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German Pages XIX, 268 [274] Year 2020
Marc Diebäcker Gabriele Wild Hrsg.
Streetwork und Aufsuchende Soziale Arbeit im öffentlichen Raum
Streetwork und Aufsuchende Soziale Arbeit im öffentlichen Raum
Marc Diebäcker · Gabriele Wild (Hrsg.)
Streetwork und Aufsuchende Soziale Arbeit im öffentlichen Raum
Hrsg. Marc Diebäcker FH Campus Wien Wien, Österreich
Gabriele Wild FH Campus Wien Wien, Österreich
ISBN 978-3-658-28182-3 ISBN 978-3-658-28183-0 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-28183-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Laux/Magda Hirschberger Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Vorwort
Das Konzept des hier vorliegenden Buches ist aus gemeinsamen Lehr- und Praxiserfahrungen des letzten Jahrzehnts entstanden, verbunden mit dem Bedauern, dass viele der durch reflexive Auseinandersetzungen evozierten Fragestellungen rund um Streetwork sich nicht oder nur ansatzweise in aktuellen Publikationen widerspiegeln. Hintergrund für einen Sammelband waren auch konflikthafte Debatten über Einordnung und Effekte stärker moderierend und weniger parteinehmend ausgerichteter Praxisprojekte sowie eine von uns fallweise zu positivistisch wahrgenommene Auslegung von aufsuchenden Zugängen an sich. Motivierend war andererseits die Überzeugung, dass in einer nicht nur aufsuchenden, sondern auch nachschauenden, begleitenden, kollektivierenden sowie kritisch-reflexiven und sich diskursiv-eimischenden Konzeption von Straßensozialarbeit und deren Spielarten im urbanen Raum immer noch und immer wieder Chancen der Absicherung bzw. Erweiterung von Denk- und Handlungsräumen liegen – aufseiten der Fachkräfte wie auf der der Adressat*innen gleichermaßen. Abseits dieser persönlichen Hintergründe erfordern fachlich-theoretische Entwicklungen in Profession und Disziplin Sozialer Arbeit und aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen eine Neubestimmung darüber, welche fachlichen Standards für eine emanzipative Streetwork-Praxis heute relevant und begründbar sind. Streetwork als Soziale Arbeit auf der Straße etablierte sich ab Mitte der 1970er Jahre angelehnt an US-amerikanische Angebote zunehmend in Feldern der Sucht- und Wohnungslosenhilfe, der Offenen Jugendarbeit und Stadtteilarbeit. Mit Blick auf die ‚Straße‘ bzw. öffentliche Räume wurde der Begriff der Aufsuchenden Soziale Arbeit rund ein Jahrzehnt später vermehrt aufgegriffen. Meist synonym zum Terminus Streetwork verwendet und möglicherweise vom englischen ‚outreach work‘ abgeleitet, wurde Aufsuchende Arbeit neben
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dem Begriff der mobilen Arbeit in den 1990ern auch im Feld der Jugendarbeit zunehmend populär (z. B. Krafeld 1993, 1996) und seit den 2000er Jahren auch in der Sozialraumarbeit rezipiert. Dabei scheint er sich zunehmend als handlungsfeldübergreifender Fachbegriff zu etablieren, unter dem sich mobile und herausreichende Angebote, Streetwork- und Outreach-Projekte sowie auch stadtteil- und gebietsbezogene Praxen versammeln. Auch die Semantik vom ‚Arbeiten auf der Straße‘, verschiebt sich in Richtung Aufsuchende Soziale Arbeit, wodurch zusätzlich zur Betonung des Draußen sein der suchende Modus als Hinbewegung zu den Adressat*innen in den Fokus rückt. Die Fachdebatte zur Aufsuchenden Sozialen Arbeit in öffentlichen Räumen wird gegenwärtig selten handlungsfeldübergreifend geführt. Oft verharrt sie in praxisnahen Paradigmen der 1990er Jahre, wobei nur selten die Tiefe früher deutschsprachiger Beiträge erreicht wird (siehe z. B. Specht 1979; Miltner 1982; Becker und May 1991). Die einschlägige Literaturlage ist zudem wenig systematisiert, Spannungsfelder des praktischen Tätigseins werden abseits der Reihe zu „Streetwork und mobile Jugendarbeit“ (siehe z. B. Gillich 2003, 2006, 2008; Dölker und Gillich 2009) nur ansatzweise in Qualifikationsarbeiten beschrieben und selten auf veränderte Diskurse über Demokratie, Sicherheit, Raum oder Stadt bezogen. Trotz einiger weiterführender Bücher (Huber 2014; Diebäcker 2014; Albert und Wege 2015; Dirks et al. 2016) mangelt es im Fachdiskurs an einer nachvollziehbaren Auseinandersetzung mit fachlichen Prinzipien anhand aktueller Theoriekonzepte von sozialer Ungleichheit, Diskriminierung und sozialer Ausschließung ebenso wie an der Konkretisierung von Haltungen und Methoden für eine kritisch-reflexive Berufspraxis, die von der Komplexität und Dynamik sozialer Situationen und Interaktionen gefordert ist. Angesichts gewandelter gesellschaftlicher Verhältnisse und neuer raumpolitischer Strategien – die Zunahme von konfliktbearbeitenden, aufsuchenden Angeboten Sozialer Arbeit vor dem Hintergrund intensivierter Sicherheits- und Ordnungspolitiken sei hier beispielhaft genannt – ist unserer Meinung nach eine re-aktualisierende Auseinandersetzung mit Streetwork und Aufsuchender Sozialer Arbeit in öffentlichen Räumen angezeigt. Der hier vorliegende Sammelband ist ein Versuch, diese Lücke in der Publikationslandschaft etwas zu füllen, und ein kritisch-reflexives Diskussionsangebot für die professionelle Arbeit zu machen, wobei wir aufgrund eigener Verortungen den Fokus auf aufsuchende Praxen im städtischen Raum legen. Mobile Arbeit in ländlichen Gebieten sowie aufsuchende oder nachgehende Formen Sozialer Arbeit in privaten oder institutionellen Räumen wie z. B. in der mobilen Familienhilfe oder in Verbindungsdiensten sind zumindest in ihren handlungsfeldspezifischen Ausformungen nicht Gegenstand unserer Betrachtungen.
Vorwort
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Mit der finalen Konzeption des Bandes und der Zusage von Springer VS haben wir Anfang 2018 versierte Kolleg*innen in Wissenschaft und Praxis des aufsuchenden Feldes angefragt sich zu beteiligen. Inspiriert von den drei Bänden Aktuelle Leitbegriffe der Sozialen Arbeit (siehe z. B. Bakic, Diebäcker und Hammer 2016) haben wir uns entschieden, den Autor*innen je zwei Begriffe mit auf den Weg zu geben, um ganz im Foucaultschen Sinne über diesen Bezug auch Anderes denken und Neues schreiben zu können. Es werden fachliche Entwicklungen im Feld von Streetwork und Aufsuchender Sozialer Arbeit in urbanen Räumen und Quartieren zu gesellschaftspolitischen Veränderungen in Beziehung gesetzt und fachliches Tun anhand zentraler theoretischer Bezüge reflektiert. Die Autor*innen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz diskutieren in ihren Beiträgen gegenwärtige Herausforderungen praxisbezogen und theoriegeleitet. Wenngleich sie teils spezifische Erfahrungen und Wissensbestände aus einem konkreten Feld haben, nehmen Sie häufig eine handlungsfeldübergreifende Perspektive ein, indem sie nach verallgemeinerbaren Aspekten suchen und auch, wo möglich, handlungsleitende Alternativen skizzieren. Wir bedanken uns bei allen Kolleg*innen, dass sie sich der Herausforderung gestellt haben, einige Nischen der ‚Arbeit auf der Straße‘ auszuleuchten, und damit einen Teil der vielen möglichen Perspektiven auf Aufsuchende Soziale Arbeit nachvollziehbar machen. An dieser Stelle möchten wir uns auch beim Studiengang Soziale Arbeit der FH Campus Wien für die wichtige Unterstützung bedanken. Ein besonderer Dank gilt Magda Hirschberger für das Korrektorat aller Beiträge in diesem Sammelband, die uns in ihrer profunden, aufmerksamen und immer hilfreichen Arbeitsweise im letzten Jahr eine große Hilfe war. Der Sammelband ist in drei Teilen aufgebaut: Gesellschaftliche Rahmungen (Teil I), Situationen, Settings und Interaktionen (Teil II), handlungsleitende Konzepte und fachliche Standards (Teil III). Im ersten Teil wollen wir auf gesellschaftliche Rahmungen verweisen, in deren Kontext veränderte Konzeptionen Aufsuchender Sozialer Arbeit verstanden und diskutiert werden können, und die eine kritische Reflexionsfolie für die im Weiteren auszuführenden fachlichen Zugänge bilden. Im zweiten Teil fokussieren wir besonders auf situative Herausforderungen in dynamischen Settings, die einer kritischen Vergewisserung von anvisierten Gruppen bzw. deren Konstruktionen bedürfen. Interaktionen werden mit Zielen gesetzt, die von Analyse über Kontaktaufbau, Konfliktbearbeitung und dem Begleiten oder Kontrollieren von Risiken bis zu inklusiven, problembearbeitenden oder erlebnisfördernden Schwerpunktsetzungen reichen. Im Kapitel der handlungsleitenden Konzepte sammeln wir Artikel zu Leitbegriffen wie Niedrigschwelligkeit und Freiwilligkeit, die teils
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Vorwort
über den öffentlichen Raum als Referenzpunkt hinausgehen, immer aber auch in Bezug auf divergierende Ansprüche und eine aufsuchende Praxis diskutiert werden. Wir hoffen mit den hier präsentierten Artikeln, die Diskussion um grundlegende Fragen von Zugängen und Zielen, Haltungen und Methoden für eine professionelle Praxis anzuregen sowie Widersprüche, Interessenskonflikte und alternative Möglichkeiten aus gesellschaftskritischen und fachlich-reflexiven Perspektiven sichtbar zu machen. Wien im Februar 2020
Marc Diebäcker Gabriele Wild
Literatur Albert M., und J. Wege, Hrsg. 2015. Soziale Arbeit und Prostitution. Professionelle Handlungsansätze in Theorie und Praxis. Wiesbaden: Springer VS. Bakic, J., M. Diebäcker, und E. Hammer, Hrsg. 2016. Aktuelle Leitbegriffe der Sozialen Arbeit, Bd. 3. Wien: Löcker. Becker, H., und M. May. 1991. „Die lungern eh‘ nur da ‘rum“. Raumbezogene Interessenorientierung von unterschichtjugendlichen und ihre Realisierung in öffentlichen Räumen. In Die gefährliche Straße. Jugendkonflikte und Stadtteilarbeit, Hrsg. W. Specht, 35–63. BieIefeld: KT-Verlag. Diebäcker, M. 2014. Soziale Arbeit als staatliche Praxis im städtischen Raum. Wiesbaden: Springer VS. Dirks, S., F. Kessl, M. Lippelt, und C. Wienand. 2016. Urbane Raum(re) produktion – Soziale Arbeit macht Stadt. Münster: Westfälisches Dampfboot. Dölker, F., und S. Gillich, Hrsg. 2009. Streetwork im Widerspruch. Handeln im Spannungsfeld von Kriminalisierung und Prävention. Gelnhausen: Triga. Gillich, S., Hrsg. 2003. Streetwork/Mobile Jugendarbeit: Aktuelle Bestandsaufnahme und Positionen eigenständiger Arbeitsfelder. Gelnhausen: Triga. Gillich, S., Hrsg. 2006. Professionelles Handeln auf der Straße. Praxisbuch Streetwork und Mobile Jugendarbeit. Gelnhausen: Triga. Gillich, S., Hrsg. 2008. Bei Ausgrenzung Streetwork. Handlungsmöglichkeiten und Wirkungen. Gelnhausen: Triga. Huber, S. 2014. Zwischen den Stühlen. Mobile und aufsuchende Jugendarbeit im Spannungsfeld von Aneignung und Ordnungspolitik. Wiesbaden: Springer VS.
Vorwort
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Krafeld, F.J. 1993. Jugendarbeit mit rechten Jugendszenen. In Rechtsradikale Gewalt im vereinigten Deutschland, Hrsg. H.-U. Otto und R. Merten, 310– 318. Wiesbaden: VS Verlag. Krafeld, F.J. 1996. Die Praxis akzeptierender Jugendarbeit. Konzepte, Erfahrungen und Analysen aus der Arbeit mit rechten Jugendlichen. Opladen: Leske + Budrich. Miltner, Wolfgang. 1982. Streetwork im Arbeiterviertel. Eine Praxisstudie zur Jugendberatung. Darmstadt: Luchterhand. Specht, Walther. 1979. Jugendkriminalität und mobile Jugendarbeit. Ein stadtteilbezogenes Konzept von Streetwork. Darmstadt: Luchterhand.
Inhaltsverzeichnis
Streetwork und Aufsuchende Soziale Arbeit im öffentlichen Raum. Zur strategischen Einbettung einer professionellen Praxis . . . . . . . . . . . . 1 Marc Diebäcker und Gabriele Wild Gesellschaftliche Rahmungen Städtewachstum und Gentrifizierung: Die Verräumlichung sozialer Ungleichheit und die Transformation öffentlicher Räume. . . . . . . . . . . . . 23 Marc Diebäcker Sicherheiten und Sichtbarkeiten: Ordnungspolitiken in öffentlichen Räumen und die Verdrängung der problematisierten Anderen. . . . . . . . . 39 Christian Reutlinger Demokratie und Repräsentation: Die Straße und das Quartier als Raum der Widersprüche ortsbezogener Sozialer Arbeit . . . . . . . . . . . . . . 55 Ellen Bareis Situationen, Settings und Interaktionen Orte und Situationen: Vom Suchen und Kontaktaufbau auf der Straße. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Caroline Haag Beratung und Begleitung: Professionelles Arbeiten in ungewissen Settings. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Gabriele Wild
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Szenen und Marginalisierung: Streetwork zwischen Inklusions- und Präventionsansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Yann Arhant Inszenierung und Diskriminierung: Der öffentliche Raum als Schauplatz diskursiver Stigmatisierung und Benachteiligungsbewältigung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Sabrina Luimpöck und Gabriele Wild Aktivierung und Selbstorganisation: Ambivalenzen mobilisierender Stadtteilarbeit im Kontext Aufsuchender Sozialer Arbeit. . . . . . . . . . . . . 133 Judith Knabe Gemeinwesen und Konflikte: Widersprüche (all)parteilicher Arbeitsansätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Anna Fischlmayr Soziale Netzwerke und Virtuelle Räume: Aufsuchendes Arbeiten zwischen analogen und digitalen Welten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Florian Neuburg, Stefan Kühne und Fabian Reicher Handlungsleitende Konzepte und fachliche Standards Freiräume und Schutzräume: Geschlechtergerechtigkeit intersektional denken und auf der Straße herstellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Madlen Gardow und Olivia Deobald Niederschwelligkeit und Ressourcenorientierung: Soziale Arbeit im Spannungsfeld zwischen Auftrag und Bedarf. . . . . . . . . . . . . . . 205 Manuela Hofer Bedürfnisorientierung und Akzeptanz: Ambivalenzen und Grenzen der Freiwilligkeit?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Andreas Wyss Alltagsbewältigung und Freizeitgestaltung: Wechselwirkungen zwischen Problembearbeitung und Erlebnisorientierung in der Aufsuchenden Sozialen Arbeit mit jungen Menschen. . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Martina Gerngross und Manuel Fuchs
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Erziehung und Hilfe: Bildungsarbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen in aufsuchenden Feldern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Alexander Brunner Sozialraumanalyse und Monitoring: Wissensproduktion in öffentlichen Räumen im Spannungsfeld zwischen Profession und Herrschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Christoph Stoik
Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Über die Herausgeber Marc Diebäcker (Wien), studierte Politikwissenschaft, Geschichte sowie Soziale Arbeit und Erziehung in Duisburg, Edinburgh und Wien. Lehrt und forscht an der FH Campus Wien. Schwerpunkte: Staats- und Gesellschaftskritik, Sozialraum und Soziale Arbeit, Wohnen und Wohnungslosenhilfe, Aufsuchende Soziale Arbeit, Gemeinwesenarbeit. E-Mail: [email protected] Gabriele Wild (Wien), studierte Sozialarbeit und Bildungswissenschaften in Wien, arbeitete als Streetworkerin in gewaltbereiten Szenen und mit Sexarbeiter*innen. Pädagogische Leitung bei JUVIVO, Lektorin am Studiengang Soziale Arbeit an der FH Campus Wien, in der Weiterbildung von psychosozial Tätigen und als Supervisorin tätig. Schwerpunkte u. a.: Aufsuchende Jugend- und Sozialarbeit, Suchtprävention, Gender. E-Mail: [email protected]
Autor*innenverzeichnis Yann Arhant (Wien), studierte Soziale Arbeit und Internationale Entwicklung sowie Gender Studies in Wien. Arbeitet derzeit als Streetworker in der niedrigschwelligen Drogenarbeit in Wien (Streetwork/Change – Suchthilfe Wien). Schwerpunkte: Genderaspekte Sozialer Arbeit, Wohnungslosigkeit, Soziale Ausgrenzung und Sucht. E-Mail: [email protected] XV
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Ellen Bareis (Ludwigshafen), studierte Gesellschaftswissenschaften in Frankfurt am Main. Lehrt und forscht an der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen. Schwerpunkte: Gesellschaftliche Ausschließung, Partizipation, Transformationen des Städtischen, Alltag und soziale Kämpfe, Produktion des Sozialen from below. E-Mail: [email protected] Alexander Brunner (Wien), studierte Pädagogik, Psychologie, Soziologie und Geschichtswissenschaften in Klagenfurt und Wien. Lehrt und forscht an der FH Campus Wien und Universität Wien. Schwerpunkte: Geschichte der Sozialen Arbeit, Normalisierungstheorien, Online-Beratung, Körper/Leib und Soziale Arbeit. E-Mail: [email protected] Olivia Deobald (Hamburg), studierte Sozialarbeit und arbeitet seit 2002 in der niedrigschwelligen Drogen- und Aidshilfe. Seit 2007 bei ragazza e.V. Hamburg – Beratungsstelle für Drogen gebrauchende/der Prostitution nachgehende Frauen*, Schwerpunkte: Straßensozialarbeit, HIV/Hep/STI-Beratung, Koordination eines mobilen Bus-Projektes für prekär arbeitende Sexarbeiter*innen. Marc Diebäcker (Wien), studierte Politikwissenschaft, Geschichte sowie Soziale Arbeit und Erziehung in Duisburg, Edinburgh und Wien. Lehrt und forscht an der FH Campus Wien. Schwerpunkte: Staats- und Gesellschaftskritik, Sozialraum und Soziale Arbeit, Wohnen und Wohnungslosenhilfe, Aufsuchende Soziale Arbeit, Gemeinwesenarbeit. E-Mail: [email protected] Anna Fischlmayr (Wien), studierte Soziale Arbeit in Graz und Wien. Forschte zu Sozialraumthemen, war im Gewaltschutz in Sheffield tätig und arbeitet derzeit als Sozialarbeiterin in Wien. Schwerpunkte: Gemeinwesenarbeit, Konfliktvermittlung, Krisenintervention und Gewaltschutz. E-Mail: [email protected] Manuel Fuchs (Mutenz), studierte Soziale Arbeit in Freiburg i. B. und Olten, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Kinder- und Jugendhilfe, Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz. Schwerpunkte: Offene und Mobile/Aufsuchende Kinder- und Jugendarbeit, Kinder- und Jugendförderung, Sozialraumorientierte und aufsuchende Handlungsansätze, Partizipation. E-Mail: [email protected]
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Madlen Gardow (Hamburg-Lünbeburg), studierte Sozialpädagogik in Lüneburg. Arbeitet seit 1999 in verschiedenen Feldern der Überlebenshilfe und akzeptierenden Drogenarbeit. Lehrte und forschte als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Leuphana Universität Lüneburg, ist seit 2009 in der Ausbildung von Sozialarbeiter*innen an Fachhochschulen und Universitäten tätig. Koordiniert seit 2014 ein Bus-mobiles Straßensozialarbeitsprojektes für Sexarbeiter*innen in Hamburg (ragazza e. V.). E-Mail: [email protected] Martina Gerngross (Mutenz), studierte Sozialarbeit und Community Development in Graz und München. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Kinder- und Jugendhilfe, Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz. Schwerpunkte: Offene Kinder- und Jugendarbeit, Niedrigschwellige Jugend- und Sozialarbeit, Aufsuchende und nachgehende Konzepte in der Sozial- und Gemeinwesenarbeit. E-Mail: [email protected] Caroline Haag (St. Gallen), studierte Soziologie und Cultural Studies in Darmstadt und London. Arbeitet als Co-Leiterin des Schwerpunktes „Öffentliches Leben und Teilhabe“ am Institut für Soziale Arbeit und Räume der FHS St. Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften (CH). E-Mail: [email protected] Manuela Hofer (Wien), studierte Politik- und Kommunikationswissenschaft sowie Soziale Arbeit in Salzburg und Berlin. Niederschwellige Jugendarbeit in Vukovar, Bregenz und Wien. Lehrende an der FH Campus Wien. Schwerpunkte: Mobile Jugendarbeit, Soziale Arbeit als politische Praxis, (Anti)Diskriminierung und Selbstorganisation. E-Mail: [email protected] Judith Knabe (Köln), studierte Sozialarbeit, arbeitete u. a. in der Wohnungslosenhilfe und Gemeinwesenarbeit, Promovendin des Graduiertenkollegs „Leben im transformierten Sozialstaat“/Duisburg-Essen. Lehrt und forscht zur Sozialen Arbeit an der Technischen Hochschule Köln, Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften. Schwerpunkte: Bewältigung von Ein- und Ausschließungen auf urbanen Wohnungsmärkten, Stadtsoziologie, Wohnungspolitik, Professionelles Handeln Sozialer Arbeit, Armut. E-Mail: [email protected]
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Stefan Kühne (Wien), studierte Germanistik, Geschichte, Philosophie und Sozialmanagement in Bonn und Krems. Er arbeitet als Erwachsenenbildner, lehrt an Hochschulen, leitet die wienXtra-jugendinfo und wienXtra-soundbase und ist Herausgeber von e-beratungsjournal.net. Schwerpunkte: psychosoziale Onlineberatung und Digitalisierung der Sozialen Arbeit. E-Mail: [email protected] Sabrina Luimpöck (Eisenstadt), studierte Sozialarbeit, Slawistik und Soziologie in Wien und dissertierte zu Erwerbsbiografien tschetschenischer Geflüchteter. Sie lehrt und forscht an der Fachhochschule Burgenland. Schwerpunkte: Diskriminierung, Flucht, Geschlechterverhältnisse und Biografie. E-Mail: [email protected] Florian Neuburg (Wien), studierte Soziologie und Politikwissenschaft in Wien und ist in der Offenen Jugendarbeit, u. a. als Onlinestreetworker, tätig. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie, Vorstandsmitglied bei turn – Verein für Gewalt- und Extremismusprävention. Schwerpunkte: Extremismus und Radikalisierungsprävention, Soziale Arbeit, Offene Jugendarbeit, Digitale Jugendarbeit, Biografieforschung. Fabian Reicher (Wien), studierte Soziale Arbeit in Wien, arbeitete als Streetworker bei „BackBone–mobile Jugendarbeit“, derzeit in der Distanzierungs- und Ausstiegsarbeit für die Beratungsstelle Extremismus/BOJA tätig. Er ist Vorstandsmitglied bei turn – Verein für Gewalt- und Extremismusprävention. Schwerpunkte: (Online-) Streetwork, Burschen- und Einzelfallarbeit in den Bereichen Jugendszenen, Rechtsextremismus und Jihadismus. E-Mail: [email protected] Christian Reutlinger (St. Gallen), studierte Sozial- und KulturgeographieKult urgeografie, Sozialpädagogik und Soziologie in Zürich, Zaragoza und Dresden. Co-Leiter des Institut für Soziale Arbeit und Räume (IFSAR-FHS). Schwerpunkte: Soziale Nachbarschaften und Wohnen, Soziale Arbeit im öffentlichen Raum, Sozialgeographien Sozialgeografien der Kinder und Jugendlichen. E-Mail: [email protected] Christoph Stoik (Wien), studierte Sozialarbeit und Community Development in Wien und München. Lehrt und forscht an Studiengängen Sozialer Arbeit an der FH Campus Wien. Schwerpunkte: Soziale Arbeit im öffentlichen Raum, Soziale Arbeit und soziales Wohnen, Gemeinwesenarbeit. E-Mail: [email protected]
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Gabriele Wild (Wien), studierte Sozialarbeit und Bildungswissenschaften in Wien, arbeitete als Streetworkerin in gewaltbereiten Szenen und mit Sexarbeiter*innen. Pädagogische Leitung bei JUVIVO, Lektorin am Studiengang Soziale Arbeit an der FH Campus Wien, in der Weiterbildung von psychosozial Tätigen und als Supervisorin tätig. Schwerpunkte u. a.: Aufsuchende Jugend- und Sozialarbeit, Suchtprävention, Gender. E-Mail: [email protected] Andreas Wyss (Zürich und Basel), studierte Soziale Arbeit in Olten und ist Leiter des Fachbereichs für Kindheit, Jugend und Integration in der Stadt Uster bei Zürich. Er arbeitet zudem als freischaffender Supervisor und Sozialwissenschaftler. Schwerpunkte: Stadtentwicklung, Exklusion und Armutsbewältigung. E-Mail: [email protected]
Streetwork und Aufsuchende Soziale Arbeit im öffentlichen Raum. Zur strategischen Einbettung einer professionellen Praxis Marc Diebäcker und Gabriele Wild 1 Zur Ausgangslage Streetwork gilt im deutschsprachigen Raum seit den späten 1970er Jahren als etablierter Arbeitszugang für die niedrigschwellige Arbeit mit marginalisierten oder problematisierten Gruppen im öffentlichen Raum. Bis heute verbinden Sozialarbeiter*innen mit Streetwork eine professionelle Herangehensweise, bestimmte fachliche Haltungen oder auch eine bestimmte Form der beruflichen Identität. Dabei stellen gesellschaftliche Ausgrenzung und schwierige Erreichbarkeit von Adressat*innen eine wesentliche Argumentationsfigur dar (z. B. Fülbier und Steimle 2002, S. 596; Gillich 2008, Specht 2010), verbunden mit Kritik an einrichtungsbezogenen, ‚stationären‘ Angeboten, denen die Vermittlung von Informationen und Leistungen oder der Aufbau tragfähiger Beziehungen zu potenziellen Adressat*innen nicht gelänge. Das Arbeiten auf der Straße wird als niederschwelligstes Angebot ohne Vorbedingungen positioniert, unter anderem damit marginalisierte, ausgeschlossene oder problematisierte Personengruppen auf sozialstaatliche Unterstützung und Ressourcen zugreifen können. In ihren alltagsnahen Bildungs-, Vermittlungs- und Versorgungs- oder Beteiligungsfunktionen legitimiert sie sich selbst zur Vorbedingung von ‚ernstgemeinter‘ sozialer Inklusion (Diebäcker 2019b, S. 542).
M. Diebäcker (*) · G. Wild Wien, Österreich E-Mail: [email protected] G. Wild E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Diebäcker und G. Wild (Hrsg.), Streetwork und Aufsuchende Soziale Arbeit im öffentlichen Raum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28183-0_1
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In vielen Feldern Sozialer Arbeit hat sich ein Arrangement zwischen Einrichtungsarbeit, oft mit Treffpunkt- oder Schutzraum-Charakter, und aufsuchender Praxis herausgebildet (Keppeler und Specht 2011, S. 960; Klose und Steffan 2005, S. 306). Das Aufsuchen, Kontaktieren und in Beziehung treten speziell an lebensweltnahen Orten der Adressat*innen ist in Programmen der Stadtteilarbeit, der Offenen Jugendarbeit und Jugendhilfe, der Sucht-, Drogen- und Wohnungslosenhilfe oder spezifischen Angeboten mit gewaltbereiten, rechtsorientierten oder politisch extremen Szenen legitimiert (siehe z. B. Beiträge in Klose und Steffan 1997). Dabei reicht das Ausmaß der unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen von eher existenzsichernder Grundversorgung und Lebensbewältigung über präventive ‚Schadensminimierung‘ in traditionellen Streetworkprojekten bis hin zu ‚positiven‘ Ausrichtungen an Ressourcenerschließung, Freizeitgestaltung, Aktivierung und Bildungsarbeit in mobilen Angeboten. Daraus ergeben sich auch unterschiedlich enge institutionelle Anbindungen einer Aufsuchenden Sozialen Arbeit. Sie kann unmittelbar an die eigene Einrichtung im Sinne eines niederschwelligen Stützpunktes gekoppelt sein oder als permanente, suchend-anwesende Praxis in öffentlichen Räumen bedarfsorientiert, soweit möglich, direkt ins institutionelle und sozialstaatliche Netz vermitteln und begleiten. Angebote können auch hinsichtlich ihres räumlich-territorialen Aufsuchungsmodus differenziert werden: Einige Projekte arbeiten gebietsorientiert, indem sie sich auf einen konkreten Ort (z. B. Bahnhof, Straßenstrich) oder ein größeres Quartier beziehen, andere durchstreifen ‚routenorientiert‘ unterschiedliche Gegenden und suchen unterschiedlichste Treffpunkte in der gesamten Stadt oder einer ländlichen Region auf. Mit Blick auf eine Zielgruppenorientierung können Angebote auch nach dem Ausmaß der Offenheit bzw. Zugänglichkeit unterschieden werden, was z. B. in der Jugendarbeit besonders deutlich wird: Konzeptionen reichen von einer Eingrenzung auf bestimmte Szenen über den Fokus auf als delinquent zugeschriebene Gruppen und Cliquen bis hin zu einer Ausrichtung auf alle Jugendlichen, die sich im öffentlichen Raum eines bestimmten Gebiets oder Stadtteils aufhalten. Als fachliche Orientierungen von Streetwork werden gemeinhin eine akzeptierende Grundhaltung des Andersseins, Bedürfnisorientierung, Parteilichkeit für die Adressat*innen sowie Freiwilligkeit der Kontaktaufnahme und Vertrauensschutz bzw. Anonymität als zentrale Handlungsmaximen dargestellt (siehe z. B. BAG Streetwork/Mobile Jugendarbeit 2008, S. 230; Klose und Steffan 2005, S. 308). Nur selten werden diese Standards für die Beziehungsverhältnisse Sozialer Arbeit allerdings konkretisiert, sodass Ambivalenzen des Tätigseins nur selten in den Blick geraten. Beispielsweise kann mit Akzeptanz
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eine e rwartungsfreie Beziehung verstanden werden, um möglichst widerstandsfrei – im Sinne einer Technik – Kontakt und Vertrauen herzustellen, oder es ist eine akzeptierende Haltung gemeint, die auch ihre Grenzziehungen gegenüber dem Anderssein reflexiv erschließt und im eigenen Handeln begründet (Wild 2013, S. 230 f.). Die genannten ‚klassischen‘ Arbeitsprinzipien helfen bei der Herstellung von Niederschwelligkeit und Lebensweltorientierung, erleichtern damit aber auch den Eingriff in schwer zugängliche oder mobilisierbare soziale Beziehungen. So kann Streetwork bzw. Aufsuchende Soziale Arbeit auch als extensive, raumnehmende oder kolonialisierende Praxis verstanden werden, die identifizierende, kontrollierende oder normierende Interventionen näher an den Alltag der Adressat*innen heranführt (Galuske 2007, S. 274) und sich ihrer ordnungspolitischen Einbettung im Regieren über Sicherheit und sozialen Nahraum nicht einfach entledigen kann (Diebäcker 2014, S. 116 ff.). Es erscheint uns wesentlich den ‚Kanon‘ der fachlichen Orientierungen einerseits hochzuhalten und in seiner Bedeutung für professionelle Rollensicherheit und das Erreichen von Zielen zur Erweiterung von Handlungsspielräumen zu argumentieren, andererseits spezifische Haltungsfragen in der niederschwelligen, aufsuchenden Sozialen Arbeit in Hinblick auf strukturelle Nicht-Erreichbarkeiten tief gehender zu diskutieren.
2 Historische und strategische Einbettung von Aufsuchender Sozialer Arbeit Das Aufsuchen von Menschen in ihrem direkten Wohn- oder Arbeitsumfeld ist historisch rückblickend für die Soziale Arbeit eine gängige Form der Kontaktaufnahme und war bereits im Kontext von Armuts- und Fürsorgepolitiken der Industrialisierung im 19. Jahrhundert übliche Praxis. Mit dem Leistungsausbau fordistischer Wohlfahrtsstaaten und dem Zuwachs sozialer Berufe formierten sich seit den 1970er Jahren in Österreich, Deutschland und der Schweiz erste Streetwork-Projekte, die sich auf öffentliche Räume als Interventionsfeld spezialisierten. Diese Etablierung der Straßen- bzw. Gassensozialarbeit oder mobilen Jugendarbeit folgte in ihrer Zielgruppenorientierung einer öffentlichen Diskurslogik, in der bestimmte Gruppen als abweichend, gefährlich oder als Risiko für andere Bevölkerungsgruppen problematisiert wurden, wie z. B. in Feldern von Wohnungslosigkeit, Sucht oder Sexarbeit. Auch wenn die Projekte als personenbezogene, fachliche und sozialstaatliche Antwort zur Erhöhung sozialer Sicherheit spezifischer Zielgruppen positioniert wurden, spiegelte sich in ihrer Beauftragung immer auch die Strategie, im Namen der Sicherheit politische
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Mehrheiten zu organisieren. Dies wird z. B. anhand der Etablierung von Streetwork-Projekten in der Drogen- und Suchthilfe oder in Kontexten weiblicher und männlicher Sexarbeit im Gefolge biopolitischer Kalkulationen zur Eindämmung von HIV-Erkrankungen ab Mitte der 1980er Jahre ersichtlich (Diebäcker 2019b, S. 541, siehe z. B. auch Ausobsky 1997; Fink 1995; Gusy 1997; Heinrichs 1995; Leopold und Steffan 1997; Meinke et al. 1995; Werner 1997). Die diskursive Problematisierung von Jugendgewalt Anfang der 1990er Jahre in Deutschland führte zur Positionierung von Streetwork-Projekten als eine Maßnahme zur Gewaltreduktion (Voß 1997). Die Ausweitung aufsuchender Jugendarbeit in Form von Parkbetreuung in den 90er Jahren oder konfliktvermittelnder Quartiersarbeit (Fair-Play-Teams) Anfang 2000 in Wien folgte einer ordnungspolitischen Problematisierung von ‚Nutzungsdruck‘ in öffentlichen Räumen, die Jugendalter und Migrationserfahrung koppelte. In der deutschsprachigen Rezeption von Streetwork wurden fachliche Konzepte, aber auch ordnungspolitische Ansprüche und damit verbundene Problematisierungen von öffentlichen Räumen und Gruppen häufig anhand US-amerikanischer Entwicklungen reflektiert (siehe z. B. Miltner und Specht 1978; Becker und May 1991; Miller 1991), wobei bereits in diesen frühen Werken der gebietsbezogene Einsatz, die kontinuierliche Erkennbarkeit und Präsenz sowie die raumkontrollierenden Tätigkeiten kritisiert wurden (Specht 1989, S. 80 f.). Die normativen Abgrenzungsbemühungen zu lokalisierten Ordnungspolitiken wurde meist entlang des lebensweltorientierten Paradigmas mit Zielgruppenorientierung und einer eindeutigen Parteinahme für die Adressat*innen geführt (siehe z. B. Galuske 2007, S. 274 f.; Beiträge in Specht 1991; Becker und Simon 1995; Gref und Menzke 1994). Durch das Betonen der ‚positiven‘, rehabilitativen und sozial inklusiven Funktionen von Streetwork, z. B. die alltagsnahe, bewältigungsorientierte und anerkennende Kommunikation, die bedarfsorientierten Hilfen zur Bewältigung schwieriger Lebenssituationen in Form von psychosozialer Beratung und Begleitung oder die Vermittlung ins institutionalisierte Hilfesystem, wurden scheinbar die ‚negativen‘ „kontrollierenden, normierenden und ordnenden Anteile aufsuchender Sozialer Arbeit weitestgehend ausgeblendet und das Involviertsein in komplexere raumregulierende Arrangements vernachlässigt“ (Diebäcker 2019b, S. 542). Das Hinwenden, Besuchen und Begegnen in der Lebenswelt der Adressat*innen, das Bearbeiten sozialer Problemsituationen in Zusammenhang mit Arbeiten und Wohnen oder Gesundheit und Erziehung vor Ort ist, neben der Unterstützung über Hilfe oder Bildung, aber immer auch mit problematisierenden Etikettierungen sozialer Gruppen und Milieus und mit kolonialisierenden Praxen des Identifizierens, Kategorisieren und Kontrollierens verknüpft sowie häufig von
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dem Bemühen getragen, ‚abweichende‘ soziale Ordnungen zu ‚befrieden‘ und zu normalisieren. Im gegenwärtigen Kontext von intensivierten Sicherheits- und Ordnungspolitiken in öffentlichen Räumen, etablierten sich in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren eine Vielzahl von aufsuchenden Projekten, deren Teams über Kleidung und Ausstattung wie Rucksäcke erkennbar sind, sich an ‚allen‘ Nutzer*innen bzw. auch an etablierten Bevölkerungsgruppen ausrichten und dezidiert kommunikative und mediative Angebote für ‚neutrale‘ Mehrheiten oder sogar Beschwerdeführer*innen machen. Sie sind, oft im Sinne kriminalpräventiver Alltagskonzepte, allparteilich positioniert, um das subjektive Sicherheitsgefühl von Anrainer*innen, Passant*innen oder Geschäftstreibenden zu erhöhen. Während sich aufsuchende, zielgruppenorientierte Ansätze aufgrund ihrer lebensweltlichen Orientierung durch eine inhaltlich thematische Allzuständigkeit auszeichnen, scheinen sich gebietsbezogene Angebote aktuell oft im Namen der Allparteilichkeit in Richtung adressat*innenbezogener Allzuständigkeit zu verschieben. Im Unterschied zu den eindeutig parteilich positionierten Konzepten der 1980er und 1990er Jahre mit ihrer unterstützenden, längerfristigen Beziehungsarbeit favorisieren derartige mobile, konfliktschlichtende Angebote kurzfristige Interventionen. (Diebäcker 2014, S. 233–238). Letztere legitimieren sich als ‚gemeinwesenorientiert‘, verfolgen dabei aber nicht unbedingt fachliche Ziele der Gemeinwesenarbeit wie Teilhabe, Demokratisierung oder Emanzipation, mit denen benachteiligte Gruppen gestärkt und sozialen Ausschließungsdynamiken entgegengearbeitet werden soll. In der gegenwärtigen Situation von sich verschränkenden Politiken im Namen von Aufwertung und Sicherheit in öffentlichen Räumen scheint sich zwischen Praxen parteilicher Straßensozialarbeit und emanzipativer Gemeinwesenarbeit ein neues Feld von räumlich-territorialen Interventionsangeboten zu etablieren, in denen aufsuchende Methoden Sozialer Arbeit und ihre ‚sanften‘ Interventionsmodi großen gesellschaftlichen Zuspruch erfahren und Normierungsprozesse und soziale Ausschließungseffekte der problematisierten ‚Anderen‘ verstärken.
3 Der öffentliche Raum als gesellschaftlicher Spiegel und physisch-territoriales Einsatzgebiet Als Öffentliche Räume werden üblicherweise lokalisierbare Orte auf physischgeographischer Ebene verstanden, Orte an denen Güter positioniert sind und Menschen sich aufhalten oder bewegen sowie vielfältiges Verhalten und soziale Interaktionen stattfinden. Plätze und Parks, Freiräume und Grünflächen, Straßen
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und Gehsteige gelten dann als öffentlich, wenn eine hohe allgemeine Zugänglichkeit für unterschiedlichste Personen möglich ist. Das Öffentliche steht immer in Relation zum Privaten, so dass der Haushalt, die persönliche Verfügbarkeit oder die privatwirtschaftliche Fläche, die Grenzen von öffentlichen Räumen mitkonstituieren. Öffentliche Räume können in ihrer Materialität und Flächenausdehnung so auch als Zwischenräume gesehen werden, die in kapitalistischen Gesellschaften (noch) nicht privatisiert sind, sondern in staatlicher Verantwortung öffentlich gestaltet, verwaltet und reguliert werden. (Diebäcker 2020, in diesem Buch). Die Bestimmung von öffentlichem Raum verläuft in empirisch-analytischer Hinsicht entlang unterschiedlicher Kategorien, die je nach disziplinärer Perspektive an den physisch-geographischen Raum angelegt werden. Neben der Kategorie von Eigentum/Besitz ist der Grad des Zugangs, im Sinne eines allgemeinen, offenen und bedingungslosen Zugangs, in sozialwissenschaftlichen Perspektiven oft prioritär, um das Öffentliche eines Ortes oder Gebietes festzulegen.1 Häufig werden öffentliche Räume auch nach ihrer zentralen Funktionalität, wie Handel, Freizeit, Politik oder Mobilität differenziert. Während planerische oder architektonische Blickwinkel die Qualitäten der baulichen Gestaltung oder die gebaute Symbolik betonen, rücken soziologische, politikwissenschaftliche, sozialarbeiterische und pädagogische Perspektiven soziales Verhalten und Aneignung, soziale Normen und Regulierungen oder die Repräsentationspraxen von Menschen in den Vordergrund. „Dann erscheint der ‚gelebte öffentliche Raum‘ als dynamisch und divers, als vermachtet und umkämpft – als gesellschaftlicher ‚Spiegel‘ sind öffentliche Räume dann Flächen, auf denen soziale, ökonomische und politische Herrschaftsverhältnisse sichtbar werden.“ (Diebäcker 2019a, S. 142) Während sich öffentliche Räume also zunächst in ihrer gesellschaftlichen Relation konstituieren, gilt es aus subjektiver Perspektive zwei Erfahrungsebenen zu differenzieren: Die diskursive Erfahrung
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beide Kategorien, Besitz und Zugang zugleich angelegt, zeigt sich in der Realität häufig, dass die damit verbundenen Grenzziehungen nicht unbedingt deckungsgleich sind, und werden aufgrund dessen dann als ‚halböffentlich‘ charakterisiert. Z. B. ist die Fahrbahn für den Autoverkehr meist im öffentlichen Besitz, die Fahrbahn selbst ist für Fußgänger*innen aber nur sehr eingeschränkt nutzbar. Der öffentliche Park wird abends abgesperrt und ist somit nur die Hälfte der Zeit für die Bevölkerung nutzbar. Malls, die in privatem Besitz sind, durch private Hausordnungen und Securities reguliert werden, gewähren wiederum oft auch konsumfreien Zugang, Aufenthalt und andere Nutzungen, wenn der ‚konforme Schein‘ gewahrt wird. (Bareis 2007).
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durch die ‚Rede über Raum‘, die unser ‚Rezipieren‘ und unsere subjektiven Raumvorstellungen prägen, und der öffentliche Raum als die physisch-materielle und soziale Erfahrungsebene des konkreten ‚Erlebens‘ vor Ort. Vor diesem Hintergrund sind Öffentliche Räume als Einsatzgebiete und ‚Schauplätze‘ Aufsuchender Sozialer Arbeit immer Gegenstand und Kontext des situativen Interagierens, in der die biographischen Hintergründe, Praxen der Alltagsbewältigung oder benachteiligende Lebensbedingungen von Adressat*innen momenthaft sichtbar werden.
4 Aufsuchende Soziale Arbeit als professionelle Praxis Damit Aufsuchende Soziale Arbeit im öffentlichen Raum abseits von vorfindbaren unterschiedlichen Ausbildungshintergründen, berufsrechtlichen Fassungen sowie organisationalen Ausprägungen eine professionelle Praxis sein kann, erachten wir neben einer angemessenen Ressourcenausstattung ein reflexives Professionsverständnis als zentral. Dieses erfordert Parteilichkeit im Sinne einer situations- und adressat*innenbezogenen Begründungskompetenz, und zwar nicht nur „basierend auf der Fähigkeit des reflexiven Umgangs mit wissenschaftlich gewonnenen Einsichten in strukturell bedingte soziale Ungleichheiten“ (Otto und Dewe 2011, S. 1149), sondern auch durch berufliche Selbstreflexion als wesentlichen Bestandteil professionellen Handelns. (ebd. S. 1150). Nachdem Aufsuchende Soziale Arbeit wie jede Art der Arbeit mit Menschen ein Tun unter Ungewissheitsbedingungen ist, zeigt sich die Professionalität sozialen Handelns in einem analytischen Modus, der „wissenschaftliche[s] Wissen, berufspraktisches Können und die alltagspraktischen Erfahrungen systematisch in Relation setzt“ und „in einem dialogischen Austausch mit Erfahrungs- und Deutungswissen im Rahmen fallbezogener Arbeitsroutine“ (ebd., S. 1151) relationiert. Neben einem breiten und flexibel adaptierbaren Methodenrepertoire abseits sozialtechnologischer Handlungsanleitungen braucht es im fallspezifischen Reflektieren und Handeln die Möglichkeit, eigene normative Positionen situativ zu realisieren, um Rollen und Aufgaben bestimmen sowie Ziele der Interventionen in der Interaktionsdynamik fassen zu können. Dies stellt hohe Anforderungen an die reflexive Kompetenz und Ambiguitätstoleranz der aufsuchend Arbeitenden, sodass ausreichend Raum und Zeit für Reflexionsprozesse beruflichen Handelns und Erlebens nötig sind.
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Unter der Voraussetzung eines so verstandenen professionellen Handelns möchten wir fünf Reflexionsfiguren des aufsuchenden Arbeitens vorstellen, die wir für die kritische Reflexion der eigenen fachlich-beruflichen Praxis für bedeutsam erachten.
4.1 Aufsuchende Soziale Arbeit als raumrelationale Praxis Aufsuchende Soziale Arbeit verstehen wir als eine raumrelationale Praxis (Diebäcker 2014, S. 113 ff., 244–248; 2019b, S. 544 ff.). Wenngleich sich materialistisches und poststrukturalistisches Denken über Raum konzeptiv unterscheiden, ist ein gemeinsamer Ausgangspunkt das Verwobensein in sozialen Beziehungen, die immer gleichzeitig Bedingung und Resultat für menschliches Tun sind. Dabei schließen wir an „ein theoretisches Verständnis an, dass Raum als sozial konstituiert betrachtet, indem das Gegenständliche von Raum als sozial produziert und das Denken über Raum als sozial konstruiert bzw. diskursiv hergestellt verstanden wird“ (Diebäcker 2019b, S. 544). Wird Aufsuchende Soziale Arbeit räumlich relational gedacht, dann kann sie zunächst und vereinfacht als eine Praxis im physisch-materiellen Raum (auf ‚horizontaler‘ Ebene) in ihren territorialen Gebietsbezügen gefasst werden. In ihren Interaktionen fokussieren Fachkräfte auf Menschen, sichtbare Phänomene und Situationen in ihren Einsatzgebieten, in ihren territorialen Zugriffen ist sie auf die dort anzutreffenden Personen und lokalisierten Machtbeziehungen bezogen. Dabei trifft eine aufsuchende Praxis in ihrer Bewegung durch Gebiete auf verschiedene Normensysteme und räumliche Ordnungen, die selbst schon immer Ergebnis räumlich-territorialer Wechselwirkungen sind (Diebäcker 2019b, S. 545 f.). Dieser lokalisierte Kontext von Aufsuchender Sozialer Arbeit ist in hohem Maße mit dem gesellschaftlichen Raum verschränkt, sodass eine aufsuchende Praxis immer auch Verhältnisse sozialer Ungleichheit und asymmetrischer Machtbeziehungen (im ‚vertikalen‘ Sinne) nicht nur vorfindet, sondern auch mitkonstituiert bzw. (re)produziert (siehe auch Dirks et al. 2016). Ursachen und Hintergründe ihrer Fallsituationen weitreichend zu erschließen, eigene kritischreflexive Handlungsperspektiven zu erarbeiten und Möglichkeiten einer mehrperspektivischen, unterstützenden und emanzipativen Praxis zu identifizieren, halten wir diesbezüglich für wesentlich. (Diebäcker 2019b, S. 546 f.) Wir plädieren für eine räumlich relationale und multiskalar fassbare Praxis, die auf unterschiedlichen räumlichen Maßstabsebenen tätig ist (Diebäcker 2014, 114 f.), indem sie auch abseits des physisch-geographischen Raums auf abstrakteren, gesellschaftlichen oder diskursiven Ebenen interveniert, z. B. wenn sie in medialen und virtuellen Räumen kommuniziert oder politisch lobbyiert.
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4.2 Aufsuchende Soziale Arbeit als Begegnungs- und Beziehungspraxis Aufsuchende Soziale Arbeit ist durch Vertrauensaufbau und das Etablieren einer tragfähigen Beziehung charakterisiert, die als Basis für die Annahme weiterer Unterstützung bzw. Entwicklungsprozesse gilt. Diese Beziehung ist nicht nur Wirkfaktor jedweder Interaktion, sondern muss im Sinne eines Arbeitsbündnisses, einer ‚helfenden Beziehung‘ erst lebensweltlich in Begegnung hergestellt werden. ‚Beziehungsarbeit‘ ist in niederschwelliger strukturierten Settings voraussetzungsvoll, weil Gesprächsangebote alltagsnah gesetzt werden und insofern störanfällig und wenig vorhersehbar sind, sowie im Interagieren nicht auf eine räumlich-hierarchische Ordnung klassischer Einrichtungsarbeit zurückgegriffen werden kann. Das Aufsuchen und Begleiten von Adressat*innen in öffentlichen Räumen, auch im Sinne ihrer sozialen Umwelten, virtuellen Netze, politischen Foren oder Konsumwelten, stellt in dieser Komplexität und Mannigfaltigkeit ein Spannungsfeld für Beziehungsgestaltung und Gesprächsführung dar, weil das Ausbalancieren von kommunikativer Offenheit und ressourcenorientierter Fokussierung in weniger strukturierten und unverbindlicheren Settings kontinuierlich herausgefordert ist. Gelingt es Streetworker*innen aber, sich „mit taktisch-kommunikativen Anpassungsleistungen an einem Ort mit spezifischen Normen“ (Diebäcker 2019b, S. 543) die Dynamik und geringe Formalisierung zu Nutze zu machen und als interessanter oder gar hilfreicher ‚Anderer‘2 vertrauenswürdig und bedeutsam zu werden, so stellt die professionelle Beziehung in ihrer spezifischen, reflexiv und situativ gestalteten Form (siehe Wild 2020 in diesem Band) ein in sich wirksames Angebot dar: Adressat*innen können durch sie Erfahrungen machen, die gegenläufig zu in persönlichen und sozialen Netzwerken erlebten Defiziten und Abwertungen sind. Über anerkennendes Wahrnehmen werden Entlastung, Selbstwertstärkung und Identitätsarbeit ermöglicht und es können Perspektiverweiterung, Modelllernen,
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‚bedeutender Anderer‘ zu werden meint hier – in Anlehnung an erziehungswissenschaftliche Reflexionen – ein authentisches Beziehungsangebot zu machen, das ausreichend Nähe und Bindung zulässt, damit Affekte, Verstrickungen und Ambivalenzen der Lebensführung für die Adressat*innen thematisierbar werden, gleichzeitig durch eine dosierte professionelle Distanz aber auch vor Kränkungen schützt und die Konfrontation mit anderen Sichtweisen ermöglicht. Damit sind Beziehungen zu Streetworker*innen anders als familiäre oder Freundschaftsbeziehungen, aber auch anders als stärker formalisierte Beziehungen zu z. B. Lehr- oder Autoritätspersonen in beruflichen oder öffentlichen Kontexten.
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Verarbeitung von Diskriminierungen etc. Raum bekommen. Eine tragfähige Beziehung erlaubt auch Irritationen und Zumutungen, die nötig sind, um alltägliche Routinen und Normen zu überschreiten. Trotz eines hohen Maßes an Freiwilligkeit und Flexibilität sowie dem Anspruch, akzeptierend und ‚auf Augenhöhe‘ zu agieren, ist aber auch die sich im Aufsuchenden Arbeiten konstituierende Beziehung nicht symmetrisch strukturiert, denn die Rollen zwischen Fachkraft und Adressat*in sind ungleich verteilt – die bezahlten Streetworker*innen folgen in ihrer beruflichen Tätigkeit ihren professionellen Wissensbeständen und Haltungen und können aufgrund ihrer sozialstaatlichen Positionierung Ressourcen vermitteln, die für ihr* Gegenüber bei einem entsprechenden Bedarf von Interesse sein und Angewiesenheit bzw. Abhängigkeit evozieren können. Mit der Etablierung einer Beziehung im Sinne einer Übereinkunft in Kontakt bleiben zu wollen, transformiert sich unverbindliche Kommunikation auch in strategischer Sicht in eine machtasymmetrische Arbeitsbeziehung, über die nicht zuletzt auch dominantes Wissen aufgerufen und normierende Bezüge zu ‚vernünftigem‘ Handeln hergestellt werden. Mit ihrem auf der Straße besonders stark ausgeprägten Fokus auf Akzeptanz und Selbstbestimmung können gerade auf Basis freiwilliger Beziehung gesetzte Beratungs- und Unterstützungsleistungen auch zur Subjektivierung von Problemlagen und zur Responsibilisierung und Selbst-Disziplinierung einzelner beitragen. Poststrukturalistische Ansätze sensibilisieren für diese machtvollen Voraussetzungen und Effekte von auf Freiwilligkeit und Beziehung basierten Hilfsangeboten. Mit Rückgriff auf das Butlersche Performativitätskonzept kann aufsuchende Beziehungspraxis aber auch ein Ort sein, wo Subjekte sich mit Normen auseinandersetzen und eine alternative Erzählung von sich aufbauen können. Eine so verstandene Beziehungsarbeit eröffnet Ressourcen und Räume, in denen hegemoniale Deutungen nicht einfach bestätigt, sondern in Frage gestellt und erweitert werden können (in Bezug auf poststrukturalistische Beratung Plößer 2013, S. 1372 ff.).
4.3 Aufsuchende Arbeit als Versorgungs- und Vermittlungspraxis Eine Aufsuchende Praxis ist im Rahmen ihrer sogenannten ‚Versorgungsfunktion‘ (z. B. Gref 1995, S. 13) gefordert, Problemlagen ihrer Adressat*innen im physisch-materiellen Raum soweit als möglich und teils basal kompensatorisch mittels ‚Überlebenshilfen‘, Angeboten zur Schadensreduktion, Zuspruch und dem zur Verfügung stellen von (Schutz-)Räumen und Anlaufstellen zu bearbeiten.
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Nachdem komplexe Bedarfe aber häufig nicht vor Ort lösbar sind bzw. nicht im direkten Einflussbereich von Streetworker*innen liegen, geht es vielfach darum, diese aufzunehmen und in Form von vermittelnden Unterstützungen auf ein breites Netz an Hilfen zuzugreifen. Das Bearbeiten von Arbeitslosigkeit, materieller Not, psychischen Belastungen oder Gewalterfahrungen und das Ineinandergreifen von Überlebenshilfen, Beratungen und Begleitungen (Bodenmüller und Piepel 2003) erfordert nicht nur ein breites Wissen des institutionellen Netzes, sondern braucht auch die Inblicknahme von Zugangssituationen zu psychosozialen Angeboten und sozialstaatlichen Ressourcen. Die vermittelnde oder begleitende Arbeit von Streetwork hängt somit wesentlich von den zur Verfügung stehenden Angeboten ab und variiert je nach Schwerpunktsetzung bzw. Adressat*innengruppe und den damit sozialstaatlich organisierbaren Ressourcen. Neben den grundsätzlich kommunikativ entlastenden oder alltagsorientierten anerkennenden Funktionen, hängt die Qualität der Unterstützung eben auch daran, in welchem Ausmaß artikulierte Bedarfe durch die Mobilisierung von Ressourcen überhaupt gedeckt werden können. Dort, wo Aufsuchende Soziale Arbeit an ihre Grenzen stößt, werden ihr konzeptuell Funktionen wie Interessensvertretung, Institutionenkritik oder politisches Lobbying zugeordnet (z. B. Galuske 2007, S. 273), die im Spannungsfeld zwischen (Betroffenen-)Selbstorganisation bzw. -Selbstvertretung und professioneller Repräsentation stattfinden. Sozialstaatliche Lücken und infrastrukturelle Schwachstellen zu identifizieren, institutionelle Diskriminierung und staatlichen Ausschluss stellvertretend zu kritisieren oder bessere fachliche Angebote zu konzipieren und damit auch zu strukturellen Verbesserungen beizutragen, sind Teil einer professionellen Praxis. Diskreditierende und stigmatisierende Zuschreibungen von Adressat*innen strukturieren häufig die Aufsuchende Praxis Sozialer Arbeit, insofern gehören dekonstruierende, diskursive Einmischungsstrategien auf unterschiedlichen politisch-medialen Ebenen zum fachlichen Handlungsrepertoire. Dabei kann die ‚seismographische‘ Funktion (Haag 2020, in diesem Buch) in partizipativer und alltagsnaher Weise zum Generieren alternativer Wissensbestände genutzt werden, wobei auf die Vertraulichkeit und den Schutz der Privats- und Persönlichkeitssphäre besonders geachtet werden muss.
4.4 Aufsuchende Soziale Arbeit als ambivalente Präventions- und informelle Bildungspraxis Vorbeugendes Handeln hat im Sinne von informationsvermittelnder und ‚ lebenskompetenzstärkender‘ Gesundheitsförderung oder im Rahmen von
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schadensmindernden Angeboten in der Aufsuchenden Sozialen Arbeit Berechtigung. Die z. B. in der Suchtprävention entwickelten akzeptierenden Ansätze, die auch grenzüberschreitendes oder selbstschädigendes Handeln als subjektiv funktional begreifen, lassen sich passgenau in niederschwellige Projekte integrieren und sind als personenbezogene Präventionsstrategie durch ihre Verhaltenszentrierung charakterisiert (Böllert 2011, S. 1126). Prävention als Interventionsmodus sozialer Unterstützung ist aber nicht nur durch Bewältigungs- und Befähigungsaspekte gekennzeichnet, sondern als Legitimation des vorbeugenden und frühzeitigen Eingreifens auch von gesellschaftlichen Normalitäts- und Normalisierungsvorstellungen durchdrungen. Der präventiven Ausrichtung lebenswelt- und szenenaher bzw. aufsuchender Angebote ist eine Defensiv- und Defizitorientierung im Sinne einer misstrauens- und verdachtsgeleiteten Wirklichkeitskonstruktion eingeschrieben, wodurch diese zur Mitwirkung bei der medialen Inszenierung von Bedrohungen instrumentalisiert werden kann (zur Präventionskritik siehe z. B. Lindner und Freund 2001). Denn während das sozialstaatliche Vorbeugen zur individuellen Risikoreduktion umfassende strukturbezogene Angebote zur Stabilisierung von Lebenssituationen der Betroffenen voraussetzt, wird auf personenbezogener Ebene die möglichst frühzeitige Intervention legitimiert. Die als belastend empfundene berufliche Erfahrung von Streetworker*innen, nahe Zeug*innen des ‚alltäglichen Leidens an der Gesellschaft‘ (Bourdieu 1997) zu sein und zugleich die Grenzen des institutionalisierten Sozialstaates und die Nichtverfügbarkeit ausreichender Ressourcen zu erleben, kann auch als zugrunde liegender Widerspruch der Präventionsdebatte gefasst werden: Genau so wie die strukturelle Verhältnisprävention im Vergleich zu personaler Verhaltensprävention mit geringeren Mitteln ausgestattet wird, wird auch der Schutz der Einzelnen vor gesellschaftlich verursachten Problemen in Richtung Schutz der Gemeinschaft vor den ungerechtfertigten Ansprüchen und dem störenden Verhalten marginalisierter Gruppen verschoben. (ähnlich Böllert 2011, S. 1129). Während die Betonung präventiver Effekte von Streetwork strategisch genutzt wird, wird in vielen Feldern Aufsuchenden Sozialer Arbeit der Bildungsbegriff skeptisch betrachtet. Abseits der Offenen Jugendarbeit, in der z. B. über einen subjektorientierten Aneignungsbegriff der „wechselseitige Vermittlungsprozess zwischen Mensch und Welt“ (Hüllemann et al. 2019, S. 381) in öffentlichen Räumen als Bildungsort betont wird, dominiert in Streetworkkonzepten mit Erwachsenen die helfende Unterstützung. In dem Wissen, dass gesellschaftliche Bildungsprogramme mit ihren statuszuweisenden Effekten soziale Ungleichheiten reproduzieren und die Pädagogisierung sozialer Probleme im flexiblen
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Kapitalismus eine Regierungstechnik darstellt, scheint uns das Negieren von Bildung dennoch problematisch. In der aufsuchenden Beziehungsarbeit, gerade in den Übergängen zwischen öffentlichen Räumen draußen und stützpunkt- bzw. einrichtungsbezogener Arbeit drinnen, zeigen sich häufig Prozesse, die als informelle Bildung in offenen Settings auch emanzipatorische Effekte entfalten, indem sie Räume für Aushandlung eröffnen und im Beziehungsverhältnis Raum für Distanzierungs- und Reflexionsmöglichkeiten lassen. Solch alltagsnahe Bildungsarbeit erfordert von den Fachkräften ein ständiges Bemühen um Auseinandersetzung über „unhinterfragte Sicherheiten von Routinen“ (Thiersch 2011, S. 167) oder auch die Zumutung, über dysfunktionale bzw. schädigende Bewältigungsstrategien von Adressat*innen ins Gespräch zu kommen. Dieses dialogische Verhandeln beruht u. a. auf der Vermittlung von Verlässlichkeit, Offenheit und Verbindlichkeit sowie der Anerkennung der persönlichen Lebensführungen und subjektiven Sinngebungen. Informelle Bildung verläuft also nicht in reiner „Selbstbildung“ des Gegenübers wie Alexander Brunner zeigt (2020, in diesem Buch), sondern eben in Auseinandersetzung mit der qualifizierten Fachkraft, die zu einer Perspektivenerweiterung beiträgt und alternatives Wissen anbietet, um „Routinen, Normen und Typisierungen der jeweiligen Lebenswelten“ (Brunner in diesem Band) überschreiten zu können. Die Alltagsherausforderungen ihrer Adressat*innen reflektierend kann ein Bildungsauftrag von Aufsuchender Sozialer Arbeit zudem lauten herauszufinden, welche Fragen der Lebensbewältigung und Lebensgestaltung für ihre Adressat*innen gerade anstehen und welche (unter Umständen begrenzten) Impulse dafür gegeben werden können, dass Ressourcen zur Problemverarbeitung bzw. Auseinandersetzung gestärkt werden. Der Verweis auf Bildungsprozesse verlangt aber notwendigerweise Möglichkeiten einer kontinuierlich und längerfristig angelegten Arbeitsbeziehung in aufsuchenden und niederschwelligen Kontexten.
4.5 Aufsuchende Soziale Arbeit als staatliche Regulierungspraxis Soziale Arbeit verstehen wir als eine personenbezogene und meist staatlich strukturierte Praxis. In ihren sozialstaatlichen Funktionen wird sie in ihren Handlungsfeldern mit Aufgaben beauftragt, die individuelle Krisen stabilisieren und soziale Risiken absichern sollen. Aufsuchende Soziale Arbeit ist im Sozialstaat an besonderen Schnittstellen positioniert, nämlich meist dort, wo die
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institutionalisierten Angebote aufhören, dort wo Menschen die Angebote aus unterschiedlichsten Gründen nicht annehmen, oder eben auch dort, wo Menschen bereits von zahlreichen Ausschlüssen des Sozialstaats betroffen sind. Als staatliche Praxis kann Aufsuchende Soziale Arbeit aber nicht auf ihre sozialstaatlich unterstützenden Funktionen für marginalisierte oder problematisierte Personen und Gruppen reduziert werden, sondern muss immer auch in ihrer konstitutiven ordnungspolitischen Bedeutung mitgedacht werden. Denn im Rahmen ihrer aufspürenden Interventionsweise identifiziert sie selbst soziale Situationen als problematisch, greift in Beziehungen ein, symbolisiert über ihre Interventionen abweichende Differenz, repräsentiert staatliche Präsenz und vermittelt die Konditionen, unter denen sozialstaatliche Hilfen in Anspruch genommen werden können. Als staatliche Praxis im (Neo-)Liberalismus muss sich Soziale Arbeit immer im politisch-strategischen Feld der Sicherheitsproduktion legitimieren. Aufsuchende Soziale Arbeit ist dabei mit einer doppelten Transformation ihres Einsatzgebietes, des öffentlichen Raums, konfrontiert. Zum einen verschiebt sich das gesellschaftlich-hegemoniale Sicherheitsverständnis von sozialer Sicherheit (Schutz vor sozialen Risiken) zu einem stärker personalen Sicherheitsverständnis (Schutz der Vielen vor den Anderen), in dem sich ein strategisches Feld der inneren Sicherheit, angeheizt durch das gouvernementale Wechselspiel zwischen Regierenden und Bevölkerungsgruppe, etablieren konnte. Zum anderen zielt Sicherheits- und Ordnungspolitik mit der Angst vor Kriminalität (Hope und Sparks 2000, S. 4) auf Alltagsnähe des städtischen Lebens, deren diskursive Projektionsfläche und materialisiertes Interventionsgebiet, lokalisierbare und erfahrbare Orte bzw. öffentliche Räume sind. (Diebäcker 2013, S. 195 ff.). Im Namen subjektiver Sicherheitsgefühle angeblicher Mehrheiten wird die öffentlich-diskursive Problematisierung von Adressat*innen Sozialer Arbeit als gefährliche, fremde Andere vertieft. Im regulativen Zusammenspiel von juridischen Normen, baulichem Design, technischen Maßnahmen sowie personenbezogenen Interventionen (vgl. Diebäcker 2014, S. 231 ff.; Wehrheim 2012, S. 108–126) wird der Zugriff auf problematisierte Personengruppen intensiviert und sozialexkludierende Ordnungen häufiger durchgesetzt. Stärker verwaltende und normierende Aufträge werden an Angebote Aufsuchender Sozialer Arbeit herangetragen und zumindest auf diskursiver Ebene wird Soziale Arbeit oft als ‚sanfte und führende‘ Ordnungskraft positioniert. Das hat auch zur Folge, dass rehabilitative und sozial inkludierende Angebote heutzutage politisch schwerer zu argumentieren sind (Diebäcker 2013, S. 200 f.).
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5 Aufsuchende Soziale Arbeit als kritisch-reflexive Praxis Eine aufsuchende Praxis, die in öffentlichen Räumen auf benachteiligende Lebenssituationen, prekarisierte Lebensführungen oder institutionelle Ausgrenzungserfahrungen von Adressat*innen und problematisierten Nutzer*innen trifft, ist permanent gefordert, sich der Komplexität des Situativen und der weitgehenden Unkontrollierbarkeit der Settings zu stellen. Für das Bearbeiten der häufig unvorhersehbar auftauchenden und breit gefächerten Fallsituationen ist das Ineinandergreifen von kritischer Analyse, von fachlich-normativer Positionierung sowie einer daran ausgerichteten prozesshaften und methodenkompetenten Führung der Situation wesentlich. Mit einer grundsätzlich komplexitäts-fassenden und fallöffnenden Haltung halten wir das Ausrichten an den subjektiven Sichtweisen der Adressat*innen für den Ausgangspunkt, um ihre Motive und Anliegen, ihrer biographischen und lebensweltlichen Bezüge überhaupt verstehen und für das dialogische Entdecken von Bedarfen und Zielen nutzen zu können. Dieser Interaktionsprozess ist in einer kritischen Perspektive von Wissensbeständen gerahmt, mit denen räumliche, gesellschaftliche und intersektionale Ungleichheitsperspektiven differenziert und als ‚fallstrukturierend‘ erkannt werden können. Aufsuchende Soziale Arbeit, die in normativer Hinsicht die Strukturierungskraft sozial ungleicher Machtbeziehungen ausgleichen und gesellschaftliche Ausgrenzungserfahrungen unterstützend im Sinne der Adressat*innen bearbeiten möchte, ist kontinuierlich herausgefordert, ihr eigenes Tun selbstkritisch zu befragen, sich gesellschaftskritische Positionen zu erarbeiten und so ihre emanzipativen Handlungsmöglichkeiten weiterzuentwickeln. Auch wenn gesellschaftliche Widersprüche, Diskrepanzen zwischen institutionellen und fachlichen Aufträgen oder Ambivalenzen im komplexen Berufsalltag nicht aufhebbar sind, können gleichheitsorientierte, antidiskriminierende und machtkritische Haltungen entwickelt und Interventionen der eigenen Praxis daran kritisch-reflexiv ausgerichtet werden. Eine kritische Perspektive kann ihr eigenes Eingebundensein in Macht- und Herrschaftsverhältnisse nicht abspalten, die immanenten Widersprüche der herrschenden Ordnung können aber sichtbar gemacht werden (Boltanski und Honneth 2009, S. 114), z. B. indem alltägliches berufliches Erleben zur empirischen Analyse genutzt und im Ineinandergreifen mit einer normativ-begründeten Haltung der Kritik vermittelt wird. (Diebäcker und Hofer 2020, S. 136 f.) Im Sinne einer politischen Praxis bedeutet dies auch, Adressat*innen im Sinne der Selbstorganisation zu stärken, sich selbst
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als politische Subjekte zu repräsentieren, und zugleich (im Wissen um Herausforderungen der Stellvertretung) sozialpolitische Versorgungslücken, repressive Verdrängungsmaßnahmen, institutionelle Diskriminierungen oder Politiken sozialer Ausschließung zu thematisieren. Erst über eine kritisch-analytische Haltung, die die strategische Einbindung Aufsuchender Sozialer Arbeit in ein staatliches Gesamtensemble und im gewandelten Sicherheitsdispositiv in den Blick bekommt, können die eigenen Interventionsweisen und die Verwertungskontexte ihrer Wissensbestände kritisch reflektiert sowie alternative Gegenpositionen entwickelt werden.
Literatur Ausobsky, H. 1997. Streetwork in der Drogenszene. In Streetwork und Mobile Jugendarbeit in Europa. Europäische Streetwork-Explorationsstudie, Hrsg. A. Klose und W. Steffan, 161–176. Münster: Votum. BAG Streetwork/Mobile Jugendarbeit e. V. 2008. Fachliche Standards. In Bei Ausgrenzung Streetwork. Handlungsmöglichkeiten und Wirkungen, Hrsg. S. Gillich, 229–236. Gelnhausen: Triga. Bareis, E. 2007. Verkaufsschlager. Urbane Shoppingmalls. Orte des Alltags zwischen Nutzung und Kontrolle. Münster: Westfälisches Dampfboot. Becker, H., und M. May. 1991. „Die lungern eh‘ nur da ‘rum“. Raumbezogene Interessenorientierung von unterschichtjugendlichen und ihre Realisierung in öffentlichen Räumen. In Die gefährliche Straße. Jugendkonflikte und Stadtteilarbeit, Hrsg. W. Specht, 35–63. BieIefeld: KT-Verlag. Becker, G., und T. Simon, Hrsg. 1995. Handbuch Aufsuchende Jugend- und Sozialarbeit. Weinheim: Juventa. Böllert, K. 2011. Prävention und Intervention. In Handbuch Soziale Arbeit. Grundlagen der Sozialarbeit und Sozialpädagogik, Hrsg. A.-U. Otto und H. Thiersch, 1125–1130. München: Ernst Reinhard Verlag. Bodenmüller, M., und G. Piepel. 2003. Streetwork und Überlebenshilfen. Entwicklungsprozesse von Jugendlichen aus Straßenszenen. Weinheim: Beltz. Boltanski, L., und A. Honneth. 2009. Soziologie der Kritik oder kritische Theorie? Ein Gespräch mit Robin Celikates. In Was ist Kritik?, Hrsg. R. Jaeggi und T. Wesche, 81–114. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bourdieu, P. 1997. Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz: UVK. Brunner, A. 2020. Erziehung und Hilfe: Bildungsarbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen in aufsuchenden Feldern? In Streetwork und Aufsuchende Soziale Arbeit im Öffentlichen Raum, Hrsg. M. Diebäcker und G. Wild, 245–258. Wiesbaden: Springer VS. Diebäcker, M. 2013. Staat und Sicherheit. In Aktuelle Leitbegriffe Sozialer Arbeit. Ein kritisches Handbuch, Bd. 2, Hrsg. J. Bakic, M. Diebäcker, und E. Hammer, 191–206. Wien: Löcker.
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Marc Diebäcker (Wien), studierte Politikwissenschaft, Geschichte sowie Soziale Arbeit und Erziehung in Duisburg, Edinburgh und Wien. Lehrt und forscht an der FH Campus Wien. Schwerpunkte: Staats- und Gesellschaftskritik, Sozialraum und Soziale Arbeit, Wohnen und Wohnungslosenhilfe, Aufsuchende Soziale Arbeit, Gemeinwesenarbeit. Gabriele Wild (Wien), studierte Sozialarbeit und Bildungswissenschaften in Wien, arbeitete als Streetworkerin in gewaltbereiten Szenen und mit Sexarbeiter*innen. Pädagogische Leitung bei JUVIVO, Lektorin am Studiengang Soziale Arbeit an der FH Campus Wien, in der Weiterbildung von psychosozial Tätigen und als Supervisorin tätig. Schwerpunkte u. a.: Aufsuchende Jugend- und Sozialarbeit, Suchtprävention, Gender.
Gesellschaftliche Rahmungen
Städtewachstum und Gentrifizierung: Die Verräumlichung sozialer Ungleichheit und die Transformation öffentlicher Räume Marc Diebäcker 1 Rückblickend: die wachsende Stadt als gesellschaftliche und urbane Transformation Seit Ende des 19. Jahrhunderts interessieren sich die langsam an Bedeutung gewinnenden Sozialwissenschaften für die Großstadt. Es ist vor allem die wachsende Stadt zu Zeiten der Industrialisierung, die zum Gegenstand von Geographie, Soziologie, Staatswissenschaften oder Sozialer Arbeit aufsteigt, um eine Vielzahl an sozialen und gesellschaftliche Phänomenen analytisch zu durchdringen und politische Maßnahmen zu entwickeln: Zuwanderung und Bevölkerungswachstum, technologische Innovationen und Mobilität, Massenproduktion und Massenarbeitslosigkeit, prekäres Wohnen und das Leben in Armut – Wissen, das auch für die Stabilisierung von sozialer Ordnung und politischer Herrschaft genutzt wird. Mit der großangelegten Armutsstudie von Charles Booth (1886 bis 1903) Life and Labour of the People1 und der umfassenden Kartierung von sozialer
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Studie fand in enger Kooperation mit der Toynbee Hall, einem Nachbarschaftszentrum im Londoner Eastend und Teil der Settlementbewegung, statt. Viele Aktivistinnen arbeiteten bei der Erhebung und Auswertung der Studien mit, z. B. Clara Collet, Frauenaktivistin und Sozialreformerin, oder Beatrice Potter, Sozialforscherin und Mitbegründerin der London School of Economics and Political Science. Siehe https://booth.lse.ac.uk/.
M. Diebäcker (*) Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Diebäcker und G. Wild (Hrsg.), Streetwork und Aufsuchende Soziale Arbeit im öffentlichen Raum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28183-0_2
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(auch residenzieller) Segregation in London, wurde erstmals wissenschaftlich beschrieben wie soziale Ungleichheit sich in einer dynamisch transformierenden Großstadt verräumlicht. Denn wenn Besitz, Einkommen, Bildung, Ansehen oder Macht gesellschaftlich ungleich verteilt sind, dann sind damit erhebliche Vor- und Nachteile für die Lebensführung der (häufig zugewanderten) Bewohner*innen verbunden. Diese drücken sich dann an ihrem jeweiligen Wohnort in der Stadt aus: während sich reiche oder höher gestellte Gruppen, etablierte oder angesehene Personen Ort und Qualität ihrer Wohnung leichter und freier wählen können, werden andere aufgrund der strukturierenden Kraft eines selektiven Wohnungsmarktes in seine unteren Segmente verwiesen sowie in prekäre, ungesicherte Wohnverhältnisse oder in die Obdachlosigkeit gezwungen. Die quantitative Visualisierung von sozialer Segregation in einer Stadt muss also prioritär als Spiegelbild sozialer Ungleichheit gelesen werden, denn es sind die individuelle Verfügbarkeit von Kapital und die soziale Position, die über Wohnort und Wohnqualität entscheiden. Seit Ende des 20. Jahrhunderts wächst die Bevölkerung vieler Großstädte in liberal-kapitalistischen Ländern Europas und Nordamerikas rapide, wenngleich Urbanisierungsausmaß und -geschwindigkeit in Megacities und Großstädten Asiens, Afrikas oder Süd- und Mittelamerikas ungleich höher sind. Neben dem demographischen Anstieg ist in den europäischen Städten ein tief greifender politökonomischer Wandel auszumachen. Im Übergang von der fordistischen, sozialmarktwirtschaftlich geprägten Stadt der Industrialisierung hin zur postindustriellen Großstadt einer neoliberalen Transformation beschleunigten sich Wachstumsdynamiken und intensivierten sich Prozesse sozialer Polarisierung und Peripherisierung. In dieser komplexen Dynamik verändert sich der gebaute Raum der Stadt. Neue Büro- und Wohngebäude füllen Baulücken und Brachflächen, Der Mangel an leistbarem Wohnraum trifft breite Bevölkerungsschichten, die (häufig erzwungene) Fluktuation urbaner Bevölkerungsgruppen steigt. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen urbanen Transformation des großstädtischen Lebens verändern sich öffentliche Räume, die sich immer relational zum Privaten (z. B. in Bezug auf Geschlecht, Arbeit und Eigentum) konstituieren. Öffentliche Räume sind dann jene physisch-geographischen Räume, die hinsichtlich eines hohen Maßes an offener Zugänglichkeit charakterisiert werden können (Madanipour 2014, S. 194), meist sind sie auch in öffentlichem Besitz und werden staatlich reguliert. Öffentliche Plätze, Parks, Straßen oder Gehsteige, die in ihrer verschränkten Funktionalität häufig auch nach Handel und Konsum, Freizeit, Mobilität oder Politik differenziert werden, sind in ihrer Typologie und Aneignung divers. Als gesellschaftlicher Spiegel sind sie umkämpfte Flächen,
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auf denen unterschiedliche Nutzungen aufeinanderprallen, differente Lebensstile konkurrenzieren, Dominanzverhältnisse sichtbar werden und Hegemonie und Macht symbolisch repräsentiert werden. Auf der Straße „als Metapher für Urbanität und Öffentlichkeit“ (Wild 2013, S. 225) bewegt sich Aufsuchende Soziale Arbeit und interveniert an Orten, an denen sich Menschen aufhalten und bewegen, an denen soziale Interaktionen stattfinden und sich Dominanz und gesellschaftliche Ausschließung zeigen. Die Bedingungen sozialstaatlicher Unterstützung, die Festlegung territorialer Einsatzgebiete, die strategische Positionierung als Interventionskraft folgen ebenso wie die Lebenswelten und -führungen von Adressat*innengruppen einer ungleichen und polarisierten Urbanität in der wachsenden Stadt. In diesem Beitrag argumentiere ich im Weiteren überwiegend aus einer materialistischen bzw. politökonomischen Perspektive, um strukturierende Entwicklungspfade in wachsenden Städten zu betonen und als Rahmungen einer aufsuchenden Praxis zu skizzieren.
2 Strukturierend: Global Cities, unternehmerische Städte und die Kommerzialisierung und Privatisierung öffentlicher Räume Vor dem Hintergrund einer globalisierenden Wirtschaft und investitionsfreundlicher Politiken gewinnt die wachsende Großstadt weiter an Gewicht. Mit der Verlagerung industrieller Produktion in den Süden und einem boomenden Finanzkapitalismus werden diese Metropolen zu einem strategischen Ort, an dem transnational agierende Unternehmen über Informationstechnologien ihre Produktions- und Vermarktungsprozesse steuern sowie ihre Dienstleistungen aufeinander abstimmen können. Die Global-City These (Friedmann 1986; Sassen 2001) argumentiert diesbezüglich, dass qualifizierte Arbeitskräfte in Schlüsselbranchen wie Banken- und Rechnungswesen, Marketing, Recht, Immobilien- und Versicherungswirtschaft oder Informationstechnologien von zentraler Bedeutung sind, um Wissen zu bündeln und ökonomische Risiken zu reduzieren. Großstädte werden so zu zentralen Schaltstellen einer globalen Ökonomie und unter den Bedingungen von Konkurrenz und Wettbewerb formieren sich hierarchische, transnationale Städtenetzwerke, die entlang von Marktliberalisierungen und zersplitterten Produktionsketten über spezialisierte Dienstleistungen und Investitionsinteressen miteinander verbunden sind. Saskia Sassen betont, dass dieser ökonomisch und räumlich-strategische Bedeutungszuwachs einer ‚Global City‘ nicht mit Umverteilung von Profiten einhergeht, sondern auch
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mangels politischer Steuerung mit zunehmender Informalisierung von Arbeit sowie sozialer und räumlicher Polarisierung gekennzeichnet ist. (Sassen 2005, S. 28–30). In dieser Situation konkurrieren Städte um eine gute Standortposition, um Firmenzentralen und global agierende Unternehmen anzuziehen. Sie positionieren sich als branchenspezifische Wissens- und Innovationsdrehscheibe, als High-Tech-Cluster oder überregionales Zentrum für Absatz und Konsum. Als zentrales Leitbild einer angebotsorientierten Politik fungiert die Figur der „unternehmerischen Stadt“ (Hall und Hubbard 1998), in der nicht nur spezifische Standortfaktoren wie steuerpolitische Vorteile, günstige Gewerbeflächen, städtische Infrastruktur oder staatliche Fördermittel bereit gestellt werden, sondern auch ‚weiche‘ Standortfaktoren wie die Qualität des Bildungsund Gesundheitssektors, urbane Sicherheit, lokale Historie und Kultur oder die inszenierte Festivalisierung des öffentlichen Raums propagiert werden.2 Leitende Beschäftigte von internationalen Konzernen sollen ebenso wie touristische bzw. konsum- und erlebnisorientierte Gruppen über nationale Grenzen hinaus angezogen werden. Nach dem Motto ‚eine attraktive Stadt ist auch ein guter Wirtschaftsstandort‘ wird eine Umwegrentabilität vorausgesetzt, die kommunalen PR- und Marketingabteilungen im Zusammenspiel mit ‚innovativ-kreativen‘ Akteur*innen freie Hand für eine vielfältige Eventisierung von Urbanität lässt. Diese diskursive und reale Inszenierung von öffentlichen Räumen findet dabei nicht grundsätzlich ohne lokale Bevölkerung (Zukin 2010, S. 221) statt oder geht einfach ‚geheim‘ an ihr vorbei. Konsumwünsche und die Teilhabe an Kommerzialisierung durchziehen grundsätzlich alle Bevölkerungsgruppen, aber insbesondere höhere oder mittlere Klassenmilieus können dies viel stärker für sich in Anspruch nehmen und treffen habituell auf ihnen bekannte und präferierte Nutzungsweisen. In wettbewerbsorientierten Großstädten ist also das Abstimmen von urbanen Politiken auf unternehmerischen Investitionsstrategien von wesentlicher Bedeutung. Das Streben nach urbanem Wachstum gilt als alternativlos, steht es doch in direkter Beziehung zur urbanen Schrumpfung, die mit Rezession, Deindustrialisierung oder Abwanderung verknüpft ist. (Diebäcker 2014, S. 53) Diese politische Logik zwischen Wachstum und Schrumpfung bestimmt auch
2Die
Festivalisierung der Großstadt über Konzerte, Kunsthandwerk, Sportevents, Weihnachtsmärkte etc. findet an zentralen Plätzen und Freiräumen statt, dort wo sich das Publikum versammelt und die Symbolkraft einer besonderen Urbanität weit über Stadtgrenzen hinaus strahlen kann.
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das hierarchische Verhältnis zwischen Großstadt und regionalem Umland, ebenso wie die räumlichen Beziehungen zwischen Quartieren innerhalb der Stadt selbst: Die wachsenden urbanen Zentren bestimmen die Entwicklung in den peripheren Lagen und das hegemoniale Aufwertungsparadigma bestimmt den Diskurs um eine ‚nachholende‘ Entwicklung von Außenbezirken, die mit Problematisierungen und Abwertungen von Stadtteilen und der dort wohnhaften sozialen Milieus gespickt sind. Mit Blick auf den Immobiliensektor und die Finanzkrise des Jahres 2008 hat sich die politökonomische Transformation der Großstadt nochmals beschleunigt. Angesichts Niedrigzinspolitik, Liberalisierungen und hoher Renditeerwartungen im Immobiliensektor – Stichwort ‚Betongold‘ – sind Kapitalzuflüsse in Großstädte enorm angestiegen. Während Mittelschichtsgruppen nun stärker in peripherere Gebiete ausweichen, bedeutet dies für Bewohner*innen von historischen Arbeiter*innenbezirken oder urbanen Aufnahmequartieren einen neuen Verdrängungsdruck und schwerwiegende sozioökonomische Folgen wie Qualitätsverlusten im Wohnen, Brüche sozialer Beziehungen und hohe Mobilitätskosten. (Diebäcker et al. 2018). Die Transformation von urbanen und öffentlichen Räumen in zentralen oder bedeutenden Lagen in der Stadt ist gekennzeichnet durch Privatisierung, Kommerzialisierung und Konsumorientierung. Privatisierte Flughäfen und Bahnhöfe als ‚Tore der Stadt‘ werden zu Kaufhäusern für mobile Gruppen, zahlreiche Shoppingmalls kanalisieren die unterschiedlich starke Kaufkraft urbaner Milieus. Einkaufsstraßen, Gastromeilen und Riverfronts bedienen Konsumverhalten kauffreudiger oder touristischer Gruppen, fungieren als Flanier- und Begegnungszone und bilden das „Rückgrat der neuen städtischen Erfahrung“ (Madanipour 2014, S. 72). Das Wachstum an genehmigten Gastgärten oder die permanente Inszenierung von Kunst und Kultur an bedeutenden Plätzen, symbolisiert die zunehmende Privatisierung öffentlicher Räume vielleicht am markantesten. Der öffentliche Raum in zentralen Lagen, konzipiert als Projektionsfläche für eine wachsende globale Stadt, transformiert sich zu einer Erlebniszone, in der sich prioritär ökonomische Profit- und Mehrwertorientierung ausdrückt. Andere Bevölkerungsgruppen mit differenten Geschmäckern und niedrigerer Kaufkraft werden nicht adressiert und stillschweigend verdrängt. Unerwünschte Gruppen, meist Menschen in prekären Lebenssituationen, die aufgrund sichtbarer Armut den erwünschten Verhaltens- und Konsumnormen nicht entsprechen, werden über Sicherheits- und Ordnungspolitiken sanktioniert und kriminalisiert, um sie unsichtbar zu machen. Das Recht auf zentralen öffentlichen Raum in der wachsenden Stadt gilt demnach nicht für alle, wie Judith Knabe (2020, in diesem Buch) am Beispiel des Kölner Hauptbahnhofs nachzeichnet.
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3 Ausgrenzend: Gentrifizierung, Öffentliche Räume und die Verdrängung unerwünschter Gruppen im Namen der Sicherheit Die Debatte um Gentrifizierung in Großstädten bildet seit Ende der 1970er Jahre einen Kristallisationspunkt, wenn der Zusammenhang zwischen der Aufwertung von Quartieren, der Zuzug von status- und einkommenshöheren Gruppen und die Verdrängung dort wohnhafter Gruppen mit niedrigeren Einkommen und geringerem Status thematisiert wird. Dabei offenbart der Blick auf einschlägige Fachliteratur, dass die Bedeutung von öffentlichen Räumen für Aufwertungs- und Verdrängungsprozesse eine Leerstelle bildet (Diebäcker 2019a, S. 141). Ursachen von Gentrifizierungsprozessen werden im kritischen Fachdiskurs meist aus politökonomischer Perspektive erklärt und es wird zwischen angebotsorientierten Ansätzen, die Kapitel und Eigentum von Besitzenden in den Vordergrund stellen, oder nachfrageorientierten Ansätzen, die den Blick auf die Zuziehenden legen, unterschieden. Angebotsorientierte Erklärungsansätze der Gentrifizierung stellen Profitlogiken und Mehrwertgenerierung von Besitzenden in den Vordergrund. Makroökonomische Ansätze betonen dabei das Zusammenspiel von Investitions- und Spekulationsdynamik und Kapitalzufluss einerseits und urbanen Standortpolitiken andererseits. Eine Immobilie, hier verstanden als ‚handelbare Ware‘, die an einem Ort fixiert ist, ist daher in ihrer Vermarktung und Wertrealisierung an das lokale Umfeld, an öffentliche Räume und dort wohnende, arbeitende und sich aufhaltende soziale Gruppen gebunden. Mikroökonomische Ansätze wie die Rent-Gap-Theorie (Smith 1979) erklären uns genauer, wohin das ‚einströmende‘ Kapital fließt und welche Gebiete (meist zentrale Lagen mit niedrigen Bodenpreisen) für private Investments und Renditeerwartungen besonders lukrativ sind. Hohe Mieten und Kaufpreise sind also vorrangig von der ‚besonderen‘ Lage und dem oft diskursiv geprägten Image des Quartiers und weniger von „Ausstattungsunterschieden oder unterschiedlichen Herstellungskosten“ (Holm 2013, S. 143) abhängig. Öffentliche Räume fungieren als wesentlicher Faktor dazu, Gewinne von Immobilieninvestitionen zu maximieren und als diskursive Folie für die Imageproduktion, indem z. B. besondere Freiraumqualitäten, Freizeitaktivitäten, sichere Wegenetze oder nahe Verkehrsanbindungen für das Branding der Immobilie mitvermarktet werden. Öffentliche Räume werden so zu strategischen Orten, an denen sich ‚reibungsloser‘ und ‚schöner‘ Aufenthalt zeigen und eine ‚harmonisch-attraktive‘ Ordnung sichtbar werden sollen.
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Der Bedeutung von Hinzuziehenden im Aufwertungsprozess widmen sich nachfrageorientierte Erklärungsmodelle der Gentrifizierung, indem sie stärker auf die Marktdynamiken auf Quartiersebene eingehen, die von den Interessen der neuen Gruppen getragen werden. So wird z. B. hervorgehoben, dass ein offener, alternativer Lebensstil der zuziehenden sogenannten ‚Pionier*innen‘ mit Akzeptanz für die Lebensweise der wohnhaften Bevölkerung in der ersten Phase einhergehe (Clay 1979; Dangschat 1988). Diese stellen eine ambivalente Brückenfunktion zu weiteren status- und einkommenshöheren Gentrifier*innen dar, die nun in weiteren Aufwertungsphasen des Quartiers folgen und damit den Wandel von einer alternativen Attraktivierung zu einer mittelschichtsorientierten Quartiersentwicklung vollziehen.3 Dass früh zuziehende soziale Milieus sich ihrer Rolle und Funktion nicht entziehen können, beschreibt z. B. Sharon Zukin (2014[1989]) in Loft Living, worin sie zeigt, wie die Lebens- und Produktionsweise von Künstler*innen in Soho/New York unter Rekapitalisierungsbedingungen des Wohnungsmarktes eine zentrale symbolische Bedeutung für die spätere Aufwertungsdynamik hatte. Wenn in dieser Zuzugsdynamik Hinzuziehende eine Wohnung kaufen oder hochpreisige Wohnungen mieten, koppeln sie ihre privaten Ansprüche an die ihnen versprochenen Qualitäten des öffentlichen Raums und dies eben auch dann, wenn sie auf gegenläufige Gebrauchs- und Aneignungsmuster von bereits wohnhaften Gruppen treffen. (Diebäcker 2019a, b, S. 143). In der wachsenden Stadt verbindet sich das Investitionsstreben privater Immobilienfirmen mit dem kommunalen, ‚unternehmerischen‘ Regulierungswillen zu einer privat-staatlichen Entwicklungsallianz, in denen öffentliche Räume als wesentliche „Catalysts for Change“ (Knierbein et al. 2014, S. 37) fungieren und an denen sich die symbolische Attraktivität der Stadt kontinuierlich repräsentieren soll. Damit verliert der öffentliche Sektor zunehmend seine ihm historisch zugeschriebene Rolle zu Schaffung und Erhalt von öffentlichen Räumen und die Ausweitung der allgemeinen Zugänglichkeit. (Madanipour 2014, S. 194) Zugleich sind öffentliche Räume aus gouvernementalitätstheore tischer Perspektive im Neoliberalismus immer auch Kristallisationspunkte eines neoliberalen Sicherheitsdispositives, in dem Beziehungen von Normalität und Abweichung konstruiert, Mehrheits- und Minderheitsverhältnisse kalkuliert und
3Kritisch
ist festzuhalten, dass die Begriffe ‚Pionier*innen‘ und ‚Gentrifier*innen‘ des sogenannten „Invasions- und Sukzessionszyklus der Gentrifizierung“ bereits einer kolonial inspirierten Terminologie der Landnahme entspringt.
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diskursiv vermittelt sowie zu Lasten der als abweichend markierten anderen durchgesetzt werden. Wenn Bettel- und Alkoholverbote, Sperrgebiets- und Kontaktverbotsordnungen insbesondere in zentralen Lagen und attraktivierten Quartieren implementiert werden, verschränken sich ökonomische Aufwertungsstrategien mit politischen Legitimationsversuchen im Namen innerer Sicherheit nur allzu deutlich. Die ordnungspolitische Verdrängung und Kriminalisierung der problematisierten anderen wird dabei diskursiv vorbereitet, indem zuvor tolerierte Nutzungen häufiger oder intensiver problematisiert werden und den ‚erstrebenswerten‘ Nutzungspräferenzen und Geschmäckern von Ober- und Mittelklassemilieus gegenüber gestellt werden. Beispielhaft sei hier auf die sicherheitspolitische Auflösung und Verdrängung der offenen Drogenszene am Wiener Karlsplatz im Jahr 2010 verwiesen, bei der die über zehn Jahre forcierte Programmatik vom „Karlsplatz als Kunstplatz“ als wesentliche Legitimation diente (Diebäcker 2019a, S. 144 ff.). Bei der Attraktivierung von öffentlichen Orten sind es gesteigerten Normen des ‚Schönen‘, des ‚Normalen‘ des ‚moralisch Richtigen‘, die über die soziale Ausschließung entscheiden. Diejenigen, die mit ihrem Verhalten oder ihrer bloßen Anwesenheit den gesteigerten Erwartungsanforderungen nicht entsprechen, werden als Störung der anvisierten sozialen Ordnung identifiziert. Instrumentell durchgesetzt wird diese Ordnung dann im Zusammenspiel von juridischen Normen, baulichem Design, technischen Maßnahmen sowie personenbezogenen Interventionen (vgl. Diebäcker 2014. S. 231 ff.; Wehrheim 2012, S. 108–126), wobei auch Angebote Aufsuchender Soziale Arbeit im politisch-strategischen Feld der Sicherheit als ‚sanfte und führende‘ Ordnungskraft positioniert werden.
4 Beherrschend: Wohnen, Distinktion und Prozesse der Unterordnung in hierarchisierten Nachbarschaften Wohnen stellt im Lebensstil der „neuen Mittelklasse“ laut Andreas Reckwitz (2018, S. 314 f.) einen besonderen kulturellen Wert dar, der ‚attraktive‘ Wohnort ist dann Ausdruck des eigenen sozialen Prestiges und muss gegenüber anderen Quartieren konkurrenzorientiert behauptet werden. Aufgrund einer zugespitzten Lage am Wohnungsmarkt, zunehmenden finanziellen Belastungen und steigenden Abstiegsängsten in Mittelschichtmilieus ist der Wunsch, die eigenen lebensstilrelevanten Wohnpräferenzen sowie gebrauchs- und konsumorientierten Nutzungsmuster zu realisieren, nachvollziehbar, mit Offenheit und Akzeptanz gegenüber anderen, bereits ansässigen sozialen Milieus ist aber wohl nicht zu rechnen.
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Auch wenn in Erklärungsansätzen der Gentrifizierung entlang der Ungleichheitskategorie Klasse argumentiert wird, ist im Sinne einer intersektionalen Perspektive darauf hinzuweisen, dass Nachbarschaften grundsätzlich als asymmetrische Netze in einem Wohngebiet verstanden werden müssen, welche sich auch unabhängig von Klasse oder race hierarchisieren können. Nobert Elias und John L. Scotson (1993[1965]) beschrieben in ihrer Forschung zur anonymisierten Siedlung Winston Parva, in dem Bewohner*innen sich eben nicht aufgrund von Klasse oder race, sondern lediglich in Hinsicht auf lange Wohndauer im alten Dorf und kurze Wohndauer im neuem Siedlungsgebiet unterscheiden, dass dynamische Dichotomisierungs- und gruppenbezogene Schließungsprozesse zu beobachten waren. Das Befolgen eines „gemeinsamen Kanons“ steigerte z. B. das Zusammengehörigkeitsgefühl der Etablierten, die „Tabubrüche“ (ebd. S. 243) und Nichtanpassungsleistungen der Hinzuziehenden wurden von den Etablierten als moralische Verletzungen gedeutet und als Unterlegenheit oder Minderwertigkeit der anderen gewertet. In Verbindung mit höheren Ansehen und Machtpositionen konnten sich die Etablierten gegenüber den Neuzugezogenen als ranghöher durchsetzen und ihnen Außenseiter-Positionen zuweisen. (Elias und Scotson 1993[1965], S. 241–250). Urbane Nachbarschaften, gedacht als soziale Beziehungen eines territorialen Nahraums, sind (ohne stützende Kontakte zu negieren) meist diskursive Konstruktionen sozialer Nähe, die mit den realen Lebensführungen einer fragmentierten und heterogenen Stadtbevölkerung wenig zu tun hat, die ja vielmehr von der Trennung von Wohnen und Arbeit, räumlich zerstreuten, starken sozialen Beziehungen und hoher Mobilität geprägt ist, wenngleich altersspezifische Unterschiede beobachtet werden können. Gerade aufgrund des stärker subjektiv wahrgenommenen Andersseins in einer städtischen „Gesellschaft der Singularitäten“ (Reckwitz 2017) kann das Leben in Differenz, das Bewältigen des eigenen Alltags neben den anderen, am Wohnort Freiheit oder eben auch Verunsicherung bedeuten. Es sind die subjektiven Wahrnehmungen, problematisierenden Bewertungen und gruppenbezogene Kollektivierungsdynamiken von Differenzen, die über soziale Kontrolle und Machtbeziehungen soziale Ausschließungseffekte verstärken. Vor diesem Hintergrund ist zu beachten, dass Nachbarschaften als eher schwache soziale Beziehungen nicht verklärt, auf die weniger Mobilen reduziert oder auch als territorial abgegrenzt konzipiert werden. Während Elias und Scottson darauf hinweisen, dass in etablierten Außenseiter*innen-Konstellationen sich angestammte Bevölkerungsgruppen durchsetzen, ist für Gentrifizierungsprozesse eine umgekehrte Dynamik zu beobachten. Es sind die Neuzuziehenden mit ihrer höheren sozialen Position,
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die als gesellschaftlich etabliert gelten und sich gegenüber den angestammten Gruppen in lebensstilbezogenen Aneignungen und in der politische Einflussnahme behaupten und durchsetzen können. Den zu Außenseiter*innen gemachten, länger Ansässigen bleibt oft nur die Wahl zwischen Anpassung und Unterordnung oder Ausweichen und Rückzug. Letztere Option kommt aufgrund ihres ‚schleichenden Charakters‘ häufig erst auf den zweiten Blick als indirekte oder oftmals verdeckte Form der Verdrängung in den Blick, die von einer geringen Präsenz in öffentlichen Räumen bis zum Verlust der Identifizierung mit dem eigenen Wohnort reichen kann. Aufwertungsprozessen ist auch ein enger Zusammenhang zur sozialen Segregation eingeschrieben, sind es doch fast immer die Gebiete der ärmeren Bevölkerung, die schnell einmal als ‚segregiert‘ beschrieben werden. Die Deutung und Bewertung von Segregationstendenzen ist dann in hohem Maße mit homogenisierenden und diskreditierenden Zuschreibungen der aktuell wohnhaften Bevölkerung gekennzeichnet, die oft in einem territorial stigmatisierenden Unterschichtsdiskurs münden (siehe auch Bourdieu 1997, S. 166). Dabei übernimmt die politische Programmatik der ‚sozialen Durchmischung‘ eine Schlüsselfunktion, mit der das Wohnen in historischen Arbeiter*innen- und Aufnahmequartieren oder im sozialen Wohnbau als abweichend etikettiert wird.4 In der Rede von selbstverschuldeter Armut, entkoppelter Unterschichtskultur und delinquenten Lebensstilen in einem desintegrierenden Wohnumfeld vermitteln sich zahlreiche Chiffren eines unzutreffenden ‚Ghettodiskurses‘, der fälschlicherweise propagiert, dass der Zuzug von Menschen mit höheren Einkommen die Situation von materiell benachteiligten Milieus verbessere. Quartieren von Menschen mit niedrigen Einkommen und/oder Migrationserfahrung werden dabei negative, endogene Nachbarschaftseffekte zugeschrieben, womit potenzielle und etwaige Belastungen wie z. B. schlechte Bauqualität, infrastrukturelle Unterversorgung oder hohe Mobilitätsanforderungen in peripheren Lagen verdeckt, also soziale Ausschließung und institutionelle Diskriminierung verschleiert werden.5
4Aus
Perspektive der Wohnungslosenhilfe siehe auch Harner 2019. Konzept der ‚sozialen Durchmischung‘ fungiert als raumideologische Figur der Ausgrenzung, indem eine drohende ‚Abwärtsspirale‘ des Quartiers unterstellt wird, die mittels einer Heterogenisierung der Wohnbevölkerung und des Zuzugs statushöherer Gruppen beantwortet werden könnte. Über das Narrativ von abgehängten oder devianten Lebensführungen, von mangelnder Arbeits- und Bildungsmotivation oder von einer eingeschränkten ‚Wohnfähigkeit‘ werden benachteiligende Lebenssituationen über die Kopplung von Quartier bzw. Wohnanlage und Bewohner*innen lokalisiert und zu selbstverschuldeten Problemen seiner Bewohner*innen umgedeutet. In dieser Rede von
5Das
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Der Diskurs zu Wohnen und Nachbarschaften in der wachsenden Stadt ist, entgegen der Rede von einer modernen, liberalen, innovativen und kreativen Urbanität, meist von einem konservativen bzw. neo-kommunitaristischen Verständnis getragen, in dem Nachbarschaft als homogene und harmonische Gemeinschaftlichkeit gedacht wird. In der Realität wird dieses Bild von den diversifizierten Alltagspraktiken, identitätsgebundenen Repräsentationen oder interessengebundenen Konfliktmustern urbaner Bevölkerung permanent herausgefordert. Im Kampf um soziale Ordnungen in urbanen und öffentlichen Räumen zeigt sich dann schnell, ob Konformität im Zusammenspiel von sozialer Kontrolle und staatlicher Autorität im Sinne höherer Klassenmilieus durchgesetzt wird oder alltägliches Sein sich vielfältig repräsentieren darf und Konflikte als Ausdruck von Differenz gedeutet und somit erst verhandelt werden können.
5 Abschließend: Aufsuchende Soziale Arbeit in urbaner Transformation Wird Soziale Arbeit als eine raumrelationale, durchaus umkämpfte und staatliche Praxis verstanden, dann muss sie vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklungen – hier der wachsenden Stadt – reflektiert werden. Ungleiche räumliche Entwicklungen, die Polarisierung ungleicher Lebensbedingungen, Peripherisierung und stigmatisierende Raumpolitiken stellen veränderte Bedingungen für eine aufsuchende, personenbezogene Praxis dar (Diebäcker 2014). In wachsenden Städten ist Aufsuchende Soziale Arbeit in ihren territorialen Einsatzgebieten mit weitreichenden Transformationen von Arbeit, Wohnen, Konsum oder Freizeit konfrontiert. Aufwertungs- und Verdrängungsdynamiken und sicherheits- und ordnungspolitische Logiken strukturieren die Räume, in
endogenen Problemen werden gesellschaftliche Ursachen sozialer Ungleichheit verschleiert und de-thematisiert. Es ist die Bewertung der Segregationstendenzen als massiv und ihrer Folgewirkungen als desintegrierend für die betroffene Bevölkerung, über die der verstärkte Zuzug von leistungsorientierten und einkommenshöheren Gruppen sowie kontrollierende Interventionen legitimiert werden. Es sei hier darauf hingewiesen, dass der ‚Erfolg‘ von Durchmischungspolitiken wissenschaftlich kritisiert wird und der Nachweis, ob Dekonzentrationstendenzen die Lage ärmerer Bevölkerungsgruppen entscheidend verbessern können, nicht gelingt (vgl. z. B. Steinberg 2010, S. 215–220).
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denen Streetworker*innen und Stadtteilarbeiter*innen ihre Adressat*innen aufsuchen, unterstützen und begleiten wollen. Sei es an zentralen Plätzen und Bahnhöfen, auf der Straße und in Freiräumen, in Stadtplanungsprojekten oder in Besiedlungsprozessen: unterschiedliche soziale Gruppen treffen aufeinander, nehmen Differenzen im Verhalten oder in der Lebensführung wahr, die u. a. milieuspezifisch als ‚anders‘ gedeutet oder auch als moralisch minderwertig markiert werden. Öffentliche Räume sind ein strategisches Feld, das von alltäglichen Praktiken der Distinktion (Bourdieu 1987[1977], S. 284 ff., S. 382) und politisch-medial aufgeladenen Paradigmen der Aufwertung und Sicherheit gekennzeichnet ist. Was unter Nachbarschaft, Segregation, sozialer Durchmischung oder Sicherheit und Ordnung verstanden werden soll, wird anhand von Normalitätsvorstellungen von Ober- und Mittelklassenmilieus kalkuliert und politisch-medial vermittelt. Eine reflexive fachliche Haltung, die die Repräsentation diverser, insbesondere problematisierter Nutzer*innen und Bewohner*innen fördern will sowie die Strukturierungskraft sozial ungleicher Machtbeziehungen ausgleichen möchte, ist in den Situationen und Settings in öffentlichen Räumen permanent herausgefordert, sich gesellschaftskritische und emanzipative Handlungsmöglichkeiten zu erarbeiten. Denn das postindustrielle Wachstum und die neoliberale Transformation des Städtischen fordert eine andere, reibungslose und harmonische soziale Ordnung vor Ort, bei der die gesellschaftlichen Ursachen und sozialen Ausschließungseffekte eben nicht zur Diskussion stehen. Dabei ist die Mitarbeit Aufsuchender Sozialer Arbeit als gelindes Mittel, um gesellschaftlich lokalisierte Konfliktlagen im physischen Raum lösungsorientiert ‚vor Ort‘ oder über ‚Community‘ zu managen, politisch gewünscht und strategisch vorgereiht, und dennoch von staatlichem Zwang gerahmt. Die Verschränkung von Aufwertungslogiken und sicherheitspolitischen Kalkulationen verändert auch fachliche Konzepte Aufsuchender Sozialer Arbeit. Mit dem Entstehen neuer Tätigkeiten wie räumlich-territoriale Interventionsarbeit an zentralen, hochfrequentierten oder bedeutsamen Orten, Anrainer*innenund Beschwerdemanagement rund um soziale Einrichtungen oder Monitoring von problematisierten Orten und Gruppen (Stoik 2020, in diesem Buch) werden Streetworkangeboten neue Aufgaben im Sinne der Sicherheitsproduktion übertragen, die Einrichtungsträger*innen politische Anerkennung und zusätzliche Ressourcen sichert. (Diebäcker 2019b, S. 551 f.) Auf fachlich-praktischer Ebene deutet sich eine tendenzielle Verlagerung der Tätigkeiten von unterstützender, niederschwelliger Arbeit zu einer schlichtenden Konfliktarbeit an, die als neues und zentrales Tätigkeitsfeld Aufsuchender Sozialer Arbeit positioniert wird. Die neuen Tätigkeiten entgrenzen sich in Richtung Allzuständigkeit
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und kurzfristige Interventionen ersetzen nach und nach eine längerfristig ausgerichtete Beziehungsarbeit im Quartier.6 Eine Zielgruppenorientierung wird immer häufiger von räumlich-territorialer, allparteilicher Arbeit abgelöst. Sie nähert sich damit Konzepten intermediärer Stadtteilarbeit an, die wie Angebote des Besiedlungsmanagement oder der Begleitung ‚gemeinschaftlicher‘ Wohnprojekte, von einer ‚neutralen‘ Haltung und lediglich vermittelnden Rolle geprägt sind. Aktivierende Stadtteilarbeiter*innen, die sich partizipativ und prioritär um Unsicherheitsgefühle normalisierter Mittelschichten kümmern, oder Streetworker*innen, die sich den diskreditierenden Beschwerden von Anrainer*innen und Passant*innen über marginalisierte Personengruppen widmen, haben im Namen der Förderung ‚der Ambiguitätstoleranz‘ ihre kritisch-reflexive Orientierung längst verloren (siehe auch Reutlinger 2020 und Fischlmayr 2020, in diesem Buch). Fachliche Ansätze, die akzeptanz- und alltagsorientiertes, niederschwelliges und politisch-emanzipatives Arbeiten verfolgen, haben es in dieser Situation ungleich schwerer, staatliches Wohlwollen und öffentliche Finanzierung zu erhalten. Aufsuchende Soziale Arbeit konstituiert sich in hohem Maße im physisch-materiellen Raum unter Anwesenheit der Vielen und findet sich permanent in komplexe Situationen und unkontrollierten Settings wieder (siehe auch Haag 2020, in diesem Buch). Sie ist gefordert, Schlüsselsituationen in ihrer sozialräumlichen Verflechtung zu rekonstruieren und in ihrer strategisch-politischen Einbettung zu analysieren. Dadurch können gleichheitsorientierte und emanzipative, antidiskriminierende und machtkritische Haltungen verteidigt und die eigenen Interventionen so ausgerichtet werden, dass Lebenssituationen von Adressat*innen (und deren Unsicherheiten), von marginalisierten oder problematisierten Subjekten (und deren Ausschließungserfahrungen) im Mittelpunkt stehen. Das Recht auf Zentralität und öffentlichen Raum bedeutet im Sinne politischer Praxis dann auch strategisch zu handeln, durch Privatisierung, Kommerzialisierung, Aufwertung und Verdrängung bedrohte urbane Räume im Namen des offenen Zugangs und alltäglichen Gebrauchs zu verteidigen. Eine kritisch-politische Praxis Sozialer Arbeit ist in besonderem Maße auf strategisches Arbeiten angewiesen, will sie ihren Positionierungen Nachdruck verleihen und soziale Ungleichheiten sozialer Polarisierung in der wachsenden
6Bildungsprozesse,
solidarisches Verhalten und Veränderungshandeln in „Anerkennung von Differenz“ sind über kurzfristige, projektbezogene Initiativen nicht zu erreichen (Stövesand 2019, S. 573 f.; Klatt und Walter 2011, S. 205; siehe auch Brunner 2020 in diesem Band).
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Stadt bekämpfen. Um gegen die Privatisierung und Kommerzialisierung des öffentlichen Raums aufzutreten, um sicherheits- und ordnungspolitische Verdrängung zu thematisieren, um leistbares Wohnen in Differenz zu ermöglichen oder um die Repräsentationsdefizite abzubauen und Demokratisierung und Minderheitenschutz zu stärken (OGSA 2016), sind Bündnisse und Kooperationen im Sinne einer multiskalaren Praxis auf allen räumlichen Ebenen unumgänglich. Eine kritische Perspektive zeichnet sich aber u. a. auch dadurch aus, dass nicht nur die immanenten Widersprüche der herrschenden Ordnung sichtbar gemacht werden, womit die empirische Analyse und eine normativ-begründete Haltung der Kritik eng ineinandergreifen (Boltanski und Honneth 2009, S. 114), sondern auch im Sinne der Selbstanalyse und Selbstkritik auch die eigenen Haltungen und das eigene Tun zur Disposition stehen. (Diebäcker und Hofer 2020, S. 137).
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Marc Diebäcker (Wien), studierte Politikwissenschaft, Geschichte sowie Soziale Arbeit und Erziehung in Duisburg, Edinburgh und Wien. Lehrt und forscht an der FH Campus Wien. Schwerpunkte: Staats- und Gesellschaftskritik, Sozialraum und Soziale Arbeit, Wohnen und Wohnungslosenhilfe, Aufsuchende Soziale Arbeit, Gemeinwesenarbeit.
Sicherheiten und Sichtbarkeiten: Ordnungspolitiken in öffentlichen Räumen und die Verdrängung der problematisierten Anderen Christian Reutlinger 1 Aus den Fugen gefallen? Einpassen! – einleitende Überlegungen „Die Welt ist aus den Fugen [geraten]. Ihre äussere Ordnung ist zerbrochen, ihr innerer Zusammenhang verloren gegangen“ (Beck 2016, S. 11). Dies könnte ein Grund dafür sein, weshalb Sicherheits- und Ordnungspolitiken „zunehmend Aufträge und Aufgaben von sozialen Interventionen“ (Diebäcker 2013, S. 174) auch im Kontext Aufsuchender Sozialer Arbeit strukturieren und seit mehreren Jahren den fachlichen Streetwork-Diskurs dominieren (z. B. Gillich 2006). Denn auf öffentliche Ordnung und Sicherheit zielende städtische Politiken tendieren übergeordnet dazu, eine als verloren oder zumindest bedroht empfundene Ordnung der Welt aufrechtzuerhalten bzw. wiederherzustellen. Soziale Arbeit als „staatlich-räumliche Praxis“ (Diebäcker 2014, S. 112) wäre dieser Logik folgend mit beteiligt daran, dass sich die Welt, aber auch die daraus hervorgehenden gesellschaftlichen und räumlichen Zusammenhänge an konkreten Orten der Stadt entsprechend (wieder) „einfügen“, im Sinne von (genau) einpassen, in eine vorgegebene Ordnung fügen bzw. darin einsetzen. Soziale Arbeit folgt dabei einem Sichtbarkeitsprinzip, d. h. „skandalisierende Zuschreibung(en) bestimmter gesellschaftlicher Gruppen (Migrantinnen), Lebensalter (Jugend) oder benachteiligter städtischer Gebiete (Banlieues, soziale Brennpunkte, Ghettos)“ (Reutlinger 2009, S. 285) werden mit dem gleichgesetzt, was als das soziale
C. Reutlinger (*) Institut für Soziale Arbeit und Räume, IFSAR-FHS, St.Gallen, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Diebäcker und G. Wild (Hrsg.), Streetwork und Aufsuchende Soziale Arbeit im öffentlichen Raum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28183-0_3
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Problem bzw. unordentlich gilt, und sollen deshalb eingefügt werden. Sowohl im Bild der aus den Fugen geratenen Welt wie auch im Einpassen in bestimmte (räumliche) Ordnungen, liegen unterschiedliche Problematiken, die im Regelfall zu wenig reflektiert werden. Die Rolle als „Einfügerin“, die der Sozialen Arbeit im öffentlichen Raum vielfach zugedacht wird, ist natürlich erstmal attraktiv, da sie den vorherrschenden Normalitätsvorstellungen entspricht und dadurch gesellschaftliche Akzeptanz verspricht. Gleichzeitig ist auf die latent existierenden Gefahren hinzuwiesen, die im Bild einer ‚wohlverfugten‘ vergangenen oder anzustrebenden Welt liegen, und die in jedem kommunalen Kontext aufs Neue reflektiert werden müssen: Soziale Arbeit ist automatisch verstrickt in der „Multiskalarität und komplexen Verwobenheit“ (Diebäcker 2014, S. 4) des Städtischen, ja der Welt, d. h. in die jeweils gesellschaftlich bedingten, lokal ausgeprägten, bestehenden Machtverhältnisse, Raumordnungen und Grenzziehungen. Mit dieser Verwobenheitsvorstellung von Welt – Gesellschaft – Stadt und Raum handelt Aufsuchende Soziale Arbeit nicht einfach im öffentlichen Raum, bespielt nicht einfach die Orte bzw. Plätze, verstanden als geographisch markierte Stellen in der Stadt. Vielmehr werden diese Orte erst im Handeln von Subjekten „kollektiv mit Sinn aufgeladen“ (Löw 2018, S. 165). Dadurch werden der öffentliche Raum und die Stadt hergestellt, aber eben auch die Verhältnisse und Ordnungen (re)produziert (Kessl 2017). Streetworker*innen beeinflussen „über ihre Machtbeziehungen zu Adressat*innen nicht nur die Wahrnehmungen und Deutungen von Raum, sondern bewegen und fixieren die Anordnungen von und zwischen Subjekten und sozialen Gütern“ an Orten (Diebäcker 2014, S. 118). Folgt man nach diesem Verständnis der Vorstellung öffentlicher Ordnung im Sinne eines „geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebietes“ (Schümchen 2006, S. 207), welches der Durchsetzung und Aufrechterhaltung einer Gesamtheit unterschiedlicher Regeln“ (ebd.) bedarf, wird das „Einfügen“ im sozialräumlichen Sinne als „eine spezifische Form des Beeinflussens und Herstellens von räumlichen Ordnungen“ (Diebäcker 2014, S. 118) definierbar. Problematisch an der Rolle der Einfügerin herausgefallener oder von der vorherrschenden öffentlichen Ordnung abweichender Menschen ist jedoch der immer mittransportierte Orientierungspunkt einer ‚wohlverfugten vergangenen Zeit‘. Die kritische Reflexion der „jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen“ (Schümchen 2006, S. 207) ist deshalb zentral. Im allgemeinen gesellschaftlichen Sicherheitsdiskurs setzt sich ein Verständnis moderner Gesellschaften durch, bei dem diese als Sicherheitsräume arrangiert werden sollen, „d. h. als Territorien der Normalisierung, was eben heißt: als Räume der Risikokontrolle individueller wie kollektiver Verhaltensweisen“
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(Kessl 2017, S. 241). Personen, die durch das Aufbrechen von Ordnungen als soziales Problem wahrgenommen werden, und ihr Verhalten werden im öffentlichen Raum in Verbindung mit bestimmten Orten gebracht. Dadurch verschmelzen sie quasi mit dem Ort – in einer Art und Weise, die die Orte plötzlich selbst als abweichend und störend erscheinen lässt. Diese Verschmelzung kann dazu führen, dass Aufsuchende Soziale Arbeit „Ausgrenzung und Stigmatisierung von Personen“ (BAG Streetwork/Mobile Jugendarbeit 2003, S. 211) nicht verhindert, sondern zur (weiteren) Ausgrenzung beiträgt: „Im Extremfall führt dies zu der Verkehrung, dass die Bekämpfung eines sozialen Problems in repressive Strategien gegen diejenigen einmündet, die als Trägergruppe des jeweiligen Problems identifiziert werden“ (Scherr 2007, S. 69).
2 Ordnungs- und Sicherheitspolitiken im öffentlichen Raum – theoretisch-konzeptionelle Einordnung dominanter Vorstellungen und Begriffe 2016 gaben politische Vertreter*innen und leitende Personen aus der Verwaltung einer mittelgroßen Stadt in der Schweiz den Auftrag, eine Bevölkerungsbefragung zum subjektiven Sicherheitsempfinden (Frevel 2016, S. 11) durchzuführen.1 Gleichzeitig sollte die Einschätzung zu bereits laufenden Maßnahmen zur Herstellung und Aufrechterhaltung von Sicherheit im öffentlichen Raum erfasst werden. Die aus der Befragung hervorgegangenen Ergebnisse lassen sich mit denen aus anderen Untersuchungen vergleichen (z. B. Rolfes 2008); die Mehrheit (96 %) der befragten Personen fühlt sich tagsüber auf den Straßen und Plätzen der untersuchten Stadt sicher, bei Dunkelheit nur noch die Hälfte (51 %). Gemieden oder zumindest als unsicher wahrgenommen werden die Allee, der städtische Park, Unterführungen, sowie der Bahnhof (63 %). Als wichtiger regionaler Verkehrsknotenpunkt ist dieser ein Treffpunkt verschiedener Personen und Gruppen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen und Herkünften. Vor allem auffälligere soziale Gruppen, welche sich am Bahnhof aufhalten, werden
1Das
Forschungsprojekt wurde am Institut für Soziale Arbeit und Räume der FHS St. Gallen durch den Autor des Beitrags zusammen mit Caroline Haag durchgeführt. Da das Beispiel lediglich illustrativen Charakter hat, die konkrete Stadt und ihre Akteur*innen jedoch keine weitere Bedeutung haben, wird es anonymisiert dargestellt.
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als Faktor zur negativen Beurteilung des Platzes und ausschlaggebend für das „Unsicherheitsgefühl“ angeführt, während die Platzgestaltung oder seine Beleuchtung wenig zu dieser Einschätzung beitragen. Nur 24 % derjenigen, die sich unsicher fühlen, geben als Quelle dieser Einstufung eigene negative Erlebnisse an. Die anderen beziehen sich vor allem auf Gespräche mit Dritten (25 %) oder auf Medienberichte (24 %). Erstaunlich ist auch, dass viele der befragten Personen den öffentlichen Personennahverkehr gar nicht regelmäßig nutzen. Mit dieser empirischen Annäherung werden Zusammenhänge, aber auch Schwierigkeiten des Sicherheitsdiskurses sichtbar. Sicherheit ist kein objektiv feststehender Begriff, es gibt nicht „den einzigen und allgemein gültigen Sicherheitsbegriff“ (Frevel 2016, S. 6), sondern unterschiedliche Vorstellungen davon. Welche Vorstellung sich durchsetzt und den Diskurs bestimmt, ist immer auch abhängig von der politischen Machtkonstellation und dem, was eine Mehrheit als normal empfindet. Zentral ist deshalb sich immer die Frage zu stellen, wer genau mit welchem Interesse von Sicherheit spricht und was diese Person oder Personengruppe damit bezweckt. Im empirischen Beispiel lassen sich unterschiedliche Positionen – tonangebende und überhörte – bestimmen: Allen voran erscheint die Kommission, die den Auftrag zur Studie gab. Ausgangspunkt für die Untersuchung war kein konkretes Vorkommnis, wie eine Strafverletzung oder Klagen von Anwohner*innen über Lärm, Schmutz oder sie störende Gruppen. Vielmehr fühlten sich die Auftraggeber*innen gezwungen, angesichts der Allgegenwärtigkeit des Sicherheitsdiskurses in den Medien, aber auch in umliegenden Gemeinden und Städten, sich dem Thema anzunähern und sich in dem Feld zu positionieren – mit einem eigenen Sicherheitskonzept oder mit Kampagnen (vgl. Fritsche und Reutlinger 2012). Dieses Aufgreifen des Diskurses sichert ihr politisches Überleben, gleichzeitig soll es dazu beitragen, dass sich die Wähler*innen in der Stadt sicher fühlen – oder zumindest die Botschaft erhalten, dass die Politik was tut. Indem ein Sachverhalt als Sicherheitsproblem wahrgenommen oder zu einem solchen gemacht wird, wird eine „Versicherheitlichung“ (engl. Securitization (Klamt 2012, S. 796)) in Gang gesetzt, die „die Furcht und Angst von Großteilen der Bevölkerung“ erhöht und „so die Ansprüche an Staat und Politik, Ordnungen personaler Sicherheit herzustellen und zu garantieren“ (Diebäcker 2013, S. 175), verstärkt. Durch die Befragung erhält eine weitere tonangebende Position eine Stimme: die erwachsenen Bewohner*innen der Stadt. Für sie ist Sicherheit kein einheitliches Gefühl, sondern sie differenzieren dieses vor allem durch die eigenen Vorstellungen und Empfindungen, die aber – wie die Ergebnisse des empirischen Beispiels zeigen – selten auf tatsächlich gemachte Erfahrungen beruhen. Die empfundene Unsicherheit ist also nicht so leicht greifbar, sondern vielmehr auf
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einer Ebene nicht klar definierbarer Gefühlseindrücke anzusiedeln. Erklärbar wird dies mit zum Teil radikalen Umbruch- und Wandlungsprozessen, wie z. B. Globalisierungsdynamiken oder politischen Umbrüchen, die zu einem Aufbrechen der orientierungsgebenden sozialen Ordnung führen und – um das Eingangsbild wieder aufzunehmen – die Welt aus den Fugen heben. Das Reden über Kriminalität, Sicherheit und Ordnung scheint den Menschen erneute Orientierung zu geben, und unter den „Bedingungen von Pluralität, Heterogenität, Kontingenz und zersplitterten Partikularinteressen“ als diskursive Bezugsgrößen „Einheit, Gemeinsinn und Zusammenhalt herzustellen“ (Ziegler 2019, S. 670). Gleichzeitig geraten ganz bestimmte Orte im öffentlichen Raum in den Blick. Insbesondere da eine zunehmende Vielfalt und Heterogenität, aber auch eine gefühlte Unordnung und Unsicherheit als Ordnungsfragen umkodiert werden, und an bestimmten Orten gebündelt, lokalisiert und festgeschrieben, also sichtbar werden: „Recht häufig werden in Bürgerbefragungen Angstorte benannt, die z. B. durch Verwahrlosung und Zerstörung gekennzeichnet sind, die schlecht ausgeleuchtet und schwer einsehbar sind oder die den Anschein fehlender Sozialkontrolle und ausbleibender Hilfsmöglichkeit erwecken“ (Frevel 2012, S. 597). Im empirischen Beispiel wird vor allem der Bahnhof als solch ein Angstort beschrieben. Hier ist die Rede aber vor allem von ‚auffälligen sozialen Gruppen‘, die sich dort aufhalten und diesen Ort unsicher machen. Damit werden bestimmte Gruppen und deren Verhalten im öffentlichen Raum problematisiert resp. werden „Wertvorstellungen und Normerwartungen […] an einen konkreten territorialen Raum“ (Diebäcker 2019, S. 547) gestellt. Diese normativen Raumbilder stellen vielfach einen „wesentlichen Ausgangspunkt für soziale Konflikte dar, die oft in Normierungsansprüchen gegenüber den problematisierten Anderen münden“ (ebd.). Der wesentliche Kern von auf öffentliche Ordnung zielende Raumstrategien besteht darin, „strafrechtliche Verhaltensweisen, physical disorders bzw. incivilities, d. h. ‚unordentliches‘ oder allgemein ‚störendes‘ Verhalten zu kriminalisieren. Mit diesen werden die Gruppen, von denen dieses Verhalten scheinbar ausgeht oder denen es zugeschrieben wird, kriminalisiert und letztlich marginalisiert“ (Schmincke 2009, S. 78). Nicht zu Wort kommen im empirischen Beispiel diese ‚problematisierten Anderen‘, also die Nutzer*innen des Bahnhofs als Treff- und Aufenthaltsort in der Nacht, Menschen, die auf den öffentlichen Raum „als Wohnzimmer, Arbeitsplatz oder Treffpunkt“ (Reutlinger 2015, S. 49) angewiesen sind. Über ihre Einschätzung, wie sicher die Stadt (für sie) ist, kann nur spekuliert werden. Sie werden im Diskurs um öffentliche Ordnung und Sicherheit zwar sichtbar, ihre Position ist jedoch unsichtbar (vgl. Reutlinger 2003). Diese „Paradoxie der Sichtbarkeit“ beschreibt auch Nassehi: „Alles, was wir sehen, stößt uns auf das
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Paradox, daß wir es so sehen, weil wir es so sehen. Diese Paradoxie der Sichtbarkeit ist nicht mehr auszuhalten und muss deshalb unsichtbar gemacht werden“ (Nassehi 1999, S. 359). In dieser Gemengelage tritt nun die Soziale Arbeit als Ausführende, jedoch ohne Stimme, auf den Plan und ist angehalten, vermehrt auch ordnungspolitische Aufgaben durchzusetzen, Konflikte zu regeln – Sicherheit und Ordnung herzustellen. Soziale Arbeit agiert „an der Bearbeitung der Grenzen des Sichtbaren und somit an der Frage, was gesellschaftlich existent erscheinen kann und soll“ (Dirks et al. 2015, S. 57). Bestimmte Praktiken und bestimmte Akteur*innen werden sichtbar, andere unsichtbar gemacht – um dieses Ringen „um die Sichtbarkeit sozialer Praktiken“ (ebd.) dreht sich der Prozess zur „Herstellung einer Ordnung“ (ebd.) des öffentlichen Raums.
3 Sicherheit, Raum, Stadt und Gesellschaft – in der sozialarbeiterischen Praxis werden unterschiedliche Maßstabsebenen immer miteinander verflochten Räume können nicht kriminell sein, vielmehr werden Raumausschnitte oder Orte durch Menschen mit bestimmten negativen Bedeutungen aufgeladen bzw. reifiziert (vgl. Belina 1999). ‚Dunkle Gestalten‘, die sich am Bahnhofsplatz aufhalten (siehe empirisches Beispiel), erzeugen Unsicherheit und rücken damit „als speziell, problematisch und riskant bzw. gefährlich kodiert[e] […] problematisierte Andere“ (Diebäcker 2019, S. 249) in den Fokus von städtischer Ordnungs- und Sicherheitspolitik. Diese Aufladungszusammenhänge machen den Bahnhofsplatz erst zu einem gefährlichen Ort (Schmincke 2009). Obwohl es eigentlich einleuchtend ist, dass ein Angstraum erst durch die unterschiedlichen Positionen, Diskurse und Gruppen produziert wird (Belina 2000), setzt sich im Rahmen von Sicherheits- und Ordnungspolitiken die Ideologie durch, dass bestimmte Gebiete der Stadt per se „kriminalitätsverseucht“ (Belina 1999, S. 60) seien und deshalb durch eine „Intensivierung sozialer Kontrolle“ und Verdrängung bestimmter Personen öffentliche Sicherheit hergestellt werden müsse. Der physische Raum wird durch diese Raumvorstellung an den Anfang der Maßnahme gestellt. Eine enge oder bedrohlich wirkende Platzarchitektur scheint die Ursache einer festgestellten Strafrechtsverletzung zu sein. Die Anwesenheit von Müll, Graffitis, obdachlosen Menschen oder Jugendlichen, denen ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird, an einem Ort führe notwendigerweise zur Verunsicherung der Bevölkerung (kritisch Belina 2000). Zum „Gegenstand
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staatlicher Sicherheitspolitik“ (Belina 1999, S. 61) werden abstrakte Raumausschnitte und nicht mehr konkrete Taten oder konkrete Menschen: „Es geht nicht mehr nur darum, bestimmte Leute von bestimmten Orten zu verweisen, sondern darum, einen bestimmten Raumausschnitt freizuhalten von Leuten, die ein bestimmtes Äußeres haben“ (Belina 1999, S. 63). Aufsuchende Soziale Arbeit unterstützt eine solch „diskursive Wirkmächtigkeit hegemonialer Raumbilder und weitverbreiteter Raumvorstellungen“ (ebd.) oder nimmt die Verkürzungen gar nicht wahr, gerade weil sie sich nicht als „Raumproduzentin“ (Dirks et al. 2016b) bzw. als „staatlich-räumliche Praxis“ versteht. Bei der Orientierung an Orten, die als zu schmutzig, zu laut, zu voll, zu leer oder zu fremd definiert werden, wird jedoch nicht beachtet, dass „die räumlich beobachtbare Äusserungsform des Sozialen nicht der Grund oder gar die Ursache eines gesellschaftlichen Prozesses sein kann“ und sie deshalb „auch nicht zum zentralen Element einer sozialen Erklärung gemacht werden“ darf (Werlen 2005, S. 17). „Ebenso wenig kann der Äusserungsort einer sozialen Problemlage das soziale Problem selbst sein.“ (ebd.). Aktuelle raumsoziologische Ansätze verweisen darauf, dass „Handeln relational räumlich bestimmt“ (Löw 2018, S. 17) und „Raum als Anordnung“ (ebd.) gefasst wird, eine Anordnung, „die eben nicht nur sozial konstruiert ist, sondern auch wirkend Bedingung für Handeln ist“ und in der Konsequenz „nach dem Wie der städtischen Ordnung“ (ebd.) fragt. Nach einem solchen raumrelationalen Verständnis erlangen Orte und Räume im öffentlichen Raum für unterschiedliche Gruppen unterschiedliche Relevanzen. „Sie können unterschiedlich erfahren werden. Sie können Zugangschancen und Ausschlüsse steuern. Sie können zu Auseinandersetzungsfeldern im Kampf um Anerkennung werden. Somit werden über Raumkonstitutionen meist auch Macht- und Herrschaftsverhältnisse verhandelt“ (Löw 2018, S. 44 f.). Für Aufsuchende Soziale Arbeit bedeutet ein solches Raumverständnis erstens, dass die sozialen Zusammenhänge von sichtbaren Phänomenen immer miteinbezogen werden müssen und zweitens, dass im sozialarbeiterischen Tun immer unterschiedliche räumliche Maβstabsebenen existieren. Es kann keinen Raum geben, der frei wäre von der stetig steigenden Komplexität und dem Ringen um die Frage der Gestaltung, Durchsetzung und Veränderung sozialer und öffentlicher Ordnungen. Zwar ist Aufsuchende Soziale Arbeit als „staatliche Praxis“ auf „Ordnen, Regulieren und relative(s) Stabilisieren gesellschaftlicher Verhältnisse ausgerichtet“ (Diebäcker 2014, S. 96). Sie kann jedoch auch „über ein regulatives Spiel betreffend Norm und Abweichung sowie Mehrheiten und Minderheiten […] gesellschaftliche Ordnungen beeinflussen“ (ebd.). Um die „Konstitution des Sozialen in seiner räumlichen Dimension zu verstehen“
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Abb. 1 Professionelle Gestaltungszugänge zum öffentlichen Raum. (Quelle: Reutlinger/ Wigger 2010, S. 46)
(Löw 2018, S. 162) bietet sich die Raumtheorie an. Sie bietet die Chance, „die gegenwärtigen Raumanordnungen mit all den damit einhergehenden Macht- und Herrschaftsverhältnissen in und an Städten zu untersuchen, um Gesellschaft zu verstehen, aber auch um die spezifische Vergesellschaftungsform Stadt (unter Berücksichtigung städtischer Differenzen) in den Blick zu nehmen“ (ebd.). Eine relationale Raum-Perspektive betrachtet nicht die Seinsweise starrer, problematischer oder gar konfliktiver öffentlicher Räume, sondern rückt die alltäglichen Praxen der Menschen, durch welche Raum permanent im Handeln (re) produziert wird (vgl. Kessl und Reutlinger 2010; Löw 2018) und der sich damit fortwährend in dynamischer und vielschichtiger Weise verändert, in den Blick. Hinter dem örtlich Sichtbaren stehen stets sozialpolitische, sozialstrukturelle oder auch sozialisatorische Themen, die sich nur begrenzt im öffentlichen Raum bearbeiten lassen und vielmehr in sozialen und sozialpolitischen Zusammenhängen verhandelt werden müssen (vgl. Fritsche und Reutlinger 2012). Mit Hilfe des „St.Galler Modells zur Gestaltung des Sozialraums“ (vgl. Reutlinger und Wigger 2010) lassen sich unterschiedliche Zugänge benennen, über die versucht wird, Ordnung im öffentlichen Raum (wieder)herzustellen beziehungsweise aufrechtzuerhalten (siehe Abb. 1): Räumliche Maßnahmen
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(Gestaltungszugang „Ort“) werden beispielsweise durch die Einrichtung so genannter „Randgruppenreservate“, das heißt Orte außerhalb der Innenstadt, ergriffen (vgl. Reutlinger 2010). Bauliche Maßnahmen, wie das Abschrauben von Sitzgelegenheiten, sollen Obdachlose, aber auch junge Menschen, die sich im öffentlichen Raum treffen, von attraktiven Orten vertreiben. Durch repressive Maßnahmen (Gestaltungszugang „Steuerung“) wie Wegweisungsgesetze oder eher ‚sanfte‘ Methoden wie das Abspielen klassischer Musik an Schweizer Bahnhöfen, wird versucht, strukturell auf das Verhalten der als problematisch markierten Anderen einzuwirken. Auf einer dritten Ebene (Gestaltungszugang „Menschen“) wird direkt am Verhalten der Menschen angesetzt. Durch Präventionskampagnen und neue multiprofessionelle Teams, bspw. zusammengesetzt aus Sozialarbeitenden, Polizeibeamt*innen, Gesundheitsexpert*innen, versucht man, bei den betroffenen Menschen an ein Verantwortungsgefühl für die Aufrechterhaltung bestimmter Normen im öffentlichen Raum zu appellieren. Ziel aller Maßnahmen scheint zu sein, die störenden Gruppen aus dem öffentlichen Raum zu entfernen, damit dieser ‚störungsfrei, sauber‘ oder eben öffentlich – verstanden als der Mehrheit entsprechend – nutzbar ist.
4 Einfügen und eingefügt werden – Widersprüche, Interessenskonflikte und fachliche Herausforderungen angesichts der Durchsetzung räumlicher Strategien In der Präambel der Fachlichen Standards für Streetwork/Mobile Jugendarbeit ist festgeschrieben, dass Streetwork/Mobile Jugendarbeit „im Sinne einer parteilichen Interessensvertretung für Benachteiligte und von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgegrenzte Menschen tätig“ (BAG Streetwork/Mobile Jugendarbeit 2003, S. 208) sei. Nicht nur die Parteilichkeit, sondern auch andere zentrale Arbeitsprinzipien, wie Akzeptanz, Vertrauensschutz oder Anonymität seien „unverzichtbar, bedingen sich gegenseitig und prägen alle Angebote“ (ebd., S. 209). Damit wird eine ganz bestimmte. fachliche Haltung angesprochen, nämlich die, „reflektiert handeln“ zu können (Gillich 2006, S. 11), sowie die „Fähigkeit, Situationen ganzheitlich wahrzunehmen“ (ebd.) und entsprechend fachlich begründet zu (re)agieren. Der allgemeine gesellschaftliche Diskurs um den Verlust von öffentlicher Ordnung und Sicherheit führt nun dazu, dass sich Aufsuchende Soziale Arbeit mit „ordnungspolitischen Adressierungen“ (Dirks et al. 2016a, b, S. 25) konfrontiert sieht, indem wie beim empirischen Beispiel Angebote erst entstehen bzw.
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etablierte Angebote sich positionieren müssen. In diesem Zusammenhang kann die Eingangsfigur von Aufsuchender Sozialer Arbeit als ‚Einfügerin‘ wieder aufgegriffen werden, bspw. als „eine spezifische Form des Beeinflussens und Herstellens von räumlichen Ordnungen“ (Diebäcker 2014, S. 118). Damit verbunden ergeben sich verschiedenste Spannungsverhältnisse, innerhalb deren sich Soziale Arbeit positionieren muss: • Klient*innen- vs. Ortsorientierung: Aufsuchende Soziale Arbeit im öffentlichen Raum lehnt die ordnungspolitische Adressierung „unter der Betonung fachlich-ethischer Positionen sowie die Annahme des Rechts der Klient*innen auf Aufenthalt im öffentlichen Raum“ entweder ab (Dirks et al. 2016a, b, S. 30), oder sie nimmt sie an, muss sich aber so oder so mit den daraus resultierenden Widersprüchen auseinandersetzen. Mit letzterer Positionierung ist oftmals ein Wandel von der Klient*innen- zur Ortsorientierung verbunden, indem „spezifische Orte“ aufgesucht werden, „weil dort problematisierte Nutzer*innen vermutet werden oder etabliert sind und ggf. zu einer Wanderung bewegt werden sollen“ (ebd.). Damit lädt sich Aufsuchende Soziale Arbeit die beschriebenen Problematisierungen auf und muss ihr sozialräumliches Verständnis transparent machen. • Parteilichkeit vs. Allparteilichkeit: Verbunden mit der Ortsorientierung ist vielfach eine Verschiebung des Fachlichkeitsprinzips der Parteilichkeit zur sogenannten „Allparteilichkeit“ (Diebäcker 2014). Dabei wird versucht, an einem konkreten Ort mit den verschiedenen Nutzer*innen (bspw. Gewerbetreibende, Anwohnende, Passant*innen) in Kontakt zu kommen, um dadurch die „Ambiguitätstoleranz von Nutzer*innen im Raum zu fördern oder sie in Konfliktlösungs- oder Aushandlungsprozesse einzubinden“ (ebd., S. 236). Durch ein allparteiliches Vorgehen, indem auf die unterschiedlichen Bedürfnisse, Auffassungen oder Interessen an und im territorialen Raum Bezug genommen wird, sollen „konsensuale Lösungen für problematisierte Ordnungen“ (ebd., S. 217) herbeigeführt werden. Auch wenn mit solchen Begegnungen und Gesprächen Hürden oder Ängste abgebaut werden können, darf nicht außer Acht geraten, dass vorherrschende gesellschaftliche Machtund Herrschaftszusammenhänge nur schwer zu durchbrechen sind. • Öffentliche Ordnung und Sicherheit vs. Soziale Sicherheit: Deshalb ist Aufsuchende Soziale Arbeit gezwungen, sich offensiver mit eigenen Sicherheitsvorstellungen in den Diskurs einzumischen (Dollinger et al. 2017). Damit ist nicht nur gemeint, die bislang auf öffentliche Sicherheit und Ordnung zielende Vorstellung städtischer Politiken und ihre Rolle als „Sicherheitsexpertin“ (Kessl 2017, S. 241) mit der „Aufgabe einer Normalisierung der
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ebensführung von Gesellschaftsangehörigen“ (ebd.) abzulegen. Vielmehr L sollte an die Stelle der Rolle als Sicherheitsexpertin eine erweiterte Vorstellung von Sicherheit treten: Einerseits im erweiterten Verständnis von „sozialer Sicherheit als Wohlfahrts- oder Sozialpolitik mit der Funktion, soziale Probleme zu lösen bzw. zumindest in ihren individuellen und gesellschaftlichen Auswirkungen zu mildern“ (Dollinger 2017, S. 219). Andererseits im Verständnis von Sicherheit „als subjektive Sicherheit im Sinne einer Gewissheit des/der Einzelnen bezüglich seiner/ihrer selbst bzw. seiner/ ihrer (künftigen) Lebensführung“ (ebd.). Ausgehend vom Prinzip der Parteilichkeit soll das Sicherheitsbedürfnis von den nicht tonangebenden, unsichtbaren, im gesellschaftlichen Diskurs ‚problematisierten Anderen‘ in den Fokus rücken.
5 Die Welt ist nicht (mehr) in Ordnung – kann sie durch Streetworker in Ordnung gebracht werden? „Nein, nicht die Welt gerät aus den Fugen, wie man in letzter Zeit lesen konnte, wohl aber die Strukturen und Institutionen, die der Welt, wie wir sie kannten, Namen und Halt gaben“ (Leggewie und Welzer 2009, S. 9). Diese andere Lesart gegenwärtiger z. T. radikaler gesellschaftlicher Umbrüche, verbunden mit der Infragestellung bisheriger orientierungsgebender Ordnungen und der Zunahme eines diffusen Unsicherheitsgefühls, zwingt die Aufsuchende Soziale Arbeit dazu, die ihr zugedachte Rolle der ‚Einfügerin‘ herausgefallener Personen und Gruppen im öffentlichen Raum kritisch-reflexiv zu überdenken. Folgende Merkpunkte sollen dazu beitragen: • Aufsuchende Soziale Arbeit ist nicht dazu da, den öffentlichen Raum sicher zu machen. Nicht der öffentliche Raum hat ein Problem mit Sicherheit, sondern die Gesellschaft und ihre in die Krise geratenen Halt gebenden Strukturen und Institutionen. Deshalb gilt es, dazu beizutragen, die Denkweisen – insbesondere der als ‚normale Mehrheit‘ bezeichneten Bevölkerung – zu verändern. Die im Beitrag aufgezeigten Mechanismen, wie abweichende Menschen im öffentlichen Raum erst durch den medialen und politischen Diskurs zu solchen werden, geben Aufschluss darüber, dass es nicht das Ziel sein kann, das Verhalten der ‚problematisierten Anderen‘ zu verändern. • Das auf Ambiguitätstoleranz zielende Prinzip der Allparteilichkeit greift zu kurz. Zwar wird mit dem Paradigmenwechsel von der Parteilichkeit zur
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llparteilichkeit auf die direkte Begegnung zwischen Problematisierer*innen A öffentlicher Unordnung und vermeintlichen Träger*innen dieser Unordnung gesetzt, mit dem Ziel (gegenseitiges) Verständnis hervorzubringen. Diese auf die Beziehungsebene setzenden Initiativen enden jedoch vielfach in einer Rediskriminierung marginalisierter Gruppen. Das Ergebnis ist dann nicht mehr, sondern weniger Verständnis füreinander. Am Prinzip von Parteilichkeit muss festgehalten werden. Ziel Aufsuchender Sozialer Arbeit sollte es deshalb sein, die hinter den sichtbaren Formen der Aneignung öffentlicher Plätze liegenden Bewältigungsleistungen zu erkennen, zu beschreiben und in den städtischen Diskurs einzubringen. Wer sonst könnte dem dominanten Mainstreamdiskurs zu Sicherheit mit einem lebensweltlich-fundierten Wissen der Betroffenen etwas entgegensetzen? Das fachliche Prinzip der Parteilichkeit (vgl. Kap. 4) darf nicht aufgegeben werden. Aufsuchende Soziale Arbeit gestaltet Stadt. Notwendig hierfür ist deshalb ein Verständnis von Aufsuchender Sozialer Arbeit als „räumlich-staatlicher Praxis“ (Diebäcker 2014), die öffentliche Räume, die Stadt und auch die Welt mitproduziert. Konkret bedeutet dies ein gleichzeitiges (Re)Agieren auf den verschiedensten Maβstabsebenen: Aufsuchende Soziale Arbeit muss sich in die städtischen Diskurse einmischen. Sie darf sich nicht in die Bespielung (un)sicherer Orte zurückziehen, sondern muss sich in die gesellschaftlichen und politischen Diskurse einmischen. Durch das Schaffen ermöglichender Rahmen gilt es, geschützte Räume zu öffnen und zu verteidigen. Ein wichtiges Ziel der Einmischung in städtische Ordnungsdiskurse liegt darin, den auf öffentliche Räume angewiesenen Menschen „Räume zu eröffnen, repressive ordnungspolitische Zugriffe zu reduzieren und eine neue Öffentlichkeit herzustellen“ (Bodenmüller 2000, S. 124). Das Recht auf Sichtbarkeit gilt es ebenso zu gewährleisten, wie das Recht auf Unsichtbarkeit. Gleichzeitig sollen diese Räume nicht aus der Sichtbarkeit des öffentlichen Raumes verschwinden – denn die betroffenen Gruppen sind in hohem Maβe auf den öffentlichen Raum und seine Zugänglichkeit angewiesen. Deshalb haben sie ein Recht auf Sichtbarkeit, ohne eine permanente Kontrolle ihres Verhaltens und die Überwachung ihres Lebens. Dies bedeutet jedoch auch, dass sie ein Recht auf Unsichtbarkeit haben. Beides zu gewährleisten stellt eine wichtige Aufgabe für Aufsuchende Soziale Arbeit dar.
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Diese Merkpunkte führen schließlich dazu, dass sich Aufsuchende Soziale Arbeit ständig positionieren und ihre fachlichen Prinzipien überprüfen muss: Es gilt, sich Klarheit sowohl über den eigenen Ort in der Gesellschaft zu verschaffen als auch über denjenigen der Adressat*innen. Diese Notwendigkeit ist umso dringender, als dass durch die beschriebenen gesellschaftlichen Umbrüche und Veränderungen die Grenzen im öffentlichen Raum in radikaler Weise zur Disposition stehen: Einerseits brechen klare Verhältnisse wie innenoder außenstehend, abweichend oder angepasst, auf. Andererseits zementieren die aufgezeigten ordnungspolitischen Diskurse klare Grenzen in einer noch nie dagewesenen Art und Weise.
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Werlen, B. 2005. Raus aus dem Container! Ein sozialgeographischer Blick auf die aktuelle (Sozial-)Raumdiskussion. In Grenzen des Sozialraums: Kritik eines Konzepts, Hrsg. Projekt „Netzwerk im Stadtteil“, 15–36. Wiesbaden: Springer VS. Ziegler, H. 2019. Prävention als sozialraumbezogenes Handlungsfeld. In Handbuch Sozialraum. Grundlagen für den Bildungs- und Sozialbereich, Hrsg. F. Kessl und C. Reutlinger, 659–673. Wiesbaden: Springer VS.
Christian Reutlinger (St. Gallen), studierte Sozial- und KulturgeographieKulturgeo grafie, Sozialpädagogik und Soziologie in Zürich, Zaragoza und Dresden. Co-Leiter des Institut für Soziale Arbeit und Räume (IFSAR-FHS). Schwerpunkte: Soziale Nachbarschaften und Wohnen, Soziale Arbeit im öffentlichen Raum, Sozialgeographien Sozialgeografien der Kinder und Jugendlichen.
Demokratie und Repräsentation: Die Straße und das Quartier als Raum der Widersprüche ortsbezogener Sozialer Arbeit Ellen Bareis „Ich finde Repräsentation das wichtigste Thema. Mein altes Beispiel: Du hast ein weißes Blatt und schreibst, ‚ein Mensch betritt die Bühne‘. Jeder hat einen weißen, männlichen Heterosexuellen vor Augen. Das steht da nicht. Aber das steht irgendwie da drunter.“ René Pollesch, Theaterregisseur, FAS 23.06.2019.
„Ein Mensch betritt die Bühne“ und dieser ist wohnungslos oder Drogenuser*in oder eine illegalisierte In-House-Pflegekraft oder eine Geflüchtete. Das steht da nicht und das steht auch nicht irgendwie „drunter“. Und wenn es „drunter“ steht, wie in vielen aktuellen dramaturgischen Inszenierungen, ist es ‚das Andere‘, Nicht-Repräsentierte, das je nach Konjunktur eine bürgerliche, demokratische, zivilgesellschaftliche Aufmerksamkeit erhält. Die Themen Demokratie und Repräsentation lassen sich im Alltagsverständnis kaum voneinander lösen. Für die Aufsuchende, die gemeinwesenorientierte oder auch sozialräumliche Soziale Arbeit ist es jedoch wichtig, Demokratie und Repräsentation als zwei aufeinander bezogene aber unterschiedliche Theoriefelder zu betrachten, die für die Praxis relevant sind. Soziale Arbeit hat seit den 1970er Jahren eine Tradition, sogenannten Randgruppen oder Marginalisierten eine Stimme zu verleihen, ihnen Repräsentation zu verschaffen. Diese kritische Tradition täuscht aber darüber hinweg, dass sich Soziale Arbeit wie alle anderen (quasi)staatlichen Institutionen angesichts neoliberaler Politiken und ihrer Krisen seit den 1980er Jahren stark verändert hat. Neoliberalismus betrifft nicht nur die Produktionsweise, E. Bareis (*) Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen, Ludwigshafen am Rhein, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Diebäcker und G. Wild (Hrsg.), Streetwork und Aufsuchende Soziale Arbeit im öffentlichen Raum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28183-0_4
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sondern auch die politische Regulierung und somit das ‚Demokratieproblem‘, die Frage der Repräsentation und die Prozesse sozialer Ausschließung. In meinem Beitrag starte ich mit einigen Überlegungen zu (Post)Demokratie und Neoliberalismus. Es folgt ein Abschnitt über die Geographien des Neoliberalismus und die ‚Alternativen‘ zu diesen Entwicklungen. Analytisch sind beide Teile notwendig, um im dritten Teil in die Frage der (Nicht)Repräsentation und der Ortsbezogenheit von strukturellen Konflikten einzusteigen. Im letzten Teil versuche ich, der ortsbezogenen Sozialen Arbeit, dem Streetwork und der Gemeinwesenarbeit, dem Quartiersmanagement und den zielgruppenorientierten lokalen Programmen Reflexionsoptionen zu eröffnen. Diese lassen sich nirgends 1:1 umsetzen. Hier geht es der Sozialen Arbeit wie anderen staatlichen und halbstaatlichen Institutionen und allen Leuten1 in ihrem Alltag auch: Wir handeln in Widersprüchen, führen Konflikte und müssen situationsbezogen einschätzen, ob sich das (spezielle Engagement im Einzelfall oder politische Engagement in einer Initiative jenseits der regulären Arbeitszeit) jetzt gerade ‚lohnt‘.
1 (Post)Demokratie und Neoliberalismus Mit der Zeitdiagnose der Postdemokratie verbindet sich meist die Analyse, dass die Institutionen der parlamentarischen, repräsentativen Demokratie unter den Bedingungen von ökonomischer Globalisierung zunehmend ausgehöhlt werden. (vgl. Crouch 2008) Metaorganisationen, die nicht demokratisch legitimiert sind, treffen, so die Diagnose, Entscheidungen an Stelle der gewählten nationalstaatlichen Regierungen, die nur noch unter Zugzwang und Spardiktat reagieren können. Lobbyorganisationen nehmen maßgeblichen Einfluss auf politische Entscheidungen (etwa die Pharma-, Energie- oder Automobilindustrie), Expertokratie hebelt die Willensbildung des Souveräns aus. So eingängig diese Argumentation ist, reicht sie doch nicht aus. Denn diese direkte Verbindung von Neoliberalismus und Demokratieproblem überhöht die historischen Erfahrungen mit der repräsentativen Demokratie. Und sie blendet die moderne zwillingshafte Entwicklung von repräsentativ-demokratischer und kapitalistischer Idee aus. 1Anstelle
von die Leute wäre der Begriff Menschen eingängiger. Ich greife auf den Begriff der Leute zurück, da er die Verortung im Alltag verdeutlicht und zugleich den im Nationalsozialismus pervertierten Begriff des Volks vermeidet. Auch im Englischen würden wir von the people sprechen und nicht von the human beings. Widersprüche zu Wortbildungen zwischen der Populärkultur und dem Populismus sind unvermeidlich.
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Mit jenem Modell des Volkssouveräns, das in der repräsentativen Demokratie in romantisierter Form niedergelegt ist, verdichtet sich das Mantra: Eine bessere Staatsform kennen wir nicht.2 In dieser Erzählung, die auf die Zeit der Aufklärung zurückgeht, wird ausgeblendet, dass mit der Deklaration der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten von Amerika und mit der Französischen Revolution, zwar alle Menschen als Gleiche anerkannt wurden, aber wahlweise nicht Arbeiter (männlich), Frauen (überhaupt) und nicht Sklaven gemeint waren. Die Erfahrungen der sozialen Kämpfe sprechen dagegen eine andere Sprache: die proletarischen Kämpfe, die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung, der Kampf gegen die Apartheid in Südafrika, die Frauenbewegungen für das Wahlrecht, dann die Kämpfe um das Geschlechterverhältnis, die Migrationsbewegung, die Kämpfe der Geflüchteten, die LGBTIQs oder heute die Schüler*innen von Fridays for Future – und dazwischen die Krüppelbewegung, die Wohnungslosen und Banlieues-Bewohner*innen. Sie alle kämpfen und kämpften darum, wer eigentlich zu diesem souveränen ‚Volk‘ der hochgehaltenen Demokratie gehört. Über was sind sie souverän? Dasselbe gilt für die Frage danach, wem eigentlich der öffentliche Raum gehört. Er ist über den Begriff der Öffentlichkeit zumindest an jene gebunden, die als Bürger Teil der Souveränität sind. Somit ist auch dieser Raum mit allen Prozessen und Konflikten der Entbürgerlichung (vgl. Wagner 2013) konfrontiert, die für die repräsentative Demokratie zu konstatieren sind. Bürgerliche Frauen durften lange nur in Begleitung auf der Straße flanieren (vgl. Wilson 1993), Schwarzen waren in Apartheidssystemen ganze Areale verboten. Auch die Soziale Arbeit im öffentlichen Raum muss sich fragen, was diesen ausmacht. Ein Einkaufszentrum kann für Illegalisierte oder Wohnungslose ein sicherer Ort sein als die öffentlichen Plätze in der Stadt (vgl. Bareis 2007). Anders würde dies aussehen, würden wir Straßen, Plätze und Versammlungsorte etwa als gemeinsamen Raum, als Allmende aller Nutzer*innen begreifen und so vom Begriff des Bürgers lösen.
2 Geographien des Neoliberalismus und die ‚Alternativen‘ Der britische Staats- und Regulationstheoretiker Bob Jessop nannte in seinem Werk The Future of the Capitalist State (2002) gesellschaftliche Transformationsdynamiken entlang vier strategischer Linien, die ab den 1980er
2Vgl.
etwa Brown 2012, Demirovic 2013 und für die Soziale Arbeit: Widersprüche 2013.
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Jahren in unterschiedlicher Geschwindigkeit in Gang gekommen und deren Beschreibung bis heute analytisch hilfreich ist: Erstens löst im ökonomischen Denken die Betonung des Unternehmerischen und Innovativen den an Nachfrage orientierten und nationalstaatlich gesteuerten Keynesianismus ab. Zweitens wird die Idee von Wohlfahrt und die Bindung von sozialpolitischen Instrumenten als workfare/‚aktivierende Sozialpolitik‘ noch stärker an die Anforderung ‚Erwerbsarbeit‘ gebunden. Sie war dies bereits mit der Einführung von sozialpolitischen Versicherungselementen in der fordistischen Regulationsweise, nimmt nun aber die Form der Selbstverantwortlichmachung der Individuen an. Drittens verlieren die nationalstaatlichen Räume als geographische Ebene der politischen Regulierung an Bedeutung. Es treten einerseits transnationale Regionen wie auch nationenübergreifende Organisationen hinzu. Andererseits wird zugleich die Verantwortungszuschreibung in den lokalen Raum hinein verstärkt (Sozialraumorientierung als Regierungsform). Viertens zeigt sich Politik weniger in der Form des Staates im engeren Sinne, sondern diffundiert an verschiedene zivilgesellschaftliche und staatliche Orte und Institutionen, die mittels Steuerung und Zielformulierungen eher lose, ideologisch als dirigistisch verbunden sind. Diese vier Linien verbinden sich im Neoliberalismus. Aber es sind, so Jessop bereits 2002, ausgehend von diesem historischen Punkt auch alternative Entwicklungen möglich. Diese ‚Alternativen‘ zum Neo-Liberalismus sind nicht einfach als Befreiung zu sehen. Seit 2008 hat der autoritäre Populismus in vielen Regionen und Staaten einen außerordentlichen Aufschwung (USA, Ungarn, Brexit, Italien etc.) genommen und gibt sich den Namen der Alternative3. Zugleich haben viele soziale Bewegungen nach 2008 (etwa Occupy, Arabischer Frühling, aktuell u. a. Seenotrettung und Fridays for Future) eindeutig emanzipatorische Züge. ‚Alternativen‘ zielen nicht immer auf Befreiung von Herrschaft. Sie können als Neo-Konservatismus, N eo-Kommunitarismus oder sogar Neo-Faschismus Formen annehmen, die auf den Konflikt darum, wie
3Etwa
die Partei AfD (Alternative für Deutschland) oder der Begriff der alternative facts, der als Attacke gegen Wissenschaftlichkeit wie gegen seriösen, faktenorientierten Journalismus gerichtet ist.
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Demokratie gelebt werden kann, mit dem Ruf nach Autorität und Ausschließung antworten. Gemeinsam sind diesem „Prozess der Neoliberalisierung“ (vgl. Peck und Tickell 2002) und seinen ‚Alternativen‘ neue Räumlichkeiten von Gesellschaft. Die kritische Geographie kann sehr gut zeigen, dass sich dieser Prozess räumlich je nach Kräftekonstellationen, historischer Entwicklung und Bedingungen unterschiedlich darstellt. Lokal, kontinental, national oder regional haben wir es mit einer Vielzahl von Prozessen zu tun, die zwar in ihrer ‚allgemeinen Tendenz‘ gemeinsam verortet werden können, sich jedoch in sehr unterschiedlichen Konfliktfeldern artikulieren und auch institutionell verschieden niederschlagen. Die USA, Ungarn, der Brexit, Italien oder Brasilien sind die aktuellen nationalen (Gegen)Beispiele. Doch diese Pfadabhängigkeit der konkreten Ausprägung der ‚allgemeinen Tendenz‘, gilt auch für lokale Differenzen innerhalb von Nationalstaaten. Somit spielt die Bedeutung der lokalen Kämpfe und Strukturen, die Relevanz des eigenen Handelns in der Region im globalisierten Alltag eine wichtige Rolle. Dies sollten nicht nur Analyse und Forschung, sondern auch die Soziale Arbeit in Theorie und Praxis immer im Blick behalten und sich ihren lokalen Aktivismus behalten. Pragmatisch ausgedrückt kann, was für die Soziale Arbeit in Berlin gilt, in Wien ganz anders aussehen, in Ludwigshafen, Jena oder Chur allemal. Und damit ist nur der deutschsprachige Raum benannt und somit ein kleiner Teil von Europa. Neoliberalismus als solchen gibt es zunächst ausschließlich als Doktrin. Diese bestand in der ersten Welle in Privatisierungen, Deregulierungen und in der Rückführung der Staatsquote (etwa dem Abbau von sozialstaatlichen Ressourcen) und in einer zweiten Welle im Ausbau neuer Institutionalisierungen wie workfare, private-public partnerships, Einführung neuer prekärer Beschäftigungsverhältnisse, Armutsfeindlichkeit und Punitivität. Peck und Tickell nennen diese Wellen „roll-back“ und „roll-out“ (ebd., S. 41) Neoliberalismus. Insbesondere letzterer ist aber immer auf spezifische Orte, Institutionen, Regionen bezogen. Wichtig ist, die jeweiligen Dynamiken und Stabilitäten konkret sichtbar zu machen und zu analysieren. Dies bedeutet aber auch, die jeweiligen regionalen (lokalen, nationalen etc.) Persistenzen, Reibungen bis hin zu Blockaden, Widerständigkeiten und ‚Alternativen‘ im Blick zu behalten (vgl. Belina 2017). Viele Effekte der Prozesse der Neoliberalisierung sind bekannt und lassen sich sehr allgemein beschreiben. So werden nach 20 Jahren Neoliberalisierung die Stadt oder die Region ganz selbstverständlich als Unternehmen im Wettbewerb mit anderen Städten oder Regionen adressiert. Und der Ausverkauf von kommunaler oder staatlicher Infrastruktur bezüglich basaler Güter wie
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Wohnen, Energie, Wasser, Verkehr hatte sehr lange Hochkonjunktur (vgl. aktuell Foundational Economy Collective 2019). David Harvey (2012)4, ein USamerikanischer, marxistischer Geograph, erläutert die ökonomischen Zusammenhänge bezüglich der Immobilienökonomie: Das Kapital greife im Zuge von Überakkumulationskrisen auf zeitlich-räumliche Strategien zurück, um Krisen zu lösen. „Seit 1973“, so Harvey, „ist es zu hunderten von Finanzkrisen gekommen (während es davor nur sehr wenige waren) und eine ganze Reihe von ihnen wurde durch die Immobilienmärkte oder die Stadtentwicklung verursacht.“ (ebd., S. 5) Die meisten dieser Finanzkrisen blieben auf Großregionen beschränkt, gesamt betrachtet seien sie jedoch systemisch, wie die globale Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 zeige. Die Finanzialisierung der Immobilienökonomie5 beschleunige inzwischen auch spürbar die Dynamiken auf den Wohnungsmärkten in Europa, so dass in vielen Städten bereits Familien mit mittlerem Einkommen aus den zentralen Stadtteilen verdrängt werden. Allerdings zeigt sich diese Entwicklung eher als Flickenteppich, denn andere Städte und Regionen hängt die Dynamik der Immobilienökonomie ab – mit anderen Konsequenzen für die soziale Infrastruktur. Der Alltag der Leute wird weder in den aufstrebenden Metropolen noch in den abgehängten Regionen leichter. Die fortschreitende Prekarisierung der Beschäftigungs- und Lebensverhältnisse, die Verschärfung von Ausschlie ßungsprozessen und die weitgehend durchgesetzte Logik von workfare und Selbstverantwortlichmachung bei tendenziell abnehmender Bereitstellung von sozialer Infrastruktur verschärfen den Alltag der Leute in den prosperierenden Städten wie in den zurückgelassenen Landstrichen. Über die regionalen Differenzen hinweg verstehen Bildungs- und Wohlfahrtsinstitutionen zunehmend employability als vorrangiges Ziel der sozialpolitischen Ausrichtung. Diese Diskurshegemonie wendet sich gegen an den Rand gedrängte Menschen auf ganz spezifische Weise, da auch sie selbst für ihre eigene Situation verantwortlich gemacht werden. Gesellschaftliche Ausschließungsprozesse, zunehmende Armut und Diskriminierungen lassen sich auf diese Weise kaum noch im allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs thematisieren, sondern
4Ich
beziehe mich im Folgenden auf den genannten Essay von David Harvey, da dieser auch gut als Einstiegslektüre empfohlen werden kann. Genauer ausgearbeitet hat Harvey seine Argumente und Thesen in seinen größeren Werken. 5Ein sehr konkretes Beispiel bringt Bernd Belina mit dem Kettenhofweg 130 in Frankfurt am Main in seinem analytischen Text zu Kapitalkreisläufen und Entwicklungen auf dem Wohnungsmarkt (vgl. Belina 2018, S. 197).
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v erschwinden in w issenschaftlichen und politischen Nischen. Pädagogisierungs-, Personalisierungs- und Psychologisierungsstrategien nehmen zu. Auch die gesellschaftliche ‚Straflust‘ (Punitivität) steigt, wie (nicht nur) der autoritäre Populismus und die Zunahme rechtsextremer Gewalt zeigen, sondern auch die neue Legitimationswelle von geschlossenen Einrichtungen und von Sanktionen in den sozialen Institutionen. Ausgehend von dieser gesellschaftstheoretischen Analyse aus Elementen der Staats- und Regulationstheorie, der kritischen Geographie und der kritischen Kriminologie wendet sich der folgende Abschnitt dem Alltag der Leute und den Fragen politischer Subjektivierung zu.
3 ‚Im Dienste…‘ – Demokratie und (Nicht) Repräsentation Die Leute entwickeln in ihrem Alltag Strategien und Taktiken, Ausschließungsprozesse zu bearbeiten. Wir6 nennen diese Strategien und Taktiken Arbeitsweisen am Sozialen. Gemeint ist damit, dass die alltäglichen ‚Arbeitsweisen‘ im Kontext der jeweils hegemonialen ‚Produktionsweisen‘ und ‚Regulationsweisen‘ zu verstehen sind. Die zugrundeliegende These ist, dass Partizipation, also Teilnahme an Gesellschaft und somit Demokratie im weiten Sinn, zunächst tatsächlich als Arbeit an gradueller Ausschließung verstanden werden muss. Diese alltägliche Arbeit liegt häufig jenseits der Repräsentation und kann auch nicht einfach ‚durch Soziale Arbeit‘ repräsentiert werden, da diese durch ihre Form der Institutionalisierung selbst auf widersprüchliche Weise in Ausschließungsprozesse eingebunden ist. Ausgangspunkt hierfür ist aus unserer Perspektive die Forschungstradition des Interaktionismus. Interaktionismus bietet ein Handlungsmodell, das es ermöglicht, über die kritische Analyse der strukturellen Zusammenhänge und die (Selbst)Verantwortlichmachung von Personen hinauszukommen (vgl. Cremer-Schäfer 2004). Dies ist hilfreich, um soziale Konflikte auf Alltagsebene erkennbar zu machen und soziale Kämpfe zu situieren. Das interaktionistische
6Gemeint
ist ein Arbeitszusammenhang, der sich unter dem Titel „Produktion des Sozialen from below“ zusammengefunden hat. Das interaktionistische Handlungsmodell mit kritischer Gesellschaftstheorie in Verbindung zu bringen, könnte als ein gemeinsames Anliegen beschrieben werden.
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Handlungsmodell vom ‚situierten Handeln‘ unterscheidet sich prägnant vom sozialwissenschaftlichen Mainstream. Soziale Phänomene und Ereignisse werden nicht-reduktionistisch gedacht (vgl. Cremer-Schäfer 2010). Der Interaktionismus fokussiert immer den Handlungsprozess, also den interaktiven Zusammenhang von Handlungsstrategien im Kontext von Zeit, Raum und Situationen. Handlungsweisen werden weder durch ein Rückführen auf dahinter oder darunter oder zeitlich davor liegende Strukturen erklärt. Auch nicht auf der Basis zuvor definierter sozialer Probleme. Sie werden aber auch nicht als Resultate von verfestigten ‚inneren Zuständen‘ der Person verstanden. Die theoretische Errungenschaft des Interaktionismus ist das Ersetzen von Eigenschaftsbegriffen durch relationale Begriffe von Inter-Aktionen. Solche Begriffe ermöglichen die Abkehr vom institutionell fixierten und verwalteten Devianz-Vokabular. Die Aufmerksamkeit für Formen der Abwehr von und der Anpassung an Zumutungen exklusiver Gesellschaften konstituiert so ein Gegen-Wissen zu jenem, welches Verdinglichung ermöglicht. Dieses Wissen stellt zumindest im Kontext wissenschaftlicher Arbeit eine Ressource dar, nicht an Verdinglichung mitzuarbeiten. Soziale Arbeit kann sich daran im Rahmen ihrer eigenen Widersprüchlichkeit als Profession und Institution beteiligen. Auf diese Weise können auch ‚kollektive Lernprozesse‘ und kollektive Formen der Abwehr von Etikettierung und Ausschließung jenseits ihrer Repräsentierbarkeit sichtbar und verstehbar gemacht werden. (Siehe ausführlicher Bareis und Cremer-Schäfer i. E.). Denn die alltägliche Arbeit an sozialer Ausschließung vollbringen die Leute kaum im Modus von Repräsentation, da soziale Ausschließung bedeutet, dass sie etwa von Rechten, Eigentum, Sicherheit oder Sprache ausgeschlossen sind (Steinert 2007). Der französische Philosoph Jaques Rancière nimmt in seiner Definition von Politik, bzw. einer „‚wirklichen‘ Demokratie“ (Rancière 2002, S. 105), gezielt jene zum Ausgangspunkt, die nicht zählen. Politik existiert für ihn, wenn jene, die keinen Anteil haben, in Konflikt zum Bestehenden treten und nach ihren eigenen Regeln auf die Teilnahme an Gesellschaft bestehen. Für Rancière liegt die Herausforderung genau darin, im Bewusstsein der Unmöglichkeit, jene zu repräsentieren, die keinen Anteil haben, Formen des Politischen zu definieren. Anstatt diese Unmöglichkeit als bloßen ‚Fehler‘ der Repräsentation zu verstehen, sollte er spezifisch verstanden und gelesen werden (vgl. Bareis und Bojadzijev 2013). Der Staat (auch der erweiterte Staat inklusive der Sozialen Arbeit) kann niemals komplett Repräsentation monopolisieren und mobilisieren. Es bleibt immer ein ‚Rest‘, ein Nicht-Identisches. Denn Repräsentation erschöpft sich nicht in sich selbst, nicht in einer Perspektive ‚von oben‘. Vielmehr sind es die sozialen Kämpfe, die bestimmen, wer und
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was zur Repräsentation kommt. „Protest gegen Vertragsverletzungen von Herrschaft, Empörung über Ungerechtigkeiten der Verteilung gesellschaftlichen Reichtums, Sicherheitsproduktion from below nach dem Genossenschaftsprinzip“ (Bareis und Cremer-Schäfer i. E.) finden ihren Niederschlag in den alltäglichen Praktiken von Migrant*innen, Geflüchteten, Wohnungslosen, Drogenuser*innen, Bewohner*innen der französischen Banlieues oder der schwarzen US-amerikanischen Ghettos. Sie alle haben keinen Anteil, sind ungezählt, von Rechten, Eigentum, Sicherheit oder Sprache ausgeschlossen. Es macht hier theoretisch Sinn, vom Unrepräsentierbaren zu sprechen, denn diese Praktiken markieren die Grenze jeder Repräsentation. Sie sind gerade keine Kämpfe um Repräsentation, sondern eher, wie Anne Querrien in einer Diskussion mit dem postoperaistischen Gesellschaftstheoretiker Antonio Negri argumentiert, „Proteste, die Inbesitznahmen – nicht notwendigerweise Besetzungen – nutzen, um Räume auf eine Weise lebendig zu machen, die nicht der Logik sozialer Ausschließung folgen, sondern lokale Mikro-Mächte entwickeln“ (Negri et al. 2008, S. 107). Sie nennen dies im Titel der Diskussion „Ereignis an einem biopolitischen Ort“ (Ebd., S. 104). Soziale Arbeit im öffentlichen Raum kennt die Inbesitznahmen ohne Besetzung oder gar Eigentumsrechte, kennt lebendige Räume und lokale Mikro-Mächte derer, ‚die keinen Anteil haben‘. Hier wäre ein möglicher Beitrag zur ‚wirklichen‘ Demokratie, nicht nur individuelle, sondern auch kollektive Lernprozesse und kollektive Formen der Abwehr von Etikettierung und Ausschließung jenseits ihrer Repräsentierbarkeit durch Reflexion ein wenig zu kompensieren. Insofern sind die Grenzen der repräsentativen Demokratie (vgl. ausführlicher Bareis 2013) der Ausgangspunkt dessen, was Jaques Rancière mit ‚Politik‘ meint. Denn tatsächlich existiert notwendigerweise ein staatliches Unvermögen – nicht nur, aber auch – in der repräsentativen Demokratie, ganze Teile der Bevölkerung und ihre gesellschaftliche Realität zu repräsentieren. Anstelle von Repräsentation steht hierfür das institutionalisierte Devianz-Vokabular von den Nichtdisziplinierten, den Nichtintegrierten, den ‚Anderen‘ zur Verfügung, die ganze Palette rechtlicher, kultureller und sozialer Ausschließung. Am Beispiel der französischen Banlieues (Bareis und Bojadzjiev 2012) oder der Schwarzen US-amerikanischen Ghettos, wie uns Alice Goffman (2015) zeigt, wird deutlich, dass demokratische Staaten in vielen Konflikten die Bewohner*innen ganzer Straßenzügen und Stadtquartiere, und somit Teile ihrer eigenen Bevölkerung, dezidiert zu ‚Ungezählten‘ erklären. Etwas unbemerkter und kleinräumlicher geschieht dies überall im ‚öffentlichen Raum‘ wie im institutionellen Rahmen.
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Die hybride Form des Städtischen7 bietet durchaus Möglichkeiten von Voice und Rebellion. Das Städtische verfügt über die ‚trunkenen‘, delirierenden Aspekte, die unkontrollierbaren und unrepräsentierbaren Momente, welche die Beziehungen zwischen verschiedenen Formen der gesellschaftlichen Arbeit hervorbringen und den städtischen Raum in eine besondere Form bringen. Das Städtische spiegelt die Widersprüche der Globalisierung und der Prozesse der Neoliberalisierung, der Migrationsbewegungen, der Geschlechterverhältnisse und des Rassismus. Denn sie beherbergen sowohl die Entscheidungszentren von Politik und Unternehmen wie eine Vielzahl neuer Beziehungen der Ausbeutung, der prekären Beschäftigung und neuer Prozesse städtischer Marginalisierung. Daher stehen die Bewohner*innen und Nutzer*innen der Straßen und der Quartiere zum Städtischen wie die Arbeiter*innen zur Fabrik, um ein Bild von Michael Hardt und Antonio Negri heranzuziehen8, mitten in diesen gesellschaftlichen Widersprüchen. Wie die Arbeiterklasse sich die Fabrik wieder aneignen und sie zugleich zerstören wollte, verkörpern die Bewohner*innen und Nutzer*innen (bei Hardt und Negri „die Multitude“) dieses doppelte, eigentlich antagonistische Begehren des „Innerhalb und Gegen“ (Hardt und Negri 2010, S. 256). Es bleibt auch aus dieser Perspektive schwierig, die ‚kleinen‘ Kämpfe, die Akte des Widerstandes und die alltäglichen Praktiken gegen Prozesse sozialer Ausschließung wie auch herrschaftliche Strategien der ‚Integration‘ im Kontext des Auftauchens (neuer) politischer Subjektivitäten zu grundieren. Festhalten lässt sich, dass innerhalb des Städtischen quasi durch die Widersprüche hindurch neue und sehr unterschiedliche Beziehungen und Kooperationen entstehen (können). Die konstitutiven Widersprüche des Städtischen ermöglichen den jenen Marginalisierungs- und Ausschließungsprozessen Unterworfenen durchaus, sich an verschiedenen Stellen, auf der Straße und im Quartier, selbst zu artikulieren und in den Konflikt einzutreten, statt von anderen re-präsentiert zu werden. Was könnte diese Perspektive für die Soziale Arbeit im ‚öffentlichen Raum‘ und ihr eigenes widersprüchliches Feld der doppelten Beauftragung
7Den
Begriff des Städtischen nutze ich auf spezifische Weise. Benannt ist damit nicht ‚die Stadt‘. Vielmehr finden Konflikte, Kämpfe und Alltagsorganisierungen „im Sinn der ‚vollständigen Verstädterung der Gesellschaft‘ (Lefebvre) (…) ganz genauso in meist als ‚Speckgürtel‘, ‚Kleinstadt‘ oder ‚Land‘ gekennzeichneten Räumen, in Zentren ebenso wie in der Peripherie, im räumlichen Maßstab der Nachbarschaft ebenso wie in jenem der Stadt oder der Region“ (Belina 2017, S. 99) statt. 8„Die Metropole ist für die Multitude, was die Fabrik für die industrielle Arbeiterklasse war.“ (Hardt und Negri 2010, S. 262; Herv. i. O.).
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bedeuten? Gerade die Organisationsformen der repräsentativen Demokratie als Interessenskompromiss, als „konsensuelle Demokratie“ (Rancière 2002, S. 105), treiben durch und in ihren Institutionen als Widerspruch soziale Ausschließung hervor. Die Soziale Arbeit kann sich ihrer Institutionalisierung weder durch einen Sprechakt (‚Menschenrechtsprofession‘) noch durch eigenen Willen (‚Trippelmandat‘) entziehen und schon gar nicht als ‚Soziale Probleme-Profession‘. Aus der Perspektive der kritischen Demokratietheorie hat Soziale Arbeit zwar einerseits eine Beauftragung ‚im Dienste‘ der von gesellschaftlichen Dynamiken und Herrschaftsstrukturen Marginalisierten und Verdrängten. Zugleich erfolgt die Beauftragung jedoch von Seiten des Souveräns, in repräsentativen Demokratien also ‚im Dienste‘ des demos. Dieser Souverän trägt der ortsbezogenen Sozialen Arbeit Ziele auf, die dem Erhalt der Souveränität dienen. Historisch wie lokal variieren diese Ziele: Sozialer Frieden, mittelfristige Senkung der Sozialkosten durch Stärkung von employability oder Flankierung von städteplanerischen Aufwertungsdynamiken von Quartieren oder Plätzen. Im Kontext der globalen Migrationsbewegungen haben wir vor kurzem zusammengefasst: „Ruft der Staat, Migration erzeuge Konflikte um gesellschaftliche Ressourcen wie Wohnen, Gesundheitsversorgung und Bildung und ‚Probleme‘, kann Soziale Arbeit, als Teil des Staates und von diesem mit ‚Problemlösung‘ beauftragt, nicht davon ausgenommen werden. Ruft der Sozialstaat, wir brauchen jene Geflüchtete mit Skills für den Arbeitsmarkt und müssen alles dafür tun, diese zu fördern und zu integrieren, dann kann sich Soziale Arbeit diesem Anliegen nicht entziehen.“ (Bareis und Wagner 2019, S. 67).
4 Ortsbezogene Soziale Arbeit im Raum der Widersprüche Was tun? Doreen Massey, eine feministisch-marxistische Geographin, bestimmte in ihren Arbeiten Orte als singuläre Schnittpunkte von gesellschaftlichen Beziehungen. Sie seien keine Entitäten, sie seien nicht ‚da‘, sondern konstituieren sich in der Interaktion unterschiedlicher Macht- und Herrschaftsrelationen. Insofern sind bei ihr „Orte (Gegenden, Regionen, Nationen) notwendigerweise der lokale Ausdruck eines Überschneidens von disparaten Fluchtlinien (…) im weitesten Sinne des Wortes, notwendigerweise ‚Verhandlungsorte‘“ (Massey 2007, S. 71). Das „Ereignis des Ortes“ ist ihr zufolge am besten zu begreifen als ein je spezifisches „Zusammengeworfensein“ (throwntogetherness) (Massey 2005, S. 140) und mit Bezug auf den französischen Theoretiker Henri Lefebvre als Raum der Differenz und Raum der Widersprüche. In diesem Sinne spreche ich
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im Weiteren von ortsbezogener Sozialer Arbeit und vom Raum der Widersprüche. Vermeiden möchte ich dadurch einen weiteren Rekurs auf den ‚öffentlichen Raum‘, dessen normative Aufladung, wie eingangs gezeigt, schon vielfach von feministischer, proletarischer, antirassistischer wie demokratietheoretischer Seite dekonstruiert wurde. Vermieden wird dadurch außerdem ein zu starker Bezug auf die ‚Sozialraumorientierung‘, die in ihrer Repräsentation, wie ebenfalls bezüglich der Geographien des Neoliberalismus bereits eingeführt, stark durch Verwaltungsdenken und durch die „Territorialisierung des Sozialen“ (Kessl und Otto 2007), also das Regieren über soziale Nahräume geprägt ist. Der französische Philosoph und Soziologe Henri Lefebvre (1991) gibt für diese Situation im Raum der Widersprüche ein hilfreiches Analysemodell: Der gesellschaftliche Raum wird ihm zufolge auf drei Ebenen zugleich produziert: Der ‚Repräsentation des Raums‘, der ‚alltäglichen Praxis‘ und der ‚Räume der Repräsentation‘. Die Repräsentation des Raums entspricht der offiziellen Stadtpolitik, der Stadtplanung, den Verwaltungseinheiten und dem Stadtmarketing. Letzteres kann seit etlichen Jahren durchaus Diversität und Arrival City, ‚bunt statt braun‘, grüne Stadt oder smarte Stadt in den Vordergrund rücken. Das ist nicht zu verachten, zugleich aber erstmal nur auf der Ebene der Repräsentation des Raums einzuordnen. Die alltägliche Praxis bewegt sich notwendig in diesem offiziell existierenden Städtischen mit seinen Gebäuden, Verkehrswegen, Plätzen, Einrichtungen und Botschaften. Widersprüche im Alltagsleben gegenüber den offiziellen Absichten und Absichtserklärungen bleiben nicht aus. Der Alltag der Leute ist der Alltag von Manager*innen und Wohnungslosen, hippen Existenzgründer*innen und Illegalisierten, künstlerischen Aktivist*innen und armen Familien mit Kindern. Und dieser fällt sehr unterschiedlich aus. Manche können die Repräsentation des Raums, die Stadtpolitik oder das Marketing nutzen, andere werden gerade dadurch unsichtbar gemacht, nicht repräsentiert. Und zugleich werden viele denken, dass ‚die Mittelschicht‘ oder ‚die Bürger‘ die alltägliche Praxis am besten repräsentieren (sollten) oder sich darüber empören, dass dies nicht (mehr) der Fall ist. Die Räume der Repräsentation beherbergen dagegen bei Lefebvre das Nicht-Repräsentierte, das Andere, Abweichende, Unkontrollierbare, Ungezählte. Es handelt sich dabei um imaginierte, mögliche Räume, die in den Widersprüchen und durch sie hindurch entstehen – in den Konflikten, in den sozialen Bewegungen, in Kunst und Kultur. Dieser „Dritte Raum“ (Soja 1996) sollte weder physikalisch, noch ideologisch, noch alltagsbezogen verstanden werden. Die ortsbezogene Soziale Arbeit arbeitet sowohl ‚im Dienste‘ der Repräsentation – der offiziellen Politik, der Stadtplanung, der Verwaltung und des Marketings, wie ‚im Dienste‘ der Leute in ihrer alltäglichen Praxis
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(auch) des Ausgeschlossen- und Marginalisiert-Seins. Sie kann diesen Widerspruch weder auflösen, noch sollte sie sich als Mittlerin zwischen diesen beiden Ebenen verstehen. Vielmehr bietet gerade die ortsbezogene Soziale Arbeit die Chance, das institutionell fixierte und verwaltete Devianz-Vokabular und -Denken zu reflektieren und die Eigenschaftsbegriffe durch relationale Begriffe von Inter-Aktionen und (situierten) Konflikten zu ersetzen. Soziale Arbeit kann sich auf diese Weise und innerhalb ihrer eigenen Grenzen und Widersprüche am Wissen über Formen der Abwehr von Etikettierung und Ausschließung und Wissen über kollektive Lernprozesse, also an der lokalen Produktion jenes „dritten Raums“ beteiligen. Da gerade das Städtische historisch und aktuell ein besonderer strategischer Ort für das Aushandeln bzw. Erfinden von neuen Formen (mitunter auch transnationalisierten Formen) von Bürgerschaft bzw. für die Arbeit an der Partizipation bietet, kann sich Soziale Arbeit somit immer wieder neu durch die Widersprüche hindurch reflektieren und positionieren. Berühmt geworden ist in den späten 1970er Jahren zu Beginn der Prozesse der Neoliberalisierung Margret Thatchers Satz: „There is no such thing as a society.“ Im Verlauf von vierzig Jahren wurden die nationalen und kommunalen Sozialpolitiken umgestellt auf Aktivierung und Selbstverantwortlichmachung. Genauer betrachtet gäbe es ohne die vielzähligen Aktivitäten gerade auch der Armen, Prekarisierten und Marginalisierten, der working poor und der Arbeitslosen vielleicht tatsächlich keine Gesellschaft und kein Städtisches. Insofern das Städtische der Ort ist, an dem Institutionen und Akteur*innengruppen zusammentreffen und eine lokal spezifische Form des ‚Zusammengeworfenseins‘ bilden, kann ortsbezogene Soziale Arbeit – Aufsuchende Arbeit, niedrigschwellige Arbeit, Street Work und Gemeinwesenarbeit – in der lokalen Konstellation mit all ihren Konflikten für das jeweilige Kräfteverhältnis prägend sein. Damit geraten hegemoniale Theorieangebote der Sozialen Arbeit ins Wanken: Das betrifft erstens das ‚Soziale Probleme-Denken‘, und zweitens die Vorstellung von Sozialer Arbeit als ‚Menschenrechtsprofession‘ und das Tripelmandat. Zum ersten: Die Wahrnehmung der alltäglichen Arbeit an sozialer Ausschließung und der Arbeit an der Partizipation, die Leute eben nicht im Modus von Repräsentation erbringen, da sie etwa von Rechten, Eigentum, Sicherheit oder Sprache ausgeschlossen sind, zeigt genau ihre Fähigkeit zur Artikulation in der Nichtrepräsentation. Diese Praxen markieren keine ‚sozialen Probleme‘ sondern (mehr oder weniger erfolgreiche) Lösungsversuche (Schirilla 2016, S. 11). Zum zweiten: Soziale Arbeit beschreibt sich unter dem Selbstanspruch der Menschenrechtsprofession und des Tripelmandats als autonom handelnde, unterstützende und zugleich anwaltschaftlich tätige Instanz und Profession.
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Damit blendet sie den strukturellen Widerspruch aus, der sie als Institution erst in Erscheinung treten lässt. Die Soziale Arbeit ist eben selbst ein Terrain der Auseinandersetzung über das Gesellschaftliche als „Raum, in dem die Konflikte zwischen rivalisierenden Interpretationen von Bedürfnissen der Menschen ausgetragen werden“ (Fraser 1994, S. 241). Insofern geht es bei den Konflikten um Rechte, die von jenen geführt werden, die ‚nicht gezählt‘ werden, nicht um abstrakte Menschenrechte. Es geht konkret um das Recht, sich nicht vertreiben zu lassen, das Recht, wenn nötig Grenzen zu überschreiten, aus dem ländlichen Raum in die Metropole zu gehen oder in ein anderes Land, auf einen anderen Kontinent, das Recht, trotz Gentrifizierung in der Mitte des Quartiers zu bleiben, sich trotz fehlender sozialer Rechte eine Gesundheitsversorgung oder eine Schulbildung für die Kinder zu organisieren, oder wie in der Ethnografie von Alice Goffman präzise herausgearbeitet, das Recht, die Zusammenarbeit mit der Polizei zu verweigern, um der permanenten Diskriminierung und den Stigmatisierungen etwas entgegenzustellen. Ortsbezogene Soziale Arbeit kann sich nicht selbst beauftragen, sich ‚durch eigenen Willen‘ als Profession diesen Praxen anzuschließen. Sie bewegt sich in einem Arbeitsfeld, in dem sich Menschen in ihrem Alltag viel Arbeit machen, um solche Rechte hervorzubringen. Sie ist aber zugleich institutionalisierter Teil dieser Konflikte und kann sich dem nicht entziehen. Aber sie kann ein Verständnis davon entwickeln, dass über die (hegemoniale) Repräsentation des Raums und über die alltägliche Praxis hinaus, neue Formen von Demokratie, jenseits der repräsentativen Demokratie, entstehen können. Dazu braucht es weniger des Paternalismus, des Besser-Wissens und der Pädagogisierung und mehr ihrer Aufmerksamkeit und Reflexionsfähigkeit. Und sie braucht eine Bereitschaft zur Herrschafts- und Institutionenkritik. So kann ortsbezogene Soziale Arbeit zumindest abwehren, Teil einer die alltägliche und kollektive Arbeit an Ausschließung und die Arbeit an Partizipation behindernden oder gar verhindernden Sozialpolitik zu sein und sich zumindest partiell als Teil einer hilfreichen sozialen Infrastruktur verstehen und insofern auch den Dritten Raum in ihrem professionellen Handeln mitzudenken.
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Ellen Bareis (Ludwigshafen), studierte Gesellschaftswissenschaften in Frankfurt am Main. Lehrt und forscht an der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen. Schwerpunkte: Gesellschaftliche Ausschließung, Partizipation, Transformationen des Städtischen, Alltag und soziale Kämpfe, Produktion des Sozialen from below.
Situationen, Settings und Interaktionen
Orte und Situationen: Vom Suchen und Kontaktaufbau auf der Straße Caroline Haag
1 Einleitung Kontaktaufbau zwischen Aufsuchender Sozialarbeit und den jeweiligen Zielgruppen kann in verschiedenen Settings geschehen. Teams der Aufsuchenden Sozialarbeit haben z. T. Büroräume, in denen sie von ihren Zielgruppen besucht werden, die dort Beratungsangebote in Anspruch nehmen oder Büroinfrastrukturen nutzen. Das eigentliche Aufsuchen findet auf der Straße bzw. im öffentlichen Raum statt.1 Die nachfolgenden Überlegungen und Zitate basieren auf Interviews, die die Autorin mit zwei Teams der Aufsuchenden Sozialarbeit in zwei Deutschschweizer Städten geführt hat (Team Neustart und Team Löwenzahn). Das Feld der Aufsuchenden Sozialarbeit ist in der Deutschschweiz auch unter der Bezeichnung Gassenarbeit bekannt. Die frühen Anfänge dieses Handlungsfeldes sind in den Jugendunruhen der 1980er Jahre zu finden, wobei Gassenarbeit im weiteren historischen Verlauf vor allem von den großen offenen Drogenszenen schweizerischer Städte der 1990er Jahre geprägt wurde (vgl. Maurer 1992; Grob 2009). Aus dieser Tradition der Drogen- und Obdachlosenhilfe entstanden auch das Team Neustart und das Team Löwenzahn. Beide Teams bestehen seit
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Aufsuchen kann sich auch auf halb-öffentliche oder sogar private Räume erstrecken. Diese Formen werden von diesem Artikel jedoch nicht weiter aufgegriffen.
C. Haag (*) Institut für Soziale Arbeit und Räume, FHS St.Gallen, St. Gallen, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Diebäcker und G. Wild (Hrsg.), Streetwork und Aufsuchende Soziale Arbeit im öffentlichen Raum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28183-0_5
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mehreren Jahrzehnten und sind fest etablierte Akteure innerhalb des jeweiligen kommunalen sozialen Netzes. Beide werden zu einem Teil von öffentlichen Geldern subventioniert, müssen ihren Bedarf aber zusätzlich mit Spendengeldern decken. Beide Teams sind in der Aufsuchenden Sozialarbeit, der Einzelberatung im Büro, der Öffentlichkeits- und Projektarbeit tätig. Die beiden Teams sind danach ausgesucht worden, dass sie hinsichtlich ihrer Grundhaltungen den größtmöglichen Kontrast deutschschweizerischer Gassenarbeit darstellen. Das Team Neustart ist stark kommunal-politisch geprägt bzw. beeinflusst und pflegt eine enge Kooperation mit der Polizei. Demgegenüber ist das Team Löwenzahn zwar in der praktischen Tätigkeit ebenfalls kommunal ausgerichtet, aber durch seine organisationale Unabhängigkeit weniger kommunal-politisch beeinflusst. Die Grundhaltung des Teams Löwenzahn ist in der überregionalen Charta der Aufsuchenden Sozialarbeit verankert und schließt bspw. ordnungspolitische Aufträge durch Dritte kategorisch aus (vgl. Groupe Hors-murs du GREAT und FAGASS Fachgruppe Aufsuchende Sozialarbeit/Streetwork 2005). In diesem Artikel geht es zunächst um den Kern der aufsuchenden Tätigkeit – dem Aufsuchen der Zielgruppen auf der Straße bzw. im öffentlichen Raum. Dabei werden konkrete Praktiken des Suchens und des Kontaktaufbaus aufgezeigt und kontextualisiert. Anhand dieser konkreten Praktiken wird deutlich, dass eine aufsuchende Tätigkeit einerseits auch die Wahrnehmung von Stadtentwicklungsprozessen umfasst und andererseits eigene Raumrationalisierungen transportiert.
2 Drinnen und Draußen „Wenn ich draußen bin, dann hat das sehr oft so ein bisschen auch einen eindringenden Charakter. Die Leute halten sich im öffentlichen Raum auf, halten sich dort zum Teil stundenlang auf, konsumieren dort Bier oder weiß ich nicht was, und es ist also mehr als nur Sich-Aufhalten, sondern es ist ein Stück weit so tagsüber ihr Wohnzimmer, da sind sie zu Hause, da treffen sie sich, da hängen sie zusammen ab. Und wenn ich dann als definierter Sozialarbeiter dazukomme, dann dring ich ein Stück weit immer da halt auch ein und muss immer damit rechnen, dass ich störe.“ (Interview mit Jan, 23.07.2012, 02_i01, S. 7)
In der Praxis Aufsuchender Sozialer Arbeit spielt das Verhältnis zwischen den beiden eingangs erwähnten Settings Büro und öffentlicher Raum eine wichtige Rolle. Wie beide Settings ins Verhältnis gesetzt werden, hat Auswirkungen auf die konkrete Tätigkeit des Aufsuchens im öffentlichen Raum. Die Straße bzw. der öffentliche Raum kann als Draußen den Gegenpol zum Drinnen des Büros bilden. So berichtet bspw. Jan vom Team Löwenzahn, dass er das Büro als seinen
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Machtraum sieht, den er auch sehr bewusst gestaltet. Als klarer Hausherr hat er dort die Regel- und auch Ausschlusskompetenz inne. Der öffentliche Raum stellt für ihn hingegen eher das Wohnzimmer seiner Klient*innen dar. Ein teilweise freiwillig gewähltes, teilweise erzwungenes Wohnzimmer, das zunehmend ordnungspolitisch reguliert wird. In diesem Wohnzimmer hat Jan nicht das Hausrecht und dementsprechend versucht er sich im Draußen nicht aufzudrängen, sondern mit einer abwartenden Zurückhaltung zu agieren. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass Jan mit dem Ziel auf die Straße geht, sich zu zeigen und sich für seine Zielgruppen anzubieten. Die Klient*innen können dann von seinem Angebot, das gewissermaßen durch seine physische Präsenz ausgedrückt wird, Gebrauch machen oder auch nicht. Die abwartende Zurückhaltung zeigt sich auch darin, dass Jan ihm unbekannte Personen nicht von sich aus anspricht, sondern auf eine Kontaktaufnahme ihrerseits wartet. Das Team Neustart hingegen verfügt über eine Liste von Orten, die regelmäßig aufgesucht werden sollen. Diese Liste ist auf kommunaler Ebene von verschiedenen Institutionen gemeinsam erarbeitet worden. Es handelt sich sowohl um bevorzugte Aufenthaltsorte und Treffpunkte der Zielgruppen, als auch um kommunalpolitisch aufgeladene Orte, denen gegenüber der Stadtbevölkerung und Tourist*innen eine Visitenkartenfunktion zugeschrieben wird (Bsp. Bahnhof). Zwischen den Institutionen besteht ein regelmäßiger Austausch darüber, welche Gruppen sich aktuell an welchen Orten aufhalten. Dementsprechend können wochenweise Schwerpunkte im Aufsuchen bestimmter Orte festgelegt werden. Die aufzusuchenden Orte sind also bis zu einem gewissen Grad vorgegeben, gleichzeitig ist die Zielgruppe beim Team Neustart sehr breit und umfasst grundsätzlich alle Nutzer*innen des öffentlichen Raums. Das eigentliche Suchen der Zielgruppe entfällt hier fast völlig, da die aufzusuchenden Orte mehr oder weniger stark vordefiniert sind und potenziell alle Nutzer*innen dieser Orte Zielpersonen der Aufsuchenden Sozialarbeit sind. Diese Form der ortsorientierten Ausrichtung wird von einzelnen Fachkräften zwar durchaus kritisiert, aber dennoch mitgetragen. Dabei orientieren sich die Sozialarbeitenden an einer vermittelnden Rolle (Mediator*in). Die Settings Büro bzw. öffentlicher Raum können als Rationalisierungen verstanden werden, die normativ aufgeladen sind. Rationalisierungen verweisen darauf wie Räume konzipiert und gedacht werden (vgl. Kessl und Reutlinger 2009). Die hier vorgestellten Konzeptionen von Büro und öffentlichem Raum sind beide normativ hinterlegt und somit nicht selbsterklärend. Vor allem der Begriff öffentlicher Raum ist in der Vergangenheit diesbezüglich kritisiert worden (vgl. Belina 2006). Die Konzeption von öffentlichem Raum als Wohnzimmer der Zielgruppen unterscheidet sich grundsätzlich von einer Konzeption des
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öffentlichen Raums als Gut, dessen Benutzung an ein – im kommunalen Rahmen definiertes – normkonformes Verhalten geknüpft wird. Damit sind keine strafbaren Handlungen gemeint, sondern sogenannte „incivilities“ (vgl. z. B. Boettner und Güntner 2016, S. 168). Allein mit dem Verweis im öffentlichen Raum zu agieren, ist noch keine eindeutige fachliche Position verbunden. Die Konzeption von öffentlichem Raum muss hierfür zunächst ausbuchstabiert, d. h. im Team offen diskutiert, und anschließend nach außen transparent gemacht werden. Die Verhältnisbestimmung zwischen einem Drinnen (Büro) und Draußen (Straße, öffentlicher Raum) hängt zusammen mit dem eigenen Selbstverständnis, der Konzeption von öffentlichem Raum und den jeweiligen organisationalen Bedingungen. Darüber hinaus beeinflusst sie mit welcher Haltung und mit welchem Fokus wer wo warum wie aufgesucht wird. (Auf)Suchen geschieht auf Basis dieser Verhältnisbestimmung Büro-öffentlicher Raum bzw. Drinnen-Draußen und mit einer bestimmten Zielrichtung: in den erwähnten Beispielen mehr zielgruppenfokussiert oder mehr ortsorientiert (siehe auch Dirks et al. 2016).
3 Suchen und Beobachten Parallel zum (Auf)Suchen der Zielgruppen für direkten face-to-face-Kontakt gibt es jedoch noch eine andere Praktik, die keinen direkten Kontakt mit den Zielgruppen als Ziel hat: das seismografische Aufsuchen. Im Interview berichtet Christina vom Team Löwenzahn über die verschiedenen Formen des Suchens und Beobachtens: „Ich gehe verschieden raus. Also das eine ist: Ich gehe gezielt raus an Orte, bei denen ich weiß, „Dort finde ich Leute, dort sind Leute!“, und ich gehe an Orte, bei denen ich aber auch weiß, „Dort gehe ich einfach schauen, was passiert an diesen Orten?“, also so seismographisch unterwegs sein, Veränderungen mitkriegen, das ist ein großer Bestandteil und sehr wichtig, dass wir sehen, was in dieser Stadt passiert.“ (Interview mit Christina, 23.09.2013, 02_i04, S. 4). Im weiteren Verlauf des Interviews konkretisiert Christina das seismografische Aufsuchen noch weiter: „[D]as ist Herumlaufen, das ist Herumlaufen, schauen, schauen, schauen, schauen. Und wenn man merkt, ‚Ah, da, da tut sich etwas, da ist jetzt wirklich etwas am Sich-Entwickeln‘, dann muss man reden, also dann muss man mit der Kioskfrau reden, in die Beizen [Kneipen, Bars, Restaurants, Anm. d. Verf.] gehen und fragen (…) ‚Hat sich hier etwas verändert? Sind die neu hier? Sind die schon immer hier gewesen?‘“ (Interview mit Christina, 23.09.2013, 02_i04, S. 18)
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Seismografisches Arbeiten bedeutet für Christina draußen unterwegs zu sein, in der Stadt herumzulaufen und bauliche aber auch gruppenspezifische Veränderungen wahrzunehmen. Das seismografische Arbeiten hat dementsprechend für sie auch hauptsächlich mit Veränderungen zu tun, die nicht punktuell, sondern nur über längeres regelmäßiges Beobachten erfasst werden können. Dabei stößt Christina auf große und kleine Veränderungen, wobei das Verschwinden einer Gruppe/Szene von einem Ort eine große Veränderung darstellt, deren Gründe sie zu erfahren sucht. Neben gruppenspezifischen Veränderungen ist beim seismografischen Aufsuchen vor allem das Beobachten baulicher Veränderungen von Bedeutung. Insbesondere Umgestaltungen haben z. T. direkte Auswirkungen auf Zielgruppen der Aufsuchenden Sozialarbeit, indem sie „mehr oder weniger bewusst öffentliche[n] Raum unbewohnbar“ (Interview mit Jan, 23.07.2012, 02_i01, S. 12) machen. In diesem Zusammenhang formuliert das Team Löwenzahn für sich selbst den Anspruch wach zu bleiben. Was bedeuten die beobachteten Veränderungen für die Klient*innen? Wie haben diese vielleicht schon auf welche Entwicklung reagiert? Gibt es für die Aufsuchende Sozialarbeit noch Mitsprachemöglichkeiten? Dabei bleibt es nicht allein bei der Beobachtung und Wahrnehmung, sondern das Beobachtete wird in Prozesse der Stadtentwicklung eingeordnet und es werden Möglichkeiten für aktive Lobbyarbeit gesucht: „[W]ir versuchen aber zunehmend (…), eben einerseits so wach zu sein, dass wir frühzeitig die Veränderungen vorweg erkennen, oder dass wir sogar in Gremien drin sind, die mit Stadtentwicklung zu tun haben.“ (Interview mit Jan, 23.07.2012, 02_i01, S. 13) Dieser Einbezug der Aufsuchenden Sozialarbeit in Stadtentwicklungsprozesse bietet die Gelegenheit Lobbyarbeit und Öffentlichkeitsarbeit für die jeweilige Zielgruppe zu betreiben. Dies kann eine Form darstellen, im Sinne einer (reflexiven) Parteilichkeit an den Lebensbedingungen der Klient*innen zu arbeiten (vgl. Krisch et al. 2011, S. 27 ff.; Bundesarbeitsgemeinschaft Streetwork und Mobile Jugendarbeit 2018, S. 7) wie es im Kontext lebensweltorientierter Ansätze gefordert wird (vgl. u. a. Krafeld 2004). Jedoch ist der Einsitz von Sozialarbeitenden in Gremien der Stadtentwicklung längst noch keine Selbstverständlichkeit, sondern muss meist im kommunalen Kontext projektabhängig immer wieder neu ausgehandelt werden. (Auf)Suchen wird in verschiedenen Formen praktiziert. Als Ergänzung zum gezielten Aufsuchen der Zielgruppen an ihren Treff- und Aufenthaltsorten hat seismografisches Aufsuchen zum Ziel Veränderungen im Handeln von Gruppen und Szenen zu bemerken und Veränderungen auf Stadtentwicklungsebene wahrzunehmen. Das Ziel besteht dann darin, diese Beobachtungen und Veränderungen mit Blick auf die Zielgruppen einzuordnen und sich daraus fachliche Interventionsmöglichkeiten zu erarbeiten.
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4 Kontakt aufbauen und Räume herstellen Die Aufsuchende Sozialarbeit orientiert sich an verschiedenen Grundsätzen, „handlungsleitenden Arbeitsprinzipien“ (Bundesarbeitsgemeinschaft Streetwork und Mobile Jugendarbeit 2018, S. 5), bzw. einer „Berufsethik“ (Groupe Hors-murs du GREAT und FAGASS Fachgruppe Aufsuchende Sozialarbeit/ Streetwork 2005, S. 5). Als solche gelten u. a. ein professionelles Rollenverständnis, Freiwilligkeit des Kontakts, Niedrigschwelligkeit und Flexibilität. Wie können diese Prinzipien in der Praxis ausgestaltet werden und welche Praktiken sind konkret damit verbunden? Drei Praktiken sollen diesbezüglich im Folgenden fokussiert werden: non-verbale Kommunikation, physisches Positionieren und die Herstellung von flüchtigen Beratungsräumen.
4.1 Non-verbal kommunizieren Interviewerin: „Wie merkst du das, wenn jemand keinen Kontakt möchte?“ Christina: „Nonverbale Kommunikation, da bin ich extrem geschult drauf. Also da habe ich Schulungen gemacht, sowieso, dort habe ich eine ganz feine Antenne und das kriege ich sofort mit.“ Interviewerin: „Kannst du mir das mal an einem Beispiel beschreiben, wie so eine Situation –“ Christina: „Es sind ganz kleine Bewegungen, also das ist ein Abwenden. Mich vorher anschauen, in die Augen schauen und dann wegdrehen, das ist ein 100 Pro[zent] ‚Lass mich in Ruhe!‘.“ (Interview mit Christina, 23.09.2013, 02_i04, S. 7)
Christina erklärt an dieser Stelle wie sie die Kontaktbereitschaft ihrer Klient*innen wahrnimmt ohne mit diesen ein Wort zu wechseln. Dabei betont sie den Stellenwert non-verbaler Kommunikation und Körpersprache, auf die sie besonders achte. Christina fokussiert ihre Aufmerksamkeit für non-verbale Kommunikation schon bevor sie an den eigentlichen Ort der Klient*innen kommt: „Also ich erfasse zuerst von weitem schon die Situation, also ich habe die Situation schon lang erfasst, bevor ich dort stehe. Ich erfasse nicht erst die Situation, wenn ich am Ort bin, und (…) ich scanne alle ab eigentlich, oder. Ja, das ist wirklich so (macht Scan-Geräusche), und ich sehe relativ schnell, wer sich wegdreht oder wer mich mit leuchtenden Augen anschaut, ‚Ah!‘. Also, ich gehe dann meistens zu demjenigen hin, der schaut und wenn gar niemand schaut, dann sitze ich ein-
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fach hin. (…) Es ist enorm wichtig in dieser Arbeit, dass man nicht übergriffig ist, weil wir wirklich das auf die Fahne schreiben, dass wir parteilich und akzeptierend arbeiten, und wenn du dir das auf die Fahne schreibst, dann musst du diese Haltung leben, sonst geht es nicht, sonst [hast du; Anm. d. Verf.] einen schlechten Stand auf der Gasse.“ (Interview mit Christina, 23.09.2013, 02_i04, S. 7)
Eine solche Situation kann sich in Christinas Arbeitsalltag nur dann ergeben, wenn sie auf ihr bereits bekannte Personen(gruppen) trifft. Auf unbekannte Personen geht das Team Löwenzahn nicht direkt zu, sondern wartet in der Regel auf Kontaktaufnahme ihrerseits. Dabei vertraut das Team Löwenzahn auf Mund-zu-Mund-Propaganda innerhalb und zwischen den verschiedenen Personengruppen und Szenen. Bevor Christina in den direkten Kontakt mit den ihr bekannten Klienten geht, fokussiert sie schon ihre Aufmerksamkeit auf die Situation und versucht das Zusammenspiel von Personen, Stimmungen und Ort zu verstehen und einzuordnen. Danach richtet sich ihr weiteres Handeln, d. h. zu welcher Person sie hingeht, wen sie anspricht, wo sie sich wie körperlich positioniert und wie sie insgesamt auftritt. Dass Christina ihr weiteres Handeln an der non-verbalen Kommunikation ihrer Klient*innen ausrichtet, erscheint für sie selbstverständlich und durch ihre fachliche Haltung gesetzt. Indem Christina die non-verbal kommunizierte Kontaktablehnung akzeptiert, handelt sie nach dem Grundsatz der Freiwilligkeit. Christinas Rollenverständnis als „Gast in der Lebenswelt ihrer Adressat*innen“ (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft Streetwork und Mobile Jugendarbeit 2018, S. 7) ist kongruent mit ihrer Handlung, indem sie den Kontakt lediglich anbietet und bei den geringsten Anzeichen von Ablehnung keinen direkten Kontakt anstrebt. Grundsätzliche Akzeptanz der Zielgruppen bzw. Klient*innen geht jedoch auch hier mit einem Entwicklungsauftrag einher (vgl. z. B. Wild 2013). Im hier beschriebenen Rollenverständnis muss dieser Auftrag aber zwingend von der betreffenden Person selbst gegeben werden, um von den Sozialarbeitenden bearbeitet werden zu können.
4.2 Physisches Positionieren „[U]nd dann ist es so, dass wenn ich jetzt mit dem Velo [= Fahrrad; Anm. d. Verf.] unterwegs bin, dann schaue ich auch, wenn ich an einen Ort komme, wo sich die Leute aufhalten, dass ich dann vielleicht die nicht grad umzingle, also nicht das Velo irgendwie so an einen Ort stelle, wo dann niemand mehr durchkommt oder
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C. Haag vielleicht das Velo nicht grad unmittelbar am Ort abstelle, sondern vielleicht noch ein paar Schritte weiter weg, dass es nicht so wirkt wie als würde ich jetzt grad auffahren, oder, das ist dann wirklich so wie die Polizei hopp hopp zack zack oder Türe auf und alle sind überrascht. Also, dass ich auch dort eigentlich auf meine Haltung achte, also auf meine Körperhaltung auch. [Es ist; Anm. d. Verf.] mir dort auch eben grad so wichtig, dass wir nicht irgendwie angsteinflößend wirken oder wie so kleine Spione oder eben Fahnder oder so. Also, dass wir auch eine gewisse Legerness also so eine kollegiale Haltung haben und von dem her nicht einfach voll grad einfahren.“ (Interview mit Rahel, 25.07.2013, 02_i02, S. 9)
Rahel beschreibt hier, wie sie auf eine ihr bekannte Personengruppe zugeht, wenn sie mit ihrem Fahrrad unterwegs ist. Rahel möchte vermeiden, dass das Fahrrad von den Klient*innen als einengende Barriere oder Hindernis angesehen wird. Aus diesem Grund stellt sie ihr Fahrrad sehr bewusst etwas weiter weg und nähert sich dann zu Fuß. Das Fahrrad als materieller Gegenstand beeinflusst den Raum und gestaltet ihn mit. In der Anordnung von Personen und Gegenständen an einem Ort entsteht ein Raum, der potenziell als bedrohlich oder zumindest unangenehm empfunden werden könnte. Rahel möchte eine solche Wahrnehmung vermeiden und wählt deshalb eine offenere Anordnung. In der Konsequenz stellt sie ihr Fahrrad bewusst weiter weg. Darüber hinaus thematisiert Rahel auch ihre Körperhaltung. Legerness und kollegiale Haltung sind für sie zielführender als voll einfahren und einen Überraschungseffekt erzeugen. Ähnlich wie bei der non-verbalen Kommunikation wird hier die Situation schon aus einiger Distanz erfasst. Das Beobachtete zieht unmittelbar bestimmte Praktiken der Sozialarbeiterin als Konsequenz nach sich – in diesem Fall eine möglichst offene und nicht einengende Raumherstellung durch die Positionierung der Fahrräder, sowie ein entspanntes körperliches Auftreten. Mit beiden Praktiken möchte Rahel vermeiden jemanden zu überraschen. Ähnlich wie Christina agiert sie mit einem Rollenverständnis als „Gast in der Lebenswelt der Adressat*innen“ (Bundesarbeitsgemeinschaft Streetwork und Mobile Jugendarbeit 2018, S. 7). Im Sinne der Freiwilligkeit macht sie sich sicht- und ansprechbar ohne sich aufzudrängen. Dieses Agieren erfordert jedoch eine Sensibilität für die eigene Raumherstellung. Im Positionieren und Handeln werden Räume an Orten hergestellt (vgl. Löw 2001; Kessl und Reutlinger 2010). Ebenso beeinflussen das Positionieren und die eigenen Handlungen die Raumwahrnehmungen anderer Personen – in diesem Fall insbesondere die der Klient*innen. Eine raumsensible Wahrnehmung und Ausrichtung des eigenen Handelns garantieren jedoch noch kein fachlich abgestütztes Handeln. Das eigene Rollenverständnis (z. B. Gast),
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die fachlichen Grundsätze (z. B. Freiwilligkeit) und das raumsensible Handeln (z. B. Fahrrad weiter wegstellen, entspannte Körperhaltung) müssen hierfür aufeinander aufbauen und sollten sich nicht widersprechen.
4.3 Flüchtige Beratungsräume herstellen „(…) Wir gehen in den Machtraum vom anderen, also, sie kommen nicht zu uns ins Büro, wo unser Machtraum ist, sondern wir gehen zu ihnen. Wir gehen dorthin, wir sagen mal Grüezi, wir sitzen hin, die Leute kommen vorbei, kommen Sali sagen. Wenn sie etwas haben, kommen sie gerade sagen, ‚Ich habe ein Problem, kommst du schnell mit?‘, und dann geht man schnell ein bisschen auf die Seite.“ (Interview mit Christina, 23.09.2013, 02_i04, S. 4)
Mit ihrer körperlichen Präsenz im öffentlichen Raum machen die aufsuchenden Sozialarbeitenden ein Angebot, das angenommen oder abgelehnt werden kann. Diese Niedrigschwelligkeit kann zu kurzen Einzelberatungen führen, die Christina hier im Interview andeutet. In einer solchen Situation geht Christina mit der Person auf die Seite, sodass andere das Gespräch nicht mithören können. So entsteht ein flüchtiger privater Beratungsraum im öffentlichen Raum, der nach kurzer Zeit auch wieder aufgelöst wird, wenn sich Christina und die jeweilige Person wieder zur Gruppe bewegen bzw. ihr Gespräch beenden. Wann und wie ein solches Einzelberatungssetting im öffentlichen Raum beendet wird, kann ebenfalls über subtile non-verbale Kommunikation entschieden werden. In der Aufsuchenden Arbeit sind die Sozialarbeitenden in der Regel als Tandem unterwegs. Sind beide Fachpersonen in Beratungsgesprächen aktiv, kann eine Verständigung häufig nur non-verbal funktionieren. Über Beobachtung und Blickkontakt verständigen sich die Sozialarbeitenden darüber, ob ihre Gespräche beendet und sie bereit sind, die Gruppe zu verlassen. Mit dem Verlassen der Gruppe wird der flüchtige Beratungsraum wieder aufgelöst. Diese Form der Teamarbeit erfordert u. a. ein gemeinsames Verständnis darüber, wie lange das Aufrechterhalten der temporären oder auch flüchtigen Beratungsräume in der jeweiligen Situation fachlich sinnvoll erscheint. Ein solches gemeinsames Verständnis kann bspw. über eine Reflexion der betreffenden Personen direkt im Anschluss erarbeitet werden oder auch im Sinne einer Fallbesprechung im Team stattfinden. Hier müsste dann u. a. geklärt werden, was mit der Herstellung dieser flüchtigen Beratungsräume im besten Fall erreicht werden kann, wann ein solches Setting nicht zielführend ist und welche Alternativen bestehen. Ebenso gilt es potenzielle Problematiken des Settings an sich zu thematisieren. So ist die Anonymität bspw. nur teilweise gewahrt, da die Personen weiterhin öffentlich
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sichtbar sind. Zudem entsteht ein solcher flüchtiger Beratungsraum spontan und ohne Vorbereitungsmöglichkeit der Sozialarbeitenden. Weiterführende Informationen oder Kontaktadressen müssen dann entweder spontan abrufbereit sein, in der Situation recherchiert werden oder es muss auf Beratungszeiten im Büro verwiesen werden. Die Rolle als Gast ist sehr viel niederschwelliger als die Rolle des Hausherrn im eigenen Machtraum. Wo Hausregeln gelten und deren Einhaltung auch eingefordert wird, ist die Schwelle für Klient*innen um einiges höher, wenn sie z. B. das Angebot der Beratung nutzen wollen (vgl. Hofer 2016, S. 140). Eine Beratung im öffentlichen Raum kann als Versuch gelesen werden, dieses Dilemma zu umgehen – allerdings mit den beispielhaft genannten Einschränkungen, die ein solcher flüchtiger Beratungsraum mit sich bringt.
5 Fazit Beim Aufsuchen – hier verstanden als Suchbewegung im Draußen des öffentlichen Raums mit dem Ziel direkten Kontakt mit den Zielgruppen herzustellen oder seismografisch zu beobachten – sind Sozialarbeitende an Raumherstellungen beteiligt (vgl. u. a. Fritsche und Wigger 2013; Dirks et al. 2016). Raumherstellungen gehen mit Konzeptionen einher, die auch als Raumrationalisierungen gefasst werden können (vgl. Kessl und Reutlinger 2009). Dies zeigt sich bspw. darin, dass das Büro als eigener Machtraum verstanden wird, der öffentliche Raum hingegen als Machtraum der Klient*innen oder auch als Wohnzimmer der Zielgruppen – und beide Rationalisierungen ziehen spezifische Praktiken nach sich. Darüber hinaus werden Räume über die Positionierung von Körpern und Materialitäten hergestellt (vgl. Löw 2001). So treten die Sozialarbeitenden aus ihrem spezifischen Rollenverständnis heraus in verbale und non-verbale Interaktion mit ihren Zielgruppen oder nehmen eine beobachtende Haltung ein. Zudem positionieren sich die Sozialarbeitenden selbst und ggf. vorhandene Gegenstände mit Bezug zu den Klient*innen an konkreten Orten. Und schließlich schaffen sie für ein paar Minuten quasi-private Einzelberatungssettings im öffentlichen Raum. Non-verbale Kommunikation, physisches Positionieren und die Herstellung flüchtiger Beratungsräume können dabei als „taktisch-kommunikative Anpassungsleistungen“ (Diebäcker 2019, S. 544) verstanden werden, die konstitutiv für das Suchen und den Kontaktaufbau auf der Straße sind.
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Diese Praktiken erfordern ein hohes Maß an Selbstreflexion und Sensibilität, um folgende Fragen beantworten zu können: Welche Vorstellungen von öffentlichem Raum (oder der Straße) habe ich? Welche Rollen spielen dabei aufsuchende Sozialarbeitende und ihre Zielgruppen? Und nicht zuletzt: Welche Räume möchte und kann ich mit meinem Handeln (mit) herstellen? Kontaktaufbau und Raumherstellung geschehen dabei nicht neutral, sondern basieren auf einer bestimmten Haltung bzw. auf bestimmten Vorstellungen von öffentlichem Raum, den Zielgruppen und der eigenen Rolle. Eine Reflexion dieser Vorstellungen (auch im Team und gegenüber Externen) kann wesentlich zur Klärung von (unterschiedlichen) fachlichen Positionen und damit verbundenen adäquaten und nicht adäquaten Praktiken im Aufsuchen beitragen. Zudem können damit eventuell vorhandene Widersprüche aufgezeigt werden, die bspw. entstehen, wenn die fachlich abgestützten Konzeptionen der Sozialarbeitenden von den Erwartungen der Trägerschaft und anderer Akteur*innen abweichen. Über das Suchen und Beobachten können auch Entwicklungen in den Blick geraten, die sich jenseits des direkten Kontakts mit den Zielgruppen abspielen. Über seismografisches Aufsuchen kann u. a. Stadtentwicklung beobachtet werden, die massive Konsequenzen für die Klient*innen mit sich bringen kann. Diese Ebene der Stadtentwicklung stellt ein wichtiges Interventionsfeld dar, um an den Lebensumständen arbeiten zu können und bspw. zunehmender Stigmatisierung und Marginalisierung entgegenzuwirken. In diesem Sinne erstrecken sich Suchen und Kontaktaufbau im Kontext Aufsuchender Sozialarbeit nicht nur auf die direkten Zielgruppen, sondern auch auf die Ebene stadtpolitischer Entwicklungen. Damit sind Suchen und Kontaktaufbau als sozialraumsensible Praktiken zu verstehen, die auch zur Thematisierung der Umkämpftheit von (öffentlichen) Räumen beitragen können.
Literatur Belina, B. 2006. Raum, Überwachung, Kontrolle. Vom staatlichen Zugriff auf städtische Bevölkerung. Münster: Westfälisches Dampfboot. Boettner, J., und S. Güntner. 2016. Öffentlicher Raum und Zugehörigkeit. In Aktuelle Leitbegriffe der Sozialen Arbeit. Ein kritisches Handbuch, Bd. 3, Hrsg. J. Bakic, M. Diebäcker, und E. Hammer, 161–175. Wien: Löcker. Bundesarbeitsgemeinschaft Streetwork und Mobile Jugendarbeit. 2018. Fachliche Standards 2018. Streetwork und Mobile Jugendarbeit. https://irp-cdn.multiscreensite. com/5c840bc2/files/uplo-aded/Fachstandards_BAG_2018_final.pdf. Zugegriffen: 19. Mai 2019.
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Diebäcker, M. 2019. Aufsuchende Soziale Arbeit als sozialraumbezogenes Handlungsfeld. In Handbuch Sozialraum. Grundlagen für den Bildungs- und Sozialbereich, Hrsg. F. Kessl und C. Reutlinger, 539–556. Wiesbaden: Springer VS. Dirks, S., C. Fritsche, M. Lippelt, und C. Reutlinger. 2016. Zur pädagogischen Herstellung städtischer Räume zwischen Ort und Klient*in. Empirische Einblicke und theoretische Rückschlüsse. Zeitschrift für Pädagogik 62 (1): 20–33. Fritsche, C., und A. Wigger. 2013. Soziale Arbeit und Stadtentwicklung aus reflexiv räumlicher Perspektive. In Soziale Arbeit und Stadtentwicklung. Forschungsperspektiven, Handlungsfelder, Herausforderungen, Hrsg. M. Drilling und P. Oehler, 71–85. Wiesbaden: Springer VS. Grob, P.J. 2009. Zürcher „Needle-Park“. Ein Stück Drogengeschichte und -politik 1968– 2008. Zürich: Chronos. Groupe Hors-murs du GREAT & FAGASS Fachgruppe Aufsuchende Sozialarbeit/Streetwork. 2005. Charta der aufsuchenden Sozialarbeit. http://www.avenirsocial.ch/cm_data/ Charta_Aufsuchende_Sozialarbeit.pdf. Zugegriffen: 19. Mai 2019. Hofer, M. 2016. Niederschwelligkeit und Diskriminierung. In Aktuelle Leitbegriffe der Sozialen Arbeit. Ein kritisches Handbuch, Bd. 3, Hrsg. J. Bakic, M. Diebäcker, und E. Hammer, 134–148. Wien: Löcker. Kessl, F., und C. Reutlinger. 2009. Formate des Räumlichen und Raumpolitiken: Vernachlässigte Dimensionen in der Raumforschung. In Governance der Quartiersentwicklung. Theoretische und praktische Zugänge zu neuen Steuerungsformen, Hrsg. M. Drilling und O. Schnur, 89–98. Wiesbaden: Springer VS. Kessl, F., und C. Reutlinger. 2010. Sozialraum. Eine Einführung, 2. Aufl. Wiesbaden: Springer VS. Krafeld, F.J. 2004. Grundlagen und Methoden aufsuchender Jugendarbeit. Eine Einführung. Wiesbaden: Springer VS. Krisch, R., C. Stoik, E. Benrazougui-Hofbauer, und J. Keller. 2011. Glossar Soziale Arbeit im öffentlichen Raum. Wien. https://www.wien.gv.at/gesellschaft/soziale-arbeit/pdf/ glossar.pdf. Zugegriffen: 21. Juni 2019. Löw, M. 2001. Raumsoziologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Maurer, R. 1992. Alles wird gut. Gassenarbeit in der Schweiz 1981–91. Solothurn: Nachtschatten Verlag. Wild, G. 2013. Straße und Akzeptanz. In Aktuelle Leitbegriffe der Sozialen Arbeit. Ein kritisches Handbuch, Bd. 2, Hrsg. J. Bakic, M. Diebäcker, und E. Hammer, 224–236. Wien: Löcker. Caroline Haag (St. Gallen) studierte Soziologie und Cultural Studies in Darmstadt und London. Arbeitet als Co-Leiterin des Schwerpunktes „Öffentliches Leben und Teilhabe“ am Institut für Soziale Arbeit und Räume der FHS St. Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften (CH).
Beratung und Begleitung: Professionelles Arbeiten in ungewissen Settings Gabriele Wild Beratung hat sich als Antwort auf zunehmende Unsicherheitslagen zu einem ausdifferenzierten Angebot in vielen gesellschaftlichen Funktionsbereichen entwickelt. In wenig standardisierten Settings wie der Aufsuchenden Sozialen Arbeit gibt es dennoch kaum systematische Konzepte zu spezifischen Ausformungen und Herausforderungen von Beratung und Beratungstheorie wird kaum für offene Settings rezipiert. Nichts desto trotz gilt den aufsuchenden Praktiker*innen Beratung als ein zwar nur selten herstellbares, aber besonders wertvolles Format, möglicherweise weil sich hier ein Auftrag vonseiten der Adressat*innen zeigt und somit der eigentliche Sinn der eigenen Tätigkeit spürbar wird. Dem entspricht, dass sich eine (hierarchische) Abgrenzung von Fachkräften in formalisierteren, ‚höherschwelligen‘ Beratungszusammenhängen gegenüber Beratung in offenen Settings beobachten lässt, da diese die eigene sozialarbeiterische Identität über die Tätigkeit in einer Beratungsstelle bzw. über therapeutische Zusatzausbildungen ausweisen (Knab 2016, S. 80). Die Attraktivität von Beratung für viele Professionist*innen hat wohl auch mit dem Ausmaß an Freiwilligkeit und dem zugrunde liegenden Menschenbild zu tun, das von tendenziell handlungsund veränderungsfähigen Subjekten ausgeht, in deren Lebensführung Beratung nicht direkt eingreift. Hinzu kommt, dass auch in Bezug auf berufsrechtliche und gehaltsmäßige Einstufungen von im Sozialbereich Tätigen die Frage, was Beratung und wer dazu berechtigt ist, sie auszuführen, zumindest in Österreich aktuelle Bedeutung hat. Was Begleitung als sozialarbeiterisches Angebot im Rahmen von Streetwork betrifft, lässt sich ebenso eine methodisch-konzeptionelle Unterbestimmung G. Wild (*) Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Diebäcker und G. Wild (Hrsg.), Streetwork und Aufsuchende Soziale Arbeit im öffentlichen Raum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28183-0_6
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feststellen. Ein Grund dafür könnte sein, dass darunter eine quasi subsidiäre Überbrückungshilfe und keine eigenständige professionelle Methode verstanden wird. In der Form eines unterstützenden Mitgehens zu Organisationen ist Begleitung als ein Beitrag zum Ausgleich von Machtasymmetrien zu verstehen und somit als Ausdruck einer parteilichen und akzeptierenden Haltung sowie eines professionellen Habitus lesbar. Mit einem derartigen Rollenverständnis kann Begleitung auch als Teil niederschwelliger Beratung und Unterstützung verstanden werden, als ein Begleiten im Alltag auf der Straße und in der Lebenswelt. Beide Arbeitsformen, Beratung wie Begleitung sind mit spezifischen Herausforderungen professionellen Handelns verbunden, die im folgenden Beitrag auf drei Ebenen exploriert werden sollen: Hinsichtlich der Voraussetzungen unter denen Beratungsbedingungen lebensweltlich herzustellen sind, in Bezug auf die Bedeutung und Chancen von Beziehungs- und Gefühlsarbeit und in Zusammenhang mit dem voraussetzungsreichen Ziel der Ressourcenerschließung. Schließlich soll nach den normierenden und kolonialisierenden Effekten lebensweltlich begleitender Beratung gefragt werden – eine (Selbst-)Reflexion, die gerade in Zeiten knapper werdender öffentlicher Räume mit hohem Normierungsdruck besonders angezeigt scheint.
1 Das lebensweltliche Herstellen von Beratungsbedingungen Mit niederschwelligen Angeboten sind immer kommunikative Interventionen verbunden, die unterschiedlichen Zwecken und Zielen folgen. Übliche Unterscheidungen beinhalten z. B. Informationsgespräche, Entlastungsgespräche, Sensibilisierungsgespräche, Konfliktgespräche oder eben Beratungsgespräche. In manchen Projekten bzw. Settings werden auch Gespräche, die Regeln und Sanktionen zum Thema machen, (‚Regelkommunikation‘1) bzw. Verwarnungsgespräche2 geführt.
1Dieser
Begriff wird ähnlich wie der der ‚Normverdeutlichungsgespräche‘ in der (präventiven) polizeilichen Arbeit verwendet, wurde aber auch von Projekten übernommen, deren Streetwork-Teams Beschwerden im öffentlichen Raum bearbeiten. 2Verwarnungen bzw. Sanktionen wie ‚Hausverbote‘ werden dort ausgesprochen, wo Aufsuchende Arbeit sich nicht nur auf den ( halb-)öffentlichen Raum beschränkt, sondern auch in Treffs oder Anlaufstellen vorhanden ist, in denen bestimmte Regeln gelten und insofern auch sanktioniert werden müssen. Vermittelt werden Sanktionen begründet und in der Regel nur für bestimmte Räume/Zeiten. In der offenen Jugendarbeit wird in diesem
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Beratung im Sozialwesen gilt einerseits als eine „Dienstleistung für Einzelne, Familien und Institutionen, die zur eigenständigen Klärung und Bewältigung von Themen aus dem psychosozialen bzw. materiellen Bereich verhelfen soll“ (Wendt 2017, S. 177). Beratungsgespräche sind andererseits auch persönliche Begegnungen, die zu einem Prozess der gemeinsamen Suche nach Lösungen führen, an dem Fachkraft und Klient*in gleichermaßen beteiligt sind (vgl. Schäfter 2010, S. 17). Auch wenn sich im psychosozialen Feld das Beratungsverständnis seit den 70er Jahren tendenziell weg von der Expert*innenrolle hin zu einem dialogischen, gemeinsamen Analysieren und Aushandeln von Themen und Zielen, Lösungswahl und Maßnahmen zu einer Lösungsumsetzung sowie Lösungskontrolle/-bewertung entwickelt hat (siehe dazu z. B. Wendt 2017, S. 179), sind doch gegenseitige Erwartungen und Ansprüche im professionellen Beziehungshandeln damit verbunden. Kennzeichen von Beratung sind trotz der häufig betonten ‚Freiwilligkeit‘ asymmetrische Bedingungen, wobei zwischen einer personal symmetrischen Begegnung und der funktionalen Asymmetrie aufgrund von fachlicher Expertise und Prozesskompetenz unterschieden werden kann (Widulle 2012, S. 155; bezugnehmend auf Fuhr 2003). Institutionelle Bedingungen und Settings spielen hierbei eine relevante Rolle, die Berater*in und Klient*in nicht nur mit ungleichen Initiativ- und Kontrollkompetenzen ausstatten, sondern auch als Rahmen für gesellschaftliche Aufträge und Normalitätserwartungen wirken. Durch die Wirksamkeit institutioneller Ziele bzw. organisationsbezogener Logiken wird der Beratungsprozess strukturiert, was sich u. a. auch darin zeigt, dass die Problembestimmung und -bearbeitung im Horizont der Erwartungen Dritter und verfügbarer Hilfeleistungen und Routinen erfolgt (vgl. Hollstein-Brinkmann 2016, S. 40). Mit Blick auf psychosoziale Beratung unterscheidet Nando Belardi (2017, S. 14) zwischen spezialisierter bzw. institutioneller und funktionaler Beratung. Während Beratungsarbeit in spezialisierten Institutionen mit bestimmten Leitthemen wie Schulden oder Sucht verbunden ist und dort den Hauptteil der beruflichen Aktivitäten darstellt, findet funktionale Beratung lebensweltnah auch dort statt, wo Beratung nicht primärer Auftrag ist. Mit der Betonung des funktionalen Charakters wird Beratung als allgemeine Funktion Sozialer Arbeit gefasst und meint eine bestimmte Art der weniger formalisierten Interaktion zwischen
Zusammenhang vom „Prinzip der 2.3.4. Chance“ (vgl. JUVIVO 2019) gesprochen, womit Adressat*innen immer eine Möglichkeit der Weiterentwicklung bzw. der weiteren Zusammenarbeit gelassen werden soll.
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Helfer*in und Klient*in, die verbunden mit Tätigkeiten wie Helfen, Erziehen, Betreuen, Vermitteln oder Organisieren vorkommt und damit quer zu den üblichen Handlungsfeldlogiken Sozialer Arbeit liegt bzw. auch eine Querschnittsaufgabe in Arbeitsfeldern der Pädagogik und Pflege darstellt (vgl. Belardi 2017; Widulle 2012, S. 152; Schäfter 2010, S. 20; Wendt 2017, S. 180). Beratung in der Sozialen Arbeit ist in funktionaler Hinsicht also zunächst eng auf das Begleiten oder auch das Organisieren und Vermitteln von Unterstützung bezogen und kann in der Regel weder thematisch noch zeitlich klar abgegrenzt werden. Äquivalent zu sozialpädagogischer Beratung zeichnet sich Aufsuchende Beratung durch eine Nähe zu alltäglichen Formen sozialer Interaktion aus, sowie durch ihren Bezug zum Alltag ihrer Adressat*innen3. Als eine spezifische Handlungsintention, die auf die Belebung von Alltagstechniken der Konfliktund Krisenbewältigung gerichtet ist, ist sie u. a. durch einen relativ unklar konturierten Kompetenzbereich und häufig von einer inhaltlichen Allzuständigkeit geprägt. (Galuske 2009, S. 169 f.; bezugnehmend auf Thiersch et al. 1977, S. 103 f.) Beratungshandeln auf der Straße muss sich also auf die widersprüchliche Struktur des Alltags ihrer vielfältigen Adressat*innengruppen einlassen, wodurch schon dem Anbahnen bzw. Herstellen einer Situation, die potenziell in ein (Beratungs-)Setting führen kann, ein komplexer Prozess der Identifizierung und des Vertrauensaufbaus vorangeht. Die unterschiedlichen Voraussetzungen der Begegnung in niedrig strukturierten Situationen stellen Heino HollsteinBrinkmann und Judith Knab in drei Ausprägungen dar: Sie unterscheiden 1) zwischen Erstkontakt und ‚bereits Kontakten‘, 2) zwischen Kontakt auf Initiative Klient*in und Kontakt auf Initiative Berater*in und 3) zwischen einer informellen Struktur und einem (relativ) definierten Setting, wodurch sich verschiedene Konstellationen mit unterschiedlichen Implikationen für die jeweilige Gesprächssituation ergeben. (Hollstein-Brinkmann und Knab 2016, S. 8) In der Aufsuchenden Sozialen Arbeit ist vom öffentlichen Raum, teils auch vom virtuellen Raum4 als Ort des Kontaktens auszugehen. Damit geht einher, dass in der Regel Initiative von der Fachkraft erforderlich ist und sich damit die Richtung
3Im
Kontext von Aufsuchender Sozialer Arbeit erscheint mir der Begriff der Adressat*innen adäquater, da er zum einen das Adressieren vonseiten der Fachkraft benennt, zum anderen, weil mir die Nähe des Begriffs Klient*in zum Dienstleistungsdiskurs wenig passend für die Kontaktherstellung und die spezifischen Unterstützungsformen in offenen Settings erscheint. 4Insbesondere social media-Kanäle und Foren stellen Orte der Begegnung dar, Beratung findet auch digital statt (siehe dazu Neuburg et al. 2020 in diesem Band).
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der Initiativsetzung entgegen institutionellen Kontexten dreht. Die Struktur ‚auf der Straße‘ ist maximal informell und zudem durch weitere ungewisse Settingfaktoren geprägt. Nehmen Fachkräfte im Streetwork-Tandem zum Beispiel eine Gruppe von Menschen, die im Park nächtigen, wahr, braucht es zuerst eine Situationsanalyse, auf Basis derer eine Entscheidung zu einer Kontaktaufnahme überhaupt getroffen werden kann: Zugehörigkeit zur Adressat*innengruppe, Bekanntheit der Gruppe, Interaktionen zwischen den Gruppenmitgliedern und Ausmaß der Bezogenheit aufeinander, Stimmung und Atmosphäre, Konflikte sowie auch gesundheitliche Gefährdungen, die eine Intervention notwendig machen, oder mentale Verfasstheiten wie Rauschzustände können Kriterien sein, die je nach Einschätzung dazu führen, den Kontakt aufzunehmen, oder situativ davon abzusehen. Ob ein Kontakt vonseiten der Adressat*innen überhaupt gewünscht ist, ist maßgeblich relevant und kann mithilfe von Körperhaltungen, Blickkontakt oder durch vorhandene Vorerfahrungen eingeschätzt werden (siehe in diesem Band Haag 2020). In der Wohnungslosenhilfe ist in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass eine Ansprache z. B. auf einer Bank einen Eintritt in den Privatbereich bedeuten kann, beim Streetwork im Feld der Sexarbeit, dass die Situation auf der Straße oder in einer Bar meist eine Arbeitssituation für die Adressat*innen darstellt und ein Kontakt insofern eventuell als störend erlebt wird. Zusätzlich braucht es Abstimmungsleistungen5 in Bezug auf Einschätzungen und abzuleitende Interventionen bzw. Rollenaufteilung zwischen den Fachkräften: Gibt es Einigkeit in Bezug auf Sinn und Zweck der Kontaktaufnahme? Wer übernimmt die Initiative, wer z. B. eher einen beobachtenden Part? Eine weitere Besonderheit im aufsuchenden Feld sind die unkontrollierbaren und schnell wechselnden Settings. Fluktuation von Hinzukommenden und Weggehenden, unbekannte Mithörer*innen, Gespräche mit einzelnen und mehreren gleichzeitig, Interventionen anderer – Konstellationen ändern sich schneller und Gespräche sind unverbindlicher als z. B. in einem Beratungsraum. Speziell bei Erstkontakten bzw. zu Beginn eines Gesprächs kommt hinzu, dass das Ziel des Gesprächs und mögliche (Hilfs-)Angebote undefiniert sind. Das Fehlen handfester Hilfen, das ‚Nichts in der Hand haben‘ kann in der Streetwork-Praxis als schwierig befunden werden – zumindest in einer ersten Phase können Streetworker*innen ‚nur‘ sich als Personen anbieten.6 Das Aufsuchen im öffentlichen
5Das Aufsuchen
im ‚Tandem‘ gilt in Streetwork-Kontexten als Qualitätsstandard. für den Erstkontakt werden deswegen Give-aways wie Flyer oder je nach Kontext Kondome, Zigaretten oder Tee zur Erleichterung der Kontaktanbahnung mitgeführt.
6Gerade
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Raum bedeutet zudem einen relativen Machtverlust durch die in der Praxis propagierte Anerkennung der Regeln der Klient*innen: „Auf der Straße sind wir zu Gast“, gilt als grundsätzliche Richtschnur für die Durchsetzung von Normen bzw. Akzeptanz von Verhaltensweisen. Aufsuchende Soziale Arbeit ist also durch eine Vielzahl an ungewissen Settingfaktoren geprägt und Bedingungen für eine beratende Intervention müssen erst erkannt bzw. hergestellt werden. Symbolische Techniken zur Überführung einer Situation in ein Beratungssetting fehlen in Tür-Angel-Situationen7 bzw. sind nur reduziert vorhanden: Routinen der Kontaktaufnahme, Formen der Prozesssteuerung, Themenbegrenzungen, Möglichkeiten der Präsentation als Expert*in genauso wie das Ausmaß der Situationskontrolle (Hollstein-Brinkmann 2016, S. 41) sind ‚draußen‘ eingeschränkt. Der Vertrauensaufbau ist aufgrund des herabgestuften Expert*innenstatus und der uneindeutigen Identifikation der Fachkraft mit einer Organisation voraussetzungsreich und vorerst fragiler. Die gegenseitige Wahrnehmung als Berater*in und Ratsuchende, wie sie Beratungsstellen oder Behörden vorgeben, konstituiert sich in (halb)öffentlichen Räumen, wenn überhaupt, entsprechend langsam, ist aber auch keine Voraussetzung für die beraterische Praxis. Nachdem von Adressat*innen ein ‚Problembewusstsein‘ oder Hilfebedarf in der Regel nicht gleich, nicht vordergründig oder auch gar nicht formuliert wird, stellt sich die Frage, ab wann ein Gespräch als Beratung zu werten ist. Manchmal wird zwar ein Thema angesprochen, aber keine Bereitschaft signalisiert, sich auf persönlicher Ebene damit auseinanderzusetzen oder sich an einer Problemlösung zu beteiligen: Zum Beispiel erzählt eine Sexarbeiterin von einem Übergriff eines Kunden, will aber weder eine Anzeige erstatten noch einen Arzt aufsuchen. Nach Hollstein-Brinkmann kann dann von Beratung gesprochen werden, „wenn die Kommunikation einen reflexiven Modus stabilisiert und Anregung zur emotio-kognitiven Veränderung gegeben werden kann“ (ebd., S. 43). Es kommt in der aufsuchenden Praxis also dann situativ zu einem Beratungssetting, wenn ein*e Adressat*in ihre Problemstellung unter der Prozesssteuerung des*r Sozialarbeiter*in reflektiert. Das obige Beispiel wäre also als Beratung zu werten, wenn das Gespräch soweit geführt werden kann, dass die Sexarbeiter*in nicht nur unter Abwägung von Vor- und Nachteilen zu dem Schluss kommt, in Folge des erlebten Übergriffs keine weiteren Schritte zu setzen
7Sowohl
in Zusammenhang mit Motivational Interviewing als auch im Sammelband von Hollstein-Brinkmann und Knab wird von Tür-Angel-Gesprächen geschrieben, wodurch bildhaft die Instabilität des Settings, das Überganghafte von Kommunikationssituationen im niederschwelligen Bereich betont wird.
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(reflexiver Modus – auch wenn das Resultat nicht der Zielvorstellung der Sozialarbeiter*in entspricht), sondern wenn Umstände der Situation exploriert und zum Beispiel auch Überlegungen zur Vermeidung ähnlicher Vorfälle angestellt werden. Dabei können Anregungen ausreichend sein, eine Entscheidung für eine Veränderung auf Seiten der Klient*in wäre keine Bedingung. In Konzepten von Kurzberatung wie der Motivationalen Gesprächsführung nach Miller und Rollnick (1999) wird darauf hingewiesen, wie je nach Phase im Beratungsprozess knappe Informationen, das Hinweisen auf Diskrepanzen oder auch das bewusste Abwägen von Ambivalenzen wesentliche Impulse im Prozess einer Verhaltensänderung geben können, aber nicht zu jedem Zeitpunkt angemessen sind. Ein wesentlicher Punkt im Zusammenhang niederschwelliger Beratung ist insofern das Erkennen, welche (noch so kurze) Intervention zu welchem Zeitpunkt Sinn macht, besonders auch weil sich die für Beratungsprozesse typisch geltenden Phasen8 in wenig strukturierten Settings selten vollständig realisieren lassen.
2 Aufsuchende Beratung als Beziehungs- und Gefühlsarbeit Beziehungsaufbau und Beziehungsgestaltung sind in der Aufsuchenden Sozialen Arbeit Basis für Unterstützungs- und Bildungsprozesse, sie sind Grundlage für die Wirksamkeit von Interventionen und nicht von der Arbeit an Inhalten zu trennen. Beziehungsarbeit meint dann „all jene Aktivitäten und Bemühungen, die zur Herstellung und Aufrechterhaltung eines personalen Kontakts eingebracht werden“ (Schröder, S. 203, 427). Sie ist im aufsuchenden Setting durch drei Phänomene geprägt: Erstens spielt die geringere bzw. weniger offensichtliche institutionelle Anbindung eine zentrale Rolle: Denn einerseits fehlt in öffentlichen Räumen eine Orientierung und Sicherheit gebende Organisation mit ihren symbolischen Techniken und Ritualen sowie Möglichkeiten im Hintergrund. Andererseits stellt die institutionelle Schwelle gerade in der Arbeit mit Menschen mit
8Nach
Kallmeyer (2000, S. 237 ff.) sind diese Problempräsentation, Entwicklung einer Problemsicht durch die Berater*in, Redefinition des Problems und Festlegung des Beratungsgegenstandes, Lösungsentwicklung, Verarbeitung des Lösungsangebots durch Ratsuchende, Vorbereiten der Realisierung bzw. Entlastung und Honorierung des*r Berater*in.
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verinnerlichten Ausgrenzungs- oder Diskriminierungserfahrungen eine wesentliche Hürde dar. Diese staatlich-institutionelle Distanz versuchen niederschwelligen Angebotsformen z. B. über aufsuchende Angebote bewusst zu unterschreiten, um die Merkmale der Institutionsgebundenheit zu unterdrücken (Mayrhofer 2012, S. 185). Der Mangel an Erwartungssicherheit, der sich auch darin ausdrückt, dass Ziele ungeklärt bleiben, kann in wenig strukturierten Begegnungsräumen durchaus gewollt sein, weil es ermöglicht, Beziehung aufzubauen und Anschlussfähigkeit herzustellen. Nicht nur, aber gerade auch in offenen Gesprächssettings wie auf der Straße kommt es zweitens konstitutiv zu rollenspezifischen Vermischungsphänomenen: Aufsuchende Sozialarbeiter*innen versuchen entlang ihre Fachlichkeit professionell zu handeln und tun das auch vor dem Hintergrund ihrer eigenen Lernerfahrungen, sie sind daher mit ihrem ganzen Selbst und ihrer Geschichte auf der Straße anwesend. Nicht weniger die ihnen gegenüber stehenden Adressat*innen, die ebenfalls nicht nur das explizit angesprochene Anliegen vortragen, sondern als Personen mit Biografien anwesend sind und agieren (Schröder 2013, S. 430). In der Interaktion können Berater*innen also jederzeit auch abseits ihre beruflichen Rolle angefragt werden bzw. werden sie im Zuge des Vertrauensaufbaus auch bewusst ‚ausgetestet‘ oder provoziert. Regina Abeld beschreibt diesbezüglich die Wichtigkeit einer professionellen Rollenflexibilität, also einer bedarfsangepassten Betonung der jeweiligen Rolle als (Privat-)Person und als Professionist*in. (Abeld 2017, S. 79). Drittens spielen Affekte sowohl in Interaktion mit dem*r Professionist*in als auch in den lebensweltlichen Beziehungen der Klient*innen eine Rolle für die Beziehungsgestaltung. Da Streetworker*innen Gefühle beobachten oder sie unter Umständen auslösen, können sie sie als Anlass für weitere Interventionen nehmen und bei der Verarbeitung von Gefühlen helfen. In der Beratungsliteratur wird auf die haltende Funktion von Beziehungspersonen hingewiesen, die der Psychoanalytiker Wilfried Bion (1959) mit dem Modell container-contained beschrieben hat. In diesem emotionalen Lernprozess geht es aufseiten der Fachkraft darum, nicht Aushaltbares, nicht Verstehbares und (noch) nicht in Worte Fassbares aufzunehmen, zu halten und in metabolisierter Form wieder zur Verfügung zu stellen – wodurch das Gegenüber lernt Impulse wahrzunehmen, anzuerkennen und damit umzugehen. – Der*die Streetworker*in verhilft durch sein Verständnis für die bei Beratenen wirksamen Mechanismen diesen dazu, sie auch selbst als die ihren anzunehmen und zu ertragen (vgl. Schröder 2013, S. 428 f.). In lebensweltlichen Situationen zeigen sich Formen von Gewaltausübung unter Umständen direkt und fordern Streetworker*innen nicht nur im unmittelbaren Umgang, sondern auch in der folgenden Beziehungsgestaltung.
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Sexualisierte ‚Anmache‘, geschlechterstereotype Zuschreibungen, genauso wie jedwede Abwertung können auch unbewusste Aspekte enthalten, die neben begründeten Grenzsetzungen auch im Sinne von Containment genutzt werden können. Durch die professionelle Beziehung können stigmatisierende oder exkludierende gesellschaftliche Prozesse ‚contain-t‘ und dann problematisiert werden, indem identitätshindernde Faktoren zunächst ausgeblendet und durch eine als-ob-Faktizität ersetzt werden. Durch die Anregung von Identitätsbildungsprozessen sensibilisieren sich Adressat*innen auch hinsichtlich Selbst- und Fremdstigmatisierung; gemeinschaftliche Normen und Erwartungen können vermittelt und Stereotype aufgeklärt und abgebaut werden (Abeld 2017, S. 202 und 257). Letzteres ist im aufsuchenden Bereich von besonderer Relevanz, insofern Fachkräfte einerseits mit Vorurteilen und M ehrfach-Marginalisierungen, andererseits aber auch mit Beschwerdelagen konfrontiert sind und mit Normverstößen umgehen müssen. Der unter anderem daraus entstehende Handlungsdruck sowie die beschriebenen Affekte können durch Übertragungen zu Verstrickungen führen. Erschwerend im Beziehungsgeschehen bzw. herausfordernd im Gesprächsverlauf sind Abwehrverhalten, Widerstandsphänomene, Ängste, Themenwechsel oder Verständigungsschwierigkeiten (vgl. Belardi 2017, S. 14), denen aber mit entsprechenden, z. B. empathischen Gesprächsstrategien, Zustimmen mit einer Wendung, Rückschau, Entwicklung von Zukunftsbildern etc., begegnet werden kann. Oft geht es in der Beziehungsarbeit darum, erprobtes ‚Bewältigungshandeln‘ zunächst einmal wahrzunehmen und zu respektieren, bevor es in Folge unter Umständen auch irritiert oder kritisiert werden kann und soll (vgl. Galuske 2009, S. 171).
3 Beratung und Begleitung als Mittel zur Ressourcenerschließung Nach Widulle fokussiert Beratung auf Problem-Ressourcen-Konstellationen und hat in der Sozialen Arbeit den expliziten Auftrag, zur Problemlösung nicht nur in kommunikativer Weise, sondern auch durch Interventionen (Ressourcenbeschaffung, Verhandlungen mit Ressourcenbesitzern und Bereitstellen eigener Ressourcen) beizutragen: […] Beratung vermittelt auch Informationen, sachliche und materielle Leistungen, sie ermöglicht Finanzierungen, vermittelt an andere Einrichtungen, organisiert Platzierungen und setzt Rechtsansprüche und Urteile für und gelegentlich auch gegen Klienten durch. (Widulle 2012, S. 152)
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In der psychosozialen Beratung auf der Straße ist die Ressourcenerschließung immanenter Bestandteil und verbindet sich mit sozialstaatlichen Vermittlungsund Versorgungsfunktionen, die Aufsuchender Sozialer Arbeit als niederschwelligem Zugang zugeordnet werden (z. B. Gref 1994, S. 13; Galuske 2009, S. 270). Klient*innen, die in Krisensituationen und Notlagen materielle oder psychosoziale Unterstützung benötigen, werden von Streetworker*innen je nach Bedarf auch zu spezialisierten Stellen begleitet. Beratungssituationen und Begleitungsprozesse sind also miteinander verschränkt und stellen eine Brücke in den Bereich der richtigen Zuständigkeit dar, um in der Vermittlungsfunktion sicherzustellen, dass die Adressat*innen auch wirklich dort ankommen, wo sie Ansprüche geltend machen können bzw. Unterstützung erfahren. Das Mitgehen zu Organisationen kann zu Machtstärkung und Diskriminierungsschutz, zu sozialer Absicherung und sozialer Inklusion beitragen und im Hinblick auf Übersetzungsleistungen, Orientierungshilfe, Verbindlichkeitssteigerung oder auch Beziehungspflege funktional sein. Für Einrichtungen, die wie Streetwork an der Schnittstelle zu anderen sozialstaatlichen Sicherungsangeboten arbeiten, hat das Begleiten als Weitervermittlung hin zu z. B. spezialisierten Stellen aber eine nicht nur praktische, sondern auch symbolhafte Bedeutung als Signal an Auftraggeber*innen. Es entspricht dem generalistischen Anspruch niederschwelliger Angebote, die für spezifische Bedarfe konsequenterweise auf die Zusammenarbeit mit anderen Stellen angewiesen sind. Der ‚Vermittlungs- und Versorgungsanspruch‘ ist in der Praxis Aufsuchender Sozialer Arbeit allerdings mit Herausforderungen verbunden, ist doch ein Teil der Adressat*innen aufgrund nicht realisierbarer Versicherungsansprüche oft nicht zu den notwendigen, weiterführenden oder spezialisierten Angeboten vermittelbar. Dann bleiben die offen-zugänglichen Anlaufstellen der niederschwelligen Akutund Notversorgung mit ihren Überlebenshilfen und infrastrukturellen Ressourcen die einzigen Angebote, womit Beratung und Vermittlung weitgehend innerhalb der „entkoppelten Zone sozialer Exklusion“ (Castel 2000) verbleibt und zugleich Quelle der Frustration für Fachkräfte darstellt. Wenn die Basis für die Hilfeannahme eine akzeptierte Arbeitsbeziehung ist, so wird diese in der Vermittlungsarbeit ins soziale Netz auch insofern gefordert, als dass sich Beziehungen nicht ohne weiteres weitervermitteln lassen. In therapeutischen Settings und psychologischer Empirie ist die Bedeutung von kontinuierlichen, verlässlichen Beziehungen und Bindungen belegt. Auch für die vermittelnde Praxis Aufsuchender Sozialer Arbeit gilt, dass professionelle Kontakte persönlich sind, und eine Übergabe in einen anderen Zuständigkeitsbereich gute Vorbereitung und eben Begleitung braucht.
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Für das (Nicht-)Gelingen einer Beratung oder Begleitung sind also nicht nur oder nicht primär Fragen der Motivation, Problemeinsicht und Vermittelbarkeit zu diskutieren, sondern es spielen sowohl strukturelle wie individuelle Faktoren eine Rolle: Neben Hochschwelligkeit, fehlender Passung und Lücken im Hilfenetz sind auch Scham oder Beschämungsängste anzuerkennen. Die nachgewiesene Wirksamkeit von (Familien-)Beratung bei Menschen mit Mittelschichtherkunft, höherer Schul- und Berufsausbildung, Verbalisierungsfähigkeit, Fähigkeit zu psychologischem Denken (Belardi 2017, S. 15) kann als Indiz gelesen werden, dass Beratung zumindest in formalisierten Formen nicht den Seinsbedingungen von Adressat*innen Aufsuchender Sozialer Arbeit entspricht. Motivation ist zwar ein wesentliches Thema in Hilfs- und Veränderungsverläufen, allerdings nur prozesshaft zu bearbeiten bzw. ‚hervorzurufen‘ (nach Miller und Rollnick 1999), und insofern genauso wie ‚Freiwilligkeit‘ als Ziel und nicht als Voraussetzung zu sehen. Einer Begleitung auf dem Weg zu einer ( Verhaltens-) Änderung würde es entsprechen, Ambivalenzen als normale Begleiter von Veränderungsprozessen zu thematisieren, und gleichzeitig, wo nötig, das Fehlen von Hilfsangeboten für bestimmte Gruppen zu verbalisieren.
4 Professionalität zwischen Ungewissheitsbedingungen und Normierungsdruck Beratung und Begleitung sind voraussetzungsreiche Angebote in der Aufsuchenden Sozialen Arbeit, da sie mit wenig Rollensicherheit unter alltagsnahen, wenig planbaren und kontinuierlich instabilen Settingbedingungen stattfinden und sich funktional mit anderen Kommunikations- und Unterstützungsformen abwechseln. Sie verlangen von den Fachkräften situative und settingangepasste Reflexions- und Entscheidungsleistungen, u. a. hinsichtlich der Anwendung von (Beratungs-)Methoden, dem Ausmaß, dem Zeitpunkt und dem Intervall von ‚eingreifenden Interventionen‘, dem Erkennen von Signalen von Hilfsbedürftigkeit und Veränderungsbereitschaft, sowie dem Anerkennen bzw. Bearbeiten von beziehungsbezogenen oder strukturell bedingten Machtasymmetrien. Dass beraterische Heuristik im öffentlichen Raum bricht und deren klassische Strukturbedingungen kaum herstellbar sind, bedeutet nicht, dass professionelle Gesprächsführung hier weniger wirksam wäre. Schon im Rahmen von Vertrauensaufbau und Beziehungsarbeit lassen sich Entlastung und Anerkennung erzielen und können informelle Bildungsgelegenheiten (siehe Brunner in diesem
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Band) sowie neue Erfahrungen von z. B. Verlässlichkeit oder Selbstwirksamkeit geschaffen werden. Indem Gespräche in offenen Settings durch das Anbieten von Perspektivunterschieden Reflexivität initiieren und stabilisieren können, erfüllen sie auch ein wesentliches Kriterium für Beratungsprozesse. Dabei muss Hilfebedürftigkeit nicht explizit bekundet werden, womit die Last des Empfangens von Hilfe (vgl. Knab 2016) tendenziell reduziert wird. Da die Beurteilung der Situation und das Aushandeln dessen, was man überhaupt miteinander will die prioritären Perspektiven sind, können Scham oder Widerstandsphänomene u. U. gering gehalten werden. Die uneindeutigere „Identifizierung der institutionellen Überformung“ (Hollstein-Brinkmann 2016, S. 44) kann eben Vertrauensaufbau auch mit Menschen ermöglichen, für die ausgeprägte Abwehrhaltungen gegenüber staatlichen Akteur*innen erfahrungsbedingt und funktional sind. Dadurch, dass diagnostisch-analytische Perspektiven lebensweltlich teilnehmend gewonnen werden, während Themenwahl, Problem- und Zieldefinition nicht zwingend bzw. nicht explizit nötig sind, liegt die Chance hier in einer stärkeren Adressat*innenorientierung, einer geringeren Machtasymmetrie und partizipativeren bzw. emanzipativen Hilfegestaltung. Indem Beratung und Begleitung in der Aufsuchenden Sozialen Arbeit niederschwellig und an Vernetzung ausgerichtet sind, können sie öffentliche Infrastruktur sowie sozialstaatliche Sicherungssysteme – deren Vorhandensein und gesetzlich sichergestellte Inanspruchnehmbarkeit vorausgesetzt – graduell zugänglicher machen, bei der Durchsetzung von Rechtansprüchen helfen, und damit einen Beitrag zu sozialer Gerechtigkeit leisten. Beratung und Begleitung eröffnen aber auch Räume, in denen mit Problemen umgegangen werden muss, die sich durch staatlich verursachte Zwangslagen ergeben, oder durch Beschränkungen, die außerhalb des eigenen Einflussbereiches liegen. Streetworker*innen vermitteln nicht nur notgedrungen gesetzliche Vorgaben, die der Selbstbestimmung Grenzen setzen, sondern auch ihr eigenes methodisches Handeln kann ausschließend eingesetzt werden, in dem es z. B. Auftragserwartungen folgt, ‚zu einem konstruktiven Miteinander‘ beizutragen und damit Mehrheitsnormen durchzusetzen. Vor dem Hintergrund veränderter Ordnungs- und Sicherheitspolitiken (siehe Diebäcker 2014; 2019; Reutlinger 2020 in diesem Buch) und der stärkeren Ausrichtung aufsuchender Interventionen an gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen und politischer Mehrheitsfähigkeit wird beratende und entlastende Kontaktnahme auch für andere Anspruchsgruppen wie Anrainer*innen oder Geschäftstreibende eingesetzt. Wenn Fachkräfte in allparteilich agierenden Streetworkprojekten z. B. Hausverwaltungen oder Magistratsabteilungen über präferierte Aufenthaltsorte von z. B. drogenkonsumierenden Menschen informieren, zu
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Gestaltungsmöglichkeiten des öffentlichen Raums beraten und dabei das Ziel mittragen, z. B. durch Schneiden von Büschen Einsichtigkeit herzustellen, arbeitet das der Verdrängung bestimmter Gruppen zu. Aber auch solche Gespräche mit Adressat*innen können schwierige Spannungsfelder eröffnen, wenn z. B. mit guter Absicht auf eventuell geplante Polizeiaktionen hingewiesen wird, oder wenn Streetworker*innen auf die Bedürfnisse von älteren Menschen in der Nachbarschaft aufmerksam machen. Im Kontext von Gemeinwesenorientierung, einem Abwägen und Hinweisen von Verhaltenskonsequenzen, und auch im Sinne einer sozialpädagogischen Beratung, die z. B. mit Diskrepanzen zwischen eigenen Werten und eigenem Handeln konfrontiert und zu Verhaltensänderung führen soll (Mülltrennung, Sauberkeit im öffentlichen Raum, Spritzenentsorgung etc.), sind derartige Gespräche nicht per se nicht zu führen, sie sollten aber in Hinblick auf intendierte und weniger intendierte Effekte und Nebeneffekte reflektiert werden. Schließlich hat Beratung durch das Zurverfügungstellen von als vernünftig und wahr geltenden Handlungsschemata jedenfalls handlungsleitende und normalisierende Effekte (Duttweiler 2016, S. 28). Nachdem Beratung nicht jenseits des Politischen zu denken ist, kann sie in drei verschiedenen Ausprägungen analysiert werden: als Ort der Wissensproduktion, als Ort der Responsibilisierung und als Ort der Subjektivierung. In diesem Dreischritt zeigt sich, wie der beraterische Fokus auf Selbstverantwortung und Handlungsfähigkeit als eine höchst wirksame Form der staatlichen Steuerung Inklusion in bestehende Ordnungen durch Aktivierung des Einzelnen fördert (Duttweiler 2007, S. 262 ff.). Mit unreflektierter Neutralität würde auch begleitendes Beraten zum Herrschaftsinstrument. Eine beraterische Beschränkung auf eine reine Prozessverantwortung ist in der Sozialen Arbeit auf der Straße deswegen weder möglich noch ethisch vertretbar. Die Funktionalität sozialpädagogischer respektive emanzipativer Beratung erfordert ein Überschreiten der kommunikativen Interaktion in Richtung „Umstrukturierung der Situation“ (Thiersch et al. 1977), also ein gemeinsames bzw. begleitetes Handeln, das die multidimensionale, insbesondere auch sozio-ökonomische bzw. sozialstaatliche Bedingtheit von Notlagen transparent macht und (so weit als möglich) bearbeitet. Im Rahmen eines neoliberalen Paradigmas der Selbstverantwortung kann es zwar (auch) in offenen Beratungssituationen leicht zur Ausblendung kollektiver und politischer Lösungsstrategien kommen. Diese sind auch dann schwierig, wenn Klient*innen selbst bei deren Erarbeitung nicht ‚dran bleiben‘, oder schon längst einen individuellen Umgang mit der Situation gefunden haben bzw. haben finden müssen (siehe z. B. Luimpöck/Wild 2020 in diesem Band). Mit dem nötigen Respekt vor dem Eigensinn der Adressat*innen können Streetworker*innen in der Beratung und
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Begleitung aber eine vermittelnde Instanz zwischen Individuum und Gesellschaft sein, Räume für Selbstorganisation und Ermächtigung zur Verfügung stellen und bewusst mit dem Spektrum zwischen Anpassung, Integration und Emanzipation umgehen. Soziale Arbeit kann deswegen insbesondere in offenen Settings als „Trendsetterin der Professionsentwicklung“ (Knab 2016, S. 82) gelten, weil sie das ‚sowohl-als-auch‘ über ihre Subjekt- und gesellschaftliche Strukturorientierung versucht. Für Streetworker*innen kann Professionalität als die Fähigkeit und Bereitschaft begriffen werden, die Ungewissheit des Handelns zu ertragen, Implikationen für das Handeln in Ungewissheit zu reflektieren und auf der Basis von Zuständigkeit auch die Verantwortung für das Handeln zu übernehmen. (Rabe-Kleberg 1996, S. 295) Auch wenn ein breites Methodenrepertoire und ein zu erarbeitender höherer Konkretisierungsgrad für das ‚Wie?‘ nicht unbedingt zu mehr Problemangemessenheit oder Personenadäquatheit führen (Galuske 2009, S.175), so kann eine reflektierte Methodendiskussion, wenn sie nicht losgelöst von fachlich normativen Haltungsfragen und professionsethisch fundierten Arbeitsprinzipien geführt wird, mehr Handlungssicherheit geben und zu weiterer Professionalisierung, professionellem Selbstbewusstsein sowie fachlicher Anerkennung beitragen.
Literatur Abeld, R. 2017. Professionelle Beziehungen in der sozialen Arbeit. Eine integrale Exploration im Spiegel der Perspektiven von Klienten und Klientinnen. Wiesbaden: Springer VS. Belardi, N. 2017. Beratung in der Sozialen Arbeit. SIO Zeitschrift für Soziale Arbeit, Bildung und Politik 1 (17): 11–16. Bion, W. 1959. Attacks on Linking. In: International Journal of Psycho-Analysis 40. Auch in Second Thoughts. 1967. London: Heinemann. Castel, R. 2000. Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz: UVK Universitätsverlag. Diebäcker, M. 2014. Soziale Arbeit als staatliche Praxis im städtischen Raum. Wiesbaden: Springer VS. Diebäcker, M. 2019. Aufsuchende Soziale Arbeit. In Handbuch Sozialraum. Grundlagen für den Bildungs- und Sozialbereich, Hrsg. F. Kessl und C. Reutlinger, 539–556. Wiesbaden: Springer VS. Duttweiler, S. 2007. Beratung als Ort neoliberaler Subjektivierung. In Foucaults Machtanalytik und Soziale Arbeit. Eine kritische Einführung und Bestandsaufnahme, Hrsg. R. Anhorn, F. Bettinger, und J. Stehr, 261–275. Wiesbaden: VS Verlag. Duttweiler, S. 2016. Beratung und Beziehung. In Aktuelle Leitbegriffe der Sozialen Arbeit. Ein kritisches Handbuch, Bd. 3, Hrsg. J. Bakic, M. Diebäcker, und E. Hammer, 24–37. Wien: Löcker.
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G. Wild
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Gabriele Wild (Wien), studierte Sozialarbeit und Bildungswissenschaften in Wien, arbeitete als Streetworkerin in gewaltbereiten Szenen und mit Sexarbeiter*innen. Pädagogische Leitung bei JUVIVO, Lektorin am Studiengang Soziale Arbeit an der FH Campus Wien, in der Weiterbildung von psychosozial Tätigen und als Supervisorin tätig. Schwerpunkte u. a.: Aufsuchende Jugend- und Sozialarbeit, Suchtprävention, Gender. [email protected].
Szenen und Marginalisierung: Streetwork zwischen Inklusions- und Präventionsansprüchen Yann Arhant 1 Szenen – eine Anäherung Wenn in medialen Diskursen gewisse Orte als ‚soziale Brennpunkte‘ oder ‚Hotspots‘ benannt werden, dann geschieht dies meist in Zusammenhang mit problematisierten Gruppen und deren Aufenthalt im öffentlichen Raum. Neben Wohnungslosen, Gruppen von Jugendlichen oder Prostituierten_Sexarbeiter*innen wird insbesondere auch die Drogenszene häufig als Ursache von ‚Störungen‘ im öffentlichen Raum benannt. Der Begriff (Drogen)Szene evoziert dabei häufig das Bild eines homogenen Blocks von gefährlichen und auffälligen Personen. Ausgeblendet werden dabei meist sowohl deren Angewiesenheit auf die Funktionen des öffentlichen Raums sowie die Gründe, aus denen sie sich dort aufhalten. Deshalb erachte ich einen Blick auf die Begriffe Szene und Marginalisierung als sinnvoll. Bei den Problemlösungsstrategien für diese Räume taucht neben einem vermehrten Einsatz von Polizei und rechtlichen oder räumlichen Regulierungen, meist auch die Soziale Arbeit als Akteur*in auf. Dadurch wird Soziale Arbeit in sicherheits- und ordnungspolitischen Programmen und Zielsetzungen eingebettet. Die Ansprüche an aufsuchende Angebote Sozialer Arbeit sind dabei meist nicht ausdefiniert, zielen aber im Kern darauf den öffentlichen Raum zu ‚entlasten‘. Daraus ergeben sich m. E. zwei Aufforderungen an aufsuchende Angebote Sozialer Arbeit. Einerseits Hilfe zu leisten und Adressat*innen an bestehende sozialstaatliche Angebote zu vermitteln, andererseits das gelingende Nebeneinander unterschiedlicher Nutzer*innen im öffentlichen Raum zu gewährleisten. Y. Arhant (*) Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Diebäcker und G. Wild (Hrsg.), Streetwork und Aufsuchende Soziale Arbeit im öffentlichen Raum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28183-0_7
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Dies stellt Soziale Arbeit vor die Aufgabe sowohl unterschiedliche Inklusionswie auch Präventionsansprüche zu bearbeiten. Vor welche Herausforderungen und Ambivalenzen dies Streetwork und Aufsuchende Soziale Arbeit stellt, werde ich im Folgenden anhand eines Fallbeispiels skizzieren und diskutieren. Der Szene-Begriff wird vielfach ohne genauere Ausdifferenzierung benutzt und ist in seiner Verwendung zum Teil schwammig. Meist wird er nach unterschiedlichen Kategorien geordnet, z. B. nach Orten (Straße, City, Bahnhof), Interessen (Musikstile, Kunstformen, politische Ziele), Handlungen (Aufenthalt, Handel, Prostitution_Sexarbeit) oder Personengruppen (Drogenkonsument*innen, Stricher*innen, rechtsgerichtete Jugendliche). Wenn dieser genauer bestimmt wird, dann meist in jugendkulturellen Zusammenhängen (vgl. Baacke 2007; Hitzler und Niederbacher 2010; Hoffman 2016). Hitzler und Niederbacher beschreiben Szenen als posttraditionelle Form der Gemeinschaftsbildung. Diese sind demnach thematisch fokussierte Netzwerke, welche durch Interaktion und Kommunikation Gemeinsamkeiten herstellen und nicht notwendigerweise auf eine gemeinsame soziale/gesellschaftliche Herkunft verwiesen sind. Die Zugehörigkeit zu ihnen sei frei gewählt. Szenen werden über die Produktion nach innen aber auch über eine Inszenierung nach außen erzeugt. Sie verfügen über eine eigene Kultur, Rituale und Symbole sowie über Treffpunkte, Events und ggf. eigene Medien. Der Netzwerkcharakter von Szenen bedingt eine lose Hierarchienbildung (vgl. Hitzler und Niederbacher 2010, S. 16–26; vgl. auch Hoffmann 2016, S. 43 f.). Andere Autor*innen legen den Fokus eher auf den räumlichen Aspekt. Sie beschreiben Szenen als eigene Räume bzw. als regional/lokal begrenzte Räume, in denen die Jugendkulturen ihre eigenen Stile realisieren können und sich durch deren Ereignischarakter auszeichnen (vgl. Baacke 2007, S. 169; Schröder und Leonhardt 1998, S. 20–22, 187–191). Dieser Szene-Begriff, mit seinem Fokus auf Jugendkulturen, erweist sich für die (offene) Jugendarbeit als durchaus geeignet. Als generell problematisch erweist sich jedoch auch in diesem Zusammenhang die Annahme, dass Szenen gänzlich abgekoppelt von sozialer Herkunft und Verortung zu betrachten sind (vgl. Hoffmann 2016, S. 317). Für die Arbeit mit stärker marginalisierten Gruppen oder Personen im öffentlichen Raum ist dieser Szene-Begriff nicht wirklich passgenau. Fraglich ist die Freiwilligkeit der Zugehörigkeit zu einer Szene oder der Aufenthalt in dieser. Inwieweit also gänzlich frei gewählt werden kann, an welchen partizipiert wird, muss infrage gestellt werden. So haben zum Beispiel Jugendliche in Straßenszenen das Leben auf der Straße nicht frei gewählt, auch wenn dieses momentan die beste Alternative für sie darstellen mag (vgl. Bodenmüller und Piepel 2003, S. 13). Ebenso sind Drogenkonsument*innen
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auf die Funktionen der offenen Drogenszene angewiesen (vgl. Uhl und Springer 1997, S. 34; Eisenbach-Stangl et al. 2011, S. 33). In Bezug auf ein ‚WirGefühl‘ lässt sich sagen, dass zum Beispiel in der Drogenszene eher versucht wird sich selbst von anderen Konsument*innen abzugrenzen (vgl. auch z. B. Eisenbach-Stangl et al. 2011, S. 58). Dementgegen steht allerdings, dass es mehrere Selbstvertretungsorganisationen von User*innen gibt (z. B. JES, INPUD oder AIVL)1. Andere Aspekte der Beschreibungen erweisen sich allerdings als brauchbar. Der Verweis auf gemeinsame Interessen (oder besser Bedürfnisse) sowie eigene Räume und Treffpunkte sind sinnvoll, um Zielgruppen Sozialer Arbeit in öffentlichen Räumen zu analysieren. Aus raumtheoretischer Perspektive muss allerdings eine Verkürzung auf den Raum als Container kritisiert werden. Der Netzwerkcharakter von Gruppen kann als Bezugspunkt für Dynamiken innerhalb von Szenen dienen. Die Perspektive auf die Konstitution von Innen und Außen ermöglicht es, den wechselseitigen Prozess der Herstellung durch Selbstinszenierung/-definition, gesellschaftliche Zuschreibungen und sozialarbeiterische/-politische Problematisierungen nachzuvollziehen.
1.1 (Drogen)Szene als sozialräumliches Phänomen Ich plädiere deshalb dafür (Drogen)Szenen als sozialräumliches Phänomen zu denken (vgl. Hußmann 2007, S. 38). Ich schließe mich dem Verständnis vom sozialen Raum als relational an. Raum wird verstanden als Ergebnis der (An) Ordnung von Gütern und Lebewesen an Orten. Sozialraum ist damit ein wechselseitiger, andauernder, konstitutiver Prozess der zwischen der räumlich-materiellen Struktur und dem Handeln unterschiedlicher Akteur*innen hergestellt wird. Räume sind dynamische Prozesse, die sich durch ihr Gewordensein, ihre Vielfältigkeit und ihre Strukturierungskraft auszeichnen (vgl. Löw und Sturm 2019, S. 15–17). (Drogen)Szenen konstituieren sich demnach durch den physisch-territorialen Raum, den sie besetzen oder durchschreiten, sowie durch das Platzieren der Körper von Drogenkonsument*innen mit deren spezifischen Aneignungs- und Handlungsmuster an diesen Orten. Dadurch werden Drogenkonsument*innen
1JES
Bundesverband Leben mit Drogen (https://www.jes-bundesverband.de/); International Network of People who Use Drugs (https://www.inpud.net/); Australian Injecting & Illicit Drug Users League (http://aivl.org.au/). Zugegriffen: 14.10.2019.
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sowohl als aktive Gestalter*innen ihrer Räume, wie auch in ihrer Angewiesenheit auf öffentliche Räume wahrgenommen. Analytisch können so sowohl Gründe für die Nutzung von und die Anwesenheit in bestimmten Räumen erkannt werden, gleichzeitig wie sich dadurch Orte verändern oder Nutzungskonflikte ergeben. Entscheidend sind aber auch die anderen Akteur*innen (wie z. B. die Politik, Soziale Arbeit, Anrainer*innen) die sich selbst über ihre (professionellen) Deutungsmuster und Zuschreibungen in Relation zu dem Phänomen setzen und dieses so mitkonstruieren. Durch das Setzen von Interventionen und Verändern von baulichen Strukturen können Aneignungs- und Handlungsoptionen beschränkt oder ausgeweitet werden. Durch ein komplexes Zusammenspiel von unterschiedlichen Mechanismen, symbolischen Besetzungen und dem Erzeugen von Atmosphären (vgl. Löw und Sturm 2019, S. 17 f.) werden Ein- und Ausschlüsse produziert.
2 Marginalisierung Marginalisierung oder Marginalität wird als Begriff relativ selbstverständlich gebraucht und dient dazu Personen und Gruppen, die benachteiligt, diskriminiert, ausgegrenzt oder an den Rand gedrängt sind, zu beschreiben. Als analytisches Konzept wurde er allerdings nicht immer ausreichend gefasst, bleibt zuweilen unscharf und wird uneinheitlich für mehrere Phänomene verwendet (vgl. Dunne 2005, S. 11; Billson 2005, S. 29–31; Schmincke 2009, S. 35). Die Entstehung des Begriffs der Marginalisierung oder Marginalität lässt sich unter anderem zurückführen auf das Konzept des marginal man, welches von Robert E. Park (1928) aufgeworfen und von Everett V. Stonequist (1937) weiter ausgearbeitet wurde (vgl. Billson 2005, S. 29; Dunne 2005, S. 11 f.). Daran anknüpfend wurde im deutschsprachigen Raum der Begriff der Randgruppe eingeführt. Der Randgruppen-Begriff erweist sich allerdings als problematisch, da dieser auf einer normativen Ebene stigmatisierend ist und es nicht vermag, den Prozess der Produktion des gesellschaftlichen Rands zu beschreiben. Marginalisierung hingegen wendet den Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und fokussiert auf den prozesshaften Charakter von gesellschaftlichen Ausschlüssen oder Exklusion (vgl. Schmincke 2009, S. 25). Martin Kronauer (2010) beschreibt, dass Exklusion darauf verweist, sogar aus jeglichen (selbst ungleichen) Wechselverhältnissen ausgekoppelt zu sein (vgl. ebd., S. 51 f.). Marginalität bzw. Marginalisierung benennen also sowohl den gesellschaftlichen Bereich zwischen Normalisierung und Exklusion, sowie den Prozess, der zu dieser gesellschaftlichen Verortung führt (vgl. Schmincke 2009, S. 35 f.).
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Genau in diesem Zwischenbereich agiert Soziale Arbeit vielfach, ebenso verweist dies auf das doppelte Mandat der Sozialen Arbeit. Das Konzept Marginalisierung/Marginalität erweist sich m. E. als fruchtbar, weil dadurch die gesellschaftlichen Prozesse, die Ungleichheit erzeugen, in den Blick geraten und die Problematisierungen nicht nur bei den Adressat*innen Sozialer Arbeit verbleiben. Dies macht begreifbar, weshalb sich Individuen auch widerständig verhalten, wenn sie diesen Platz zugewiesen bekommen. Der Begriff der Marginalisierung zeichnet sich auch dadurch aus, dass er es ermöglicht, den Aspekt von Räumlichkeit und Räumen zu thematisieren (vgl. Schmincke 2009, S. 36). Dies geschieht zum einen dadurch, dass er Personen und deren Handlungen in ihrer Angewiesenheit auf bestimmte Orte oder Plätze (nicht nur in physischer Hinsicht, sondern auch als symbolischem und repräsentativem Raum) erklärbar macht, andererseits auch die Dynamik zwischen innerstädtischen Zentren und problematisierten Randbezirken beschreiben kann.
2.1 Marginalisierungsprozesse im städtischen Raum In Städten, als strategische Orte und Stätten der Dynamik, spiegeln sich gesellschaftliche Transformationen wider (vgl. Löw et al. 2007, S. 93). Dies zeichnet sich in räumlichen Strukturen ab, gleichzeitig können Stadtpolitik und räumliche Bedingungen auf Gesellschaft zurückwirken (vgl. Wehrheim 2006, S. 26). Die Durchsetzung des Neoliberalismus als leitende politische Ideologie und die Transformation vom Wohlfahrts- zum aktivierenden Staat (vgl. Diebäcker 2014, S. 41–44) äußern sich im Standortwettbewerb um Kapitalinvestitionen (vgl. Löw et al. 2007, S. 138), der zunehmenden Verrechtlichung und Privatisierung von öffentlichen Räumen (vgl. Michel 2005, S. 59), der Gestaltung von Städten als Konsumwelten/Malls (vgl. Ronneberger 2000, S. 313) sowie in urbaner Segregation und der Territorialisierung und Intensivierung von Sicherheits- und Ordnungspolitiken (vgl. Diebäcker 2014, S. 55–62). Soziale Abstiegsängste der Bevölkerung übersetzen sich in Ressentiments gegenüber marginalisierten Gruppen und deren Anwesenheit im öffentlichen Raum (vgl. Schmidt-Semisch und Wehrheim 2007, S. 77 f.). Dafür reicht bereits deren Sichtbarkeit dort (vgl. Glasauer 2005, S. 211). Deshalb werden, mit dem Verweis auf das Gemeinwohl und den Zugang zu öffentlichem Raum für alle, marginalisierte Personen und Gruppen zunehmend aus städtischen Räumen (zumindest zeitweise) verdrängt (vgl. Belina 2006, S. 204–206).
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3 Streetwork mit Drogenszenen – Herausforderungen, Inklusions- und Präventionsansprüche Im Folgenden werde ich ein kurzes Fallbeispiel präsentieren. Um territoriale Stigmatisierungen zu vermeiden, handelt es sich hierbei um ein abstrahiertes Beispiel, welches sich aus unterschiedlichen Orten und deren Qualitäten sowie den Erfahrungen die ich in meiner eigenen Streetworktätigkeit gemacht habe, ableitet. Fallbeispiel Wir befinden uns am Vorplatz eines Bahnhofs. Dieser kennzeichnet sich durch seine Anbindung an das öffentliche Verkehrsnetz welches innerstädtische und überregionale Transportmittel verbindet. Angrenzend an den Bahnhof finden sich mehrere Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, der Bahnhof selbst bietet diverse Einkaufsmöglichkeiten sowie Restaurants und Cafés. Als Verkehrsknotenpunkt und durch die enthaltenen Freizeit- und Konsummöglichkeiten treffen viele unterschiedliche Nutzungsinteressen in diesem Raum aufeinander. Durch die Nähe zu innerstädtischen Gebieten ist der Bahnhof auch relevant für touristische Zwecke. Aus besagten Gründen ist der Bahnhof zentraler Bestandteil eines geplanten Aufwertungsprozesses städtischen Raums. In medialen und politischen Diskursen wird der Bahnhof schon seit geraumer Zeit immer wieder also ‚sozialer Brennpunkt‘ bzw. ‚Hotspot‘ bezeichnet. In diesem Zusammenhang wird auf den Aufenthalt von marginalisierten Gruppen und Personen verwiesen. Insbesondere die Anwesenheit der Drogenszene wird problematisiert und die Situation für die anderen Nutzer*innen als nicht mehr tragbar dargestellt. Als Lösungsstrategie soll neben erhöhter Polizeipräsenz und der Einführung eines privaten Sicherheitsdienstes, auch vermehrt Soziale Arbeit vor Ort präsent sein. Auftretende Nutzungskonflikte und irritierende Phänomene sollen so möglichst vor ihrem Entstehen gelöst oder zumindest entschärft werden. Um einen präventiven Zugriff auf Räume zu legitimieren, müssen diese als gefährlich und kriminell etikettiert werden. Belina (2006) bietet dafür eine m. E. brauchbare Analyse an: Die Kriminalisierung von Räumen erfolgt mittels der Zuschreibung von Kriminalität als ausschließlicher Eigenschaft auf Individuen (z. B. Drogenhandel/-besitz) und verläuft dann über den Fokus auf Gemeinsamkeiten dieser Individuen untereinander (z. B. Drogenkonsum, Äußeres, habituelle Stile). Dadurch werden kriminelle Gruppen aufgrund gemeinsamer Merkmale konstruiert. In einem letzten Schritt werden Räume (Aufenthaltsort ‚Drogenszene‘), in denen solche Gruppen anwesend sind, mit kriminogenen Aspekten
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versehen (vgl. ebd., S. 103–132). Für Drogenkonsument*innen bedeutet dies homogenisiert und stigmatisiert zu werden. Bereits der Aufenthalt im öffentlichen Raum wird so zum Problem, schon bevor es zu etwaigen illegalisierten Handlungen kommt. Dieser territoriale Fokus ist zudem symptomatisch für den aktivierenden Staat. Das Lokale wird vielfach als Substitutionsraum zum Nationalstaat gedacht, in dem Integrationsdefizite bearbeitet werden müssen. Kleinräumige Territorien werden als Orte der Desintegration konstruiert, gleichzeitig aber auch zum zentralen Ort der ‚Heilung‘ funktionalisiert (Kessl und Maurer 2019, S. 172). Probleme werden folglich dort bearbeitet wo sie sichtbar werden, nicht unbedingt dort, wo sie entstehen. Bezogen auf Aufsuchende Soziale Arbeit bedeutet dies, dass die darunter subsumierbaren Tätigkeitsfelder durch ihren territorialen Raumbezug und den Fokus auf besonders problematisierte Personen und Gruppen an Bedeutung gewinnen (vgl. Diebäcker 2014, S. 63). Tagsüber befindet sich am Bahnhof eine Gruppe von Drogenkonsument*innen (zwischen 10–30 Personen), die den Platz als Treffpunkt und Aufenthaltsort frequentieren. Neben diesem Aspekt der Nutzung findet auch Drogenkleinhandel statt. Einige der Personen halten sich deshalb hier mehrere Stunden auf und pflegen ihre sozialen Kontakte, andere nur kurze Zeit, um die Marktfunktion des Ortes zu nutzen. Die Gruppe der Personen kann als sehr heterogen beschrieben werden. Entgegen der Annahme einer homogenen Gruppe von Drogenkonsumierenden unterscheiden sich deren Lebenslagen zum Teil deutlich z. B. hinsichtlich Alter, Herkunft, Wohnsituation, Arbeitsmarktintegration, konsumierter Substanzen und Konsumformen. Der Aufenthalt in der Szene hat vielfach einen tagesstrukturierenden Aspekt (auch in Form von Drogenkleinhandel) und stellt für viele Konsument*innen den primären Zugang zu sozialem Kontakt und Beziehungen dar. Gleichzeitig besteht die Gefahr durch den Aufenthalt mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten (vgl. Tomschitz 2017, S. 131 f., 137). An dieser Stelle wird deutlich wie schwierig der Ausstieg aus der Drogenszene ist. Auch in stabileren Lebensphasen (z. B. in Bezug auf Konsum, Wohn- oder Arbeitssituation) zieht es viele (Ex)Konsument*innen zur Szene, was teilweise destabilisierende Effekte auf diese haben kann, und auf ein mangelndes soziales Netz und fehlende Alternativen der Beschäftigungs- und Freizeitmöglichkeiten zurückzuführen ist. Die Ziele der Streetworker*innen sind der Kontaktaufbau und -erhalt, Angebot von (Kurz)Beratungen sowie die Vermittlung und Information über Grundlagen von Harm-Reduction (Safer-Use und Safer-Sex). Für darüber hinausreichende Angebote wird auf die Einrichtungsarbeit, die an das Streetworkangebot gekoppelt ist, verwiesen. Die Aufsuchende Arbeit der Streetworker*innen
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kennzeichnet sich durch deren Kontaktangebot2 an die Gruppe der Drogenkonsument*innen. Damit orientiert sich die Arbeit der Streetworker*innen am Prinzip der Niedrigschwelligkeit. Mayrhofer beschreibt diese als „Bearbeitung von prekärer Adressabilität“ (2012, S. 151). Zentrale Funktionen von Niedrigschwelligkeit sind der Zugang zu schwer oder nicht erreichbaren Individuen und Gruppen, die Sicherung des physischen Überlebens und das Schaffen weiterführender Anschlussmöglichkeiten an das Hilfesystem (vgl. ebd., S. 151 f.). Soziale Arbeit verstanden als staatliche Praxis die Ein- und Ausschlüsse bearbeitet, hat neben ihren unterstützenden Funktionen auch immer ordnungspolitischen Charakter. Dies kennzeichnet sich im Rahmen von Aufsuchender Arbeit dadurch, dass sie soziale Situationen als problematisch identifiziert, ungefragt in soziale Beziehungen eingreift, durch ihre Präsenz und Interventionen abweichende Differenz symbolisiert und die Konditionen vermittelt unter denen Hilfe in Anspruch genommen werden kann (vgl. Diebäcker 2019, S. 544). Insbesondere muss problematisiert werden, wenn niedrigschwellige und aufsuchende Angebote unter dem Vorwand der Integration darauf abzielen, Adressat*innen Sozialer Arbeit in ihre Institutionen zu verbringen und dadurch den öffentlichen Raum zu entlasten und in den kontrollierten Settings der Einrichtungen zu behandeln (vgl. Ganahl und Rohrauer 2016, S. 17; S chmidt-Semisch und Wehrheim 2007). Niedrigschwellige Angebote stehen potenziell deshalb in einem Spannungsfeld zwischen der Eröffnung von Anschlussmöglichkeiten ans Hilfesystem und der Funktionalisierung als inkludierender Exklusionsverwaltung (vgl. Mayrhofer 2012, S. 158 f.). Durch ihre Präsenz regulieren die Streetworker*innen das Verhalten der Drogenkonsument*innen implizit und explizit. Implizit in der Form, dass Adressat*innen gewisse Verhaltensformen (delinquentes/deviantes Verhalten) nicht zeigen oder sich als besonders angepasst präsentieren. Explizit dann, wenn Akteur*innen Sozialer Arbeit problematisiertes Verhalten ansprechen und reflektieren, um dieses dann zu verändern. Zum Teil wird letzteres dann auch von den Adressat*innen selbst untereinander praktiziert. Dies kann im Sinne von (zumindest einzelnen) Adressat*innen sein, wenn dadurch zu Stigmatisierungen führendes oder auffallendes Verhalten unterlassen wird (vgl. Tomschitz 2017, S. 132) oder z. B. sexistisches/rassistisches Gehabe unterbleibt. Vonseiten Sozialer Arbeit wird dies mitunter dadurch legitimiert, dass der Aufenthalt und
2Zu
Kontaktaufbau und Beratung auf der Straße siehe Haag 2020 in diesem Band.
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die Akzeptanz der Konsument*innen gefördert wird oder dies zumindest das gelindere Mittel gegenüber polizeilicher Repression darstellt. Pragmatisch kann dies vereinzelt Sinn machen, der evident ordnungspolitische Charakter solcher Interventionen sollte aber nicht mit fachlichen und professionsethischen Standards verschleiert werden.3 Als Kontakttool bieten die Streetworker*innen Safer-Use/Safer-Sex Utensilien (frisches Spritzenbesteck, Kondome) und -Materialien (Infobroschüren) an. Das Spritzenbesteck wird in Form einer kleinen Box übergeben. Jede*r Drogenkonsument*in kann eine dieser Notfallboxen bekommen. Dies soll nicht Spritzentauschangebote niedrigschwelliger Drogeneinrichtungen (Kontaktläden, Tageszentren etc.) ersetzen, sondern dient den Streetworker*innen dazu mit Adressat*innen leichter in Kontakt zu treten. Situationsbedingt ermöglicht dieses Tool zurückhaltender zu agieren oder aktiv auf Konsument*innen zugehen zu können. Aufsuchende Soziale Arbeit muss sich so nicht aufzwingen und kann sich ggf. abwartend etwas abseits der Szene positionieren. Gleichzeitig ermöglicht dieses Kontakttool auf Adressat*innen zuzugehen und etwas zu offerieren, ohne sofort in ein formalisiertes Beratungs- bzw. Betreuungssetting zu treten und die Lebensumstände von Drogenkonsument*innen zu problematisieren. Das Tool eröffnet die Möglichkeit zum Gespräch ohne dieses aufzuzwingen. Dies betont auf den ersten Blick die auf Freiwilligkeit, Bedürfnisorientierung und Akzeptanz basierende Haltung gegenüber den Konsument*innen. Der Akzeptierende Ansatz setzt nach Stöver (2008) an drei Aspekten an. Auf der normativen Ebene bedeutet er Konsum illegalisierter Drogen als Konsumentscheidung von selbstbestimmen Bürger*innen anzuerkennen. Drogenkonsum wird in seiner Ambivalenz von erwünschten und unerwünschten Effekten betrachtet (z. B. Kontrollverlust, Dominanz der Drogen vs. bewusste Entscheidung, Funktionalität des Konsums). Damit verbunden ist die Gradwanderung einer Beurteilung von Konsum als selbstbestimme oder krankheitsbedingte Handlung. Hinsichtlich eines methodischen/praktischen Vorgehens zielt Akzeptanz zum einen auf die Herstellung eines dialogischen Moments in der Beziehungsarbeit, andererseits auf die Schaffung von erreichbaren niedrigschwelligen Angeboten, die nicht an grundsätzliche Verhaltensänderungen gekoppelt sind, ab. Auf der praktischen Ebene bedeutet dies die Vermeidung und
3Problematisiert
werden sollen hier ausschließlich jene Interventionen, die darauf abzielen, den öffentlichen Raum oder dessen ‚normale‘ Benutzer*innen zu entlasten, nicht aber Soziale Arbeit als sekundäre Bildungs- und Sozialisationsinstanz, welche auch konfrontativ mit z. B. rassistischen und sexistischen Einstellungen arbeitet.
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Reduzierung (Harm-Reduction) von nicht beabsichtigen Schäden, sowohl für die Konsument*innen wie auch für die Gesellschaft (vgl. ebd., S. 345 f.). Bei genauerer Überlegung kann dies aber durchaus ambivalent betrachtet werden. So löst die Vergabe dieser Utensilien auch stigmatisierende Effekte aus, indem sie Personen als Drogenkonsument*innen sichtbar macht und als intravenös konsumierend (damit tendenziell als besonders problematisch) etikettiert.4 Dennoch überwiegen die positiven Aspekte dieses Tools: Den Adressat*innen etwas Lebensweltnahes anzubieten, die Akzeptanz gegenüber der Streetworkeinrichtung zu erhöhen (Akzeptanz wechselseitig gedacht zwischen Sozialer Arbeit und ihren Adressant*innen) sowie die Umsetzung des Harm-ReductionGedankens. Diese Ambivalenz spiegelt sich im Wunsch der Drogenkonsumentin Natascha (Name frei erfunden), ihr die Safer-Use Utensilien möglichst unauffällig zu übergeben, wider. Natascha hat noch bis vor kurzem ihre Substanz oral konsumiert. Nach (Teil)Entzug und Therapie hatte sich ihr Konsum stabilisiert, deshalb hat sie strategisch den Kontakt zu und den Aufenthalt in der Szene vermieden. In letzter Zeit wie sie selbst beschreibt, „stürzt sie zunehmend ab“. In der Situation von Natascha zeichnet sich die oben skizzierte Schwierigkeit eines Ausstiegs aus der Drogenszene ab. Hier bietet sich m. E. die Chance für einen weiteren präventiven Aspekt in der aufsuchenden Drogenarbeit. Im Falle von Natascha können negative Effekte und das vermeintliche Scheitern reflektiert und bearbeitet werden sowie auf Angebote für fehlende Tagesstruktur, in Form von freizeit- und beschäftigungsorientierten Projekten verwiesen werden. Etwaige Defizite im Versorgungssystem können auf programmatischer Ebene thematisiert und problematisiert werden.
4 Fazit Prävention in der Arbeit mit Drogenkonsument*innen muss unter unterschiedlichen Aspekten gedacht werden. Einen Aspekt stellt Prävention in Form gesundheitsbezogener Harm-Reduction dar, die durch die Safer-Use-Maßnahmen der Streetworker*innen realisiert werden können. Ein weiterer Aspekt ist der kriminalpräventive Zugriff auf problematisierte Räume. Dieser wird zwar
4Im
Gegensatz zu nasalem oder oralem Konsumformen, welche als risikoärmer gelten und nicht mit dem Stigma des ‚Junken‘ oder des ‚ Junkie-Seins‘ behaftet sind.
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weitestgehend durch Polizeieinsätze realisiert, die raum- und verhaltensregulierende Eigenschaft Aufsuchender Sozialer Arbeit erfüllt allerdings ähnliche Funktionen. Diese sind den repressiveren Maßnahmen zeitweise vorgeschaltet. In der Regel sind der Aufenthalt der Polizei und der Streetworkmitarbeiter*innen aber nicht zeitlich abgestimmt, dies führt zu einem dritten präventiven Aspekt. Die Anwesenheit von Polizei (oder auch anderen Sicherheitskräften) führt dazu, dass (Teile) der Drogenkonsument*innen (zumindest vorübergehend) ihren Aufenthalt beenden und dadurch für die Streetworker*innen nicht erreichbar sind. Kriminalprävention präveniert in diesem Fall gewissermaßen die gesundheitsbezogene Prävention. Inklusionsansprüche deuten auf das Spannungsfeld zwischen Normalisierung und Exklusion hin. Inklusion verweist zumindest implizit darauf, dass Personen in ein bestehendes System eingepasst werden sollen (vgl. Ludwig 2013, S. 112 f.). Der Aufenthalt im öffentlichen Raum oder die gesellschaftliche Teilhabe sind an Bedingungen gekoppelt. Wer abweicht und sich nicht helfen lässt, oder wem nicht zu helfen ist, muss mit Konsequenzen rechnen. Dies äußert sich bei manchen Adressat*innen durch einen hohen Erwartungs- und Anpassungsdruck. Einzig das völlig und dauerhafte Clean-Sein wird als Erfolg gewertet. Tatsächlich ist in den meisten Fällen aber eher von wechselnden Phasen der Stabilität und Instabilität auszugehen. Die zentralen Ziele und Funktionen von Streetwork sind also primär weniger die (vollkommene) Inklusion, sondern vielmehr Stabilisierung (von Konsum, Gesundheit, Beziehung etc.), Begleitung und Schadensminderung. Soziale Arbeit steht angesichts der sozialpolitischen Lage und der Intensivierung von Kontroll- und Ordnungsdiskursen vor der schwierigen Aufgabe ihre Problemlösungskompetenz unter Beweis zu stellen. Nicht selten verwickelt sie sich deshalb in Widersprüche in ihrem professionellen Handeln. Zum Teil aus eigenem Antrieb, überwiegend jedoch, weil ihr die Aufgabe der Gestaltung der neuen Ausschluss- und Kontrollpolitiken zugewiesen wird (vgl. Simon 2007, S. 167). Insbesondere aufsuchende Ansätze erscheinen als attraktive Möglichkeiten zur Regulation und ‚Entlastung‘ des öffentlichen Raums. Die Orientierung am territorialen Nahraum und aufgrund fachlicher Standards (wie Niedrigschwelligkeit und Akzeptanz) erlauben den Zugang zu besonders problematisierten Gruppen. Die Widersprüche im eigenen Handeln aufzudecken erfordert eine Reflexion und Rekonstruktion der gesellschaftlichen Diskurse, der eigenen Programme, Interventionen, Bedürfnisse der Adressat*innen sowie normativer Grundhaltungen. Auch wenn die Reflexion im Angesicht des Handlungsdrucks nicht immer möglich ist, sollte dies später (z. B. im Rahmen einer Intervision zwischen
112
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Kolleg*innen oder in einer Teambesprechung) nachgeholt werden (vgl. Diebäcker 2019, S. 547–551). In Bezug auf fachliche Grundprinzipien (z. B. Niedrigschwelligkeit, Akzeptanz, Freiwilligkeit etc.) von Streetwork und Aufsuchender Sozialer Arbeit empfiehlt es sich diese als Haltungen, welche an professionsethische Standards rückgekoppelt sind, zu denken. Rein als methodische Herangehensweise laufen die fachlichen Prinzipien Gefahr als technisches Mittel, welches Mehrheitserwartungen durchsetzt, instrumentalisiert zu werden (vgl. Wild 2013, S. 230). Soziale Arbeit verfügt darüber hinaus auch über eine Thematisierungsmacht. Ausgehend von konkreten lokalen Kontexten täte Soziale Arbeit gut daran, auf strukturelle Ursachen von Ungleichheit zu verweisen und Soziale Fragen erneut zu politisieren (vgl. Kessl und Maurer 2019, S. 172).
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Szenen und Marginalisierung: Streetwork zwischen Inklusions- …
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Y. Arhant
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Yann Arhant (Wien), studierte Soziale Arbeit und Internationale Entwicklung sowie Gender Studies in Wien. Arbeitet derzeit als Streetworker in der niedrigschwelligen Drogenarbeit in Wien (Streetwork/Change – Suchthilfe Wien). Schwerpunkte: Genderaspekte Sozialer Arbeit, Wohnungslosigkeit, Soziale Ausgrenzung und Sucht.
Inszenierung und Diskriminierung: Der öffentliche Raum als Schauplatz diskursiver Stigmatisierung und Benachteiligungsbewältigung Sabrina Luimpöck und Gabriele Wild 1 Einführung Nurredin1 ist siebzehn Jahre alt und lebt in Wien. Er steht am Eingang eines Parks und wartet auf einen Freund, als ihn zwei Polizisten nach dem Ausweis fragen. Sie werfen einen Blick darauf und geben ihn zurück. Nurredin passiert das nicht zum ersten, sondern dieses Jahr bereits zum fünften Mal. Er vermutet aufgrund seiner dunklen Hautfarbe für einen Dealer gehalten zu werden. Der Jugendliche ist in Kontakt mit Sozialarbeiter*innen, die rund um den Park unterwegs sind. Er würde die Erfahrung gerne mit ihnen besprechen, ist aber verunsichert, denn die Polizisten haben doch nichts ‚Rassistisches‘ gesagt. Diejenigen, die innerhalb eines Jahres in Österreich drei oder mehr Polizeikontrollen erleben, sind ausschließlich Angehörige ethnischer Minderheiten (EU-MIDIS 2010, S. 3); 66 % der in der Studie „Being Black in Europe“ (EUMIDIS II 2018, S. 6.) Befragten mit ‚afrikanischem Hintergrund‘ wurde in den letzten zwölf Monaten polizeilich angehalten. Mehr als ein Drittel (37 %) erlebte dies als Ethnic Profiling, also als Polizeiarbeit, die sich nicht an verdächtigem
1Es
handelt sich hierbei um ein fiktives Fallbeispiel.
S. Luimpöck (*) FH Burgenland, Eisenstadt, Österreich E-Mail: [email protected] G. Wild Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Diebäcker und G. Wild (Hrsg.), Streetwork und Aufsuchende Soziale Arbeit im öffentlichen Raum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28183-0_8
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Verhalten orientiert, sondern an vermeintlich ausländischem Aussehen (Hautfarbe, Kleidung, religiöse Symbole etc.). Derartige Kontrollen verletzen nicht nur die Menschenwürde und den Gleichheitsgrundsatz, sondern untergraben auch das Vertrauen der betroffenen Menschen in die Polizei und damit in staatliche Institutionen (vgl. Röggla und Wild 2020). In einer Studie zu Polizeikontrollen mit jungen Menschen in London wird beschrieben, wie regelmäßige Kontrollen – anstatt präventiv zu wirken – sogar immer wieder dazu führen, dass Situationen eskalieren (Williams 2018, S. 7). Der öffentliche Raum bedeutet als Schauplatz sozialer Ungleichheit Risiken der Diskriminierung für Menschen, die sich dort aufhalten, und diese sind nicht unter allen Nutzer*innen des urbanen Raums gleich verteilt. Öffentliche Räume bieten aber neben sich verstärkenden Stigmatisierungsprozessen auch ungleich verteilte Möglichkeiten zur ‚eigensinnigen‘ und selbstermächtigenden Nutzung. Im Zuge von Aneignungsprozessen findet Selbstinszenierung statt, was wiederum mit unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen und darauf folgenden Interventionen und Sanktionen einhergeht, je nachdem ob es sich z. B. um junge oder ältere, mehr oder weniger marginalisierte Menschen handelt. In diesem Geflecht der symbolisch-interaktionistischen Bedeutungsgenerierung spielt auch die Aufsuchende Soziale Arbeit eine Rolle. Mit ihren Interventionen kann sie verstärkend, ausgleichend oder auch de-dramatisierend in Hinblick auf Inszenierungen; bewusstseinsbildend, skandalisierend oder deeskalierend in Hinblick auf Diskriminierungen ihrer Zielgruppen im öffentlichen Raum wirken. Diese Interventionen finden zudem in einem Raum statt, der nicht nur auf Basis von Interaktionen sozial hergestellt wird, sondern umgekehrt wirken seine physischen Merkmale auf die Interaktionen. Ein Gespräch zwischen Streetworker*innen und Nurredin findet mitunter vor einer Parkmauer statt, auf die ein rechtsextremes Symbol, eine rassistische oder sexistische Beschimpfung gesprayt wurden.2 Die ‚Straße‘ als diskursive Metapher, der öffentliche Raum als Kristallisationspunkt von Machtverhältnissen und in seinen territorial-physisch-sozialen Verschränkungen, sind also ihrerseits Einflussfaktoren und (Re-)Produktionsorte von identitätsstabilisierenden oder auch verschiebenden Inszenierungen und Diskriminierungen, das Setting nicht nur geprägt von Flexibilität, Freiwilligkeit und Unvorhersehbarkeit, sondern auch von u. U. rivalisierenden Repräsentationen.
2Die
Zahl der dokumentierten rassistischen Vorfälle und Symbole steigt seit Jahren kontinuierlich an, etwa 15 % der Vorfälle betrafen den öffentlichen Raum (ZARA 2018, S. 12).
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Ausgehend vom oben genannten Fallbeispiel und anhand theoretischer Bezugspunkte zu Subjektivierungs- und Markierungsprozessen, Konzepten der Stigmatisierung und verschiedenen Formen der Diskriminierung zeigt dieser Beitrag Interaktionsdynamiken und Handlungsoptionen, die sich daraus für Sozialarbeiter*innen und ‚Betroffene‘ ergeben.
2 Die Straße als Inszenierungs- und Aneignungsraum Die Straße als Synonym für den urbanen öffentlichen Raum ist besonders auch für Adressat*innen Aufsuchender Sozialer Arbeit als Lebens- bzw. Aufenthaltsraum relevant (vgl. Wild 2013), sie nutzen ihn als Arbeitsort oder wie Nurredin als Treffpunkt. Möglicherweise haben Aufenthaltsqualitäten ‚draußen‘ für Nurredin besondere Bedeutung, weil er zu Hause keine Möglichkeit hat, Freund*innen einzuladen, und weil er kein Geld hat, sich in den mehr werdenden Schani-/Biergärten oder anderen kommerziellen und insofern konsumpflichtigen Orten in der Stadt aufzuhalten. Das Draußen ist für ihn also funktional im Sinne einer Kompensation anderer für bestimme Funktionen nicht zur Verfügung stehender Räume. Es bietet darüber hinaus aber auch Möglichkeiten des Sehens und Gesehen-Werdens, des bewussten zur Schau Stellens und sich Präsentierens, die quasi parallel zu den durch Zugänglichkeit und Macht strukturierten Dimensionen erschlossen werden können. Solche Inszenierungen können im Sinne eines sich selbst Zeigens nach Goffman (1969) als Selbstdarstellungen betrachtet und analysiert werden. So vermitteln aus ‚dramatologischer Sicht‘ Menschen in Interaktionssituationen immer ein Bild von sich, sie stellen ihr ‚Selbst‘ dar, das wiederum von einem Publikum bewertet wird. In diesem Prozess wird Wirklichkeit inszeniert, indem die an der Situation Beteiligten sich wechselweise als Vorführende und als Publikum bestätigen (vgl. Hitzler 1991, S. 278). Nach Goffman (1996, S. 15 ff.) ist dies nur zu einem Teil von einzelnen willentlich steuerbar, während ein anderer Teil sich einer bewussten Macht und Kontrolle entzieht. Dies führt so zu einer Asymmetrie im Kommunikationsprozess, weil nur Beobachtende beide Teile erleben. Auch Raumaneignung kann als ein nur zum Teil bewusstes bzw. intentionales Verhalten verstanden werden. In seiner immateriellen Form wird Raumaneignung in der Raumtheorie Lefebvres beschrieben und meint eine dem normativen Regulationssystem von insbesondere öffentlichen Räumen gegenläufige, interaktionistische Zweckentfremdung, eine Neudefinition im Unterschied zu einer bloßen Nutzung. Als sozialpädagogisches Konzept umfasst Aneignung die
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Wechselwirkung zwischen Raum und Mensch in einer weiteren Facette: Kinder und Jugendliche erschließen sich handelnd die gegenständliche und symbolische Kultur, sie eignen sich Raum also nicht nur durch die konkrete Inbesitznahme eines Ortes (etwa einer Parkbank) an, vielmehr spielen gegenständliche und ‚geschaffene‘ Räume für die Entwicklung von jungen Menschen ebenso eine wichtige Rolle (Deinet 2014). Nicht nur für Jugendliche geht es in diesen Räumen dann einerseits um Rückzug und Nischen für Nicht-Alltägliches, anderseits um Sichtbarkeit und Möglichkeiten des Wahrgenommen Werdens. Den öffentlichen Raum als (jugendkulturelle) Bühne zu achten und zu fördern, ist ein in der mobilen Jugendarbeit spätestens seit den 90er Jahren gängiger Zugang3 – Streetworkprojekte unterstützen (jugendliche) Inszenierungen, z. B. im Sinne von Kulturproduktion u. a. durch die ( Mit-)Organisation von Konzerten oder Filmscreenings im öffentlichen Raum. Christian Reutlinger beschreibt die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte in seinem Artikel zur Aneignung öffentlicher Räume Jugendlicher unter der Annahme, dass junge Menschen „das Spiel mit der Sichtbarkeit“ im öffentlichen Raum für eine gelingende Entwicklung brauchen (Reutlinger 2015, S. 53). Er zeichnet nach, wie pädagogische Ansätze den Ermöglichungsaspekt der Straße unter Anerkennung der Sichtbarkeit betonen, und wie durch veränderte Ordnungspolitiken sichtbare Gruppen Jugendlicher und deren Verhalten zunehmend skandalisiert werden. Indem es Jugendlichen vermehrt nur mehr durch kriminalisiertes bzw. non-konformes Verhalten gelingt, sichtbar zu werden, kann von einer Verschärfung im Spiel der Sichtbarkeit gesprochen werden (ebd., S. 54). Die Straße bietet sich also für Inszenierungen und die Erfahrung von Identität durch das öffentlich Wahrgenommen Werden an, ist aber als Spiegel des Gesellschaftlichen Veränderungen unterworfen. Das städtische Draußen-Sein kann auch gegenläufig zur Erfahrung von Anonymität und Rückzug gesucht werden, wenn Privatheit bzw. das Zu-Hause-Sein stark sanktionierend, eng oder bedrohlich erlebt werden. Gerade Menschen, die für anerkennungsfördernde Bühnen besonders auf den öffentlichen Raum angewiesen sind, erfahren in ihren bewussten und unbewussten Selbstdarstellungen und Aneignungsversuchen aber oft negative Aufmerksamkeit und mehr oder weniger subtile Abwertung und Stigmatisierung.
3Exemplarisch
dafür in Wien die Gründung der Back on Stage Projekte 1992 (Verein Wiener Jugendzentren).
Inszenierung und Diskriminierung: Der öffentliche Raum …
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3 Ungleiche Inszenierungsmöglichkeiten und -bewertungen 3.1 Aneignung und Inszenierung – geschlechtlich konnotiert und intersektional analysierbar Wäre Nurredin eine junge Frau*, welche Möglichkeiten der Aneignung und Inszenierung hätte sie, und mit welchen Zuschreibungen wäre ihr Aufenthalt am Rande des Parks verbunden? Würde sie auch von der Polizei kontrolliert, oder mit welchen Interventionen müsste sie rechnen? Werden öffentliche Inszenierungsräume nach Geschlecht differenziert analysiert, wird schnell offensichtlich, dass es sich bei als bedrohlich wahrgenommen Jugendgruppen um männliche Jugendliche handelt, während in Bezug auf junge Frauen* eher ein Angstraumdiskurs vorherrscht bzw. tendenziell mehr über die Abwesenheit von Mädchen* als über deren Präsenz gesprochen wird. Nach einem aktuell teils auch mit kulturalisierenden, islamfeindlichen Elementen aufgeladenen Diskurs laufe das weibliche Geschlecht im öffentlichen Raum Gefahr Opfer sexueller Übergriffe zu werden. Mädchen* und Frauen* werden nach dieser auch massenmedial vermittelten Argumentation unter dem Vorwand des Schutzes in den privaten Raum zurückverwiesen, weibliche* Inszenierungen in bürgerlicher Tradition tendenziell als anrüchig angesehen. So wird das Verhalten von Mädchen* und männlichen* Jugendlichen im öffentlichen Raum weiterhin als unterschiedlich wahrgenommen und different beschrieben: Jungen*en seien demnach häufig expansiver in ihrem Raumverhalten (durch Spiele wie z. B. Fußball); Mädchen* legen im öffentlichen Raum eher ziel- und zweckgebundene Wege zurück und sind – obwohl weniger oft von der Polizei kontrolliert – häufig stärkeren Kontrollen durch Eltern oder männliche Verwandte unterworfen. Außerdem sind Mädchen* tendenziell in kleineren Gruppen (zu zweit/zu dritt) unterwegs und fallen dadurch weniger auf als junge Männer*. Eine andere gängige Unterscheidung besteht darin, dass der öffentliche Raum für Buben* einen Bewegungsraum und für Mädchen* einen Kommunikations- und Begegnungsraum darstelle. Das Denken in Geschlechterdichotomien berücksichtigt allerdings weder nicht-geschlechtskonformes Verhalten im öffentlichen Raum noch die Unterschiede zwischen den Mädchen* bzw.männlichen* Jugendlichen untereinander – eine intersektionale Perspektive4
4Siehe
weiter unten in diesem Artikel.
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erscheint hier sinnvoll. Dies bedeutet, dass die (auch imaginierten) DifferenzKategorien, aufgrund derer Adressat*innen Diskriminierung ausgesetzt sind,5 nicht additiv oder in einer Hierarchie, sondern in ihren Verschränkungen zu analysieren und zu bearbeiten sind. Beispielsweise unterscheiden sich Kinder wenig in ihrer Nutzung des öffentlichen Raums, auch männliche* Jugendliche aus bürgerlicher Bildung affinen Milieus legen eher zweckgebundene Wege zurück etc. (vgl. Bahnfrei/Juvivo 2016, S. 30). Für die Aufsuchende Soziale Arbeit kann die verstärkte Integration einer intersektionalen Haltung bedeuten, auf Diskriminierungen in ihren inter- und intrakategorialen Verschränkungen, aber auch auf Privilegien und Ressourcen sowie auf die eigene Beteiligung an der Herstellung und Reproduktion von Differenzen zu schauen. In Abgrenzung zu einem Empowerment, das Verantwortung implizit und ausschließlich beim Individuum sieht, nimmt eine intersektional gedachte Praxis kritisch die Herstellung und Reproduktion von Differenzen in den Blick. Diese Fokussierung bedeutet Selbstreflexivität auf den Ebenen persönlicher, professioneller und organisationaler Involviertheiten bei gleichzeitiger und expliziter machtkritischer Thematisierung von z. B. neoliberalen Verwertungszusammenhängen (vgl. Wild 2016, S. 148).
3.2 Inszenierungsräume als (diskursive) Konflikträume mit performativem Potenzial Die Ungleichheit in der Erschließungsmöglichkeit von Inszenierungsräumen und deren geschlechtlich codierten diskursiven Aufladung gewinnt zusätzliche Brisanz, wenn frei zugängliche Räume in der Stadt knapper werden, worauf u. a. (Hauck et al. 2017, S. 317) hinweisen, und daher vermehrt Konflikte durch unterschiedliche Aneignungsinteressen entstehen. Diese Konflikte sind auch häufig auf einer diskursiven Ebene angesiedelt und werden nur zum Teil direkt auf der Straße ausgehandelt. Hinzu kommt, dass es durch Bürokratisches Labelling (Witteborn 2011) zur Einschränkung der Mobilität bestimmter Gruppen führen kann, wodurch es zu abnehmenden Begegnungswahrscheinlichkeit zwischen ihnen und der Mehrheitsbevölkerung bzw. der Wohnbevölkerung bestimmter Bezirke kommt. Dies
5In
der US-Tradition race, gender, class, sonst auch (dis-)ability, soziale Herkunft, nationale Zugehörigkeit, Sprache, Religion, Alter, Hautfarbe, Religion, sexuelle Orientierung etc.
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wiederum fördert ein Othering, welches Gefühle des Sich-bedroht-Fühlens und Vorurteile begünstigt, wie Ahmed (2004) am Beispiel von Asylsuchenden zeigte. In Folge poststrukturalistischer Denktraditionen finden sich Hinweise nicht nur auf die diskursive Reproduktion von Machstrukturen durch Inszenierung im öffentlichen Raum, sondern es lassen sich in der Tradition von Judith Butler durch performative Verschiebungen Chancen der (politischen) Beeinflussung von Normen sehen (vgl. Distelhorst 2009, S. 46). Streetworker*innen sind insofern gefordert, nicht nur Normalisierungsstandards – auch die eigenen – immer einer kritischen Reflexion zu unterziehen, sondern auch Offenheit für die Wahrnehmung, Ermöglichung und Verstärkung von Verschiebungen in den lebensweltlichen Wiederholungen und bei der Einübung von Identitäten zu sehen.
4 Von der Etikettierung zur Diskriminierung Wenn aus dem Handeln individueller Akteur*innen Nachteile für andere Akteur*innen folgen, weil sie diese aufgrund (auch imaginierter) ethnischer oder sozialer Merkmale als minderwertig ansehen, so wird in der Soziologie von Diskriminierung gesprochen. „Diskriminierung besteht in der gesellschaftlichen Verwendung kategorialer Unterscheidungen, mit denen soziale Gruppen und Personenkategorien gekennzeichnet und die zur Begründung und Rechtfertigung gesellschaftlicher (ökonomischer, politischer, rechtlicher, kultureller) Benachteiligungen verwendet werden. Durch Diskriminierung werden auf der Grundlage jeweils wirkungsmächtiger Normalitätsmodelle und Ideologien Personengruppen unterschieden und soziale Gruppen markiert, denen der Status des gleichwertigen und gleichberechtigten Gesellschaftsmitglieds bestritten wird.“ (Scherr 2016, S. 9)
Neben der Betrachtung von Diskriminierung als Interaktion zwischen Individuen und Gruppen wird zusätzlich jene durch Institutionen oder Strukturen erfasst. Die Möglichkeiten von als nicht gleichwertig betrachteten Gruppen werden beschränkt und diese Beschränkung als ‚natürliche‘ begründet. Aufgrund dieser scheinbar legitimierten und ‚alternativlosen‘ Ungleichheit erscheint auch die Ungleichbehandlung natürlich und ist deshalb weder Betroffenen noch diskriminierend Handelnden immer bewusst. Wenn die Polizist*innen in Nurredins Fall höflich seinen Ausweis kontrollieren, entsteht durch ihr Handeln dann ein Nachteil für ihn? Sich in der Nähe befindende Passant*innen beobachten die Handlung und nehmen möglicherweise an, es könnte sich bei dem Jugendlichen um einen Suchtmitteldealer,
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einen Verdächtigen einer sonstigen strafbaren Handlung oder um einen ‚Störenfried‘ handeln, der sich im Park unangemessen verhalten habe. Nurredin wird durch die Ausweiskontrolle im öffentlichen Raum als abweichend markiert. Der Labelling-Ansatz erklärt die Handlungsdynamik, die auf eine solche Markierung folgt. Die Theorie des Etikettierungsansatzes (vgl. Becker 2008, S. 177 ff.) ist auf abweichendes Verhalten bezogen. Labelling meint den Prozess an Zuschreibungen, an dessen Ende durch die wiederholte Interaktion zwischen Stigmatisierten und Umwelt eine Identität auf Basis der Zuschreibung inkorporiert wird. Erst die Definition eines Verhaltens als abweichend von sozial erwünschten Normen führt zu gesellschaftlichen Reaktionen wie Missbilligung oder Sanktionen. In der Folge kommt es zu einer Überbetonung des ursprünglichen Handelns. In Nurredins Fall könnte dies bedeuten, dass er sich tatsächlich auffällig verhält, da er die Erfahrung gemacht hat, selbst ohne strafbar zu handeln, für verdächtig oder kriminell gehalten zu werden. Stellen wir uns nun vor, dass die Polizist*innen ein anderes Mal seine Kleidung, seinen Rucksack oder sein Handy durchsuchen. Nurredins Vertrauen in die Polizei wird sich weiter verringern. Eventuell wird er in einer bedrohlichen Situation auf dem nächtlichen Heimweg nicht die Polizei rufen, sondern versuchen, das Problem selbst zu lösen – unter Umständen unter Einsatz körperlicher Gewalt, oder er meidet bestimmte Orte ganz. Handlungsentscheidungen haben multifaktorielle Hintergründe und es existieren dementsprechend diverse Reaktionsmuster, die keineswegs linear-kausal dazu führen müssen, dass von Diskriminierung Betroffene zu Täter*innen werden. Allerdings erhöhen diskriminierende Verhaltensweisen die Wahrscheinlichkeit, dass für Nurredin einige Handlungsmöglichkeiten weniger einfach verfügbar sind. Wiederholte negative Erfahrungen können dazu beitragen, dass er die Option, die Polizei um Hilfe zu rufen, subjektiv kaum mehr als reale Handlungsalternative wahrnimmt. Durch die Verstärkung innerhalb dieses Kreislaufs kann es letztendlich zu einem schrittweisen Aufbau abweichender Identitäten kommen. Die Dynamik dieser Verhaltensweisen, die von der Mehrheitsgesellschaft als Regelverletzungen bzw. Normverstöße definiert werden, d. h. die mehrfache Stigmatisierung von außen, führt in letzter Konsequenz zu abnehmenden Teilhabechancen. Becker (vgl. ebd.) bezieht diesen Erklärungsansatz nicht nur auf kriminelles Handeln, sondern verweist auf die Street Corner Society (Whyte 1943), derzufolge das bloße Sich-Aufhalten von Jugendlichen im öffentlichen Raum von der Meritokratie schon als ‚störend‘ und abweichend etikettiert wird. Die L abelling-Theorie, die Normabweichung als interaktiven Prozess betrachtet, stützt sich dabei auf das Paradigma des Symbolischen Interaktionismus
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(Mead 1968). Erst die Bewertung von Devianz durch die soziale Umwelt als problematisch und die damit einhergehende Sanktionierung führen zu Kriminalisierung oder Pathologisierung von Handlungen – Bettelverbote und zunehmende Ächtung bettelnder Menschen im öffentlichen Raum wären ein weiteres Beispiel hierfür. Mit einem reflexiven Zugang ist es sohin nötig, auch die Rolle der ‚Opfer‘ von Diskriminierung bei der Reproduktion und Verstärkung von Grenzziehungen und bei der Inszenierung von Diskriminierung in den Blick zu nehmen, gleichzeitig aber Tendenzen des victim-blamings entschieden zurückzuweisen. Analog hierzu kann die Diagnose von Bremer und Lange-Vester (2014, S. 14) gedacht werden, dass Biograf*innen nicht nur Opfer der Strukturen sind, welche ihre alltägliche Lebenspraxis bestimmen, sondern gleichzeitig milieubildende Positionen verstärken. Nehmen wir an, Nurredin wird nun in diesem Park von Streetworker*innen angesprochen, die nach außen als solche erkennbar sind (etwa durch Jacken oder Taschen mit einem Logo der Organisation). Wieder könnten Passant*innen den Eindruck gewinnen, Nurredin sei zuvor unangenehm aufgefallen, sodass er der Hilfe durch Soziale Arbeit bedürfe. Straßensozialarbeit kann zu einer ähnlichen wie der oben beschriebenen Dynamik beitragen, denn ihre Präsenz hat bereits normierende Effekte. Sensibilität ist insbesondere bei Zielgruppen Aufsuchender Sozialen Arbeit gefragt, deren Verhalten kriminalisiert wird (z. B. Suchtkranke oder illegalisiert arbeitende Sexarbeiter*innen), da es zu einer Stigmatisierung im Zuge dieses ‚Zwangsoutings‘ kommen kann. Aber auch das Label der Hilfsbedürftigkeit an sich kann problematisch sein: Corina Salis Gross (2004, S. 157) zeigte, dass Geflüchtete als „Traumatisierte“ (ebd.) etikettiert werden, was eine Zuschreibung als passive Opfer mit sich bringt. Geflüchtete mit dieser Etikettierung fühlten sich dadurch im Ankunftskontext in höherem Maß eingeschränkt als durch die eigentliche Traumatisierung aufgrund des Fluchterlebnisses, weil ihnen Handlungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit durch dieses Label abgesprochen werden.
5 Handlungsmuster der Betroffenen – Inszenierungen jenseits von Opfern und Verdächtigen Um sich jenseits von handlungseinschränkenden Zuschreibungen zu positionieren, kann es aus subjektiver Perspektive der Betroffenen sinnvoll erscheinen, Diskriminierungserfahrungen nicht wahrzunehmen bzw. umzudeuten. Hierbei lassen sich fünf verschiedene Handlungsmuster beschreiben:
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Eine Normalisierung der erfahrenen Diskriminierung: „Mit so etwas muss man [als PoC6/als Wohnungsloser etc.] einfach klarkommen.“, „Das ist einfach normal hier [in diesem Park/Bezirk etc.].“, „Ich hab mich schon daran gewöhnt.“, sind typische Aussagen, die auf diese Strategie hindeuten. 1. Eine Verleugnung der Diskriminierungserfahrungen: Als Diskriminierung sehen die Betroffenen lediglich direkte Beschimpfungen, indirekt erlebte Abwertungen blenden sie mit Aussagen wie „Mir passiert so etwas nie.“ aus. Ein kausaler Zusammenhang zwischen Beschimpfungen und der sichtbaren Zugehörigkeit zur diskriminierten Gruppe bzw. der Kategorie, auf deren Basis Diskriminierung geschieht (Geschlecht, race etc.), wird negiert. 2. Eine Entschuldung der Täter*innen: Sätze „Ich kann die verstehen. Sie haben eben schon viele schlechte Erfahrungen mit [Suchtkranken, Migrant*innen, Sexarbeiter*innen etc.] gemacht.“, sind ein Hinweis auf dieses Handlungsmuster. Auch die Hervorhebung guter Absichten wie „Die denken halt, das ist nett, wenn sie fragen, ob mir mit dem Kopftuch heiß ist.“, weist darauf hin. 3. Eine entproblematisierende Umdeutung einer diskriminierenden Handlung liegt dann vor, wenn die Betroffenen die positiven Folgen einer abwertenden Handlung oder einer Vertreibung von einem bestimmten Ort betonen. Dies wird in Sätzen deutlich wie z. B.: „Weil uns die Polizei im Park zu lästig war, gingen wir nur mehr in den Fußballkäfig. Ich wäre sonst nie so ein guter Spieler geworden.“ 4. Von Versuchen einer Problemlösung durch eine Anpassung der eigenen Handlungen kann gesprochen werden, wenn junge Musliminnen beispielsweise ihr Kopftuch nach hinten gebunden tragen, um rassistischen Anfeindungen zu entgehen und im öffentlichen Raum weniger Blicke auf sich zu ziehen. (vgl. Luimpöck 2018, S. 129–133) Mit diesen Handlungsmustern versuchen Betroffene von Diskriminierung unbewusst zu vermeiden, eine Identität als Opfer zu verinnerlichen, was dazu führen kann, dass sie die Versuche anderer Betroffener, sich dagegen zur Wehr zu setzen, als ‚Streitsucht‘ abwerten. Es ist demnach nicht von einer ungebrochenen Solidarität innerhalb nicht-privilegierter Gruppen auszugehen, was für aufsuchende
6People
of Colour. Es wird versucht, in diesem Beitrag abwertende Bezeichnungen zu vermeiden. Allerdings verwenden Adressat*innen selbst in ihrer Alltagssprache durchaus Eigenbezeichnungen, die davon abweichen.
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Zugänge, die auf Aktivierung und Kollektivierung setzen, eine zusätzliche Herausforderung darstellen kann. Die Kategorisierung der Zugehörigkeit zu einer marginalisierten bzw. einer im öffentlichen Raum unerwünschten Gruppe beinhaltet meist eine von außen herangetragene Definition des Opfer- oder Täter*in-Seins. Dies gilt für bestimmte Jugendgruppen, Konsument*innen von Suchtmitteln, Sexarbeiter*innen, von Wohnungslosigkeit Betroffene oder visible migrants. Ihnen wird entweder Passivität und Handlungsunfähigkeit zugeschrieben, oder sie werden als die öffentliche Ruhe und Ordnung störende Personen verhandelt. Diese sozialen Kategorisierungen lassen wenig Raum für Selbstbestimmung. Langthaler und Sohler (2008, S. 17 f.) zeigten anhand von Asylsuchenden wie sich der frame des Missbrauchs des Sozialstaats und der „Frame der Humanität“ durch die mediale Berichterstattung zu einem binären Code manifestieren, der eine Einordnung entweder als Kriminelle*r oder Hilfsempfänger*in vorgibt, wobei die Studie darauf verweist, dass sowohl linke als auch rechte Parteien bzw. NGOs an der Aufrechterhaltung dieser polarisierten Binarität beteiligt sind. Allerdings kann Alltagsrassismus gleichzeitig auch eine Möglichkeit für Betroffene bieten, sich dieser binären Zuschreibung zu entziehen: So wählen sie unter Umständen mikrosoziale Strategien, die vor dem Erleben von Ohnmacht und Handlungsunwirksamkeit schützen, und setzen zum Beispiel ihre Schlagfertigkeit bei der Reaktion auf Beschimpfungen im öffentlichen Raum ins Zentrum ihrer Narrationen. Diskriminierung kann demnach zum Ausgangspunkt biografischer Bewältigung werden (vgl. Luimpöck 2019, S. 97 f., 137 f.). Als Voraussetzung für derart gelingendes Bewältigungsverhalten brauchen Betroffene aber Gelegenheiten, Bewusstsein für die erfahrene Diskriminierung zu entwickeln. Welche Rolle Sozialarbeiter*innen dabei zukommt, wird im nächsten Abschnitt thematisiert.
6 Handlungsräume für Soziale Arbeit und Betroffene Handlungsräume, die sich im Umgang mit auf Inszenierung folgenden Diskriminierungen erschließen bzw. nutzen lassen, können auf individueller Ebene rund um Sensibilisierung, Entlastung und Anerkennung formiert werden. Dazu macht es Sinn, vorab die professionelle und individuelle Repräsentanz in den Blick zu nehmen: Soziale Arbeit kann nach wie vor als weiße* Profession beschrieben werden; die meisten ausgebildeten Sozialarbeiter*innen sind als
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Repräsentant*innen von Mehrheitsgesellschaft Benachteiligung nicht im selben Maß ausgesetzt wie ihre Adressat*innen. Betroffene kostet es wiederum ein ungleich höheres Maß an Kraft und Überwindung, einem Gegenüber ohne ‚Migrationshintergrund‘ von Rassismuserfahrungen zu erzählen als Angehörigen der eigenen Gruppe. Birgit Rommelspacher weist darauf hin, dass Betroffene insbesondere diese Thematik gegenüber Gesprächspartner*innen ohne Migrationserfahrung oft unerwähnt lassen, weil sie befürchten, diese könnten es als Schuldzuweisung auffassen. Da weißen* Sozialarbeiter*innen die Schilderung einer von Rassismus betroffenen Person unangenehm sein kann, neigen sie unter Umständen unbewusst dazu, zu bagatellisieren bzw. zu argumentieren, die diskriminierende Handlung stehe nicht mit der Kategorie (etwa der Hautfarbe) oder der Zugehörigkeit zu einer sogenannten ‚Randgruppe‘ in Zusammenhang oder die Betroffenen haben selbst ihren Anteil am Vorfall (vgl. Rommelspacher 2010, S. 6 f.). Eine Sensibilisierung hinsichtlich der Wahrnehmung ist der erste Schritt, damit Betroffene einen diesbezüglichen Gesprächsbedarf bzw. Handlungsoptionen überhaupt erkennen und dann entscheiden, ob sie Angebote der Sozialen Arbeit annehmen wollen – etwa solche einer Beratung oder Begleitung, sich gegen das Verdrängen in öffentlichen Räumen zu Wehr zu setzen. Die dafür herzustellende Basis wäre ein ‚Schutzraum‘ innerhalb des ‚ungeschützen‘ Raumes auf der Straße, in dem ein solches Gesprächssetting möglich scheint. Ein besonderes Augenmerk auf die Gesprächssituation und die Gesprächsführung ist deswegen angezeigt: Aktives Nachfragen kann sinnvoll sein, denn sich jemandem anzuvertrauen, hat in der Regel schon entlastende Effekte. Ähnlich wie bei sexualisierter Gewalt ist bei der Bezeichnung der diskriminierenden Handlung ein sensibles Vorgehen sinnvoll: Analog dazu schlagen Liebscher und Fritzsche (2010, S. 26) vor, nach Ausgrenzungserfahrungen statt nach Diskriminierung zu fragen, da letztere lediglich im Sinne einer absichtlich aggressiven Handlung verstanden wird. Entlastungsgespräche können sich darüber hinaus an den vier Dimensionen der Bewältigungslage nach Lothar Böhnisch orientieren: Zunächst ist die Bewältigungslage strukturiert durch die Dimension des Ausdrucks, als der Chance, seine Betroffenheit mitteilen zu können und nicht abspalten zu müssen (vgl. Böhnisch 2016, S. 28). Die zweite Dimension der Anerkennung ist als Chance oder Verwehrung sozialer Einbindung zu verstehen (vgl. ebd.). Sie bedeutet aber auch, die erfahrene Abwertung des*der Betroffenen anzuerkennen.
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Abhängigkeit bedeutet als dritte Dimension entweder die Chance oder Verwehrung eines selbstbestimmten Handelns (vgl. Böhnisch 2016, S. 28). Erst im dritten Schritt geht es also darum, Handlungsoptionen aufzuzeigen. Je nach Gesprächsverlauf können Sozialarbeiter*innen nach der Schilderung, welche sie idealerweise möglichst selten unterbrechen, danach fragen, was sich Betroffene als nächsten Schritt wünschen. Dies kann je nach Ausgangslage unterschiedlich sein: Von einer Begleitung zu einer Anzeigeerstattung bis zu unterstützenden Maßnahmen, um gewisse Räume – etwa Fußballkäfige für Mädchen – besser zugänglich zu machen. Es braucht neben Informationsvermittlung zu weiterführenden Unterstützungsangeboten (etwa mögliche rechtliche Schritte bei Polizeigewalt, Diskriminierung durch Ämter oder im Schulsystem oder die Meldung rassistischer Graffiti bei diesbezüglichen. Einrichtungen) auch eine Vorbereitung der Betroffenen auf Risiken bzw. eventuell frustrierende Erfahrungen der Wirkungslosigkeit, mit denen eine juristische Vorgangsweise verbunden sein kann. Die Einleitung rechtlicher Schritte gegen Diskriminierung oder auch ein Sich-zur-Wehr-Setzen als etwas Undenkbares zu deuten, kann auch in Zusammenhang damit stehen, dass ein regelmäßiges Aufeinandertreffen mit der Gegenpartei unvermeidbar wäre z. B. in Parks und Stadtteilen, in denen die Nutzer*innen öffentlicher Flächen einander täglich begegnen. Die vierte Dimension, die der Aneignung, umfasst schließlich die Möglichkeit oder Verwehrung, sich in die sozialräumliche Umwelt sozial erweiternd einzubringen (vgl. Böhnisch 2016, S. 28). Dieser Schritt geht über die Gesprächssituation hinaus, indem in partizipativer Weise gemeinsam mit Jugendlichen Möglichkeiten der selbstermächtigenden Nutzung geschaffen werden. Dafür bräuchte es gegebenenfalls eine Kritik an gesellschaftlichen Normalisierungsstandards in Bezug auf die Illegalisierung bestimmter Nutzungspraxen im öffentlichen Raum. Zusätzlich zu den skizzierten Entlastungsgesprächen können Angebote mit (flexiblem) Workshopcharakter hilfreich sein, in denen Betroffene ihre Handlungskompetenz bei Alltagsrassismus erhöhen bzw. Zivilcourage-Trainings für nicht direkt Betroffene, insbesondere bei Konflikten mit Anrainer*innen oder anderen sogenannten marginalisierten Gruppen an öffentlichen Plätzen. Zusätzlich können Streetworker*innen, die sich im Rahmen solcher Workshops weiterbilden, als Multiplikator*innen die Inhalte einer breiteren Personengruppe als jenen, die direkte Diskriminierungserfahrungen gemacht haben, zugänglich machen und dafür sensibilisieren, dass Diskriminierung nicht als Problem zu verstehen ist, das ausschließlich von den Betroffenen zu lösen sei.
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7 Fazit Die beschriebenen Handlungsmuster der Betroffenen zeigen, dass Streetworker*innen sich nicht darauf verlassen können, dass Adressat*innen ihnen Benachteiligungserfahrungen von sich aus schildern oder diese überhaupt bewusst wahrnehmen. Insofern muss Soziale Arbeit davon ausgehen, dass Betroffene möglicherweise trotz erfahrener Ausgrenzung keine Problemstellung und infolge dessen keinen Hilfebedarf sehen, auf dessen Grundlage sie Angebote (Aufsuchender) Sozialer Arbeit annehmen. Daher werden Streetworker*innen – insbesondere als Zeug*innen vor Ort – zu einer Schnittstelle, die maßgeblich an der Sensibilisierung für Diskriminierung beteiligt ist. Nur auf Basis dieser Bewusstseinsbildung kann ein Fall überhaupt zum Fall für Soziale Arbeit werden, wobei Konstruktionsleistungen von Adressat*innen wie auch Sozialarbeiter*innen dafür gleichermaßen ausschlaggebend sind (vgl. Stark 2013, S. 129). Streetworker*innen können aber auch bei sensibler Gesprächsführung damit rechnen, auf Widerstand bei den Betroffenen zu stoßen, denn um Unterstützung anzunehmen, müssen sich Adressat*innen zuerst als ‚hilfsbedürftig‘ taxieren lassen, wobei die Selbstwahrnehmung als ‚Opfer‘ von Diskriminierung, struktureller Gewalt oder Exklusion durch gesellschaftliche Strukturen geformt ist. Einer interaktionistischen Perspektive folgend reproduzieren aber umgekehrt auch subjektive Identitäten die gesellschaftlichen Strukturen, wodurch Identitätsarbeit als eine Herstellung von Identität auf Grundlage dialogischer Anerkennung auch eine ständige Neuformierung der eigenen Identität ermöglicht. Performative Verschiebungen wirken so über die Ebene der Subjekte hinaus und können als Hinweis auf die Potenziale, die in den Selbstdarstellungen im öffentlichen Raum liegen, gelesen werden. Neben der Vermeidung und Bearbeitung von Benachteiligungen bedeutet das für die Aufsuchende Soziale Arbeit, auch die ermöglichende Seite diverser Inszenierungspraxen im Auge zu behalten und diese in ihren zahlreichen intendierten wie unbewussten Effekten zu ermöglichen. Denn erst die sichtbare Nutzung und Aneignung im öffentlichen Raum ermöglichen die Repräsentation marginalisierter Gruppen (zu Repräsentation und Produktion eines ‚dritten Raums‘ siehe Bareis in diesem Band) und wirken auf deren Selbstbild und ihre Identitäts(re-)konstruktionen. Ziele der Straßensozialarbeit hinsichtlich Diskriminierung im öffentlichen Raum sind daher, bei den ‚Betroffenen‘ – seien es Menschen ohne Wohnung, Suchtkranke, Jugendliche oder auch Bewohner*innen eines sozial- und infrastrukturell
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benachteiligten Stadtteils – Sensibilität für gesellschaftliche Machtverhältnisse und Diskriminierung zu fördern, eigene Inszenierungen und Handlungsmuster zu reflektieren, neue Handlungsoptionen sichtbar zu machen, sowie Adressat*innen dabei zu unterstützen, diese auszuprobieren. Dazu braucht es Selbstreflexion seitens der Sozialarbeiter*innen zur Wahrnehmung von Diskriminierung, den Einsatz professioneller Gesprächsführung beim Umgang mit dieser und Kritik an Sicherheitspolitiken, die den Effekt haben, marginalisierte Gruppen aus öffentlichen Räumen zu vertreiben, was deren Selbstrepräsentation unmöglich macht. Es braucht also die Erhaltung urbaner Freiräume als Schauplätze für eine positive Inszenierung und Aneignung als Voraussetzung für die Bewältigung von Diskriminierungserfahrungen.
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