaler normativ-rechtlicher Bedeutung. f) Die Berichte verorten Alter(n) im Gefüge der Generationenbeziehungen. Die Überlegungen von Punkt e) im Lichte der vorgängigen Punkte in a) bis d) fokussieren auf die Notwendigkeit, das Alter nicht als isolierte Altersklasse zu verstehen. Der Mensch ist in jeder Altersphase seines Lebenslaufes in ein Generationengefüge
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gestellt. Erst dann können analytisch die soziologisch gut erforschten sozialen Austauschprozesse in den Blick kommen. Auch hier präveniert die Sichtung der CaringSysteme des Gebens und Nehmens die reduktionistische Defizittheorie des Alterns. g) Die Ankerfunktion des Wohnens in der Daseinsproblematik der Alterung des Menschen wird in den Berichten deutlich. Anthropologisch gesehen muss sich der Mensch bauend (gestalt-bildend und ordnungs-gebend) in der Welt wohnend einrichten. Wohnbilder sind Seelenbilder, Siedlungsformen kultivieren das Einwohnen in die Landschaften. Alles dreht sich im Radius der Mobilitätsprozesse um diese Ankerfunktionalität des Wohnens. Erst von dort her gesehen sind die Module der Care- und Cure-Systeme angebaut. Wohnen ist der Mikrokosmos, um den herum sich die Mesokontexte lokaler und regionaler Sozialraumentwicklung entfalten. Es ist ein Raum der Wechselwirkungen zwischen dem lebensweltlichen Mikrokosmos des Wohnens und den lokalen und regionalen Infrastrukturlandschaften. Hier entfalten sich die Hilfe-Mix-Mechanismen, die zur Bewältigung des auf der Makroebene thematisierten demografischen Wandels notwendig sind. h) Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrtsgesellschaft, insbesondere die Bedeutung der Formen bürgerschaftlichen Engagements, werden in den Berichten berücksichtigt. Die moderne Gesellschaft und ihre Wirtschaft ist wohlfahrtsstaatlich durch normativrechtliche Regulationen und eine re-distributive Sozialökonomik einbettend überformt und geordnet. Doch in dieser rechtsphilosophisch und anthropologisch gut begründbaren politischen Ordnung der Gewährleistung und Sicherstellung der Leistungserstellung von Care- und Cure-Systemen zwischen Staat und ‚bürgerlicher Gesellschaft‘ ist das Geschehen nicht nur vom Staat her zu denken. Soziale Wohlfahrtsproduktion ist ein multi-sektorales Leistungsgeschehen. Auf der Mikroebene ist die Leistungserstellung eine Koproduktion professionell-formeller und lebensweltlichinformeller Ressourcen. Die bürgerliche Gesellschaft selbst bringt sich mit ihren freien Assoziationen und den Engagementformen in das Geschehen der Leistungserstellung ein. Zu dieser Welt der Hilfe-Mix-Mechanismen des Sozialraums gehören die Formen des bürgerschaftlichen Engagements, ob als individuelle Fremdhilfe für Ditte in und außerhalb sozialer Organisationen oder als genossenschaftsartige Formen der solidarischen Gegenseitigkeitshilfe in selbstorganisierter Selbstverwaltung (SchulzNieswandt 2018c). Das Alter selbst ist in diesem Wirkungskreis nicht nur eingelassen als passives Objekt der Hilfeannahme, sondern auch als aktive Hilfe-Gabe. Nochmals kumulieren hier die vorgängigen Punkte. i) Die Berichte zeigen eine Fortentwicklung der Hilfe-Mix-Idee und, verweisen auf die Bedeutung der kommunalen Lebenswelt: Stichworte sind ‚sorgende Gemeinschaften‘ im Kontext der Infrastrukturen ‚regionaler Versorgungslandschaften‘. Die Punkte a) bis h) kumulieren in diesen Punkt i). Letzterer ist die Paraphrase der dicht skizzierten Sichtweisen in ihren inneren Zusammenhängen. So wie kaum zu-
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sammengefasst werden kann, was an inhaltlichen Orientierungen und Positionierungen im Detail in der Abfolge der Berichte von den jeweiligen Kommissionen generiert worden ist, so ist auch keine Zusammenstellung von Empfehlungen, die sich zu einem normativen Gesamtprofil aggregieren lassen, möglich. Vielleicht lässt sich aber das politische Leitbild des Siebten Berichts nutzen, um die These zu wagen, hier kumuliert sich die über die Berichte hinweg allmählich herauskristallisierte Kernidee. Sie ist in der Fachlichkeit der letzten Zeit auch stark rezipiert worden, beruhte aber auch auf vorgängigen Diskursentwicklungen in (Sozial-)Politik und Praxis (vgl. Hammerschmidt und Löffler, Rubin sowie Aner in Kap. II.1 i. d. B.), ist von der Rechtsphilosophie der Inklusionsidee vorangetrieben worden und prägt bereits deutlich die Politik in einigen Bundesländern. Gemeint ist die paradigmatische Idee der Re-Vitalisierung der kommunalen sozialen Daseinsvorsorge. Konkretisiert wird dies als sozialkapitaltheoretische Sicht auf die Bedeutung vernetzter Lebenswelten (HilfeMix-Strukturen) als lokale sorgende Gemeinschaften. Damit entwickelt sich die bereits etablierte Sozialraumorientierung weiter zum Paradigma der Caring Community als Community-Building-Strategie im Rahmen oder auf der Grundlage einer regionalen Gewährleistung und Steuerung sektoral übergreifend integrierter bedarfsgerechter Versorgungslandschaften. Dann fügen sich auch andere Positionierungen der Kommissionsarbeiten organisch ein, die hier – notwendig selektiv – angesprochen und fachlich erläutert werden sollen. Sicherlich gehen die Deutungsmuster der Erläuterungen über die Ausformulierung in den Kommissionsberichten etwas hinaus. Im Kern schärfen sie aber, was dort angelegt ist. •• Ohne differenzierte Altersbilder und offene Wahrnehmungsmuster gegenüber dem homo patiens insgesamt bleiben die Wege zu dieser Vision bereits in den mentalen Modellen der Menschen versperrt. Denn menschliches Verhalten variiert nicht mit der objektiven Wirklichkeit, sondern mit der sozial überformten, kulturell geprägten, selektiv-konstruierten, interpretierten Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit. Wandel als sozialer Lernprozess beginnt in den Köpfen der Menschen. Dazu gehört dann auch die herausgestellte Fokussierung nicht nur auf die Risiken, sondern auch auf die Potenziale des Alters. Damit konnte auch das Engagementpotenzial des Alters im Generationengefüge ein signifikantes Diskursthema werden. Ob die Gender-Dimension in der Altersstereotypendiskussion der Kommissionen hinreichend erfasst worden ist, kann problematisiert werden. M. E. überlagern negative Frauenbilder die negativen Altersbilder, in denen das maskuline Alter oftmals positiver dargestellt wird. •• Das Fürsorge-Dispositiv hat sich zu einem komplexen Care-Dispositiv gewandelt. Antike Tugendethik, sicherlich auch in verschiedenen Strömungen des Kommu nitarismus vorbereitet, unter den Bedingungen der Modernität der Gesellschaft findet Eingang. Der Mensch trägt in seiner von Selbstbestimmung und Selbstständigkeit geprägten Identität soziale Mitverantwortung. Als Prosozialität im
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jüngeren Alter und als Bedürftigkeit nach Generativität im Generationengefüge, das jede Gesellschaft charakterisiert, liegt diese im personalen Selbstkonzept verankert: Der offene Weltbezug bettet sich im wohlverstandenen Eigensinn des Selbstbezuges ein. Care-Ordnungen sind eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das Subsidiaritätsprinzip darf nicht zu individualistisch und somit privatistisch ausgelegt werden. ‚Hilfe zu Selbsthilfe‘ ist eine wohlfahrtsstaatliche (dem Capabi lity-Ansatz in der Sozialpolitik nahe) und eine wohlfahrtsgesellschaftliche Aufgabe. Dieser trägerschaftliche Wohlfahrtspluralismus prägte bereits die ältere WelfareMix-Idee, ist nun aber fortentwickelt und keineswegs reduziert auf eine, die Fähigkeiten und die Selbstverantwortung des Subjekts fokussierende Enabling-Idee, die Gefahr lief, sich neo-liberal zu verkürzen. Der Teilhabegedanke (Schulz-Nieswandt 2017a), der völkerrechtlich aus der Sicht auf Menschen mit Behinderungen erwuchs und sich, auch im EU-Grundrechtsdenken, zu der generalisierten Idee der Inklusion des homo patiens (im Fall von Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Armut, Einsamkeit etc.) ausdehnte, bettete das Werden und das Wachstum der Person in die Forderung nach Chancen der Partizipation im Gemeinwesen ein. Deshalb wird auch der Begriff der Gemeinschaft unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft re-installiert. Über die Wortwahl kann man (soziologiegeschichtlich gesehen) streiten, in der (anthropologisch verstehbaren) Sache werden im Lichte der psychologischen Forschungsbefundelandschaft die Dinge soziologisch angemessen neu sortiert (Schulz-Nieswandt 2018b, 2018c). •• Das hat Auswirkungen auf die Forderung nach Ausdifferenzierung der Wohnformen in ihrer Ankerfunktionalität der personalen Lebensführung. (Angemerkt sei: Hier hat die Arbeit des Kuratoriums Deutsche Altershilfe – (KDA) über Jahrzehnte die Bahnung solchen Denkens fundiert, zuletzt durch die Konzepte des Quartiersmanagements, vgl. Kremer-Preiss und Mehnert 2019). Dazu gehört die Öffnung der Heime zum Sozialraum hin, dazu gehört die Skepsis gegenüber der Reduzierung nicht-stationärer Settings auf ambulant ergänzte private Häuslichkeit, dazu gehört die Fokussierung auf die besondere Vulnerabilität der Hochaltrigkeit. •• In diesem Lichte wird die Betonung der (im Theorem der Aktualgenese fundierbaren, siehe 4e) anregenden Umwelten in den jeweiligen Settings von Wohnen sowie Care und Cure tiefgründiger verständlich. Das transaktionale Verständnis des Alterns im Lebenszyklus betont die Wechselwirkung von Kompetenz (Person) und Kontext (Umwelt). Der Kompetenzbegriff übersteigt den Ability-Begriff der älteren Gerontologie des aktiven Alterns um diese Verwiesenheit des Subjekts auf seine Umwelten der Ermöglichung und Förderung gelingenden Wachstums und Werdens der Person. Person-Sein meint demnach immer ein Selbst-Sein im Modus des partizipativ gelingenden sozialen Miteinanders. Das ist personalistisches, nicht individualistisches, aber eben auch kein kollektivistisches Denken. Hier wird deutlich, wie wichtig es wäre, in der Methodenentwicklung zur Inklusionsskalierung des Wandels der Wohn- und Versorgungslandschaften voranzukommen (Schulz-Nieswandt 2016a). Wann sind soziale Innovationen ‚echte‘ Innova-
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tionen ? Pfadabhängigkeiten im Kontext von Marktkapazitätsinteressen müssen überwunden werden. Sozialpolitik muss auf die Steigerung der Lebensqualität der Menschen ausgerichtet sein. Im Kontext von Freiheit, Gleichheit (der Chancen zur Freiheit) und Solidarität geht es um (möglichst selbstständige) wohlverstandene Selbstbestimmung im Modus der Partizipation des Gemeinwesens, das zum Sozialraum entwickelt werden muss. Ein Raum ist ein moralökonomischer So zialraum, wenn seine Netzwerkstrukturen einerseits soziale Unterstützung bieten, und er andererseits Ort der Personalisierung und der sozialen Integration durch Rollenangebote ist. Es zeichnet sich die nicht marktkalkulatorisch ausbalancierte Reziprozitätsordnung von Gabe und Gegen-Gabe ab. Die Kommune wäre dann eine Hilfe- und Rechtsgenossenschaft (Schulz-Nieswandt 2018c). Wie ist diese Re-Konstruktion der ‚großen Geschichte‘ des individuellen und sozialen Alterns in der Erzählung der Kommissionsberichte insgesamt zu beurteilen ? Sie ist stimmig, weist also eine theoriefundierte und empirisch gesättigte innere Kohärenz auf. Dennoch fehlt mitunter eine gewisse Tiefe einer de-konstruktiven Meta-SelbstReflexion, wie im Folgenden skizziert werden soll.
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Erfolgreiches Altern: Post-strukturale Anmerkungen zur Notwendigkeit kritischer Meta-Selbstreflexion humanistischer Gerontologie
Es gehört zum heutigen Aktualisierungspotenzial der Wahrheit der antiken Philosophie des guten Lebens der Polis, dass die Bürger/-innen ihr Wesen dann zur Form bringen (Paideia als Formung der Person: Schulz-Nieswandt 2017a, 2018b), wenn sie ein aktives Leben im Gelingen des sozialen Miteinanders führen. Der Mensch kommt in seiner Personalität dann zur Gestaltwahrheit, wenn ihm dies in der Immanenz seiner Endlichkeit des Lebenszyklus gelingt. Schafft er dies, dann braucht er auch keine existenzielle Angst der Verzweiflung haben angesichts des Todes, der die Signatur seiner Endlichkeit ist. Wenn der Mensch aber am Dasein scheitert, mag er zur Akzeptanz der Endlichkeit nicht stehen wollen, weil er sein Werk als ein Selbst im sozialen Miteinander nicht vollendet hat. Er kann ferner auch Angst vor der Art des Sterbens haben. Diese Frage einer Kultur des Sterbens wird in den Altenberichten durchaus angesprochen. Diese antike Dimension ist eine eher verborgene Dimension in der Tiefe der Philosophischen Anthropologie des Alter(n)s des Menschen im Generationengefüge der Gemeinde. In einer ‚sorgenden Gemeinschaft‘ auch unter den modernen Bedingungen der mentalitätsgeschichtlichen Psychohistorie der Selbstbestimmung und Selbstständigkeit des Subjekts ist dies durch die Einbettung der relativen Autonomie im Modus der Teilhabe als Partizipation am Gemeinwesen theoretisch ermöglicht. Auto nomie (Schneider 2019) der Person ist daher relativ, weil sie immer nur im Prozess
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sozialer Relationen wirklich wird und eben nur im Kontext der Grenzen der natürlichen, technisch-dinglichen, sozialen Welt, in die der Mensch gestellt ist. Einige Problemanzeigen an dieser positiven Bildung der Akzeptanz der Altenberichterstattungen sind jedoch zu artikulieren: a) Den Berichten fehlt der Blick für kulturelle Tiefengrammatiken und für psychodynamische Abgründigkeiten. Die angesprochene Sozialraumgebundenheit der Personalität des Menschen muss erst noch soziale Wirklichkeit werden. Spuren auf dem Weg dorthin sind empirisch auszumachen. Aber es sind nicht nur die zunehmende soziale Ungleichheit, die Prekarität als Übergangsraum zur Marginalität, die Mechanismen der Ausgrenzung, die hier den Status des Noch-Nicht der Wahrheit des personalen Selbst im Gelingen des Miteinanders (Schulz-Nieswandt 2018b, 2018c) blockieren. Es sind auch die psychodynamisch (im Sinne charakterneurotischer Verstiegenheiten) tiefer liegenden affektpsychologischen Blockaden der inklusiven Gemeindeordnung (Schulz-Nieswandt 2013): Angst und Ekel der Insider der Wohlstandszentren gegenüber dem homo patiens als Outsider. Die Probleme der Pfade in die inklusive Gemeindeordnung werden nicht tief genug nachgezeichnet. Die habituellen Blockaden vieler Professionen (Güther 2018) sind zu problematisieren. Ebenso ist die fehlende dionysische Sprungbereitschaft (Schulz-Nieswandt 2015) der Versorgungsinstitutionen als Gefangene ihrer Programmcodes ein Problem. Ferner sind das Versagen der Politik sowie oftmals fehlende Visionen und soziale Phantasie, Mut und ein die Myopie überwindender langer Zeithorizont sowie Leitbildauthentizität stärker als Kritik kritischer Wissenschaft zu artikulieren. b) In den Berichten herrscht eine problematische ordnungspolitische Verhaltenheit. Die Pflegethematik innerhalb der Sozialberichterstattung des Alter(n)s wird nicht hinreichend de-konstruierend geordnet. Still werden die generischen Vektoren der Ordnung des Sektors im Lichte einer skotomisierten Auslegung des Prinzips der Subsidiarität akzeptiert: so die fehlende Vergesellschaftung des Pflegerisikos, die Familialisierung und ihre Genderordnungen als Pfad dieser Privatisierung. Die Logik der plafondierten (gedeckelten) Grundsicherung des SGB XI wird nicht wirklich in ange messener Radikalität infrage gestellt. Das wäre ein Umbau der Finanzierung zugunsten einer Bedarfsdeckungswirtschaft. Realisiert würde müsste eine ‚echte‘ Teilkasko-Sozialversicherung: Ein Selbstanteil und die ‚Hotelkosten‘ der Pflegearrangements müssten von den betroffenen Menschen getragen werden, aber darauf muss dann eine zur Selbstbestimmung, Selbstständigkeit und Teilhabe befähigende Bedarfsdeckungsversorgung zur Sicherung der Lebensqualität aufsetzen. Grundlage wäre dabei eine individualisierte Bedarfsbestimmung, auf die eine Personalmixbemessung bezogen wird, um den Bedarf zu decken. Das wäre näher an – nicht identisch mit – der Logik des SGB V. Es gäbe hier noch vieles anzuführen zur Mutation der sektoral fragmentierten Care-Cure-Versorgungsindustrielandschaften (Schulz-Nieswandt
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2010). Die Dominanz einer zur systemischen Achtsamkeit blockierten und nicht selten iatrogenen Medizinkultur wird nicht scharf konturiert in den Analysen der Altensozialberichterstattung. c) Die Artikulation der Sollbruchstellen im Wirklichkeitswerden der heiligen Ordnung der Personalität des Menschen und seiner Würde (Schulz-Nieswandt 2017) ist schwach ausgeprägt. Somit bleibt die Berichterstattung oftmals weitgehend strukturkonservativ. Dies ist nicht passungsfähig zur anthropologisch fundierten Werte-Orientierung und ihren ethischen Schlussfolgerungen der Berichte. Die normativen Referenzwelten und die Welt der sozialen Wirklichkeit im Alltag des sozialpolitischen Geschehens kommen nicht zur Deckung. Der betroffene Alltagsmensch kann über diese Ordnungen des personalen Erlebnisgeschehens selbst darüber berichten: als Odysseus im Labyrinth der Systeme. Die verborgenen normativen Maßstäbe der Rechtsphilosophie der Teilhabe und der Anthropologie der personalen Autonomie in den Berichten gehen eigentlich über die strukturkonservative Zurückhaltung der Berichte hinaus. d) Es finden sich in den Berichten stille Mutationsspuren der Zweckentfremdung informeller Ressourcen in der Engagementpolitik. Folgt man der Idee der Caring Communities (Schulz-Nieswandt 2013, 2016; Krisch 2018), der Polis als Hilfe- und Rechtsgenossenschaft (Schulz-Nieswandt 2018c) unter den Bedingungen der Moderne, so ist die damit transportierte Notwendigkeit der multi-sektoralen sozialen Wohlfahrtsproduktion der Märkte (der For-Profit- und Non-for-Profit-Unternehmen), der Formen bürgerschaftlichen Engagements, der Familie und anderer Formen primärer Vergemeinschaftung eine realistische Perspektive. Aber es kommt auf die genaue funktionale Geometrie des Mit-, Neben- und Gegeneinanders der sektoralen Ressourcen an: Engagementpolitik bekommt einen spezifischen Charakter, wenn die Tugendbürger/-innen instrumentalisiert werden zur Staatsentlastung durch eine familialistische Privatisierung eines sozialen Risikos mit entsprechenden Genderordnungswirkungen. e) Die Berichte provozieren die Frage: Geht es um gelingendes personales Dasein oder um einen fetisch-artigen Produktivismus bis zum Ende ? Letztendlich kann argumentiert werden, dass die vita activa des guten Lebens nicht vereinnahmt werden darf durch Konturen eines erfolgreich-produktiven Alter(n)s, das die Logik des kapitalistischen Dispositivs (Gnosa 2018) als Chimäre der generativen Kreativität der Alterspotenziale in gouvernementaler Weise chronologisch verlängert. Auf die Problematisierbarkeit dieser stillen Kalenderordnung muss Kritische Wissenschaft pochen. Das ist nicht falsch zu verstehen: Das Alter soll kein Ruhestand zugeschriebener Disengagementpraktiken sein. Bis in den Tod hinein hat der Mensch das Grundrecht auf selbstbestimmte Teilhabe im Rollenkontext seiner sozialen Mitverantwortlichkeiten (Kruse 2017a).
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Ausblick
Welche Überlegungen könnten für einen Ausblick aufgegriffen werden ? Es geht nicht um noch nicht oder nicht hinreichend aufgegriffene Themenstellungen. Es gibt ja auch außerhalb der Altenberichterstattung des Bundes gerontologische Forschungen. Desiderat bleibt eine gründliche re-konstruktive Analyse der Altenberichte, wie es hier eingangs angesprochen worden ist. Über die diskursrelevanten Resonanzräume der Altenberichterstattung und ihre Wirkungen wissen wir auch nicht viel. Seit den Berichten über die Altersbilder und über die Potenziale des Alters hat sich das politische Marketing der Berichterstellung verändert. Es wird nicht mehr nur ein finaler Bericht der Politik und sodann der Öffentlichkeit übergeben. Schon während der Produktionsarbeit werden in verschiedenen Formaten Diskussionsveranstaltungen organisiert und somit die interne Kommissionsarbeit der Außenwelt geöffnet. Insgesamt gesehen könnte die Einschätzung stimmen, wir hätten kein Wissensund Erkenntnisproblem, sondern Handlungsprobleme der Umsetzung. Aber ganz so einfach ist die Lage nicht zu charakterisieren. Die Einschätzung wäre nicht falsch, aber wohl doch verkürzt. Die post-strukturalen Anmerkungen haben ja gezeigt, dass der Mainstream der Sicht und „Ordnung der Dinge“ allein nicht ausreichen. Die Probleme müssen epistemologisch nochmals tiefer hinterfragt werden. Nicht die Befunde, aber die Ordnung der Befunde zu einer großen Erzählung hängt vom Drehbuch ab. Und hier muss sich die Wissenschaft selbst achtsam unter Verdacht nehmen: Was ist die treibende Idee in der Komposition des Bildes ? Wie wird der Pinsel geführt, wenn das Bild der Problemlandschaft gemalt wird ? Auch Wissenschaft verfährt hier narrativ. Über das Produkt der Narration muss kritisch räsoniert werden. Nachgedacht werden muss kultursemiotisch auch über den grammatischen Kulturstil des Zusammenspiels von Wissenschaft, Fachlichkeit und Politik: Was für ein Spiel wird hier gespielt ? Wie spielt man hierbei mit ? Ist die Effektivität der Sozialberichterstattung mit Blick auf die Semantik (wissenszentrierte Botschaften der Forschungserträge) eine Chimäre ? Wird Wissenschaft instrumentalisiert zur Konstruktion des öffentlichen Bildes, Politik sei ja umweltoffen und lernbereit ? Wenn ja, ist denn dann Politik (im Sinne einer Pragmatik der Reform) auch lern- und somit handlungsfähig ? Hierbei verstehen wir die Rolle der Wissenschaft etwas demütig. Wir sollten hier nicht überzogen wissenschaftsgläubig sein. Soziale Wirklichkeit ist immer nochmals komplizierter als die Einsichten der Forschung. Und das politische System hat seine eigene Logik, hat eigene Regeln im Feld der politischen Arena. Politik in modernen ausdifferenzierten Gesellschaften kann nicht nach wissenschaftlichen Blaupausen eine bessere Welt basteln. Einerseits mag Wissenschaft das Gefühl bekommen, Sisyphusarbeit zu leisten, von der Albert Camus ja sagte, man muss sich diesen tragischen Helden der griechischen Mythologie als einen glücklichen Menschen vorstel-
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len. Andererseits ist sie mit dem Austritt aus dem Elfenbeinturm (der Wissenschaft) Teil des politischen Systems geworden.
Ausgewählte Literatur Hank, Karsten, Frank Schulz-Nieswandt, Michael Wagner und Susanne Zank. Hrsg. 2018. Alternsforschung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Baden-Baden: Nomos. Schulz-Nieswandt, Frank. 2018. Der Netzwerkmensch und die Idee der Caring Communities in alternden Gesellschaften – eine dichte Darlegung. In Case Management 15. Heft 1: 4 – 8. Ross, Frisco, Mario Rund und Jan Steinhaußen. Hrsg. 2018. Alternde Gesellschaften gerecht gestalten – Stichwörter für die partizipative Praxis. Opladen u. a.: Barbara Budrich.
Vergleichende Alternsforschung – nationale Bedingungen, internationale Ergebnisse und Strategien Hans-Joachim von Kondratowitz
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Traditionen und Entwicklungsperspektiven
Altern im Blick der Sozialen Arbeit hat sich erst im 20. Jahrhundert in Deutschland professionell etabliert. In der Weimarer Republik wurde Altern nicht nur als Ausdruck demografischer Verhältnisse und damit als gesellschaftliche Bedrohung durch die damals einflussreiche Bevölkerungswissenschaft definiert (vgl. Traditionen bis heute: Randeria 2018), sondern durch die faktische Sozialarbeit auch als Merkmalsträger bestimmter benachteiligter Gruppen wie der ‚Sozialrentner‘ oder der ‚Kleinrentner‘ begriffen. Alte Menschen wurden vor allem als zukünftig versorgungspolitisch zunehmend beachtenswerte Klientel des Wohlfahrtsstaates erkannt. Nach der intellektuellen und politischen Abschnürung im Nationalsozialismus ging das darauf folgende Öffnen für den sich neu bildenden Sozialstaat der Bundesrepublik auch einher mit einer Intensivierung internationaler Kontakte in den Sozial wissenschaften und den mit sozialwissenschaftlicher Expertise arbeitenden Berufsfeldern. Eine zunehmende Kontaktaufnahme in die Länder der westlichen Alliierten, darin besonders deren angloamerikanischen Vertretern fand im Westen statt. Später vergrößerte sich der Kreis der angesprochenen Länder auf die weitere Umwelt des entstehenden europäischen politischen und kulturellen Raums. Eine stärkere Beachtung der mit Altern verbundenen sozialen Problemlagen begann in der Nachkriegszeit mit der Etablierung des Wohlfahrtsstaates: zuerst das Thema der Wohnverhältnisse im Alter, insbesondere des Entwurfs von – nach damaligem Standard – modernen Altenheimen, später seit Mitte der fünfziger Jahre dann das alles übergreifende Thema der Armut im Alter (vgl. Hammerschmidt und Tennstedt sowie Aner in Kap. I.1 i. d. B.). Hier begann nun erstmalig die Wahrnehmung und Beobachtung von vergleichsfähigen Projekten im Feld Altern über die europäischen Grenzen hinweg: Entwicklungen in den Niederlanden, Dänemark und später auch Schweden und Großbritannien spielten immer wieder in die deutsche Diskussion hinein. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_58
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Anders war die Situation im neu fundierten sozialistischen Staat DDR. Er bot den, in den sozialistischen Traditionen lange Zeit dominanten sozialhygienischen Diskursen und Modellen für das Altern wieder zentralen Raum. Neben kollektiv angelegten Versorgungsformen wie sog. Feierabendheimen, die ähnlich den Altersheimen in der BRD nur sehr begrenzte Möglichkeit boten, soziale Dienste im Viertel in Anspruch zu nehmen, wurden offene Versorgungsleistungen an vertraute institutionelle Traditionen (wie die sog. Gemeindeschwestern) übergeben und halboffizielle Jugendprojekte (wie die sog. Timur-Brigaden der jungen Pioniere zur Hilfestellung im Alltag) mobilisiert. Auch der starke Einsatz von betriebsnahen Gesundheits- und Sozialleistungen für das Altern der Betriebsangehörigen (Gero-Dispensaires) und Ansprache und Betreuung durch Betriebsgewerkschaftsorganisationen (sog. Veteranenkommissionen) gehörten dazu. Die sich in der Sowjetunion stark entwickelnde Gerontologie (z. B. an Universitäten wie Leningrad, aber auch deutlich mit gerontologischen Instituten in der Ukraine) war zusätzlich immer ein wichtiger Orientierungswert (vgl. von Kondratowitz 1998; von Kondratowitz 2009). Mit den siebziger Jahren begannen sich für westdeutsche Alternsforscher/-innen erste Kooperationen mit europäischen Forschungspartner/-innen herauszubilden, die vornehmlich durch die Forschungsförderung der Europäischen Union und weitere supranationale Fördermaßnahmen initiiert wurden.
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Erweiterung des organisatorischen Feldes heute
Sozialarbeit in Kooperation mit der Alternsforschung muss sich nicht nur der historischen Bedingungen dieser Kooperation bewusst werden, sondern sollte sich auch der besonderen Voraussetzungen vergewissern, die heute gerontologische Forschung bestimmen und die damit auch Optionen einer Zusammenarbeit prägen. Noch immer ist auffällig, dass in Deutschland trotz einer bemerkenswerten öffentlichen Resonanz auf das Thema Altern diese Blickerweiterung auch heute noch nicht zu einer substanziellen Förderung einer sozialwissenschaftlichen Gerontologie in den Universitäten und Hochschulen insgesamt geführt hat. •• Die fehlende inneruniversitäre Absicherung durch Professuren mit der Denomi nation ‚Gerontologie‘ dürfte sich kaum ändern. Die Universitäten Heidelberg, Erlangen-Nürnberg und Vechta bleiben noch solche letzten, womöglich stabilen Haltepunkte, aber auch sie befinden sich z. T. unter Rechtfertigungsdruck. •• Aktivitäten jenseits des engeren akademischen Raumes der Universität, in außeruniversitären, teils öffentlich, zunehmend aber auch privat finanzierten Forschungseinrichtungen und Hochschulen werden wichtiger und prominenter und stellen damit eine beachtliche, nicht nur finanzielle, sondern auch paradigmatische Konkurrenz zu den universitär angesiedelten Forschungskontexten dar.
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•• Verschiedene Organisationsformen solcher Forschungsinitiativen sind heute möglich und werden zunehmend etabliert. Ein besonderes Merkmal aller dieser Organisationsmodelle ist: Sie mobilisieren bewusst mehrere Disziplinen aus dem sozialwissenschaftlichen Forschungsfeld bzw. auch aus dem ehemaligen Public Health-Feld. Im Unterschied zu früheren Debatten in der Sozialgerontologie, in denen immer wieder die in ihr angelegte Multidisziplinarität mit ihren verschiedenen Zugangsweisen als Dauerproblem diskutiert wurde, wird jetzt diese Vielfalt eher als Chance gesehen, zu bisher ungewohnten und überraschenden Denkrichtungen und Perspektiven zu gelangen. Es ist aufschlussreich, dass dieser Weitung des gerontologischen Feldes nun auch Versuche entsprechen, in der Methodologie der vergleichenden Alternsforschung diesen Schritten, allerdings noch vorsichtig-abwartend, nachzuspüren. Daher eine knappe Zusammenfassung dieses methodologischen Rahmens, wie er sich bisher dargestellt hat.
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Vergleichen als Vorgang der Abklärung
Diese neue Vielfalt, insbesondere in den internationalen Vergleichsprojekten, gibt die Gelegenheit, den Vorgang des Vergleichens selbst und seinen Rang innerhalb der sozialwissenschaftlichen Methodologie der Alternsforschung noch etwas genauer und vor allem grundsätzlicher zu diskutieren. Vergleichen ist erst einmal eine elementare Operation in den Sozialwissenschaften, letztlich sogar die grundlegende Methode jeglicher Bemühungen, eine sozialwissenschaftliche Analyse zu begründen. Das vergleichende Vorgehen beruht auf Erfassung, Beschreibung und Deutung von Ähnlichkeiten oder Differenzen zwischen definierten Einheiten. Dabei lassen sich aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive solche Einheiten durchaus unterschiedlich verstehen: Der Bezug variiert von Individuen über Gruppen bis hin zu komplexen Einheiten wie Kulturen, Regionen oder Ländern. Zur empirischen Beschreibung dieser verschiedenen Ebenen können Indikatoren unterschiedlichen Verallgemeinerungsgrads verwendet werden. Eine besondere Qualität dürften vergleichende sozialwissenschaftliche Analysen durch den gleichzeitigen Blick auf mehrere Ebenen und auf unterschiedliche Kombinationen von Merkmalen gleicher oder verschiedener Ebenen gewinnen. Jenseits der Auswahl der Einheiten ist natürlich die inhaltliche Orientierung der vergleichenden Analysearbeit entscheidend. Über die darin enthaltenen Prämissen und Annahmen hat sich vor allem in den empirisch-analytisch orientierten Sozialwissenschaften eine lang andauernde Diskussion entfaltet. Demnach hat eine vergleichende Forschung die grundsätzliche Wahl zwischen zwei Optionen: Sie kann entweder nach vereinheitlichenden Regelmäßigkeiten suchen oder aber sie kann im
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Gegenteil gerade nach Besonderheiten und Unterschiedlichkeiten von sozialen Phänomenen fragen. Als Regelmäßigkeiten gelten dann Normen, Wertvorstellungen, Verhaltensmuster und Handlungsformen, die als gesellschaftsübergreifend und ‚kulturunabhängig‘ erscheinen oder die von namhaften Theoretiker/-innen aus diesem Kreis womöglich sogar als gesellschafts- und zeitunabhängige und damit letztlich unveränderbare Universalien eingeschätzt werden. Demgegenüber stellen die Besonderheiten spezifische Bedingungen und Merkmale dar, die als ‚kultureigentümliche‘ oder womöglich einzigartige Charakteristika gelten müssen und damit nur für eine oder für wenige gesellschaftliche Konstellationen typisch sein können (vgl. Karlin et al. 2014). Für beide Positionen werden wichtige Argumente angeführt und die Wahl der jeweiligen Strategie wird im Einzelnen von den formulierten Zielvorstellungen einer konkreten umfassenden Forschungsperspektive bestimmt werden. Die Frage, worauf sich eine vergleichende Analyse festlegen sollte, beantworten Forscher/-innen, die besonders am ‚Kulturvergleich‘ interessiert sind, mit der Mahnung, sich nicht zu einseitig ausschließlich auf das Ähnliche und die Regelmäßigkeiten zu konzentrieren. Unterschiede zwischen den Gesellschaften werden demnach auf die Abweichung um eine Gruppe von Variablen herum zurückgeführt und damit erklärt, wohingegen die historisch einzigartigen Merkmale heruntergespielt werden. Im Gegensatz dazu wird in Anschluss an den finnischen Soziologen Erik Allardt (1990) diskutiert, ,,sich auch auf Gesellschaften als historische und einzigartige Einheiten zu konzentrieren und zu untersuchen, wie z. B. ähnliche Bedingungen und Problemlagen in den verschiedenen Gesellschaften auf ähnliche Probleme durchaus sehr unterschiedlich reagieren können“ (Daatland et al. 2002, S. 223).
Lassen sich Kompromisslinien zwischen Strukturalismus und Kulturalismus finden, um die Leerstellen, die beide Ansätze bieten, zu kompensieren ? Kohn (1989) empfahl forschungsstrategisch, zuerst von übergreifenden Ähnlichkeiten zwischen Analyseeinheiten, wie z. B. Gesellschaften oder Ländern, auszugehen und deren Gemeinsamkeiten aufzufinden, bevor man sich dem Problem stellt, unterschiedliche historische Prozesse als Erklärungshintergrund für soziokulturelle Ähnlichkeiten namhaft zu machen. Wie immer auch vorgegangen wird, vergleichende Analysen anzulegen, bedeutet intensive vorbereitende Arbeit. Und das heißt dann nicht nur eine genaue und detaillierte Analyse der Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen methodischen Ebenen, sondern auch eine aktive Mobilisierung zusätzlicher und breit gestreuter Informationsquellen qualitativer Herkunft, in denen dann der Vergleich selbst zum komplexen sozialen Prozess transformiert ist.
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Neue Blickrichtungen: Sozialkonstruktivismus und Kulturvergleich
Allerdings sollte man im Auge behalten, dass sich inzwischen durch den Sozialkonstruktivismus eine erkenntnistheoretische und methodische Neuformierung in den Sozialwissenschaften artikuliert hat, die der gesamten Vergleichsdiskussion eine neue Rahmung verliehen hat. Es ist bemerkenswert, dass gerade aus der sog. kontrastiven Diskurslinguistik Anregungen hervorgegangen sind, die an der Offenlegung von kulturspezifischen und diskursiv erzeugten Wissensformationen aus mindestens zwei, wenn nicht zahlreicheren Sprach- und Kulturgemeinschaften interessiert sind (vgl. Rossow und Koll-Stobbe 2015). Dabei sind die Diskutant/-innen dieser sprachlichen Diversität immer mit der zentralen Frage konfrontiert, zu erörtern, ob eine solche kontrastive Linguistik die kulturspezifischen Unterschiede und Gemeinsamkeiten beschreiben oder bewerten sollte. Czachur (2013) hat die schon von Anbeginn in einem solchen Programm offensichtlichen Schwierigkeiten benannt: „Sie ergaben sich vor allem aus dem Mangel an einer stringenten Vergleichskategorie sowie aus der Unsicherheit, angemessen mit den Ergebnissen von einzelnen kontrastiven Untersuchungen zurechtzukommen.“ (ebd., S. 333; vgl. auch Czachur 2011a, b)
Die bei ihm implizierte Bewertungsposition machte sich dabei sehr deutlich: „Mit Hilfe von linguistischen Methoden soll offengelegt werden, was eine Gemeinschaft weiß oder wie sie die zu analysierenden Phänomene konzeptualisiert. Das Interesse der kontrastiven Diskurslinguistik bezieht sich auf Erkenntnisse sprach- und kulturwissenschaftlicher Natur über die Kulturgemeinschaft, die sich aus der Erfassung und Gegenüberstellung von den jeweils landes- und kulturspezifischen Wissensbeständen ergibt.“ (Czachur 2013, S. 333)
Damit verlässt eine solche Aussicht die unmittelbare Referenz auf die Linguistik und stellt sich in die seit dem 19. Jahrhundert bewährte Tradition eines ‚Kulturvergleichs‘, wie sie in den Sozialwissenschaften immer wieder durchaus kontrovers diskutiert worden ist, aber im letzten Jahrzehnt stark an Aufmerksamkeit durch die zunehmende wissenschaftliche Anerkennung kulturwissenschaftlicher Studien gewonnen hat (Schmeling 1999; Matthes 2003; vgl. auch Haller und Küpper i. d. B.). Darüber hinaus hat im Zeitalter der Globalisierung und einer sich ausweitenden Internationalisierung vor allem der surveybasierte Kulturvergleich eine starke Position als Instrument, aber ebenso auch als Versprechen gewonnen, mit dem Kontextfaktoren in ihrem Zusammenspiel als prägende Elemente der Gesellschaftsentwicklung namhaft und praktisch gemacht werden können. Es ist für die Alternsforschung aufschlussreich, dass in der Jugendforschung internationale Vergleichsprojekte seit längerem unternommen werden und z. B. in der Sportsoziologie durchaus eine wichtige Informationsquelle für
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die Lebenslaufforschung geworden sind (vgl. z. B. Arbeiten von Brandl-Bredenbeck; Brettschneider et al. 1997, 2001; s. auch: Brettschneider und Brandl-Bredenbeck 2007). In den USA, wo sich der Terminus der Cross Cultural Gerontology für solche kulturvergleichenden Arbeiten in der Gerontologie eingebürgert hat, fasste die chinesische Gerontologin Chi (2011) die sich in der Vorbereitung solcher Studien ergebenden Schwierigkeiten und Bewältigungsprobleme zusammen: „Cross-cultural research in gerontology is important because the social processes of ageing vary. It aims to distinguish universal from culturally-specific processes and determine how cultural factors influence individual and population ageing. It has to overcome many challenges: how to design an equivalent and unbiased study, how to access different cultures, how to contextualize these cultures, and how to ensure that questions are meaningful for different cultures. Appropriate strategies include using an international multi-cultural research team, becoming familiar with the local culture, maintaining good relationships with community leaders, studying only those aspects of behaviour that are functionally equivalent while avoiding the idiosyncratic, using appropriate measures, and encouraging equal partnership and open communication among colleagues.“ (ebd., S. 371; vgl. auch Sztompka 1988)
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,Große Theorien‘ und das Vergleichsversprechen
Von großer Bedeutung nicht nur für die Alternsforschung, sondern für alle soziologischen Ansätze, die sich dem Thema der Entwicklung widmen, war und ist auch weiterhin die sog. Modernisierungstheorie, die aus der strukturfunktionalistischen Diskussion hervorgegangen ist (Burgess 1960b; Cowgill und Holmes 1972). In ihr ging es vor allem um den Versuch, die sich im historischen Verlauf verändernde gesellschaftliche Position der Älteren zu erklären. Ihre Vertreter/-innen stellten in Nachfolge der Durkheimschen Analysen zu Familienmoral und Solidaritätswandel (Durkheim 1992) gesellschaftsvergleichend die Hypothese auf, mit dem höheren Stand der gesamten ökonomisch-gesellschaftlichen Entwicklung werde auch gleichzeitig die gesellschaftliche Stellung der Älteren sinken. Ihre besondere Anziehungskraft lag in ihrem Angebot klarer und einleuchtender Periodisierungen mit der Angabe von Schwellen bzw. Übergangszeiten als auch in der prognostischen Relevanz ihrer auch auf einzelne Gesellschaftssektoren bezogenen Aussagen. Allerdings machte sie genau dies für den Fall des Alterns auch anfällig: einmal für eine implizite Verklärung des Status des Alters in traditionellen europäischen Gesellschaften und zum zweiten für den offen erklärten oder uneingestandenen Anspruch, diese traditionellen Gesellschaften Europas als historisches Modell für die heutigen sich entwickelnden Gesellschaften im globalen Süden und für die sich dort bereits herausbildenden Altersprobleme ansehen zu dürfen. Die Ergebnisse einer breit gefächerten sozialhistorischen Forschung haben zudem den Ehrgeiz der Modernisierungstheorie zuerst in der his-
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torischen Familienforschung, dann in der historischen Demografie und schließlich seit den siebziger Jahren auch in einer sich ausdifferenzierenden historischen Sozialisationsforschung deutlich relativiert (vgl. Ehmer 1990, 2008; Conrad 1994; Thane 2000; Thane 2005a). Kulturalistische Aspekte und Deutungsformen gewannen somit über die Zeit mehr und mehr die Dominanz über die strukturalistischen Ursprünge der Modernisierungstheorie und boten neue Ausblicke auf bisher scheinbar gesicherte historische Befunde. Dieser Zwang zur Revision machte deutlich, dass das empirische Gerüst für die anspruchsvolle theoretische Projektion der Modernisierungstheorie eigentlich in eher konventionell aufbereiteten Datenaggregaten bestand, die den theoretischen Ambitionen nicht wirklich genügen konnten und durch neue empirische Forschungsresultate aus verschiedenen Disziplinen verändert wurden. Eine entscheidende Erweiterung dieses Lernprozesses wurde dann durch die Überlegung von „multiple modernities“ nach S. E. Eisenstadt (2000, 2003, 2007) eingeleitet (vgl. auch Preyer 2011; Bohmann und Niedenzu 2013). Es entstand das Bild einer gleichzeitigen Wirkungskraft und Überlagerung unterschiedlicher Modernisierungsstrategien in einer Gesellschaft oder in mehreren Gesellschaften vor allem auf der südlichen Halbkugel der Erde. Deutlich wurde aber, dass eine solche neue Perspektive auch Rückwirkungen auf die damit erfassten ehemaligen nördlichen Kolonialländer haben müsste (vgl. zu den Ansätzen der Postcolonial Studies: Gutiérrez Rodriguez 2008; Haller und Küpper i. d. B.). Für das Thema Altern muss diese Blickrichtung theoretisch noch weiter ausgearbeitet werden. Aber vielfältiges Material dazu steht bereits heute zur Verfügung in den differenzierten Berichten und Projektbegleitungen der HelpAgeInitiative, die dazu noch von einem von der Organisation entwickelten eigenständigen Indikatorensystem gestützt werden. Eine andere bekannte, international vergleichende Studie hat demgegenüber eine bewusst fallorientierte Vergleichsperspektive durch eine anthropologisch ausgerichtete Untersuchung über das Durchsetzen von Altersnormen (vgl. Göckenjan, Haller und Küpper sowie Pichler i. d. B.) in unterschiedlichen Gesellschaften gewählt. Es war dies das Projekt Age, Generation and Experience (AGE), das von US-amerikanischen Forschern unternommen wurde, und in dem gefragt wurde, wie in unterschiedlichen Weltgesellschaften der Lebenslauf sozial konstruiert wird (Keith et al. 1994). Dass die Definition des Alters über das Medium selbstverständlich vorausgesetzter Altersnormen gerade auch stark kulturell beeinflusst ist, haben genau diese vergleichenden Forschungen deutlich gemacht. Denn die Existenz von Altersnormen und Altersklassifikationen hat für einfache Gesellschaften eine erhebliche soziale Bedeutung, um das Verhältnis der Geschlechter und den Einfluss von Verwandtschaftssystemen zu bestimmen (Bernardi 1985; Elwert et al. 1990). Solche Befunde über formale Alterssysteme mit Erfahrungen in anderen, vor allem differenzierteren Gesellschaftsformen, vergleichend zu kontrastieren, liegt daher nahe. Aber ein solcher Vergleich hat spezifische Grenzen, die in den sich über die gesellschaftliche Zeit verändernden normativen Strukturen liegen und die beachtet werden müssen (vgl. von Kondratowitz 2002).
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Im Klartext heißt das: In modernen Gesellschaften (mit industriebasierter Ökonomie) sind die Übergänge zwischen Altersstufen grundsätzlich an gesellschaftlich vermittelte Aushandlungsprozesse zwischen Individuen und Institutionen gebunden; formale Kriterien wie z. B. die Steuerung durch chronologische Altersmarken sind zwar in einzelnen Lebensbereichen immer noch existent und wirksam, verlieren aber insgesamt eindeutig an Bedeutung. In jenen Gesellschaften mit einer industriellen Wirtschaftsstruktur, die dem Druck ausgesetzt sind, Arbeit und Familienstatus zu verknüpfen (hier: Hongkong, USA, östliches Irland), wurden sequenzielle Stufungen des Lebenslaufs konzipiert, wobei die Anzahl der unterschiedenen Stufen variierte (im Mittel waren dies fünf Stufen). Dort, wo diese Bedingungen nicht vorlagen (hier: Botswana, westliches Irland), war das Leben noch durch hohe Fruchtbarkeit, geringen Differenzierungsgrad nach Generationen und kaum existente empty-nestPhasen charakterisiert. Dementsprechend wurde das Leben hier eher als kontinuierlicher und übergangsloser Prozess gesehen, dem der starke institutionell prägende Einfluss auf Familien und Arbeit fehlt und der damit das Einführen von Stufungen nicht nahelegt. Auffällig war auch, dass vor allem in den Gemeinden der USA die Verständigung über adäquate Normen für das höhere Alter stark durch den Einfluss übergreifender Werte wie Individualismus und Selbstbestimmung charakterisiert war, womit auch die Konturen eines neuen Bildes vom Alter in modernen alternden Gesellschaften sichtbar wurden.
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Entwicklungstendenzen im Spiegel von sozialwissenschaftlichen Journalen
Dieser Ausblick auf die notwendigen Revisionen von Theorien und auf komplexe Anlagen von gesellschaftsvergleichenden Studien zeigt die Dynamik des Wandels. Um die Breite der Veränderungen in der internationalen Gerontologie unter all diesen neuen Eindrücken besser nachvollziehen zu können, möchte ich eine exemplarische Durchsicht dreier US-amerikanischer sozialwissenschaftlicher Zeitschriften präsentieren, die sich selbst vornehmlich auf sozialarbeiterisch ausgerichtete gerontologische Arbeiten konzentriert haben. Es sind dies: Journal of Gerontological Social Work, Journal of Ageing Studies und Ageing International. Tabelle 1 stellt alle drei Zeitschriften, die nur Beiträge veröffentlichen, die peer reviewed werden, und für diesen Prozess auf ein Netz von mobilisierbaren Expert/-innen zurückgreifen, im Überblick dar. Die drei Zeitschriften haben durchaus unterschiedliche wissenschaftsorientierte Publika, die sie ansprechen. Das Journal of Gerontological Social Work zielt gewissermaßen auf die durchschnittlichen Gerontolog/-innen aus Wissenschaft und sozialer Praxis, ohne selbst in der Publikationspraxis über Schwerpunkthefte hinaus einen bestimmten methodischen Akzent zu setzen, präsentiert aber mehrheitlich quantitativ ausgerichtete Beiträge.
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Tabelle 1 Ausgewählte US-amerikanische Zeitschriften mit sozialarbeiterisch ausgerichteten gerontologischen Arbeiten im Überblick Journal of Gerontologi cal Social Work
Journal of Aging Studies Edr. J. Gubrium
Aging International
Verlag
Taylor & Francis (Routledge) Elsevier
Springer (seit 1974)
Frequenz der Publikation
7 oder 8 issues per year
4 issues per year
4 issues per year Print + online
Index
gezeichnet
gezeichnet
gezeichnet
Cite Score Editorial Board Members
Journal Metrics Impact Factors Anzahl: 31 Herkunft: USA 24 Schweden 2 Taiwan 2 Canada 1 Japan 1 Hong Kong 1
Related Publications Reporting Inter national Comparative Studies
Anzahl: 52 Herkunft: USA 21 Canada 8 UK 7 Schweden 4 Deutschland 2 Finnland 2 Österreich 2 Australien 1 Irland 1 Neuseeland 1 Niederlande 1 Norwegen 1 Schweiz 1
Anzahl: 23 Herkunft: USA 11 Australien 3 Japan 2 Hong Kong 2 Canada 1 Neuseeland 1 Südafrika 1 Südkorea 1 UK 1
5 Gelegentliche Parallelisierungen
Gezielte Vergleichsanlage Gelegentliche Special section 2012: Parallelisierungen S. Neysmith, J. Aronson (eds.), Vol. 26, H. 3, 227 – 376.
Quelle: Eigene Darstellung ©
Ähnlich, aber in der Publikationspraxis gemischter ist Aging International. Es ist bereits vom Ansatz her auf die Mobilisierung internationaler Vergleiche angelegt. Besonders auffällig war, dass die Zeitschrift in ihren Beiträgen nach der zusätzlichen Edition einer Online Version und mit einer neuen Editorin von der Harvard University kaum mehr Beiträge über Europa publiziert hat und sich anteilmäßig seit Jahren ganz dem asiatischen Raum widmet. Die Zusammensetzung des Editorial Boards dieser Zeitschrift spiegelt das ebenfalls wider. Das Journal of Aging Studies gilt als ein Repräsentant einer vorrangig qualitativ ausgerichteten internationalen gerontologischen Vergleichsforschung. Die Vielfalt des Editorischen Boards unterstreicht dieses weite Einzugsfeld. Schwerpunkthefte zur vergleichenden Forschung betonen die Differenzen zwischen verschiedenen Ländern unter unterschiedlichen theoretischen Perspektiven.
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Trotzdem bleibt irritierend, wie relativ sparsam Gerontolog/-innen von der südlichen Halbkugel in den Editorial Boards von all diesen Journalen vertreten sind. Berücksichtigt man auch inhaltliche Verschiebungen hin zu offeneren methodologischen Designs in den vergleichsorientierten Beiträgen der Journale, so sind solche Revisionen durchaus nachweisbar. Diese Veränderungen zeigen sich über die Zeit vor allem im Journal for Gerontological Social Work.
7
Neue Surveyperspektiven
7.1
Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe (SHARE)
Während die gerade vorgestellten Studien aus der international vergleichenden Alternsforschung oft durch ihren theoretisch anspruchsvollen Zuschnitt beeindrucken, zeigen neuere Projekte nicht nur eine konzentriertere und systematisch-theoretische Entwicklung der einzelnen Fragestellungen, sondern auch eine starke Motivation, die gewonnenen Ergebnisse einem breiten Kreis an potenziellen Interessent/-innen zur Verfügung zu stellen und bei dieser Umsetzung aktiv beteiligt zu werden. Umfassender ist daher ein Projektzusammenhang angelegt, dessen Ergebnisse die international vergleichende Alternsforschung dauerhaft beschäftigen muss: der von der Europäischen Kommission geförderte Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe (SHARE). Dieser Survey wurde erstmals 2004 als repräsentative Befragung der Bevölkerung im Alter 50+ in elf europäischen Ländern erhoben (Dänemark, Schweden, Österreich, Frankreich, Deutschland, Schweiz, Belgien, Niederlande, Spanien, Italien, Griechenland). Die zweite Befragungswelle von Herbst 2006 bis Frühjahr 2007 wurde mit über 30 000 Befragten in insgesamt 14 europäischen Ländern durchgeführt (Tschechien, Polen, Irland und Israel waren dazugekommen). Die dritte Befragungswelle zu retrospektiven Lebensgeschichten (SHARELIFE) fand seit Herbst 2008 in inzwischen 15 europäischen Ländern statt (mit Slowenien als neuem Partner). Da die über 30 000 Studienteilnehmer/-innen im Abstand von zwei Jahren zweimal befragt wurden, konnten Sozialwissenschaftler/-innen die Veränderung der wirtschaftlichen, gesundheitlichen und sozialen Lage älterer Menschen in Europa in vielfältigen Aspekten beobachten. Auf diese Weise kann untersucht werden, wie einschneidende Ereignisse im Lebensverlauf, wie z. B. der Renteneintritt oder die Verwitwung, bewältigt werden oder wie sich Änderungen der institutionellen Rahmenbedingungen (z. B. im Gesundheits- oder Rentensystem) auf die Lebensqualität älterer Europäer/-innen auswirken. Die in der Studie gesammelten Daten enthielten nicht nur Gesundheitsvariablen (z. B. Selbsteinschätzung der Gesundheit, physische und kognitive Funktionen, Gesundheits-Messungen), sondern ebenso eine Reihe ökonomischer Variablen zum Grad der Arbeitsmarktbeteiligung, zu Arbeitsmöglichkeiten jenseits der Verrentung, zu Quellen und zur Zusammensetzung der Einkommen, des Wohlstands, der Wohnverhältnisse, zu Bildungsdifferenzen u. ä. Schließlich wurden noch Varia-
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blen der sozialen Unterstützung in die Untersuchung einbezogen, wie z. B. Unterstützungsleistungen in der Familie, Transfers von Einkommen und Vermögenswerten. SHARE hat eine umfangreiche Publikationsliste erstellt, die die Breite der vergleichenden Konsultation dokumentiert. Dies zeigt: SHARE wird eine erste Adresse für die Mobilisierung gerontologisch relevanten Wissens mit unterschiedlichen theoretischen Zugängen bleiben. 7.2
European Cooperation in Science and Technology (COST)
Eine bisher für die Gerontologie weitgehend ungenutzte Unterstützung auf europäischer Ebene ist im Engagement in der European Cooperation in Science and Technology (COST) sichtbar geworden. Denn inzwischen nutzen gerontologische Forscher/-innen eine Möglichkeit der europäischen Finanzierung, den COST-Kontext, der immerhin schon seit 1971 existiert und sich zweifellos zu einem Schwerpunkt der europäischen Forschungsförderung entwickelt hat. COST bildet einen zwischenstaatlichen europäischen Kooperationsrahmen für die internationale Zusammenarbeit zwischen national finanzierten Forschungsprojekten. Es sorgt für die wissenschaftliche Vernetzung und ermöglicht es Wissenschaftler/-innen, in einem breiten Spektrum von Tätigkeitsfeldern in Forschung und Technologie zusammenzuarbeiten. Dabei umfassen COST-Aktionen Maßnahmen in den Bereichen Grundlagenforschung, Forschung auf vorwettbewerblicher Ebene sowie im öffentlichen Interesse liegende Maßnahmen. Da die Vorschläge für neue COST-Aktionen von den Wissenschaftler/-innen selbst ausgehen, stellt COST ein attraktives Forum für neue und aufkommende Themenstellungen dar. COST umfasst im Augenblick 36 Mitgliedsländer in ganz Europa und ein kooperierendes Land (Israel). COST ist dabei nicht an die Mitgliedschaft in der Europäischen Union gebunden. Es steht ohne geografische Einschränkungen auch der Mitwirkung von interessierten Einrichtungen in internationalen Partnerländern und von Nichtregierungsorganisationen offen, wenn dies im beiderseitigen Nutzen ist. In der Selbstdarstellung (durch das vom BMBF beauftragte EUREKA/COST Büro in Bonn) werden die Kooperationsbedingungen näher erläutert: In COST würden Forscher/-innen aus ganz Europa und aus Drittländern zusammenarbeiten. Dabei sollen national finanzierte Forschungsarbeiten (geförderte Projekte, Grundfinanzierung der teilnehmenden Einrichtungen) in Form von konzertierten Aktionen auf europäischer Ebene zusammengeführt und koordiniert werden. Solche Aktionen sollen grundsätzlich themenoffen gestaltet sein (bottom-up-Prinzip). Die Unterstützung von COST durch die EU besteht, wie auch bei Forschungsprojekten in den Rahmenprogrammen, in der Finanzierung von Koordinierungskosten, d. h. Kosten, die mit der Organisation und Durchführung einer Aktion zusammenhängen. Hierzu zählen z. B. Kosten für Workshops, Tagungen, Summer Schools, Kurzaufenthalte von Wissenschaftler/-innen, Veröffentlichungen usw. Das COST-
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Budget stammt aus dem EU-Forschungsrahmenprogramm „Horizont 2020“ und wird vom internationalen COST-Office, der COST Association, verwaltet und an die einzelnen Aktionen ausgezahlt. Zentral ist das Selbstverständnis von COST: COST hat eine wichtige forschungspolitische Pilotfunktion für Themen, deren koordinierte Zusammenarbeit auf europäischer Ebene noch nicht hinreichend etabliert ist. Gerade diese Selbstdefinition hat wohl auch geholfen, ein wichtiges internationales Projekt der gerontologischen Forschung zu fördern. Im September 2015 wurde eine Perspektive formuliert, aus der heraus wissenschaftliches Komitee gegründet wurde, um theoretische und praxisrelevante Orientierungen zu formulieren, die mittels Arbeitsgruppen auf Folgekonferenzen in Prag, Haifa und in den Niederlanden 2016 in eine Programmatik und in eine erste Textversion eines Handbuchs übergeleitet wurde. Insgesamt waren 35 Länder vertreten. Auch Studierende mit Arbeitsaufgaben nahmen neben den eingeschriebenen Sozialwissenschaftler/-innen teil, womit das Projekt auch auf eine Weiterqualifikation ausgerichtet wurde. Als Ergebnis ihrer Arbeit hat die Gruppe kürzlich ein von den Organisatoren Liat Ayalon und Clemens TeschRömer herausgegebenes Sammelwerk „Contemporary Perspectives on Ageism“ (Ayalon und Tesch-Römer 2018) veröffentlicht, in dem die im Projekt aktiv beteiligten Forscher/-innen mit sachgeordneten eigenständigen Beiträgen auftreten. An wen sich ein solches Werk richten sollte, war von vorne herein klar formuliert: „This book targets researchers, students, policy makers, and journalists who are interested in the topic.“ (Preliminary outline vom 10. 8. 15, S. 1) Die hohe Anzahl der multidisziplinärsozialwissenschaftlich Beteiligten macht einen enormen Koordinationsaufwand notwendig. Wie sich der COST-Kontext als Anregung für eine praxisorientierte Gerontologie auswirken kann, wird weiter zu beobachten sein. Vervielfältigung und Koordination der Sichtweisen und Flexibilisierung der methodischen Zugänge sind also markante Merkmale der international vergleichenden Alternsforschung in der Gegenwart. Es bleibt abzuwarten, ob und wie diese Merkmale überhaupt in eine stimmige und international koordinierte Forschungsplanung der Sozialgerontologie übersetzt werden können.
Ausgewählte Literatur Ayalon, Liyat, und Clemens Tesch-Römer. Hrsg. 2018. Contemporary Perspectives on Ageism. Cham: Springer International Publishing AG. https://doi.org/10.1007/978-3-319-73820-8. Cowgill, Donald O., und Lowell D. Holmes. Hrsg. 1992 [1972]. Aging and Modernization. New York: Appleton-Century-Crofts. Keith, Jenny, Christine L. Fry, Anthony P. Glascock, Charlotte Ikels, Ieanette Dickerson-Putman, Henry C. Harpending und Patricia Draper. 1994. The Aging Experience: Diversity and Communality across Cultures. Thousand Oaks: Sage.
Partizipative Altersforschung Carolin Kollewe
1
Einleitung
Forschungen, bei denen sich Menschen beteiligen können, die im Alltag nicht als professionelle Wissenschaftler/-innen in dem beforschten Feld tätig sind, werden aktuell zahlreicher. Solche ‚Citizen Science‘-Projekte sind vor allem in den Natur- und Lebenswissenschaften angesiedelt. Unter dem Schlagwort ‚Citizen Science‘ zählen z. B. Bürger/-innen Tiere oder Mineralien in einem abgegrenzten Bereich oder schlagen Forschungsfragen für neue empirische Untersuchungen im Bereich der Unfallforschung vor (exemplarisch vgl. Arbeitsgruppe Citizen Science o. J.). Daneben findet sich in den Sozial- und Geisteswissenschaften eine lange Tradition an Forschung, bei der Menschen aus den Lebenswelten beteiligt sind, die erforscht werden. Sie werden als Expert/-innen ihrer Lebenswelten angesehen und arbeiten z. B. bei der Konzep tion der Forschung und/oder Datensammlung und -analyse mit. Gemeinsam mit diesen sog. Co-Forscher/-innen entwickeln Wissenschaftler/-innen dann auch Konzepte für die Veränderung der sozialen Wirklichkeit und starten im Idealfall Aktionen, um Veränderungsprozesse anzustoßen. Solche Forschungsprojekte, welche sehr unterschiedliche Formen der Beteiligung, der methodischen Herangehensweisen und sehr verschiedene Intentionen aufweisen können, werden unter dem Begriff ‚partizipative Forschung‘ zusammengefasst. Partizipative Forschungsansätze entstanden schon in den 1940er Jahren und verzeichneten in den folgenden Jahren im angloamerikanischen Raum sowie in den 1970er Jahren im deutschsprachigen Bereich einen ersten Höhepunkt, z. B. als Aktions- oder Handlungsforschung (vgl. von Unger 2014, S. 13 f.). In der bundesdeutschen Sozialen Arbeit trug die Hinwendung zu lebensweltorientierter Forschung und Praxis (zusammenfassend vgl. Grunwald und Thiersch 2016a) seit den 1980er Jahren wesentlich zur Stärkung partizipativer Forschung bei, vor allem auch im Sinne einer machtkritischen, sozialraumorientierten (vgl. u. a. May und Alisch 2013) und auf das © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Aner und U. Karl (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_59
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Carolin Kollewe
Gemeinwesen bezogenen Forschung (Bitzan und Klöck 1993). Seit den 1990er Jahren werden partizipative Forschungsansätze international und auch im deutschsprachigen Raum in unterschiedlichen Bereichen sozialwissenschaftlicher Forschung wieder stärker genutzt und diskutiert (vgl. von Unger 2014, S. 3). Die wieder wachsende Verbreitung partizipativer Forschung bezeichnen manche Autor/-innen als „participatory turn“ (vgl. Ziegler und Scharf 2013, S. 1). Als ein Grund für dieses Revival gilt die erhöhte Aufmerksamkeit für sog. Minderheiten. Benachteiligte Gruppen wie behinderte Menschen haben sich in jahr zehntelangen sozialen Kämpfen nicht nur mehr Rechte, sondern auch Gehör in der Forschung verschafft. Ein weiterer Grund ist, dass der Partizipation, d. h. der Teilhabe von Bürger/-innen an politischen und gesellschaftlichen Prozessen, eine zunehmende Bedeutung für die Steuerung und Legitimation von (sozial- und gesundheits-) politischen Maßnahmen zugeschrieben wird (vgl. von Unger 2014, S. 5 ff.). Das wird insbesondere dadurch ersichtlich, dass im sog. aktivierenden Staat die Förderung des Engagements der Bürger/-innen einen besonderen Stellenwert hat (vgl. Aner 2011). Zugleich sieht sich die – staatlich alimentierte – Wissenschaft gegenwärtig mit der Forderung konfrontiert, für die Öffentlichkeit transparenter zu werden und verwertbare Ergebnisse zu produzieren (vgl. von Unger 2014, S. 5 ff.). In der Folge sind partizipative Ansätze z. B. in der Gesundheits- und Pflegeforschung relativ stark verbreitet. Auch im Bereich der gerontologischen Forschung und Praxis werden sie in unterschiedlichen Projekten erprobt und diskutiert: So werden partizipative (Forschungs-)Methoden z. B. relativ häufig in Praxisprojekten in der Sozialraumentwicklung genutzt (z. B. Köster 2009; Heite et al. 2015a; Kricheldorff et al. 2015; van Rießen et al. 2015). International arbeiten z. B. auch Hilfsorganisationen mit partizipativen (Forschungs-)Methoden, um gemeinsam mit älteren und alten Menschen schwierige Lebenssituationen zu reflektieren und zu verändern (vgl. exemplarisch HelpAge International 2002). Ebenso sind ältere Menschen in empirische Projekte wissenschaftlicher Institutionen in verschiedener Weise eingebunden (z. B. am Interdisziplinären Kompetenzzentrum Alter der FH St. Gallen und am Centrum für Alternsstudien an der Universität Köln; siehe z. B. Meyer-Wolters 2010; Haller 2010a; Lehmann et al. 2017; außerdem z. B. Kammerer und Heusinger 2011; Prinz 2016). Nicht zuletzt in der Entwicklung neuer Technologien wird mehr und mehr darauf geachtet, ältere und alte Menschen in unterschiedlichen Formen einzubeziehen (z. B. Birken et al. 2018; Kucharski und Merkel 2018). Im angloamerikanischen Raum werden solche partizipativen Forschungen wesentlich häufiger als im deutschsprachigen Bereich durchgeführt. Sie sind dort z. B. als Action Research oder Participatory Action Research (vgl. von Unger 2014, S. 7, 11, 17 f.) anerkannt. Grund für die stärkere Verbreitung partizipativer Forschungsansätze im angloamerikanischen Bereich ist u. a., dass Forschungsförderinstitutionen der Beteiligung älterer und alter Menschen an Forschungsprojekten eine größere Bedeutung zumessen (vgl. Walker 2007, S. 482). In Großbritannien hat deshalb z. B. die Joseph Rowntree Foundation auch neue Formate erprobt, bei denen ältere und alte
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Menschen über die finanzielle Förderung von verschiedenen Forschungen im Bereich des Alter(n)s entscheiden konnten und/oder diese auch selbst durchführten. Ergebnis dieses Prozesses ist u. a. eine Vielzahl von Berichten und Reflexionen partizipativer Forschungen sowie Handbücher, die aufzeigen, wie ältere und alte Menschen in Forschungsprojekten, in Beratungskontexten und Evaluationen mitarbeiten und ihre Perspektiven und Kompetenzen einbringen können (z. B. Older People’s Steering Group 2004; Clough et al. 2006; Leamy und Clough 2006; Wistow et al. 2011). In Großbritannien entstanden jedoch nicht nur innovative Ansätze zur Förderung partizipativer Forschung, sondern ebenso sehr kritische Auseinandersetzungen damit (siehe z. B. Beresford 2002; Fenge 2008; Blair und Minkler 2009; Carey 2010; für einen Überblick über die Debatte im UK siehe Kollewe 2015). Auch in der Alter(n)sforschung, darunter Praxisprojekte mit älteren und alten Menschen, gelten einerseits politische Bewegungen, wie z. B. die Frauen- und Behindertenbewegung und ihre Forderung nach Partizipation als Auslöser für die zunehmende Beliebtheit partizipativer Ansätze (vgl. Beresford 2002, S. 96). Sie werden andererseits jedoch im Kontext des neoliberalen Umbaus zum aktivierenden Staat gesehen, bei dem die Bürger/-innen zu „active citizens“ und als eigenverantwortlich und ehrenamtlich aktiv konzipiert werden (vgl. Marinetto 2003; Karl 2011). In Bezug auf ältere und alte Menschen ist dabei die Verbreitung einer normativen Vorstellung des aktiven älteren Menschen zu beobachten, welcher seine Ressourcen in die Gesellschaft einbringen und Verantwortung übernehmen soll – und dies unabhängig von der sozialen Lage.
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Was ist partizipative Forschung und wie funktioniert sie ? „Partizipative Forschung ist ein Oberbegriff für Forschungsansätze, die soziale Wirklichkeit partnerschaftlich erforschen und beeinflussen. Ziel ist es, soziale Wirklichkeit zu verstehen und zu verändern. Diese doppelte Zielsetzung, die Beteiligung von gesellschaftlichen Akteur/-innen als Co-Forscher/-innen sowie Maßnahmen zur individuellen Selbstbefähigung und Ermächtigung der Partner/-innen (Empowerment) zeichnen parti zipative Forschungsansätze aus.“ (von Unger 2014, S. 1)
Charakteristisch für partizipative Forschungsprojekte ist eine veränderte Beziehung zwischen den Forscher/-innen und denjenigen, deren soziale Wirklichkeit erforscht wird: Auch diejenigen, welche von einer Forschung ‚betroffen‘ sind, sollen zu Subjekten innerhalb des Forschungsprozesses werden und dabei mitentscheiden können (vgl. Blair und Minkler 2009, S. 652). Es ist die Idee, gemeinsam mit den Menschen in einen Dialog zu kommen, statt Wissen über sie zu produzieren (vgl. Ziegler und Scharf 2013, S. 10). Dies drückt sich auch in der Wortwahl aus: So werden jene Menschen, die gemeinsam mit den Wissenschaftler/-innen forschen, heute zumeist als „Co-Forscher/-innen“ bezeichnet (z. B. Bergold und Thomas 2012; von Unger 2014), zum Teil aber auch als „Expert/-innen ihrer eigenen Sache“ (z. B. Prinz 2016). In Be-
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zug auf die Alter(n)sforschung sind in solchen partizipativen Studien also ältere und alte Menschen als Co-Forscher/-innen beteiligt, zum Teil aber auch Fachkräfte aus Berufsfeldern wie der Altenhilfe oder der Pflege. Mit partizipativen Forschungsprojekten werden verschiedene Hoffnungen verbunden: So sollen diese dazu beitragen, dass die Perspektive auf das zu erforschende Phänomen erweitert, eine Verschränkung mit wissenschaftlichen Perspektiven hergestellt und dadurch ein vertieftes Verständnis der sozialen Wirklichkeit ermöglicht wird (vgl. Walker 2007, S. 482; von Unger 2014, S. 11). Es sollen jene Stimmen hörbar gemacht werden, die öffentlich sonst nur wenig wahrgenommen werden. Darüber hinaus sollen die Mitarbeit von älteren und alten Menschen an solchen Projekten, das Erlernen von z. B. relevanten Methoden und ein Erkenntnisgewinn über die soziale Welt, dazu führen, dass diese Menschen, vor allem wenn sie aus marginalisierten Gruppen stammen, ein Empowerment erfahren (vgl. Köster 2012, S. 605). Ziel ist es, die Handlungsmächtigkeit solcher Menschen zu unterstützen (vgl. Blair und Minkler 2009, S. 652). Mit partizipativer Forschung bietet sich die Chance, dass sich Wissenschaft öffnet und von Menschen außerhalb des wissenschaftlichen Systems als für sie relevant erkannt wird (vgl. von Unger 2014, S. 11). Neben den Co-Forscher/-innen werden im Rahmen partizipativer Projekte auch die Alter(n)swissenschaftler/-innen selbst als Lernende konzipiert, welche durch die Zusammenarbeit mit den Co-Forscher/-innen Themen ggf. in einem neuen Licht betrachten können bzw. müssen (vgl. Bergold und Thomas 2012, S. 1). Die beteiligten älteren und alten Menschen können Türöffner sein, um z. B. Interviewpartner/-innen anzusprechen. Dies kann vor allem bei Gruppen vorteilhaft sein, die sonst nur schwierig zu erreichen sind (vgl. Blair und Minkler 2009, S. 652). Allerdings kann dies auch dazu führen, dass der Blick der Forschenden allein auf Fragen der jeweils beteiligten älteren und alten Menschen gerichtet wird, während andere Perspektiven ausgeblendet werden (vgl. von Unger 2014, S. 11). In partizipativen Forschungsprojekten werden verschiedene Methoden genutzt, es zeigt sich jedoch, dass vor allem qualitative Methoden, zum Teil auch in einer Kombination mit quantitativen Methoden eingesetzt werden (vgl. Bergold und Thomas 2012). Beeinflusst wird die Methodenwahl in partizipativen Forschungsprojekten unter anderem dadurch, dass die ausgewählten Methoden bzw. zumindest ein Teil davon, von den CoForscher/-innen leicht zu erlernen sein müssen (vgl. von Unger 2014, S. 97).
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Wie stark sind ältere und alte Menschen tatsächlich in partizipative Forschungsprojekten involviert ?
Eine zentrale Frage, die sich in Bezug auf einzelne partizipative Forschungsprojekte stellt, ist die nach der Position und der Entscheidungsmacht der beteiligten Co-Forscher/-innen. Da dies je nach der Konzeption des partizipativen Projekts sehr unterschiedlich sein kann, wurden verschiedene Modelle entwickelt, welche die Einflussmöglichkeiten der beteiligten Menschen aufzeigen (z. B. Arnstein 1969). Das Modell
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Tabelle 1 Stufenmodell der Partizipation Stufe 9
Selbstorganisation
Geht über Partizipation hinaus
Stufe 8
Entscheidungsmacht
Partizipation
Stufe 7
Teilweise Entscheidungskompetenz
Stufe 6
Mitbestimmung
Stufe 5
Einbeziehung
Stufe 4
Anhörung
Stufe 3
Information
Stufe 2
Anweisung
Stufe 1
Instrumentalisierung
Vorstufen der Partizipation
Nicht-Partizipation
Quelle: Eigene Darstellung nach Wright et al. 2010, S. 42 ©
von Wright et al. 2010, das im Rahmen von Studien zur Gesundheitsförderung und Prävention entstanden ist, unterscheidet, wie in Tabelle 1 deutlich wird, Partizipa tion in neun verschiedene Stufen von der Instrumentalisierung bis zur Selbstorganisation. Tabelle 1 zeigt: ‚Instrumentalisierung‘ und ‚Anweisung‘ betrachten die Autor/-in nen nicht als Partizipation und die Stufen ‚Information‘, ‚Anhörung‘, ‚Einbeziehung‘ sehen sie als Vorstufen von Partizipation. Als Partizipation gilt nach Wright et al. (2010) nur der Bereich, welcher „Mitbestimmung“, „teilweise Entscheidungskompetenz“ und „Entscheidungsmacht“ umfasst. Die Ausübung von Macht ist also zentral für die Konzeption von Partizipation in diesem Modell. Nur wenn die CoForscher/-innen tatsächlich eine (Mit-)Entscheidungsmacht haben, handelt es sich demnach um Partizipation (vgl. von Unger 2012). Allerdings werden mit dem Begriff Partizipation in der aktuellen, v. a. in der politischen bzw. politiknahen Debatte nicht nur solche Projekte in Verbindung gebracht, bei denen ältere und alte Menschen tatsächlich (mit-)entscheiden können. Häufig werden ältere und alte Menschen auch nur beratend hinzugezogen oder werden angehört, ohne jedoch über den Fortgang eines (Forschungs-)Projekts mitentscheiden zu können. So erscheint es notwendig, z. B. in Publikationen offenzulegen, welche Projektbeteiligten im Projektverlauf wie partizipier(t)en (vgl. Bergold und Thomas 2012, S. 11).
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Herausforderungen partizipativer Forschung und kritische Perspektiven auf die partizipative Forschung
Partizipative Forschungen werden zunehmend beliebter in der Gerontologie. Vor allem Vertreter/-innen einer kritischen Gerontologie, welche es sich zum Ziel setzen, soziale Ungleichheiten sowie die eigene gerontologische Wissensproduktion kritisch zu reflektieren, sehen in partizipativen Forschungsdesigns viele Chancen. Denn partizipative Forschung ist „wertebasiert“ (von Unger 2014, S. 1) und verfolgt im Idealfall ein demokratisches Ziel: Sie will jenen, die sonst nur wenig oder gar nicht gehört werden, eine Stimme geben. Kritische Gerontologie teilt mit der partizipativen Forschung darüber hinaus die Idee, durch kritische Reflexion und das Aufzeigen sozialer Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zum sozialen Wandel beizutragen (vgl. Ziegler und Scharf 2013, S. 1). Allerdings wird immer wieder auf die großen Herausforderungen hingewiesen, welche mit partizipativer Forschung verbunden sind: Wissenschaftler/-innen, welche mit Co-Forscher/-innen gemeinsam arbeiten, müssen sich darauf einstellen, dass diese Forschung ein relativ langwieriges Unterfangen werden wird. Denn neben der Datenerhebung und -auswertung müssen auch Schritte wie z. B. die Schulung der Co-Forscher/-innen durchgeführt werden. Auch die Konzeption, Forschungsfrage und Methodenwahl, Auswertung und Konsequenzen, die daraus gezogen werden sollen, sollen gemeinsam mit den Co-Forscher/-innen diskutiert und festgelegt werden. Damit verbunden ist, dass sich der Forschungsprozess – noch stärker als bei anderen qualitativen Forschungsprojekten – weniger planen lässt und die Forscher/-innen sehr flexibel auf die Dynamik im Team und im Feld reagieren müssen. Darüber hinaus ist aber auch eine Reflexion des Forschungsprozesses und der dabei entstehenden Konflikte nötig, was nur in einem sicheren Raum entstehen kann, der auch Offenheit erlaubt (vgl. Bergold und Thomas 2012, S. 7; Ziegler und Scharf 2013, S. 10). Gerade Konflikte gelten als ein Qualitätsmerkmal partizipativer Forschungsprojekte und werden als Hinweis darauf betrachtet, dass nicht eine der beteiligten Gruppen die Agenda setzt, sondern sich alle Beteiligten tatsächlich mit ihrer Meinung und ihren Interessen einbringen können (vgl. Bergold und Thomas 2012, S. 15; von Unger 2014, S. 85 ff.). Partizipative Forschung ist also ein anspruchsvoller Prozess, der nicht immer von Fördermittelgebern honoriert wird und aufgrund ihrer Offenheit und Flexibilität innerhalb der aktuellen Förderstrukturen zum Teil nur schwer realisierbar ist (vgl. Bergold und Thomas 2012, S. 22, Aner und Kricheldorff 2016). Forschungsethische Fragen stellen eine besondere Herausforderung in partizipativen Forschungsprojekten dar: Denn etablierte Forschungsstandards, wie z. B. die Anonymisierung von Personen und Daten ist bei der Zusammenarbeit mit Co-Forscher/-innen aus der erforschten Community häufig schwierig. Besonders wenn diese Community klein ist, kann es sein, dass die befragten Personen und ihre Aussagen nicht so anonymisiert werden können, dass die Befragten und ihr spezifischer Lebenslauf bzw. ihre Lebenssituation nicht mehr erkennbar sind (vgl. von Unger
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2014, S. 9). Darüber hinaus geraten Forscher/-innen in partizipativen Forschungsprojekten immer wieder in Interessens- und Rollenkonflikte, sehen sie sich doch mit Erwartungen der Co-Forscher/-innen und deren Interessen konfrontiert, die nicht unbedingt ihren eigenen entsprechen müssen oder sogar ihren eigenen widersprechen (vgl. Kammerer und Heusinger 2011, S. 12). So sind bspw. die Erwartungen an die Verwertung der Ergebnisse oftmals sehr unterschiedlich: Während gerade Nachwuchswissenschaftler/-innen daran orientiert sein müssen, die Ergebnisse auch in wissenschaftlichen Publikationsformaten zu veröffentlichen, um ihr weiteres berufliches Fortkommen abzusichern, sind Co-Forscher/-innen oftmals eher an anderen Publikationsformen und dem Erreichen anderer Zielgruppen interessiert, um z. B. eine Veränderung der sozialen Wirklichkeit voranzutreiben. Auch hinsichtlich der Theoriebildung können sich Einschränkungen zeigen, denn partizipative Forschung ist zumeist anwendungsorientiert (vgl. von Unger 2014, S. 11). Kritische Gerontolog/-innen haben die Verwendung partizipativer Forschungsdesigns diskutiert und verschiedene Probleme solcher Ansätze herausgearbeitet. Es wird u. a. darauf hingewiesen, dass sich partizipative (Forschungs-)Projekte mit älteren und alten Menschen vor allem in jenen Ländern verbreiten, in denen der Wohlfahrtsstaat durch eine neoliberale Politik zurückgedrängt wird (z. B. Ziegler und Scharf 2013; Aner und Köster 2016). Ältere und alte Menschen werden dabei als eine Ressource betrachtet, die zur Aufrechterhaltung des Gemeinwohls beitragen können. Damit sind auch stark normative Erwartungen vor allem an die ‚jungen‘ Alten verbunden. Ziegler und Scharf (2013, S. 3) weisen darauf hin, dass im Kontext der neoliberalen Neuorganisation des Wohlfahrtsstaates der Begriff des Empowerments in neoliberale politische Diskurse übernommen wurde. Damit habe er die kritischen Konnotationen und Assoziationen verloren, die dieser Begriff zuvor gehabt hat. Während der Begriff früher benutzt worden sei, um die Erhöhung der Handlungsfähigkeit marginalisierter Bevölkerungsgruppen zu propagieren, sei er durch die Nutzung in Regierungsdiskursen entpolitisiert worden. Darüber hinaus richten sich partizipative Forschungen auf die lokale Ebene bzw. auf die Mikroebene. Dies kann als Stärke, aber auch als Schwäche betrachtet werden (vgl. ebd., S. 8). Eine weitere Herausforderung partizipativer Forschungsdesigns ist die Tatsache, dass ältere und alte Menschen, die in solche Prozesse ihre Perspektive einbringen können, oft selbst stereotype Vorstellungen des Alters und negative Altersbilder internalisiert haben (vgl. ebd., S. 13). Deshalb gilt es, Altersstereotype und -bilder als Teil partizipativer Altersforschung kritisch zu reflektieren und zu bearbeiten (siehe hierzu z. B. Meyer-Wolters 2010, S. 199 f.). Das Kölner Centrum für Altersstudien, das häufig partizipative Forschungsprojekte mit z. B. Seniorenstudierenden durchführt, sieht es deshalb beispielsweise als eine Aufgabe, mithilfe partizipativer Forschung Altersbilder nicht nur zu dekonstruieren, sondern den Prozess der Neuentstehung von Altersbildern auch wissenschaftlich zu begleiten. Grundlage dieser Vorgehensweise ist dabei die Tatsache, dass die beteiligten Alter(n)swissenschaftler/-innen akzeptieren, dass sie selbst an der Hervorbringung ihrer Untersuchungsgegenstände
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beteiligt sind und dies reflektieren. Dadurch werden Perspektiven, welche wissenschaftliches Forschen nicht als objektiv und distanziert konzipieren, sondern Wissenschaftler/-innen als Beteiligte an der Gestaltung der zu erforschenden sozialen Wirklichkeit betrachten, relevant (vgl. Meyer-Wolters 2010, S. 186). Ziegler und Scharf (2013) weisen darauf hin, dass in partizipativen Forschungsprojekten vor allem die ‚jungen‘ und ‚aktiven‘ Alten partizipieren und nicht unbedingt die Menschen, die im sehr hohen Alter und zudem möglicherweise gesundheitlich eingeschränkt sind. Letztere gehören im Grunde zu den Gruppen, die in der Sozialen Arbeit als ‚hard-to-reach-groups‘ gelten, werden aber auch von ihr oft übersehen (vgl. Labonté-Roset et al. 2010). Eine weitere wichtige, damit verbundene Frage ist, wie es gelingen kann, dass nicht nur jene Menschen an partizipativen Forschungsprojekten teilnehmen und teilhaben, die über ein entsprechendes soziales und kulturelles Kapital verfügen, sondern auch diejenigen, welche innerhalb der Gesellschaft marginalisiert sind. Denn in vielen partizipativen Projekten nehmen vor allem Bürger/-innen der Mittelschicht mit einer relativ hohen formalen Bildung und einem relativ hohen sozio-ökonomischen Status teil (vgl. Böhnke 2011). Dies zu verändern stellt eine große Herausforderung dar, denn partizipative Ansätze sollen nicht zu einer weiteren Exklusion marginalisierter Gruppen beitragen, sondern gerade zu ihrem Empowerment (vgl. Rüßler et al. 2013). Um die Partizipation von marginalisierten Menschen zu ermöglichen, muss einerseits die gesellschaftliche Diversität berücksichtigt werden, z. B. bei der Zusammensetzung der Gruppe der Co-Forscher/-innen. Andererseits müssen die Rahmenbedingungen entsprechend gewählt und gestaltet werden, z. B. in Bezug auf zugängliche Veranstaltungsräume, günstige Veranstaltungszeiten sowie Kommunikationsprozesse. Darüber hinaus sollten jene Menschen besonders begleitet und unterstützt werden, die wenig Erfahrungen mit Partizipation haben bzw. (noch) nicht über für partizipative (Forschungs-)Projekte benötigte Kompetenzen und Ressourcen verfügen (vgl. Arbeitskreis Kritische Gerontologie 2016, S. 144). Gleichwohl können solche Maßnahmen nicht ausreichen, die strukturellen sozialen Ungleichheiten unserer Gesellschaft auszugleichen, denn soziale Gleichheit und Gerechtigkeit kann letztendlich nur durch entsprechende gesamtgesellschaftliche Veränderungen erreicht werden (vgl. ebd., S. 145). Auch wenn partizipative Forschung ein herausfordernder Prozess ist, kann sich dieser Aufwand lohnen, wie verschiedene partizipative Forschungsprojekte mit älteren und alten Menschen zeigen (z. B. Kammerer und Heusinger 2011, S. 13; Prinz 2016; Lehmann et al. 2017, S. 10). Denn es ergibt sich die Möglichkeit, die Selbstsicht älterer und alter Menschen zu integrieren und gegebenenfalls diese dominanten öffentlichen Diskursen über das Alter(n) entgegenzustellen. Darin liegt auch eine Chance für z. B. Verbände älterer und alter Menschen, die sich an gesellschaftlichen Veränderungen beteiligen möchten. In Bezug auf die wissenschaftliche Diskussion über partizipative Forschungsansätze zeigt sich die Notwendigkeit, die theoretischen Grundlagen und methodologischen Ansätze solcher Forschungen noch genauer zu reflektieren und weiterzuent-
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wickeln. So steht z. B. eine umfassende Reflexion der verschiedenen Wissensarten, die in partizipativen Forschungen genutzt und zusammengeführt werden sollen, und des Umgangs damit noch aus (vgl. von Unger 2014, S. 104). Mit partizipativer Forschung verbunden ist die Frage nach der Repräsentation unterschiedlicher Gruppen innerhalb von Forschungsprozessen. Wer spricht in (gerontologischen) Forschungen – seien sie nun partizipativ ausgerichtet oder nicht ? Mit welchem Ziel und mit welchen Interessen ? Solche Fragen werden zwar in der kritischen Auseinandersetzung mit partizipativen Projekten, die in Kooperation mit älteren und alten Menschen entstehen, vor allem in der angelsächsischen Diskussion, von kritischen Gerontolog/-innen thematisiert. Allerdings bedürfen diese Fragen noch eine intensivere Auseinandersetzung mit theoretischen Konzepten von Repräsentation in der (gerontologischen) Forschung.
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