Handbuch Politik USA [2. Aufl.] 9783658238445, 9783658238452

Zum Ende der ersten Amtszeit Donald J. Trumps als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wurde das Handbuch Polit

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German Pages XI, 764 [750] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XI
Front Matter ....Pages 1-1
Die Präsidentschaft Donald J. Trumps (Christian Lammert, Markus B. Siewert, Boris Vormann)....Pages 3-16
Front Matter ....Pages 17-17
Politische Kultur (Winfried Fluck)....Pages 19-36
Religion und Politik in den Vereinigten Staaten von Amerika (Michael Hochgeschwender)....Pages 37-53
Populismus in den Vereinigten Staaten von Amerika (Michael Oswald)....Pages 55-72
Politische Theorie (Hans-Jörg Sigwart)....Pages 73-88
Neoliberalismus (Thomas Biebricher)....Pages 89-104
Sozialstruktur der Vereinigten Staaten von Amerika (Axel Murswieck)....Pages 105-126
Front Matter ....Pages 127-127
Verfassungspolitische Grundlagen des Regierungssystems (Barbara Zehnpfennig)....Pages 129-147
Dimensionen von Staatlichkeit (Markus Kienscherf)....Pages 149-159
Kongress (Christoph M. Haas)....Pages 161-175
Präsident (Markus B. Siewert)....Pages 177-194
Supreme Court (Michael Dreyer, Nils Fröhlich)....Pages 195-220
Bundesverwaltung (Kai-Uwe Schnapp)....Pages 221-238
Militär (Florian Böller)....Pages 239-255
Die USA als föderales Regierungssystem (Eva Marlene Hausteiner)....Pages 257-267
Metropolregionale Akteure (Boris Vormann)....Pages 269-284
Kommunen (Boris Vormann, Christian Lammert)....Pages 285-300
Front Matter ....Pages 301-301
Amerikanische Öffentlichkeit und ihre Infrastrukturen (Christoph Raetzsch)....Pages 303-316
Medien (Curd Knüpfer)....Pages 317-332
Demokratie, Partizipation und Ungleichheit in den Vereinigten Staaten (Christian Lammert, Boris Vormann)....Pages 333-346
Soziale Bewegungen (Margit Mayer)....Pages 347-364
Polarisierung (David Sirakov)....Pages 365-385
Parteien (Maik Bohne, Torben Lütjen)....Pages 387-404
Wahlen (Philipp Weinmann)....Pages 405-422
Lobbyismus und Wahlkampffinanzierung (Jörg Hebenstreit)....Pages 423-443
Front Matter ....Pages 445-445
Bildungspolitik (Michael Dobbins, Tonia Bieber)....Pages 447-464
Gesundheitspolitik (Betsy Leimbigler, Christian Lammert)....Pages 465-479
Sozialpolitik (Christian Lammert)....Pages 481-496
Arbeitsmarktpolitik (Julia Püschel)....Pages 497-511
Wirtschaftspolitik (Stormy-Annika Mildner)....Pages 513-531
Einwanderungspolitik (Henriette Rytz)....Pages 533-543
Umwelt- und Klimapolitik (Simone M. Müller)....Pages 545-560
Energiepolitik unter neuen Vorzeichen (Stormy-Annika Mildner, Sonja Thielges, Kirsten Westphal)....Pages 561-577
Sicherheitspolitik (Lars Berger)....Pages 579-591
Außenpolitik (Stefan Fröhlich)....Pages 593-606
Front Matter ....Pages 607-607
Die USA und das Völkerrecht (Helmut Philipp Aust)....Pages 609-618
Die USA und internationale Organisationen (Lora Anne Viola)....Pages 619-631
Die USA und die transatlantischen Beziehungen (Gerlinde Groitl)....Pages 633-643
Die USA und Russland (Sabine Fischer, Susan Stewart)....Pages 645-658
Die USA und Asien (Markus Liegl, Iris Wurm)....Pages 659-673
Die USA und der Nahe Osten (Steffen Hagemann)....Pages 675-687
Die USA und die Amerikas (Detlef Nolte)....Pages 689-699
Die USA und Afrika (Frank Mattheis)....Pages 701-716
Make America Great Again (Simon Koschut)....Pages 717-732
Back Matter ....Pages 733-764
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Handbuch Politik USA [2. Aufl.]
 9783658238445, 9783658238452

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Christian Lammert Markus B. Siewert Boris Vormann  Hrsg.

Handbuch Politik USA 2. Auflage

Handbuch Politik USA

Christian Lammert • Markus B. Siewert Boris Vormann Hrsg.

Handbuch Politik USA 2., vollständig überarbeitete Auflage

mit 47 Abbildungen und 17 Tabellen

Hrsg. Christian Lammert Freie Universität Berlin Berlin, Deutschland

Markus B. Siewert Hochschule für Politik TU München München, Deutschland

Boris Vormann Bard College Berlin Berlin, Deutschland

ISBN 978-3-658-23844-5 ISBN 978-3-658-23845-2 (eBook) ISBN 978-3-658-31437-8 (print and electronic bundle) https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2016, 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Lektorat: Jan Treibel Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhaltsverzeichnis

Teil I Einleitung - Handbuch Politik USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Die Präsidentschaft Donald J. Trumps . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Lammert, Markus B. Siewert und Boris Vormann

3

Teil II The Liberal Tradition in America: Gesellschaft und Ideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Politische Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Winfried Fluck

19

.......

37

..............

55

Politische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Jörg Sigwart

73

Neoliberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Biebricher

89

..............

105

Teil III Checks and Balances: Institutionen, Akteure und Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

127

Religion und Politik in den Vereinigten Staaten von Amerika Michael Hochgeschwender Populismus in den Vereinigten Staaten von Amerika Michael Oswald

Sozialstruktur der Vereinigten Staaten von Amerika Axel Murswieck

Verfassungspolitische Grundlagen des Regierungssystems . . . . . . . . . . Barbara Zehnpfennig

129

Dimensionen von Staatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markus Kienscherf

149 V

VI

Inhaltsverzeichnis

Kongress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph M. Haas

161

Präsident . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markus B. Siewert

177

Supreme Court . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Dreyer und Nils Fröhlich

195

.........................................

221

Militär . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Böller

239

Die USA als föderales Regierungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Marlene Hausteiner

257

Metropolregionale Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Boris Vormann

269

Kommunen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Boris Vormann und Christian Lammert

285

Teil IV

E pluribus unum? Öffentlichkeit und Teilhabe . . . . . . . . .

301

Amerikanische Öffentlichkeit und ihre Infrastrukturen . . . . . . . . . . . . Christoph Raetzsch

303

Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Curd Knüpfer

317

Bundesverwaltung Kai-Uwe Schnapp

Demokratie, Partizipation und Ungleichheit in den Vereinigten Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Lammert und Boris Vormann

333

Soziale Bewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Margit Mayer

347

Polarisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . David Sirakov

365

Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maik Bohne und Torben Lütjen

387

Wahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philipp Weinmann

405

Lobbyismus und Wahlkampffinanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg Hebenstreit

423

Inhaltsverzeichnis

Teil V

VII

Policies Matter: Regieren im 21. Jahrhundert

..........

445

Bildungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Dobbins und Tonia Bieber

447

Gesundheitspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Betsy Leimbigler und Christian Lammert

465

Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Lammert

481

........................................

497

Wirtschaftspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stormy-Annika Mildner

513

Einwanderungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Henriette Rytz

533

Umwelt- und Klimapolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Simone M. Müller

545

Energiepolitik unter neuen Vorzeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stormy-Annika Mildner, Sonja Thielges und Kirsten Westphal

561

..........................................

579

Außenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Fröhlich

593

Teil VI

Empire of Liberty: Die USA in der Welt . . . . . . . . . . . . . . .

607

................................

609

Die USA und internationale Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lora Anne Viola

619

Die USA und die transatlantischen Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerlinde Groitl

633

Die USA und Russland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Fischer und Susan Stewart

645

Die USA und Asien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markus Liegl und Iris Wurm

659

Die USA und der Nahe Osten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steffen Hagemann

675

Arbeitsmarktpolitik Julia Püschel

Sicherheitspolitik Lars Berger

Die USA und das Völkerrecht Helmut Philipp Aust

VIII

Inhaltsverzeichnis

Die USA und die Amerikas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Detlef Nolte

689

Die USA und Afrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Mattheis

701

Make America Great Again . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Simon Koschut

717

Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . .

733

..................................

755

Sach- und Personenregister

Autorenverzeichnis

Helmut Philipp Aust Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland Lars Berger Fachbereich Nachrichtendienste, Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Berlin, Deutschland Tonia Bieber Bundesministerium für Bildung und Forschung, Berlin, Deutschland Thomas Biebricher Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt, Deutschland Maik Bohne Policy Fellow, Das Progressive Zentrum, Berlin, Deutschland Florian Böller Fachbereich Sozialwissenschaften, TU Kaiserslautern, Kaiserslautern, Deutschland Michael Dobbins Fachbereich Politik und Verwaltung, Universität Konstanz, Konstanz, Deutschland Michael Dreyer Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena, Deutschland Sabine Fischer Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, Deutschland Winfried Fluck John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland Nils Fröhlich Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena, Deutschland Stefan Fröhlich Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen, Deutschland Gerlinde Groitl Universität Regensburg, Regensburg, Deutschland Christoph M. Haas Seminar für Wissenschaftliche Politik, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Freiburg, Deutschland Steffen Hagemann Heinrich-Böll-Stiftung, Tel Aviv, Israel Eva Marlene Hausteiner Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn, Deutschland Jörg Hebenstreit Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena, Deutschland IX

X

Autorenverzeichnis

Michael Hochgeschwender Amerika-Institut, Ludwigs-Maximilians-Universität München, München, Deutschland Markus Kienscherf John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland Curd Knüpfer John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland Simon Koschut Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland Christian Lammert John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland Betsy Leimbigler John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland Markus Liegl Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Deutschland Torben Lütjen Institut für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung, Heinriche-Heine Universität Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland Frank Mattheis Université libre de Bruxelles, Brüssel, Belgien University of Pretoria, Pretoria, Südafrika Margit Mayer John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland Stormy-Annika Mildner Department of External Economic Policy, Federation of German Industries, Berlin, Deutschland Simone M. Müller Rachel Carson Center for Environment and Society, LudwigsMaximilians-Universität München, München, Deutschland Axel Murswieck Institut für Politische Wissenschaft, Universität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland Detlef Nolte Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, Berlin, Deutschland Michael Oswald Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Universität Passau, Passau, Deutschland Julia Püschel John-F.-Kennedy Institut, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland Christoph Raetzsch Department of Media and Journalism Studies, Aarhus Universitet, Aarhus, Dänemark Henriette Rytz Berlin, Deutschland Kai-Uwe Schnapp Fachbereich Sozialwissenschaften, Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland Markus B. Siewert Hochschule für Politik, TU München, München, Deutschland

Autorenverzeichnis

XI

Hans-Jörg Sigwart Institut für Politische Wissenschaft, RWTH Aachen University, Aachen, Deutschland David Sirakov Atlantische Akademie Rheinland-Pfalz e.V., Kaiserslautern, Deutschland Susan Stewart Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, Deutschland Sonja Thielges Institute for Advanced Sustainability Studies e.V., Potsdam, Deutschland Lora Anne Viola John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland Boris Vormann Bard College Berlin, Berlin, Deutschland Philipp Weinmann Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, HelmutSchmidt-Universität, Hamburg, Deutschland Kirsten Westphal Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, Deutschland Iris Wurm Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Deutschland Barbara Zehnpfennig Philosophicum, Universität Passau, Passau, Deutschland

Teil I Einleitung - Handbuch Politik USA

Die Präsidentschaft Donald J. Trumps Krise der Demokratie und Potenzial zur demokratischen Selbsterneuerung Christian Lammert, Markus B. Siewert und Boris Vormann

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Idealbilder der Vereinigten Staaten von Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Krise als neuer Status quo? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Institutionelle Dysfunktionalität und politische Blockade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Protest und Reaktion in der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Krise der Weltmacht und der liberalen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4 6 7 9 11 13 14 15

Zusammenfassung

Die Krisentendenzen, die sich seit Beginn des 21. Jahrhunderts in der Finanzwirtschaft und in den politischen Institutionen Bahn brechen sowie den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Funktionieren des politischen Systems der USA unterminieren, könnten auf den ersten Blick als völlig neuartige Entwicklungen interpretiert werden. Aber dieser Eindruck trügt. Die Krisen verlaufen in Mustern, politische Akteure beziehen sich auf teils bis zur Amerikanischen Revolution zurückreichende Diskurse und Legitimationsnarrative und sind nicht zuletzt in ihrem politischen Handeln mal mehr, mal weniger an institutionelle C. Lammert (*) John-F.-Kennedy-Institut, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] M. B. Siewert Hochschule für Politik, TU München, München, Deutschland E-Mail: [email protected] B. Vormann Bard College Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_55

3

4

C. Lammert et al.

Pfadabhängigkeiten und Sachzwänge gebunden. Der Fortgang der Geschichte ist zwar keine ewige Wiederholung des schon da Gewesenen – er bleibt ungewiss. Doch die Muster, in denen er sich vollzieht, lassen sich nur vor diesem größeren Gesamtbild erklären und verstehen. Schlüsselwörter

Krise der Demokratie · Gewaltenteilung · Liberalismus · Polarisierung · Trumpismus

1

Einleitung

Seit fast vier Jahren ist Präsident Donald J. Trump nun schon im Amt und es fällt schwer, mit Zuversicht über die Zukunft der Demokratie in den USA nachzudenken. Trumps Politikstil kann in vielerlei Hinsicht als unorthodox und disruptiv bezeichnet werden. Auf die Expertise der Bürokratie setzt er viel weniger als seine Vorgänger im Weißen Haus, er verweigert sich einem konstruktiven Diskurs mit dem Kongress und führt das Amt im ständigen Wahlkampfmodus. Dabei gibt sich Trump überhaupt nicht erst die Mühe, als Repräsentant des gesamten Volkes oder als uniter aufzutreten, sondern tritt dezidiert als divider auf, der gesellschaftliche Ressentiments schürt und die Polarisierung in Politik und Gesellschaft weiter anfacht. Medien werden als Feinde des Volkes bezeichnet, wenn sie kritisch über seine Politik berichten, wie überhaupt das System der wechselseitigen Gewaltenkontrolle als lästig und störend empfunden wird. So sind auch die zahlreichen Bewunderungsbekundungen Trumps für die fehlenden checks and balances und den Regierungsstil von Autokraten wie Vladimir Putin, Recep Erdogan oder Kim Jong Un, unter früheren Präsidenten gleichwelcher Partei unvorstellbar, heute kaum noch eine Überraschung. Auch außenpolitisch rüttelt Trump mit seiner Politik an den Grundfesten der nach dem Zweiten Weltkrieg etablierten Weltordnung. Multilateralismus lehnt er ab, Handel und Sicherheit will er lieber bilateral regeln oder es gleich ganz allein machen. Das Motto lautet also auch nach außen America first. Die NATO-Partner werden angehalten, mehr zu investieren, und für US-Militärpräsenz soll ordentlich bezahlt werden. Das transatlantische Bündnis verkommt mehr und mehr zu einem kompetitiven Projekt, während von der viel gelobten transatlantischen Freundschaft und Wertegemeinschaft nicht mehr viel übrig zu sein scheint. Aber auch in den anderen Weltregionen hält sich Trump kaum an das etablierte Regelwerk der internationalen Beziehungen: Mit China und auch Lateinamerika werden Handelskriege geführt und aus geostrategischen Konfliktregionen wie in Syrien zieht man sich unilateral ohne Rücksicht auf Verbündete und Verluste zurück. Autokraten werden hofiert, während traditionelle Bündnispartner wie Kanada oder Deutschland vor den Kopf gestoßen werden. Außenpolitik – so der Eindruck – reduziert sich bei Trump weitgehend auf Hände schütteln, Twittern und Vier-Augen-Gespräche. Die Erfolge dieser Politik halten sich in Grenzen, ganz abgesehen von der Verunsicherung, die dieser Politikstil in der Welt erzeugt.

Die Präsidentschaft Donald J. Trumps

5

Dabei muss konstatiert werden, dass die Trump-Administration die liberale Weltordnung grundsätzlich in Frage stellt. Die USA ziehen sich aus der Verantwortung zahlreicher internationaler Organisationen wie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Welthandelsorganisation (WTO) zurück und stellen auch die Funktionsmechanismen des Nordatlantikpakts (NATO) immer wieder in Frage. Innenpolitisch verschwimmt die Grenze zwischen privaten und öffentlichen Interessen und zentrale Kontrollmechanismen innerhalb der Administration und durch den Kongress werden von der Trump-Administration bewusst ignoriert und sogar sabotiert. Das Justizministerium hat sich mehrfach in laufende Gerichtsverfahren eingemischt, in denen Vertraute Trumps auf der Anklagebank saßen. Ein unabhängiges Justizwesen sieht anders aus. Inwieweit hier bereits von einem Demokratiedefizit oder gar einem irreparablen Schaden an der Demokratie gesprochen werden kann, bleibt abzuwarten. Eines zeigt sich jedoch ganz deutlich: auch die demokratische Praxis der ältesten Demokratie der Welt ist nicht selbstverständlich und hat ihre Grenzen. Wie kaum ein anderes Thema dominiert das ‚Phänomen Trump‘ den öffentlichen Diskurs in den USA und in der Welt. Zum Teil ist dies auch eine gezielte Strategie der Administration, um von den zahlreichen Skandalen und Problemen im Weißen Haus abzulenken, wie beispielsweise den Untersuchungen des vom Justizministerium eingesetzten Sonderermittlers Robert Mueller. Dieser sollte prüfen, ob Trumps Wahlkampfteam im Rahmen der Präsidentschaftswahlen von 2016 mit der russischen Regierung unerlaubt zusammengearbeitet (collusion) und inwieweit der Präsident die Justiz bei ihren Ermittlungen behindert hat (obstruction of justice). Entgegen vielfacher Beteuerung Trumps entlastete der Abschlussbericht den Präsidenten keineswegs; die Ermittler orientierten sich lediglich an der gängigen Rechtsauffassung des Justizministeriums, wonach ein amtierender Präsident strafrechtlich nicht belangt werden kann. Jedoch forderte Sonderermittler Mueller in einer öffentlichen Aussprache wenig zweideutig dazu auf, ein Amtsenthebungsverfahren (impeachment) einzuleiten. Mittlerweile wurde ein solches Verfahren zur Amtsenthebung durchgeführt: Ein durch einen Whistleblower der Trump-Administration zur Anzeige gebrachtes Telefonat zwischen Trump und dem Präsidenten der Ukraine Wolodymyr Selenskyi hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. In diesem Gespräch forderte Trump den ukrainischen Präsidenten dazu auf, Untersuchungen in einen politischen Korruptionsskandal aufzunehmen und den vermeintlichen Verstrickungen von Hunter Biden, Sohn des ehemaligen Demokratischen Vizepräsidenten und Herausforderer in den Präsidentschaftswahlen 2020 Joe Biden, in diese Affäre nachzugehen. Investigative Medienberichte brachten ans Licht, dass die Trump-Administration wohl durch den Kongress verabschiedete Militärhilfen eingefroren hatte, um die ukrainische Regierung unter Druck zu setzen und somit ein quid pro quo – d. h. Militärhilfen als Gegenleistung für mögliche politische Wahlkampfhilfe – zu erzwingen suchte. Am 18. Dezember 2019 leitete das Repräsentantenhaus dann ein Amtsenthebungsverfahren gegen Trump ein – erst das dritte in der Geschichte der USA. Im Senat, wo das Verfahren stattfand, ist es aber aufgrund der Mehrheitsverhältnisse gescheitert. Dabei erfolgte die Abstimmung zu den Anklagepunkten strikt entlang der Parteilinien, wobei der Republikanische Senator

6

C. Lammert et al.

Mitt Romney zumindest in einem Anklagepunkt gemeinsam mit den Demokraten votierte – ein Umstand, der noch bei keinem Impeachment-Verfahren eingetreten war. In Anbetracht der geschilderten Ereignisse und Entwicklungen wird deutlich, dass die Trump-Präsidentschaft ganz ohne Frage einen Stresstest für die Demokratie in den USA bedeutet. Allerdings darf dies alles nicht von den tieferliegenden Ursachen und den strukturellen Gründen der momentanen Krise der US-Demokratie ablenken. So wäre es sicherlich falsch, Präsident Trump allein für die zahlreichen Probleme und Dilemmata der US-amerikanischen Politik und Gesellschaft verantwortlich zu machen. Vielmehr kann Trump als Symptom einer tieferliegenden Krise der US-Demokratie verstanden werden, welche sich aus unterschiedlichen Quellen speist.

2

Idealbilder der Vereinigten Staaten von Amerika

Die Vereinigten Staaten von Amerika sind anders, geradezu exzeptionell. So zumindest lautet das Narrativ vom American Exceptionalism, wonach die USA nicht vergleichbar seien mit anderen etablierten Demokratien (Taylor et al. 2014). Zugleich dient dieses Narrativ auch zur Selbstlegitimierung der politischen, sozialen und ökonomischen Entwicklung des Landes. Martin Seymour Lipset (2003) sah in den USA die erste Neue Nation, die losgelöst von der Last europäischer Traditionen neue Muster politischer Partizipation etablieren konnte. Hierarchische Statusdifferenzen, wie sie sich in europäischen Ländern historisch herausgebildet und verfestigt haben, existierten – so die gängige Erzählung – in den USA nicht. Vielmehr wurde die Gesellschaft verstanden als eine Mittelklassegesellschaft mit einem hohen Maß an sozialer Mobilität und dem dominanten Motiv des Individualismus als treibende Kraft der ökonomischen, sozialen und politischen Ordnung. Dieses Idealbild spiegelt sich in der Realität natürlich nur begrenzt wider. Illiberale Traditionen sind weit stärker vorhanden als dies die Idee einer liberalen Tradition suggeriert (Hartz 1955). Rassismus als soziales Problem ist bei weitem nicht mit dem Bürgerkrieg und der Beendigung der Sklaverei in den Südstaaten verschwunden, sondern hat sich vielmehr im Jim Crow System, in den Strukturen des Wohlfahrtsstaates und in weiten Bereichen der Gesellschaft verfestigt. Die Integration der schwarzen Bevölkerung hat sicherlich in Folge der Bürgerrechtsbewegung in den 1960er-Jahren große Fortschritte gemacht. Aber die Bruchstellen dieser Inklusion werden immer wieder deutlich und verweisen auf die anhaltende Problematik des Rassismus in der US-Gesellschaft – und so wächst die Liste der wehrlos erschossenen AfroamerikanerInnen ungebrochen auch in Zeiten von Black Lives Matter. Dabei haben rechtsextreme Gruppen und white-supremacy Strömungen seit dem Amtsantritt Trumps deutlichen Auftrieb erfahren, was in den Fackelzügen und dem Tod einer Gegendemonstrantin in Charlottesville, Virginia im August 2017 einen ersten Höhepunkt nahm. Die soziale Mobilität als zentrales Versprechen des American Dream ist in den USA heutzutage geringer als in vielen europäischen Ländern und auch die zu beobachtende soziale und ökonomische Ungleichheit widerspricht grundlegend der Idee der Mittelklassegesellschaft, wie sie die These des American Exceptionalism immer

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wieder propagiert. Diese Diskrepanz zwischen idealisierter Selbstbeschreibung und realer Ausprägung führt ebenfalls dazu, dass sich selbst außerhalb der USA zahlreiche Mythen und Missverständnisse etabliert haben, die einen verstehenden Blick auf die USA erschweren. Wenig verwunderlich, dass sich in den europäischen Gesellschaften bis heute ein tief verwurzelter Anti-Amerikanismus manifestiert, der von der politischen Linken bis zur Rechten reicht. Kritisiert werden hier unterschiedliche US-Imperialismen, die zumeist kulturell oder militärisch definiert werden. Der Machtanspruch der USA fordert es geradezu heraus, sich an den USA zu reiben und die globalen Ansprüche der ökonomischen und militärischen Supermacht in Frage zu stellen. Ein Teil der Verwirrung in Bezug auf die Idealbilder der US-Demokratie resultiert aber auch daraus, dass wir die Politik in den USA mit Begriffen und Konzepten zu erfassen versuchen, die wir vor einem europäischen Hintergrund nutzen und verstehen. Eindrücklich sichtbar wird dies etwa im Kontext der momentan attestierten Krise des politischen Systems, die aus einer deutschen Perspektive oft als eine Krise des legislativen Prozesses und der politischen Parteien verstanden wird. Dabei wird ignoriert, dass die politischen Parteien in den USA eine ganz andere Bedeutung in der politischen Ordnung haben, als dies in Deutschland zum Beispiel der Fall ist, da die Bindung der Abgeordneten und Senatoren im Kongress an die Parteien weit weniger stark ausgebildet ist. Fraktionsdisziplin etwa ist in den USA ein unbekanntes Phänomen. Zwar konnten die Parteien im Kongress seit den 1970er-Jahren in Folge der Kongressreformen ihre Machtposition etwas ausbauen – etwa durch die Abschaffung des Senioritätsprinzips – doch ist das Abstimmungsverhalten der Kongressmitglieder formal weit unabhängiger von den Parteien als dies in Deutschland der Fall ist. Das Abstimmungsverhalten wird weiterhin primär durch das Interesse der Wiederwahl der einzelnen Kandidaten bestimmt und die entscheidet sich im Wahlkreis. Wenn dann in den letzten Jahrzehnten der Zusammenhalt der Parteien im Kongress zugenommen hat, so liegt das zu einem Großteil an demografischen Veränderungen in den einzelnen Wahlkreisen. Die Anzahl kompetitiver Wahlkreise hat deutlich abgenommen, was letztendlich dazu führt, das ideologisch radikalere Abgeordnete eine höhere Gewinnchance haben. Vor diesem Hintergrund ergeben sich durchaus andere Perspektiven auf mangelhafte Responsivität und die Krise der Demokratie als dies in Europa der Fall ist.

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Krise als neuer Status quo?

Es ist aber nicht nur der vergleichende Blick, der die gegenseitige Einschätzung verzerrt. Auch die US-amerikanische Öffentlichkeit selbst führt einen andauernden Krisendiskurs über den Zustand der demokratischen Ordnung, der gesellschaftlichen Integration, der wirtschaftlichen Situation und letztlich natürlich über die Rolle der USA als Weltordnungsmacht. Die eigene kollektive Identität ist im Fluss und wird stets neu hinterfragt. Der Büchermarkt ist voll mit Publikationen, in denen zusammengenommen das Bild eines zutiefst verunsicherten Amerikas gezeichnet wird, das sich den neuen sozialen, ökonomischen und politischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts stellen muss (z. B. Brown 2019; Levitsky und Ziblatt 2018;

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Vormann und Lammert 2019). Die Liste der Problemfelder ist lang. Thematisiert werden die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, eine generelle Neujustierung der Rollenverteilung zwischen dem Staat und dem Markt, die unter dem Schlagwort der Globalisierung zusammengefasst werden kann, die Blockade des politischen Systems infolge einer sich verschärfenden parteipolitischen Polarisierung innerhalb der politischen Eliten in Washington D.C., sowie die außenpolitischen Herausforderungen in einer neuen internationalen Ordnung, die nicht länger durch die Strukturmerkmale des Kalten Krieges gekennzeichnet ist. In diesen neuen sozio-ökonomischen und politischen Kontexten stehen einige der scheinbar unerschütterlichen Gründungsmythen und Strukturen der US-amerikanischen Gesellschaft und des politischen Systems zur Disposition. Der American Dream als das grundlegende Selbstverständnis der US-Gesellschaft, das sich in einer seit Generationen weit verbreiteten Vorstellung manifestiert, wonach jeder Mensch, der nur hart genug arbeitet, auch den sozialen und ökonomischen Aufstieg schaffen kann, wird durch die abnehmende soziale Mobilität und die sich vergrößernde und verstetigende ökonomische Ungleichheit grundlegend in Frage gestellt. Nicht erst seit Thomas Pikettys (2014) Publikation zur Entwicklung des Kapitals im 20. Jahrhundert ist deutlich geworden, dass sich die Einkommen und der Wohlstand der Superreichen in den USA über die letzten 20 Jahre massiv vergrößert hat, während die Mittelklasse und die unteren Einkommenssegmente mit stagnierenden Einkommen vorlieb nehmen mussten. Diese Entwicklung war bereits 2004 von der American Political Science Association aufgegriffen und als grundlegendes Problem der demokratischen Ordnung gedeutet worden, da sich ungleiche ökonomische und soziale Teilhabe auch in ungleichen Mustern der politischen Partizipation widerspiegeln. Grob vereinfacht: je niedriger Einkommen und Wohlstand, desto weniger beteiligen sich die Bürger am politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess (Jacobs und Skocpol 2005; Bartels 2008). Dass dies nicht nur ein Problem des Marktes ist, sondern in weiten Teilen von der Politik in Washington aktiv forciert wurde, haben Jacob S. Hacker und Paul Pierson in ihrem Buch „Winner-TakeAll Politics“ (2010) argumentiert. Andere Studien zeigen ebenso, dass auch die Inhalte der Gesetzgebung vor allem den oberen Einkommensklassen zu Gute kommen und ihre Interessen überproportional stark im Vergleich zu denen unterer Einkommenssichten vertreten werden (Gilens 2012; Gilens und Page 2014). Die Krise des American Dream wird aber auch in den Einstellungen einer in weiten Teilen verunsicherten und frustrierten Bevölkerung sichtbar. In einer Umfrage des Nachrichtensenders CNN glaubte schon 2014 nur noch ein Drittel der Befragten, dass es ihren Kindern einmal besser gehen werde als ihnen selbst (CNN 2014). Am Ende des 20. Jahrhundert waren es immerhin noch über 60 Prozent. In solchen Daten spiegeln sich einerseits natürlich kurz- und mittelfristige ökonomische Entwicklungen wider – und sicherlich hat die Finanz- und Wirtschaftskrise nach 2008 hier eine große Bedeutung. An dieser Stelle könnte man auch relativierend einwenden, dass die US-BürgerInnen der Bundesregierung schon immer kritisch gegenüberstanden. Big Government gilt traditionell eher als Problem denn als Lösung, insbesondere bei der politischen Rechten. Umfragen bestätigen dies allerdings nicht. Generell präferieren die Befragten eine aktive Rolle der Regierung in Fragen der militärischen und sozialen

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Sicherheit. Rund 94 Prozent von ihnen wünschen sich eine aktive Rolle der Bundesregierung im Kampf gegen den Terrorismus. Zustimmungswerte von über 80 Prozent finden sich auch für den Katastrophen- und Verbraucherschutz, sowie in den Bereichen der Einwanderungspolitik, der Nahrungsmittelkontrolle und der medizinischen Versorgung. Aber auch in der Umwelt-, Infrastruktur- und Wirtschaftspolitik verlangen über 70 Prozent der Befragten eine aktive Rolle der Bundesregierung. Entscheidend ist: Sie trauen den jetzigen politischen Eliten nicht zu, adäquate Lösungen auf anstehende Probleme zu finden. Aus einer längerfristigen Perspektive scheint es sich daher um eine tieferliegende Vertrauenskrise in den eigenen Wohlstand und Aufstieg, wie auch in das politische System als Ganzes zu handeln. Nach Daten von Pew Research (2017) schätzen die Bürger die Arbeit der Regierung in zentralen Politikbereichen immer schlechter ein. Insgesamt denken nur noch 18 Prozent der Befragten, dass die Regierung in Washington im Allgemeinen einen guten Job macht. Aber hier setzt sich lediglich ein Trend des schwindenden Vertrauen der Bürger in die politischen Institutionen fort, der bereits seit den 1960er-Jahren mit einigen kleineren Unterbrechungen erkennbar ist: von einem Höchstwert von 77 Prozent im Jahr 1964 auf jetzt magere 18 Prozent. Dabei ist besonders problematisch, dass nicht nur das Vertrauen in einzelne Institutionen, sondern die Unterstützung für die Demokratie als „beste“ Staatsform insgesamt rückläufig zu sein scheint (Foa und Mounk 2016, 2017). Kein Wunder also, dass der US-amerikanische Journalist George Packer bereits 2013 von einer „Abwicklung“ der US-amerikanischen Gesellschaft sprach. Seit mehr als zwei Jahrzehnten löse sich die Roosevelt-Republik mitsamt ihrer staatlichen Daseinsfürsorge, ihren Gewerkschaften und Einhegungen monopolistischer und finanzpolitischer Machtansprüche auf. An ihre Stelle sei das große und organisierte Geld getreten. Legitimiert durch Entscheidungen des Obersten Verfassungsgerichts kann das organisierte Kapital in Form von sogenannten Super-PACs Einfluss auf die öffentliche Meinung und den politischen Entscheidungsprozess nehmen. Die kritische Bestandsaufnahme von Packer leitet sich aus dem demokratischen Versprechen der US-Verfassung ab, die Gleichheit vor dem Gesetz sowie eine pluralistische Repräsentation in der Legislative verbriefen sollte – wobei kritisch angemerkt werden muss, dass sich auch diese Rechte immer nur auf bestimmte Segmente der Bevölkerung erstreckt haben. Der institutionelle Kitt, der die heterogene US-Gesellschaft bislang zusammengehalten hat, scheint geschwächt.

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Institutionelle Dysfunktionalität und politische Blockade

Im heute allgegenwärtigen Krisendiskurs steht nichts anderes als die Funktionstüchtigkeit des gesellschaftlichen und politischen Systems der USA auf dem Prüfstand. Das von den Verfassungsvätern aus der Taufe gehobene System der checks and balances scheint zu Beginn des 21. Jahrhunderts in massive Schieflage geraten zu sein. Nicht wenige bezeichnen den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess als dysfunktional oder defekt (Sinclair 2012; Mann und Ornstein 2016). Ein Grund hierfür ist etwa im intransparenten Institutionen-Dschungel des Kongresses zu

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suchen, welcher selbst für den interessierten Politik-Laien nur schwer durchschaubar ist. Als eindrückliches Beispiel hierfür kann etwa die Vielzahl an Zeitungsbeiträgen angeführt werden, die sich mit den prozeduralen Regeln des Impeachment-Verfahrens beschäftigen, welche teilweise ad-hoc von den jeweiligen EntscheidungsträgerInnen im Kongress bestimmt werden können. So muss die älteste Demokratie der Welt sich die Frage stellen, inwiefern ihre institutionellen Spielregeln heutzutage noch zeitgemäß sind oder ob sie nicht einer Generalüberholung bedürfen. Die institutionelle Dysfunktionalität wird in den vergangenen Jahren durch eine politische Blockade (gridlock) verstärkt, deren Ursache in der gesellschaftlichen wie politischen Polarisierung zu finden ist (Theriault 2013; Binder 2018). Egal ob bei Themen wie Haushalt oder Steuern, Einwanderung oder Umwelt, Schwangerschaftsabbruch oder Gleichberechtigung von Homosexuellen, Republikaner und Demokraten unterscheiden sich heute grundlegend sowohl in ihrer Problemwahrnehmung als auch in ihren Lösungsansätzen. In der politischen Arena prallen diese unterschiedlichen Weltanschauungen aufeinander. Angesichts knapper Mehrheiten bei Präsidentschafts- und Kongresswahlen wird die politische Auseinandersetzung erbittert geführt. Dabei auf der Strecke bleibt die Fähigkeit, Kompromisse einzugehen und praktikable Problemlösungen zu finden. Immer häufiger endet der politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozess deshalb in einer Sackgasse: die mehrmaligen und mehrwöchigen government shutdowns während der Präsidentschaft Obamas sowie der längste government shutdown der US-Geschichte unter Trump sind nur einige Beispiele einer ins Stocken geratenen Regierungsfähigkeit der USA (Böller und Siewert 2020). Mit der Wirtschafts- und Finanzkrise hat sich der Konflikt zwischen den Parteien nochmals verschärft (Blyth 2014). Während die Republikaner nahezu dogmatisch auf eine Politik geringer Steuern und Ausgabenkürzungen bestehen, präferieren die Demokraten einen Mix aus gezielten Kürzungen (z. B. im Militärhaushalt), staatlichen Investitionen in Bildung und Infrastruktur und einer stärkeren Besteuerung höherer Einkommen. Der zu verteilende Kuchen wird indessen immer kleiner: Im Jahr 2009 war zum ersten Mal in der US-Geschichte jeder eingenommene Dollar bereits verausgabt ehe der Kongress nur ein einziges neues Gesetz erlassen hatte. Trotz eines massiven Haushaltsdefizits und eines immensen Schuldenbergs finden weder weitreichende Steuererhöhungen noch drastische Einschnitte in entitlement-Programme wie Social Security, Medicare und Medicaid eine mehrheitliche Zustimmung in der Bevölkerung. Dieser Zielkonflikt zwischen gekürzten Staatseinnahmen und wachsenden Ausgaben verlangt nach Reform. Langfristig betrachtet geht die derzeitige Politik der Konfrontation zulasten zukünftiger Generationen, welche die politischen NichtEntscheidungen ausbaden müssen. Konfrontiert mit dieser Dauerblockade in Washington D.C. greifen US-Präsidenten immer wieder auch auf unilaterale Strategien wie executive orders, signing statements, memoranda oder auch executive agreements zurück (Belco und Rottinghaus 2017). Diese Instrumente erlauben es dem Präsidenten, seine politische Agenda am Kongress vorbei umzusetzen, solange dieser nicht gegen ein solches Vorgehen aktiv wird – was allerdings bei derzeitigem gridlock innerhalb des Kongresses unwahrscheinlich ist. Während schon in der Präsidentschaft George W. Bushs der

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Gebrauch von signing statements heftig umstritten war (Savage 2007), rief auch Präsident Obamas Einsatz von executive orders und signing statements sowie sein Rückgriff auf policy czars enorme politische wie verfassungsrechtliche Kritik hervor (Vaughn und Villalobos 2015; Rozell und Sollenberger 2012). Und so machte schon vor Trump das Schreckgespenst der imperial presidency (Schlesinger 2004; Rudalevige 2006) wieder die Runde – ein Narrativ, das seinen Ursprung im Ausbau präsidentieller Machtmittel in den 1960er- und 1970er-Jahren hat. Aus anderen Ecken wird die sich hier abzeichnende Entparlamentarisierung und Stärkung der Exekutive unter Rückgriff auf die Ideen Carl Schmitts sogar begrüßt. So argumentieren beispielsweise Eric A. Posner und Adrian Vermeule (2011), dass unter den schwierigen und komplexen Regierungsbedingungen des 21. Jahrhunderts eine starke und handlungsfähige Exekutive notwendig sei und von den Fesseln der Legislative befreit werden müsse. Unter Trump zeigt sich nun, dass die Loskopplung der Exekutive und das Regieren per Dekret fast zum Normalzustand geworden ist – wobei die Trump-Administration hier die Wege der Amtsvorgänger konsequent weiterbeschreitet (Potter et al. 2018).

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Protest und Reaktion in der Gesellschaft

Die Krisendiskussion wird nicht nur in akademischen Kreisen geführt. Die Kritik seitens weiter Bevölkerungsteile an nur unzureichend funktionierenden politischen Institutionen, am Ausbleiben weitgehender Konsequenzen aus der Finanzkrise und allem voran an den seit den 1980er-Jahren rapide angestiegenen ökonomischen Ungleichheiten in der US-amerikanischen Gesellschaft führte bereits im Herbst 2011 zur Formierung der Occupy Wall Street-Bewegung, zunächst in den Straßen und auf den öffentlichen Plätzen Manhattans, schnell dann in anderen Städten sowie in Universitäten. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich der Appell, öffentliche Räume zu besetzen – ein symbolischer Akt, der in ähnlicher Form von Protestbewegungen weltweit, am prominentesten jedoch im Zuccotti Park, im Finanzdistrikt in unmittelbarer Nähe zur Wall Street vollzogen wurde, und der sich gegen die Privatisierung des öffentlichen Gemeinguts auflehnte. Insgesamt verzichtete diese Bewegung strategisch auf eine einheitliche Botschaft. Deshalb wurde sie in den Medien und von einigen Kommentatoren auch schnell als chaotischer, anarchistischer Kult bezeichnet (z. B. Samuels 2012) und, nachdem die Polizei und der Winter die Zeltlager in den Parks und Plätzen leergeräumt hatten, totgesagt. Allerdings verlieh die Bewegung denen ein Sprachrohr, die sich über ein ökonomisches System „empörten“ (Hessel 2011), das den Profit über die Gesellschaft stellt – den „Kamikaze-Kapitalismus“ (Graeber 2012), der die Bankenrettung allen öffentlichen Fragen voranstellte (Barofsky 2012). Mit der Bewegung wurden außerdem die gesellschaftlichen Ungleichheiten zu einem zentralen Thema des politischen Diskurses. Dass daraufhin wenig politische Veränderung folgte – und im Nachgang zur Krise die Kluft zwischen arm und reich sogar noch weiter auseinanderging (Saez 2013) – liegt zum Teil an den bereits angedeuteten politischen Strukturen der USA. Dieses Versäumnis der politischen Eliten jedoch, zusammen mit der hohen Verschul-

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dung der Studierenden und der weiteren Zuspitzung der ökologischen, ökonomischen und politisch-institutionellen Krisen spricht sicherlich dafür, dass die Occupy-Bewegung kein Strohfeuer war – zumindest ist die Langlebigkeit und Konjunktur sozialer Bewegung aus der Geschichte bekannt (Fox Piven 2012). Mit der Tea Party-Bewegung hatte sich bereits einige Jahre zuvor auf der anderen Seite des politischen Spektrums ebenso eine Protestbewegung formiert. Auch wenn die These, die Tea Party sei keine breite Bewegung der konservativen Basis – Schlagwort astroturf – in dieser Form sicherlich überspitzt ist (Parker und Barreto 2013), so war ein Großteil der Wirkmacht und Stimmgewalt der Bewegung auf die Unterstützung ressourcenstarker Geldgeber sowie erzkonservativer Medienvertreter rund um den Fernsehsender Fox News zurückzuführen. Insgesamt betrachtet, kann allerdings keineswegs von der Tea Party gesprochen werden, vereinte sie doch als Sammelbewegung diverse (ultra-)konservative und libertäre Strömungen unter ihrem Label. So speiste sich ein Strang der Tea Party-Bewegung aus der gleichen Frustration mit den althergebrachten Eliten des Landes wie die Occupy-Bewegung, allerdings mit radikal anderen Schlussfolgerungen: hier ging es vielmehr darum, die individuelle Freiheit und bürgerliche Souveränität gegenüber dem Staat wiederzuerlangen. Weniger staatliche Einmischung in allen Gesellschaftsbereichen lautete das Mantra. Die typische Tea Party-Anhängerschaft war in der Regel älter, gebildet, weiß und männlich. Paradoxerweise lag eine weitere Quelle der Unterstützung auch bei Rentnern, eine Bevölkerungsgruppe die besonders stark von staatlichen Leistungen wie z. B. Medicare – der öffentlichen Krankenversicherung für Rentner – profitiert. Hierbei spielt die Unterscheidung in solche, die staatliche Zuwendungen aufgrund früherer Berufstätigkeit ‚verdient‘ haben (deserving poor), und denjenigen, bei denen dies nicht der Fall ist (undeserving poor), eine zentrale Rolle. Dieses seit den 1980erJahren gängige Bild spielt eindeutig auf rassistische Ressentiments an, sind es doch insbesondere Einwanderer hispanischer oder karibischer Herkunft sowie AfroAmerikaner, die als underserving angesehen werden. Meinungsführer der Bewegung waren in bester populistischer Manier in der Lage, diffuse Ängste vor kulturellem Wandel und solche rassistische Stereotype innerhalb weißer Bevölkerungsgruppen (white angst) zu bedienen (Zernike 2010; Skocpol und Williamson 2013). Dieses Gegenspiel von Protest und Reaktion hat in den USA vielleicht mehr als anderswo eine lange Tradition. Allein im 20. Jahrhundert stehen der McCarthyism und Richard Nixons Präsidentschaft auf ähnliche Weise in einem konträren Verhältnis zu den Bürgerrechtsbewegungen der 1960er- und 70er-Jahre. Occupy Wall Street und die Tea Party-Bewegung bereiteten die Bühne für Trump und seine reaktionäre Agenda, die aus den existierenden Ressentiments politisches Kapital zu schlagen vermochte. Aber auch zu Trump formierte sich schnell eine gesellschaftliche Gegenreaktion – etwa unmittelbar am Tag nach seinem Amtsantritt mit dem Women’s March, später dann mit den Protesten der SchülerInnen gegen gun violence und für eine striktere Regulierung von Schusswaffen, den Sanctuary Cities und schließlich dem Ausgang der Zwischenwahlen im November 2018, in denen eine Rekordzahl an Frauen und gesellschaftlichen Minderheiten ins Repräsentantenhaus einzogen und die Demokraten erstmals seit 2008 wieder eine Kongresswahl gewannen.

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Zudem schlägt sich die Verschärfung von Protest und Reaktion inzwischen auch im Föderalismus nieder, wo Lebenswelten zwischen progressiven und konservativen Einzelstaaten immer weiter auseinanderdriften. Während in Kalifornien Marihuana legalisiert wird, gerät im Süden das Abtreibungsrecht massiv unter Druck und politische Teilhaberechte werden eingeschränkt. Die culture wars der 1990er-Jahre haben sich im 21. Jahrhundert räumlich verfestigt und stellen das föderale Gefüge vor neue Herausforderungen. Die Frage bleibt bis auf Weiteres offen, ob es sich bei Protest und Reaktion heute noch um die oftmals beschworenen Selbstheilungskräfte der repräsentativen Demokratie handelt, oder ob diese Fliehkräfte die Spaltung der Gesellschaft und das Funktionieren der Institutionen nachhaltig beschädigen.

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Krise der Weltmacht und der liberalen Ordnung

Jenseits der innenpolitischen Arena stehen die Vereinigten Staaten von Amerika auch außenpolitisch vor gewaltigen Herausforderungen wie seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr. In Folge der Terroranschläge des 11. Septembers 2001 auf das World Trade Center in New York City und das Pentagon in Washington D.C. befinden sich die USA immer noch in einem permanenten (politisch oft instrumentalisierten) Abwehrkampf gegen einen kaum greifbaren Gegner. Die Invasionen in Afghanistan und im Irak konnten dabei weder zur Beförderung der Demokratie im Nahen und Mittleren Osten beitragen, noch die finanziellen und personellen Quellen des internationalen Terrorismus zum Versiegen bringen. Auch die gezielten Tötungen von Osama bin Laden unter Obama oder von Abu Bakr al-Baghdadi unter Trump haben daran nichts geändert. Selbst wenn die USA noch immer mit Abstand die stärkste wirtschaftliche und militärische Macht darstellen, man wird das Gefühl nicht los, dass die Hegemonialstellung der USA bröckelt (Mandelbaum 2017; Zakaria 2019). Die Wirtschaft Chinas weist schon seit Jahren enorme Wachstumsraten auf und in der Finanzkrise 2008 ist die Volksrepublik zum Gläubiger der USA avanciert. Russland hat mit der Annexion der Krim sowie in der Auseinandersetzung mit der Ukraine zu neuem nationalen Selbstbewusstsein (zurück)gefunden. Das Verhältnis zu den europäischen Verbündeten ist derweil auf einem historischen Tiefpunkt angelangt. Selbst hochrangige Regierungsvertreter, die sonst um einen diplomatischen Ton bemüht sind, sprechen von einer tief greifenden Vertrauenskrise und der Notwendigkeit, die Europäische Union als politisches Gegenwicht zu den autokratischen Strömungen der Gegenwart zu etablieren. Die neuen illiberalen Tendenzen stellen zudem auch den Legitimitätsanspruch der US-amerikanischen Vorherrschaft – als moralisches Vorbild einer liberalen internationalen Ordnung – in Frage (Vormann und Weinman 2020). Wo man auch hinblickt, die USA sind mit massiven Widerständen konfrontiert und scheinen in ihrer Führungsposition herausgefordert. Nicht zuletzt wirken die Probleme Zuhause auch auf die Außenpolitik der USA. Angesichts eines enormen Haushaltsdefizits und exponentiell steigender Kosten im

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Gesundheits- und Bildungssystem im eigenen Land ist die Frage, inwieweit die USA noch der Doktrin gerecht werden kann, gleichzeitig in mehreren Konfliktherden aktiv zu sein, ohne einen militärischen und finanziellen overstretch zu riskieren. Schon lange fordern die USA deshalb auch von ihren Alliierten in der NATO eine gleichmäßigere Lasten- und Aufgabenverteilung – auch schon vor Trump. Zu einem richtigen Isolationismus – wie von einigen innerhalb und außerhalb der USA gewünscht, von anderen befürchtet – ist es unter der Trump-Administration trotz zahlreicher Anzeichen wie dem Austritt aus dem Klimaabkommen, dem Ausstieg aus dem INF-Vertrag oder dem weitgehenden Rückzug aus Syrien-Konflikt noch nicht gekommen. So sollte man nicht verkennen, dass America first letzlich das Credo jeder US-Administration ist, wobei der Tonfall, mit dem dieser Leitspruch vorgetragen wird, durchaus variiert und mit ihm auch die Bereitschaft, alte Allianzen zu opfern (Jarvis et al. 2018).

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Fazit

Die Krisentendenzen, die sich seit Beginn des 21. Jahrhunderts in der Finanzwirtschaft und in den politischen Institutionen Bahn brechen sowie den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Funktionieren des politischen Systems der USA unterminieren, könnten auf den ersten Blick als völlig neuartige Entwicklungen interpretiert werden. In der Tat: Die Finanzkrise von 2008, die unerbittliche Blockadehaltung im Kongress, der globale Terror und neue Protestbewegungen, und über alledem der Wahlsieg von Donald J. Trump scheinen auf den ersten Blick eine qualitativ neue Dimension US-amerikanischer Entwicklungstendenzen darzustellen. Aber der Eindruck der absoluten Neuartigkeit trügt. Die Krisen verlaufen in Mustern, politische Akteure beziehen sich auf teils bis zur Amerikanischen Revolution zurückreichende Diskurse und Legitimationsnarrative und sind nicht zuletzt in ihrem politischen Handeln an institutionelle Pfadabhängigkeiten und Sachzwänge gebunden. Der fremde Blick, das Missverständnis und der Mythos der US-amerikanischen Einzigartigkeit bestimmen seit dem 18. Jahrhundert die europäische Wahrnehmung der Neuen Welt. Die klaffende Diskrepanz zwischen dem Ideal einer gleichen und freien Gesellschaft und deren Entsprechung in der Realität dienten Generationen von Protestbewegungen als Inspirationsquelle zur Gesellschaftskritik. Die US-amerikanische Tradition der Jeremiade, der Anklage des gesellschaftlichen Verfalls und des mahnenden Appells an die nationalen Ideale, ist als solche ja sogar nur mit Blick auf den Glauben an die eigene Auserwähltheit zu erfassen. Auch die Blockadehaltung im Kongress versteht nur, wer die politischen Institutionen und deren Geschichte begreift; die Krise der Weltmacht, wer den globalen Führungsanspruch der USA nachvollziehen kann. Kurzum, gegenwärtige Krisentendenzen sind weder so neu, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mögen, noch lassen sie sich mit einem europäischen Blick ohne Kenntnis der historischen Zusammenhänge erschließen. Der Fortgang der Geschichte ist zwar keine ewige Wiederholung des schon da Gewesenen – er bleibt ungewiss. Doch die Muster, in denen er sich vollzieht, lassen sich nur vor diesem größeren Gesamtbild erklären und verstehen.

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Teil II The Liberal Tradition in America: Gesellschaft und Ideologie

Politische Kultur Vom Exzeptionalismus der Werte zu einem Exzeptionalismus der Stärke Winfried Fluck

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Definitionen: Zur Rhetorik des amerikanischen Selbstverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Die Mehrdeutigkeit des Konzepts des amerikanischen Exzeptionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Zur Geschichte des Konzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Die historische Legitimationsfunktion exzeptionalistischer Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Exzeptionalismus als Rechtfertigung amerikanischer Außenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Die moralische Appellfunktion exzeptionalistischer Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Donald Trump: Absage an den amerikanischen Exzeptionalismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Kritik des Exzeptionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

American Exceptionalism ist ein Begriff, der sich seit dem 2. Weltkrieg, und insbesondere mit Beginn dieses Jahrhunderts, in Politik und Wissenschaft eingebürgert hat, um die Idee einer historischen Sonderrolle der USA zum Ausdruck zu bringen. Mit dem Begriff kann sowohl gemeint sein, dass sich die USA von Anfang an in einer Reihe von signifikanten Merkmalen von anderen Nationen unterschieden haben, als auch, dass sie aufgrund einer Reihe von Eigenschaften einzigartig sind und sich darin anderen Nationen als überlegen erweisen – eine Überlegenheit, die politischer, moralischer, ökonomischer oder auch militärischer Art sein kann. Der exzeptionalistische Anspruch stützt sich auf einen reichhaltigen Korpus von amerikanischen Selbstbeschreibungen, die vom puritanischen Bild einer city upon a hill über imperiale Selbstrechtfertigungen wie der eines Manifest Destiny, der Beschreibung kontinentaler Expansion als offenkundiger Bestimmung der USA, bis in die Gegenwart reicht, in der sich die USA als indispensible nation sehen, als eine für den Weltfrieden unentbehrliche Nation. Die Konjunktur des Begriffs nach W. Fluck (*) John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: winfried.fl[email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_4

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dem 2. Weltkrieg hat zu einer „exzeptionalistischen“ Geschichtsschreibung geführt, die das nationale Selbstbild bis heute stark prägt. Sie hat die amerikanische Außenpolitik maßgeblich beeinflusst und ist in den letzten Jahren zunehmend zu einem Bezugspunkt auch innenpolitischer Auseinandersetzungen geworden. Damit stellt sich aktuell die Frage, welche Rolle dem Konzept amerikanischer Exzeptionalität in der Präsidentschaft von Donald Trump zukommt. Schlüsselwörter

Amerikanisches Selbstverständnis · City upon a hill · Amerikanische Geschichte · Amerikanische Außenpolitik · Amerikanischer Nationalismus

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Einleitung

Als der amerikanische Präsident Barack Obama im Präsidentschaftswahlkampf 2011 gefragt wurde, ob er glaube, dass die USA exzeptionell seien, war er sichtlich darum bemüht, dem Thema die chauvinistische Spitze zu nehmen und eine diplomatische Antwort zu geben: „I believe in American exceptionalism, just as I suspect that the Brits believe in British exceptionalism and the Greeks believe in Greek exceptionalism.“ Das war die richtige Antwort in den Augen der Weltöffentlichkeit, aber nicht in den Augen seines Konkurrenten um das Amt des Präsidenten, Mitt Romney, der ihm daraufhin vorwarf, er glaube nicht an Amerika. Der Vorwurf wurde zum festen Bestandteil des rhetorischen Repertoires Republikanischer Politiker. Einflussreiche Konservative wie Romney (2010), Gingrich (2011) und Dick und Liz Cheney (2015) veröffentlichten Bücher, in denen sie ihren Glauben an einen amerikanischen Exzeptionalismus bekräftigten. Das brachte Politiker der Demokratischen Partei in Zugzwang und führte dazu, dass auch Obamas Gebrauch des Exzeptionalismusbegriffs zunehmend patriotischer wurde. In einer Rede vor West Point Graduierten am 28.05.2013 heißt es nun beispielsweise: „I believe in American exceptionalism with every fiber of my being.“ (Obama 2013)1 Diese Readaption der Idee des Exzeptionalismus auch durch Politiker der Demokratischen Partei wurde noch deutlicher im Wahlkampf von Hillary Clinton, die sich mit Nachdruck zum Glauben an einen amerikanischen Exzeptionalismus bekannte – wobei es nunmehr zu der ironischen Konstellation kam, dass es die demokratische Kandidatin war, die dem Kandidaten der Republikanischen Partei vorwarf, nicht mehr an den amerikanischen Exzeptionalismus zu glauben. Tatsächlich hatte sich Donald Trump auf einer Wahlveranstaltung gegen den Gebrauch des Begriffs ausgesprochen, weil er eine Beleidigung

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In ihrer Inhaltsanalyse wichtiger Reden der amerikanischen Präsidenten seit dem 2. Weltkrieg kommen Gilmore und seine Mitarbeiter zu dem Ergebnis: „Barack Obama has invoked American exceptionalism in a full 31 % more speeches than the average of all other presidents combined since the end of the Second World War“ (Gilmore et al. 2016, S. 514). Noch überraschender ist ein weiteres Ergebnis ihrer Untersuchung: „President Obama is the first American president to ever explicitly employ the terminology ‚American exceptionalism‘ in any major political speech“ (515).

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anderer Länder darstelle. Welcher Stellenwert der Idee eines amerikanischen Exzeptionalismus in der Ära Trump dann zukommt, wird am Ende dieses Beitrags zu klären sein. Die zunehmende Politisierung eines ursprünglich ideengeschichtlichen Konzepts hat zu einer Konjunktur in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem amerikanischen Exzeptionalismus geführt. Das Thema ist nun auch für die politische Wissenschaft zunehmend von Interesse, weil sich der Exzeptionalismusanspruch als ein Narrativ erwiesen hat, dass nicht nur historisch bedeutsam ist, sondern zunehmend auch aktuelle politische Debatten in den USA prägt. Als Fazit einer Diskursanalyse kann Gilmore daher sagen: „The concept of American exceptionalism has become one of the most common features in U.S. political discourse“ (Gilmore et al. 2016, S. 50). Gleiches gilt für die wissenschaftliche Literatur: „Until recently – say the last 2 or 3 years – few outside of the academic world ever encountered the term ‚exceptionalism.‘ It was reserved almost exclusively to scholarly discourse, used mostly by social scientists and occasionally by historians and students of American studies. Today, the word has become ubiquitous, appearing in political speeches, newspaper columns, and blogospheric rants. Exceptionalism has gone viral“ (Ceaser 2012, S. 4). Terrence McCoy hat 457 Publikationen zum Thema identifiziert, die in den 80er-Jahren erschienen sind, in der folgenden Dekade 2558 und im Zeitraum 2010–2012 bereits über 4000 (McCoy 2012). Ob, in welchem Sinne und mit welcher Begründung von einer historischen Ausnahmerolle der USA gesprochen werden kann, ist heute eine Schlüsselfrage öffentlicher Debatten über das nationale Selbstverständnis der USA.

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Definitionen: Zur Rhetorik des amerikanischen Selbstverständnisses

Was ist mit dem Begriff des amerikanischen Exzeptionalismus gemeint? „American exeptionalism (. . .) entails the belief in the special and unique role the United States is meant to play in world history, its distinctiveness from the Old World, and its resistance to the laws of history (the rise to power and inevitable fall that has affected all previous republics“ (Restad 2012, S. 54–55; McCrisken 2002, S. 64–65). Diesem exzeptionalistischen Selbstbild kommt in der gesamten amerikanischen Geschichte eine zentrale Rolle zu, von den kolonialen Anfängen bis in die unmittelbare Gegenwart. Als vormalige Kolonien, die sich ihre Unabhängigkeit von der englischen Krone erkämpft hatten und als Republik eine für die Zeit revolutionäre neue Staatsform etabliert hatten, mussten sich die Vereinigten Staaten von Amerika neu definieren. Der Frage nach einer verbindenden nationalen Identität kam daher von Anfang an eine Schlüsselrolle für das amerikanische Selbstverständnis zu. Die Idee des amerikanischen Exzeptionalismus stellt die noch heute dominante Antwort auf diese Frage dar: „(. . .) the notion of America as unique, superior, and even God-favored has been pervasive in the construction and maintenance of American identity throughout the country’s history“ (Gilmore 2015, S. 302). Die Brauchbarkeit dieses Identitätskonstrukts besteht nicht zuletzt darin, dass es eine effektive

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Form nationaler Selbstidealisierung darstellt, die als imaginäres Bindeglied für eine heterogene Nation dienen kann. Trotz oft bitterer Auseinandersetzungen zwischen den politischen Lagern erweist sich die Überzeugung, im besten Land der Erde (the greatest nation on earth) zu leben, immer wieder als ein gemeinsamer Nenner, der in der amerikanischen Gesellschaft eine breite Zustimmung findet. In einem Gallup Poll 2010 bekräftigen immer noch 80 % der befragten Amerikaner ihren Glauben an einen amerikanischen Exzeptionalismus (Friedman 2012). In der Entfaltung der Idee einer historischen Ausnahmerolle der USA ist ein rhetorischer Fundus geschaffen worden, der eine schier unerschöpfliche Quelle idealisierender nationaler Selbstbeschreibungen darstellt. Die USA sehen sich als Leuchtturm der Demokratie (beacon of freedom), als Bollwerk der Freiheit (empire of liberty), als leuchtendes Vorbild für andere Nationen (city upon a hill), als auserwähltes Volk (chosen people), als Produkt göttlicher Vorsehung (god’s country), als weltgeschichtlichen Heilsbringer (redeemer nation), und als unentbehrlichen Hüter der Weltordnung (indispensable nation). Das sind Formeln, auf die man in der Geschichte der USA immer wieder stößt. Ihr gemeinsamer Kern ist der fortwährende Verweis auf die nationale Außerordentlichkeit der USA (American greatness). Dabei geht es um mehr als bloße Rhetorik. Obwohl formelhaft im Gebrauch, so kommt der rhetorischen Überhöhung dennoch die sehr reale Funktion zu, den Glauben an die Exzeptionalität Amerikas lebendig zu halten und als nationales Selbstbild in der Kultur zu verankern. Dieser Glaube verleiht den USA im amerikanischen Selbstbild eine besondere moralische Autorität und hat darin insbesondere auch außenpolitisch eine wichtige Legitimationsfunktion. Eine Erklärung für die Wirksamkeit der Idee des amerikanischen Exzeptionalismus liegt dabei in der Offenheit des Konzepts. Man kann sich im Glauben an eine Sonderrolle der amerikanischen Nation einig sein und dennoch sehr verschiedener Meinung darüber sein, was die USA einzigartig macht. Entscheidend ist der Glaube an Amerikas Einzigartigkeit, worin diese besteht, kann dann sehr wohl verschieden interpretiert werden. Nur so ist es erklärlich, dass auch noch im politischen Dissens ein übergreifender nationaler Konsens möglich ist. Selbst da, wo das exzeptionalistische Versprechen enttäuscht wird, beispielsweise im Hinblick auf Amerikas demokratische Vorbildfunktion, und diese Enttäuschung, wie etwa in den Protesten gegen den Vietnamkrieg, zum Ausgangspunkt der vehementen Kritik an einem Amerika wird, das seine Ideale verraten habe, bleiben diese „spezifisch amerikanischen“ Ideale die Grundlage der Kritik, so dass die Idee eines amerikanischen Exzeptionalismus selbst noch in der Kritik als normativer Bezugspunkt bewahrt bleibt (Bercovitch 1988).

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Die Mehrdeutigkeit des Konzepts des amerikanischen Exzeptionalismus

Zur Bedeutungsoffenheit des Konzepts des Exzeptionalismus trägt bei, dass der Begriff selbst mehrdeutig ist. Mit dem Begriff kann sich ein Anspruch auf nationale Auserwähltheit verbinden, aber auch der bloße Hinweis auf Merkmale, durch die

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sich die amerikanische Gesellschaft von anderen Gesellschaften unterscheidet. In diesem Sinne wird der Begriff beispielsweise von Shafer gebraucht: „‚American exceptionalism‘ ,summarized, is the notion that the United States was created differently, developed differently, and thus has to be understood differently – essentially on its own terms and within its own context“ (Shafer 1991, S. v). Auch für Seymour Lipset bezeichnet der Begriff lediglich eine Differenz und keinen Auserwählheits- und Überlegenheitsanspruch: „When Tocqueville or other ‚foreign traveler‘ writers or social scientists have used the term ‚exceptional‘ to describe the United States, they have not meant, as some critics of the concept assume, that America is better than other countries or has a superior culture“ (Lipset 1997, S. 18). Dagegen insistiert Joyce Appleby: „Exceptional does not mean different“ (Appleby 1992, S. 419). Ebenso argumentiert Daniel Bell: But uniqueness is not ‚exceptionalism.‘ All nations are to some extent unique. But the idea of exceptionalism, as it has been used to describe American history and institutions, assumes not only that the United States has been unlike other nations, but that it is exceptional in the sense of being exemplary (‚a city upon a hill‘), or a beacon among nations; or immune from the social ills and decadence that have beset all other republics in the past; or that it is exempt . . . from the laws of decadence or the laws of history (Bell 1991, S. 50–51).

Die Mehrdeutigkeit des Begriffs des Exzeptionalismus macht ihn für die Zwecke politischer Legitimation besonders brauchbar, denn sie erlaubt es, sich je nach Bedarf zwischen schwacher und starker Option hin und her zu bewegen. Einerseits kann ein Anspruch auf nationale Einzigartigkeit erhoben werden, während andererseits einem möglichen Chauvinismus-Vorwurf mit dem Hinweis begegnet werden kann, dass es ja lediglich um eine Beschreibung nationaler Differenzen gehe. Letztlich geht es jedoch fast immer um die Beschreibung einer Ausnahmestellung und, damit verbunden, der Formulierung eines Überlegenheitsanspruchs. Die USA sind durch Eigenschaften ausgezeichnet, die andere Nationen nicht besitzen. So kann auch das Fazit des behutsam abwägenden Historikers Daniel Rodgers am Ende nur lauten: „Not the least, difference in American culture has meant ‚better‘: the superiority of the American way“ (Rodgers 1998, S. 22).

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Zur Geschichte des Konzepts

Das Attribut „exceptional“ findet sich an einer Stelle bereits in Tocquevilles Democracy in America, allerdings spielt die Idee des amerikanischen Exzeptionalismus dort keine Rolle. Die Wortschöpfung „Exzeptionalismus“ wird Josef Stalin zugeschrieben, der den Begriff allerdings im negativen Sinn verwandte, um die These eines „Sonderwegs“ der amerikanischen Arbeiterbewegung zu kritisieren: „In 1929, Communist leader Jay Lovestone informed Stalin in Moscow that the American proletariat wasn’t interested in revolution. Stalin responded by demanding he end

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this heresy of American exceptionalism“ (McCoy 2012).2 Nach dem 2.Weltkrieg wird der Begriff von der amerikanischen Geschichtsschreibung aufgegriffen und wird nunmehr zur Beschreibung eines positiven Ausnahmestatus: „After World War II, that is, during the period from the late 1940s to the late 1960s, the concept American exceptionalism enjoyed an astonishing revival (. . .) essentially supported by both the emerging American studies movement and the so-called consensus historians. These two groups of scholars represented the strengthening of American cultural self-consciousness after victories over fascism and totalitarianism“ (Guggisberg 2002, S. 273). Angesichts der Erfahrung zweier Weltkriege auf europäischem Boden versichern sich die Amerikaner mit der Idee des Exzeptionalismus, dass es ihnen offensichtlich (nicht wenige glauben: durch göttliche Fügung) vergönnt ist, dem europäischen Schicksal fortwährender Kriege und Klassenkämpfe zu entgehen. Die Ideale und Werte der amerikanischen Nation über nationale Grenzen hinweg zu verbreiten und zur Basis einer neuen Weltordnung zu machen, kann dann zu einer internationalen Aufgabe werden, zu Amerikas Mission. Aus der Perspektive des amerikanischen Exzeptionalismus wurden die Einzigartigkeit der USA und ihre weltgeschichtliche Sonderrolle dadurch möglich, dass man die Probleme der Alten Welt auf dem neuen Kontinent hinter sich zurücklassen konnte. In einer einflussreichen Studie, die den Konsens der 50er-Jahre spiegelt, The Liberal Tradition in America, schreibt der Historiker Louis Hartz den amerikanischen Exzeptionalismus dem Umstand zu, dass die USA aufgrund einer glücklichen Fügung der Geschichte erst zu einem Zeitpunkt zu einer Nation wurden, an dem der Feudalismus und die aristokratischen Ständeordnungen Europas bereits ihren Geltungsanspruch verloren hatten, so dass sie bei der amerikanischen Gründung keine Rolle mehr spielten (Hartz 1955). Es bedurfte somit keiner französischen Revolution mit all ihren Folgeproblemen, um demokratische Verhältnisse zu schaffen.3 An die Stelle gewaltsamer Auseinandersetzungen, so Hartz, konnte ein liberaler Konsens treten, der eine feste Basis für die Stabilität der amerikanischen Demokratie bildete. In dieser mag es Interessenkonflikte aller Art geben, jedoch immer auf der Basis eines gemeinsamen Glaubens an das besondere Versprechen Amerikas. Es ist in dieser Sicht der Glaube an die Besonderheit und Einzigartigkeit Amerikas, der einen nationalen Zusammenhalt zu schaffen vermag. Bereits um 1906 hatte der deutsche Soziologe Werner Sombart die Frage gestellt (und zum Gegenstand einer viel beachteten Studie gemacht), warum es in den USA keinen Sozialismus gebe (Sombart 1906). In Zeiten des Kalten Krieges und der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus musste diese Frage neuerlich aktuell werden; zugleich aber konnte sie im Verweis auf einen amerikanischen Exzeptionalismus wirkungsvoll entschärft werden: „‚American exceptionalism‘ began as a way to explain why

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Mittlerweile mehren sich Hinweise, dass der Begriff bereits zuvor in der kommunistischen Tageszeitung Daily Worker benutzt wurde und sich Stalin somit auf einen bereits eingeführten Begriff bezog (Zimmer 2013). 3 Für diese Sicht stellte die Sklaverei eine irritierende Ausnahme dar, ein Makel, der aber im exzeptionalistischen Selbstbild mit dem amerikanischen Bürgerkrieg überwunden worden war.

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working-class Americans found communism less appealing than did their European counterparts“ (Beinart 2017). Rodgers fasst pointiert zusammen, was den USA im exzeptionalistischen Selbstbild alles erspart geblieben ist: „No Robespierre, no de Maistre, no Marx, no Goebbels, no Stalin, only (. . .) an eternal Locke“ (Rodgers 1998, S. 29).

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Die historische Legitimationsfunktion exzeptionalistischer Rhetorik

Die Idee eines amerikanischen Exzeptionalismus hat das amerikanische Selbstverständnis von den kolonialen Anfängen an geprägt. Als der Puritaner John Winthrop 1630 in seiner Predigt „A Model of Christian Charity“ das der Bibel entnommene Bild einer city upon a hill verwandte, konnte er von einer künftigen amerikanischen Nation noch nichts wissen. Sein Bezugspunkte waren England bzw. genauer: seine englischen Glaubensbrüder, vor denen der Aufbruch in die amerikanischen Kolonien gerechtfertigt werden musste. Die biblische Analogie, durch die New England zum neuen Jerusalem wird, half Winthrop, sich von dem Vorwurf zu befreien, man würde die englischen Glaubensbrüder im Stich lassen. Winthrops Bild, das später zum Standardrepertoire exzeptionalistischer Rhetorik gehören sollte, stellte somit ursprünglich eine Form der Selbstlegitimierung innerhalb der puritanischen Glaubensgemeinde dar. Im Folgenden wird auf die exzeptionalistische Rhetorik immer wieder da zurückgegriffen, wo sich Probleme nationaler Selbstlegitimation ergeben. Eine Herausforderung bestand ja darin, eine nationale Identität für jene teilweise recht unterschiedlichen 13 Staaten zu schaffen, die ihre Unabhängigkeit erklärt hatten. Diese Identität konnte nicht mehr englisch sein. Der exzeptionalistische Anspruch, als erstes Land der Erde die Werte der Aufklärung politisch umzusetzen, konnte dabei als eine wichtige Legitimation dienen, aber zugleich konnte es auch hilfreich sein, das neue politische Gebilde der Vereinigten Staaten mit Hilfe religiöser Rhetorik als Werk göttlicher Vorsehung darzustellen: The founding of the United States of America did combine two powerful ideas of exceptionalism: the Reformation idea of America as a religious exemplar and the Enlightenment idea of America as a political harbinger for the rest of the world. But rather than remain intact as two distinct strands of American identity, engendering two opposite foreign policy traditions, the two ideas of exceptionalism for all intents and purposes fused with the American Revolution (Restad 2012, S. 57).

Robert Bellah hat diese Form der politischen Selbstlegitimation als amerikanische „Zivilreligion“ beschrieben und ihre Kontinuität in der amerikanischen Geschichte bis in die Gegenwart aufgezeigt (Bellah 1975). Als Ausgangspunkt für diese Zivilreligion erwies sich der amerikanische Puritanismus als besonders brauchbar. Im Denken der Puritaner, das stark durch typologische Bezüge auf die Bibel geprägt ist, können die Siedler auf dem neuen Kontinent zu einem auserwählten Volk werden, das endlich der ägyptischen Gefangenschaft

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entronnen ist. Der puritanische Exodus aus England und das mit ihm verbundene Versprechen einer spirituellen Wiedergeburt können im Zuge dieser Reinterpretation zu einem Bestandteil der amerikanischen Gründungsgeschichte werden und damit buchstäblich zur „Wiege“ Amerikas. Die city upon a hill, auf die sich Winthrop in seiner Predigt bezieht, ist nun nicht mehr ein Bild, das der bedrängten europäischen Reformation Hoffnung auf eine religiöse Erneuerung geben soll, sondern wird zur quasi-biblischen Legitimation der neuen Nation überhöht. Inzwischen haben eine Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen aufgezeigt, wie hier eine in den ersten Jahrhunderten völlig ignorierte Quelle im 19. Jahrhundert wiederentdeckt, im 20. Jahrhundert nationalgeschichtlich vereinnahmt wurde und dabei in ihrer ursprünglichen Bedeutung geradezu auf den Kopf gestellt wurde (Gamble 2012; Rodgers 2018). Aus sozialgeschichtlicher Sicht mag der amerikanische Puritanismus für die Entstehung der USA von sehr begrenzter Bedeutung gewesen sein. Seine Bedeutung liegt in einer Rhetorik des Auserwähltseins, die von späteren Generationen für nationale Zwecke reappropriiert werden konnte. Auf diese Weise aber konnte dem amerikanischen Exzeptionalismus ein Sendungsbewusstsein vermacht werden, für das die universale Verbreitung amerikanischer Werte zur gottgewollten Mission werden und als Rechtfertigung einer aggressiven Besiedlungs- und Außenpolitik dienen kann. Zu ihrer Legitimation prägt John L.O. Sullivan 1845 den Begriff des Manifest Destiny, um der Überzeugung Ausdruck zu verleihen, dass es die weltgeschichtliche Aufgabe der USA sei, das Experiment der Freiheit und der politischen Selbstbestimmung, das die göttliche Vorsehung der amerikanischen Nation anvertraut habe, über den gesamten amerikanischen Kontinent zu verbreiten. Damit konnte unter anderem die Vertreibung der Indianer gerechtfertigt und als quasi unvermeidlicher Preis für einen zivilisationsgeschichtlichen Fortschritt dargestellt werden. In einer der einflussreichsten Theorien amerikanischer Kultur, der frontier-These des Historikers Frederick Jackson Turner, wird die Grenze ( frontier) zwischen indianischer „Wildnis“ und weißer „Zivilisation“ zur Quelle einer fortlaufenden Erneuerung der amerikanischen Gesellschaft. Am Ende des 19. Jahrhunderts weitet sich der Rückgriff auf die Idee einer gottgewollten zivilisatorischen Mission zur Rechtfertigung einer offen imperialistischen Außenpolitik. Religiöse Rhetorik und imperiale Interessenpolitik gehen dabei oft nahtlos ineinander über. Mit dem Ende der 1960er-Jahre treten die USA – und mit ihnen die Idee des amerikanischen Exzeptionalismus – in eine neue Phase ein. Dabei ist der Ausgangspunkt die Kritik jenes liberalen Konsens, der nach Meinung von Hartz den nationalen Zusammenhalt der USA ermöglicht hat. Dieser Konsens wird nunmehr zur Zielscheibe der anti-autoritären und gegenkulturellen Bewegungen der 1960erJahre, für die sich der Liberalismus als eine besonders raffinierte Herrschaftsform darstellt, als – in einer markanten Formulierung von Herbert Marcuse – eine Form „repressiver Toleranz“. Die Radikalisierung linker Politik provoziert eine Gegenbewegung, die sich ebenfalls in der Kritik des Liberalismus konstituiert, in diesem Fall jedoch aus einer immer radikaleren konservativen Perspektive. Das ist der Punkt, an dem die Idee des amerikanischen Exzeptionalismus eine Renaissance erlebt die allerdings immer häufiger mit einer parteipolitischen Verein-

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nahmung verbunden ist. Während die Idee des amerikanischen Exzeptionalismus in wissenschaftlichen Debatten immer häufiger in Frage gestellt wird, wird sie andererseits zu einem Schlüsselbegriff konservativer Politik. Die überraschende Wiedergeburt findet ihre prägnanteste Manifestation in Ronald Reagans rhetorischem Rückgriff auf das Bild der city upon a hill, zu dem er zum Zweck der Effektsteigerung auch noch das Attribut „shining“ hinzufügt, das sich bei Winthrop nicht findet (Reagan 1989). Reagans Metapherngebrauch kann als geschickter Schachzug angesehen werden, die Definitionshoheit darüber zurück zu gewinnen, was Amerika ausmacht, und daraus die Notwendigkeit einer konservativen Politik abzuleiten. Dieser politischen Vereinnahmung der Idee eines amerikanischen Exzeptionalismus kann sich, wie gesehen, schließlich auch die Gegenseite nicht entziehen. In einem Artikel mit dem Titel „It’s time for Democrats to become the party of American exceptionalism“, fordert Ronald Klain, ein hochrangiger Berater der ObamaAdministration, die Demokratische Partei nunmehr auf, ihre eigene, „progressive“ Version des amerikanischen Exzeptionalismus zu entwickeln („a progressive concept of American exceptionalism“) (Klain 2017).

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Exzeptionalismus als Rechtfertigung amerikanischer Außenpolitik

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Werte- versus Stärkeexzeptionalismus

Die verstärkt politische Rolle der Idee eines amerikanischen Exzeptionalismus wird im Meinungsstreit um die amerikanische Außenpolitik besonders deutlich. Publikationen von Robert Kagan und Ann-Marie Slaughter können hier hilfreich sein, um den Kontrast zwischen konservativer und liberaler Position herauszuarbeiten. Dabei ist auf konservativer Seite eine instruktive Bedeutungsverschiebung zu beobachten. Zwar gibt es immer noch ideelle Rechtfertigungen, die – wie beispielsweise Präsident George Bush, Jr. in seiner Second Inaugural Address im Jahr 2005 – als das Ziel der amerikanischen Außenpolitik die Verbreitung der Idee der Freiheit propagieren, aber daneben tritt bereits zu diesem Zeitpunkt eine neokonservative Argumentation, in der die Idee des Exzeptionalismus nunmehr vor allem machtpolitisch interpretiert wird. Exzeptionell sind die USA aufgrund ihrer ökonomischen und militärischen Stärke. Eine Hinwendung zum Unilateralismus ist daher gerechtfertigt. Wie Robert Kagan in seinem einflußreichen Essay „Power and Weakness“ (2002) argumentiert, bleibt den Europäern angesichts ihrer militärischen und politischen Schwäche gar nichts anderes übrig, als eine Vertrags- und Friedenspolitik zu betreiben. Die USA würden sich angesichts ihrer militärischen Überlegenheit jedoch selbst schwächen, wenn sie sich diese Fesseln anlegen ließen. Wenn es aber die militärische und ökonomische Stärke ist, durch die die USA exzeptionell sind (und nicht mehr primär die Stärke ihrer Ideale), dann reicht es nicht aus, diese Stärke lediglich zu propagieren. Wenn man die Macht hat, dann muss man auch bereit sein, sie anzuwenden, sonst verliert man sie. Das ist die Basis des (neo)konservativen Plädoyers für eine machtpolitisch selbstbewusste amerikanische Außenpolitik.

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Entgegen einem Narrativ, dass die USA erst allmählich, beginnend mit Vietnam, dazu übergingen, politische Konflikte durch militärische Interventionen lösen zu wollen, meint Kagan in der amerikanischen Geschichte ein durchgehendes Muster zu erkennen. In seinem Buch Dangerous Nation, einem materialreichen Durchgang durch die amerikanische Geschichte, der mit einem Kapitel mit dem provokanten Titel „The First Imperialists. The Myth of the ‚City upon a Hill‘“ beginnt, unternimmt es Kagan, nachzuweisen, dass in den englischen Kolonien und dann in den USA von Anfang an eine aggressive Machtpolitik betrieben wurde und die USA nur auf diese Weise zu einer Großmacht werden konnten (Kagan 2006). Der unverkennbare Subtext ist: Die Legitimationskrisen, die durch die Kriege in Vietnam und im Irak geschaffen wurden, hätte sich die amerikanische Politik ersparen können, wenn man den Amerikanern von Anfang reinen Wein eingeschenkt hätte über ihre eigene Geschichte. Für Kagan waren die USA immer schon eine „gefährliche Nation“, der im Zweifelsfall Expansion und Machtanwendung wichtiger waren als Ideale. Das ist aus neokonservativer Perspektive keine Schwäche, sondern macht gerade die Stärke der USA aus. Aus einem Exzeptionalismus amerikanischer Werte (value exceptionalism) wird hier ein Exzeptionalismus amerikanischer Stärke (power exceptionalism). Beide lassen sich nie ganz sauber voneinander trennen: Der Exzeptionalismus der Stärke will, wo möglich, nicht ganz auf eine ideelle Rechtfertigung verzichten, so dass die Verbreitung der Demokratie ein wiederkehrendes Argument darstellt, und für den Werteexzeptionalismus sind Amerikas Erfolge immer auch Belege dafür, dass amerikanische Werte eine außergewöhnlich erfolgreiche und produktive Gesellschaft ermöglicht haben. Dennoch ist es unverkennbar, dass hier in der Definition des amerikanischen Exzeptionalismus jeweils unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden, die sehr verschiedene außenpolitische Konsequenzen haben können.

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Die moralische Appellfunktion exzeptionalistischer Rhetorik

Die verstärkt politische Rolle, die die Idee des Exzeptionalismus heute in den USA spielt, lenkt den Blick auf eine weitere wichtige Funktion des Begriffs, seine Appellfunktion. Das wird bereits in der city upon a hill-Rede von Ronald Reagan deutlich. Für Reagan sind die USA ein Vorbild für den Rest der Welt, weil sie das Land der Freiheit sind. Das kann jedoch nur gelten, wenn die Amerikaner nach wie vor bereit sind, diese Freiheit zu verteidigen, zum Beispiel dadurch, dass sie einen – aus republikanischer Sicht – sozialstaatlichen Verrat am Ideal der Freiheit nicht zulassen. Mit anderen Worten: Die Einzigartigkeit der USA liegt in der konsequenten Orientierung an ihren Idealen, aber diese Ideale können nur dann wirksam sein, wenn weiterhin an sie geglaubt wird. Die exzeptionalistische Selbstbeschreibung wird hier zu einer rhetorischen Beschwörungsformel, die ständiger Wiederholung bedarf, um die Idee eines amerikanischen Exzeptionalismus bewahren zu können. Gleiches gilt ironischerweise aber auch für liberale Kritiker neokonservativer Außenpolitik, die diese Politik als Verrat an den wahren amerikanischen Werten

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ansehen und den damit verbundenen Ansehensverlust der USA beklagen. Zu ihnen gehört Ann Marie Slaughter, vormals Dean of the Woodrow Wilson Institute at Princeton University, deren engagiertes Plädoyer The Idea That Is America als repräsentative liberale Antwort auf eine neokonservative Redefinition Amerikas angesehen werden kann (Slaughter 2007). Das, was der Neokonservative Kagan als amerikanische Stärke preist – eine von moralischen Skrupeln möglichst unbelastete Machtpolitik – ist für Slaughter „un-amerikanisch“, weil diese Politik amerikanische Werte missachtet. „This is not who we are“ ist der entsetzte Grundtenor nicht nur ihres Buches im Angesicht von Guantanamo und Abu Ghraib. Die USA können einen internationalen Führungsanspruch nur aus der moralischen Autorität ihrer Werte ableiten und nicht einfach aus ihrer militärischen Stärke. Angesichts der Tatsache, dass sich die USA weltweit als Vorbild der Demokratie präsentieren, muss auch ihre Außenpolitik von demokratischen Idealen geleitet sein. Der Bezug auf einen amerikanischen Exzeptionalismus lässt sich somit nur rechtfertigen, wenn dessen Basis – der Glaube an die zentrale Rolle amerikanischer Werte – bewahrt wird. Insofern darf die Idee des Exzeptionalismus nicht dem neokonservativen Lager überlassen werden (Rorty 1998; Wolfe 2005). Die Zukunft der USA wird davon abhängen, wer die Deutungshoheit darüber gewinnt, was Amerikas nationale Größe, seine greatness, tatsächlich ausmacht. Zu diesem Zweck müssen die Ideale, die Amerikas Exzeptionalität begründen, wieder ihren zentralen Platz im amerikanischen Selbstverständnis einnehmen. Die Krise der amerikanischen Gesellschaft ist das Resultat einer Krise der moralischen Autorität Amerikas, und diese Krise kann nur überwunden werden, wenn die USA ihre Ideale wieder ernst nehmen und ihren Werten treu bleiben.4 Die Frage, die sich an diesem Punkt aufdrängt, ist die, wann es diese Zeit je gegeben hat in der amerikanischen Geschichte. Während Kagans Durchgang durch die amerikanische Geschichte detailliert und konkret ist, bleibt Slaughter vage. Ihre Quellen sind letztlich stories: „As I have turned the pages of our history, I found myself taking comfort in the stories of the great men and women of our past, in the countless voices that have spoken so powerfully and movingly of our common human quest“ (xvii). Weil Slaughter ihr Bild eines exzeptionalistischen Amerika im Wesentlichen aus Geschichten – häufig Heldengeschichten – ableitet, ist ihr Bezugspunkt ein imaginäres Amerika. Ihr narratives Genre ist das des Epos, „our great American epic“ (7). Dabei ist es auch in ihrem Fall erstaunlich, wie sehr in derartigen Beschwörungen amerikanischer Einzigartigkeit die Augen verschlossen werden vor den Realitäten der amerikanischen Geschichte. Im Grunde aber würde man Slaughter mit diesem Einwand fast Unrecht tun, denn sie macht kein Hehl daraus, dass sie ihren Glauben an Amerika nicht aus Amerikas tatsächlicher 4

Mit seinem Buch The Soul of America reiht sich Jon Meacham, renommierter Publizist und Biograph amerikanischer Präsidenten, ein in die Reihe derer, die angesichts aktueller Entwicklungen an die Amerikaner appellieren, zu ihrem besseren Selbst (better angels) zurückzufinden: „The creed of which Myrdal and Schlesinger and others have long spoken can find concrete expression only once individuals in the arena choose to side with the angels. That is a decision that must come from the soul . . .“ (Meacham 2018, S. 7).

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Geschichte ableitet, sondern aus amerikanischen Idealen, und diese finden eben oft ihren eindrücklichsten Ausdruck in heroischen Erzählungen. Es ist somit eigentlich müßig, nachzufragen, ob die USA wirklich jemals nach diesen Idealen gehandelt haben. Was zählt, ist der Glaube an sie, denn nur solange sich die Amerikaner zu ihnen bekennen, lässt sich ihr Geltungsanspruch verteidigen und nur solange, wie sie Geltung beanspruchen können, besitzen sie auch moralische Autorität. Das aber heißt: Wenn die USA nicht zu ihrem besseren exzeptionalistischen Selbst zurückfinden, dann nicht, weil das Konzept eines amerikanischen Exzeptionalismus unhaltbar ist oder der Korrektur bedarf, sondern weil der Glaube daran verloren gegangen ist. Das ist jedoch mehr als nur ein rührender liberaler Appell. Vielmehr hat sich der Glaube an einen amerikanischen Exzeptionalismus auch für eine progressive Gesellschaftskritik als wichtig erwiesen. Wenn eine politische Entscheidung kritisiert wird, weil sie gegen bestimmte politische Überzeugungen verstößt, dann wird diese Kritik in der Regel als parteipolitisch motiviert eingestuft und entsprechend bewertet werden; wenn eine Entwicklung aber kritisiert werden kann, weil sie gegen zentrale amerikanische Ideale und Werte verstößt, dann steht die Kritik plötzlich in einem überparteilichen nationalen Zusammenhang und gewinnt dadurch eine neue Autorität. Das ist der Grund, warum auch auf progressiver, liberaler Seite an der Idee eines amerikanischen Exzeptionalismus festgehalten wird.

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Donald Trump: Absage an den amerikanischen Exzeptionalismus?

Die zentrale Rolle der Idee eines amerikanischen Exzeptionalismus scheint nun allerdings mit der Präsidentschaft Donald Trumps an ein Ende zu kommen. Nicht nur hat Trump den Begriff des amerikanischen Exzeptionalismus abgelehnt; zur Empörung liberaler Werteexzeptionalisten hat er in seiner Inaugural Address auch Amerika „schlecht gemacht“. Trump, so Stephen Wertheim in seinem Artikel „Trump and American Exceptionalism“, könnte der erste amerikanische Präsident sein, der sein Amt mit einer Absage an den amerikanischen Exzeptionalismus angetreten hat (Wertheim 2017). Ist das das Ende des amerikanischen Exzeptionalismus und, falls ja, was soll dann an seine Stelle treten? Selbst- und Fremdcharakterisierungen wie „economic nationalism“ oder „white nationalism“ weisen in die Richtung eines nunmehr unverhüllt artikulierten nationalen Interesses. In der Konkurrenz der Nationalstaaten haben die USA das Recht, amerikanischen Interessen Vorrang zu geben und sich zum Prinzip America first zu bekennen, ohne das ideell rechtfertigen zu müssen. Was die USA von anderen Nationen unterscheidet, ist ihre nationale Souveränität, und so kann es für Trump zum zentralen politischen Projekt werden, zu verhindern, dass die Globalisierung diese nationale Souveränität bedroht. In diesem Sinne stellt der von Trump propagierte Nationalismus in der Tat einen Einschnitt dar. Denn Trump lenkt den Blick auf etwas, was bisher von der exzeptionalistischen Rhetorik überdeckt wurde: Kann es sein, dass der amerikanische Exzeptionalismus letztlich nur eine Form des Nationalismus darstellt, die sich von

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anderen nationalistischen Ideologien dadurch unterscheidet, dass sich der Nationalismus nicht offen zu erkennen gibt, sondern als uneigennützige Mission im Namen solcher Werte wie Demokratie, Freiheit und Frieden einen quasi universellen Anspruch erheben kann? Zur Ideologie des amerikanischen Exzeptionalismus gehört ja das Argument, dass die USA nicht im eigenen Interesse handeln, sondern im Interesse der westlichen Wertegemeinschaft bzw. der internationalen Ordnung. Der Unterschied zwischen Exzeptionalismus und Trumps entschiedenem America first-Nationalismus würde somit in der Differenz zwischen einem verdeckten, vermeintlich uneigennützigen, und einem offen artikulierten nationalen Machtanspruch liegen. Der verdeckte Machtanspruch des Exzeptionalismus hat den Vorteil, dass er für die Machtausübung eine moralische Legitimation zu geben vermag und auf diese Weise unter anderem auch einen Anspruch auf Unterstützung durch Bündnispartner untermauern kann. Das Bekenntnis zu einem unverhüllten Nationalismus hat den Vorteil, dass ein Machtanspruch jetzt offen artikuliert werden kann, und man nicht mehr Rücksicht nehmen muss auf andere Nationen, auch nicht auf Bündnispartner, die nunmehr als Konkurrenten behandelt werden können. Aber der offensichtliche Preis besteht in der Unterminierung der Akzeptanz einer amerikanischen Hegemonie. Im Grunde kann Trumps Nationalismus somit als ein Schritt in der Transformation der Idee des Exzeptionalismus zu einem nunmehr unverblümten Nationalismus gesehen werden. Was Kritiker immer schon vermutet haben – dass der amerikanische Exzeptionalismus lediglich eine Ideologie in eigener Sache ist – wird nun nicht mehr länger durch die Idee Amerikas nobilitiert und hinter dieser Idee versteckt, sondern als nationaler Anspruch formuliert, der keiner weiteren Rechtfertigung als der des nationalen Interesses bedarf. Trumps Nationalismus ist so gesehen keine Absage an die Idee einer amerikanischen Sonderstellung, sondern deren Zuspitzung auf Amerikas Stärke, die den USA die Möglichkeit eröffnet, nationale Interessen – z. B. in der Handelspolitik – offen durchzusetzen. Damit aber sind die USA endgültig in der Realpolitik angekommen und können keinen Ausnahmestatus mehr beanspruchen. Der einzige Ausnahmestatus besteht darin, dass sie die Macht haben, so zu handeln wie sie es tun: „The whole point of these arguments however is precisely that, like all such nationalist discourses, they are intended to free America from moral responsibility for the consequences of its actions and therefore to free America to do anything“ (Lieven 2005, S. 17).

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Kritik des Exzeptionalismus

Die Idee eines amerikanischen Exzeptionalismus ist nicht aus dem Nichts entstanden. Tatsächlich gibt es eine ganze Reihe von Aspekten, die die USA und ihre Geschichte von anderen Nationen abheben und auszeichnen. Dazu gehören historisch gesehen die Abschaffung der europäischen Ständegesellschaft, die dem common man völlig neue Möglichkeiten eröffnete und zur prägenden Erfahrung vieler Einwandererfamilien wurde. Für sie stellte die Auswanderung nach Amerika eine Befreiung dar, die eine starke emotionale Bindung an die amerikanische Gesellschaft

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begründete.5 Historisch waren die USA die erste Nation, die Werte wie Freiheit, Gleichheit und verfassungsmäßig garantierte Individualrechte zur Grundlage ihres nationalen Selbstverständnisses machte. In diesen und einer Reihe anderer Aspekte wie beispielsweise der Religionsfreiheit waren die USA eine Pioniernation des sozialen und politischen Fortschritts. Es ist nachvollziehbar, dass sich damit Dankbarkeit und Stolz verbinden können. Darüber kann aber leicht die andere Seite vergessen werden, die in den letzten Jahren zum Gegenstand einer umfassenden Revision des exzeptionalistischen Geschichtsbildes geworden ist. Für diesen Post-Exzeptionalismus ist nicht mehr New England repräsentativ für die Anfänge Amerikas, sondern die Chesapeake Bay, nicht mehr die Vision einer moralischen Mission, sondern das religiös unmotivierte Abenteurertum der mittleren Kolonien, dem es primär um den Besitz von Land und Gütern ging. Das führte über den Tabakanbau zur Einführung der Sklaverei und damit zur aktiven Beteiligung am transatlantischen Sklavenhandel, den die USA als letzte der westlichen Nationen aufgab. Auch die auf ein Podest erhobenen Gründerväter, denen es um „life, liberty, and the pursuit of happiness“ ging, waren ja Sklavenhalter. Das trifft auf George Washington zu, aber auch auf den Autor der Unabhängigkeitserklärung Thomas Jefferson, der Zeit seines Lebens über 260 Sklaven besaß (und im Gegensatz zu Washington in seinem Testament nur 6 von ihnen die Freiheit schenkte). Insgesamt gab es in den ersten 70 Jahren der amerikanischen Republik, die sich so gern als historischen Neuanfang begriff, nur drei amerikanische Präsidenten, die keine Sklaven besaßen. Crèvecoeur, mit seinen Letters from an American Farmer vermeintlich Gewährsmann der Suche nach einer neuen amerikanischen Identität, war ein Royalist, der vor der amerikanischen Revolution nach Frankreich floh. Andrew Jackson, als populistischer Demokrat gefeiert, lieferte mit seiner Second Annual Message (1830) eine der kaltblütigsten und herzlosesten offiziellen Rechtfertigungen der Indianervertreibung. Der „große Emanzipator“ Abraham Lincoln sah die Lösung der Sklavenfrage noch 1862, dem Jahr, in dem er die USA als „last, best hope on earth“ bezeichnete, nicht in der Emanzipation der versklavten Bevölkerung, sondern in ihrer Umsiedlung nach Mittelamerika oder Afrika. Nach dem Ende des Bürgerkriegs begann für die schwarze Bevölkerung nicht die gleichberechtigte Teilnahme am politischen Prozess, sondern noch einmal 100 Jahre rassistischer Segregation, die – zumindest formal – erst mit der Bürgerrechtsgesetzgebung 1965 endete. Und entgegen dem eigenen Selbstbild waren die USA im 19. Jahrhundert keineswegs das einzige oder auch nur das führende Einwanderungsland; ganz abgesehen von der Tatsache, dass – inspiriert von einer angelsächsischen Rassentheorie – zwischen den beiden Weltkriegen eine rassistisch fundierte Quotenpolitik praktiziert wurde, die dem Bild eines „Schmelztiegels“ diametral entgegen stand und dem Multikulturalismus Hohn spricht.

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In einem Rückblick auf seine eigene Familiengeschichte, in der der jüdische Großvater aus Osteuropa nach Amerika auswanderte schreibt der New York Times – Kolumnist David Brooks: „When you grow up with this background, you have a deep sense of the goodness and purpose of America“ (Brooks 2019, S. A27).

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Das Ziel, eine weltweite Dominanz der USA aufrecht zu erhalten, hat heute zu etwa 800 Militärbasen weltweit geführt, fragwürdige militärische Interventionen wie die in Vietnam, Irak und Afghanistan ermöglicht, und eine Rüstungsindustrie und Rüstungsausgaben hervorgebracht, die die anderer Nationen um ein Vielfaches übertreffen. Das alles trägt Züge eines „informellen“ Imperiums, das durch eben jene Merkmale gekennzeichnet ist, die mit dem Begriff des Exzeptionalismus gerade ausgeblendet werden sollten. Mit dem Kalten Krieg begann die Formierung eines nationalen Sicherheitsapparats, dessen ganzes Ausmaß nur in gelegentlichen Enthüllungen erkennbar wird. In seinen aktuellen Manifestationen sind Menschenrechte eins der Opfer: „Rather, the campaign against terrorism has marginalized human rights in much the same way that the fight against Communism did during the cold war“ (Restad 2015, S. 213). Die revisionistische Geschichtsschreibung zeigt mit diesen und mittlerweile vielen anderen Beispielen die blinden Flecken eines Ansatzes auf, der die USA primär als Idee und Ideal versteht und jene Realitäten, die nicht dazu passen, ausblendet oder immer nur als bedauerliche Ausnahmen verstehen will. In zentralen Aspekten der amerikanischen Geschichte und Gesellschaft hat sich die These von einer maßgeblich von Idealen geleiteten Nation als unhaltbar erwiesen. Bei genauerer Betrachtung erweisen sich die USA keineswegs als eine exemplarische Nation, sondern als ein Nationalstaat unter anderen, mit charakteristischen Stärken und Schwächen – ein Nationalstaat, der sich allerdings an seinen Stärken dermaßen berauscht, dass er sich seine Schwächen kaum einzugestehen vermag. So gesehen kann der amerikanische Exzeptionalismus nunmehr als ein Mythos erscheinen (Hodgson 2009) oder sogar als „beautiful lie“ (Beinart 2010). Für den HarvardPolitologen Stephen Walt, der der realpolitischen Schule zugerechnet wird, ist der Exzeptionalismus ein Mythos von der Art, wie ihn jedes Imperium zu seiner Rechtfertigung braucht (Walt 2012). Wie Walt in seinem Aufsatz „The Myth of American Exceptionalism“ ausführt, haben bisher noch alle Imperien und Großmächte der Geschichte den Anspruch erhoben, exzeptionell zu sein und damit ihren Machtanspruch moralisch begründet. Entgegen ihrem exzeptionalistischen Selbstbild sind die USA somit nicht eine Führungsmacht mit besonderer moralischer Legitimation, sondern lediglich ein weiteres Imperium. Die Erfolge der USA verdanken sich nicht ihren Werten, sondern einer Reihe von historisch günstigen Konstellationen. Walt geht offensichtlich davon aus, dass der Mythos durch einen Verweis auf die historische Realität dekonstruiert und überwunden werden kann und die USA auf diese Weise schließlich zu einer angemesseneren Selbsteinschätzung kommen werden. Diese Zuversicht teilt der „New Americanist“ Donald Pease nicht, denn für ihn hat das Ideenkonstrukt des amerikanischen Exzeptionalismus nicht nur die Funktion, eine nationale und imperiale Interessenpolitik zu bemänteln, sondern auch die, der heterogenen Gesellschaft der USA ein nationales Identitätskonstrukt anzubieten, das eine starke affektive und emotionale Bindung schaffen kann (Pease 2007). Wenn man glaubt, dass die Amerikaner ein auserwähltes Volk sind, dann kann der einzelne allein durch seine Zugehörigkeit zu dieser imaginären Gemeinschaft in seiner Bedeutung angehoben werden; aus nationalem Selbstlob kann auf diese Weise individueller Selbstwert werden. Für Pease erlaubt es der amerikanische Exzeptio-

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nalismus einer Mehrheit von Amerikanern auch heute noch, über dunkle Seiten ihrer Geschichte wie die Indianervertreibung mit Millionen von Opfern oder die zentrale Rolle der Sklaverei mit ihren gesellschaftlichen Langzeitfolgen hinweg zu sehen und sie mit Hilfe des Selbstbilds einer einzigartigen Nation zu verdrängen. Oder anders ausgedrückt: Der amerikanische Exzeptionalismus ermöglicht eine Form nationaler Selbstverkennung, die, wenn überhaupt, nur langsam und widerwillig aufgegeben werden wird. Damit wird der Analyse eines Mythos eine psychische und emotionale Dimension hinzugefügt, die bei dem „Realisten“ Walt völlig fehlt. Die Perspektive von Pease kann erklären, warum sich die Idee des amerikanischen Exzeptionalismus als so widerstandsfähig und erfahrungsresistent erwiesen hat, dass sie alle Revisionsbemühungen bisher nicht zu Fall bringen konnten. Und sie kann die bereits von Tocqueville gemachte Beobachtung erklären, dass viele Amerikaner Kritik an ihrer Gesellschaft nur schwer ertragen: „The majority lives in the perpetual utterance of self-applause, and there are certain truths which Americans can learn only from strangers or from experience“ (Tocqueville 1969, S. 265). Angesichts derartiger Kritik am amerikanischen Exzeptionalismus stellt sich abschließend die Frage, wie dieser Kritik heute begegnet wird. Dabei lassen sich im wesentlichen drei Positionen erkennen: 1) Die USA müssen weiterhin und unbeirrt – so das konservative Argument – an der Idee eines amerikanischen Exzeptionalismus festhalten, weil es nun einmal nicht zu leugnen ist, dass die USA anderen Nationen an ökonomischer und militärischer Stärke weit überlegen sind, und weil die USA daraus nach wie vor die beste Legitimation für ihr politisches Handeln beziehen können; 2) Am Glauben an einen amerikanischen Exzeptionalismus – so die liberale Perspektive – muss festgehalten werden, weil jede Nation einer Form der Selbstidealisierung bedarf, um an ein besseres Selbst (America’s better angels) appellieren zu können. Daher muss die konservative Reduktion der Idee eines amerikanischen Exzeptionalismus auf einen power exceptionalism korrigiert und der Exzeptionalismus wieder als ein value exceptionalism verstanden werden, für den die Exzeptionalität der USA in den sie fundierenden Idealen und Werten liegt; 3) Die Idee des amerikanischen Exzeptionalismus – so ein revisionistisches Lager, das wesentlich von den neuen sozialen Bewegungen inspiriert ist – muss aufgegeben werden, weil sie eine grundlegende Form nationaler Selbstverkennung darstellt, durch die militärische Abenteuer begünstigt und die dunklen Seiten der amerikanischen Geschichte und Gesellschaft beharrlich verdrängt werden. Damit ist allerdings die Frage noch nicht beantwortet, welches Narrativ über Amerika an die Stelle des exzeptionalistischen treten könnte. Solange kein identitätsstiftendes alternatives Narrativ gefunden ist, wird der amerikanische Exzeptionalismus, und wenn auch nur aufgrund der Abwesenheit einer überzeugenden Alternative, weiterhin das dominante Selbstbild der USA bleiben. Welches Narrativ das amerikanische Selbstverständnis dominiert, ist jedoch, wie gesehen, nicht nur von ideengeschichtlichem Interesse. Es hat Folgen für das politische Handeln der USA, denn es liefert für dieses Handeln die notwendige Legitimation. Insofern bleibt die Frage nach dem Stellenwert und Geltungsanspruch der Idee des amerikanischen Exzeptionalismus eine Frage von weitreichender Bedeutung für das Verständnis der USA.

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Religion und Politik in den Vereinigten Staaten von Amerika Michael Hochgeschwender

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die Grundlagen der amerikanischen Religionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Die zweite große Erweckungsbewegung (1790–1860) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Die fundamentalistische Erweckung (1880 bis 1930) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Der Weg in die Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Im Laufe ihrer Geschichte haben die USA eine ganz eigentümliche Form von Religiosität entwickelt, die eng mit der Entstehung ihrer nationalen Identität gekoppelt war und ist. In einem komplexen, mehrfach dialektischen Spannungsfeld von calvinistischer Erweckungsreligiosität, protestantischem Mainstream, Katholizismus, Judentum, Säkularismus und Minderheitenreligionen kam es zu einer einzigartigen Fülle rivalisierender und sehr lebendiger religiöser Angebote, die sowohl politisch als auch kulturell und gesellschaftlich Wirkung entfalteten, ohne aber je Gefahr zu laufen, eine Form von Staatskirchentum hervorzubringen. Schlüsselwӧrter

Religion · Christentum · Judentum · Erweckungsbewegungen · Evangelikalismus · Pfingstchristentum · Katholizismus · Trennung von Staat und Kirche

M. Hochgeschwender (*) Amerika-Institut, Ludwigs-Maximilans-Universität München, München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_5

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M. Hochgeschwender

Einleitung

In kaum einem Land des transatlantisch-westlichen Kulturraums spielt Religion in der Gegenwart eine so herausragende Rolle wie in den Vereinigten Staaten von Amerika (Williams 2002; Jewett und Wangerin 2008; Butler 1992). Schon im Rahmen einer bloß oberflächlichen Beobachtung tun sich auf diesem Feld tief greifende Unterschiede zwischen den USA und vor allem Westeuropa, Skandinavien und Großbritannien auf. In mancherlei Hinsicht erscheint die US-amerikanische Gesellschaft religionswissenschaftlich hier mit Lateinamerika, Afrika und Teilen Asiens verwandt als mit Europa. Dies betrifft insbesondere die Rolle, welche religiöse Erweckungsbewegungen immer wieder im Verlauf der amerikanischen Geschichte gespielt haben. Religion, allen voran die verschiedenen Formen und Varianten des Protestantismus, war von Beginn an für das Entstehen nationaler Identität zentral. Ohne einen ausführlichen Blick in die Geschichte der religiösen Entwicklung der USA ist dieser Befund gleichwohl kaum einsichtig zu machen. Im Folgenden soll daher ein straffer Überblick über die Religionsgeschichte BritischNordamerikas und der USA seit der Kolonialzeit gegeben werden, ehe abschließend gegenwärtige Fragen des Verhältnisses von Religion und Gesellschaft beziehungsweise Staat und Kirchen behandelt werden (Hutson 2008).

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Die Grundlagen der amerikanischen Religionsgeschichte

Am Anfang stand ein Paradox: Auf der einen Seite war die Gesellschaft der britischen Festlandskolonien auf dem nordamerikanischen Kontinent ganz an den Vorgaben des frühneuzeitlichen Europa orientiert (Hochgeschwender 2007). Gesellschaft, Politik und Kultur waren ohne Religion nicht denkbar. Mehr noch, die Gründung der britischen Kolonien hatte vielfach einen explizit religiösen Hintergrund. Die Neuenglandkolonien Massachusetts und Connecticut waren puritanische Gründungen, das heißt hier hatten sich strenggläubige Calvinisten – die sich im frühen 17. Jahrhundert zum Teil sogar auf der Flucht vor der anglikanischen Staatskirche des Königreiches England befunden hatten – eine Heimstatt geschaffen, in der sie sich eigene Staatswesen errichteten, die weitgehend unter der Kontrolle der puritanischen Gemeinden und ihrer Vorsteher, wenn auch nicht notwendig der Geistlichkeit standen. Von einer Theokratie zu sprechen würde wohl zu weit führen, da die Puritaner sehr wohl eine von der calvinistischen Kirchengemeinschaft unabhängige weltliche Herrschaft und vor allem eine strikte Orientierung an der englischen Rechtsstaatlichkeit kannten. Dennoch handelte sich zumindest um eine spezielle Form des Staatskirchentums, da bis in das späte 17. Jahrhundert ausschließlich Puritanern die Leitung des Staatswesens zukam. Da dies zugleich die Verfolgung religiös Andersdenkender, insbesondere von Baptisten, Quakern, Juden und Katholiken, beinhaltete, kam es 1636 durch den abtrünnigen Puritaner Roger Williams zur Gründung der neuen Kolonie Rhode Island, die sich als expliziter Gegenentwurf zu den puritanischen Kolonien verstand. In Rhode Island wurde von Beginn an religiöse Toleranz geübt, freilich unter Ausschluss romtreuer Katholiken. Gleichzeitig bemühte sich Williams im Gegensatz zur Mehrheit

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der Puritaner um ein friedliches Verhältnis zu den benachbarten Indianerstämmen. Ebenfalls dem gerade erst entstehenden Toleranzideal verpflichtet waren zwei weitere Koloniegründungen, einmal das 1681 dem Quaker William Penn überlassene Pennsylvania, das für sein fast schon freundschaftliches Miteinander von verschiedenen christlichen Denominationen und den umgebenden Indianern berühmt und -unter weißen Siedlern-höchst umstritten war, zum anderen das für wenige Jahrzehnte katholisch beherrschte Maryland. Dort hatte die Familie Calvert religiöse Toleranz durchgesetzt, die allerdings in den 1690er-Jahren endete, als der Anglikanismus in der Kolonie zur Staatsreligion wurde. Auf der anderen Seite darf man den religiösen Faktor in der frühen nordamerikanischen Geschichte keinesfalls überbetonen. Die neuere, quantifizierende religionshistorische Forschung hat herausgearbeitet, wie gering der Anteil der an religiöse Institutionen (Kirchen) gebundenen Personen bis weit in das 20. Jahrhundert tatsächlich war (Finke und Stark 1992). Die neuenglischen Kolonien verfügten über die höchste Dichte von Kirchenmitgliedern, obwohl ausgerechnet das puritanische Kirchenverständnis eine Mitgliedschaft erheblich erschwerte. Um Puritaner zu werden, bedurfte es eines besonderen Erwählungserlebnisses, das über die konventionelle Taufe hinausging. Gleichzeitig waren Puritaner faktisch zu andauernder Selbstreflexion über die Echtheit und Reinheit ihres Glaubenslebens verpflichtet, was auf längere Sicht gegen Ende des 17. Jahrhunderts zu einem Niedergang der puritanischen Vorherrschaft in Neuengland führte. Auf Dauer konnten die Puritaner ihr exklusives Verständnis als auserwählte Oppositionskirche gegen den Anglikanismus nicht aufrechterhalten, da sie selbst zur Herrschaftskirche geworden waren. Daher mussten erst in den 1660er-Jahren die Zugangsvoraussetzungen zur Kirchenmitgliedschaft und damit zur politisch-gesellschaftlichen Teilhabe gelockert werden (halfway covenant), ehe dann die puritanische Orthodoxie ab 1690 in den streng calvinistischen Kongregationalismus und den aufgeklärt-rationalistischen Deismus zerfiel. Die Hexenverfolgungen von Salem in Massachusetts im Jahr 1692 waren dabei eher ein Symptom der Krise des Puritanismus als dessen Auslöser. Immerhin beendeten nicht die aufgeklärten Kaufleute von Boston die Verfolgungen, sondern die puritanische Geistlichkeit selbst besann sich relativ rasch eines Besseren. Ihre intellektuelle und soziale Vormachtstellung vermochten sie aber in der Folge im unruhigen Massachusetts nicht mehr zu behaupten. Diese schwach ausgeprägte institutionelle Seelsorge führte dann zu einem für Nordamerika typischen Phänomen, dem Aufkommen von enthusiastischen Erweckungsbewegungen (Noll 2002). Zwar fanden sich vergleichbare Phänomene gerade im 18. und 19. Jahrhundert weltweit, teilweise wurden auch Indianerstämme davon ergriffen, aber selten erreichten sie die Intensität der nordamerikanischen Erweckungsbewegungen, die in aller Regel gleichzeitig von urbanen Mittelklassen und der Landbevölkerung getragen wurden und sich bevorzugt an kirchlich ungebundene Gläubige richteten. Theologisch handelte es sich um eine apokalyptische, also endzeitlich ausgerichtete und gleichzeitig evangelikale, also die Bibel als unmittelbar an den Einzelmenschen ergangenes Wort Gottes verstehende Bewegung, die sich an der Frage nach der Seelsorge an der Westgrenze der Kolonien, der frontier, entzündete.

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Darüber hinaus blieb die erste große Erweckungsbewegung, die um 1740 gleichzeitig Großbritannien und Nordamerika ergriff (Kidd 2007), orthodox calvinistisch beziehungsweise anglikanisch und methodistisch. Katholiken blieben von ihr weitgehend unberührt. Die sozialen Träger der Erweckungsfrömmigkeit waren in der Regel kleine presbyterianische und methodistische Freibauern in den hügeligen Piedmontregionen der Appalachees und Alleghenies, die sich überwiegend im Konflikt mit den anglikanischen, calvinistischen oder freigeistig-deistischen Großgrundbesitzern und Bodenspekulanten aus der Ostküstenelite oder den Quakern Pennsylvanias befanden. Insofern trug die Erweckungsbewegung durchaus sozialkritische Züge. In Einzelfällen, etwa bei den Regulatoren in North Carolina und South Carolina in den 1760er-Jahren, konnte sie sogar regelrecht sozialrevolutionäre Züge annehmen (Kidd 2010; Clark 2006). Allerdings ist in der Forschung weiterhin umstritten ob und inwieweit die erste Erweckungsbewegung, die man sich eher als Summe einer Vielzahl unkoordinierter kleinerer Erweckungswellen denn als einheitliche Bewegung vorstellen muss, zur Amerikanischen Revolution der 1770erJahre beitrug (Dreisbach und Hall 2014). Tatsächlich wird man innerhalb des evangelikalen Enthusiasmus nur ausnahmsweise explizit demokratische oder revolutionäre Züge finden. Obendrein standen nach 1775 viele Erweckte, etwa die Methodisten in Maryland und oder die presbyterianischen Regulatoren der Carolinas aufseiten der britischen Krone, während die gänzlich unerweckten deistischen Eliten sich der Revolution gegen das Westminsterparlament in London anschlossen (Byrd 2013). Dennoch kommt man wohl nicht umhin, den Erweckungen seit den 1730er- und 1740er-Jahren eine gewisse Bedeutung im vorrevolutionären Prozeß zuzubilligen: Erstens beschleunigte sie den gesamtgesellschaftlichen Trend zur Individualisierung, der bereits in der im Vergleich mit Europa deutlich lockereren Siedlungsweise in Einzelgehöften oder verstreuten Kleinsiedlungen angelegt war. Die evangelikale Frömmigkeit verlangte, ähnlich wie zuvor bereits der Puritanismus, die freie religiöse Entscheidung von Individuen um ihres Seelenheiles willen. Die bloße Taufe in eine etablierte Staatskirche reichte angesichts der drängenden Naherwartung der Wiederkunft Christi nicht mehr hin. Zweitens verknüpften die akademisch nicht gebildeten erweckten Prediger oft lockeanisch-frühliberales Gedankengut mit einer innigen Herzensfrömmigkeit und trugen auf diese Weise dazu bei, einen christlichen Lockeanismus auszubilden, der antihierarchisch, egalitär, anti-institutionalistisch und anti-intellektuell war, gleichzeitig aber die unbedingte Heiligkeit des Privateigentums als gewissermaßen religiöse Forderung begriff. Darüber hinaus verschärfte die Erweckungsfrömmigkeit die bereits in der Reformation des 16. Jahrhunderts und dem vorangegangenen Humanismus angelegte kritische Sicht auf Armut und die Armen. Im Gegensatz zur mittelalterlichkatholischen Frömmigkeitstradition mit ihrer Wertschätzung von Almosen und Werken der Caritas gegenüber den mehrheitlich positiv wahrgenommenen Armen rückte nun der Unterschied zwischen den guten, unverschuldet in Not geratenen Armen und den angeblich faulen, selbst verschuldeten, demnach schlechten Armen in den Vordergrund. Drittens traten die Erweckten für ein Kirchenverständnis ein, das nicht, wie der Katholizismus, die sichtbare und universale, weltumspannende Kirche und ihre

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Einheit in den Vordergrund stellte, sondern – unter dem Mantel einer unsichtbaren Kirche der reformatorischen Tradition – den Primat der örtlichen Kirchengemeinde, das sogenannte kongregationalistische Prinzip, in den Vordergrund stellte. Daraus aber folgte automatisch eine Kritik an den Relikten des Staatskirchensystems in den einstmals puritanischen Kolonien Neuenglands und den anglikanischen Kolonien. Gemeinsam mit deistischen Aufklärern, darunter Thomas Paine und Thomas Jefferson, setzten erweckte Baptisten, Presbyterianer und Methodisten Schritt um Schritt das Deestablishment in den einzelnen Kolonien beziehungsweise den Bundesstaaten der USA durch. Bis 1832 (in New Hampshire bis 1858) verschwanden sämtliche Privilegien der etablierten Staatskirchen aus den Einzelstaatenverfassungen, ohne dass damit der religiöse Grundcharakter des amerikanischen öffentlichen Lebens und die Bedeutung der Religion auf gesellschaftlicher Ebene relativiert worden wäre (Green 2010). Ganz im Gegenteil, die sogenannte Zivilreligion der USA, die religiöse Aura mit der Staat, Verfassung, Gründerväter, Fahne und Unabhängigkeitserklärung im öffentlichen Bewusstsein umgeben wurden und die damit verknüpfte religiöse Rhetorik nahmen im Verlauf des 19. Jahrhunderts stark evangelikale und deistische Züge an. Der Evangelikalismus trug somit maßgeblich zum Entstehen einer nationalen Identität in den jungen USA bei. Gleichzeitig sorgten die Evangelikalen dafür, mithilfe des ersten Verfassungszusatzes von 1791 jedwedes Staatskirchentum auf Bundesebene von vornherein zu unterbinden. Wie in den Einzelstaaten plädierten die evangelikal Erweckten, für eine strikte Trennung von Staat und Kirche, die freilich weiterhin nicht als Trennung von Religion, Politik und Gesellschaft interpretiert wurde. Auf diese Weise arrangierte sich gerade die erweckte Frömmigkeitsbewegung mit dem religiösen und ethnokulturellen Pluralismus in den USA der Frühzeit, ja, sie trug aktiv dazu bei, diesen zu befördern. Schließlich griff die erste Erweckungsbewegung eine Idee auf, welche schon die Puritaner umgetrieben hatte. Diese verstanden ihre Siedlungen in Nordamerika als city upon the hill, als das neue, endzeitliche Jerusalem, dessen Glorienschein der Heiligkeit von der Wildnis Nordamerikas in die verkommenen Stätten der tyrannisch-despotischen, korrupten und moralisch degenerierten Zivilisation ausstrahlen sollte. Die Puritaner waren ihrem eigenen Selbstverständnis nach die auserwählten Heiligen Gottes, der letzte, heilige Rest der Menschheit. Im Bewußtsein der Erweckten des 18. Jahrhunderts wurde daraus die Vorstellung, das revolutionäre Amerika und die neu gegründeten USA seien der von Gott auserwählte Hort der Freiheit und der Moral. Damit legten sie die Grundlage für das Selbstverständnis der USA als God’s Own Nation, aber auch für eine oftmals dualistische Sicht von Politik und Außenpolitik. Schon aus diesen knappen Andeutungen wird ersichtlich, wie ungemein prägend die Erweckungsbewegungen des 18. Jahrhunderts nicht allein für die Ära der Amerikanischen Revolution, der Verfassungsgebung und der frühen Republik waren, sondern wie ausschlaggebend sie auf das Entstehen einer amerikanischen nationalen Identität einwirkten, wobei sie in der Regel mit Verfechtern des lockeanischen Protoliberalismus und des Tugendrepublikanismus gemeinsame Sache machten. Allerdings fehlte dem erweckt-enthusiastischen Engagement die Kontinuität. Noch im Verlauf der Revolution, in den 1770er-Jahren, ließ die fiebrige Erwar-

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tung der Wiederkunft Christi allmählich nach. Die individualistischen erweckten Gemeinden kamen in ein ruhigeres Fahrwasser, sie nahmen institutionelle Züge an. Parallel dazu bildete sich der sogenannte Mainstream heraus. Unter dieser Bezeichnung versteht man eine Gruppe moderater, nichterweckter Konfessionen, darunter der anglikanische Episkopalismus, das Luthertum, die moderaten Presbyterianer, die Kongregationalisten und die deistischen Unitarier. Der Mainstream wurde charakteristisch für die Religiosität der städtischen Mittel- und Oberklassen sowie der Großgrundbesitzerkaste, während die Erweckungsfrömmigkeit sich in den unteren Mittelklassen und im kleinbäuerlichen Bereich hielt. Überhaupt nahm das religiöse Leben in den USA der frühen Republik (um 1800) mehr oder minder Züge einer ausgeprägten Klassenfrömmigkeit an, die sie bis in die 1980er-Jahre bewahren sollte. Vor diesem theologischen Hintergrund entwickelte sich ein System, wonach man, sofern man eher den unteren Klassen angehörte, einer erweckten Denomination zuzurechnen war, während man beim Aufstieg in die Mittelklasse in den Mainstream wechselte, der außerhalb der Erweckungsbewegungen soziokulturell dominant war. An der Spitze der religiösen Statusleiter standen die Episkopalen, die Presbyterianer und die Kongregationalisten sowie die Unitarier, während die Quaker infolge der Revolution, in deren Verlauf die als Anhänger Großbritanniens wahrgenommen wurden, an sozialem und kulturellem Status massiv einbüßten. Ganz am Rand standen Kleinreligionen, etwa die wiedertäuferischen Sekten der Amish, der Hutterer und der Mennoniten, die allesamt wegen ihres Pazifismus und ihrer Weigerung, Eide zu leisten, eher geduldet als respektiert und geachtet wurden. Auch Katholiken und Juden fanden in diesem System keinen Ort, da sie entweder aufgrund ihres ganz anders gearteten Kirchenverständnisses oder wegen der Verquickung von Ethnie und Religion von vornherein ausgeschlossen waren. Entsprechend verblieben Katholiken und Juden überdurchschnittlich oft in der Religionsgemeinschaft, in die hinein sie geboren waren.

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Die zweite große Erweckungsbewegung (1790–1860)

Allerdings blieb auch nach den ersten Erweckungen des 18. Jahrhunderts und der Revolutionsära das Gros der amerikanischen Bevölkerung kirchlich ungebunden. Insofern hatten sich die gesellschaftlichen Ausgangsbedingungen seit den 1740erJahren mit Blick auf die Möglichkeit religiöser Erweckungswellen nicht maßgeblich geändert. Und wirklich, kaum war die erste Welle abgeflaut, kam es ab ca. 1790 zu neuen Aufbrüchen, die diesmal von der neuen Westgrenze in Kentucky und Tennessee ihren Ausgang nahmen. Wie fünf Jahrzehnte zuvor, entzündete sich das Feuer des apokalyptischen Enthusiasmus an der Frage der akademischen Ausbildung der Geistlichkeit. Und erneut machten sich selbst ernannte Wanderprediger, darunter der ehemalige Rechtsanwalt Charles Grandison Finney, auf den Weg, um große Massen anzusprechen und zu bekehren. Diesmal waren die Erweckungskampagnen deutlich professioneller als zuvor (Hochgeschwender 2007). Modernen Schätzungen zufolge waren um 1830 rund 90 % der praktizierenden amerikanischen Protestanten evangelikal. Die neuen Enthusiasten übernahmen die strukturellen Grundlagen der vor-

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revolutionären Erweckungen und koppelten sie mit modernen Kommunikationstechnologien. Wiederum zeitgleich in Großbritannien und den USA nutzten sie Eisenbahnen, um möglichst große Menschenmassen zu Camp Meetings zu transportieren, oder den Telegrafen und Zeitungen, um ihre Inhalte zu verbreiten. Zu den zentralen politischen Forderungen der radikalen Erweckten des Nordens zählten neben der Sabbathobservanz, das heißt der Sonntagsheiligung, etwa die Abschaffung der Sklaverei (Hochgeschwender 2006). Während die Erweckten im Süden eher in der Minderheit blieben und sich auf individualmoralische Vorgaben beschränkten oder die Sklaverei zu einem Institut göttlichen Rechts erklärten, forderten nordstaatliche Evangelikale mithilfe der abolitionistischen Bewegung das möglichst schnelle Ende der Sklaverei, die als Sünde charakterisiert wurde. Allerdings lehnten die überwiegend pazifistischen Erweckten Gewalt als Mittel im Kampf gegen die Sklavenhalter bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs konsequent ab und distanzierten sich zugleich vom abolitionistischen Terror des Altcalvinisten John Brown. Aus ähnlichen Motiven heraus lehnte sie den nationalistischen Expansionismus der freigeistigen Intellektuellen der Gruppe Young America um John L. O’Sullivan mit seiner Idee des Manifest Destiny der USA, also dem Glauben an eine natürliche Vormachtstellung der USA auf dem amerikanischen Doppelkontinent rigoros ab. Expansionismus war mit dem sozialen Perfektionismus der Bewegung nicht vereinbar, obschon O’Sullivan, der Agnostiker war, sein Programm in religiöser Begrifflichkeit formuliert hatte. Dafür traten die Evangelikalen für weitere Sozialreformen ein, etwa die Temperenz im Kampf gegen den weit verbreiteten Alkoholismus, eine Gefängnisreform mit der Idee, Zuchthäuser durch Arbeitshäuser mit Gebetsstunden und klösterlichen Regularien zu ersetzen, die State Penitentiaries, der Kampf gegen die Todesstrafe und die Schulreform, wobei die Bibel als zentrales Unterrichtsmittel dienen sollte. Selbst an der frühen Frauenbewegung waren Evangelikale beteiligt. Ihre perfektionistischen Sozialreformen trieben sie gleichwohl nicht nur in eine Frontstellung gegen die Sklavenhalter des Südens, sondern auch gegen die Massen katholischer Migranten, vor allem aus Irland und Deutschland, die seit den 1840er-Jahren in die USA strömten. Der apokalyptische Evangelikalismus war traditionell eifernd antikatholisch. Der römische Papst galt politisch als Agent der finstersten Reaktion und der Tyrannei der heiligen Allianz, religiös als Antichrist und Hure Babylon. Das Auftauchen zahlreicher Katholiken wurde als Merkmal der kommenden Apokalypse gewertet. Umgekehrt machte der Katholizismus zu dieser Zeit mit dem Ultramontanismus selbst eine Art von Erweckungsbewegung durch, sofern man dies von dem notorisch unerweckten römischen Glauben sagen konnte. Immerhin waren katholische Laien dabei, selbstbewusster ihre Religion zu pflegen und sie aggressiver zu verteidigen. Dies verstärkte nur die antikatholische Hysterie der Evangelikalen und der liberalen Nationalisten, weswegen seit 1834, als erstmals ein Nonnenkonvent auf amerikanischem Boden niedergebrannt wurde, fremdenfeindliche Gruppen, die bald Know Nothings genannt wurden, den Antikatholizismus in Gewalt umschlagen ließen. Die Evangelikalen beteiligten sich nicht an dieser Gewalt, missbilligten sie aber auch nicht sonderlich. Die zweite Erweckungsbewegung schlug noch an einem anderen Punkt in Gewalt um. Aus seinen Reihen hatte sich in dem vom Erweckungsenthusiasmus besonders betroffenen westlichen New York eine ganz neue Religion gebildet, die nur noch dem Namen nach christlich war: das Mormonentum des John Smith (Bushman

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2008). Diesem war angeblich von einem Engel eine neue schriftliche Offenbarung, das Buch Mormon, zuteil geworden. Dessen Lehren ließen sich mit dem Biblizismus der Evangelikalen ebenso wenig vereinbaren wie mit der Wohlanständigkeit des liberalen Bürgertums, weswegen Mormonen, vor allem nachdem sie die Vielehe eingeführt hatten, von allen Seiten, Nordstaatlern und Südstaatlern, Mainstream, Erweckten, Katholiken und liberalen Freigeistern mit Hass und Gewalt verfolgt wurden. Evangelikale Prediger, etwa Alexander Campbell, der ansonsten eher zu den Moderaten zählte, hetzten mit allen Mitteln gegen das Mormonentum und seinen Abfall vom Christentum. Zeitweise kam es in Utah, wohin die Mormonen sich mit ihren Milizen zurückgezogen hatten, zu bürgerkriegsähnlichen Unruhen. Die mormonischen Milizen beantworteten den Hass der Nichtmormonen mit dem Massaker von Mountain Meadow 1858, dass sie den umliegenden Indianerstämmen, zu denen sie ansonsten ein gutes Verhältnis pflegten, in die Schuhe zu schieben versuchten. Die US-amerikanische Armee marschierte daraufhin kurzerhand in das Mormonenterritorium ein und hängte die Verantwortlichen. Erst 1890 konnte Utah, nachdem die Polygamie offiziell abgeschafft worden war, der Union beitreten und erst im späten 20. Jahrhundert wurden Mormonen allmählich in die amerikanische Gesellschaft integriert. Aber weder der gewalttätige Antikatholizismus noch der Kampf gegen die Mormonen beendete die zweite Erweckungswelle. Sie verlief sich seit den 1840erJahren langsam, da erneut die Wiederkunft Christi nicht stattgefunden hatte. Einige Prediger, darunter der prämilleniaristische Begründer der späteren SiebentageAdventisten William Miller hatten sogar das Datum der Apokalypse präzise für 1843 vorausgesagt. Als nichts geschah, verflachte der Enthusiasmus, um dann 1857 und während des Bürgerkriegs von 1861 bis 1865 wieder kurz aufzuflackern. Aber die ungeheuerlichen Blutopfer des Bürgerkriegs gaben dem Fortschrittsoptimismus der postmilleniaristischen Evangelikalen den Rest. Man hat zwar gesagt, die Bürgerkriegsarmeen von Union und Konföderation seien die frömmsten Armeen der amerikanischen Geschichte gewesen, aber ihre Frömmigkeit war doch wieder eher vom Übergang in den Mainstream gekennzeichnet. Nach dem Ende des Bürgerkriegs kam es zu einer Phase stabiler Säkularisierung, die sich mit dem aufkommenden Materialismus und Konsumismus des Gilded Age, des vergoldeten Zeitalters der Hochindustrialisierung und der Monopole und Oligarchen verband. Wie die Mormonen entstammte auch der Spiritualismus, der sich ab 1848 mit rasanter Geschwindigkeit vom westlichen New York aus ausbreitete, dem weiteren Umfeld der evangelikalen Erweckungsbewegung (Moore 1986). Allerdings hatte er mit dem Christentum nichts mehr gemein und bediente vor allem die religiösen Gefühle modern-naturwissenschaftlich eingestellter Freigeister aus den bürgerlichurbanen Mittelklassen, sprach aber auch traditionell geistergläubige Angehörige der Landbevölkerung an. Anders als etwa in Deutschland avancierte der Spiritualismus in den USA zu einer Art Volksreligion mit vermutlich mehreren Hunderttausend Gläubigen und Anhängern. Er war vor allem für Frauen attraktiv, weil er keine etablierte Priesterschaft und kirchliche Institutionalität kannte, was Frauen die Chance eröffnete, sich als Medium zu gerieren. Überdies versprach er einen scheinbar naturwissenschaftlich-experimentellen, erfahrungsgesättigten Zugang zum Jen-

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seits, obwohl die Botschaften, so wie sie die Medien vermittelten, ziemlich banal wirkten. Nach dem Bürgerkrieg wurde der Spiritualismus als Schwindel entlarvt und verlor weite Teile seine Anhängerschaft, tauchte aber gelegentlich wieder auf.

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Die fundamentalistische Erweckung (1880 bis 1930)

Unter der Oberfläche aber schwelten religiöse Sehnsüchte weiter. Vor allem konsolidierte sich der Katholizismus in den USA. In den 1880er- und 1890er-Jahren kamen nicht mehr nur Iren und Deutsche, sondern auch Polen, Italiener, Spanier, Ruthenen und Franzosen. Der Katholizismus nahm trotz des weiterhin weit verbreiteten liberalen und protestantischen Antikatholizismus, organisatorisch Gestalt an. Er wurde zu der Religion der amerikanischen Arbeiterschaft. Gleichzeitig übernahmen Bischöfe und Theologen die konservative, allerdings für die soziale Frage aufgeschlossene und kapitalismusskeptische Neuscholastik aus Europa, insbesondere den Neuthomismus nach der Enzyklika Papst Leo XIII. Aeterni Patris, womit sie zugleich den Anspruch auf eine autoritärere Führung des amerikanischen Katholizismus erhoben als bislang (McGreevy 2003). Dies hing eng mit dem Ende der jahrzehntelang währenden Trustee-Streitigkeiten zwischen den katholischen Laienräten, die für einen eher von Laien dominierten Reformkatholizismus eintraten, und dem Klerus zusammen, den vor allem die Iren zugunsten des Klerus entschieden hatten. Nun trat eine neue Konfliktlinie hervor, die zwischen den irischen Katholiken, die für einen gemäßigt an den politischen Pluralismus angepassten, spezifisch amerikanischen Katholizismus plädierten, und eher konservativ-ultramontanen deutschen Katholiken. Dieser Streit überschnitt sich mit der Frage, ob Katholiken Mitglieder in nichtkatholischen Gewerkschaften sein dürften. Als dann in den 1890er-Jahren irische Katholiken damit begannen, in Frankreich den amerikanischen Katholizismus wegen seiner Nähe zu Demokratie, Religionsfreiheit und Pluralismus als Vorbild des Weltkatholizismus zu preisen, griff der Vatikan unter Leo XIII. ein und untersagte die weitere Verbreitung dieser „amerikanistischen“ Thesen. Neben den Katholiken profitierte nicht zuletzt die jüdische Minderheit von der Masseneinwanderung des späten 19. Jahrhunderts. Aus Deutschland, Russland und Polen strömten Juden in die USA, ganz überwiegend aus wirtschaftlichen Motiven. Dort waren sie ebenso wenig willkommen wie die Katholiken. Unterstützt von Industriellen wie Henry Ford, der die Protokolle der Weisen von Zion in den amerikanischen Markt einführte, schlug der traditionelle christliche Antijudaismus in einen rassistischen Antisemitismus um. Organisationen wie die American Protective Association der 1890er-Jahre und der zweite Ku-Klux-Klan der 1920er-Jahre waren militant antisemitisch und antikatholisch. 1913 wurde mit Leo Frank erstmals in der amerikanischen Geschichte ein Jude gelyncht, weil er angeblich eine weiße Fabrikarbeiterin namens Mary Phegan vergewaltigt hatte (Dinnerstein 1987). Erst nach dem Zweiten Weltkrieg ließen der Antisemitismus und der Antikatholizismus der amerikanischen Gesellschaft nach, obwohl beide nie ganz verschwanden.

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Aller Ausdifferenzierung zum Trotz blieben die USA ein protestantisch dominiertes Land. Und dieser Protestantismus war nach dem Ende der Nachbürgerkriegsära und mitten in der Phase der Hochindustrialisierung wieder reif für eine neue evangelikale Erweckungsbewegung. Diesmal ging es nicht in erster Linie um Gesellschaftsreform, sondern um die Frage, wie die amerikanische Gesellschaft die durch die unglaubliche Beschleunigung der kapitalistischen Industriemoderne ausgelösten Krisenerscheinungen geistig bewältigen könnte. Im Hintergrund standen theologisch die Abkehr von der Fortschrittseuphorie und dem anthropologischen Optimismus des Postmilleniarismus und die Rückkehr zum traditionellen apokalyptischen Prämilleniarismus. Allerdings wurde das Erbe der zweiten Erweckungswelle nicht einfach aufgegeben. Insbesondere blieben die Evangelikalen der in der ersten Erweckung angedeuteten und in der zweiten Erweckung vollends durchgeführten Wende zur vorbehaltlosen Akzeptanz des abstrakten Marktkapitalismus und der liberalen Idee, jeder sei des eigenen Glückes Schmied und sozialer Aufstieg verdanke sich in erster Linie individueller leistungsbereitschaft und nicht sozialen Konstellationen, treu. Eigentum, Wohlstand und Konsum wurden so zu genuin christlichen Werten umgedeutet und – systematisch widersprüchlich – mit der anthropologischen Skepsis, dem pessimistischen, auf Gnadenbedürftigkeit des Menschen abhebenden traditionellen calvinistischen Weltbild verschmolzen. Diese Inkohärenz erlaubte es Wirtschaftsmagnaten wie dem Kaufmann John Wannamaker, evangelikale Prediger finanziell zu unterstützen und zur Mitarbeitermotivation in ihren Firmen einzusetzen. Auf diese Weise glichen sich die arbeitsethischen Thesen der Evangelikalen vielfach an die säkulare Psychologie der zeitgenössischen Mind Cure mit ihrem unreflektierten sozialen Optimismus an. Insofern blieb der Evangelikalismus weltzugewandt und mit einer demokratisch-kapitalistischen Marktgesellschaft unbedingt kompatibel. Parallel dazu begannen die Prediger, sich diesmal den Süden der USA als zentrale Region zu erschließen. Die Entstehung des späteren bible belt liegt im ausgehenden 19. Jahrhundert begründet. Dort beschleunigte sich die Abkehr von gesamtgesellschaftlichen Reformanliegen im Evangelikalismus wegen des vorherrschenden konservativen Rassismus der südstaatlichen Gesellschaft noch einmal (Hochgeschwender 2007; Noll 2002). Parallel zu der neuerlichen Erweckungsbewegung im ländlichen, zurückgebliebenen Süden und im Mittelwesten entwickelte sich an den traditionsreichen Universitäten des Nordens eine ganz neue, eher intellektuelle Variante des Evangelikalismus, der Fundamentalismus. In den Jahren 1910 bis 1915 veröffentlichte eine Gruppe hoch angesehener calvinistischer Theologen eine Serie kleinere Schriften, die Fundamentals, in denen die Kernstücke der christlichen Orthodoxie gegen Angriffe der liberalen, kulturprotestantischen, aus Deutschland stammenden historisch-kritischen Schule verteidigt werden sollten, darunter die Göttlichkeit Jesu Christi, die Jungfrauengeburt, die Wiederauferstehung nach dem Kreuzestod und die Unfehlbarkeit der wortwörtlich auszulegenden Bibel. Der letzte Punkt erwies sich als besonders folgenreich, da der Calvinismus, anders als das Luthertum mit dem Vorrang der Kreuzes- und Gnadentheologie oder der Katholizismus mit seiner Idee der traditionsorientierten Bibelauslegung durch das authentische und autoritative, unfehlbare Lehramt der Kirche, keine Gewichtung biblischer Texte kannte. Alle Texte standen demnach gleichberechtigt

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nebeneinander. Dies war schon deswegen bedeutsam, weil zeitgleich die alte Reformkoalition aus Liberalen und Evangelikalen endgültig auseinanderbrach. Mit der Prohibition, dem landesweiten Alkoholverbot, hatten die früheren Bündnispartner ein letztes gemeinsames Projekt durchgesetzt, dann aber trennten sich ihre Wege. Der Evangelikalismus orientierte sich politisch zunehmend am Populismus oder an der Demokratischen Partei, während der liberale Reformismus sich in den progressivistischen Flügeln von Republikanern und Demokraten etablierte. Fast unbemerkt, ganz am Rande dieser evangelikalen und fundamentalistischen Strömungen hatte sich seit 1906 eine weitere christliche Bewegung etabliert, die gleichfalls Züge von Erweckungsfrömmigkeit trug: das Pfingstchristentum beziehungsweise der Pentekostalismus. Im Gegensatz zu den Evangelikalen stand für die Pentekostalen nicht das Wort der Bibel im Vordergrund, sondern die unmittelbare Begegnung mit dem Heiligen Geist, die sich in Einzelfällen in Wunderheilungen, ekstatischen Trancezuständen und dem Reden in Zungen, der Glossolalie, ausdrücken konnte. Das Pfingstchristentum war emotionaler, individualistischer, optimistischer und weniger apokalyptisch als das traditionelle evangelikale Milieu, es war überdies in den ersten Jahrzehnten weniger rassistisch, duldsamer und, wie die frühen Fundamentalisten, pazifistisch ausgerichtet (Hochgeschwender 2007). Gleichfalls in Opposition zu den Evangelikalen und Fundamentalisten waren die sozialreformerischen Verfechter des social gospel angesiedelt, die ebenso wie die Anhänger der katholischen, neuscholastischen Soziallehre scharfe Kritik an den Auswüchsen des radikalen und monopolistischen Kapitalismus der Epoche übten. Teilweise vom Marxismus beeinflußt, strebten die Sozialprotestanten nach umfassender gesellschaftlicher Reform und einem erneuerten Liberalismus ohne Praktiken kapitalistischer Ausbeutung. In Fragen der Bibelauslegung waren sie von der deutschen liberalen Theologie beeinflußt, zugleich aber waren sie offen für den militanten Nationalismus ihrer Zeitgenossen. Teilweise standen sie in der Tradition des Postmillenniarismus, mehrheitlich aber drehten sich ihre Überlegungen eher um eine soziologische Gesellschaftsanalyse und eine Abkehr von der überkommenen, rein individualmoralischen Deutung von Armut. In den Augen von Sozialprotestanten und sozial engagierten Katholiken war es in wachsendem Maße der Staat, der bei einem Versagen des kapitalistischen Systems in die Pflicht genommen werden mußte. Bis in die 1930er-Jahre waren die Sozialprotestanten mit den progressivistischen Reformern eng verknüpft und übten noch Einfluss auf den New Deal Franklin D. Roosevelts aus. Danach verlor der social gospel seine politische Bedeutung, während die katholische Soziallehre über die Schüler von Msgr. John A. Ryan bis in die 1980er-Jahre für die katholische Kirche und die Demokratische Partei bedeutsam blieb (Hochgeschwender 2012).

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Der Weg in die Gegenwart

Die Jahrzehnte zwischen 1930 und 1975 stellten den Höhepunkt der moderaten Mainstream-Religiosität in den USA dar (Allitt 2003). In den 1950er-Jahren wuchsen schließlich auch Katholiken und Juden unter antikommunistischen Vorzeichen in

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den Mainstream, der nun zur Mainline wurde, hinein. Präsident Eisenhower brachte es Mitte der 1950er-Jahre, als weit über 90 % aller Amerikaner einer etablierten Religionsgemeinschaft angehörten, auf den Punkt: Ihm sei es egal, welcher Religion ein Amerikaner angehöre, Hauptsache er habe überhaupt eine Religion. Dem in Schulen obligatorischen Fahneneid wurde der Gottesbezug (One Nation Under God) zugefügt. Der zivilreligiöse konstitutionelle Deismus wurde allgegenwärtig. Die USA verstanden sich als den christlich-religiösen Widerpart zur atheistischen Sowjetunion. Erweckungsprediger wie Billy Graham füllten riesige Stadien mit seinen emotionalen, aber relativ konventionellen Botschaften, der katholische Bischof Fulton Sheen erfreute sich allwöchentlich einer Fernsehzuschauergemeinde von rund 40 Millionen Menschen, dies einen neuscholastischen Ausführungen über Naturrecht und Moral begeistert folgten. In dieser Zeit wäre niemand auf die Idee gekommen, in der amerikanischen Religiosität etwas Außerordentliches oder Besonderes zu sehen. Verglichen mit dem Konfessionalismus in Deutschland erschienen die USA sogar relativ säkular. Religiöse Aufbrüche waren eher am Rande zu verzeichnen, etwa unter den intellektuellen Beatniks der 1950er-und den gegenkulturellen Hippies der 1960er-Jahren, die mit bewusstseinserweiternden Drogen und fernöstlicher Spiritualität sowie einer neuen Hinwendung zu Jesus von Nazareth ohne kirchliche Institutionen experimentierten. Ebenfalls unter Hippies fanden sich esoterische New Age-Kulte, die oft mit Wellnessangeboten einhergingen. Zeitweise sorgten Jugendreligionen und Kulte für Aufregung, aber all dies war weniger Vorbote eines neuen Zeitalters des Wassermanns, wie die New Age-Anhänger glaubten, sondern Ausdruck einer tief empfundenen emotionalen Kritik an der Konformität, der Langweile und dem konsumistischen Materialismus der weißen Mittelklasse in den Vororten der großen Städte, den suburbs (McGirr 2001). Eine echte Breitenwirkung blieb aus. Viel wichtiger und folgenreicher waren die gesellschaftlichen Stürme der 1960erJahre, die schwarze Bürgerrechtsbewegung, die studentische Protestbewegung und das Entstehen zahlloser anderer emanzipatorischer Protestbewegungen von Frauen, Homosexuellen, Indianern, Puerto Ricanern und so weiter. In den Augen vieler frommer Evangelikaler und Pfingstchristen waren all diese Prozesse Ausdruck einer Entchristlichung der US-amerikanischen Gesellschaft. Für sie waren die 1950erJahre das Goldene Zeitalter von Wohlstand, bürgerlicher Ordnung und Religiosität gewesen, ein Erbe, das jugendliche Liberale und Radikale nun zu zerstören drohten. Sie fühlten sich ausgeschlossen und von einer lautstarken, „unamerikanischen“ Minderheit überrollt. Vor diesem Hintergrund trug die nun einsetzende vierte große Erweckungsbewegung, die sich in den 1950er- und 1960er-Jahren anbahnte, aber vor allem seit den 1970er-Jahren Fahrt aufnahm, frühzeitig politisch konservative Züge und war ab der Regierungszeit Ronald Reagans eng mit der Republikanischen Partei verknüpft. Dafür gab es, neben der generellen weltanschaulichen Opposition gegen die Protestbewegungen der baby boomer und deren Abkehr von der Welt der 1950er-Jahre, eine ganze Reihe sozialer, politischer und religiöser Gründe. Zentral war etwa der wirtschaftliche Aufstieg des amerikanischen Südens. Hatten bis in die 1960er- und 1970er-Jahre die traditionellen Produktionsstätten der Automobilindus-

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trie und anderer Schwerindustrien im sogenannten Rostgürtel der USA ökonomisch den Ton angegeben und eine bestimmte Form klassisch liberaler Arbeiterkultur hervorgebracht, die religiös oft im Katholizismus verwurzelt war, so gelang, ausgehend von Infrastrukturmaßnahmen und direkten Investitionen der Bundesregierung im Süden und Südwesten im und nach dem zweiten Weltkrieg diesen bislang strukturschwachen Regionen ein triumphaler Aufstieg (Moreton 2009). Der sun belt wurde geboren. Hier konzentrierten sich neue, postfordistische Produzenten von Hochtechnologie, etwa im Bereich der Rüstung, der Computerproduktion oder anderer Informationstechnologien. Gewerkschaften waren im konservativen Süden der USA nahezu unbekannt und wurden von den Facharbeitern der neuen Industrien als überholt angesehen. Obendrein erkannten soziologische Beobachter bald einen gesellschaftlichen Trend, der in dieser Form unerwartet kam: Viele Amerikaner zogen aus dem niedergehenden Rostgürtel in den Süden und akzeptierten dann dessen konservativ-religiöse Werthaltungen. Auf diese Weise wurden Evangelikalismus, Fundamentalismus und Pfingstchristentum allmählich wieder gesellschaftlich salonfähig. Allerdings verlief diese kulturelle Southernization eher langsam und schrittweise. Sie bildete gleichwohl die Basis für die nachfolgende politische Radikalisierung der erweckten Christen. Deren Auslöser lag weder in den Jugendprotesten, noch im wirtschaftlichen Aufschwung des Südens begründet, sondern im juristischen Aktivismus der liberale dominierten Supreme Courts der 1960er- und 1970er-Jahre. Bereits 1948 hatte das Oberste Bundesgericht erstmals seit 1791 zur Frage der Trennung von Staat und Kirche Stellung bezogen und dabei den wall of separation zwischen beiden schärfer definiert, als es im 19. und frühen 20. Jahrhundert gemeinhin üblich gewesen war (McCulloch-Urteil). In Engel v. Vitale von 1962 kam es dann zum Eklat, indem das Gebet an öffentlichen Schulen für verfassungswidrig erklärt wurde. Bis zum heutigen Tag lehnt eine breite Mehrheit der Amerikaner dieses Urteil ab. 1973 folgte dann Roe v. Wade, ein Urteil, das die Abtreibung im ersten Schwangerschaftstrimester faktisch freigab und als Akt der Privatheit (privacy) im Sinne des Urteils Griswold v. Connecticut von 1965 einstufte. 2003 folgte dann Lawrence v. Texas, das alle gegen homosexuellen Geschlechtsverkehr gerichteten Gesetze der Einzelstaaten aufhob und damit den Weg zur Debatte um die Homosexuellenehe freigab. Für konservative Christen, allen voran Katholiken und Evangelikale waren diese Urteile in ihrer Summe unerträglich. Gleichzeitig entfremdeten sie sich von der Demokratischen Partei, die sich nahezu vorbehaltlos hinter diese Urteile stellte (Prätorius 2003; Marlin 2004; Wuthnow 2012). Nur noch eine Minderheit von Linksevangelikalen und die Masse der schwarzen Evangelikalen blieben den Demokraten dauerhaft treu. Im Zentrum der Auseinandersetzungen stand ab Mitte der 1970er-Jahre weniger das Gebet an öffentlichen Schulen, sondern zum einen die Abtreibungsproblematik, zum anderen der neofundamentalistische Kampf gegen die darwinistische Evolutionslehre an den öffentlichen Schulen, sei es in Gestalt des Kreationismus, sei es in Form des an die britische Naturtheologie der Aufklärung anknüpfenden Intelligent Design. Erst im 21. Jahrhundert kam der Konflikt um die Homosexuellenehe beziehungsweise um die gesellschaftliche Gleichstellung von Homosexuellen hinzu. Allerdings identifizierten sich im konservativ-religiösen Segment jeweils ganz unterschiedliche

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Gruppierungen mit diesen Zielen. Interessanterweise waren es 1973 bis 1975/76 in erster Linie kirchentreue Katholiken, die in der ersten Reihe des Antiabtreibungskampfes standen. Erst mit den Publikationen des calvinistischen Theologen Francis Schaeffer, der die Frage der Abtreibung mit dem Ideal der christlich-jüdischen Nation verband, traten erweckte Protestanten auf den Plan. Seit den 1980er-Jahren wurde die Abtreibungsfrage dann zum zentralen Mobilisierungsinstrument der religiösen Rechten. In der Christian Coalition arbeiteten bis 2003 erstmalig konservative Katholiken, orthodoxe Juden und rechtsevangelikale Christen Seite an Seite, scheiterten aber an unterschiedlichen Auffassungen zur Todesstrafe, die von vielen Katholiken abgelehnt wurde, und zum Wohlfahrtsstaat, den die Evangelikalen zwar nicht ablehnten, aber zugunsten der staatsunabhängigen faith-based and community initiatives modifizieren wollten. Im Gegensatz zu einem weit verbreiteten Vorurteil waren aber weder die Erweckten, noch die Katholiken maßgeblich an der Gewalt gegen Abtreibungsärzte und -kliniken beteiligt. Sämtliche Gewalttäter entstammten der ultrarassistischen Christian Identity, nicht den etablierten evangelikalen oder fundamentalistischen Denominationen und Freikirchen. Im Vergleich zur Abtreibungsdebatte wirkte das Ringen um Kreationismus und Intelligent Design kaum integrativ. Nur wenige, sehr randständige Katholiken und Juden teilten die Sorge der Neofundamentalisten um die wortwörtliche Auslegung des Buches Genesis. Diese Bewegungen erhielten zusätzlich 2005 einen schweren Schlag, als ausgerechnet ein konservativer Bundesrichter in Pennsylvania im Kitzmiller-Urteil sowohl den Kreationismus als auch das Intelligent Design als unwissenschaftlich und ungeeignet für den schulischen Biologieunterricht erklärte. Den Höhepunkt ihres politisch-gesellschaftlichen Einflusses erreichte die religiöse Rechte zu Beginn des 21. Jahrhunderts, während der Präsidentschaft des evangelikalen Republikaners George W. Bush. Doch unter seiner Ägide wurden zugleich die Grenzen ihrer Macht deutlich sichtbar. Zu keinem Zeitpunkt bestimmten, trotz der öffentlichkeitswirksamen Agitation der Christian Zionists, die eine amerikanisch-israelische Kooperation im Angesicht der unmittelbar bevorstehenden Apokalypse predigten, Angehörige der religiösen Rechten den außenpolitischen Kurs der USA zwischen 2001 und 2009. Hier waren durchweg neokonservative Kreise und Wirtschaftskonservative federführend. Obendrein gelang es den Republikanern nicht, die gesellschaftlich-kulturellen Ziele der religiösen Rechten über den regionalen Rahmen hinaus auf nationaler Ebene zu verwirklichen. Im Kern blieb Roe v. Wade gültig; die Emanzipation der Homosexuellen schritt weiter voran und die kreationistische Bewegung stieß an ihre Grenzen. Noch problematischer aber war das Nachlassen der apokalyptischen Begeisterung ab ca. 2000. Wieder verzögerte sich die Wiederkunft Christi, die von vielen Predigern als unmittelbar bevorstehend geschildert worden war. Der religiöse Enthusiasmus ließ schrittweise nach und begann, sich zu institutionalisieren. Viele Evangelikale kehrten an den rechten Rand der Mainline-Religiosität zurück oder besannen sich mehr auf religiöse als auf politische Werte. Weder 2008 noch 2012 hatten die Evangelikalen einen überzeugenden Präsidentschaftskandidaten (Miller 2014). Zeitweilig wandten sie sich sogar dem konservativen Katholiken Rick Santorum zu. Politisch und gesellschaftlich desorientiert fand sich am Ende eine Vielzahl konservativer Christen in

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den Reihen des Tea Party Movement wieder, dessen politische Ideologie, der Libertarianism, von der atheistischen Philosophin Ayn Rand beeinflusst war. Die religiöse Rechte in den USA wurde wieder politisch im engeren Sinn. Steuerfragen, die Krankenversicherungsdebatte, die Wirtschaftskrise nahmen nun einen wichtigeren Platz ein, als der Kulturkrieg der vergangenen Jahrzehnte (Putnam und Campbell 2010). Während der neofundamentalistische Evangelikalismus ab 2005 an Bedeutung und Einfluss rapide einbüßte, wuchsen insbesondere pfingstchristliche Denominationen weiter. Auch sie bekamen lateinamerikanischen Zuwachs. Daneben profitierten in erster Linie die Mormonen von der Schwächeperiode der Evangelikalen. Neben den Pfingstchristen stellten sie um 2010 die am schnellsten wachsende religiöse Gruppierung der USA dar. 2012 gelang es sogar, mit Mitt Romney einen mormonischen Präsidentschaftskandidaten bei den Republikanern zu installieren, was freilich in Kreisen der religiösen Rechten auf keine sonderliche Begeisterung stieß. Weiterhin galten die Mormonen nicht als christliche Konfession, obwohl sie sich ihrerseits seit etwa 2000 zunehmen darum bemühten, ihre Theologie am Vorbild der christlichen Orthodoxien auszurichten. Mit der Präsidentschaftskandidatur von Donald Trump 2016, vor allem aber nach dessen Wahlsieg, kam neue Bewegung in die politisch-religiöse Gemengelage in den USA. Zwar sank der Anteil der Rechtsevangelikalen und der konservativen Katholiken an der Gesamtbevölkerung der USA weiterhin kontinuierlich auf jeweils rund 20 %, aber diese verbliebene religiöse Rechte stimmte mit nunmehr noch gesteigerter Vehemenz ausgerechnet für einen Kandidaten, der weder religiös war, noch charakterlich den bis dahin angelegten Maßstäben gewachsen war. Dennoch gab Trump als Präsidenten der religiösen Rechten das, was sie sich immer am intensivsten gewünscht hatten: die Mehrheit im Obersten Bundesgericht, verbunden mit der Hoffnung das Abtreibungsurteil Roe v. Wade endlich ablösen zu können. Auch international stellten die USA sich wieder, wie zuletzt unter George W. Bush an die Seite der Abtreibungsgegner. Dennoch kann nicht gesagt werden, die Präsidentschaft von Donald Trump habe zu einem Erstarken der religiösen Rechten geführt. Faktisch ist sie schwächer und kritikanfälliger geworden, da sie allzu offenkundig mit unterschiedlichen ethischen Maßstäben an politische Kandidaten herantritt. Überdies war es wieder nicht gelungen, einen der ihren, etwa Ted Cruz, zu nominieren. Schließlich haben sich insbesondere Mormonen als konservative Kritiker des Präsidenten etabliert, da sie an ihren ethischen Maßstäben festhalten und – im Gegensatz zu den Rechtsevangelikalen – der apokalyptischen Rhetorik des Populisten Trump keinerlei Verständnis entgegenbringen. Eine Sonderrolle in der amerikanischen Religionsgeschichte nahmen die im späten 18. Jahrhundert, ab etwa 1780 gegründeten schwarzen Kirchen ein, die black churches. Sie bestanden ganz überwiegend aus schwarzen Linksevangelikalen, die weniger in Kategorien der Apokalypse, als vielmehr der Befreiungstheologie des Buches Exodus dachten. Während des gesamten 19. und 20. Jahrhunderts stellten sie das Rückgrat der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Sie traten konsequent gegen die Todesstrafe und für den Wohlfahrtsstaat ein und wählten, 2012 zu 90 %, seit den 1930er-Jahren die Demokratische Partei. Freilich schleppten auch die black

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churches ihr roblembündel mit sich herum. Zum einen waren sie häufig antisemitisch eingestellt, zum anderen ausgesprochen homophob. Homosexualität galt ihnen regelrecht als Krankheit des weißen Mannes. In beiden Konfliktfeldern wurde sie an Radikalität noch von ihrer schwarzen Konkurrenz, der Nation of Islam, übertroffen. Diese von der Weltgemeinschaft des Islam nicht anerkannte sektenartige Bewegung war in den 1930er-Jahren entstanden und rekrutierte sich nicht zuletzt aus schwarzen Gefängnisinsassen, auf die sie oft einen heilsamen erzieherischen Einfluss ausübte. Gleichzeitig aber war die Nation of Islam rassistisch, antiliberal, homophob und antisemitisch. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts scheint sie zu stagnieren. Dennoch behalten black churches und Nation of Islam weiterhin einen hohen gesellschaftlichen und kulturellen Stellenwert in der schwarzen Minderheit der USA.

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Zusammenfassung und Ausblick

Derzeit zeichnet sich eine gewisse Stagnation der Bedeutung von Religion in den USA ab. Säkulare und sogar atheistische und agnostische Strömungen gewinnen an Stärke, ohne aber zu wirklich durchschlagenden Erfolgen zu kommen. Die USA sind gegenwärtig nicht mehr in dem Maße religiös wie in den 1950er- oder 1990er-Jahren, was aber mittelfristig neue Erweckungsbewegungen nicht ausschließt. Ungeachtet des Nachlassens erweckungsenthusiastischer Frömmigkeitsformen und ihrer politischen Instrumentalisierung wird nämlich Religion, gleichgültig in welcher Form, weiterhin eine charakteristische Rolle in der amerikanischen Gesellschaft spielen - und zwar als in erster Linie lokale, nachbarschaftliche Größe. In einer hochmobilen Gesellschaft vermitteln die religiösen Gemeinschaften Gefühle familiärer Nähe und Wärme sowie nachbarschaftlicher Bindung, die ansonsten abhanden zu kommen drohen. Darüber hinaus geben sie, angesichts schwach ausgebildeter Netzwerke staatlicher Wohlfahrt durch ihre charity einen sozialen Rückhalt, bieten ein letztes Auffangbecken im Fall sozialen Abstiegs, das der amerikanische Staat ansonsten nicht zu ersetzen vermag. Religion ist, wie Sara Diamond zu Recht festgestellt hat, in den USA mehr als bloß Politik (Diamond 1998). Insgesamt betrachtet haben die USA ein System höchst pluralistischer, ja individualistischer religiöser Angebote hervorgebracht, deren Lebendigkeit und Flexibilität aus europäischer Warte erstaunlich ist. Bei aller Vielfalt finden sich dennoch einige Punkte historisch gewachsene Momente, die es erlauben von einer spezifisch US-amerikanischen Religiosität zu sprechen: Zum einen der Vorrang von Fragen rechten Lebens und Handelns vor der theoretischen Dogmatik, zum anderen der Primat der lokalen Einzelgemeinden vor einer übergeordneten Kirchenstruktur, ein Ergebnis der calvinistischen Kirchenlehre. Beide Kernelemente machen es nichtamerikanischen Religionen, insbesondere dem Katholizismus, schwer, ihren Ort in der US-amerikanischen Religion zu finden, was zu zum Teil ganz erheblichen Anpassungsleistungen geführt hat. Genau dieser Zwang zur Anpassung aber zeigt, wie tief das US-amerikanische Religionsmodell in der Gesellschaft der USA verwurzelt ist.

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Populismus in den Vereinigten Staaten von Amerika Michael Oswald

Inhalt 1 Der Begriff des Populismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Früher Populismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Producerismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 People’s party . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Von Wallace zu Nixons Southern Strategy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Die Tea Party: Der Pro-Finanzeliten-Populismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Der Populismus seit 2015 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Donald Trumps Populismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Fazit: kultureller-rechter und antikapitalistisch-linker Populismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Die Vereinigten Staaten sind die Wiege des Populismus. Er entstand aus Konflikten zwischen einer Farmer-Arbeiter-Koalition und der Regierung in Washington D.C.; die Wurzeln reichen jedoch bis in das 17. Jahrhundert zurück. In seiner Reinform war der Populismus ökonomischer Natur und weder klar als rechts noch als links zu verorten. In seiner rechten Form gesellte sich jedoch spätestens seit den 1950er-Jahren eine kulturelle Dimension zu dieser Ausprägung, die mitunter nativistische Züge aufweist. Im linken Populismus werden seit jeher ähnliche Missstände angesprochen, vor allem agitiert jene Bewegung gegen die Finanzelite sowie eine korrumpierte politische Klasse – diese hätten einen Verrat am Volk und dem Amerikanischen Traum begangen.

M. Oswald (*) Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Universität Passau, Passau, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_53

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Schlüsselwörter

Populismus · Producerismus · Donald Trump · Anti-Etatismus · Forgotten People · Silent Majority

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Der Begriff des Populismus

„The American Dream is dead“ – mit diesem Satz begann Donald Trump seinen Wahlkampf. Sein Vorwurf lautet, die Eliten hätten das Volk verraten, da Arbeitsplätze aufgrund von Freihandelsverträgen in andere Länder ‚verschifft‘ worden seien. Er zeichnet damit das politische Establishment für den Verlust für Industriearbeitsplätze verantwortlich und er entgegnet einem komplexen Problem mit verkürzten Antworten: er simplifiziert und priorisiert oder marginalisiert einzelne Teile, schließen müsste die Frage nach diesem Rückgang auch mit Argumenten der Rentabilität, der technologischen Entwicklung oder dem Wettbewerb beantwortet werden. Trump folgte damit einer Strategie, die auf Basis einer Rhetorik fußt, die zumeist als Populismus interpretiert wird – der Politik für das ‚einfache Volk‘. Das Volk sind hierbei jene, die sich vernachlässigt fühlen und die von den Effekten der Globalisierung negativ beeinflusst wurden, vor allem betrifft dies weiße Arbeiter. Populismus wird zumeist als politischer Stil verstanden, mit welchem Protestpotenzial gebündelt wird. Strukturelle Merkmale sind die Simplifizierung und Projektion: Es werden einfache Antworten, die eine breite Unterstützung versprechen, auf eigentlich sehr komplexe Problemstellungen angeboten. Außerdem projizieren Populisten zumeist eine Schuldzuweisung für Missstände auf eine spezifische Personengruppe, welche die Interessen des Volkes verrieten. In diesem Sinne verstehen sich Populisten stets als Sprachrohr ‚des Volkes‘. Insbesondere der amerikanische Populismus kann als ein klassisches Majorzdenken verstanden werden, bei dem stets der Wille einer (mitunter vermeintlichen) Mehrheit umgesetzt werden soll. Pluralismus wird infolge dessen meist vernachlässigt oder gar negiert. Populismus als Stil können Politiker jedweden Couleurs nutzen. Der Populismus ist damit nicht an eine Ideologie gekoppelt, er kanalisiert lediglich latent vorhandenes Protestpotenzial gegen eine ‚Politische Klasse‘. Die hinter dem Populismus stehende Ideologie wird erst mit der jeweiligen Thematik und der Projektion klar, für die er eingesetzt wird. Entsprechend werden in diesem Schritt auch die ‚Schuldigen‘ ausgemacht, die für die diagnostizierten Misere verantwortlich gezeichnet werden. So richtet sich die populistische Rhetorik zunächst zwar gegen die etablierten Politiker, wobei der Kreis der ‚Schuldigen‘, je nach politischer Einstellung, erweitert oder spezifiziert werden kann: In einem linken Populismus sind dies meist Unternehmer und Finanzeliten, in einem rechten Populismus tendenziell eher Minderheiten und eine unkontrollierte Immigration, wobei Finanzeliten, insbesondere die internationalisierten Globalisierungsgewinner, bisweilen auch in der Kritik stehen. In diesem Sinne ist der Populismus auch als eine politische Logik zu verstehen (Judis 2016). Das Establishment verrät die Interessen der Bevölkerung und ebendieser Verrat legitimiert die als Korrektiv aufgebotene Rebellion, welche die Missstände zu beenden sucht.

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Der Populismus in den USA ist nach wie vor eine spezielle Form. Er ist nicht nur älter als vergleichbare Formen in Europa, sondern relativ pfadabhängig, was ihn in seinem ursprünglichen Charakter weder als positiv oder negativ, noch als eindeutig links oder rechts verordnen lässt. Ihm ist nach wie vor die Bedeutung implizit, dass seine Vertreter für die Interessen der einfachen Bevölkerung eintreten. Daher trägt der Populismus in den Vereinigten Staaten bei weiten Teilen der Gesellschaft eine positive Konnotation, ihm wird gar eine Art kultureller Wert beigemessen, da Populisten als Vertreter der ‚vergessenen Leute‘ auch heute noch die Aufgabe eines Korrektivs erfüllen. Zudem hat die Populistische Bewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts einige Erfolge für die Farmer und Arbeiter erreicht. Im Kern ist der amerikanische Populismus daher: a language whose speakers conceive of ordinary people as a noble assemblage not bounded narrowly by class; view their elite opponents as self-serving and undemocratic; and seek to mobilize the former against the latter. (Kazin 1995, S. 1)

Die hier als eigennützig und undemokratisch beschriebene Elite wird dabei von jenen herausgefordert, die im Selbstverständnis ein Teil des Volkes, jedoch nicht des Systems sind (Taggart 1996, S. 32). In diesem Verständnis kann Populismus auch als ein Bestreben gedeutet werden, etablierte Institutionen der Interessenvermittlung und Kontrolle durch die Elite mindestens herauszufordern, fundamental zu transformieren oder zuweilen gar zu zerstören, um an ihre Stelle eine Art ‚direkte‘ Stimme des Volkes zu etablieren (Kitschelt und McGann 1997, S. 160). Politische Führung wird dabei durch moralische Kategorien und einem nahezu devotistischem Befolgen des ‚wahren Volkswillens‘ ersetzt, Dies ist darin begründet, da gute moralische Grundsätze nur bei der einfachen Bevölkerung vorherrschen, während die Eliten dekadent eigene Interessen verfolgten. Die Vertretung der Interessen des Volkes kann daher im Selbstverständnis einer populistischen Bewegung nur von ihr selbst ausgehen. Da der amerikanische Populismus so pfadabhängig ist, ist er nur über seine Geschichte zu verstehen. Dies gilt insbesondere für seinen Wandel, den er seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts erlebt hat.

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Früher Populismus

In den Vereinigten Staaten traten erste Formen des Populismus bereits im 17. Jahrhundert auf. Zwischen den politisch-wirtschaftlichen Eliten und den eher ländlich geprägten Menschen trugen sich die ersten Konflikte zu: Landwirte, Kleinunternehmer und Minenarbeiter fühlten sich um ihren politischen Einfluss betrogen. Insbesondere die Landwirte lamentierten niedrige Preise für ihre Produkte sowie eine hohe Steuerlast. So formierten sich verschiedene Aufstände, wie die Bacons Rebellion von 1676 in Virginia, wo der niedrige Tabakpreis, hohe Steuern und der kaum gewährleistete Schutz der Einwohner für Unmut sorgten. Auch die ShaysRebellion in Massachusetts oder die Whiskey-Rebellion über ein Jahrhundert später in Pennsylvania sind in ihrer Form des Protests populistisch. Die Aufständischen

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richteten ihre Wut dabei nicht per se gegen den Staat – sie sahen sich in ihrem Selbstverständnis vielmehr als Patrioten. Ihre Renitenz richtete sich gegen die Regierung, die in ihren Augen korrupte Interessen bediente und sich von dem nehme, was ihr nicht zustehe (Freidel 1973, S. 79 f.). Das regierungskritische Ethos im Populismus ist jedoch auch kein reines Aufbegehren gegen die Eliten, denn Wurzeln des Amerikanischen Populismus sind auch bereits im Jeffersonianism, und insbesondere in Andrew Jacksons Democratic Party Coalition zu finden. Die Bewegung um Thomas Jefferson bestand aus treuen Republikanern, die jedoch kritische Positionen gegenüber der ‚fernen Macht‘ der Bundesregierung, Händlern oder auch Bankiers vertraten. Jefferson und seine Anhänger betonten und romantisierten hingegen die Tugenden der Yeoman-Farmer, die ihnen zufolge rechtschaffend ihre Felder bestellten und moralisch lebten – im Gegensatz zum ‚sündigen‘ Leben in der Stadt. Dort, so die Meinung innerhalb der Bewegung, machten Mobster, reiche Kaufleute und Bankiers gemeinsame Sache (Freidel 1973, S. 80). Während es um Jefferson vor allem die Farmer waren, welche die aufrechte, moralische Schicht verkörperten, erweiterte sich dieses Denken in Jacksons Ära sowohl um Arbeiter aus den aufstrebenden Industrien als auch um Sklavenbesitzer. Jene Gruppen agierten Seit an Seit in der Democratic Party Coalition und verstanden sich als Leistungsträger und Produzenten. Damit grenzten sie sich vor allem von den unproduktiven Reichen, wie beispielsweise den Bänkern ab. Teile hielten aber auch Ressentiments gegen die schwarze Bevölkerung, für deren Rechte in der Jackson-Ära wenig geschah. Im Umfeld jener ersten populistischen Bewegungen formierte sich ein Narrativ, ohne dass der Populismus in den USA in seiner Form bis heute undenkbar wäre: der Producerismus.

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Producerismus

Das Producer-Narrativ wurde im 19. Jahrhundert popularisiert und es gilt bis heute als ein Teil der amerikanischen Politischen Kultur (Benford 1997, S. 414 f.). Es entstammt der dominierenden politischen Sichtweise der populistischen Agrarbewegung, in der sich der Staat zunehmend Teile ihres erarbeiteten Einkommens einverleibt (Guardino und Snyder 2012, S. 540). In dieser Perspektive ist die Gesellschaft in zwei Schichten geteilt: die Produzenten und die ‚Parasiten‘, oder auch die Makers und Takers. Die Produzenten sehen sich dabei in einer Art Schraubstock eingespannt, da sie nicht nur die korrupten Eliten über sich, sondern auch eine Schicht an faulen, sündigen ‚Parasiten‘ unter ihnen haben. Beide beuten die Produzenten zunehmend aus, da sie ihren Unterhalt aus deren Einkommen finanzierten: Nicht nur lebe die öffentliche Verwaltung von ihren Steuern, sie gebe das Geld auch an jene Armen weiter, welche dieses nicht verdient hätten (Berlet 2012, S. 568.; vgl. Peck 2014, S. 529 f.). Mit dem Producerismus wurden die Gegensätze zwischen selbstproklamierten ‚produktiven‘ Amerikanern und den Eliten (Politiker, Regierung, Akademiker) in einen strukturellen Bezug gesetzt, der latent subversive Ansichten fördert und das Misstrauen in den Staat fördert (Berlet 2012, S. 569). Nicht zuletzt deshalb sind in der amerikanischen Politik der Populismus und der Producerismus geradezu unteilbar verbunden. Jene Sicht auf

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diese Struktur resultierte in stetigen Auseinandersetzungen, die der Definition einer Cleavage entsprechen (Langman 2012, S. 491). Mit der Konfliktlinienstruktur des Producerismus etablierte sich auch der Begriff des ‚vergessenen Bürgers‘. Unter diese Charakterisierung fallen diejenigen, die unter hohen Steuern und geringen Einkommen leiden. Damit ging der ursprünglich agrarisch-handwerklich geprägte Producerismus auf jedwede Berufsschichten über, die sich vom Staat vergessen und ausgebeutet fühlten. Der Begriff ‚The Forgotten Man‘ selbst wurde in einem Essay des Sozialwissenschaftlers William Graham Sumner von 1893 popularisiert. Auch Sumner verortet darin eine produceristische Struktur im Staat, die entgegen der Interessen fleißiger Arbeiter angelegt ist: The Forgotten Man is delving away in patient industry, supporting his family, paying his taxes, casting his vote, supporting the church and the school, reading his newspaper, and cheering for the politician of his admiration, but he is the only one for whom there is no provision in the great scramble and the big divide. (Sumner 1919, S. 491)

Das Populist Movement steht noch heute symbolisch für den Kampf jener einfachen Menschen gegen eine in dieser Perspektive ausbeuterische und übermächtige Regierung. Zeitgleich mit Sumners Publikation bekamen die ‚vergessenen Menschen‘ eine politische Stimme – die People’s Party.

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People’s party

Den besonderen Charakter des amerikanischen Populismus bildete die People’s Party. Diese Partei formierte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts als ein Zusammenschluss von Arbeitern und Farmern, die in der populistischen Bewegung aktiv waren (Judis 2016, S. 19). Dabei war der Agrarprotest nur ein Teil der Konflikte zwischen jenem Segment der Gesellschaft und der Regierung; dieser war jedoch so aufsehenerregend, dass er die Pfadabhängigkeit der gesamten populistischen Bewegung ebnete. Durch einen massiven Preiseinbruch im Agrarsektor in den 1870er- und 1890erJahren, und den damit einhergehenden rückläufigen Einkommen, schlitterte dieser gesamte Wirtschaftszweig in eine schwere Krise. So sank der Weizenpreis von über 2 USD je Scheffel im Jahr 1866 auf gerade einmal 49 Cents bis 1894; 1896 war der Maispreis nur noch ein Drittel so hoch wie 30 Jahre zuvor. Auch die Baumwollernte von 1898 wurde für 50 Millionen USD weniger verkauft als jene von 1866, obgleich sie etwa sechsmal so groß war (Freidel 1973, S. 85). In Folge dieser Missstände formierten sich verschiedene politische Aufstände, in deren Zentrum Forderungen der Farmer für ein staatliches Eingreifen gegen den dramatischen Preisverfall standen (Argersinger 1984, S. 43). Die Hauptursache für die Preisrückgänge der Waren lag vor allem in der Überproduktion auf den Weltmärkten. Die industrielle Revolution sorgte zwar für eine enorme Ausdehnung der Erzeugnisse als auch für einen günstigen Transport auf die europäischen Märkte; sie verschärfte somit jedoch auch den Wettbewerb mit nationalen und ausländischen Erzeugern. Die Landwirte waren zudem davon überzeugt, dass

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sich die Eisenbahngesellschaft, die Zwischenhändler sowie die reichen Finanziers im Osten des Landes mit den Politikern in Washington verschworen hatten, um sie um ihre gerechten Gewinne zu bringen. Politisch versuchte die Agrarbewegung zuerst über die Regierungen der Einzelstaaten zu intervenieren, um sich dann mit der People’s Party auf nationaler Ebene zu organisieren (Freidel 1973, S. 85). Die United States People’s Party wurde im Jahr 1892 gegründet. Sie bestand größtenteils aus Landwirten und ihren Schirmherrschaftsorganisationen, wie der Farmers’ Alliance und den Überbleibseln der Greenback Party. Aber auch andere Menschen, die sich an den Rand gedrängt fühlten, gesellten sich dazu. Die Präambel der People’s Party liest sich wie ein Grundsatzwerk, das aus der Feder eines heutigen Populisten stammen könnte: The conditions which surround us best justify our co-operation; we meet in the midst of a nation brought to the verge of moral, political and material ruin. [. . .] The people are demoralized [. . .]. The newspapers are largely subsidized or muzzled; public opinion silenced; business prostrate, our homes covered with mortgages, labor impoverished and the land concentrating in the hands of capitalists. (Freeman Clark 2005, S. 257)

Die People’s Party muss aber mehr als eine logische Konsequenz denn als der Beginn des politischen Aktivismus interpretiert werden. Die Populisten mobilisierten schon vor der Parteigründung erfolgreich und schließlich zogen die ersten Abgeordneten 1890 in den 52. Kongress mit 11 Abgeordneten ein; wobei 7 der 11 Abgeordneten Farmer waren (Clanton 1984, S. 142). Die People’s Party hievte die populäre Kritik am Monopolkapitalismus jedoch noch stärker als die Bewegung in die Politik, was ihr in vielen südlichen und westlichen Staaten eine Massenanhängerschaft bescherte (Green 1980, S. 8). Sie übersetzten Aufstände wie den Haymarket-Aufruhr in Chicago 1886 oder den Streik in den Homestead-Werken Pennsylvania 1892 in die Politik. Die Gegner der industriellen Hegemonie formierten schließlich eine gesellschaftliche Massenbewegung, da an der Seite der Landwirte städtische Reformer der Mittelklasse, Arbeiter, Kumpel und Kleinunternehmer standen. Mit diesem Zusammenschluss entstand eine starke Front gegen die Industriellen und das Establishment. Die Populisten errangen sich auf diesem Wege eine hohe Legitimität und ein starkes politisches Mandat (Freidel 1973, S. 84). Die Populisten der People’s Party setzten sich vehement für eine Reihe sozialer Veränderungen ein. Sie forderten ein Gesetz für Arbeitslose (Clanton 1984, S. 148), sie waren aber auch Vorkämpfer für das Frauenwahlrecht und der Direktwahl von Senatoren. Insgesamt traten aufgrund ihres Engagements auf kommunaler, staatlicher und nationaler Ebene viele Regulierungen in Kraft, wie zum Beispiel Schutzauflagen für Arbeitsplätze oder Neuerungen in der Gesundheits- und Wohnungsbaupolitik. Vielfach schufen diese Initiativen die Grundlagen für die weitreichenden Sozialreformen des 20. Jahrhunderts. Auf Bundesebene setzten sie eine Reform des öffentlichen Dienstes genauso durch, wie die Regulierung der Monopole und der Eisenbahnen durch eine Bundeskommission (Freidel 1973, S. 84). Trotz dieser federführenden Impulse wurde die Partei mit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts allmählich bedeutungslos – nicht zuletzt, da ihre Forderungen schließlich von

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den beiden großen Parteien adaptiert wurden (Clanton 1984, S. 142). Richard Hofstadter beschrieb die People’s Party ihrem Schicksal entsprechend treffend mit der Analogie einer Biene: Nachdem sie das politische Establishment gestochen hatte, verstarb sie (Hofstadter 1955). In der Forschung wurden die Populisten lange Zeit als Vertreter reformorientierter Kleinbauern charakterisiert, welche das Grunddenken der liberalen Demokratien des 20. Jahrhunderts vorwegnahmen (Argersinger 1984, S. 43). In dieser Sicht wird das Populist Movement als eine noble Bewegung verstanden, die für einen großen Teil der Bevölkerung einen angemessenen Anteil im Industriekapitalismus geltend machen wollte (Freidel 1973, S. 83). Vor allem John D. Hicks’s Populist Revolt (1931) trug einen großen Teil dazu bei, dass die Populisten als Kämpfer gegen eine ungezügelte Macht der Wirtschaft und der politischen Eliten wahrgenommen wurden. Mitunter sah man sie gar als Wegbereiter für die New-Deal-Reformen, was sicherlich auch nicht gänzlich falsch ist. So kann auf Basis dieser Beobachtungen die People’s Party tendenziell eher der linken Variante des Populismus zugeordnet werden. In der Tat sind auch die Geschichte des Populismus und des Sozialismus in Amerika teils eng miteinander verwoben (Green 1980, S. 8). Während eine (Teil-)Fusion der Populisten mit der Demokratischen Partei im Jahre 1896 einen großen Teil der Bewegung demoralisierte, schloss sich eine andere Gruppe der 1901 von Eugene V. Debs gegründeten Socialist Party of America an. Die sozialistische Partei wurde insbesondere in den Staaten Oklahoma, Texas, Louisiana und Arkansas populär und rekrutierte dort ihre größten Basisgruppen. Die ‚debsianische‘ Bewegung wuchs jedoch nie zu einem Massenphänomen heran. Allerdings erstarkte die Kommunistische Partei schließlich in den 1930er-Jahren, wobei die enorme Anziehungskraft sowohl des linken Populismus als auch von links- und sozialpolitische Forderungen Franklin D. Roosevelt während der Great Depression der 1930er-Jahre zugutekam (Green 1980, S. 8). Auch der Präsident versprach der vergessenen Schicht zu helfen. Mit diesem gegen die Wirtschaftsspekulanten gerichteten Identitätskonstrukt mobilisierte Roosevelt die Arbeiter. Daneben betraten noch linke Populisten wie Huey Long die politische Bühne: Der Gouverneur und Senator von Louisiana forderte während der Great Depression mit dem Slogan ‚every man a king‘ eine extreme Wohlstandsumverteilung von den Reichen zu den Armen (Lowndes 2018, S. 233). In den 1950er-Jahren setzte ein Wandel ein, in dessen Folge der Populismus – retrospektiv betrachtet – verstärkt kritisch diskutiert wurde. Autoren wie Richard Hofstadter, Edward Shils und Seymour Martin Lipset rüttelten an der romantischen Vorstellung über die Populisten und deuteten sie als parochiale Reaktionäre, die auf die industriellen Entwicklungen irrational reagierten und eine mythische Vergangenheit wiederbeleben wollten (Argersinger 1984, S. 43). Hofstadter stellt sie in Age of Reform gar als paranoide Eiferer dar, die sich nicht an die moderne Wirtschaft anpassen konnten, weswegen ihre Wut dem progressiven Wandel galt (Lowndes 2018). Ihr Populismus wurde damit als eine Art hilflose Artikulation von Ängsten und Wut derjenigen neuinterpretiert, die sich nach einem einfacheren, prä-modernen Leben sehnten. Die heftige Kritik der Autoren hat jedoch auch damit zu tun, dass sich zu jener Zeit der Populismus selbst wandelte und sie eine Nähe zu neuen Bewegungen

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wie dem McCarthyismus oder die John Birch Society sahen (Müller 2016, S. 17). Tatsächlich war ein Teil des Populist Movements auch von Antisemitismus (Abneigung gegen jüdische Bänker) und Nativismus geprägt; bisweilen werden diese zu Vorläufern der Coughlin-Bewegung1 und des McCarthyismus gezählt (Freidel 1973, S. 83). In der Tat war die Populistische Bewegungen politisch und sozial nie so homogen, wie die Beschreibung dies zunächst erscheinen lässt. So zeigten sich einige Populisten inklusiv in Bezug auf die afroamerikanische Bevölkerung, die meisten bevorzugten jedoch eine Maxime der Ausgrenzung (Kazin 1995, S. 37 f.). Weiterhin akzeptierte ein Teil der populistischen Reformbewegung Privateigentum und forderte ein wettbewerbsfähiges Marktsystem. Ihr Konterpart glich hingegen mehr einer radikaleren sozialistischen Bewegung, die das amerikanische Credo der demokratischen Klassenlosigkeit und der Chancenfreiheit offen in Frage stellte (Green 1980, S. 8). Unter diesen Teilströmungen war es jedoch die nativistische Position, die in den nächsten Jahrzehnten in Politik und Gesellschaft Fuß fassen sollte.

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Von Wallace zu Nixons Southern Strategy

Einige der Charaktereigenschaften des rechten Populismus nutzten auch radikale Politiker wie George C. Wallace. Der ehemalige Gouverneur von Alabama wurde durch seine Forderungen für eine segregierte Gesellschaft bekannt und er ließ sich mehrfach als Präsidentschaftskandidat aufstellen. In der Wahl von 1968 trat er für die American Independent Party gegen Richard Nixon (R) und Hubert Humphrey (D) an. Obwohl Wallace nur fünf Staaten des Deep Souths2 gewinnen konnte und er damit, wie auch Humphrey, Nixon unterlag, entwickelten einige seiner Ideen eine große Wirkmacht auf der Bundesebene: Teile davon fanden sich beispielsweise in Nixons Southern Strategy wieder. Nixon war kein Populist, aber er nutzte populistische Strategien und Rhetoriken, um jene Menschen, die er als Silent Majority bezeichnete, zu bündeln und zu mobilisieren. Der Begriff der Silent Majority entstammt einem Strategiepapier der Berater Nixons. Diese suchten nach Wegen, die Resonanz der populistischen Agitation Wallaces gegen die liberalen Vorstellungen der Washingtoner Elite in den Wahlkämpfen von 1964 und 1968 in Nixons Wahlkampf zu übertragen (Lowndes 2016, S. 26). Die Mehrheiten für Wallace im Deep South waren Stimmen gegen die Bürgerrechtsbewegung, darüber hinaus waren sie aber auch ein Protest gegen die Regierung in Washington. Wallace sprach stets von ‚vergessenen Amerikanern‘, 1

Charles Edward Coughlin war ein Priester, der in den 1930er-Jahren über das Radio eine große Masse an Menschen erreichte – bis zu 30 Millionen Zuhörer hatte er bei seinen Sendungen. Seine National Union for Social Justice war gegen politische und ökonomische Eliten gerichtet: Die gewöhnlichen Amerikaner würden von diesen ausgebeutet. Dabei standen jüdische Bänker stark im Kreuzfeuer Coughlins. 2 Alabama, Arkansas, Georgia, Louisiana und Mississippi.

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dem ‚Common Man‘ und den ‚Average Citizens‘. Jene Menschen würden nach Wallace in Washington D.C. nicht vertreten (Lowndes 2018, S. 237). Aufgrund des großen Erfolges von Wallace im Deep South forderte Nixon von seinen Beratern ein Strategiepapier ein, wie man die ‚vergessenen Amerikaner‘ in Zukunft besser erreichen könne. Nixon hatte zwar die Wahl 1968 klar gewonnen, allerdings votierten lediglich 43 % für ihn. Die Kampagne zur Wiederwahl sollte also durch Mehrheiten gesichert werden, die Nixon im Süden vermutete. Bei der Suche nach einer Antwort auf diese Frage standen verschiedene Variablen im Zentrum, wie beispielsweise Einkommen, Bildung, Alter und Art der Beschäftigung. Allerdings zeigte sich, dass es keine uniforme Klasse von ‚vergessenen Amerikanern‘ gab, welche statistisch belegt werden konnte. Da somit die direkte Ansprache dieser Wählerschicht nicht möglich war, führte Nixons Redenschreiber William Safire den Begriff der Silent Majority ein. Dieser sollte im Selbstverständnis rechtschaffende und moralische Amerikaner zu einer Gruppe vereinen. Dies war der Entwurf für eine kollektive Identität jener Menschen, die sich als fleißige, rechtschaffende Bürger verstehen und ein bescheidenes Leben, geprägt von traditionellen Werten, führen. Geographisch seien diese vorwiegend im Middle America verortet und im Selbstverständnis größtenteils ‚vergessene Amerikaner‘ (Lowndes 2016, S. 25). Jene, die sich als Forgotten People verstanden, waren mehrheitlich Weiße. Die Befindlichkeit, sich als ‚vernachlässigte Weiße‘ zu verstehen, wurde durch einen Wertewandel verstärkt, der sich aus den Errungenschaften der Bürgerrechtsbewegung und einem neuen sozialliberalen Denken in der Gesellschaft speiste. In 1960erJahren änderte sich dadurch die Politische Kultur drastisch. Dies zeigte sich vor allem an den Universitäten, wo sich die Studierenden zu drei Fünfteln selbst als politisch links verorteten (Nash 2006, S. 23 ff.). Obwohl seit den 1960er-Jahren der Populismus in erster Linie ideologisch rechts ausgelegt war, hat die Neue Linke dieser Zeit eine Form von Populismus entwickelt, der schließlich in der Demokratischen Partei seine politische Heimat fand. Dieser entflammte allerdings immer nur kurzzeitig, wie um die Präsidentschaftskandidaturen Jesse Jacksons in den 1980erJahren. Jackson mobilisierte zuvörderst Schwarze, wobei er auch auf marginalisierte Weiße in ländlichen Regionen und Latinos abzielte. Allerdings waren die Armen in den Städten nicht mit den Minenarbeitern und Migranten, die im Agrarsektor arbeiteten, auf eine gemeinsame Identität zu abstrahieren, wie dies für die weißen ‚Producer‘ möglich war (Lowndes 2018, S. 235). Damit war es strategisch schwieriger, diese als ein Segment zu adressieren und zu erreichen. Der demokratische Populismus fristete in Konsequenz von der Mitte des 20. Jahrhunderts bis in das Jahr 2015 ein Nischendasein, da er von einer Mehrheit strikt als sozialistisch abgelehnt wurde. Der Erfolg von Nixons Southern Strategy sorgte dafür, dass der Populismus bei den Republikanern einen festen Platz bekam. Dabei mischte sich die Agitation gegen den Staat mit der konservativen Ablehnung von sozialpolitisch motivierten Interventionen und der Regulierung von Marktmechanismen. Die Watergate-Affäre und Nixons Rücktritt aus dem Weißen Haus verzögerte diese Moralstrategie zwar noch, über die nächsten vier Jahrzehnte entwickelte sich jedoch der konservative Populismus zu einem festen Bestandteil der republikanischen politischen Identität (Lown-

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des 2016, S. 27). Auch Ronald Reagan nutzte einen Ableger der nixonschen Strategie, mit der er die Silent und Moral Majority ansprach: Er echauffierte sich über die Macht der Regierung ebenso wie über ‚parasitäre Welfare Queens‘. Er ging als Außenseiter gegen Korruption und die Übermacht der Regierung in das Rennen um die Präsidentschaft und versprach vor allem, das Middle America zu vertreten (Lowndes 2018, S. 233, 237). Reagans Populismus brachte ein neues Moment in die Republikanische Partei, während Steuersenkungen, ökonomisches Wachstum, Deregulation und der Rückbau des Staates mit den Forderungen der Silent Majority korrespondierte. In den 90er- und 2000er-Jahren war der Geist des Populismus in der republikanischen Partei zwar noch vorhanden, de facto fristete er jedoch eher ein Nischendasein. Daher kamen populistische Impulse vermehrt von außerhalb der Partei, wie mit dem Aktivismus von Ross Perot gegen George W. Bushs Big-State-Konservatismus. Es war gerade jener Regierungsstil, der einen Unmut in der Republikanischen Partei wachsen ließ, der sich mit der Präsidentschaft Obamas in einen Populismus übersetze, der schließlich die GOP grundlegend veränderte.

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Die Tea Party: Der Pro-Finanzeliten-Populismus

Erneut war es eine Krise, welche die Wut jener entfachte, die sich an den Rand der Gesellschaft gedrängt fühlten. Die Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 bereitete den Boden für eine weitere starke populistische Bewegung, die Tea Party. Das Potenzial für die Resonanz populistischer Forderungen entsteht nicht in einem Vakuum. Entsprechende Wahlerfolge sind nicht ohne bestehende Missstände oder negative Befindlichkeiten möglich – häufig handelt es sich dabei um Verlustgefühle oder Ängste. Populistische Bewegungen stehen daher auch oft in einem Narrativ des Niedergangs (Stone 2012). Entsprechend wurden auch die Tea Party und Occupy Wall Street aufgrund der schmerzhaften Erfahrungen der Wirtschaftskrise der Jahre 2008 und 2009 groß. In beiden Bewegungen herrschten anti-elitäre Tendenzen vor, die Tea Party konnte jedoch den gesamten Ärger ihrer Klientel in Richtung der politischen Eliten in Washington kanalisieren. Damit veränderte der Populismus der Tea Party nicht nur die Republikanische Partei, sondern auch den Konservatismus in den Vereinigten Staaten erheblich. Bis zur Tea Party gab es immer wieder Spannungen zwischen der eher sozialkonservativen Strömung in der Republikanischen Partei und jenen, die fiskalkonservative und Pro-Business-Initiativen unterstützten (Lowndes 2016, S. 27). Mit den Erfahrungen der Wirtschaftskrise und der vermeintlich extremen links-sozialistischen Präsidentschaft Obamas konnte der Populismus der Tea Party jedoch die Wut gegen die politischen Eliten eine einheitliche Front generieren. Die ursprüngliche Skepsis gegenüber Finanzeliten und Großunternehmer galt nunmehr allein jenem Establishment. Dies hat zur Folge, dass der heutige rechte Populismus dem Gedanken staatlicher Regulierung kritisch gegenübersteht und stattdessen zumeist ein unregulierter Markt präferiert wird. Verstärkt wurde dies nicht zuletzt durch eine geschickte Nutzung des Producer-Narrativs innerhalb der Tea Party.

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Der Producerismus wurde durch die Tea Party so ausgelegt, dass drei abgeleitete Erzähl-Strukturen eine bedeutende Wirkung auf das konservative Selbstverständnis hatten. Erstens würden in einer deregulierten Wirtschaft die ‚Parasiten‘ auf der Strecke bleiben. Somit würde der Markt moralisch selbst geregelt, die ‚Tüchtigen‘ belohnt und der Selbstverantwortung eine erneute Wertigkeit zugewiesen. Zweitens sei die Besteuerung von Unternehmen ihrer wirtschaftlichen Entwicklung abträglich und dies hätte auch für die Arbeitnehmer negative Konsequenzen. Drittens sei eine Allianz mit den Arbeitnehmern gegen das politische Establishment die Lösung gegen das verschwenderische Wirtschaften der Regierung. Diese Form des Populismus führt zu einer Unterstützung der Arbeitnehmer für Steuerreduzierungen von Unternehmen und sozialpolitischer Deregulierung. Sie birgt im Grunde die einzige Erklärung, warum Menschen, die Gehälter oder gar ihren Arbeitsplatz aufgrund einer Finanzkrise einbüßen mussten, für eine finanzielle und sozialpolitische Deregulierung eintreten (Oswald 2018). Dieser Diskurs basiert auf der angebotsorientierten Wirtschaftstheorie, in der die utilitaristische Moraltheorie und Trickle-Down-Ökonomie einen positiven Effekt für Arbeitnehmer bringt – der ‚eingesparte‘ Reichtum der Unternehmen würde in Form von höheren Löhnen oder Boni an sie weitergegeben. Regulationen und Steuern hingegen verhindern in dieser Sicht einen wirtschaftlichen Aufschwung, weil sie notwendige Investitionen durch die finanzielle Belastung vereiteln. Zuträglich für die Unterstützung dieser Wirtschaftstheorie war auch die Strategie der Tea Party, das Denken über Unternehmer zu verändern. Im Producerismus waren jene Menschen Produzenten bzw. ‚Makers‘, die tatsächlich ein Produkt hervorbrachten. In der Interpretation der Tea Party wurden auch Unternehmer zu dieser Schicht gezählt, schließlich seien sie Job-Creators. Mit dieser Auslegung werden sie ein Teil der Produzenten. Demgegenüber zählten im traditionellen Populismus die Unternehmer in einer klassischen Arbeit/Kapital-Dichotomie zumeist noch zum Feindbild. Die Neuinterpretation macht sie auch zu einer Art Patronen der Mittelklasse. Vor allem zählten sie so jedoch auch zu jenen vergessenen Menschen, die ihre Steuern bezahlen und vom Staat geschröpft werden. Ähnlich verstärkten Fox News-Kommentatoren wie O'Reilly, Hannity und Beck diese produceristische Interpretation mit einem Narrativ um die vergessenen Amerikaner, indem auch sie die Business-Elite zu Produzenten im Sinne der Job Creators erklärten. Zudem hoben sie hervor, dass Arbeitgeber und Reiche den größten gesellschaftlichen Nutzen kreierten, da sie die größte Steuerlast trügen und den Reichtum in den USA produzierten (Peck 2014, S. 531; Guardino und Snyder 2012, S. 530–532). Die Fehden zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern sollten damit im rechten Populismus der Vergangenheit angehören. Damit veränderte sich jener Populismus im Laufe der letzten 100 Jahre spürbar. Der neue Producerismus war zentral in der Agitation gegen Obamas Präsidentschaft, die mit einem Bailout für zahlungsunfähige Kreditnehmer aufgrund der Immobilienkrise begann und im weiteren Verlauf von Umweltauflagen in Form von EPA-Regulationen geprägt war. Jene neuen Regulationen hatten in der Tat einen Anteil daran, dass beispielsweise Kohleminen schließen mussten, da sie ebenjene Standards nicht erfüllen konnten. Dies verstärkte den Verlust von Arbeitsplätzen, die

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ohne durch Automatisierung, Outsourcing und genereller Unwirtschaftlichkeit vor allem nach der Krise wegfielen. Ein großer Verlust von Industrie-Arbeitsplätzen traf insbesondere Regionen um die Appalachen, aber auch in Staaten wie Michigan und Wisconsin – Regionen, die 2016 die Wahl für Trump entschieden. Der Rückgang von gut bezahlten Arbeitsplätzen, für die eine geringe Ausbildung nötig waren, sind jedoch nur ein Teil von Trumps Erfolgs. Vor allem hatten sich, trotz einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung ab 2010, die Löhne der Mittelklasse nicht mehr von der Wirtschaftskrise 2008 erholt. Dies nutzte ein Teil des Bewerberfeldes um die Präsidentschaftskandidatur im Jahr 2015.

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Der Populismus seit 2015

Als sich das Feld der Präsidentschaftskandidaten im Jahr 2015 in seiner ganzen Breite zeigte, wurde klar, dass bei den Republikanern Außenseiter-Kandidaten wie Ben Carson und Donald Trump gegen eine andere Gruppe an Kandidaten antrat: Chris Christie, Scott Walker oder Jeb Bush waren klar dem Establishment zuzuschreiben. Allerdings wurden die Außenseiter schnell zu den diskursbestimmenden Kandidaten. Ähnlich erging es auch den Demokraten. Hier war es vor allem der Senator Bernie Sanders, der das Parteiestablishment herausforderte. Insbesondere Donald Trump konnte in seinem Wahlkampf mit der Frustration vieler Menschen Resonanz erzeugen. Sein Kampagnenauftakt mit den Worten ‚the American Dream is dead‘ sollte sowohl ökonomisch deprivierte Menschen sowie jene ansprechen, die Verlustängste hegen. Im Kern des ‚Amerikanischen Traums‘ steht nicht zentral die Floskel ‚vom Tellerwäscher zum Millionär‘. Sie ist lediglich der plakativste Teil eines Narrativs, welches eher als Versprechen zu sehen ist, dass die Möglichkeit für einen sozialen Aufstieg gegeben ist. Implizit ist diesem auch die Aussicht auf die Teilhabe an der Mittelklassengesellschaft und auf einen stetig besseren Lebensstil für nachfolgende Generationen (Langman 2012, S. 482). Dieser Trend hat sich verkehrt: Die wenigsten Menschen haben heute mehr Geld zur Verfügung als es noch ihre Eltern oder sogar ihre Großeltern hatten. Die Geburtenkohorte 1980 war die erste, bei denen eine Mehrheit weniger als ihre Eltern verdienten (Chetty et al. 2017). Im Jahr 2015 war das Einkommen vieler Amerikaner schließlich trotz teils zweier Arbeitsverhältnisse nicht genug, um alle Ausgaben zu decken. Im Durchschnitt büßten Familien knapp mehr als 50.000 USD Jahreseinkommen ein, wenn man sie bereinigt mit dem Durchschnitt vor der Krise vergleicht (Pew 2015). Die Wirtschafts- und Finanzkrise hatte einen großen Anteil an der negativen Einkommensentwicklung. Sie kann jedoch auch lediglich als ein besonders starker Beschleuniger einer ungünstigen Genese gesehen werden: Seit Jahrzehnten stagnieren die Reallöhne der Mittelklasse, in einigen Berufszweigen sanken sie sogar. Der Einbruch der Löhne in der Mittelklasse liegt hauptsächlich im Rückgang jener gut bezahlten Industrie-Arbeitsplätze, die ohne College-Abschluss verfügbar waren.

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Ähnlich wie die populistische Bewegung der ersten industriellen Phase der Globalisierung, löste nun ein erneuter Umbruch die Rentabilität jener Berufe ab, die für ein gesamtes Gesellschaftssegment das Sprungbrett zur Teilhabe an der Mittelklassegesellschaft war: Allein zwischen den Jahren 1980 und 2016 verschwanden knapp drei Viertel der damals 20 Millionen Industrie-Arbeitsplätze in den USA. Die jüngste ‚Anti-Establishment-Bewegung‘ ist daher ein Produkt der Frustration und Besorgnis, die sich aus dieser Situation ergaben. Diese Menschen fühlten sich unter Obama umso mehr als Vergessene, da Banken und Großunternehmen von der Regierung gerettet wurden und nun wieder Profite wie vor der Krise machen, während das Gesamteinkommen der Mittelklasse im Jahr 2016 unter dem der reichsten ‚ein Prozent‘ lag. Damit entstand durch die Große Rezession von 2008 das größte Wohlstandsgefälle in der Geschichte der USA (Lowndes 2016, S. 27; Pew 2015). Es war der linke Populismus von Bernie Sanders mit dem er seine Bewerbung um die Präsidentschaftskandidatur gegen diese Ungleichheit und die Finanzelite richtete. In den Augen von Sanders ist sie es, die den wirklichen Verrat am Volk und damit auch der amerikanischen Demokratie selbst beging. Er forderte die Ausdehnung des Medicare-Systems, einen Mindestlohn von 15 USD pro Stunde und die Reduzierung der hohen Studiengebühren. Sanders wollte ursprünglich mit seiner Präsidentschaftskandidatur lediglich seine Botschaft eines sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates verbreiten. Diese stieß jedoch auf so viel Resonanz, dass er eine starke Konkurrenz für den demokratischen Mainstream wurde. Schließlich manipulierten die Demokraten gar ihren internen Wahlkampf, um die Nominierung Hillary Clintons sichern zu können. Obwohl Sanders auf ähnliche ökonomische Probleme wie Donald Trump abzielte, sind die Kontexte, in denen diese diskutiert werden, grundverschieden. Während Populisten des rechten Flügels zwar auch gegen die Eliten des Landes aufbegehren, verläuft ihre Botschaft vielmehr entsprechend der konservativen Maxime der Selbstverantwortung. Sie interpretieren daher die Einkommensungleichheit nicht wie der linke Flügel, dass Reiche und Unternehmer zu wenig zum Allgemeingut beitragen, weil sie zu geringe Steuern zahlten. Vielmehr sehen sie die Wirtschaft entsprechend manipuliert, dass sie den Interessen der Machthaber diene, insbesondere durch Korruption und eine moralisierende Linke. Vor allem in Trumps Interpretation des ‚Rigged Systems‘ geht es um die Vorstellung, dass aufgrund von Freihandelsabkommen Arbeitsplätze in das Ausland abwanderten oder aufgrund von (Umwelt-)Regulationen veritable Industrien geschlossen werden mussten. Dies ist nicht falsch, allerdings sind diese Antworten verkürzt und unterkomplex beantwortet. Des Weiteren ist die Agitation gegen die ökonomischen Eliten durch die Trickle-Down-Vorstellung stark abgeschwächt. Im rechten Populismus dominiert die Vorstellung, dass Körperschaftssteuern den Arbeitnehmern schaden, da sie höhere Löhne und Expansionen von Unternehmen vermeiden. Im Kreuzfeuer stehen höchstens die Finanzeliten der WallStreet, weil diese nur mit Geld spekulieren, das sie nicht erwirtschaftet hätten, wobei selbst diese Kritik in der Regel auf ein Minimum beschränkt wird. Donald Trump nutzte diesen Populismus in seinem Wahlkampf ausgiebig.

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Donald Trumps Populismus

In der Tea Party wurde die sozialkonservative Strömung vor allem für libertäre Interessen instrumentalisiert. Allerdings gewann dieser Teil der Tea Party bald überhand und im Jahre 2015 mündete dieser rechte Populismus schließlich in die ‚Make America Great Again‘ Bewegung. Donald Trump kommunizierte von Beginn an perfekt zu seiner Klientel. Er etablierte eine direkte Kommunikation zum Volk und der Bewegung, wie es bei populistischen Führern oftmals der Fall ist. Er schuf damit eine Form von Massenklientelismus, in der er insbesondere die Mittelschicht und religiöse Menschen ansprach. In fast allen seinen Wahlkampfreden setzte er auf alte populistische Konzepte, wie die kollektive Identität der ‚vernachlässigten weißen Amerikaner‘. Auch nahm er Anleihen an Nixon’s Strategie, wenn er seine Anhänger als ‚Silent Majority‘ bezeichnet. Er gab in seiner Interpretation dieser Gesellschaftsschicht eine Stimme und befand, sie sei ‚not so silent anymore‘. In seinen Erklärungen und Narrativen verwendete er häufig Versionen des Producerismus, den er geschickt nutzte. Er kreierte die Befindlichkeit einer Allianz zwischen Unternehmern und Angestellten, die geschlossen gegen einen gemeinsamen Feind stünden – die Regierung und das politische Establishment. Da die Regierung das ‚hart verdiente Steuergeld‘ für eine gescheiterte Politik oder gar für ihren eigenen Nutzen verschwendete, hätten die Unternehmen in den USA einen schweren Stand. Daher könnten sie es sich nicht leisten, höhere Löhne zu bezahlen. Mit dieser Auslegung des Producerismus legitimiert er nicht nur Steuersenkungen für Unternehmen, er macht dies sogar für Arbeitnehmer attraktiv – schließlich würden seiner Einschätzung zufolge die versprochenen Steuersenkungen in höhere Löhnen münden. An diesem Punkt mischt sich Trumps Populismus mit seiner ‚Pro-Business-Einstellung‘. Unter diesem Gesichtspunkt dienen Steuersenkungen für Unternehmer den Arbeitern, weil eine Steuererleichterung nicht nur zur Schaffung von Arbeitsplätzen führt, sondern auch Wohlstand für alle bringt: Der Reichtum würde in Form von Prämien und Lohnerhöhungen auf die Arbeitnehmer übergehen. Mit dieser Interpretation kann die Denkweise über die Wirtschaftselite und Steuersenkungen moralisch neu definiert werden. Die Kritik gilt schließlich nicht Unternehmern, die Steuersenkungen begrüßen, weil sie nicht bereit sind, ihren gerechten Anteil zu zahlen; im Kreuzfeuer stehen die Demokraten, weil sie der Wirtschaft schadeten, wenn sie höhere Steuern forderten (Peck 2014, S. 530, 532). Einer Grundannahme in dieser Theorie der Angebotsökonomie zufolge führen niedrigere Steuern zu einer besseren Bezahlung. Ein erster solcher Trickle-Down-Effekt trat in der Tat kurz nach der Steuerreform auf: Arbeitnehmer einiger Unternehmen erhielten Boni oder Gehaltserhöhungen. Auch ein relativ konstanter Zuwachs bei den Einkommen zeichnet sich in Trumps Amtszeit ab; ob dieses Wachstum langfristig und substanziell sein wird, kann jedoch noch nicht abgeschätzt werden. Die Problematik der stagnierenden Löhne und die negativen Trends bei der absoluten Einkommensmobilität wurde bei Trumps manichäistischer Perspektive auf das Establishment mit einer Form der Verschwörung verbunden. Damit lieferte er zudem eine eingängige Begründung, warum die gut bezahlten Berufe millionenfach verschwunden sind: Die politische Elite, insbesondere die Demokraten, hätten diese zu

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ihrem eigenen Vorteil ins Ausland verlegt. So habe sie den Niedergang der traditionellen amerikanischen Industriezweige verursacht – durch Steuern, Freihandelsverträge und Multilateralismus. Trump nutzte den Producerismus insbesondere für seine Kommunikation in Regionen, in denen der wirtschaftliche Niedergang die Menschen besonders hart traf. Schon früh erkannte Trump die Wichtigkeit dieser Staaten für einen Wahlsieg und bot seine populistische, aber eingängige Erklärung an, warum mit den Freihandelsabkommen bestimmte Beschäftigungsverhältnisse oder gesamte Fabriken aus den USA verschwanden. Dass diese Arbeitsplätze ‚ins Ausland verschifft‘ worden sein ergibt Sinn und ist – analytisch betrachtet – auch nicht falsch; viele jener Arbeitsplätze, die über Freihandelsverträge in das Ausland abgewandert sind, wären zu großen Teilen in den USA ökonomisch jedoch nicht mehr rentabel. Die geringen Löhne, die in zumeist asiatischen Staaten gezahlt werden, haben die Konsumindustrie in den USA hingegen stark vergünstigt. Allein ein ‚Big-Screen‘-TV wäre für viele Menschen auch heute noch unerschwinglich, wenn diese nicht günstig in Fernost produziert würden. Wenn Fabriken in die USA zurückkehren, damit dort I-Phones gefertigt und T-Shirts genäht werden, dann wäre das für die Wirtschaft vielleicht ein Gewinn. Gleichzeitig bleibt zu bezweifeln, dass die Berufe tatsächlich die hohen Löhne einbringen könnten, wie es sich Amerikaner für einen guten Lebensstandard erhoffen. Durchschnittsverdienste, mit denen einst ein Familienmitglied das Einkommen bestellte, würden wohl auch diese Maßnahmen nicht mehr bescheren. Sollten diese Konsumgüter in den USA gefertigt werden, ist eher anzunehmen, dass diese nicht unerheblich teurer werden würden. Trump hat sich mit seiner ökonomischen Vision für die USA viel vorgenommen. In seiner Amtsantrittsrede versprach er die vergessenen Männer und Frauen des Landes in den Mittelpunkt seiner Politik zu stellen. Sie sollten nicht mehr vergessen oder ignoriert werden. Sein fast messianischer Tenor bietet nicht nur ein Gefühl der Erwartung für bessere Tage, sondern auch für eine Art kollektiver Umsetzung (Snow und Bernatzky 2018, S. 136). Allerdings greifen Trumps brachiale Maßnahmen wie der Druck mittels Zöllen noch nicht, wie er es sich erhofft hatte, dennoch versucht er weiterhin seine ökonomische Vision wie versprochen umzusetzen. Gleichzeitig argumentiert Trump, dass sich die Lebenssituation der vernachlässigten oder vergessenen Menschen dramatisch umkehren würde, wenn die Elite nur ihre Gruppenpräferenzen veränderte. Dabei negiert er allzu häufig den Pluralismus im Lande. Dies ist ein Effekt des Populismus, der häufig übersehen wird: Weil es in dieser Sicht nur einen Mehrheitswillen im Volk gibt, negiert dies die Existenz (oder Relevanz) von Partikularinteressen. Der Populismus ist damit antipluralistisch. Nach wie vor bildet die Basis von Trumps Wahlkampfs für 2020 um den Slogan ‚Keep America Great‘ die Botschaft eines ökonomischen Aufschwungs; allerdings hat er sich nun mehr als zuvor auf den kulturellen Populismus eingeschossen. Diese ökonomisch-kulturelle Symbiose ist jener Ausrichtung unter Wallace und Goldwater ähnlich, allerdings mag sie unter den gegebenen Voraussetzungen von größerem Erfolg gekrönt sein: Die Weißen werden in den USA in nur wenigen Jahrzehnten die Minderheit im Lande stellen werden. Dies lässt Ängste entstehen, dass die weißen ‚vergessenen Menschen‘ in Zukunft womöglich noch mehr vernachlässigt würden.

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Fazit: kultureller-rechter und antikapitalistisch-linker Populismus

Die Menschen, die sich seit 2008 den populistischen Bewegungen zuwandten, plagen wirtschaftliche Unsicherheiten und Ängste. Im rechten Populismus zeigte sich jedoch, dass mittlerweile die wirtschaftliche Dimension mit den Fragen um die amerikanische Identität und traditionellen Werten fest verschmolzen sind (Langman 2012, S. 491). Bereits seit den 1950er-Jahren beschwören rechte Populisten einen Verlust der traditionellen amerikanischen Kultur. Im 21. Jahrhundert brach die Frustration über den progressiven Wandel auf der bundespolitischen Ebene durch. Zunächst wurden diese Tendenzen noch durch den ökonomischen Kurs der Tea Party kanalisiert, der große Teil dieser Bewegung mündete jedoch in die MAGA-Bewegung. In der Politik um Trump geht es nicht mehr nur darum, die ‚vergessenen Amerikaner‘ in den Mittelpunkt zu stellen, sondern auch darum, deren traditionelle Identität aufrechtzuerhalten – notfalls mit autoritaristischen Vorgehensweisen. Dies fügt sich in die mittlerweile weit verbreitete Anti-Establishment-Einstellung, da die Elite die Werte, Identitäten und Praktiken des kulturell konstituierten Volkes mit ihrer progressiven Politik gefährde (Boyte 2012, S. 300). Der Kampf gegen das Establishment ist damit heute fundamental für die ökonomische und kulturelle Identität der Populisten. Mit Donald Trump entstand aus einer Unzufriedenheit mit dem politischen Kurs des Landes eine breite Front gegen den sozialen und kulturellen Wandel in den USA. Dies zeigte sich nicht zuletzt darin, dass durch provokante Aussagen gegen Mexikaner, Moslems, Frauen oder politische Gegner Trumps Zustimmungsraten im Wahlkampf stiegen (Lowndes 2018, S. 240). Das bedeutet nicht, dass alle Trump-Wähler einem rechten Populismus anhängen; einige erhofften sich einen Wandel, der ihnen bereits mit dem ‚Change‘Slogan von Obama versprochen wurde. Da für viele ebendieses Versprechen nicht erfüllt wurde – nicht zuletzt jedoch gerade aufgrund der Blockadepolitik der Tea Party –, konnte Trump die Hoffnung auf Wandel, mit einem undefinierten Bezugspunkt in der Vergangenheit projizieren. Trump hat mit seiner Strategie sowohl die ökonomische als auch die kulturelle Dimension ausreichend angesprochen und sie mit dem AntiElitismus der Tea Party verbunden. Er hat damit den harschen 50er- und 60er-Jahre Populismus in der Mittelklasse aktiviert und in den politischen Mainstream gehievt. Dabei konnte er Phänomene wie die Globalisierung durch ein Versprechen der Wiederbelebung alter Größe in seinen Wahlkampf integrieren. Der Populismus hat in den letzten zehn Jahren nicht nur die Partei(politik) der Republikaner maßgeblich verändert. Der Vorwurf der aufgezwungenen Veränderung der Lebensweisen kommt zwar vor allem im rechten Populismus vor, jedoch baut auch Bernie Sanders seine Rhetorik auf dem Vorwurf auf, dass Finanzeliten das Gewebe der Gesellschaft durch ihre Praktiken verletzt haben. Dadurch entstand seiner Interpretation zufolge jenes Problem der seit Jahrzehnten stagnierenden Löhne der Mittelklasse (Lowndes 2016, S. 27). Dieser Populismus der Neuen Linken der 1960er-Jahre hat mittlerweile eine dominante Position in der Demokratischen Partei erlangt. Bernie Sanders machte den linken Populismus nicht nur populär, er nahm dem Label ‚sozialistisch‘ auch seine vormals nahezu allmächtige Ablehnungskraft, indem er im Wahlkampf 2015/16 seinen Sozialismus als gangbare Alternative nach dem Vorbild europäischer Sozialstaaten präsentierte. Er nahm hierbei auch den politischen Gegnern

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die Angriffsfläche indem er sich kühn als ‚Sozialist‘ im Rennen aufstellte – eine Position, die nur wenige Jahre zuvor das Aus für jedweden Kandidaten bedeutet hätte. Aber auch Sanders sprach indirekt ‚vernachlässigte Amerikaner‘ an und in der Vorwahl um die Präsidentschaftskandidatur 2020 zeigte sich, dass die Sandersschen Positionen mittlerweile tragfähig in der Demokratischen Partei geworden sind, da sich ein großer Teil der Anwärter ihrer bediente. Während der linke Populismus im Wahlkampf von 2015/16 noch von den Parteieliten unterdrückt wurde, griff er nach dem Clinton-Desaster in weiten Teilen der Partei um sich. So wurden Forderungen wie Medicare for all und die gleichzeitige Abschaffung der privaten Krankenversicherung, sowie die faktische De-Kriminalisierung von unautorisierten Grenzübertritten nicht nur Teil des demokratischen Diskurses, sondern gar Teil ihres Mainstreams. Ohne den Linksruck durch Sanders und den rechten Populismus Trumps wären diese Forderungen wohl auch heute noch zu weit im linken Spektrum für das Gros der Demokraten. Während die Demokraten lediglich ihre Kernbotschaft weiter nach links verschoben, wurde die Republikanische Partei durch den rechten Populismus von ihrer Ausrichtung komplett abgebracht: Die gesellschaftliche Entwicklung verläuft dahingehend, dass die Klientel der Republikaner, weiße Wähler, bald eine Minderheit sein werden. Die Ausrichtung von Establishment-Politikern wie Jeb Bush war es daher, eine Attraktivität für konservative Hispanics zu entwickeln. Donald Trump hat diesen Kurs geändert und die Partei seiner populistischen Neuausrichtung komplett unterworfen. Allerdings zahlte sich Trumps Strategie aus, die kollektive Identität der ‚vernachlässigten weißen Amerikaner‘ zu nutzen. Fast 60 Prozent der weißen Wähler unterstützten Trump, darunter zwei Drittel der weißen Wähler ohne Hochschulabschluss sowie über 80 Prozent der weißen Evangelikalen (Snow und Bernatzky 2018, S. 136). Dies zeigt, dass vor allem der ökonomische Populismus auf eine Schicht zielt, die von gut bezahlten Arbeitsplätzen ohne Ausbildung abhängig ist und dass der kulturelle Populismus kein Nischendasein mehr fristet. Donald J. Trump hat mit dieser Kombination die Präsidentschaft gewonnen, weil er die Ängste und die Wut der Weißen aus dem mittleren Westen, die sich vom Establishment verraten fühlen, damit einfing und er eine komplette Kehrtwende des progressiven Kurses versprach, der seinen Wählern zu weit ging. Der Populismus des 21. Jahrhunderts ist somit jenem, den Hofstadter beschrieb nicht unähnlich. Im 19. Jahrhunderts entstand die Populistische Bewegung aufgrund einer geringen Adaptionsfähigkeit an wirtschaftliche Veränderungen und einer Ablehnung des progressiven Wandels; auch in einer weiteren Phase der Globalisierung und Industrialisierung sind sehr ähnliche Reaktionen bei jenen zu sehen, die sich in eine einfacher, stabilere Zeit zurückwünschten.

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Politische Theorie Zwischen nationaler Selbstverständigung und konzeptioneller Globalisierung Hans-Jörg Sigwart

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die politische Theorie in der US-amerikanischen Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Die aktuelle Methodendiskussion in der US-amerikanischen politischen Theorie . . . . . . . . . 4 Über die Demokratie in Amerika im 20./21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fazit: Die Globalisierung der US-amerikanischen politischen Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Der Beitrag gibt einen Überblick über wichtige Strömungen und Themen in der politischen Theorie der USA und skizziert ihre Stellung in der US-amerikanischen Politikwissenschaft und Gesellschaft. Die politische Theorie ist eng mit dem demokratischen Selbstverständnis der USA verbunden. Zugleich bewegt sie sich in einem internationalen Kommunikations- und Wirkungshorizont. Thematisch stehen die Begründung und die kritische Reflexion einer demokratischen Idee des politischen Liberalismus im Zentrum der US-amerikanischen politischen Theorie. Zu den wichtigsten Entwicklungstendenzen der aktuellen Debatte gehören theoretische Auseinandersetzungen mit den zentralen Herausforderungen der US-amerikanischen Demokratie und entsprechende Krisendiagnosen einerseits und Versuche einer Globalisierung der politisch-theoretischen Perspektive andererseits. Schlüsselwörter

Politische Theorie · Liberalismus · Demokratie · Populismus · Trumpismus

H.-J. Sigwart (*) Institut für Politische Wissenschaft, RWTH Aachen University, Aachen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_6

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Einleitung

Die US-amerikanische Politikwissenschaft und mit ihr die Politische Theorie als einer ihrer Teilbereiche ist einerseits in besonderer Weise in den politisch-kulturellen Kontext der Demokratie in den USA, andererseits aber zugleich in internationale Kommunikations- und Wirkungszusammenhänge eingebunden. Das US-amerikanische politische Denken hat eine nicht unerhebliche internationale Wirkung auf die Grundkategorien, in deren Rahmen die wesentlichen Probleme moderner Demokratie und globaler Politik zumindest aus der Perspektive der „westlichen Welt“ wahrgenommen werden. Es beeinflusst damit nicht nur international die maßgeblichen Debatten in der Politikwissenschaft, sondern zum Teil auch die öffentliche Auseinandersetzung mit politischen Fragen. Andererseits aber ist dieser vielfach die internationalen Standards setzende wissenschaftliche Diskurs zur Politik eng mit der besonderen Frage nach dem nationalen Selbstverständnis der USA verbunden. Das gilt vor allem für die politische Theorie, in der neben wissenschaftlichen immer auch politische Identitätsfragen der US-amerikanischen Gesellschaft explizit oder implizit mit verhandelt werden. In der politischen Theorie zeichnen sich daher besonders deutlich die eigentümlichen Spannungen ab, die sich aus dem nationalen und zugleich globalen Referenzrahmen dieser gesellschaftlichen Selbstverständigung ergeben. Diese Spannungen prägen auch den aktuellen politischen Theoriediskurs in den Vereinigten Staaten, und es wird im folgenden Überblick unter anderem auch darum gehen zu zeigen, inwiefern sich dieses Problem in den aktuellen Debatten widerspiegelt. Unter dieser Vorgabe wird im anschließenden zweiten Abschnitt zunächst die Rolle der politischen Theorie innerhalb der US-amerikanischen Politikwissenschaft skizziert. Daraufhin wird im dritten Abschnitt die aktuelle Diskussion um methodische Grundpositionen innerhalb der politischen Theorie betrachtet. Im daran anschließenden vierten Abschnitt steht der Beitrag der politischen Theorie zur nationalen Selbstverständigungsdebatte der demokratischen Gesellschaft in den USA im Vordergrund. Im fünften Abschnitt werden schließlich einige Varianten der konzeptionellen Globalisierung der politischen Theorie vorgestellt, die als zentrale Entwicklungstendenz in der aktuellen Theoriedebatte in den USA gelten kann.

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Die politische Theorie in der US-amerikanischen Politikwissenschaft

Dass die politische Theorie in den Selbstverständigungsdebatten der US-amerikanischen Gesellschaft traditionell eine wichtige Rolle spielt, zeigt schon ein Blick auf die beiden Texte, die als die zwei großen klassischen Werke bezeichnet wurden, welche die US-amerikanische Tradition politischen Denkens hervorgebracht hat (Wolin 2001, S. 3). Die Federalist Papers der „Founding Fathers“ Alexander Hamilton et al. (2007) vom Ende des 18. und die Studie zur Demokratie in Amerika des Franzosen Alexis de Tocqueville (1984) aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dienen bis in die aktuellen Debatten hinein als bevorzugte Projektionsflächen

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des US-amerikanischen Selbstverständnisses. In der sich wandelnden Rezeption dieser beiden Klassiker der politischen Theorie in den USA zeichnen sich daher „the vagacies of fashion and interpretation in (. . .) the culture at large“ (Villa 2008, S. 467) besonders deutlich ab. Das gilt für breite öffentliche Debatten ebenso wie für den politischen oder auch den verfassungsrechtlichen Diskurs der politischen Funktions- und Entscheidungseliten. Letzteres zeigt sich in den zahlreichen Referenzen auf die Federalist Papers in den Entscheidungsbegründungen des US Supreme Court (Corley et al. 2005) ebenso wie in jüngsten Versuchen, die Wahl von Donald Trump zum US-amerikanischen Präsidenten mithilfe Tocquevilles (Goldhammer 2016) bzw. der Federalists (Rosen 2018) zu deuten. Bei Tocqueville (1984, S. 487 ff. und S. 525 ff.) findet sich allerdings auch die These, dass demokratische Gesellschaften wie die US-amerikanische eine beinahe natürliche Abneigung gegen allzu abstrakte Formen philosophischen und theoretischen Denkens haben. Es sei dahingestellt, wie plausibel diese provokante These Tocquevilles von der tendenziellen Theoriefeindlichkeit der politischen Kultur moderner Demokratien ist. Auf das Beispiel der US-amerikanischen Politikwissenschaft bezogen scheint es allerdings, als mache Tocquevilles These auf eine Grundspannung aufmerksam, die in der historischen Entwicklung der Disziplin und der Stellung der politischen Theorie in ihr in der Tat eine Rolle spielt. Zumindest ist es unbestritten, dass „political theory’s relationship to the discipline of political science has not always been a happy one.“ (Dryzek et al. 2009, S. 64.) Der Mainstream der Politikwissenschaft in den USA orientiert sich traditionell vor allem an der empirischen Erforschung der nationalen demokratischen Politik und leitet seine Identität und normativen Zwecksetzungen unmittelbar aus dem unhinterfragten „main practical task“ ab, die Etablierung und Stabilisierung „of a unitary national state accompanied by a virtuous national citizenry“ zu unterstützen (Dryzek 2006, S. 487). Diese unmittelbar praktische Perspektive setzt den liberalen Grundkonsens des demokratischen Selbstverständnisses, die geteilten Grundwerte eines auf private Eigentumsrechte konzentrierten Besitzindividualismus, sozialer Mobilität, individueller Unabhängigkeit und Selbstverantwortung, religiöser Toleranz und föderal und repräsentativ organisierter demokratischer Mitbestimmung, stillschweigend als gegeben voraus. Die Grundlagenreflexion in der Politikwissenschaft in den USA konnte sich demnach oft weitgehend auf die Explikation dieses Grundkonsenses und daneben auf die unmittelbar anwendungsorientierte Diskussion sozialwissenschaftlicher Methodenfragen konzentrieren. Die politische Theorie hat in dieser Konstellation allerdings nicht durchgehend die Rolle einer affirmativen Ziviltheorie der Demokratie in den USA gespielt, wie zum Beispiel explizit bei Richard Rorty (1988), sondern immer wieder auch versucht, die stillschweigend vorausgesetzte Einbettung der Politikwissenschaft in den Grundkonsens der nationalen Identität einer historischen und philosophischen Kritik zu unterziehen. In der Entwicklungsdynamik der „American Political Science“ als einer „congenitally unsettled discipline“ (Dryzek 2006, S. 487) verbindet sich die Frage nach der Stellung der politischen Theorie somit von Beginn an mit der Kontroverse um die Frage, ob die Disziplin insgesamt als unmittelbar praktische und auf die nationale Politik fokussierte Demokratiewissenschaft verstanden werden

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oder eher einer philosophisch inspirierten und historisch weiter ausgreifenden Perspektive verpflichtet sein sollte, die potenziell auch eine Kritik der US-amerikanischen Moderne und ihres liberal-demokratischen Selbstverständnisses ermöglichen müsse. Für letzteres hat ein Teil der politischen Theorie zum Beispiel in den späten 1960er-Jahren unter dem Eindruck des Vietnamkriegs argumentiert (ebd., S. 490 f.). Zuvor hatte sich schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit unter dem Einfluss europäischer Emigranten wie etwa Herbert Marcuse, Leo Strauss, Hannah Arendt oder Eric Voegelin eine Strömung in der US-amerikanischen Theoriedebatte gebildet, die für eine kritische Reflexion des liberalen und fortschrittsoptimistischen Selbstverständnisses argumentierte. Aus der Perspektive der europäischen Emigranten, die ihre politischen Theorien vor dem Hintergrund der Erfahrung des modernen Totalitarismus formulierten, erschienen eine Reihe der unhinterfragten Grundannahmen des liberalen Konsenses als problematisch. Indem sie den Liberalismus selbst „either inherently or because of its degenerate condition . . . at the core of a modern crisis“ verortete (Gunnell 1988, S. 73), stellte diese europäisch inspirierte politische Theorie auch den impliziten Grundkonsens der Politikwissenschaft in den USA als einer liberalen praktischen Demokratiewissenschaft in Frage. Als besonders wirkungsvoll hat sich allerdings eine andere Theorieströmung der Nachkriegszeit erwiesen. Die „behavioral revolution“, die sich ebenfalls in den 1950er-Jahren gegen diese „wave of European thought that was appearing in political theory“ (ebd., S. 80) formierte, revitalisierte auf Grundlage eines dezidiert wertneutralen Wissenschaftsverständnisses den eigentümlichen „sense of liberal givenness“ und die „traditional values of U.S. political science“ (ebd. S. 73, 74). Sie lieferte damit die theoretische Grundlage, auf welcher der Mainstream der Politikwissenschaft in den USA weiterhin als unmittelbar praktische, am liberalen nationalen Selbstverständnis orientierte Demokratiewissenschaft fungieren konnte, ohne für diese normative Orientierung eigens eine politisch-theoretische Begründung geben zu müssen. Die dieser Konstellation entsprechende politische Theorie konnte es sich leisten, „to embrace relativism and the idea of the separation of facts and values while remaining totally committed to definite political ideals“ (ebd., S. 74). Erst mit der Erneuerung einer explizit normativen Theoriedebatte seit Anfang der 1970er-Jahre, die vor allem von John Rawls angestoßen wurde, rückte die konstitutive Bedeutung dieses stillschweigenden „commitment“ der US-amerikanischen Politikwissenschaft für die politischen Ideale des American Creed bzw. des Amerikanismus (Gebhardt 1993) wieder stärker ins Bewusstsein. Im Unterschied zur Idee einer formal wertneutralen, faktisch aber den Konsens geteilter „American values“ voraussetzenden empirischen Demokratiewissenschaft geht Rawls’ Werk vom Faktum eines gesellschaftlichen Wertepluralismus aus und steht gleichzeitig stellvertretend für den Anspruch des politischen Liberalismus, die normativen Grundlagen einer allgemein zustimmungsfähigen Idee gesamtgesellschaftlicher Gerechtigkeit (Rawls 1971) oder zumindest einer allgemeinen Form politischer Vernunft zu formulieren, die jenseits der religiösen, weltanschaulichen und kulturellen Differenzen zwischen den „umfassenden Lehren“ und Identitäten von Menschen eine Basis

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für die Verständigung auf gültige politische Werte bereitstellen kann (Rawls 1993). Zugleich ist bei Rawls aber auch das Bewusstsein der Verwurzelung seiner politischen Theorie in denjenigen Grundüberzeugungen und considered judgments artikuliert (Rawls 1971, S. 47 ff.), die den Kern des gesellschaftlichen Selbstverständnisses der USA ausmachen. Rawls artikuliert diese liberalen Grundüberzeugungen auf neue, den intellektuellen Gegebenheiten seiner Zeit entsprechende Weise und befragt sie zugleich auf die Möglichkeiten ihrer allgemeinen Begründung und universalen Geltung. Rawls’ Werk kann so gesehen als repräsentative Artikulation der zwischen nationalem Exzeptionalismus und demokratisch-liberalem Universalismus oszillierenden Denkbewegung der politischen Theorie in den USA verstanden werden, die diese Denkbewegung der Liberal Tradition in America – mit der berühmten Formel von Louis Hartz (1951) ausgedrückt – für das späte 20. und frühe 21. Jahrhundert erneuert und konzeptionell weiterentwickelt. Rawls’ politische Philosophie hat seit der Veröffentlichung seines Hauptwerks A Theory of Justice den politischen Theoriediskurs in den Vereinigten Staaten und international dominiert und bestimmt ihn bis in die aktuellen Debatten hinein maßgeblich mit. Zugleich sind seit einigen Jahren aber auch grundsätzliche Fragen nach dem Verhältnis der Politikwissenschaft zum Selbstverständnis der US-amerikanischen Demokratie und vor allem nach der Stellung der politischen Theorie innerhalb der Disziplin erneut in den Fokus der Diskussion gerückt. In dieser jüngsten Neuauflage der Debatte zeigt sich besonders deutlich, inwiefern sich in ihr Fragen der disziplinären Identität mit konkreten wissenschaftspolitischen Interessen, aber auch mit substanziellen inhaltlichen Grundfragen der politischen Theorie selbst vermischen. Insbesondere lassen sich anhand dieser aktuellen Kontroverse einige der methodologischen Grundprobleme exemplarisch verdeutlichen, die in der amerikanischen politischen Theorie aktuell diskutiert werden.

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Die aktuelle Methodendiskussion in der US-amerikanischen politischen Theorie

Den ersten Anlass der Debatte lieferte die sogenannte Perestroika-Kontroverse, die 2000 durch eine unter dem Pseudonym „Mr. Perestroika“ an die Herausgeber der American Political Science Review gerichtete anonyme Kritik am dominanten Mainstream der Politikwissenschaft in den USA ausgelöst wurde. Die zunehmend einseitige Ausrichtung der Disziplin an quantitativen Forschungsmethoden sowie an formalen, durch die ökonomische Rational Choice- und die Spieltheorie inspirierten Theoriemodellen führe, so die Kritik, zu einer ahistorischen und „parochialen“ Verengung des politikwissenschaftlichen Forschungshorizonts nicht nur auf quantifizierbare, sondern in der Tendenz auch auf rein US-amerikanische Problemstellungen. Die Forderungen des Perestroika movement (vgl. Monroe 2005) umfassen die stärkere Miteinbeziehung interpretativer Methoden und von komparativen, historischen und hermeneutischen Theorieverständnissen sowie die breitere Reflexion normativer und philosophischer Fragestellungen. Diese Forderungen haben sehr unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Neben Versuchen, die Kritik konstruktiv

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aufzugreifen und theoretisch fruchtbar zu machen, haben sie auch vehemente Gegenreaktionen seitens der Vertreter des Mainstream hervorgerufen, aus deren Sicht die Kritik an dem von ihnen vertretenen Methoden- und Theorieideal einer hard science vor allem eine diffuse „fear of the modern“ offenbart (Laitin 2003, S. 163). Für die politische Theorie wurde daraus u. a. die Forderung ihrer normalwissenschaftlichen Konsolidierung und methodischen Integration in einen relativ eng verstandenen politikwissenschaftlichen Mainstream abgeleitet. Nach dessen Logik müsste allerdings weiten Bereichen der klassischen politischen Theorie, insbesondere der politischen Ideengeschichte, der Status disziplinärer membership entzogen werden (Rehfeld 2010, S. 477). Dem gegenüber stehen Vorschläge für eine kritische theoretisch-methodische Profilschärfung der politischen Theorie. Angesichts der einseitigen Ausrichtung der US-amerikanischen Politikwissenschaft am Ziel der Produktion von „applicable, quantifiable, and marketable knowledge“ (Kaufman-Osborn 2010, S. 666) sind für einige Theoretiker sogar Ideen einer disziplinären Unabhängigkeit politischer Theorie, etwa als globalisierte „comparative canonical inquiry“ (Dienstag 2016) oder als unabhängige mongrel subdiscipline, die auf der Basis eines als radikal offen vorgestellten, interdisziplinären und methodisch pluralistisch ausgerichteten kritischen Diskurses stehe (KaufmanOsborn 2010), die sich inhaltlich und methodisch eigentlich aufdrängenden Alternativen. Die damit knapp skizzierte jüngste Grundsatzdebatte zum Selbstverständnis der US-amerikanischen politischen Theorie lässt sich einerseits als Re-Artikulation von Problemen und Positionen verstehen, die die Entwicklung der US-amerikanischen Politikwissenschaft von Beginn an begleitet und schon die Kontroversen der 1950erund 1960er-Jahre bestimmt haben (Gunnell 2015). Andererseits hat die Debatte aber auch neuere theoretische Strömungen aufgegriffen und neue Akzente gesetzt. Die verschiedenen kritischen, sich für ein eigenständiges methodisches Profil der politischen Theorie aussprechenden Stellungnahmen etwa orientieren sich zum Teil an poststrukturalistisch-genealogischen, zum Teil an kultur- und geisteswissenschaftlich orientierten oder philosophisch inspirierten Theorieverständnissen. Neben Versuchen, Konzepte der analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts (Steinberger 2015) bzw. solche der klassischen politischen Philosophie (Meckstroth 2012; Flyvbjerg et al. 2012) für die aktuelle Methodendebatte fruchtbar zu machen, knüpfen deren Vertreter vor allem an die Forderung eines interpretive turn der Politikwissenschaft an, wie sie etwa Charles Taylor (1985) schon zu Beginn der 1970er-Jahre formuliert hat. Die politische Theorie hat aus dieser Perspektive, aus der die politische Bedeutung von Sprache, kulturellen Selbstverständnissen und evaluativen Praktiken innerhalb des Deutungsrahmens umfassender social imaginaries (Gibbons 2006) sowie von performativ-habituellen Artikulationsformen politischer Praxis (Sigwart 2016) betont wird, neben der hermeneutisch-interpretativen Rekonstruktion auch die Aufgabe einer „immanenten Kritik“ von bestimmten Aspekten gesellschaftlicher Selbstverständnisse (Sabia 2010). Mit diesen Vorschlägen einer methodischen Profilschärfung der politischen Theorie verbinden sich zugleich Versuche ihrer engeren Verbindung mit der empirischen Forschung (Gunnell 2010; Fung 2007). In diesem Sinne einer Theorie und Empirie

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vermittelnden Position hat zum Beispiel Ian Shapiro (2005) für einen epistemologischen und methodischen Realismus in der politischen Theorie plädiert. Shapiro versteht darunter in erster Linie eine Perspektive, die systematisch versucht, der Relevanz bestimmter Sachprobleme gegenüber voraussetzungsreichen methodischen Vorannahmen Priorität einzuräumen. Auf der Grundlage einer Kritik sowohl interpretativer als auch quantitativ-formal ausgerichteter Ansätze, die beide jeweils bestimmte methodische Festlegungen priorisierten, argumentiert Shapiro für einen sachorientierten Methodenpluralismus, der Aspekte beider Ansätze zu vermitteln versucht. Diese methodologischen Überlegungen Shapiros lassen sich in einen größeren Diskussionszusammenhang einordnen, in dem seit einigen Jahren allgemein für eine Erneuerung des „Realismus“ als politisch-theoretische Grundposition argumentiert wird (Sleat 2018). Diese Strömung hat sich unter anderem aus einer neuen Welle der kritischen Auseinandersetzung mit dem rawlsianischen politischen Liberalismus entwickelt (Sleat 2018, S. 4 und 10). Während seit den 1980er-Jahren diese Kritik zunächst vor allem auf der Grundlage kommunitaristischer Konzeptionen und daneben besonders auch aus feministischer Perspektive (zusammenfassend Okin 2004) argumentierte, setzt sie seit einigen Jahren dezidiert „realistische“ Akzente. Hier zeigt sich exemplarisch, dass die Auseinandersetzung mit dem theoretischen Paradigma des politischen Liberalismus in der Nachfolge von Rawls zu den zentralen Fragestellungen auch in der aktuellen US-amerikanischen politischen Theorie gehört. Wie schon zu Beginn der breiten Rezeptionsgeschichte von Rawls’ Theory of Justice wird auch die aktuelle Diskussion um sein Werk kontrovers geführt und berührt nicht nur methodische Fragen, sondern auch zentrale Grundprobleme des politischen Selbstverständnisses der US-amerikanischen Demokratie.

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Über die Demokratie in Amerika im 20./21. Jahrhundert

Die Frage nach der Beziehung zwischen Liberalismus und Demokratie gehört traditionell zu den grundlegenden Themen der US-amerikanischen politisch-theoretischen Selbstverständigungsdebatte (Hartz 1951). Das Problem der Verhältnisbestimmung zwischen den individual- und grundrechtlichen bzw. den gerechtigkeitstheoretischen Anliegen des Liberalismus und den soziokulturellen und praktisch-politischen Grundlagen kollektiver demokratischer Selbstbestimmung stand schon in der Auseinandersetzung mit Rawls’ liberaler politischer Philosophie in den 1980er-Jahren im Zentrum der Aufmerksamkeit. Der Kommunitarismus machte gegen den Individualismus der liberalen politischen Philosophie, insbesondere auch gegen deren radikalindividualistische libertarianische Variante, wie sie unter anderem von Robert Nozick (1974) vertreten wurde, auf die Bedeutung der intersubjektiven Einbettung der sozialen, kulturellen und politischen Identität von Individuen aufmerksam (Sandel 1982). Der überzogene Individualismus der liberalen Theorie vernachlässige systematisch, so die kommunitaristische Kritik, die soziale Basis individueller Freiheit und demokratischer Politik in der gemeinsamen Praxis konkreter politischer communities (vgl. zusammenfassend Dagger 2009). Die politische Partizipation von Bürgerinnen und Bürgern und

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ihre Vorstellungen zur gerechten Verteilung unterschiedlicher gesellschaftlicher Güter und Lasten sei auf solche konkreten sozialen Handlungs- und Kommunikationszusammenhänge und auf die von ihnen bereitgestellten normativen Deutungshorizonte angewiesen (Walzer 1983; Taylor 1992). Die allzu universal ausgerichtete und daher allzu abstrakt bleibende Theorie des Liberalismus müsse diese dichten sozialen und kulturellen Kontexte von Politik ausblenden und könne daher lediglich eine dünne Form von Demokratie begründen, der eine tatsächlich partizipatorische starke Konzeption von Demokratie gegenüberzustellen sei (Barber 1984). Viele der Impulse, die von dieser kommunitaristischen Kritik ausgingen, wurden im liberalen Diskurs aufgegriffen und gehören seitdem zu den Grundfragen der politischen Theorie, wenn auch in sich wandelnder Form. Die Überlegungen der Kommunitaristen haben zum Beispiel das liberale Verständnis von Multikulturalismus (Kymlicka 1995), insbesondere aber auch die konzeptionelle Weiterentwicklung von Rawls’ eigener Theorie zur Konzeption eines politischen Liberalismus (1993) nachhaltig beeinflusst, wenngleich Rawls auch dort gegen die Vorstellung einer unmittelbaren Einbettung von Politik in die dichten moralischen Vorstellungen umfassender Lehren auf dem Faktum des Pluralismus von Wertvorstellungen in modernen Gesellschaften und daher auf die diesbezüglich weitgehende Neutralität öffentlicher politischer Vernunft besteht. In diesem Punkt in eine ähnliche Richtung argumentieren die verschiedenen Theorien deliberativer Demokratie, die versuchen, die Spannung zwischen gesellschaftlicher Diversität und gesellschaftlichem Konsens in der Konzeption einer aktiv beratenden politischen Öffentlichkeit und ihrer besonderen Kommunikationsformen konstruktiv auszudeuten (Habermas 1996; Cohen 2002; Fishkin 2009). Dieselbe Frage der Verhältnisbestimmung zwischen Individualität, Freiheit und Pluralität einerseits und den praktischen, kulturellen und moralischen Voraussetzungen von gesellschaftlicher Integration und demokratischer citizenship andererseits wird auch auf der Grundlage anerkennungstheoretischer Ansätze (Fraser und Honneth 2003), in neueren Konzeptionen öffentlicher Vernunft (Gaus 2012), im Zusammenhang einer Erneuerung eines neo-roman republicanism (Pettit 1997, 2012) sowie im Rahmen einer demokratietheoretisch reformulierten Kritik der problematischen Wirkungen modernen Individualismus (Urbinati 2015) diskutiert und weiter entwickelt. Die aktuelle Theoriedebatte spiegelt dabei auch die besonderen Herausforderungen, mit denen die amerikanische Gesellschaft in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts konfrontiert ist. Es sind vor allem drei einschneidende Ereignisse und die Frage nach ihren soziokulturellen Auswirkungen und Ursachen, die die US-amerikanische Demokratie und mit ihr die US-amerikanische politische Theorie seit dem Jahrtausendwechsel in besonderer Weise herausgefordert haben: der Angriff auf das World-Trade-Center am 11. September 2001, die Finanzkrise von 2008 und die Wahl Donald Trumps zum 45. Präsidenten der USA 2016. Die politiktheoretische Reaktion auf „9/11“ zeigt sich etwa in Versuchen der theoretischen Neubestimmung des Terrorismus (Cooper 2005; Held 2008), aber auch in einer steigenden Aufmerksamkeit für die Beziehung zwischen Politik und Religion. So wird zum Beispiel aus liberaler Perspektive die Frage untersucht, wie die

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Beziehung zwischen einer weltanschaulich neutralen öffentlichen Vernunft und bestimmten religiösen umfassenden Lehren, etwa der islamischen Religion, konkret vorgestellt werden kann (March 2009a) bzw. welche Pflichten der öffentlichen Rechtfertigung religiösen Überzeugungen abverlangt werden können (Brettschneider 2010). Daneben wird aber vor allem die Frage nach den religiösen Grundlagen der American Political Tradition selbst und nach den religiösen Unterströmungen im säkularen Selbstverständnis der westlichen Moderne insgesamt diskutiert (Gillespie 2008). Charles Taylor etwa macht in seinem Opus Magnum A Secular Age (2007) den Versuch, in einer groß angelegten ideengeschichtlichen Rekonstruktion des säkularen Zeitalters seit 1500 die eigentümliche Physiognomie von dessen religiösem Bewusstsein herauszuarbeiten. William Connolly (2008) schließlich wirft die klassische Frage Max Webers nach der Beziehung zwischen Christentum und Kapitalismus neu auf und macht sie zur Grundlage einer Kritik der religiös-ökonomischen resonance machine des amerikanischen Liberalismus. Connollys Studie steht damit auch stellvertretend für die Auseinandersetzung in der politischen Theorie mit den Problemen einer neoliberal dominierten kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die seit der Finanzkrise von 2008 das amerikanische Selbstverständnis ebenfalls vor grundlegende Herausforderungen stellt. Die Reaktionen auf diese Herausforderung reichen von Versuchen einer Weiterentwicklung der liberalen Kritik sozioökonomischer Ungleichheit (Green 2013) über kritische Analysen der strukturellen Schwäche liberaler Konzepte und Begründungen wohlfahrtsstaatlicher Institutionen (Klosko 2017) und umfassende ideologiekritische Auseinandersetzungen mit den demokratie-zerstörenden Auswirkungen des neoliberalen Ökonomismus (Brown 2015) bis zu historisch weit ausgreifenden Krisendiagnosen. Nancy Fraser (2013) etwa stellt die aktuelle Krise in Anlehnung an Karl Polanyis kritische Modernisierungstheorie in den historischen Zusammenhang eines triple movement der Moderne, auf dessen Grundlage sie eine prinzipielle Neubewertung der zentralen Bedeutung kritisch-emanzipatorischer Bewegungen als Korrektiv sowohl zu der ökonomischen Modernisierungsdynamik des Kapitalismus als auch zu dem umfassenden Ordnungs- und Regulierungsanspruch moderner Nationalstaaten vorschlägt. Die damit angesprochene Frage nach den politischen Aus- und Wechselwirkungen zwischen der vielfach diagnostizierten und kritisierten neoliberal-ökonomistischen Transformationsdynamik seit den 1980er-Jahren einerseits und den vielschichtigen, teils widersprüchlichen soziokulturellen Effekten der gesellschaftlichen Emanzipationsbewegungen seit den 1960er-Jahren andererseits spielt schließlich auch in der politiktheoretischen Reflexion des Phänomens Trump eine wichtige Rolle. Die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten und die sich darin manifestierende Bewegung des „Trumpism“ lassen sich dementsprechend sowohl als „the culmination of a longsimmering backlash against the social revolutions of the past half-century“ (Goldhammer 2016; vgl. auch Noris und Inglehart 2019, S. 32 ff.) als auch als „the irrational outcome“ einer „distinct and subsequent dialectic of neoliberal reason“ (Lebow 2019, S. 381) verstehen. Meist wird der Trumpismus dabei in den größeren Zusammenhang der internationalen Welle des (Wieder-)Erstarkens populistischer Bewegungen eingeordnet, die

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eine breite politisch-theoretische Auseinandersetzung mit dem Konzept des Populismus ausgelöst hat (vgl. exemplarisch Mudde und Rovira Kaltwasser 2017; Müller 2017). Ideengeschichtlich gehört der Begriff unmittelbar in den Kontext der US-amerikanischen politischen Tradition, konkret vor allem in den Entstehungszusammenhang der „Populist Party“ bzw. „People’s Party“ im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert (Kazin 1995, S. 35 ff.). Vor diesem Hintergrund lässt sich das Phänomen Trump als jüngste Variante eines in der US-amerikanischen Demokratie beständig wiederkehrenden Motivs begreifen und in eine Reihe mit (rechts)populistischen Politikerfiguren des 20. Jahrhunderts wie Huey P. Long, Robert McCarthy, George Wallace und Richard Nixon stellen (Winberg 2017). Trumps Präsidentschaft erscheint demnach als der vorläufige Kulminationspunkt einer populistischen Transformation und Radikalisierung des rechts-konservativen Lagers in den USA, die sich vor allem im Zuge des politischen Erfolgs der Tea-Party-Bewegung (Skocpol und Williamson 2016) und der parallel dazu verlaufenden Polarisierung des US-amerikanischen Mediendiskurses (Hemmer 2016) vollzog. Insgesamt gibt diese Entwicklung aus der Sicht vieler Beobachter Anlass zur ernsthaften Sorge und zu weitreichenden Krisendiagnosen, insbesondere was die Verfassung der politischkulturellen Fundamente der US-amerikanischen Demokratie betrifft (Levitsky und Ziblatt 2018). Einige Einschätzungen sehen den Trumpismus als „clear and present danger to civility and democracy“ (Birnbaum 2018) und machen in dessen rhetorisch-performativer Praxis gar Elemente eines „aspirational fascism“ aus (Conolly 2017). Der Trumpismus spiegelt somit einerseits typische Spannungen und Widersprüche der US-amerikanischen politischen Tradition wider. Andererseits zeigt sich aber auch hier wie in der aktuellen Debatte insgesamt, dass die zentralen soziopolitischen Herausforderungen der US-amerikanischen Gesellschaft und mit ihnen die drei Ereignisse, um die herum sie sich kristallisieren, nicht allein innerhalb des nationalen Referenzrahmens der US-amerikanischen Demokratie verstanden werden können. Auch in ihren Diagnosen und Lösungsversuchen der aktuellen politischen Krise sieht sich die US-amerikanische Selbstverständigungsdebatte und mit ihr die US-amerikanische politische Theorie von vorne herein in globale Ursachen-, Wirkungs- und Verweisungszusammenhänge gestellt.

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Fazit: Die Globalisierung der US-amerikanischen politischen Theorie

Ungeachtet der Vielfältigkeit der Probleme und Themen lässt sich insgesamt feststellen, dass die Möglichkeiten einer konzeptionellen und inhaltlichen Globalisierung der politischen Theorie in der US-amerikanischen Debatte besonders breit diskutiert werden. Das zeigt sich zum Beispiel in der Diskussion um eine kosmopolitische Demokratietheorie (Held 1995; Archibugi und Held 2011), in der zunehmend transnationalen Ausrichtung von Theorien der Öffentlichkeit, des Rechts und der deliberativen Demokratie (Habermas 2006, S. 113 ff.; Benhabib 2009; Sass und Dryzek 2014) und generell in der politisch-theoretischen Reflexion der zunehmen-

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den Globalisierung ökonomischer Prozesse, von Migrationsbewegungen und ökologischen Problemen (Goodin und Fishkin 2016). Besonders klar lässt sich die damit verbundene anhaltende Tendenz zur konzeptionellen Globalisierung an der Entwicklung des liberalen Mainstream in der politischen Theoriedebatte zeigen. Die Frage der Möglichkeiten einer Internationalisierung bzw. Globalisierung der liberalen Theorie und insbesondere die Frage nach den Grundlagen einer globalen Gerechtigkeitstheorie erfährt in den vergangenen Jahrzehnten eine stetig wachsende Aufmerksamkeit (vgl. den Überblick bei Chatterjee 2011). Den Anstoß zu der breit geführten und sich vielfach ausdifferenzierenden Debatte zum Problem globaler Gerechtigkeit gaben eine Reihe von Studien, die bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren versuchten, zentrale Konzepte von Rawls’ Theorie distributiver Gerechtigkeit auf die Probleme globaler sozialer Ungleichheit zu übertragen (Beitz 1979; Pogge 1989). Rawls selbst hat die Frage der Übertragbarkeit seiner politischen Philosophie auf die internationale Ebene vor allem in seinem Spätwerk The Law of Peoples thematisiert. Die dort entwickelte Konzeption des Rechten und der Gerechtigkeit hinsichtlich der „principles and norms of international law and practice“ (Rawls 1999, S. 3) hat allerdings gerade aus der Sicht vieler rawlsianisch argumentierender Theoretiker die Frage einer internationalen Theorie der Gerechtigkeit nur unbefriedigend beantwortet (Pogge 2002, S. 105 ff.). Vor allem der realistische und kosmopolitismuskritische Akzent von Rawls’ „Theorie der Völker“, der unter anderem den Bezug auf einen zwar völker- und menschenrechtstheoretisch eingebetteten und kritisch reflektierten, aber dennoch an einzelnen Nationalgesellschaften orientierten Souveränitätsbegriff impliziert (Rawls 1999, S. 23 ff.), wurde durch viele Vertreter einer anspruchsvolleren Vorstellung von kosmopolitisch fundierter globaler Gerechtigkeit kritisiert (Caney 2002). Die Diskussion bewegt sich seitdem im Spannungsfeld dieser beiden Pole eines gerechtigkeitstheoretischen Realismus auf der einen Seite und verschiedenen Varianten eines gerechtigkeitstheoretischen Kosmopolitismus auf der anderen Seite. Erstere verweisen auf die konstitutive Bedeutung einer staatlich fundierten gesellschaftlichen Grundstruktur inklusive ihrer politisch-kulturellen Grundlagen als des unverzichtbaren Rahmens einer anspruchsvollen Theorie distributiver Gerechtigkeit und betonen daher die prinzipiellen Unterschiede zwischen domestic und global theories of justice (Nagel 2005; Miller 2007). Letztere betonen hingegen die zentrale Rolle von Individuen als zentralem Bezugspunkt von Rechten und moralischen Verpflichtungen auch auf der internationalen Ebene und verknüpfen dieses Argument mit der Konzeption von internationaler Politik und Ökonomie als eines globalen Kooperations- und Handlungszusammenhangs (Cohen und Sabel 2009), in dem sich aus den weltweiten ökonomischen und sozialen Interdependenzen und gleichzeitigen Ungleichheiten unmittelbar gerechtigkeitstheoretische Forderungen und politische Verantwortlichkeiten ergäben. Die Kontroverse wird auch auf der methodischen Ebene ausgetragen (Meckled-Garcia 2008; Valentini 2011). Dabei geht es um dieselbe Frage, die uns schon in der Auseinandersetzung um die disziplinäre Rolle der politischen Theorie und in der daran anschließenden allgemeinen Methodendiskussion begegnet ist und die in ähnlicher Form bereits die Auseinandersetzung zwischen Rawls und seinen kommunitaristischen Kritikern in den 1980er-

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Jahren prägte: die Frage nämlich, ob und inwiefern die theoretische Begründung rechtlicher und moralischer Prinzipien auf einer praxis- und damit kontextabhängigen Grundlage oder aber auf einer von solchen konkreten Kontexten eher unabhängigen, prinzipiell universal gültigen Basis stehen. Insofern spiegelt sich also auch hier die zwischen universalem Anspruch und nationaler Einbettung oszillierende Denkbewegung der amerikanischen politischen Theorie wider. Konsequenterweise hat gerade eine sich global ausrichtende liberale Gerechtigkeitstheorie potenziell stets mit dem Vorwurf zu rechnen, die unzulässige Universalisierung eines lediglich partikular gültigen amerikanischen oder westlich-modernen Selbstverständnisses zu betreiben. Vor diesem Hintergrund stellt das aktuelle Projekt einer comparative political theory, das die Kontextgebundenheit jeder Form von theoretisch-begrifflicher Reflexion konsequent ernst nimmt, einen besonders vielversprechenden Versuch der Globalisierung der politisch-theoretischen Perspektive dar (March 2009b). In diesem theoretischen Projekt gehe es darum, so Fred Dallmayr, die politische Theorie für eine kultur- und zivilisationsvergleichende Perspektive und damit für einen „more genuine universalism“ zu öffnen (Dallmayr 2004, S. 253). An Stelle eines rein westlichen Monologes und entsprechender „hegemonic and imperialist modes of theorizing“ müsse die politische Theorie den interkulturellen Dialog unterschiedlicher, westlicher und nicht-westlicher Traditionen politischen Denkens fördern. Die unterschiedlichen epistemologischen und methodischen Positionen innerhalb der Debatte um einen solchen interkulturellen Theoriediskurs umfassen die ganze Bandbreite der aktuellen politischen Theorie. Sie reichen von Bezügen auf die philosophische Hermeneutik Heideggers und Gadamers (Dallmayr 2004, S. 250 ff.) und ihrer Verknüpfung mit nichtwestlichen Verständnissen von Hermeneutik (Godrej 2009) über kontextualistische (Simon 2019) und modernisierungstheoretische Ansätze (El Amine 2016) sowie Konzepte des interzivilisatorischen theoretischen Vergleichs im Anschluss an Eric Voegelin (Gebhardt 2008) bis hin zu liberalrawlsianischen (Cline 2013; March 2009a), realistischen (Freeden und Vincent 2013) und demokratietheoretischen Ansätzen (Williams und Warren 2014). Einig sind sich die Vertreter der verschiedenen Positionen unter anderem darin, dass eine global ausgreifende politische Theorie einer kritischen Reflexion ihrer wesentlichen Grundbegriffe bedarf, die auf einer sehr fundamentalen Ebene ansetzen und etwa auch kanonisierte Kategorien der ideengeschichtlichen Interpretation westlichen und nicht-westlichen politischen Denkens infrage stellen muss (Hassanzadeh 2015), ohne dabei allerdings selbst zu einer vereinfachenden Kontrastierung „der“ westlichen mit nicht-westlichen Perspektiven zu führen (Idris 2016). Jenseits der Begriffe von Demokratie, Liberalismus und Gerechtigkeit müsse in einer interkulturelldialogisch ausgerichteten politischen Theorie daher auch die grundlegendere Frage diskutiert werden, welche unterschiedlichen oder vielleicht auch ähnlichen Verständnisse „des Politischen“ überhaupt „in the background of particular cultural and historical contexts“ (Williams und Warren 2014, S. 46) impliziert sind. Diese für die politische Theorie insgesamt konstitutive Grundfrage nach dem Begriff des Politischen spielt auch in anderen aktuellen Diskussionszusammenhängen eine

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Rolle. Sie könnte eine Richtung anzeigen, in der eine breitere Debatte in der US-amerikanischen politischen Theorie für die Zukunft zu erwarten ist.

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Neoliberalismus Politische Ideologie von Reagan zu Trump Thomas Biebricher

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Was ist Neoliberalismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Politische Neoliberalisierungsprozesse von Reagan bis Bush II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Finanzkrise und ‚Obamanomics‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Die Trump-Administration – ‚America First‘ und das vermeintliche Ende des Neoliberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

Zusammenfassung

Ausgehend von einer Erörterung der historischen Ursprünge und theoretischen Grundlagen des Neoliberalismus analysiert der vorliegende Beitrag zunächst die Neoliberalisierungsprozesse der US-amerikanischen Gesellschaft von der Reagan-Ära bis zum Vorabend der Finanzkrise 2008. Auf dieser Grundlage wird zunächst diskutiert, inwiefern sich die Finanzkrise auch als Krise des Neoliberalismus verstehen lässt und ob es zu entsprechenden politischen Reformen als Reaktion auf diese Krise gekommen ist. Im abschließenden Teil werden die wirtschaftspolitischen Maßnahmen und Reformen der Trump-Regierung beleuchtet, um zu klären, inwieweit es sich hierbei tatsächlich um eine Abkehr von neoliberaler Politik im Namen eines ökonomischen Nationalismus und politischen Populismus handelt. Schlüsselwörter

Neoliberalismus · Reagan · Clinton · Finanzkrise · Trump · Wirtschaftspolitik · Trumponomics T. Biebricher (*) Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_38

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Einleitung „You never want a serious crisis to go to waste“ (Rahm Emanuel)

Das Zitat im Motto wird gemeinhin Rahm Emanuel zugeschrieben, der damit das Gestaltungspotenzial umrissen hat, das Krisen in sich tragen können: „The crisis provides the opportunity for us to do things that you could not do before“ (Emanuel zitiert in Wall Street Journal online 21.11.2008). Es waren die turbulenten Wochen nach dem Ausbruch der Finanzkrise infolge des Zusammenbruchs der Lehmann Brothers Bank; eine bis dahin wirtschaftsliberal agierende Bush-Administration hatte gerade eine Reihe von großen Investmentbanken zwangsverstaatlicht. Vor dem Hintergrund dieses eher ungewöhnlichen Vorgangs ist auch Emanuels Kriseninterpretation zu verstehen: Mit dem Ausnahmezustand eröffneten sich völlig neue politische Handlungsspielräume. Doch im Rückblick ist festzustellen, dass sich diese Einschätzung nicht als zutreffend erwiesen hat. Jedenfalls ließen sich keine fundamentalen Veränderungen in der Gesamtausrichtung der US-amerikanischen Wirtschaftspolitik verzeichnen und selbst mit Blick auf den Finanzsektor, dessen Fehlentwicklungen als wichtiger Ausgangspunkt der Krise gelten, hielten sich die Reformen in überschaubaren Grenzen. Überwogen also nach der Zeit der akuten Krisenpolitik die wirtschaftspolitischen Kontinuitäten in den USA, so wirft das die zugrunde liegende Frage auf, welche wirtschaftspolitischen Vorstellungen und Praktiken das US-amerikanische Wirtschaftsmodell prägen und inwiefern sich diese als neoliberal charakterisieren lassen. In einem ersten Schritt werde ich daher die Ursprünge des neoliberalen Denkens um die Mitte des vorigen Jahrhunderts skizzieren und herausarbeiten, welche Ideen bzw. Denker aus diesem Entstehungszusammenhang für den US-amerikanischen Kontext besondere Bedeutung erlangten. Im zweiten Schritt werden die Neoliberalisierungsprozesse in den USA seit Beginn der 1980er-Jahre nachgezeichnet, um hier die Akteure und Dynamiken zu identifizieren, aber auch um die Inkongruenzen darzustellen, die trotz aller bestehender Übereinstimmungen das Verhältnis zwischen neoliberalem Denken und dem Neoliberalismus als realpolitischem Projekt kennzeichnen. Auf dieser Grundlage werden im dritten Abschnitt die Finanzkrise sowie ihre (ausgebliebenen) Auswirkungen analysiert, wobei auch die wirtschaftspolitische Ausrichtung der Obama-Administration thematisiert wird. Abschließend steht die Wirtschaftspolitik der Trump-Administration im Mittelpunkt. Ihr wird immer wieder eine Abkehr von den Rezepten neoliberaler Wirtschaftspolitik attestiert; zu klären sein wird dementsprechend, ob hier tatsächlich eine wie auch immer geartete Neuausrichtung des amerikanischen Wirtschaftsmodells zu verzeichnen ist und inwiefern es sich hierbei um einen Richtungswechsel weg von den neoliberalen Grundparametern handelt.

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Was ist Neoliberalismus?

Das neoliberale Denken entstand Mitte des 20. Jahrhunderts als Reaktion auf die Krise des ‚klassischen‘ Liberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts. Es gibt keinen ‚Ursprung‘ des Neoliberalismus, sondern diverse, zunächst weitgehend

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unverbundene Entstehungskontexte von Wien, über Freiburg und London bis nach Chicago, wobei die Chicago School mit ihren Repräsentanten Gary Becker, Milton Friedman und Eugene Fama im Folgenden im Mittelpunkt stehen wird. 1 Der Begriff des Neoliberalismus findet sich erstmals in den Protokollen des sogenannten Colloque Walter Lippmann, das anlässlich der Veröffentlichung von Lippmanns Buch The Good Society 1938 in Paris stattfand (vgl. Audier und Reinhoudt 2019). Für die Teilnehmer, zu denen auch die Vertreter der österreichischen Schule F.A. Hayek und Ludwig von Mises sowie die deutschen Ordoliberalen Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow gehörten, ist der Neoliberalismus ein Projekt, das auf die offenkundige Krise des Liberalismus im Zeichen von Weltwirtschaftskrise, aufkommendem Keynesianismus, Kommunismus und Faschismus mit einer Doppelbewegung zu reagieren versucht: Das Ziel ist die Revitalisierung liberaler Ideen gegen den illiberalen Zeitgeist. Doch dies setzt nach Meinung der Teilnehmer den vorbereitenden Schritt einer kritischen Revision der liberalen Agenda voraus: Will sich der (Neo-)liberalismus behaupten, so erfordere dies eine tatsächliche Erneuerung und nicht nur eine restaurative Rückkehr zu den Grundsätzen Adam Smiths – inklusive der Abkehr von schädlichen Vereinfachungen wie der Formel vom ‚Laissez-Faire‘(vgl. Hayek 1992, S. 237–238). Doch die Kombination von Revitalisierung und Revision lieferte dem neoliberalen Denken nie eine eindeutige Doktrin, sondern allenfalls eine einheitliche Problematik, die sich auf die Bedingungen der Möglichkeit funktionierender Märkte bezieht (vgl. Biebricher 2019, S. 25–28). Die sich daraus ergebenden internen Heterogenitäten durchziehen bis heute den Diskurs des Neoliberalismus. Für den vorliegenden Fragekontext ist allerdings weniger eine spezifische inhaltliche Strömung dieser heterogenen Variationen des Neoliberalismus relevant, als vielmehr der US-amerikanische Neoliberalismus-Diskurs insgesamt, der hier mit Verweis auf die vier wichtigsten Protagonisten skizziert werden soll, nämlich Milton Friedman, Gary Becker, Eugene Fama und James Buchanan. Der gemeinsame Ausgangspunkt von Buchanan und Becker liegt in der Figur des Homo Oeconomicus, d. h. der Modellierung von Akteuren als rational und eigeninteressiert. Das Innovationspotenzial in Buchanans Ansatz liegt in der Übertragung dieses Modells von der Ökonomie auf die Politik. Demnach trifft auch auf Politiker und Verwaltungsbeamte die Annahme des rationalen Selbstinteresses zu, was für Public Choice Theoretiker zumeist als Präferenz für Machterhalt bzw. -zuwachs gedeutet wird und für Politiker unter demokratischen Bedingungen ein zentrales Interesse an der eigenen (Wieder)Wahl impliziert. Buchanan ist zudem der Meinung, dass sich nicht nur Akteure, sondern auch Prozesse in der Politik nach wirtschaftlichem Muster analysieren lassen, nämlich als Tauschprozesse, die in Form von Kompromissen strategische Allianzen zwischen Politikern ermöglichen. Dies geschieht allerdings zu Lasten der (steuerpflichtigen) Gesamtbevölkerung, da diese

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Vgl. zum folgenden auch Thomas Biebricher, The Political Theory of Neoliberalism (Stanford: Stanford University Press, 2019).

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die Kosten tragen müsse. Daher fordert der Buchanansche Ansatz die Einführung juridischer Normen, um das politische Handeln dieser nutzenmaximierenden Akteure in effiziente und damit letztlich auch gemeinwohlfördernde Bahnen zu lenken (Buchanan 1984). Prominentestes Beispiel einer solchen Norm ist die Schuldenbremse oder ‚Balanced-Budget-Amendments‘, die verhindern sollen, dass die aktuellen Kosten, die möglicherweise auch bestimmten Wiederwahlinteressen förderlich sind, zukünftigen Generationen aufgebürdet werden (Buchanan und Wagner 1977). In gewisser Weise radikalisiert Gary Becker in seinem Humankapital-Ansatz diese Annahmen der rationalen Nutzenmaximierung: nicht nur das Handeln in Wirtschaft oder Politik, sondern in allen gesellschaftlichen Sphären und Kontexten ist nach den Maßgaben des Homo Oeconomicus interpretierbar (Becker 1982). Folgt man dieser These, so ergeben sich daraus vielfältige Schlussfolgerungen, wie mit derart modellierten Akteuren von politischer Seite umzugehen ist. Wie bringt man Humankapitaleigner – also die arbeitsfähige Bevölkerung – dazu, durch Schul- und Hochschulbildung oder auch berufliche Weiterbildungsmaßnahmen optimal in ihre ‚Kapitalausstattung‘ an Wissen und Fertigkeiten zu investieren (Becker 1993)? Wie steuert man dem demografischen Wandel entgegen und erhöht die Geburtenquote? Und wie reduziert man Kriminalitätsraten in sozialen Brennpunkten? Folgt man Becker, so lautet die Antwort in all diesen und vielen anderen Fällen, die Akteure als rational nutzenmaximierend zu betrachten, d. h. sie sind im Prinzip durch ein geschickt kalibriertes Instrumentarium an Anreizen und Abschreckungen steuerbar. Beckers Ansatz legt zwei Schlussfolgerungen nahe. Erstens gibt es zumindest auf der Seite des Beobachters keinerlei Differenzierung zwischen ökonomischen und nicht-ökonomischen Kontexten, und in dem Maß, in dem Individuen auch in letzteren auf ihr ökonomisches Kalkül hin adressiert werden, verallgemeinern sich Markt, Ökonomie und Homo Oeconomicus zu Elementen eines allumfassenden Vergesellschaftungsmodus. Zweitens ist die Kehrseite des aus allen kollektiven Verantwortlichkeiten in die Freiheit entlassenen Homo Oeconomicus die uneingeschränkte individuelle Verantwortung, die sich auf die eigenen Leistungen aber ebenso auf das eigene Scheitern erstreckt. Mit den Ideengebern Friedman und Fama lässt sich der intellektuelle Diskurs des Neoliberalismus nun zeithistorisch in die Entwicklung des real existierenden Neoliberalismus in den USA einbetten. Insbesondere das Denken Milton Friedmans ist untrennbar mit Beginn dieses realpolitischen Projekts verbunden. Friedman wurde bekannt durch seine Kritik am Keynesianismus und dessen Interpretation der Weltwirtschaftskrise. Keynes hatte die Krise als Nachfragekrise interpretiert und gefolgert, dass der Staat in bestimmten Situationen durch öffentliche Investitionen, Geldund Fiskalpolitik die Konjunktur ankurbeln müsse, da ansonsten die Wirtschaft zu kontinuierlicher Stagnation tendiere. Friedman versuchte dagegen nachzuweisen, dass staatliche Nachfragepolitik allenfalls kurzfristig Beschäftigungseffekte zeitigt, mittel- und langfristig jedoch verpufft und darüber hinaus durch sogenannte LohnPreis-Spiralen zu Inflation führe. In der Folge baute Friedman diese Kritik zu einem umfassenden Gegenentwurf zum Keynesianismus aus, der zu einem zentralen Baustein neoliberaler Politik wurde, dem Monetarismus. Monetaristische Wirtschafts-

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politik bedeutet in erster Linie, dass der Staat von konjunkturpolitischen Aktivitäten abzusehen hat und sich dadurch de facto aus weiten Teilen der Wirtschaftspolitik zurückziehen muss. Als policy-Instrument verbleibt allein die Geldpolitik, die selbst entpolitisiert ist, da die Kernforderung des Monetarismus darin besteht, die Geldmenge moderat und stetig wachsen zu lassen: Im Idealfall verbleibt so keinerlei diskretionärer Handlungsspielraum, weder für Politiker noch für Zentralbanker: „To paraphrase Clemenceau, money is much too serious a matter to be left to Central Bankers“ (Friedman 1962, S. 51). Mit Famas Ansatz verbindet sich zuletzt die jüngste Entwicklungsphase des Neoliberalismus vor dem Ausbrechen der Krise. Famas Forschungen beziehen sich vor allem auf Kapitalmärkte und kreisen schon seit den frühen 1970er-Jahren um die sogenannte Efficient Market Hypothesis (EMH): „I take the market efficiency hypothesis to be the simple statement that security prices fully reflect all available information“ (Fama 1991, S. 1575). Zwar ist zwischen Fama und seinen Kritikern umstritten, ob es sich bei dieser Aussage um eine oder mehrere miteinander verknüpfte Thesen handelt, doch zumindest bis zum Ausbrechen der Finanzkrise wurde eine der Hauptimplikationen selten in Frage gestellt: Wenn Kapitalmärkte, d. h. Finanzmärkte derart leistungsfähige Informationsprozessoren sind, die jede verfügbare und relevante Information in den Preisverhältnissen abzubilden vermögen, dann sind sie eher als staatliche Behörden oder private Agenturen in der Lage, als Regulationsinstanz für alle anderen Märkte – und gewissermaßen auch für sich selbst zu fungieren. Und auch wenn diese Maximalvision deregulierter Märkte unter Aufsicht der Finanzmärkte oftmals mehr Ideologie als Realität geblieben sind – nicht zuletzt weil Deregulierung in vielen Fällen Formen der Reregulierung durch alternative Instrumente oder auf anderen Ebenen nach sich zieht – liefert Fama mit seiner These die normativ-funktionale Rechtfertigung für die zunehmende Dominanz der Finanzmärkte seit den 1990er-Jahren.

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Politische Neoliberalisierungsprozesse von Reagan bis Bush II

Obwohl schon die Carter-Administration mit Austeritäts- und Deregulierungsmaßnahmen experimentiert hatte, begann der Versuch einer realpolitischen Umsetzung neoliberaler Ideen mit der Präsidentschaft Ronald Reagans. Im Rahmen seiner acht Amtsjahre zeigt sich sehr deutlich, wie selektiv auf das neoliberale Ideenrepertoire zurückgegriffen wurde, und welche Spannungen das Verhältnis zwischen neoliberaler Theorie und Praxis durchziehen. Die wichtigsten Maßnahmen fallen in die erste Amtszeit Reagans 1980–84. Die USA litten zu jener Zeit unter dem Problem der Stagflation, also dem aus keynesianischer Perspektive nur schwer zu erklärenden Zusammentreffen von wirtschaftlicher Stagnation bei gleichzeitiger Inflation. Die Strategie der Regierung bei der Bekämpfung des Phänomens der Stagflation beinhaltete zunächst zwei weitreichende Maßnahmen, die mit einem Paukenschlag die ‚Reagan Revolution‘ ins Rollen brachten: massive Einsparungen im Staatshaushalt, vor allem im sozialstaatlichen Bereich wie etwa dem staatlichen Wohnungsbau oder

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Essensmarkenprogrammen für Bedürftige einerseits (Pierson 1994; Borchert 1995) und massive Steuersenkungen im Rahmen des Economic Recovery Tax Act (ERTA) andererseits, die der Stimulierung der Wirtschaft dienen sollten. Hier zeigt sich, wie eng der US-amerikanische Neoliberalismus verknüpft ist mit den sogenannten supply side economics, die in der Konjunkturpolitik vor allem auf Investitionsanreize setzen, welche von Steuererleichterungen und Deregulierungsmaßnahmen ausgehen. Berühmt-berüchtigt ist die sogenannte Laffer-Kurve, benannt nach dem Ökonomen Arthur Laffer, wonach sich Steuersenkungen durch die zusätzlichen wirtschaftlichen Aktivitäten letztendlich selbst finanzierten. Nun ist schon diese These äußerst umstritten – Reagans damaliger Vorwahl-Kontrahent und späterer Vize-Präsident Bush sprach von ‚Voodoo Economics‘. Von daher besteht zumindest eine gewisse Spannung zwischen einer konsequenten Angebotspolitik und dem neoliberalen Gebot der Haushaltsdisziplin wie es von Buchanan und vielen anderen vertreten wird, denn Steuersenkungen reißen durch Einnahmeausfälle zunächst einmal Löcher in das Budget. In massivem Widerspruch zu allen neoliberalen Geboten stand aber ohne Zweifel das dritte Kernelement der Reaganschen Wirtschaftspolitik: die beispiellose Ausweitung der Rüstungsausgaben, die amerikanischen Rüstungskonzernen gewaltige Profite bescherte und entgegen aller neoliberalen Prinzipien auch als steuerfinanzierte Subvention oder gar als Staatsnachfrage nach keynesianischem Vorbild verstanden werden konnte. Kommentatoren vermerkten entsprechend sarkastisch, dass der welfare Keynesianism früherer Jahre durch einen warfare Keynesianism ersetzt worden sei (Whiteley 1989, S. 62). Flankiert wurden diese Maßnahmen von einer Geldpolitik der Federal Reserve Bank unter Paul Volcker, die zumindest bis 1982 die monetaristischen Ideen Friedmans beinahe buchstabengetreu umsetzte. Mit dem sogenannten ‚Volcker-Schock‘ wurde die Geldmenge rigoros verknappt. Über entsprechend hohe Zinsen wurde einerseits die Inflation erfolgreich gesenkt, andererseits zog die monetaristische Rosskur aber eine massive Rezession 1981/82 nach sich, von der sich der Industriestandort USA (außerhalb des Rüstungssektors) nie wieder erholen sollte. Damit einher ging ein weiterer Bedeutungsverlust der ohnehin im internationalen Vergleich eher schwachen Gewerkschaften. Diese Reformen führten zu einem wirtschaftlichen Aufschwung, der allerdings zu einem hohen Preis erkauft wurde: der massiven Ausweitung sozialer und ökonomischer Ungleichheit sowie dramatisch steigenden Armutsraten bei gleichzeitiger massiver Erhöhung der Staatsschulden. Die zweite Welle neoliberaler Reformen fällt in die Amtszeit Bill Clintons. Begünstigt vom Boom der Internetbranche aber auch getragen von einer konsequenten Sparpolitik gelang der Clinton-Administration der Abbau der Reaganschen Erblast an Staatsschulden um über 500 Milliarden US-Dollar (USD) innerhalb von nur fünf Jahren. Für 1998 konnte Clinton sogar einen ausgeglichenen Haushalt verkünden. Im Wahlkampf hatte er noch umfassende Investitionen in die Sozialsysteme und Infrastruktur in Aussicht gestellt, doch nach seiner Wahl verwiesen seine Wirtschaftsberater wie auch der damalige Notenbankchef Alan Greenspan nachdrücklich auf den schon Anfang der 1990er-Jahre beträchtlichen Einfluss der Finanzmärkte. Bei unveränderter Haushaltslage würden die Risikoaufschläge auf Staatsanleihen innerhalb kurzer Zeit rapide ansteigen, was auch negative Auswirkungen auf

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die Privatwirtschaft haben würde.2 Der Sparkurs wurde also eingeschlagen, um die Finanzmärkte zu beruhigen – ein Zusammenhang, der aus der aktuellen europäischen Schuldenkrise nur zu vertraut ist. Im Gegensatz zu dieser fiskalischen Konsolidierung, die sich innerhalb weniger Jahre unter Präsident George W. Bush in ein abermals dramatisches Defizit verwandeln sollte, hatten zwei andere neoliberale Reformpakete weitaus nachhaltigere Auswirkungen: Zunächst die Transformation des bundesstaatlichen Armenfürsorgeprogramms Aid to Families with Dependent Children (AFDC) in ein einzelstaatlich verwaltetes Programm. Der sogenannte Personal Responsibility and Work Opportunity Reconciliation Act (PRWORA) diente in der Folge als Vorbild aller ‚Welfare to Work‘-Maßnahmen bis hin zu den deutschen Hartz-Gesetzen. Allerdings ist die Reform bis heute umstritten. Zwar reduzierte sich die Zahl von Sozialhilfeempfängern unter guten ökonomischen Bedingungen je nach Bundesstaat teils beträchtlich, doch bedeutete dies in vielen Fällen nur, dass Arbeitslose – darunter auch viele alleinerziehende Mütter – von staatlicher Seite in den beständig wachsenden Niedriglohnsektor des Arbeitsmarktes gedrängt wurden, in dem sie teilweise so wenig verdienten, dass sie letztendlich doch wieder staatliche Hilfe in Anspruch nehmen mussten (Biebricher 2018, S. 128–130). Die zweite hier zu erwähnende Reforminitiative gilt retrospektiv sogar manchen neoliberalen Beobachtern als eine Ursache für die Finanzkrise von 2008 (z. B. Posner 2009, S. 243). Es handelt sich um den Financial Services Act von 1999 der – neben diversen weiteren Deregulierungsmaßnahmen im Finanzsektor – die Aufhebung des im Glass-Steagall Act von 1933 festgeschriebenen Trennbankensystems beinhaltete. Galt für die vom Börsencrash 1929 und der darauffolgenden Weltwirtschaftskrise geprägten Sponsoren des damaligen Gesetzes noch der Grundsatz „Banking should be boring“, so verkehrte sich diese Maxime in den USA spätestens mit der Reform von 1999 in ihr Gegenteil. Der damalige Berater Clintons und spätere Weltbankchef Joe Stiglitz beschreibt die Stimmung folgendermaßen: „Die Deregulierung im Telekommunikationssektor [Mitte der 1990er-Jahre, T.B.] entfesselte einen Goldrausch; und die Deregulierung im Bankenwesen sorgte dafür, dass der Goldrausch außer Kontrolle geriet“ (Stiglitz 2003, S. 115). Die Präsidentschaft George W. Bushs war von Beginn an von Krisen geprägt. Schon seine Wahl zum Präsidenten selbst schwor eine wochenlange Verfassungskrise herauf, die letztlich zugunsten Bushs beendet wurde. Das Land kämpfte bereits bei seinem Amtsantritt mit einer wirtschaftlichen Rezession als Folge der geplatzten New Economy-Blase und wurde nur kurze Zeit später durch die Anschläge des 11. September 2001 in eine massive politische und ökonomische Krise gestürzt, die auch weitere Puzzlestücke zur Rekonstruktion der Ursachen der aktuellen Finanzkrise enthält. Denn eine entscheidende wirtschaftspolitische Reaktion bestand in einer konsequenten Notenbankenpolitik des billigen Geldes, die eine drohende

Berühmt wurde Clintons Reaktion auf die Eröffnung seiner Berater: „You mean to tell me that the success of the [economic] program and my re-election hinges on the Federal Reserve and a bunch of fucking bond traders?“

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Rezession verhindern sollte. Das von der Notenbank beinahe zinslos bereitgestellte Kapital floss jedoch zusehends auch in die riskanten Immobilien- und Wertpapiergeschäfte, die letztlich Jahre später die Finanzkrise auslösten. Darüber hinaus reagierte die Bush-Regierung auf die Terrorakte bekanntlich zunächst mit einem Vergeltungsschlag gegen Afghanistan, auf den eine militärische Intervention folgte, deren Ende sich erst in allerjüngster Vergangenheit abzuzeichnen beginnt. 2003 wurde unter Vorspiegelung falscher Tatsachen gegenüber der internationalen Gemeinschaft und der US-amerikanischen Bevölkerung der Irak angegriffen und besetzt. Die auf mehrere Billionen US-Dollar geschätzten Kosten, die allein der Irak-Krieg verursachte (Stiglitz und Bilmes 2010), wurden nicht durch höhere Einnahmen finanziert. Ganz im Gegenteil: Um einer drohenden Rezession nach 9/11 entgegenzuwirken, verabschiedete die Regierung 2001 und 2003 umfassende Steuersenkungen und griff damit abermals zum Allheilmittel der Angebotspolitik, was wie schon unter der Reagan Administration zu explodierenden Haushaltsdefiziten führte. Ohne diesen über ein Jahrzehnt angehäuften Schuldensockel hätten selbst die direkten und indirekten Kosten der Krise seit 2008 wohl kaum zu einer Herabstufung der Kreditwürdigkeit der USA geführt, wie sie erstmals 2011 von einigen Ratingagenturen vorgenommen wurde. Auch Forderungen nach einer rigorosen Ausgabensenkung hätten leichter abgeschmettert werden können.

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Finanzkrise und ‚Obamanomics‘

Wenn auch zu Beginn der Finanzkrise vor allem bei seinen Kritikern die Einschätzung überwog, dass mit den Banken auch der Neoliberalismus in eine Krise geraten sei, so muss man aus heutiger Sicht feststellen, dass dies eine vorschnelle Einschätzung war – zumindest scheint der Neoliberalismus die Krise weitgehend unbeschadet überstanden zu haben, obwohl durchaus manche seiner zentralen Elemente durch die Krise in Frage gestellt zu sein schienen. Dabei lassen sich drei miteinander verknüpfte Elemente hervorheben, von denen anzunehmen wäre, dass die Finanzkrise auch ihre Plausibilität in Frage stellen würde. Auf der theoretischen Ebene sind es die Ideen von Fama und Becker, deren Erklärungskraft zumindest zu Beginn der Krise massiv angezweifelt wurde. Wie oben skizziert, suggeriert Famas EMH zumindest, dass es so etwas wie ‚self-regulating markets‘ im Finanzsektor geben könne. Wie viele andere Elemente des zeitgenössischen neoliberalen Denkens beruht auch diese These auf den Annahmen der Rationalität von Akteuren und steht damit in einer internen Verbindung zu den Vorstellungen, die insbesondere von Gary Becker vertreten werden. Für viele Kommentatoren der ersten Stunde waren damit die intellektuell Hauptverantwortlichen für die Krise schnell identifiziert. Märkte waren entgegen der optimistischen Annahmen über ihre Selbstregulierung außer Kontrolle geraten, die drohende Krise hatte sich weder für Laien noch für die allermeisten Ökonomen an irgendwelchen Preissignalen dieser Märkte ablesen lassen und von rationalen Akteuren konnte im Rückblick keine Rede sein. Vielmehr dominierten Herdeninstinkte, die mit dem Modell des hochindividualisierten Homo Oeconomicus inkompatibel zu sein schienen. Mit dieser Desavouierung der schein-

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bar überlegenen Logik von Finanzmärkten und dem Nachweis der nur bedingten Rationalität ihrer Akteure musste aber eigentlich mit Blick auf die neoliberale Praxis auch das spätestens seit Anfang der 1990er-Jahre dominante Akkumulationsregime eines auf die Finanzmärkte ausgerichteten Kapitalismus auf den Prüfstand gestellt werden. Schließlich vollzog sich der Aufstieg des Finanzmarktkapitalismus als Bestandteil eines zeitgenössischen Neoliberalismus nicht nur aufgrund bestimmter Interessenkonstellationen, sondern auch gestützt auf entsprechende Vorstellungen, die von Ökonomen wie Fama oder Becker im Brustton wissenschaftlich verbriefter Überzeugung vertreten wurden. Doch im Hinblick auf Famas EMH muss festgestellt werden, dass ihr wissenschaftlicher Status von der Krise weitgehend unerschüttert blieb. Jedenfalls ist sie heute nicht umstrittener als sie es auch schon vorher unter Experten war (vgl. Mirowski 2013). Ein ernüchternder Befund, der durch die bemerkenswerte Entscheidung illustriert wurde, Eugene Fama 2013 den Nobel-Gedächtnispreis der Wirtschaftswissenschaften zu verleihen. Zwar wurde hinsichtlich des Verhaltensmodells des Homo Oeconomicus eingeräumt, dass die damit verbundenen Rationalitätsannahmen überzogen waren und stattdessen stärker auf die Forschungen der Behavioral Economics verwiesen (vgl. Shiller und Akerlof 2010), doch wurde nicht in Frage gestellt, dass Individuen durch klug gesetzte Anreize effizient regiert werden können, worin die eigentliche Kernaussage von Beckers Forschung zum Homo Oeconomicus besteht. Es ging letztlich nur um eine Verfeinerung der Regierungstechnologien, um einen Begriff Michel Foucaults zu verwenden, die die systematischen Verhaltensirrationalitäten der Akteure mit einkalkulierten. Es bleibt der Blick auf die Finanzmarktreformen in Reaktion auf die Krise. Zwar wurde 2010 nach langem Ringen der sogenannte Dodd-Frank Wall Street Reform and Consumer Protection Act vom Kongress verabschiedet. Doch obwohl er einige ernst zu nehmende Reregulierungsmaßnahmen wie etwa die sogenannte VolckerRule (Rückkehr zum Trennbankensytem) beinhaltet, wurde der Wirkungsgrad des Reformpaketes insgesamt von vielen Kommentatoren als eher niedrig veranschlagt (Skeel 2010), was an seinen moderaten Reformambitionen lag, aber auch der Unterfinanzierung vieler der im Gesetz erhaltenen Maßnahmen, für die ein republikanisch dominierter Kongress verantwortlich war. Gab es abgesehen von der Politik des Krisenmanagements und den Finanzmarktreformen unter der Obama-Administration Anzeichen für eine grundsätzliche Kurskorrektur des amerikanischen Wachstumsmodells? Von einer solchen Neuorientierung konnte allenfalls sehr bedingt die Rede sein, denkt man etwa an den Fracking-Boom, der in den Obama-Jahren begann und durchaus als Beitrag zur Stärkung des Industriestandorts USA verstanden werden konnte. Doch ein wichtiger Teil der ObamaKoalition, die seine Wiederwahl 2012 ermöglichte, war nach wie vor die Wall-Street und Silicon-Valley Lobby. Vor diesem Hintergrund war nicht zu erwarten, dass es in der zweiten Amtszeit zum Versuch kommen würde, das Verhältnis von Industrie-, Finanz- und Digitalkapitalismus neu auszutarieren. Diese war stattdessen geprägt von einer Kehrtwende gegenüber den Konjunkturprogrammen, die noch in der ersten Amtszeit in quasi-keynesianischer Art und

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Weise gegen die negativen Auswirkungen der ‚Großen Rezession‘ in Stellung gebracht worden waren. Auch unter dem Druck einer Republikanischen Partei, die 2010 die Mehrheit Repräsentantenhaus erobert hatte und, angetrieben vom Radikalismus der Tea Party, sich der Fundamentalopposition verschrieben hatte, schwenkte die Obama-Regierung auf einen Kurs der finanzpolitischen Austerität um – nachdem es 2013 zu einem Showdown über die Anhebung der Schuldenobergrenze gekommen war, der in einem kurzzeitigen Shutdown der Administration mündete. Das Resultat war eine Sparpolitik der öffentlichen Hand, die besonders die substaatlichen Regierungsstellen belastete (vgl. Peck 2013), die sich aber auch zur Freude der haushaltspolitischen Hardliner im Geiste eines James Buchanan an Defiziten ablesen ließ, die immerhin in den letzten beiden Jahren der Obama-Regierung nur noch bei vergleichsweise niedrigen 3 Prozent lagen. Wie fällt also die abschließende Bilanz dessen aus, was in der Literatur bisweilen als ‚Obamanomics‘ bezeichnet wird? Zu Beginn seiner ersten Amtszeit wurde damit noch die Hoffnung auf eine kategoriale Abkehr von der (neo-)liberalen Vorstellung der ‚Trickle-Down-Economics‘ und einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik verstanden (vgl. Talbott 2008). Doch auch wenn die Obama-Regierung im Zuge des Krisenmanagement zu keynesianisch anmutenden Konjunkturspritzen griff und die daraus und der Krise selbst resultierenden Mehrausgaben und Mindereinnahmen etwa von alten Bekannten wie Arthur Laffer genutzt wurden, um gemeinsam mit Stephen Moore, auf den noch zurückzukommen ist, ‚Obamanomics‘ angesichts der weiter andauernden Wirtschaftsmisere für tot zu erklären (Moore und Laffer 2018b), kann diese Kritik an einer vermeintlich zu freigiebigen Finanzpolitik nicht wirklich überzeugen, wie die Austeritätswende im Anschluss an die akute Krise belegt. Was sich abzeichnet, ist vielmehr eine Wirtschaftspolitik, die womöglich nicht zuletzt aufgrund von Krisen und Republikanischer Fundamentalopposition zwar am Ende einige Erfolge wie etwa eine spektakuläre Halbierung der Arbeitslosenquote seit 2010 auf knapp 5 Prozent, aber keine sonderlich klare Handschrift aufwies. Jedenfalls vollzog sich hier keine quasi-sozialistische Abkehr von den bisherigen wirtschaftspolitischen Grundparametern, wie es die konservativen Kritiker bisweilen suggerierten; vielmehr überwogen insbesondere in der zweiten Amtszeit die Kontinuitäten eines neoliberal ausgerichteten Wirtschaftsmodells.

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Die Trump-Administration – ‚America First‘ und das vermeintliche Ende des Neoliberalismus

Als sich bewahrheitete, was nur wenige politische Beobachter erwartet hatten, und Donald Trump die Präsidentschaftswahlen 2016 für sich entschied, dauerte es nicht lange, bis Intellektuelle wie etwa Cornel West – ein weiteres Mal – das Ende des Neoliberalismus verkündeten. Doch an dessen Stelle würde kein wie auch immer geartetes sozialdemokratisches Projekt treten, sondern Nationalismus, Rassismus und eine Art Proto-Faschismus für die Trump und seine Wahlkampf-Losung ‚America First‘ ständen (West 2016). Die These einer hegemonialen Wachablösung des Neoliberalismus durch einen zumeist eher vage definierten ‚Rechtspopulismus‘ – in

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den USA und anderswo – hat in der Folge eine Vielzahl von Anhängern gefunden. Von daher ist in diesem abschließenden Abschnitt zumindest skizzenhaft zu klären, inwieweit die ökonomische Politik der Trump-Administration diese Einschätzung bislang gerechtfertigt erscheinen lässt. Das Hauptargument der Befürworter einer solchen Sichtweise bezieht sich auf die vermeintliche Abkehr vom ökonomischen Multilateralismus und der Hinwendung zu einem entsprechenden Nationalismus der Trump-Regierung, das sich dementsprechend als Ausgangspunkt der Erörterung anbietet. Tatsächlich hatte sich Trump im Wahlkampf gegen die ‚unfairen Deals‘ ausgesprochen, auf die sich die USA im Rahmen der WTO insgesamt, aber auch speziellen Freihandelsabkommen wie insbesondere NAFTA eingelassen hätten: Handelspartner wie China mit seiner vermeintlich gezielt unterbewerteten Währung, aber auch etwa Deutschland mit seinen exorbitanten Handelsüberschüssen bereicherten sich gleichwie auf Kosten der USA, denen zudem auch noch Arbeitsplätze gerade im Bereich der industriellen Fertigung verloren gingen, die Trump mit einer Neuausrichtung der Handelspolitik zurückzuholen versprach. Und tatsächlich stiegen die USA umgehend nach Trumps Amtsantritt aus dem pazifischen Freihandelsabkommen TPP aus und die Neuverhandlungen über das ohnehin klinisch tote TTIP liegen auf unbestimmte Zeit auf Eis. Auch das nordatlantische Freihandelsabkommen NAFTA wurde auf Druck der USA neu verhandelt und Druck wurde auch auf andere Handelspartner ausgeübt: Denn nicht nur Mexiko und Kanada wurden mit einem Strafzoll auf Stahl- und Aluminiumexporte in die USA belegt, auch mit China begab sich die Trump-Regierung in eine Eskalationsspirale der gegenseitig erhobenen Strafzölle, und auch die EU konnte bis jetzt zwar die Einführung von Zöllen auf US-Exporte abwenden, entsprechende Maßnahmen, etwa gegen deutsche Automobilfirmen, sind aber noch immer nicht endgültig vom Tisch. In dieser Hinsicht lässt sich daher zumindest bedingt von einer Divergenz gegenüber der reinen Lehre des freien Welthandels sprechen, die zum festen Bestandteil weiter Teile des neoliberalen Denkens gehört, wenn auch die genaue Ausgestaltung des globalen Marktes in den diversen Entwürfen teils beträchtliche Unterschiede aufweist und in manchen Fällen keineswegs als inkompatibel mit rigiden Migrationsregimen erscheinen (vgl. Slobodian 2018a), wie sie der TrumpRegierung ja ebenfalls vorschweben. Doch andererseits darf hier die Differenz zum handelsfreundlichen Grundtenor des Neoliberalismus auch nicht überzeichnet werden. Schließlich geht es hier nicht um ein Programm der ökonomischen Autarkie, wie sie sich bei den klassischen konservativen Freihandelsgegnern wie Friedrich List oder auch in Vorstellungen wiederfindet, die im Kontext der Dependenztheorien im Hinblick auf den globalen Sünden entwickelt wurden. Vielmehr handelt es sich um eine Art Neo-Merkantilismus, der Handel tendenziell als Nullsummenspiel sieht, in dem es gilt, die eigenen Aktiva zu erhöhen, was sich in einer positiven Leistungs-, bzw. Handelsbilanz ablesen ließe, aber nicht im Sinne eines Isolationalismus internationalen Handel per se ablehnt. Schließlich ging es auch nicht schlicht darum, NAFTA ersatzlos aufzukündigen, sondern bessere Bedingungen für die USA im Nachfolgeabkommen United States-Mexico-Canada Agreement heraus zu verhandeln, das allerdings noch der Ratifizierung durch den Kongress bedarf. Richtig ist

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T. Biebricher

aber, dass es eine klare Präferenz für handelspolitischen Bilateralismus gibt, was aus einer machtpolitischen Perspektive der USA insofern rational erscheint, als sie zwar einerseits nach wie vor polit-ökonomisch in den meisten bilateralen Verhandlungen am längeren Hebel sitzen, andererseits aber nicht mehr die Ausnahmeposition als ökonomischer Hegemon innehaben, in dessen wohlverstandenen Eigeninteresse es läge, den freien Welthandel in Form eines institutionalisierten Multilateralismus zu befördern und zu garantieren. Doch am Ziel des freien Handels auf der Grundlage bilateraler Vereinbarungen hat beispielsweise auch der Handelsbeauftragte der Trump-Regierung nie einen Zweifel gelassen: „The basic philosophy that we have is that we want free trade without barriers“, gab Robert Lighthizer in einer Anhörung vor dem Kongress im Juli 2018 zu Protokoll. Insgesamt scheint es der Trump-Regierung also weniger um eine Abkehr von Globalisierung und Freihandel zu gehen, sondern eher um verbesserte Handelsbedingungen für die USA, die – insbesondere in Auseinandersetzung mit dem ‚staatskapitalistischen‘ China – auch gewillt ist, zu rustikalen Mitteln des Unilateralismus zu greifen, um dieses Ziel zu erreichen (vgl. Slobodian 2018b). Dass diese Vorgehensweise nicht so unerhört und neu ist, wie sie bisweilen in aktuellen Kommentaren dargestellt wird, zeigt der Vergleich mit der Handelspolitik der Reagan-Ära, die ja als Hochzeit des Neoliberalismus gilt, aber in der Handelspolitik eben auch von einem „aggressive unilateralism“ geprägt war (Bhagwati und Patrick 1991) – der sich seinerzeit eben nur nicht in erster Linie gegen China, sondern Japan richtete. Abschließend bleibt festzuhalten, dass die TrumpLighthizer-Strategie bislang trotz aller aufgebauten Drohkulissen und tatsächlichen Maßnahmen weitgehend erfolglos geblieben ist: Das Handelsbilanzdefizit der USA stieg Ende 2018 gar auf ein Zehnjahreshoch. Doch wenn auch die Handelspolitik die Einschätzung einer Abkehr von neoliberalen Vorstellungen in der Wirtschaftspolitik wenigstens in Teilen bestätigt, so sprechen viele andere Bereiche der Wirtschaftspolitik recht eindeutig dagegen: So hat Trump in der öffentlichen Bundesverwaltung sowohl formelle wie de facto Einstellungsstopps verhängt, was zumindest in der Tendenz der immer wieder mit dem Neoliberalismus assoziierten Forderung nach einem ‚schlanken Staat‘ entspricht – wenn die Staatsvorstellungen im neoliberalen Denken sich darin auch keineswegs erschöpfen (vgl. Biebricher 2016, 2019). Zudem hat er die Deregulierungs-Maxime der Reagan-Regierungen wiederbelebt, der gemäß für jede neue bundesrechtliche Regulierung zwei andere gestrichen werden sollen. Von massiven Deregulierungsmaßnahmen verbunden mit einer gezielten Unterfinanzierung ist beispielsweise die Umweltbehörde EPA betroffen: Eine Vielzahl von Regulierungen zum Ziel des Umweltschutzes wurden nicht zuletzt auch durch den Ausstieg aus dem Pariser Klimaschutzabkommen abgeschafft, um so eine bestimmte Form der ‚Angebotspolitik‘ zu betreiben, indem Unternehmen weniger stark an bestimmte Produktionsbedingungen gebunden sind. Als Teil der Deregulierungsoffensive höhlte die Trump-Regierung zudem auch durch Exekutivanordnungen des Präsidenten wie auch ein entsprechendes Gesetz das oben erläuterte Dodd-Frank-Gesetz aus, das in Reaktion auf die Finanzkrise verabschiedet worden war. Angesichts der Vielzahl von Deregulierungsanstrengungen, die im Übrigen neben diversen anderen Faktoren die

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Aktienkurse an der Wall-Street beflügelten, von einer Abkehr von neoliberalen Politikrezepten zu sprechen, erscheint also eher fragwürdig. Dies gilt a fortiori im Hinblick auf die wohl weitreichendste wirtschaftspolitische Reform der Trump-Regierung, die in diesem Bereich auch zumindest bis dato als ihr größter Erfolg gilt: die 2018 vom Kongress beschlossene Steuerreform. An dieser Stelle ist nun noch einmal auf den schon mehrfach erwähnten Laffer zurückzukommen, der nämlich gemeinsam dem ebenfalls schon erwähnten Stephen Moore im Herbst 2018 eine Art Agenda für die Wirtschaftspolitik der Regierung Trump in Form eines Buches veröffentlichte, das den vielsagenden Titel ‚Trumponomics‘ trägt (Moore und Laffer 2018a). Und tatsächlich lesen sich die Begründungen der Steuersenkungen von 2018, die vor allem Einkommens- und Körperschaftssteuer betrafen, bisweilen als stammten sie noch aus dem Jahr 1980, als Reagans oben erwähntes ERTA-Gesetz verabschiedet wurde, das den Geist der Laffer-Kurve atmete: Durch Steuersenkungen würde die wirtschaftliche Aktivität von Unternehmen und Individuen angereizt, so dass sie sich letztlich selbst durch ein gesteigertes Wirtschaftswachstum finanzierten. Doch die Parallelen mit der Angebotspolitik der Reaganomics enden hier nicht, sondern erstrecken sich auch auf die keineswegs neoliberal gedeckten Auswirkungen. Wie erwähnt, führte Reagans Haushaltspolitik in Verbindung mit den Rüstungsausgaben zu einer Explosion von Defiziten und Staatsschulden, die schon einst Buchanan harsch kritisiert hatte. Das überparteiliche Congressional Budget Office prognostiziert, die Steuerreform von 2018 werde aufgrund von Mindereinnahmen ein gigantisches Loch in den staatlichen Haushalt reißen. So wird die Neuverschuldung 2019 auf 900 Milliarden USD steigen, was einer Zunahme von 15 Prozent gegenüber 2018 entspricht. Die Staatsverschuldung liegt derzeit bei 22 Billionen Dollar und soll gemäß der Prognose über die nächsten Jahre weiter rasant ansteigen. Weisen Fiskal- und Deregulierungspolitik – und in gewisser Weise eben auch die Handelspolitik – also beträchtliche Reminiszenzen an die Reaganomics auf, was eher für neoliberale Kontinuitäten spricht, so gilt dies allerdings nicht für den letzten Bereich der Wirtschaftspolitik, der hier erwähnt werden soll, die Geld- und Währungspolitik. Denn hier unterstützte die Reagan-Regierung, wie erwähnt, die rigide Anti-Inflationspolitik der Federal Reserve unter Paul Volcker – sogar um den Preis einer Rezession. Im Gegensatz dazu steht die kontinuierliche Polemik der TrumpRegierung gegen die Geldpolitik der Zentralbank unter Janet Yellen und ihrer langsam eingeleiteten ‚Zinswende‘, d. h. der schrittweisen Anhebung der Leitzinssätze. Die Regierung kritisierte, dass hierdurch Investitionen verteuert würden und zudem durch den stärkeren Dollar-Kurs die Wettbewerbsfähigkeit des amerikanischen Exportsektors geschwächt werde. Bemerkenswerterweise dauerten diese Vorwürfe auch an, nachdem der von Trump selbst nominierte Jerome Powell die Führung der Fed übernommen hatte, hielt er doch im Prinzip am Kurs seiner Vorgängerin fest, wenn auch die Zinserhöhungen aufgrund unsicherer Konjunkturaussichten auf längere Zeit gestreckt werden sollten. Hier kommt nun der Co-Autor der Trumponomics, Stephen Moore, ins Spiel, wurde er doch von Trump für das Federal Reserve Board mit der offensichtlichen Intention vorgeschlagen, Befürworter einer expansiven Geldpolitik als Gegengewicht zu Powell auf der Führungsebene der Fed

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T. Biebricher

zu installieren. Obwohl es aus diversen Gründen dann doch nicht zur formalen Nominierung kam, wird man also nicht unbedingt von einem Bekenntnis zu den Vorstellungen Friedmans zu einer strikt anti-inflatorischen Geldpolitik unter Wahrung einer weitgehenden Unabhängigkeit der Zentralbank sprechen können. Wie dieser kursorische Überblick über die aktuelle Bilanz der Wirtschaftspolitik unter Präsident Trump zeigt, gibt es keine konklusive Evidenz – weder für noch gegen die These einer Abkehr vom neoliberalen Wirtschaftsmodell der USA, zumindest nicht auf der Ebene der Policies. Wenn überhaupt, dann gibt es eine Tendenz in Richtung neoliberaler Kontinuitäten, denkt man insbesondere an Deregulierungs- und Steuerpolitik. Womöglich ist es aber auch zielführender, die Ebene des politischen Denkens des Neoliberalismus insgesamt mit einzubeziehen. Was sich hier nämlich am Beispiel der Entwürfe der neoliberalen Vordenker zeigt, ist ein Politikverständnis, das eine nicht zu unterschätzende Tendenz zum Autoritarismus aufweist, und versteht man den Neoliberalismus so als die Kombination von kapitalistischen Märkten mit autoritären politischen Formen so ist festzuhalten, dass ein solcher Neoliberalismus mit der Ära Trump keineswegs an sein Ende angelangt ist – womöglich hat er gerade erst begonnen (vgl. Biebricher 2019).

6

Fazit

Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus dem Vorigen ableiten gerade auch im Hinblick auf die gegenwärtige wirtschaftspolitische Lage ableiten? Vor allem stechen die Kontinuitäten des neoliberalen Wirtschaftsmodells von Reagan bis Trump ins Auge. Zwar geriet dieses Modell im Gefolge der Finanzkrise zumindest kurzfristig in eine Rechtfertigungskrise, doch der kurzen Episode außergewöhnlicher Bankenrettungs- und Konjunkturmaßnahmen, die unter George W. Bush begannen und vor allem die erste Amtszeit Obamas prägten, folgte keine nachhaltige Neuausrichtung des Akkumulationsmodells. Vielmehr kehrte die Wirtschaftspolitik abgesehen von wichtigen Ausnahmen wie der Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung unter Obama zurück auf den Pfad des Neoliberalismus, wie er seit der Amtszeit Reagans in unterschiedlichen Varianten und Schwerpunkten verfolgt wird. Daraus aber die uneingeschränkte Hegemonie jenes Pfades zu folgern, wäre vorschnell, gibt es doch auch bedeutende Gegenbewegungen, die sich etwa an den Achtungserfolgen Bernie Sanders im Vorwahlkampf 2016, aber auch der Popularität einer Alexandria Ocasio Cortez festmachen, deren Pläne zu einer steuerlichen Mehrbelastung von hohen Einkommen und einem Green New Deal bemerkenswert große Aufmerksamkeit in der öffentlichen Diskussion erfahren. Hierin schon die ersten Anzeichen eines Niedergangs des Neoliberalismus zu sehen, wäre sicherlich verfrüht. Dies würde, theoretisch-praktische Alternativen voraussetzen, die sich nicht allein in einer stärkeren Fokussierung auf das Problem sozialer Ungleichheit erschöpfen. Doch ebenso vorschnell – und politisch weitaus fataler – wäre es, alle Ansätze einer Politik, die über den Neoliberalismus hinausweist, als nur

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eine weitere Volte in dessen ewigem Mutationsprozess. Soll eine Überwindung des Neoliberalismus möglich werden, dann muss auch sein Ende zumindest denkbar sein.

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T. Biebricher

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Sozialstruktur der Vereinigten Staaten von Amerika Axel Murswieck

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Bevölkerungsstruktur und demografischer Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Erwerb – Einkommen – Soziale Mobilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Wandel der Familienstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

106 106 109 120 123 123

Zusammenfassung

Seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts haben sich wichtige Merkmale der amerikanischen Sozialstruktur verändert. Hierzu gehört insbesondere die Herausforderung des demografischen Wandels, der sich in der Erwerbs- und Beschäftigungsstruktur bemerkbar macht und etwa gegenüber der alternden Bevölkerung soziale und gesundheitspolitische Maßnahmen verlangt. Die Entwicklung zu einer zunehmenden und sich in den Sozialschichten verfestigenden Einkommensund Vermögensungleichheit berührt den Kern des amerikanischen Selbstverständnisses von Chancengleichheit und der Möglichkeit vom sozialen Aufstieg. Schlüsselwörter

Sozialstruktur · Erwerbsstruktur · Einkommensverteilung · Soziale Mobilität · Familienstrukturen · American Dream

Für die redaktionelle Mitarbeit ist Herrn Jonathan Schneider, M.A. vom Institut für Politische Wissenschaft Heidelberg zu danken. A. Murswieck (*) Institut für Politische Wissenschaft, Universität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_3

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106

1

A. Murswieck

Einleitung

Vielfalt und Unterschiedlichkeit prägen die amerikanische Gesellschaft: geografisch, ethnisch, ökonomisch und politisch. Bei der Frage nach dem verbindenden Band dieser Vielfalt wird immer wieder auf einen dominierenden Wertekonsens verwiesen, dessen Geschichtsmächtigkeit im American Creed (Gunnar Myrdal) zur Geltung kommt (Gebhardt 1990; Murswieck 2008, S. 580–585). Dieses Wertesystem fand in dem vom amerikanischen Historiker James Truslow Adams 1931 geprägten Begriff des American Dream seinen wirklichkeitsbezogenen Ausdruck (Samuel 2012, S. 3–5). Der American Dream ist ein breites, in der politischen Kultur verwurzeltes Konzept mit vielen Bedeutungen. Der Kern des Konzepts ist jedoch sicherlich die in Umfragen stets geäußerte Überzeugung, dass man frei sein will, mit harter Arbeit alles zu erreichen, was man will und man sich befähigt fühlt, erfolgreich zu sein, egal unter welchen ökonomischen Bedingungen man geboren wurde (Pew Charitable Trusts 2009; CBS/New York Times 2009). Der Traum ist der Glaube daran, dass alle Amerikaner die Chancengleichheit – equality of opportunity – zum erfolgreichen sozialen Aufstieg besitzen. Das hilft zu erklären, warum Amerikaner im Vergleich zu anderen reichen Ländern sehr viel toleranter gegenüber ungleichen Ergebnissen – inequality of outcomes – etwa in der Einkommensverteilung sind und staatliche Umverteilungsmaßnahmen kaum befürworten (Corak 2013, S. 1). Die Analyse wesentlicher Aspekte der Sozialstruktur kann helfen, die Wirklichkeit der amerikanischen Gesellschaft zu erhellen.

2

Bevölkerungsstruktur und demografischer Wandel

Nach dem Zensus von 2010 hatten die USA 308.745.538 Einwohner, eine Zunahme von 9,7 % im Vergleich zur vorherigen Volkszählung von 2000 (U.S. Census Bureau 2012a). Am 01.07.2017 gab es nach der Bevölkerungsschätzung des U.S. Census Bureaus bereits 325.719.178 Einwohner (U.S. Census Bureau 2017b). Die USA haben von den OECD-Ländern die höchste Zuwanderungsrate (OECD 2018, S. 69). 2016 und 2017 gab es jährlich 1,1 Millionen legale Zuwanderer (OECD 2018, S. 69). Die hohe Migrationsrate verbunden mit einer soliden Geburtenrate von 12,2 in 2016 (National Vital Statistics Report 2018) haben zu einem Bevölkerungswachstum von jährlich 0,7 % geführt (U.S. Census Bureau 2017b). Die USA sind bis auf den heutigen Tag ein Einwanderungsland. Mit Ausnahme der indianischen Urbevölkerung sind alle Einwohner selbst Einwanderer oder Kinder von Einwanderern. Die ethnische Vielfalt der amerikanischen Gesellschaft ist dadurch entstanden (vgl. Abb. 1 und 2). In den letzten 50 Jahren hat sich bei den Immigranten in Hinblick auf Anzahl, Herkunft und geografischer Verteilung eine dramatische Entwicklung ergeben. Der Anteil der Immigranten (Foreign-Born Population) an der Gesamtbevölkerung hat

Sozialstruktur der Vereinigten Staaten von Amerika

Schweden

3.7

Niederlande

3.9

Norwegen

107

4.3

Schottland

5.4

Frankreich

7.7

Polen

9.0

Italien

16.7

Amerika

20.0

England

23.1

Irland

31.5

Deutschland

43.1 0

5

10

15

20

25

30

35

40

45

50

Abb. 1 Abstammung der amerikanischen Bevölkerung nach ausgewählten Ursprungsländern 2017 (in Mio.). (Quelle: U.S. Census Bureau 2017d)

Nordamerika 1,8

Europa 10,8

Asien 31,2

Lateinamerika 50,4

Afrika 5,1 Ozeanien 0,6 Abb. 2 Herkunftsregionen der im Ausland geborenen Bevölkerung 2017, in %. (Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung nach U.S. Census Bureau 2017f )

sich von 5,4 % in 1960 auf 13,7 % in 2017 vergrößert (vgl. auch Tab. 1 und 2). 1960 kamen noch 75 % der Immigranten aus Europa, 2017 waren es noch 10,8 %. Inzwischen kommen 50,4 % der im Ausland Geborenen aus Lateinamerika.

108

A. Murswieck

Tab. 1 Anteil der im Ausland Geborenen (Foreign Born) und Staatsbürgerschaftsstatus 2017 Gesamtbevölkerung „Native“ „Foreign Born“ Eingebürgerte Nicht-Staatsbürger

Absolut 325.719.178 281.193.323 44.525.855 21.948.732 22.577.123

Prozent 100,0 86,33 13,67 6,74 6,93

Quelle: Eigene Darstellung und Berechnung nach U.S. Census Bureau 2017e, 2017g Tab. 2 Zusammensetzung der Bevölkerung nach ethnischen Merkmalen 2005, 2010 und 2017 Race Hawaii & Pazifische Jahr Weiße Afro-amerikaner Indigene Asiaten Inseln 2017 72,3 % 12,7 % 0,8 % 5,6 % 0,2 % 2010 74,2 % 12,6 % 0,8 % 4,8 % 0,2 % 2005 74,7 % 12,1 % 0,8 % 4,3 % 0,1 %

Ethnie1 Weiße NichtAndere Hispanics Hispanics 5,1 % 17,6 61,5 4,8 % 15,7 64,7 6,0 % — ——

1

Anmerkung: Hispanics werden vom U.S. Bureau of Census nicht als Race, sondern als Ethnie geführt und können daher grundsätzlich jeder Race zugehörig sein. (Quelle: U.S. Census Bureau 2005, 2010, 2017i, 2013–2017)

Die Immigranten aus Europa siedelten sich in den 1960er-Jahren im Nordosten und Mittleren Westen an. Die heutigen Immigranten aus Lateinamerika und Asien besiedelten vor allem den Westen und Süden (U.S. Census Bureau 2012b). Die USA, so die Prognose, wird in der Zukunft nicht länger Vorposten Europas sein, sondern eine Nation of Mutts, eine Nation mit hunderten von verschmolzenen Ethnien aus aller Welt und Mischehen. Notwendig sei, die Vielfalt in einen Ethos von bürgerlicher Kohäsion zu überführen (Brooks 2013).

2.1

Die alternde Gesellschaft

Die demographische Entwicklung wird neben der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung auch vom Anstieg des Anteils der abhängigen Bevölkerung, d. h. der Summe der Alten (über 65 Jahre) und der Jugendbevölkerung (unter 15 Jahre) an der Gesamtbevölkerung bestimmt. Auswirkungen auf die privaten und staatlichen Ausgaben für die Alters- und Gesundheitsversorgung sowie die Bildung sind zu erwarten. Der Anteil der Jugendbevölkerung lag 2017 geschätzt bei 18,73 % (U.S. Census Bureau 2017a) und wird der Projektion zufolge aufgrund der günstigen Geburtenrate auf diesem Niveau verharren (U.S. Census Bureau 2018b; Tab. 1 und 2). Anders sieht es bei der älteren Bevölkerung über 65 Jahren aus. Dieser Anteil ist von 12,4 % in 2000 auf 15,6 % in 2017 gestiegen (U.S. Census Bureau 2017a), vgl. auch Abb. 3). Der Projektion zur Folge, wird das Jahr 2030 ein Wendejahr in der demografischen Entwicklung darstellen und jeder fünfte Amerikaner im Rentenalter sein (Vespa et al. 2018, S. 1).

Sozialstruktur der Vereinigten Staaten von Amerika

65 und älter 15,60

109

Unter 15 18,73

15 bis 24 13,34 45 bis 64 25,90

25 bis 44 6,06

Abb. 3 Altersverteilung der Bevölkerung in den USA 2017. (Quelle: U.S. Census Bureau 2017a)

Dank staatlicher Transferleistungen (Rentenversicherung) ist es gelungen, die Armutsrate bei den über 65-Jährigen von 35 % in 1960 auf 9,2 % in 2017 zu senken (Council of Economic Advisers 2014, S. 11; Fontenot et al. 2018). Die demografische Herausforderung bezieht sich vor allem auf die Finanzierung der Rentenversicherung. Das Verhältnis von Rentenbeitragszahlern zu Rentenbeziehern betrug 2010 2,9 zu 1. In 2033, so die Vorhersage, wird es 2,2 zu 1 sein (U.S. Social Security Administration 2018).

3

Erwerb – Einkommen – Soziale Mobilität

Im Vergleich zu der ausgezeichneten Wirtschaftslage zu Beginn des 21. Jahrhunderts konnte sich die Wirtschaft nach der schlimmsten Wirtschaftskrise (2007–2009) nach der Great Depression der 1930er-Jahre nur langsam erholen. Obwohl zwischenzeitlich die Unternehmensgewinne Rekordhöhen erreicht haben, bleibt die Beschäftigungs- und Arbeitsmarktlage unbefriedigend. Insbesondere die für das amerikanische Selbstverständnis so wichtige Arbeitslosigkeit konnte seit der drastischen Zunahme in 2007 noch immer nicht auf das auch im internationalen Vergleich exzellente Niveau von vor der Rezession zurückgeführt werden (vgl. Abb. 4). Im Jahr 2017 betrug die Arbeitslosenrate 4,4 % (IMF Oktober 2018a) und die Inflationsrate 2,1 % (IMF Oktober 2018b, S. 42). Das Ziel der Wirtschaftspolitik bleibt weiterhin an Wachstum und Schaffung von Arbeitsplätzen, insbesondere für die Mittelklasse, orientiert (Council of Economic Advisers 2013, Chapter 1; Dubina et al. 2017). Die Beschäftigungsentwicklung in der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts war durch tief greifende Veränderungen der Erwerbsstruktur in Bezug auf Größe

110

A. Murswieck 14

Prozent der Erwebspersonen

12 10 8 6 4 2 0 2000

2002

Kanada

2004

Frankreich

2006

2008

Deutschland

2010

Italien

2012

Japan

2014

2016

Großbritannien

USA

Abb. 4 Arbeitslosigkeit in den G7-Staaten von 2000–2017. Anmerkung: Daten für Kanada, Japan und USA basieren auf nationalen Definitionen der Beschäftigungsverhältnisse. (Quelle: IMF Oktober 2018a)

Tab. 3 Frauenerwerbsquote 1970–2016 Jahr 1970 1980 1990 2000 2005 2010 2016

Gesamt 43,3 % 51,5 % 57,5 % 59,9 % 59,3 % 58,6 % 56,8 %

Nie verheiratet 56,8 % 64,4 % 66,7 % 68,9 % 66,0 % 63,3 % 63,4 %

Verheiratet (Mann anwesend) 40,5 % 49,8 % 58,4 % 61,1 % 60,7 % 61,0 % 57,9 %

Andere (Verwitwet, geschieden, getrennt) 40,3 % 43,6 % 47,2 % 49,0 % 49,4 % 48,8 % 46,9 %

Anmerkung: Daten für die arbeitsfähige Gesamtbevölkerung ab einem Alter von 16 Jahren. (Quelle: ProQuest 2017: Tab. 621)

und demographische Zusammensetzung gekennzeichnet. In den 1970er- und 1980er-Jahren gab es ein starkes Anwachsen der Erwerbstätigen, insbesondere durch die Zunahme der Frauenerwerbsquote und den Eintritt der Baby-boomer Generation in den Arbeitsmarkt (vgl. Tab. 3 und 4). Seit Anfang der 2000erJahre sinkt jedoch die Frauenerwerbsquote und betrug 2016 56,8 %. Prognostiziert wird eine weitere Abnahme der Frauenerwerbstätigkeit (Bureau of Labor Statistics 2013). Hinsichtlich der Vorhersage für den Zeitraum von 2016–2026 wird von einer durchschnittlichen jährlichen Steigerungsrate der Erwerbstätigen von 0,6 % ausgegangen, von 159,2 Millionen in 2016 auf 169,7 Millionen in 2026. Die

Sozialstruktur der Vereinigten Staaten von Amerika

111

Tab. 4 Erwerbstätigenquote nach Geschlecht und Erwerbslosenquote nach Alter im internationalen Vergleich 2018. (Quelle: Statistisches Bundesamt 2018: S. 674) Land Australien Deutschland Finnland Frankreich Italien Niederlande Norwegen Russische Föderation1 Schweden Vereinigte Staaten2

Erwerbstätigenquote Männer Frauen 77,5 % 67,4 % 78,4 % 70,8 % 70,5 % 67,6 % 67,6 % 60,9 % 66,5 % 48,1 % 79,6 % 70,1 % 75,7 % 72,8 % 75,2 % 65,2 % 77,5 % 74,8 % 69,1% 57,1%

Vereinigtes Königreich

78,3 %

Erwerbslosenquote 15–64 Jahre 5,9 % 4,2 % 9,0 % 10,2 % 11,9 % 6,1 % 4,8 % 5,6 %1 7,2 % 16 und älter 3,7% 4,9 %

68,8 %

15–24 Jahre 12,4 % 7,0 % 20,0 % 24,5 % 37,9 % 10,8 % 11,1 % 16,6 % 18,8 % 16–19 Jahre 12,8% 13,0 %

1

Anmerkung: Stand: 2015 2 Bureau of Labor Statistics. Economic News Release. Employment Situation News Release, October 5, 2018.

Tab. 4a Land Australien Finnland Frankreich Deutschland Italien Niederlande Norwegen Schweden Großbritannien USA

Erwerbslosenquote Internationaler Vergleich 5,592 8,525 9,442 3,75 11,258 4,854 4,216 6,683 4,425 4,35

Quelle: IMF (International Monetary Fund) Oktober 2018a

Wachstumsrate von 0,6 % ist nur geringfügig höher als die Rate im Jahrzehnt von 2006–2016 zuvor. Aufgrund demografischer Entwicklungen und verlängerter Bildungszeiten gab es in den letzten Jahrzehnten bei den 16–19 Jährigen und den 20–24 Jährigen eine starke Abnahme der Erwerbstätigkeit. Eine weitere Abnahme in diesen Altersgruppen wird auch für die Zukunft vorausgesagt. Die Erwerbsquote der 25-bis 54-Jährigen (die Kerngruppe der Erwerbstätigkeit) wird sich im nächsten Jahrzehnt wenig verändern. Dahingegen wird eine Fortsetzung des Anstiegs der Erwerbsquote bei den 55- bis 64-Jährigen, sowie der 65- bis 74-Jährigen erwartet.

112

A. Murswieck

67 66 65 64 63 62 61 60 Okt. 2008

Okt. 2010

Okt. 2012

Okt. 2014

Okt. 2016

Okt. 2018

Abb. 5 Erwerbsquote 2008 bis 2018 in Prozent. (Quelle: Bureau of Labor Statistics 2018b)

Ferner wird eine zunehmende Unterschiedlichkeit bei den Erwerbstätigen erwartet. Die Immigration gilt als treibende Kraft einer Bevölkerungszunahme. Vorhergesagt wird eine steigende Erwerbstätigkeit bei den „Asian-und Hispanic-Immigrants“ (Dubina et al. 2017; ferner Abb. 5). Die Erwerbsquote lag im September 2018 bei den Asiaten bei 64,2 %, bei den Hispanics bei 66 % und bei den Black or African Americans bei 62,4 % (Bureau of Labor Statistics, October 5 2018, Tab. A-2 und A-3) In Bezug auf die Wirtschaftssektoren setzt sich der Anstieg der Erwerbstätigen im Dienstleistungssektor fort. Die Zunahme der Erwerbstätigkeit wird, so die Prognose für den Zeitraum 2016–2026, zu 91 % im Dienstleistungssektor stattfinden. Die höchsten Steigerungsraten verzeichnet davon der Gesundheitssektor. Die amerikanische Wirtschaft ist im Vergleich zu anderen Ländern stärker marktorientiert und weniger auf sozialstaatliche Regelungen ausgerichtet. Es besteht weiterhin ein Kostenvorteil in der amerikanischen Wirtschaft aufgrund geringer sozialer Zusatzleistungen bei den Lohnnebenkosten (vgl. Tab. 5).

3.1

Einkommen und Einkommensverteilung

Die Kluft zwischen Arm und Reich ist auch im Vergleich der Industrieländer besonders hoch. Die USA haben unter den OECD-Ländern den schlechtesten sozialen Schichtaufbau und die geringste soziale Mobilität (Klein 2013, S. 17). Die Einkommensungleichheit ist seit den 1970er-Jahren stetig gewachsen. Insbesondere der Anteil der Mittelklasse, definiert als die mittleren 60 % der Haushalte, am Einkommen, ist von 53,2 % in 1968 auf 45,5 % in 2017 gesunken. Hingegen ist

Sozialstruktur der Vereinigten Staaten von Amerika

113

Tab. 5 Lohnnebenkosten in der Wirtschaft 2006 und 2018

Gesamtkosten Löhne und Gehälter Gesamtnebenkosten Ausfallzeiten Urlaub Gesetzliche Feiertag Krankengeld Andere Zusatzleistungen (v. a. Prämien und Schichtarbeit) Betriebliche Versicherungsleistungen Lebensversicherung Krankenversicherung Kranken- und Unfalltagegeldversicherung Betriebliche Altersvorsorge Beiträge zu gesetzlichen Sozialversicherungen Rentenversicherung Bundesarbeitslosenversicherung Länder- (State-) Arbeitslosenversicherung

Kosten 2006 Dollar pro Arbeitsstunde 27,54 19,24 8,30 1,94 0,91 0,63 0,30 0,10 0,69

In % der Gesamtkosten 100,0 59,9 30,1 7,0 3,3 2,3 1,1 0,4 2,5

Kosten 2018 Dollar pro Arbeitsstunde 36,22 24,72 11,5 2,56 1,26 0,76 0,38 0,16 1,21

In % der Gesamtkosten 100 68,3 31,7 7,1 3,5 2,1 1,1 0,4 3,3

2,26

8,2

3,14

8,7

0,05 2,13 0,05

0,2 7,7 0,2

0,05 2,99 0,11

0,1 8,2 0,3

1,21 2,20

4,4 8,0

1,93 2,65

5,3 7,3

1,54 0,03 0,15

5,6 0,1 0,5

1,59 0,03 0,14

4,4 0,1 0,4

Quellen: Bureau of Labor Statistics 2006, S. 6; 2018a, S. 4

der Anteil der oberen 20 % aller Haushalte auf 51,5 % und der oberen 5 % auf 22,3 % gestiegen. Das unterste Fünftel der Einkommensschichten konnte in den letzten Jahrzehnten seinen Anteil nicht verbessern und verblieb unter 4 % (vgl. Tab. 6). Diese Einkommenskluft wird bei dem bloßen Betrachten des Durchschnittseinkommens nicht deutlich, wenngleich beim Vergleich mit dem Medianeinkommen der Zuwachs an der Spitze der Einkommenspyramide ersichtlich wird (vgl. Abb. 6). Erklärungen über den zunehmenden Trend einer Einkommensungleichheit sind vielfältig. Neben dem Verweis auf Globalisierungseffekte und technologische Fortschritte, etwa im Bezug auf das Qualifizierungsniveau der Facharbeiter, spielen weiterhin demografische und ethnische Faktoren eine Rolle. Auffallend ist das hohe Einkommensniveau bei den Asiaten (vgl. Tab. 7). Gleiches gilt für das Bildungsniveau, das weiterhin Einfluss auf die Einkommenshöhe hat und dementsprechend auch bei den Berufsprofilen sichtbar wird (vgl. Abb. 7 und 8). In der Bevölkerung wird die Einkommensungleichheit zunehmend als sozialer Konflikt zwischen Reich und Arm wahrgenommen. Sahen 2009 noch 47 % der Bevölkerung in dieser Spaltung einen gesellschaftlichen Konflikt, waren es 2011 bereits 66 %. Insbeson-

114

A. Murswieck

Tab. 6 Verteilung des U.S. Haushaltseinkommen nach Quintilen 1990–2015 Anteil am gesamten Haushaltseinkommen in Prozent Unteres Zweites Drittes Viertes Quintil Quintil Quintil Quintil 4,2 11,1 17,6 24,5 3,8 9,6 15,9 24,0 3,7 9,1 15,2 23,3 3,6 8,9 14,8 23,0 3,4 8,6 14,6 23,0 3,4 8,6 14,5 22,9 3,4 8,7 14,8 23,4 3,4 8,6 14,7 23,3 3,4 8,6 14,6 23,2 3,3 8,5 14,6 23,4 3,2 8,4 14,3 23,0 3,2 8,3 14,4 23,0 3,1 8,2 14,3 23,0 3,1 8,2 14,3 23,2 3,1 8,2 14,3 23,2 3,1 8,3 14,2 22,9 3,1 8,2 14,3 23,0

Jahr 1968 1990 1995 2000 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017

Fünftes Quintil 42,6 46,6 48,7 49,8 50,4 50,5 49,7 50,0 50,3 50,3 51,1 51,0 51,4 51,2 51,1 51,5 51,5

Top 5 % 16,3 18,5 21,0 22,1 22,2 22,3 21,2 21,5 21,7 21,3 22,3 22,3 22,2 21,9 22,1 22,6 22,3

(Quelle: U.S. Census Bureau 2017c: Tab. A-2) 100,000 90,000 80,000

70,000 60,000 50,000 40,000 30,000

20,000 10,000 0

Medianeinkommen

Durchschnittseinkommen

Abb. 6 Durchschnittliches Haushaltseinkommen in den USA 1980–2017 (in 2017 US-Dollar). (Quelle: U.S. Census Bureau 2018d: Tab. H-12)

dere in der Mittelschicht bei den Einkommensklassen zwischen 40–75 Tausend Dollar jährlich wuchs die Konfliktwahrnehmung um 24 Prozentpunkte auf 71 %. Unterschiede gibt es in der Einschätzung, inwieweit von einem schwelenden Klas-

Sozialstruktur der Vereinigten Staaten von Amerika

115

Tab. 7 Haushaltseinkommen 2000–2015 nach Einkommenskategorien und Race, in (2015) US-Dollar Prozentuale Verteilung Unter Über MedianJahr 15.000 15.000–24.999 25.000–34.999 35.000–49.999 50.000–74.999 75.000–99.999 99.999 einkommen Gesamt 2000 10,4 10,1 2010 12,4 11,3 2014 12,6 10,9 2015 11,6 10,5 Weiße 2000 9,2 9,8 2010 10,6 11,0 2014 10,9 10,5 2015 9,9 10,1 Afroamerikaner 2000 19,0 12,9 2010 23,9 14,0 2014 22,4 14,4 2015 21,7 14,2 Asiaten und Pacific Islander 2000 8,1 6,8 2010 10,1 8,4 2014 10,3 7,0 2015 9,7 6,7 Hispanics 2000 12,3 13,4 2010 15,8 13,9 2014 14,6 14,1 2015 13,6 13,0

9,8 10,6 10,1 10,0

13,5 13,1 13,1 12,7

18,0 17,2 17,0 16,7

13,1 12,2 11,5 12,1

25,0 23,2 24,7 26,4

57.790 53.568 53.718 56.516

9,5 10,4 9,8 9,9

13,5 13,2 13,1 12,7

18,2 17,5 17,5 16,9

13,6 12,7 12,1 12,6

26,4 24,7 26,1 28,0

60.441 56.213 56.931 60.109

12,7 12,4 12,7 11,9

14,6 14,3 14,4 13,6

17,7 15,0 15,1 15,9

9,8 9,3 8,2 8,9

13,2 11,1 12,8 13,9

40.830 34.922 35.439 36.898

7,4 7,8 7,7 6,2

10,9 9,5 9,7 10,2

15,8 17,7 15,6 15,5

14,4 11,7 11,8 12,2

36,5 34,8 37,9 39,4

76.737 69.856 74.382 77.166

12,1 14,1 12,4 12,7

16,7 14,8 15,6 15,1

19,5 17,6 18,0 18,1

11,5 10,2 10,7 10,8

14,3 13,6 14,7 16,6

45.649 40.909 42.540 45.148

Quelle: ProQuest 2017: Tab. 716

senkonflikt gesprochen werden kann (Pew Research 2012a). Insgesamt sehen weniger als die Hälfte der Amerikaner (47 %) in der der Kluft zwischen Arm und Reich ein wichtiges Problem von öffentlichem Interesse (Pew Research 2013; Donavan et al. 2016). Zum Vermögen gehört auch der Besitz des eigenen Hauses. Der amerikanische Traum ist mit dem Wunsch nach einem eigenen Heim verbunden. Dieser alle Amerikaner verbindende außergewöhnliche Hang nach Hauseigentum (Cullen 2003, S. 148) hat in der Wirtschaftsrezession 2007–2009 einen schmerzlichen Einbruch erlitten. Mehr als 7 Millionen Amerikaner haben ihr Eigenheim verloren. Die Hauseigentümerrate lag in 2013 bei 65,2 % so tief wie vor 20 Jahren und ist noch lange von der Rekordhöhe von 69,2 % in 2004 entfernt (U.S. Census Bureau 2014, S. 5). Die Rate lag Ende 2018 bei 64,2 % (U.S. Census Bureau 2018e). Die gegenwärtige gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung wird geprägt durch die neue, gut ausgebildete und technikaffine Generation der Millennials, der heute 22 bis 37 Jährigen, die nach 1981 geboren wurden. Im Vergleich zu den Generationen davor sind die Millennials besser ausgebildet, was sich auf ihren

116

A. Murswieck

Promotion "professional degree" Master-Abschluss Bachelor-Abschluss Bachelor-Abschluss oder mehr "Associate Degree" College ohne Abschluss High School Abschluss

Männer Frauen

High School, 9th bis 12th Grade High School, weniger als 9th Grade 0

20,000

40,000

60,000

80,000 100,000 120,000

Abb. 7 Durchschnittliches Jahreseinkommen von Männern und Frauen nach Bildungsabschlüssen 2015, in US-Dollar 2015. (Quelle: ProQuest 2017: Tab. 728)

Tellerwäscher Kellner Friseure Feuerwehrmänner Kindergärtner Elektriker Grundschullehrer Polizisten Architekten Ingenieure Richter Piloten Anwälte Zahnärzte Ärzte und Chirurgen

Abb. 8 Durchschnittliches Jahreseinkommen nach ausgewählten Berufen. (Quelle: Bureau of Labor Statistics 2017)

Beschäftigungs-und Einkommenstatus auswirkt. Sie fördern die ethische Unterschiedlichkeit der amerikanischen Gesellschaft und erhöhen die Frauenerwerbsquote. Andererseits heiraten sie später und verzögern die Bildung eines eigenen

Sozialstruktur der Vereinigten Staaten von Amerika

117

Haushalts. Tendenziell wohnen sie auch länger bei den Eltern als die vorangegangenen Generationen (Pew Research 2019).

3.2

Soziale Mobilität – Chancen des sozialen Aufstiegs

Chancengleichheit ist das zentrale Merkmal des amerikanischen Traums: der Glaube, dass jeder, der hart arbeitet sozial und wirtschaftlich erfolgreich sein wird. Es ist die rags-to-riches story, die Geschichte vom Tellerwäscher, der Millionär wird. 70 % der Amerikaner sind der Auffassung, dass sie entweder den American Dream schon verwirklicht haben, oder es zu einem späteren Zeitpunkt tun werden. Der Glaube an den sozialen Aufstieg stärkt den amerikanischen Optimismus auch in wirtschaftlich schlechten Zeiten. An diesen Glauben wird stets appelliert, so auch von Präsident Obama in seiner State of the Union Message 2014, als er erneut die Chancengleichheit für alle beschwörte (The White House, Office of the Press Secretary, Januar 28, 2014). Im Mittelpunkt steht die Einkommensmobilität, deren Realität allerdings anders als optimistisch aussieht. Die USA gehören im internationalen Vergleich zu den Ländern, in denen eine anwachsende Ungleichheit die Einkommensmobilität der nächsten Generation junger Erwachsener begrenzt. Dieser Zusammenhang von Ungleichheit und intergenerationaler Einkommensmobilität wird seit Ende 2012 unter der Bezeichnung Great Gatsby Kurve diskutiert (Corak 2013, S. 2–3). Es ist heute schwerer als für frühere Generationen, die Einkommensleiter hinauf zu klettern. 43 % der Amerikaner, die im unteren Ende der Einkommensleiter aufgewachsen sind, sind auch dort als Erwachsene geblieben und insgesamt 70 % erreichten niemals den mittleren Bereich. Nur 4 % erreichten jemals die Spitze der Einkommensleiter. Hingegen verblieben 40 % derjenigen, die an der Spitze der Einkommensleiter aufgewachsen sind, auch dort und insgesamt 63 % verblieben oberhalb des mittleren Bereichs (vgl. Abb. 9; Pew Charitable Trusts 2012). Die Einkommensmobilität wird erheblich durch das Bildungsniveau bestimmt. Ein vierjähriges Hochschulstudium beispielsweise begünstigt den Aufstieg und schützt vor dem Abstieg auf der Einkommensleiter. 47 % derjenigen, die in der untersten Stufe der Einkommensleiter aufgewachsen sind und keinen Hochschulabschluss haben, bleiben auch dort als Erwachsene. Es ist unwahrscheinlich, dass sich die intergenerationale Einkommensmobilität in Zukunft wesentlich verändern wird (Corak 2016). Die Nichtwirksamkeit der Chancengleichheit manifestiert sich auch bei der Unterscheidung nach ‚Race‘. Schwarze Kinder, die in Einkommensarmut hineingeboren wurden, haben weniger Chancen auf einen Aufstieg, als Weiße Kinder. Mehr als die Hälfte der Schwarzen (53 %), die in der untersten Einkommensstufe aufgewachsen sind, verbleiben auch dort als Erwachsene (Levine 2012; Pew Charitable Trusts 2012, S. 18–22, 23–26). Auch unter der Präsidentschaft von Donald Trump ist der amerikanische Traum lebendig und wird von einer überwältigen Mehrheit der Amerikaner unterstützt. Das klingt angesichts des gegenwärtigen gesellschaftlichen und kulturellen Klimas eigentlich unglaubwürdig, werden doch seit Amtsantritt des Präsidenten ökonomische Angst, politische Uneinigkeit und gesellschaftliche Auseinandersetzungen re-

118

A. Murswieck

Erwachsene Kinder: Einkommensquintil

100% 90%

4% 9%

14 %

80%

17 %

20 %

19 %

40 %

70% 60%

24 %

24 % 24 % 27 %

18 %

50%

23 %

23 % 40%

23 %

23 %

30% 20%

19 %

20 %

43 %

20 % 10 %

25 %

10%

14 %

9%

8%

Drittes Quintil

Viertes Quintil

Oberes Quintil

0% Unteres Quintil

Zweites Quintil

Elternhaus: Einkommensquintil Unteres Quintil

Zweites Quintil

Drittes Quintil

Viertes Quintil

Oberes Quintil

Abb. 9 Verteilung der Einkommensquintile von erwachsenen Kindern nach Einkommensquintil der Eltern. (Quelle: Pew Charitable Trusts 2012, S. 6)

Abb. 10 Essential Components of the American Dream. (Quelle: American Enterprise Institute 2019, S. 30)

gelmäßig geschürt. Es zeigt sich, dass der Glaube vom sozialen Aufstieg zwar weiterhin zum Kern des Traumes gehört aber, so eine Studie des American Enterprise Institute von 2019, für 85 % der Amerikaner die Freiheit zu wählen wie man leben will unabdingbar für das Erreichen des American Dream sei. Darüberhinaus halten 83 % der Amerikaner ein gutes Familienleben für ebenso essenziell (American Enterprise Institute 2019; Abrams 2019; Abb. 10).

Sozialstruktur der Vereinigten Staaten von Amerika 2%

2% 19 %

Oberschicht 21 %

53 %

Mittelschicht 53 %

19 %

Unterschicht 25 %

2008

Untere-Mittelschicht

15 %

Oberschicht 17 %

49 %

Mittelschicht 49 %

25 %

Unterschicht 32 %

7%

6%

Unterschicht

119

2012

Mittelschicht

Obere-Mittelschicht

Oberschicht

Abb. 11 Selbsteinordung der Amerikaner nach Klassen und Schichten 2008 und 2012. (Quelle: Pew Research Center 2012b)

Auf einen weiteren Aspekt des amerikanischen Wertebewußtseins ist aufmerksam zu machen. Nichts zerrt so sehr am Nerv des amerikanischen Selbstverständnisses, wie die Möglichkeit zur Mittelschicht zu gehören und dort auch zu bleiben. Inzwischen wird von einem verlorenen Jahrzehnt für die Mittelklasse gesprochen. Noch 2008 gaben 53 % der Amerikaner an, zur Mittelschicht zu gehören, 2012 waren es nur noch 49 %. In 2008 ordneten sich 25 % der Unterschicht zu, 2012 waren es 32 % (vgl. Abb. 11). 85 % der sich der Mittelschicht Zuordnenden gaben an, dass es in den letzten 10 Jahren schwieriger geworden sei, den Lebensstandard aufrecht zu erhalten. Die Mittelschicht hatte ferner Einbußen beim Einkommen und beim Vermögen zu verbuchen. Die Wahrnehmung einer Abkopplung von der reichen Oberschicht wurde als eine neue soziale Ungleichheit perzipiert und von einem gedämpften Optimismus für die Zukunft begleitet (Pew Research 2012c). Für 2016 ist zu vermerken, dass ungefähr die Hälfte (52 %) der Amerikaner in Haushalten der Mittelklasse lebten. Wenngleich die amerikanische Mittelklasse vorläufig relativ stabil bleibt, so fällt sie weiterhin finanziell kontinuierlich hinter die Oberklasse zurück, was den lang anhaltenden Anstieg der Einkommensungleichheit widerspiegelt (Pew Research 2018b). Im Vergleich zu anderen Ländern wird immer auf die größere Toleranz in den USA gegenüber sozialer Ungleichheit hingewiesen. Diese Toleranz ist aber implizit verbunden mit dem Vorhandensein einer größeren sozialen Mobilität. Hohe Ungleichheit mit geringer sozialer Mobilität bedroht den Glauben an den eigenen Erfolg (Ferguson 2013).

120

4

A. Murswieck

Wandel der Familienstrukturen

Insbesondere seit den 1970er-Jahren gab es in den Haushalts- und Familienstrukturen bedeutende Veränderungen. Noch 1970 waren 81 % der Haushalte Familienhaushalte. 2012 waren es nur noch 66 %. Zwischen 1970 und 2012 sank der Anteil verheirateter Paare mit Kindern unter 18 Jahren von 40,3 % auf 19,6 %. Der Anteil von Ein-Personen-Haushalten nahm zwischen 1970 und 2017 von 17 % auf 28 % zu. Die Zahl der durchschnittlich in einem Haushalt lebenden Personen nahm im gleichen Zeitraum von 3,1 auf 2,6 ab. Von den etwa 120 Millionen Haushalten in 2017 waren 48,2 % Familien mit verheirateten Eheleuten, 4,9 % männliche Haushalte ohne anwesende Ehefrau und 12,4 % weibliche Haushalte ohne anwesenden Ehemann. Ein Drittel aller Haushalte (34,5 %) waren Nicht-Familienhaushalte. 10,8 % der Nicht-Familienhaushalte hatten einen Haushaltsvorstand von über 65 Jahren. Zusammenfassend lässt sich der historische Wandel der Lebensverhältnisse in Haushalt und Familie dahingehend charakterisieren, • dass Haushalte und Familien kleiner geworden sind • dass Haushalte mit verheirateten Paaren tendenziell älter und kleiner geworden sind • dass eine Zunahme von Ein-Personen-Haushalten zu verzeichnen ist • dass alleine zu Leben sich ausgebreitet hat. (vgl. Tab. 8 und Abb. 12)

Tab. 8 Familienhaushalte nach ausgewählten Merkmalen 2017 Merkmal Haushalte gesamt Familienhaushalte Mit eigenen Kindern unter 18 Jahren Familie mit verheiratetem Paar Mit eigenen Kindern unter 18 Jahren Männliche Haushalte, keine Frau anwesend Mit eigenen Kindern unter 18 Jahren Weibliche Haushalte, kein Mann anwesend Mit eigenen Kindern unter 18 Jahren Nicht-Familienhaushalte 1-Personen-Haushalte 65 Jahre oder älter Durchschnittliche Haushaltsgröße Durchschnittliche Familiengröße Quelle: U.S. Census Bureau 2017h

Absolut 120.062.818 78.631.163 32.846.899 57.847.574 22.334.270 5.886.661 2.723.009 14.896.928 7.789.620 41.431.655 33.513.155 12.942.049 2,65 3,26

Prozent 100,0 % 65,5 % 27,4 % 48,2 % 18,6 % 4,9 % 2,3 % 12,4 % 6,5 % 34,5 % 27,9 % 10,8 % -

Sozialstruktur der Vereinigten Staaten von Amerika

121

100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% 1970

1980

1990

2000

2005

2010

2015

2018

alleinlebend

mit Ehepartner

Kind des Haushaltsinhabers

mit Partner

mit anderen Verwandten

andere Nicht-Familienhaushalte

Abb. 12 Wandel der Haushaltsstrukturen von 1970–2018. (Quelle: U.S. Census Bureau November 2018: Tab. AD-3)

100%

90% 80% 70% 60%

50% 40% 30% 20% 10% 0% Alle

Weiße gesamt

Weiße, ohne Hispanics

Schwarze gesamt Asiaten gesamt

Hispanic, alle Rassen

verheiratet ohne Kinder

verheiratet mit Kindern unter 25

unverheiratete Paare

alleinerziehende Mütter

alleinerziehende Väter

andere Familienhaushalte

alleinlebende Frauen

alleinlebende Männer

andere Nicht-Familienhaushalte

Abb. 13 Haushaltsstrukturen in den USA 2018 nach ‚Rasse‘ und Ethnie. (Quelle: U.S. Census Bureau 2018c: Tab. H3)

Einige Aspekte des Familienwandels sind noch besonders hervorzuheben. So leben 28 % der Kinder in den USA in Haushalten mit nur einem Elternteil. Bei schwarzen Kindern betrug der Anteil 55 % in 2012 (vgl. Abb. 13).

122

A. Murswieck

Tab. 9 Ausgewählte Familienmerkmale – die USA und Westeuropa im Vergleich

Land USA Deutschland Dänemark Spanien Frankreich Irland Italien Niederlande Großbritannien Schweden

Haushaltsgröße (Durchschnitt) 2012 2,6 2,0 1,9 2,6 2,2 2,7 2,4 2,2 2,3 2,1

Eheschließungen (je 1000 Personen) 2011 6,8 4,6 4,9 3,4 3,6 4,3 3,4 4,4 4,51 5,0

Scheidungen (je 1000 Personen) 2011 3,6 2,3 2,6 2,2 2,0 0,7 0,9 2,0 2,1 2,5

Nicht-ehelich Geborene (% aller Geborenen) 2011 46,0 33,9 49,0 37,4 55,8 33,9 23,4 45,3 47,3 54,3

1

Zahlen für 2010 Quelle: Eurostat, http://epp.eurostat.ec.europa.eu/tgm/table.do?tab=table&init=1&language=de& pcode=tps00017&plugin=1. Zugegriffen am 26.01.2014

Ungefähr ein Drittel der amerikanischen Kinder leben mit einem unverheirateten Elternteil. Seit 1968 hat sich dieser Anteil mehr als verdoppelt, von 13 % in 1968 auf 32 % in 2017. Die meisten Kinder in Haushalten mit einem unverheirateten Elternteil leben mit einer alleinstehenden Mutter (von 12 % in 1968 auf 21 % in 2017). Unterschiede gibt es nach Rasse und Ethnie. Mehr als die Hälfte (58 %) der schwarzen Kinder leben mit einem unverheirateten Elternteil, 475 davon mit einer alleinstehenden Mutter. Bei den Kindern von Hispanics leben 36 % mit einem unverheirateten Elterteil und bei den weißen Kindern sind es 24 %. Bei asiatischen Kindern beträgt der Anteil nur 13 % (Pew Research 2018a). Der Trend, dass bei denjenigen mit geringer Bildung und geringem Einkommen die Wahrscheinlichkeit, uneheliche Kinder zu bekommen am größten ist, hat beständig zugenommen (Sawhill und Venator 2014). Beim internationalen Vergleich der Familienmerkmale fallen die Unterschiede positiv bei den Eheschließungen und negativ bei der Scheidungsrate auf (vgl. Tab. 9). Mit dem Wandel der Familienstrukturen hat sich auch das Familienbild gewandelt. Obwohl für 99 % der Amerikaner die traditionelle Familie mit Ehepaar und Kindern als Familie bezeichnet wird, meinen auch 88 %, dass ein kinderloses Ehepaar ebenso eine Familie darstellt. Das gilt auch für Alleinerziehende (86 %) und Unverheiratete mit Kindern. Immerhin halten auch 63 % gleichgeschlechtliche Partnerschaften mit Kind für eine Familie (Pew Research 2010, S. 40). Das neue Familienbild hat aber der Wertschätzung der Familie keinen Abbruch getan. Die Institution Ehe und Familie wird weiterhin auch für die Zukunft von 67 % der Amerikaner als wichtig eingestuft, und sogar 76 % der Erwachsenen sehen die Familie als wichtigstes Element ihres gegenwärtigen Lebens, wobei es bei dieser

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Einschätzung so gut wie keine Unterschiede bei Alter, Altersklassen, Rasse, Ethnie und Ausbildungsniveau gibt (Pew Research 2010, S. 5 und 46).

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Zusammenfassung

Seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts haben sich wichtige Merkmale der amerikanischen Sozialstruktur verändert. Hierzu gehört insbesondere die Herausforderung des demografischen Wandels, der sich in der Erwerbs- und Beschäftigungsstruktur bemerkbar macht und etwa gegenüber der alternden Bevölkerung soziale und gesundheitspolitische Maßnahmen verlangt. Die Entwicklung zu einer zunehmenden und sich in den Sozialschichten verfestigenden Einkommens- und Vermögensungleichheit berührt den Kern des amerikanischen Selbstverständnisses von Chancengleichheit und der Möglichkeit vom sozialen Aufstieg. Vielfalt und Unterschiedlichkeit der amerikanischen Gesellschaft in ethnischer, ökonomischer und geografischer Hinsicht machen sich auch im Wandel der Familienstrukturen bemerkbar, der von einer teilweisen Verstetigung von sozialen Ungleichheiten in Alter, Rasse und Ethnie geprägt wird und zu einem neuen Familienbild geführt hat. Bislang haben die sozialstrukturellen Entwicklungen nicht den optimistischen Glauben der Amerikaner an einer auf Chancengleichheit beruhenden Selbstverwirklichung gefährdet. Die Zufriedenheit der Amerikaner mit ihrem persönlichen Leben bewegt sich in den letzten 40 Jahren auf einem gleichbleibenden hohen Niveau. Anfang 2019 waren 86 % der Amerikaner mit Ihrem persönlichen Leben zufrieden (Gallup 2019). Das betrifft Aspekte wie Lebensstandard, die Wohnsituation, das Familienleben und der Überzeugung, im Leben die Chance auf Erfolg zu haben. Etwas weniger gut werden die eigene Finanzsituation und die Zukunftsaussichten eingeschätzt.

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Teil III Checks and Balances: Institutionen, Akteure und Strukturen

Verfassungspolitische Grundlagen des Regierungssystems Barbara Zehnpfennig

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Der Weg zur Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Grundsätze der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Die Verfassungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Die Entstehung der Verfassung der Vereinigten Staaten war von einer heftigen Debatte über das richtige Republikanismus-Verständnis, die Reichweite des Föderalismus, die konkrete Umsetzung der Gewaltenteilung begleitet. Die Verfassung selbst stellt sich als ein „Bündel von Kompromissen“ dar, in dem die divergierenden Interessen zum Ausgleich gebracht wurden. In dieser Kompromissfähigkeit der Verfassungsväter und in einer flexiblen Auslegung der Verfassung liegt wohl auch deren Anpassungsfähigkeit begründet. Schlüsselwörter

Verfassungsgeschichte · Republikanismus · Liberalismus · Gewaltenteilung · Föderalismus

B. Zehnpfennig (*) Philosophicum, Universität Passau, Passau, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_7

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B. Zehnpfennig

Einleitung

Eine politische Verfassung, die weit mehr als zweihundert Jahre Bestand hat und selbst in einer Zeit, in der wissenschaftlicher und technischer Fortschritt zu einer ständigen Revolutionierung der Lebensverhältnisse führt, keiner grundlegenden Änderung bedarf, ist etwas geschichtlich Einzigartiges. Die 1788 ratifizierte amerikanische Verfassung lässt offenbar so viel Raum für Interpretation, dass sie noch immer so funktionstüchtig zu sein scheint wie in der Gründungsphase der Vereinigten Staaten. Nur 27 „Amendments“, Verfassungszusätze bzw. -änderungen, waren nötig, um sie den Erfordernissen der Zeit anzupassen. Alle weiteren Anpassungen erfolgten über die Verfassungsdeutung. Das heißt natürlich nicht, dass es den Gründervätern gelungen wäre, eine Verfassung zu entwerfen, die alle zu allen Zeiten zufriedengestellt hätte. Bereits zur Zeit ihrer Abfassung rief sie heftige Kontroversen hervor, und auch gegenwärtig wird immer wieder auf Probleme im politischen Prozess hingewiesen, die man für konstitutionell bedingt hält. Dazu zählt etwa das Phänomen des gridlock, der Totalblockade des amerikanischen Regierungssystems. Ein neu hinzugekommenes Problem ist eine Obstruktionspolitik von unerwarteter Seite – von Seiten des Oberhaupts der Exekutive. Präsident Trump stellt das von der Verfassung vorgesehene Equilibrium der drei Gewalten durch kompromisslose Selbstdurchsetzung und die gezielte Aushöhlung der Administration in Frage (Bauer 2018; Lewis 2019). Dabei kommt ihm eine starke parteipolitische Polarisierung zur Hilfe, eine Tatsache, die die Verfassungsväter zur Zeit der Gründung mangels Parteien nicht vorhersehen konnten. Insofern könnte es sich als Schwäche der Verfassung erweisen, dass sie auf eine Kompromisswilligkeit aller Beteiligten zugunsten des Systemerhalts angewiesen ist – bei einer freiheitlichen Verfassung eine unumgängliche Voraussetzung. Doch gerade, weil die amerikanische Verfassung die Freiheit so hochhält, ist sie es, auf die sich der amerikanische Nationalstolz konzentriert. Das Konzept des „Verfassungspatriotismus“, von Dolf Sternberger entwickelt (Sternberger 1982), von Jürgen Habermas übernommen (Habermas 1999, S. 142–143), hat sein Vorbild in der amerikanischen politischen Kultur. Die Verfassung symbolisiert für die Amerikaner den entschiedenen Schritt in die Moderne, den sie vor mehr als zweihundert Jahren wagten; sie ist nicht nur das Gründungsdokument der amerikanischen Demokratie, sondern auch die Basis für den „American Creed“, den geradezu religiös überhöhten Glauben an die eigene weltgeschichtliche Mission (Bellah 1986). Von daher ist der Rang, den die Verfassung im politischen wie im Alltagsleben der Amerikaner einnimmt, kaum zu überschätzen (Foley 1991, S. 195–213).

2

Der Weg zur Verfassung

Als die „pilgrim fathers“, englische Puritaner, die ihr Heimatland wegen religiöser Verfolgung verlassen mussten, 1620 mit der Mayflower nach Amerika übersetzten, unterzeichneten sie auf dem Schiff einen Vertrag. Damit nahmen sie vorweg, was zum zentralen Paradigma der neuzeitlichen Staatstheorie etwa von Hobbes, Locke,

Verfassungspolitische Grundlagen des Regierungssystems

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Rousseau und Kant werden sollte: die Gründung einer politischen Gemeinschaft per Kontrakt. Einen solchen Kontrakt zum Ursprungsakt eines Gemeinwesens zu machen, setzte Mehreres voraus: die Möglichkeit eines frei gewählten politischen Neubeginns; die Gleichheit der Vertragspartner; deren Übereinstimmung hinsichtlich der Zielsetzung. All dies war bei der Übersiedlung gegeben, und es wiederholte sich in großem Rahmen, als knapp 170 Jahre später die dreizehn englischen Kolonien, die sich mittlerweile auf amerikanischem Boden angesiedelt und zu einer Union zusammengetan hatten, beschlossen, sich eine gemeinsame Verfassung zu geben. Ausschlaggebend für die Abkehr der Kolonisten von der britischen Krone war, dass die Siedler sich in ihren Mitbestimmungsrechten übergangen fühlten. Jeder englische Bürger – und als solche sahen sich die Siedler noch immer – hatte ein Anrecht darauf, mittels seiner Vertreter im Parlament über den Zugriff der Krone auf den Besitz der Bürger mitzuentscheiden. „No taxation without representation“ lautete der berühmt gewordene Slogan, mit dem sich die Siedler gegen das Vorgehen der Krone wehrten. Sie bezogen sich dabei auf die englische „bill of rights“ von 1689 (Foley und Owens 2000, S. 14), die einer der Meilensteine auf dem Weg zur Kodifizierung der Menschen- und Bürgerrechte war. Da ihre eigenen Assemblies bei der Besteuerung nicht beteiligt wurden und sie andererseits keine eigenen Vertreter im englischen Parlament hatten, wollten sich die Siedler dem Mutterland nicht länger beugen. Dass sie sozusagen eine „virtuelle“ Vertretung im englischen Parlament besäßen, wie ihnen seitens der Krone bedeutet wurde, genügte ihnen als Argument nicht (Gerston 2007, S. 20). Zur offenen Rebellion eskalierte der Widerstand, als man 1773 bei der „Boston Tea Party“ eine Ladung englischen Tees in den Hafen kippte, um damit gegen die Teesteuer zu protestieren. Das Mutterland reagierte repressiv, unter anderem wurde das Parlament von Massachusetts geschlossen (Oldopp 2005, S. 14). Das löste einen Solidarisierungseffekt aus. 1774 berief man einen gemeinsamen Kontinentalkongress in Philadelphia ein, zu dem zwölf der dreizehn Kolonien Delegierte entsandten. Man beschloss weiteren Widerstand, einen gemeinsamen Handelsboykott gegen England und die Aufstellung von Milizen. Dass dies alles in einen Unabhängigkeitskrieg münden würde, war wohl nicht geplant. Doch als die Engländer 1775 in der Nähe von Boston ein illegales Waffendepot ausheben wollten, stellten sich ihnen Bürgerwehren entgegen. Ein Krieg begann, in dessen Verlauf sich Frankreich mit den amerikanischen Siedlern verbündete und mit dazu beitrug, dass England 1783 kapitulieren und mit der Unterzeichnung des Friedensvertrags von Paris zugleich die Unabhängigkeit der amerikanischen Kolonien anerkennen musste. Die Koordinierung der Kriegshandlungen hatte der Zweite Kontinentalkongress übernommen, der 1775 zusammentrat und eine gemeinsame Armee und Marine schuf. Deren Oberbefehlshaber George Washington, der später der erste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika werden sollte, führte die Siedler zum Sieg. Am 4. Juli 1776 verabschiedete der Kongress, der in der Frage der Unabhängigkeit durchaus gespalten war (Adams und Adams 1987, S. 11), die wesentlich von Thomas Jefferson verfasste Declaration of Independence. Deshalb ist der 4. Juli der amerikanische Nationalfeiertag.

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B. Zehnpfennig

In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung findet sich Vieles von dem wieder, was Thomas Paine in seinem einflussreichen Pamphlet „Common Sense“ von 1776 entwickelt hatte (Paine 1982, S. 44–47). Die Grundlage, von der aus Paine argumentierte, ist auch Grundlage des folgenden aufschlussreichen Passus der Unabhängigkeitserklärung: Wir halten diese Wahrheiten für selbst-evident: dass alle Menschen gleich erschaffen wurden, dass sie von ihrem Schöpfer mit bestimmten unveräußerlichen Rechten ausgestattet wurden, dass unter diesen Leben, Freiheit und das Streben nach Glück sind. Dass zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingerichtet sind, welche ihre gerechten Befugnisse von der Einwilligung der Regierten herleiten; dass sobald eine Regierung diesen Zwecken verderblich wird, es das Recht des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen, die ihr Fundament auf solche Prinzipien gründet und ihre Befugnisse in einer solchen Form organisiert, wie es ihnen am dienlichsten erscheint, um ihre Sicherheit und ihr Glück hervorzubringen. ( Pole 1977, S. 109; eigene Übersetzung).

Mit der Berufung auf das Widerstandsrecht war natürlich der Abfall vom Mutterland legitimiert. Aber das Verständnis des Verhältnisses zwischen individuellen Rechten und politischer Ordnung deutete auch voraus auf die Art von Regierung, die sich die dreizehn Kolonien, zur Union geeint, später einmal geben sollten. Davon war allerdings direkt nach Kriegsende noch keineswegs die Rede. Zunächst einmal mussten sich die nun selbstständig gewordenen Einzelstaaten neu organisieren. Der Prozess der Verfassungsgebung und -änderung auf Einzelstaats-Ebene hatte bereits 1776 begonnen. Nach Wegfall der monarchischen Einflussnahme konnte noch viel konsequenter als zuvor das republikanische Element gestärkt werden. So wurde z. B. der Zensus verringert, was dem männlichen, weißen Teil der Bevölkerung ein höheres Maß an Mitbestimmung sicherte. Aber auch die Gouverneure konnten jetzt, da sie durchgängig von den Parlamenten oder dem Volk gewählt und nicht mehr von der Krone oder dem Eigentümer eingesetzt wurden, mit mehr Kompetenzen ausgestattet werden, wobei man stets auf die Trennung der Gewalten achtete. (Heideking und Sterzel 2007, S. 46) Vieles, was auf Einzelstaats-Ebene eingeführt und erprobt wurde, fand später Eingang in die Bundesverfassung. Dass die amerikanischen Siedler ihre Selbstverwaltung immer schon auf kodifizierter Grundlage betrieben hatten, war angesichts ihrer Herkunft nicht selbstverständlich. In Großbritannien gab und gibt es kein einheitliches Verfassungsdokument. Vielmehr sind nur bestimmte Teile wie die Magna Charta oder die Bill of Rights kodifiziert, während der Rest der Verfassungsgrundsätze in den Traditionen, dem Gewohnheitsrecht, den anerkannten Verfassungskommentaren liegt. Im englischen System gibt es deshalb keine klare Unterscheidung zwischen Verfassungsrecht und Parlamentsgesetz; das Parlament kann die Verfassung mit einfacher Mehrheit ändern, und da auf diese Weise keine Überordnung der Verfassung über das Gesetzesrecht vorliegt, gibt es im strengen Sinne auch keine Verfassungsgerichtsbarkeit. Es besteht Parlamentssouveränität, und das ist etwas deutlich anderes als die Volkssouveränität, welche die Siedler von Anfang an praktizierten. Diese von den Siedlern

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entwickelte Praxis inklusive der Gewohnheit, die Grundsätze, die das Zusammenleben regeln, sowie die Institutionen, auf die das Gemeinwesen aufbaut, schriftlich zu fixieren, erleichterten den Weg zur späteren Bundesverfassung erheblich. Dieser Weg musste allerdings noch eine Zwischenstation passieren: Die nun unabhängigen, mittels des Kontinentalkongresses koordinierten Einzelstaaten gaben sich ein gemeinsames Statut: das Konföderationsstatut von 1881. Das war von Anfang an mit dem Geburtsfehler behaftet, eine Gemeinschaft begründen zu wollen, ohne die Souveränität der Glieder dieser Gemeinschaft ernsthaft anzutasten. Die Probleme dieses strukturellen Defizits traten vermehrt zutage, als sich nach Beendigung des Krieges der Einzelstaats-Egoismus voll entfalten konnte, weil der gemeinsame Feind weggefallen war. Nachdem sich die wirtschaftliche Lage deutlich verschlechtert hatte, erfüllten viele Staaten ihre Zahlungsverpflichtungen nicht mehr, wodurch sich die Kreditwürdigkeit der Union insgesamt verringerte. Mangels einer gemeinsamen amerikanischen Außenhandelspolitik konnte England die Staaten in punkto Handel gegeneinander ausspielen. Drohenden sozialen Spannungen aufgrund der Wirtschaftslage begegneten einzelne Staaten mit erhöhter Papiergeldemission, was inflationär wirkte und zu einer schleichenden Enteignung der besitzenden Schichten führte. Andere Staaten verfolgten eine Austeritätspolitik, was wiederum die Besitzlosen in Verschuldung und Elend trieb. Die Nachkriegsprobleme waren mit dem bestehenden Konföderationsstatut nicht zu beheben. Eine 1787 in Philadelphia einberufene Versammlung sollte das Statut deshalb den aktuellen Erfordernissen anpassen. Als die Versammlung, die vom 25. Mai bis zum 17. September tagte, ihr Ergebnis vorlegte, hatte sie aber deutlich mehr unternommen als eine Revision des Statuts: Sie hatte eine neue Verfassung entworfen, durch die der bisherige Staatenbund durch einen Bundesstaat ersetzt worden war. Die Gegner, die sich sogleich gegen den Verfassungsentwurf formierten, machten dann auch geltend, dass die Versammlung zu einem derart weitreichenden Schritt gar nicht legitimiert war. Die Verfassungsbefürworter argumentierten dagegen, dass die amerikanische Union auf Grundlage des Statuts nicht zu retten gewesen wäre. Schnell entbrannte eine große, Staaten-übergreifende Debatte, in der sich die Verfassungsbefürworter die Bezeichnung „Federalists“ sicherten, was den Gegnern nur die negative Kennzeichnung als „Anti-Federalists“ übrig ließ. Die Federalists, zu denen Männer wie George Washington (der auch die Versammlung in Philadelphia geleitet hatte), Alexander Hamilton und James Madison gehörten, sahen Amerika visionär bereits als Gesamtnation, der es mittels eines raffinierten Systems interner Machtbalancen und -kontrollen, der checks and balances, gelingen konnte, erstmals eine Demokratie im Großflächenstaat zu verwirklichen. Sie hatten ein modernes, merkantil orientiertes und machtpolitisch relevantes Amerika vor Augen. Bei den Anti-Federalists, die heterogener als die Federalists waren, sich zum Teil aber auf der Linie von Thomas Jefferson bewegten, überwog oft das Misstrauen gegenüber einer starken Zentrale und die Vorstellung eines genügsamen, lokal verwurzelten und agrarisch ausgerichteten Lebens, das seinen Mittelpunkt in der kleinen politischen Einheit findet (Kenyon 1966). Die genannte Bruchlinie, in der man durchaus den Gegensatz von Liberalismus und Republikanismus wiederfinden kann, hat sich im amerikanischen Denken

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durchgehalten. Sie prägt auch die beiden großen amerikanischen Parteien, was nicht ganz zufällig ist, da diese letztlich auf gewissen Umwegen aus der Spaltung zwischen Federalists und Anti-Federalists hervorgegangen sind. Die neue, bundesstaatliche Verfassung zu ratifizieren, sollte Ratifizierungskonventen übertragen werden, die in den Einzelstaaten eingerichtet wurden. Um die Wahrscheinlichkeit der Annahme der Verfassung zu erhöhen, sollte die Unterzeichnung von neun der dreizehn Staaten genügen, um die Verfassung in Kraft treten zu lassen. Allerdings hätte die Verfassung dann auch nur für die Unterzeichner-Staaten gegolten. Eine solche Teilung der Union trat aufgrund der Zustimmung aller dann aber nicht ein.

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Grundsätze der Verfassung

Die Veränderungen, die sich in der politischen Wirklichkeit Amerikas seit der Gründungszeit vollzogen haben, sind sehr weitreichend: Die Verfassung war für rund drei Millionen Amerikaner entworfen worden, mittlerweile sind es über 300 Millionen von ethnisch sehr unterschiedlicher Herkunft; die demokratische Teilhabe ist nicht mehr Sache einer Minderheit, sondern jedes Amerikaners, der älter ist als 18 Jahre; die politischen Akteure sind die Parteien, die es damals so noch nicht gab; der politische Prozess erfordert ein sehr viel höheres Maß an Steuerung und Entscheidung als früher; die Medienöffentlichkeit übt einen starken Einfluss auf das politische Geschehen aus; die Rücksichtnahme auf Lobbies prägt den politischen Prozess auf allen Ebenen; Amerika hat die Rolle einer Weltmacht bzw. eines um seine Einflusssphären ringenden Welthegemons; die Bedeutung der Ökonomie hat sich maßgeblich erhöht; die Globalisierung verflicht den modernen Staat in Netzwerke und Abhängigkeiten, die völlig autonomes Agieren nicht mehr erlauben usw. Wieso scheint die Verfassung all diesen neuen Herausforderungen gewachsen zu sein? Die schon erwähnte Anpassungsfähigkeit der Verfassung hat ihren Grund wohl nicht nur in der Deutungsbreite, die ihre Artikel eröffnen, oder gar im Vorherrschen von Generalklauseln. Ein wesentlicher Grund könnte vielmehr sein, dass in der Verfassung Kompromisse aller Art zum Ausdruck kommen. Die großen Staaten wollten entsprechend ihrer Größe mehr Gewicht in der Vertretung bekommen als die kleinen Staaten; letztere plädierten für gleiche Repräsentation. Die Südstaaten beharrten auf der Berücksichtigung ihrer Sklaven bei der Ermittlung der Bevölkerungszahl, was sich zuungunsten der mittleren und nördlichen Staaten ausgewirkt hätte. Agrarisch orientierte Staaten hatten andere Präferenzen im Hinblick auf die Machtverteilung, speziell bei der Regulierung des Handels, als die merkantil ausgerichteten Staaten. Liberal denkende Männer glaubten an eine interne Balancierung der Gewalten, aufgrund derer es z. B. möglich wäre, auch die Exekutive mit entsprechenden Kompetenzen zu versehen, während primär republikanisch ausgerichtete Konventteilnehmer die Macht möglichst dezentral verorten wollten und eine schwache Exekutive bevorzugten (Heideking und Sterzel 2007, S. 54–55; Adams und Adams 1994, S. XXX–XXXI).

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All dies und noch eine Reihe anderer Konfliktpunkte mussten zum Ausgleich gebracht werden. Unstrittig und insofern allen Beteiligten gemeinsam war, dass man die republikanische Regierungsform wollte, was die Ablehnung der direkten Demokratie und die Existenz einer Volksvertretung, keineswegs aber schon das Wahlrecht für alle bedeutete. Außerdem war man sich einig, der Montesquieuschen Gewaltenteilungslehre folgen zu wollen und den Einzelstaaten hinreichende Kompetenzen zu belassen. Aber was war nun republikanisch? Welches Verständnis Montesquieus war das richtige? Und wie sollte der Föderalismus gestaltet werden, damit sowohl der Bund als auch die Einzelstaaten zu ihrem Recht kamen? Im Verfassungskonvent erfolgte der Ausgleich eines Teils der divergierenden Interessen durch den „great compromise“, der zwischen zwei Konzepten vermittelte. Der sogenannte „Virginia-Plan“ hatte eine echte Bundesregierung und eine Legislative in Form eines Zwei-Kammer-Systems mit proportionaler Vertretung aller Staaten vorgesehen. Das hätte den großen Staaten ein klares Übergewicht gegeben. Der New Jersey-Plan bestand im Grunde nur aus einer Korrektur des Konföderationsstatuts und plädierte für ein Ein-Kammer-System, durch das die Staaten gleich repräsentiert werden sollten, was sich natürlich zugunsten der kleinen Staaten ausgewirkt hätte (Adams und Adams 1987, S. 322–326). Mittels des „great compromise“ verständigte man sich auf eine echte bundesstaatliche Lösung, bei der die eine Kammer der Legislative, das Repräsentantenhaus, auf proportionaler, die andere Kammer, der Senat, auf gleicher Vertretung beruhte. Da zugleich die Amtszeit der Senatoren deutlich länger angelegt war (6 Jahre) als die der Repräsentanten (2 Jahre), war man damit den Interessen der kleinen Staaten entgegengekommen, ohne die der großen Staaten zu vernachlässigen. Ein echtes Problem war auch die Sklavenfrage. Die südliche Plantagenwirtschaft beruhte zu großen Teilen auf der Arbeit von Sklaven, in den Nordstaaten gab es die Bestrebung, die Sklaverei längerfristig abzuschaffen, sofern sie nicht bereits verboten war. Bei diesem Konfliktpunkt bestand der – fragwürdige – Kompromiss darin, die Sklaven als Drei-Fünftel-Menschen (drei Teile Mensch, zwei Teile Besitzgegenstand) in die Berechnung der Bevölkerungszahl eingehen zu lassen. An ein Wahlrecht der Sklaven dachte natürlich niemand, ebenso wenig wie an das der Frauen, das erst durch das 19. Amendment im Jahr 1920 eingeführt wurde. Die Halbherzigkeit in der Sklavenfrage sollte sich später rächen. Der amerikanische Bürgerkrieg von 1861–1865 trug den Konflikt zwischen Sklavenhaltern und Gegnern der Sklaverei blutig aus; der Auseinanderfall der Union konnte nur mit kriegerischen Mitteln verhindert werden. Ein weiterer gravierender Dissens bestand in der Frage, ob man in die Verfassung einen Grundrechtekatalog, eine bill of rights, aufnehmen sollte (Adams und Adams 1994, S. LXXVIII), wie man sie aus England kannte und wie sie als erster der Staat Virginia in seine Verfassung inkorporiert hatte. Thomas Jefferson war ein vehementer Befürworter eines solchen Katalogs, Hamilton und Madison sahen dafür in einer Volksregierung anders als in einer Monarchie keinen Bedarf; der Souverän muss sich nicht via Grundrechte gegen sich selbst versichern. Die Verfassung wurde dann auch ohne den Katalog ratifiziert, allerdings nur mit dem Versprechen einer Nachbesserung (Heideking und Sterzel 2007, S. 55). 1791 erfuhr die Verfassung ihre erste

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Erweiterung durch zehn Amendments, in denen die wesentlichen Menschenrechte kodifiziert wurden. Die amerikanische Verfassung ist also „a bundle of compromises“, das Ergebnis eines Ringens einander widerstreitender Kräfte, die zum Ausgleich gebracht werden konnten. Das sicherte ihr damals Akzeptanz und ist bestimmt auch ein wesentlicher Grund dafür, dass sie sich dem Wandel der Zeiten so anzupassen vermochte. Nichtsdestotrotz ist sie kein Sammelsurium, kein Ausdruck von Beliebigkeit. Vielmehr finden sich in ihr Prinzipien verwirklicht, die wegweisend für die moderne Demokratie wurden und von Verfassungsgegnern wie -befürwortern gleichermaßen vertreten wurden: Republikanismus, Gewaltenteilung und Föderalismus. Alle drei Prinzipien spielen ineinander und bilden so das komplexe Ganze der Verfassung. Alle drei Prinzipien wurden allerdings von den beiden um die Verfassung ringenden Parteien ganz unterschiedlich gedeutet. Welche Deutung ist der Verfassung unterlegt? 1. Republikanismus. Der kleinste gemeinsame Nenner im Verständnis des Begriffs „Republikanismus“ ist, dass damit die Volksregierung mittels Volksvertretung gemeint ist. Bei den Verfassungsgegnern hatte der Begriff aber noch viel weitergehende Konnotationen: Die Volksregierung verwirklicht sich am besten in der kleinen, selbstgenügsamen Gemeinschaft. Dort gedeihen die Bürgertugenden, die ein selbstbestimmtes Zusammenleben erfordert. Da Macht korrumpiert, muss sie eingeschränkt werden und nahe bei den Bürgern bleiben. Mit einem solchen Modell ist gesellschaftliche Homogenität deutlich besser vereinbar als Pluralität; obwohl der Einfluss John Lockes in den Kolonien sicher größer war als der Jean-Jacques Rousseaus, sind auch dessen Vorstellungen von der tugendhaften, kleinräumigen Republik in den allgemein herrschenden Eklektizismus eingeflossen (Bailyn 1992, S. 23, 27, 29). Montesquieu kann ebenfalls in diesem Zusammenhang genannt werden, ist für diesen das Prinzip der Republik doch die Tugend, die ihrerseits in der Liebe zur Gleichheit besteht (Montesquieu 1999, S. 62, 63). Nun waren allerdings nicht nur die Verfassungsbefürworter, sondern ebenfalls die Verfassungsgegner durchaus skeptisch, was die natürliche Güte des Menschen angeht (Kenyon 1955). Hier war das puritanische Erbe wohl stärker als der Einfluss Rousseaus. Dennoch setzten sie deutlich mehr auf bürgerliche Tugenden, als es im liberalen, Eigennutz-orientierten Denken der Fall ist, und die Gemeinschaft stand bei ihnen viel stärker im Mittelpunkt, als es der liberale Individualismus zulässt. Geht man davon aus, dass die „Federalist Papers“ den authentischen Kommentar zur amerikanischen Verfassung liefern (Zehnpfennig 2007, S. 1–44), kann man mit einiger Berechtigung behaupten, dass sich in der Verfassung die liberale Lesart durchgesetzt hat (Zehnpfennig 2010). Schon der Sprung vom Staatenbund zum Bundesstaat bedeutete den Bruch mit der Vorstellung, eine Demokratie sei im Großflächenstaat nicht möglich. Weshalb diese Vorstellung falsch ist, begründen die Federalists mit dem Prinzip des Pluralismus: Wenn die Diversifikation der Interessen, die Teilung der Gesellschaft in Sekten, Parteiungen und soziale Schichten groß genug ist, verhindert das Gegeneinander der Kräfte die Durchsetzung einer Kraft bzw. die Tyrannei der Mehrheit (Hamilton et al. 2007, Art. 10,

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S. 93–100). Das Gegeneinander ermöglicht erst das Miteinander; der Individualismus hat Vorrang vor dem Gemeinsamen. In der Logik dieses Ansatzes liegt auch die deutliche Verschiebung von Kompetenzen der Einzelstaaten auf die Zentralgewalt. Ein nicht per se auf Tugend und Genügsamkeit bauendes System muss Zu- und Durchgriffsrechte an einem Ort konzentrieren. Deshalb obliegt es, wie Art. I, 8 der Verfassung festlegt, dem Bund, die für nationale Zielsetzungen nötigen Steuern einzuziehen, den Außen- und Binnenhandel zu regeln, über die Währung zu entscheiden, Armeen aufzustellen, Krieg und Frieden zu erklären usw. Hier sind alle Befugnisse gebündelt, die Ausdruck nationaler Interessen sind, nicht zuletzt die Sicherstellung der finanziellen Ressourcen und die Sorge für die äußere Sicherheit. Den besonderen Argwohn der Verfassungsgegner im Hinblick auf die Bundeskompetenzen erregte die necessary and proper-Klausel, die eine Art Generalklausel darstellt. Danach ist der Kongress berechtigt, die Umsetzung aller Bundeskompetenzen mittels Gesetzen zu unterstützen, die dafür „notwendig und geeignet“ sind. Diese Formel kann in der Tat so ausgedeutet werden, dass die Verfassung die Grenzen der Bundesgewalt gegenüber den Kompetenzen der Einzelstaaten nicht allzu scharf zieht, was einer Machtokkupation des Bundes Vorschub leisten kann (MacKay 2009, S. 49). Eindeutig ist hingegen die in Art. VI, 2 verankerte Klausel, dass die Verfassung selbst sowie alle Gesetze, die im Einklang mit ihr erlassen wurden, supreme law of the land sein sollen. Bundesrecht bricht Staatenrecht, ein Grundsatz, der nicht nur in Bezug auf den in der Verfassung zugrunde gelegten Republikanismusbegriff von Bedeutung ist. Natürlich kennzeichnet er auch die Grenzen des Föderalismus, und er weist voraus auf die in der Verfassung nicht explizit genannte Möglichkeit der Normenkontrolle. Denn die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und Verordnungen setzt die Überordnung der Verfassung über das Gesetzesrecht voraus. Dass Art. 4 der Verfassung jedem Mitgliedsstaat der Union die republikanische Regierungsform garantiert, erscheint in Bezug auf die Befürchtungen der Anti-Federalists, der Bund könnte zunehmend Macht okkupieren, ambivalent. Einerseits ist die innerstaatliche Demokratie durch diesen Artikel geschützt, andererseits könnte man argwöhnen, dass dem Bund damit Eingriffsmöglichkeiten in innerstaatliche Angelegenheiten verschafft werden. Die Federalists rechtfertigen diese Bundesgarantie damit, dass jede übergeordnete Gemeinschaft ihren Gliedern den Schutz vor Invasionen und inneren Unruhen schulde, den Einzelstaaten aber nach wie vor freistehe, eine selbstgewählte andere Variante der republikanischen Regierungsform einzurichten (Hamilton et al. 2007, Art. 43, S. 276–279). 2. Gewaltenteilung. Die Gewaltenteilungslehre Montesquieus hatte in der Verfassungsdebatte den Rang eines unantastbaren Dogmas. Allerdings hatte Montesquieu sein Modell an einer Monarchie entwickelt, und seine Ausführungen über die Aufteilung der Gewalten folgten der Logik einer Ständegesellschaft. Der Transfer des Montesquieuschen Modells einer gewaltenteiligen, gemischten Verfassung auf ein demokratisches Gemeinwesen erforderte also einige Überset-

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zungsleistung. Insofern verwundert es nicht, dass Federalists und Anti-Federalists eine sehr unterschiedliche Lesart ihres Lieblingsautors pflegten. Für die Anti-Federalists hatte Montesquieu die Republik wegen der in ihr erforderlichen Tugend dem kleinräumigen Gemeinwesen vorbehalten, und die Teilung der Gewalten sollte eine strikte sein. Für die Federalists hatte Montesquieu hingegen gerade die föderative Republik als Möglichkeit zur Verwirklichung des republikanischen Gedankens in einem größeren Gemeinwesen empfohlen, und die Trennung der Gewalten sollte nur die völlige Vereinnahmung der einen durch die andere verhindern, nicht aber eine teilweise Überlappung zum Zweck der Kontrolle oder Kooperation (Hamilton et al. 2007, Art. 9, S. 90–91; Art. 47, S. 301–304). Die letztgenannte Variante der Gewaltenteilung ist die in der Verfassung realisierte. Ein raffiniertes System sich wechselseitig beschränkender, aber auch miteinander kooperierender Gewalten ist darauf angelegt, ein Equilibrium der Kräfte hervorzubringen. Dass man damit auch einen allgemeinen Stillstand hervorbringen könnte, war damals noch nicht im Fokus der Debatte. Wie funktioniert das System der checks and balances nun genau? Dass in einer Volksregierung die Legislative als die volksnaheste Gewalt besonders gut kontrolliert werden muss, um eine Tyrannei der Mehrheit zu verhindern, war den Verfassungsvätern klar (Heideking und Sterzel 2007, S. 51). Ein erster Schritt war hier die Spaltung der Legislative: Die auf zwei Jahre gewählten Mitglieder des Repräsentantenhauses vertreten die nationale Komponente, die auf sechs Jahre gewählten Senatoren die föderative. Unterschiedliche Provenienz und unterschiedliche Verweildauer der Mitglieder beider Häuser bedeuten einen Schutz vor Homogenität dieses Verfassungsorgans. Da man ein präsidentielles System entwarf, in dem der Präsident also anders als im parlamentarischen System nicht aus dem Parlament heraus gewählt wird, entwickelte man für die Wahl der Exekutive ein kompliziertes, mittlerweile modifiziertes Verfahren. Gemäß den Vorgaben der Legislativen der Einzelstaaten sollten Wahlmänner ernannt werden, die den Präsidenten in unabhängiger persönlicher Entscheidung für vier Jahre wählen sollten. Die Judikative wiederum sollte aus Gerichten bestehen, die vom Kongress eingerichtet werden; die Richterämter waren auf Lebenszeit angelegt. Schon die Amtszeiten sind also raffiniert gestaffelt: zwei Jahre für die Volksvertreter, vier Jahre für den Präsidenten, sechs für die Senatoren und eine lebenslängliche Amtszeit für die Richter. So kann man – idealiter – die Entstehung festgefügter Machtblöcke verhindern. Auch die Legitimationsbasis ist unterschiedlich: Die Repräsentanten wählt das gesamte amerikanische Volk, die Senatoren (damals noch) die Legislative jedes Einzelstaats, den Präsidenten ein von den Legislativen der Einzelstaaten ernanntes, aber unabhängiges Elektorengremium, die Richter der Kongress. Dass man sich in der amerikanischen Verfassung für ein präsidentielles System entschied und dem Präsidenten trotz entsprechender Bedenken der Verfassungsgegner eine so starke, vom Parlament unabhängige Stellung verlieh, hing wohl mit der Angst vor einer zu mächtigen Legislative und dem Vertrauen in das System der „checks and balances“ zusammen.

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Dieses stellt sich dann auch als durchdacht angelegtes System aus Kooperation und Kontrolle, aus einem Miteinander und Gegeneinander dar. Repräsentantenhaus und Senat müssen bei der Gesetzgebung zusammenarbeiten; Etatgesetze kann aber nur das Repräsentantenhaus einbringen. Dem Präsidenten steht ein aufschiebendes, aber kein absolutes Veto gegen die Gesetze zu; er muss die Gesetze exekutieren. Mit dem Senat kooperieren muss er beim Abschluss von Verträgen, der Ernennung von Botschaftern und Gesandten und der Richter der obersten Bundesgerichte. Über ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn (impeachment) entscheidet der Senat, dessen Vorsitzender wiederum der Vizepräsident ist, dem allerdings nur im Fall von Stimmengleichheit ein Stimmrecht zukommt. So haben weder Legislative noch Exekutive uneingeschränkte Macht; beide haben aber entscheidende Befugnisse: Das Repräsentantenhaus verfügt über the power of the purse, das Etatrecht. Der Präsident führt the sword, (Hamilton et al. 1961, S. 78, 465), er ist der Entscheider, was sich nicht zuletzt an seiner Position als Oberbefehlshaber der Streitkräfte zeigt. Wie gestaltet sich im Vergleich dazu die Rolle der Judikative? Dem Wortlaut der Verfassung nach ist sie die schwächste der Gewalten, denn sie kann nicht direkt in die Tätigkeit von Legislative und Exekutive eingreifen und erfährt darüber hinaus durch die Mitwirkung von Geschworenengerichten bei Strafverfahren sozusagen eine Kontrolle „von unten“, durch die Bürger. Gestärkt wird sie durch die Amtsdauer der Richter, ihr Verweilen im Amt auf Lebenszeit. Eine weitaus entscheidendere Stärkung erfuhr die Judikative jedoch durch die Verfassungsinterpretation, die bereits in den „Federalist Papers“ anhebt: die aus der limited constitution (Hamilton et al. 1961, S. 78, 466) abgeleitete Kompetenz zur Normenkontrolle. Danach erfordert der Umstand, dass die Verfassung der Legislative nur eingeschränkte Gesetzgebungsbefugnisse zuerkennt – so dürfen keine Gesetze mit rückwirkender Kraft oder Proskriptionsgesetze erlassen werden –, das Vorhandensein einer Instanz, welche diese Rückbindung der Parlamentsgesetze an die Verfassungsbestimmungen prüft. Damit ist die Judikative, speziell der Supreme Court, zum Hüter der Verfassung ernannt. Wenn die Judikative, wie seit dem berühmten Supreme Court-Urteil Marbury vs. Madison aus dem Jahr 1803 bestätigt, das Recht hat, die Verfassungskonformität legislativer und exekutiver Akte zu überprüfen, ist sie im Machtgefüge eine ernstzunehmende dritte Kraft. Damit verschiebt sich das Augenmerk auf die Frage, wie sie ihrerseits kontrolliert wird. Diese Kontrolle liegt primär in der Bestellung der Richter durch Präsident und Senat. Gewaltenteilung bedeutet in der amerikanischen Verfassung also partielle Gewaltenverschränkung zum Zweck der Zusammenarbeit und der wechselseitigen Überwachung. Doch die Konkurrenz um die Macht soll noch tiefer verankert sein als nur in den Institutionen. In den „Federalist Papers“ enthüllen die Autoren den eigentlichen Wirkmechanismus hinter der Verfassung: „Man muss dafür sorgen, dass Ehrgeiz dem Ehrgeiz entgegenwirkt.“ (Hamilton et al. 2007, Art. 51, S. 320). Zusätzlich zu den in der Verfassung verankerten Vorkehrungen gegen eine Konzentration der Macht in einer der Gewalten ist es das Eigeninteresse der

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Amtsinhaber, das für die Balancierung der Gewalten sorgen soll. Damit ist der Tribut, den die Verfassung dem liberalen Eigennutz- und Konkurrenzgedanken zollt, offenkundig (Zehnpfennig 2010, S. 86–89). Fast noch bedeutsamer als die horizontale war für die Anti-Federalists aber die vertikale Gewaltenteilung: die Verteilung der Macht zwischen Bund und Einzelstaat. Hier trafen die unterschiedlichen Konzepte des Föderalismus aufeinander. Einem Föderalismus, der die amerikanische Union als Bund souveräner Einzelstaaten verstand, bereitete die Verfassung ein Ende. 3. Föderalismus. Der Glaube, Macht korrumpiere und bedürfe deshalb der unmittelbaren Rückkoppelung an die Bürger, ließ viele Verfassungsgegner vor einer Verschiebung der Macht auf eine weit entfernt liegende Zentralregierung zurückschrecken. So sahen die Verfassungsgegner in der Verfassung auch diverse Einfallstore für eine Machtokkupation des Bundes zu Lasten der Einzelstaaten. Dazu zählen die schon erwähnte necessary and proper-Klausel und der Artikel, der die Suprematie des Bundes festlegt, aber auch die commerce-Klausel aus Art. I, 8 (Heun 2012, S. 610). Diese befugt den Bund, den Außen- und Binnenhandel der Vereinigten Staaten zu regeln. Da es interpretationsfähig ist, was alles zur Regelung des Handels zählt, kann eine großzügige Auslegung tatsächlich zur Beschneidung von EinzelstaatsRechten führen. Deshalb befürchteten manche die Entstehung eines consolidated government, eine Verschmelzung der Staaten zu einer unitarischen Regierung, in der die darüber hinaus diagnostizierten aristokratischen und monarchischen Elemente sich ungehemmt entfalten und zur Unterdrückung der Bevölkerung führen könnten. Anders als es die pessimistische Wahrnehmung ihrer Gegner nahelegt, sieht die Verfassung aber auch Regelungen vor, welche die Einzelstaaten explizit in ihren Rechten bestätigen. Dazu gehören die gleiche Vertretung der Staaten im Senat, die Unverletzlichkeit ihres Hoheitsgebiets, die Garantie der republikanischen Regierungsform und der Schutz vor Invasion und Revolten (McKay 2009, S. 66). Die „Federalist Papers“ zählen noch weitere Faktoren auf, welche die Staaten in ihrem Verhältnis zum Bund stärken: Die Staaten wirken an der Bestellung der Bundesregierung mit, der Bund aber nicht an der der Staaten; die Einzelstaaten können selbst Steuern einziehen und bei der Einziehung der Unionssteuern nach ihren eigenen Regeln verfahren; die Befugnisse des Bundes sind klar umgrenzt, während die der Staaten unbegrenzt und deutlich umfangreicher sind, da die des Bundes sich primär auf die Verteidigung, die gemeinsame Außenpolitik und den Handel beziehen, während den Staaten die Regelung der Dinge des normalen Lebens obliegt (Hamilton et al. 2007, Art. 45, S. 291–293). So klar umgrenzt – und begrenzt – waren die Befugnisse des Bundes dann aber doch nicht, wie schon an der necessary and proper-Klausel erkennbar. Außerdem wurden den Einzelstaaten in Art. I, 10 bestimmte Befugnisse explizit genommen, etwa der selbstständige Vertragsschluss, die Emission einer eigenen Währung, die Erhebung von Zöllen oder die eigenmächtige Aufstellung von Truppen. Um die Staaten in ihrer Selbstständigkeit doch noch besser abzusichern, als im ursprünglichen Verfassungstext vorgesehen, wurde deshalb 1791 im 10. Zusatzartikel fest-

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gelegt, dass alle Kompetenzen, die nicht ausdrücklich dem Bund übertragen oder den Einzelstaaten genommen wurden, bei Letzteren bzw. dem Volk verbleiben. Der duale Föderalismus, den die Verfassung etablierte, machte aus souveränen Staaten Gliedstaaten. Das war aber unabdingbar, wenn man eine Union wollte, die mehr war als ein loser Verbund von Staaten, und mehr wollte als eine bloß ephemere Rolle in der Geschichte. Dank z. T. eigenständiger, z. T. mit der des Bundes konkurrierender Gesetzgebung konnten die amerikanischen Bundesstaaten jedoch eine Selbstständigkeit bewahren, die weit höher ist als etwa die der deutschen Bundesländer. Dass sie nichtsdestotrotz auf Rechte verzichten mussten, lag in der Natur des Zusammenschlusses. Eigentlich gehörte es auch zum intellektuellen Repertoire der Verfassungskritiker, dass ein Vertragsschluss mit Rechtsverzicht einhergeht. Sie übertrugen diesen Grundgedanken des Kontraktualismus nur nicht vom Gesellschafts- auf den Bundesvertrag.

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Die Verfassungspraxis

Welche Praxis aus der Verfassung abgeleitet wird, ist in der Verfassung selbst natürlich nicht kodifiziert. Dennoch könnte man anhand der im Lauf der letzten zweihundert Jahre verabschiedeten Zusatzartikel eine kleine Geschichte der Vereinigten Staaten schreiben (von Hoff 2008, S. 15–82). So spiegeln die Veränderungen im Wahlrecht die zunehmende Demokratisierung der USA wider (Schreyer 2007, S. 266–268). Seit 1804 werden die Senatoren direkt von der Bevölkerung der Einzelstaaten gewählt; nach dem Sezessionskrieg und der Abschaffung der Sklaverei wurde 1870 die Beschränkung des aktiven Wahlrechts aufgrund der Ethnie aufgehoben; 1920 folgte das Frauenwahlrecht; 1971 im Gefolge des Vietnamkrieges, in dem bereits 18 Jährige ihr Leben für ihr Land einsetzen mussten, die Herabsetzung des Mindestalters für die Wahl auf 18 Jahre. Dazu kommen demokratische Veränderungen, die sich nicht in der Bundesverfassung, sondern in den Einzelstaatverfassungen niedergeschlagen haben, z. B. die allmähliche Abschaffung des Zensus und der Wandel im Wahlmodus bei der Präsidentenwahl. Nun werden die Wahlmänner nämlich direkt von der Bevölkerung gewählt, und die Elektoren geben zuvor bekannt, für wen sie stimmen werden. Sie handeln also nicht mehr autonom, wobei sie allerdings nicht in allen Bundesstaaten an ihre Zusage gebunden sind. Aber nicht nur die Demokratisierung, sondern auch andere gesellschaftliche und politische Entwicklungen reflektieren sich in den Zusatzartikeln. Der 12. Zusatzartikel von 1804, nach dem die Wahl des Präsidenten und die des Vizepräsidenten getrennt vonstatten gehen sollen, war eine Reaktion auf die Tatsache, dass 1800 das Patt zwischen den Präsidentschaftskandidaten Aaron Burr und Thomas Jefferson eine mehrere Monate dauernde Krise zur Folge hatte. Die 1951 beschlossene Begrenzung der Amtszeit des Präsidenten auf zwei Amtsperioden hing nicht zuletzt mit der Erfahrung zusammen, 1944, in der kritischen Phase des 2. Weltkriegs, führungslos dazustehen, weil der bereits zum vierten Mal gewählte Präsident Roosevelt tödlich erkrankt war. Und nach dem Mord an John F. Kennedy wurde 1967

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festgelegt, automatisch dem Vizepräsidenten das Präsidentenamt zu übertragen, wenn der Präsident selbst das Amt nicht mehr wahrnehmen kann. Man hat die Verfassung also dort, wo sie sich als den Erfordernissen der Zeit nicht mehr gemäß erwies, korrigiert. Ob das System aber insgesamt so, wie die Verfassungsväter es versprochen hatten, funktioniert, ist umstritten. Im Grunde gilt das für alle drei Aspekte, die im vorigen Absatz genannt wurden, den Republikanismus, die Gewaltenteilung und den Föderalismus. 1. Wieweit das republikanische Element noch trägt, ist weniger ein konstitutionelles als ein gesellschaftliches Problem. Denn wenn man mit Republikanismus den aktiven Einsatz des Bürgers für sein Gemeinwesen verbindet, hat die in der Verfassung fortgeschriebene Demokratisierung die Teilhabemöglichkeiten eher erhöht. Was einem gemeinsamen republikanischen Bewusstsein aber im Wege steht, ist die zunehmende Individualisierung in der Gesellschaft (Kainz 2012, S. 19–23; Lilla 2017; Fukuyama 2019) und eine damit einhergehende Kompromissunwilligkeit. Das zeigt sich nicht zuletzt an einer politischen Radikalisierung, wie sie sich bspw. in der Tea Party-Bewegung niedergeschlagen hat – jenem Teil der Republikanischen Partei, der in seiner Kompromisslosigkeit mitverantwortlich ist für ein Klima, das die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten erst möglich gemacht hat (Oswald 2018). Die Zerrissenheit der Gesellschaft aufgrund divergierender, durch Lobbymacht gestützter Interessen führt zur Stärkung der Schiedsinstanzen, sprich: der Judikative. Als Gegenbewegung ist die Forderung nach einem republican revival (Michelman 1988; Sunstein 1988) laut geworden, eine Erneuerung des amerikanischen Denkens aus dem Geist der Gründungsväter heraus, bzw. die Wendung zu einem popular constitutionalism (Eisgruber 2001; Kramer 2004), der die Verfassung nicht nur als juristischen Text, sondern auch als Werteordnung liest, die Ausdruck des Volkswillens ist. Allerdings dürfte es sich als schwierig erweisen, Letzteren in einer derart pluralistischen Gesellschaft festzustellen. Zudem ist der Versuch, republikanisches Ethos und rule of law miteinander zu versöhnen, auf die schon erwähnte Grundproblematik zurückgeworfen: die Spannung zwischen Republikanismus und Liberalismus. Die Grundrechte sind Individualrechte, und diese bestehen primär darin, das Eigene von dem des Anderen abzugrenzen. Eine auf Konkurrenz gründende Gesellschaft ist nicht per se auf Gemeinsinn hin angelegt. 2. Was die Gewaltenteilung angeht, so könnte man jeder der drei Gewalten vorwerfen, ein in der Verfassung nicht vorgesehenes Gewicht zu beanspruchen. Das fängt beim Präsidenten an. Dessen Rolle hat sich gegenüber der Gründungssituation in vielfacher Hinsicht gewandelt. Er ist nun Parteiführer; durch das geänderte Wahlverfahren, die große Medienwirkung der Wahlkampagnen sowie die Möglichkeit, sich in den neuen Medien selbst zu inszenieren (Heck 2018), konzentriert sich im Machtgefüge die größte Aufmerksamkeit auf ihn; im Gegensatz zum Wortlaut der Verfassung werden von ihm Gesetzesinitiativen erwartet (Jäger 2007, S. 147; Oldopp 2005, S. 65); sein suspensives Veto gegenüber dem Kongress kann er als endgültiges gebrauchen, wenn er die Unterzeichnung eines

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Gesetzes so lange herauszögert, bis der Kongress sich vertagt hat (pocket veto); durch die weltpolitische Rolle der USA hat er in punkto Außenpolitik sehr großes Gewicht gewonnen. Da in Krisenzeiten die Stunde der Exekutive schlägt, kann der Präsident in solchen Situationen das Tauziehen mit dem Kongress für sich entscheiden. So war es unter dem Eindruck der Attentate vom 11. September möglich, 2001 den Patriot Act, der Bürgerrechte deutlich einschränkt, durch den Kongress zu bringen (Braml 2011), und auch andere problematische Maßnahmen, die angeblich der nationalen Sicherheit dienen, wie die Behandlung von Strafgefangenen in Guantánamo oder die unkontrollierte Datensammlung des Geheimdienstes NSA, fanden wenig Widerstand seitens Legislative und Judikative. Dennoch lässt sich die These von der Entwicklung der Exekutivgewalt zur imperial presidency wohl nicht uneingeschränkt bestätigen (Oberreuter 1998); die Rolle des Präsidenten hängt stark von der historischen Konstellation und auch der Person ab. Mit Donald Trump hat allerdings ein Präsident die Bühne betreten, der die Gewichte eindeutig zu seinen Gunsten zu verschieben versucht. Er nutzt demonstrativ executive orders, um das Parlament zu schwächen, arbeitet gegen die Administration durch Nicht-Besetzung von Stellen oder Streichung von Geldern (Bauer 2018; Haas 2019) und gefährdet die Unabhängigkeit der Justiz durch parteiische Stellenbesetzungen und verbale Übergriffe (Haas 2019). Wie aber steht es mit der Position des Kongresses? Eine verfassungsmäßig nicht gewollte Machtausübung liegt sicherlich in dessen Total-Verhinderungsmacht: dem gridlock, also der Blockade allen Regierungshandelns durch verweigerte Mitarbeit (Haas 2019, S. 139–227). Erleichtert wird eine solche Blockade durch ein divided government, wenn der Kongress parteipolitisch anders ausgerichtet ist als die Exekutive. Aber auch bei gleicher parteipolitischer Ausrichtung kann der Kongress den Präsidenten ausbremsen (s. z. B. den Widerstand des Kongresses gegen Obamacare oder den von Trump angekündigten Mauerbau an der Grenze zu Mexiko), weil die Parteibindung in den USA mangels der Notwendigkeit, Fraktionsdisziplin zu üben, nicht so stark ist wie im parlamentarischen System. Das Problematische des gridlock ist, dass er in der Regel nicht politischer Entscheidung entspringt, sondern diese verhindert (Chafetz 2013, S. 2073). Bei gridlock nimmt die Nicht-Verabschiedung von Gesetzen dem Kongress die Gestaltungskraft, die Nicht-Ernennung von höheren Beamten ist kein bewusstes Votum gegen die Person, sondern ein willkürliches Aussetzen der Beschlussfassung. So kann sich durch Inanspruchnahme der Blockademöglichkeit paradoxerweise eine Selbstentmachtung der Legislative ergeben – sie beraubt sich ihrer primären Kompetenz der deliberativ zustande kommenden Gesetzgebung, und sie erlaubt es den anderen beiden Gewalten, an ihr vorbei in die von ihr gelassene Lücke zu springen (Teter 2013). Was die Judikative betrifft, so hat die Rechtsprechung des Supreme Court und anderer Gerichte eine Bedeutung im amerikanischen politischen Prozess gewonnen, für die es in der Verfassung keinen Anknüpfungspunkt gibt. Davon zeugt schon die Tatsache, dass die Ernennung der Bundesrichter ein Politikum ersten

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Ranges ist und die politische Ausrichtung der Kandidaten eine wesentliche Rolle bei der Nominierung spielt (Hübner 1989, S. 157). Die Grenzen des Föderalismus wurden nicht zuletzt von Supreme Court-Urteilen gezogen (MacKay 2009, S. 66), und auch die Entwicklung des Sozialstaats wurde wesentlich durch seine Entscheidungen geprägt (s. z. B. die Urteile zum New Deal oder Obamas Gesundheitsreform). Die Voraussetzungen von Amerikas Wandel zur modernen Industriegesellschaft wurden ebenfalls nicht zuletzt durch die Rechtsprechung des Supreme Court geschaffen (Heideking und Sterzel 2007, S. 60). Auf jeden Fall urteilte das Gericht über so wichtige Fragen wie die staatliche Regulierung des Wirtschaftslebens, die Reichweite des Grundrechteschutzes, die ethnische, geschlechtliche und sexuelle Gleichstellung etc.; je nach politischer Ausrichtung der Richter fielen die Urteile einmal konservativer, einmal progressiver aus. Kritiker der starken Stellung, die der Judikative im Machtgefüge der amerikanischen Politik zukommt, plädieren für ein judicial restraint, eine Selbstbeschränkung, die in einer Konzentration auf die direkte, am Wortlaut orientierte Auslegung der Verfassung liegen könnte. Die Gegenseite begrüßt den judicial activism, weil sie gemäß dem Konzept der living constitution davon ausgeht, dass nicht der Wortlaut, sondern der Geist der Verfassung im Mittelpunkt stehen müsse; dieser erfordere aber eine je zeitgemäße Deutung (Ashbee 2004, S. 72–76). Wie bei den anderen beiden Gewalten gibt es also auch bei der Judikative eine recht unterschiedliche Wahrnehmung, ob sie im Gesamtsystem die Position einnimmt, die ihr im Gefüge der checks and balances zugedacht war. 3. Bei der Ausgestaltung des Föderalismus ist, vor allem durch das Wirken des Supreme Court, eine deutliche Verschiebung der Gewichte zugunsten der Bundesmacht zu verzeichnen. Eine großzügige Auslegung der necessary and propersowie der commerce-Klausel trugen dazu bei, aber auch die Angleichung der Grundrechte bei Bund und Einzelstaaten (Heideking und Sterzel 2007, S. 60). Dennoch war die Entwicklung nicht geradlinig. Nach Phasen einer Ausweitung der Bundesmacht gab es auch wieder gegenläufige Tendenzen; so wurden die Bundeskompetenzen in der Zeit nach Verabschiedung der Verfassung bspw. im Hinblick auf die Besteuerung großzügig ausgelegt, während die Rechtsprechung danach den Einzelstaaten z. B. in der Wirtschaftspolitik wieder freiere Hand ließ. Das änderte sich allerdings in der Großen Depression der Dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts, als die Wirtschaftslage bundesstaatliche Eingriffe erforderlich machte (Welz 2007, S. 75–76). So prägten diverse politische und gesellschaftliche Umbrüche das Verhältnis zwischen Bund und Einzelstaaten, das sich allmählich vom dualen zum kooperativen Föderalismus wandelte (Ashbee 2004, S. 159–160) – aus einem Nebeneinander getrennter Kompetenzen wurde zunehmend eine Verflechtung von Kompetenzen. Angesichts von Zentralisierungstendenzen sprechen Kritiker allerdings auch von einem coercive federalism (Zimmerman 1992, S. 7–9). Die Macht des Bundes liegt dabei nicht zuletzt in den „goldenen Zügeln“, welche er durch seine Finanzzuweisungen ( federal grants) an die Einzelstaaten in den Händen hält (Oldopp 2005, S. 29–33). Denn die Vergabe solcher Finanzmittel kann er natürlich an Bedingungen knüpfen, welche die Autonomie der Staaten einschrän-

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ken. Insgesamt ist auch auf der Ebene des Föderalismus ein Kräfteringen festzustellen, das dann doch wieder im Sinn der Verfassung ist. Denn diese war von einer agonalen Gesellschaft ausgegangen, die ihre Einigung nur auf dem Umweg über den Konflikt erzielt.

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Fazit

Der Kompromiss, den die Verfassung in ihrer Entstehung bestimmte, begründete wohl auch ihre Anpassungsfähigkeit. Sie nahm divergierende Interessen in sich auf und versuchte, eine Balance zwischen ihnen herbeizuführen. Trotz gravierend veränderter Lebensbedingungen seit der Gründungszeit der USA ist die Verfassung, nicht zuletzt dank flexibler Auslegung, unangefochtene Basis des amerikanischen Systems und des American Creed. Als Gegenstand patriotischer Verehrung ist sie zugleich Ausdruck des Glaubens an die amerikanische Mission. Ungeachtet aller Kritik und aller Forderungen nach einer weitreichenden Reformierung ist es der Verfassung offenbar gelungen, den amerikanischen Geist einzufangen. Dieser bejaht den Konflikt als vorwärtstreibendes Moment und sieht die Konkurrenz als Garant des Fortschritts. Eine starke gesellschaftliche Polarisierung, ideologisch radikalisierte Parteien, ein hemmungsloser Individualismus und eine populistische Politik können die Grundlagen der Verfassung allerdings erschüttern. Insofern ist auch diese ganz besondere Verfassung auf einen gesellschaftlichen Konsens angewiesen, den sie selbst nicht garantieren kann.

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Dimensionen von Staatlichkeit Rechtsstaat, Polizeistaat und Sozialstaat Markus Kienscherf

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Polizeistaat: Anfänge politischer Konsolidierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Polizeistaat und Rechtsstaat: Liberale Kritik und frühe Interventionsmuster . . . . . . . . . . . . . . 4 Polizeistaat, Rechtsstaat und Sozialstaat: Brüche und Kontinuitätslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Dieser Beitrag zeigt auf, dass der amerikanische administrative Staat in der Tradition der frühneuzeitlichen europäischen Polizeiwissenschaft gesehen werden muss. Die klare Trennlinie zwischen Polizeistaat und Rechtsstaat, die von der liberalen politischen Theorie, welche auch für die amerikanische Verfassung Pate stand, gezogen wurde, und die auch heute noch von konservativen KritikerInnen bedient wird, erweist sich bei näherer Untersuchung als hochgradig problematisch. Der administrative Staat ist demnach gleichermaßen Rechtsstaat, Polizeistaat und Sozialstaat. Darüber hinaus legt dieser Beitrag dar, dass sich der administrative Staat in den USA vor dem Hintergrund einer Krise des frühen industriellen Kapitalismus formierte und seither sowohl eine Krisenlösung als auch ein Krisenproblem darstellt, das auf das Engste mit der ökonomischen, sozialen und politischen Krisenhaftigkeit des Kapitalismus verwoben ist. Schlüsselwörter

Administrativer Staat · Sozialstaat · Rechtsstaat · Polizeistaat · USA

M. Kienscherf (*) John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_51

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Einleitung

Konservativen amerikanischen politischen KommentatorInnen nach ist der sogenannte administrative Staat nicht nur in der Krise, sondern auch – zumindest seit dem Amtsantritt von Donald Trump – unter Beschuss, und viele amerikanische Konservative sehen das als Anlass zur Freude. Die weitreichenden Kompetenzen der öffentlichen Verwaltung, besonders aber die zentralstaatliche Regulierung von Markt und Gesellschaft, sind für viele Konservative ein Symbol von Tyrannei und eine Gefahr für in der Verfassung festgeschriebene Prinzipien wie Gewaltenteilung und Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger (Devore 2017; Rao 2018). In seiner abweichenden Meinung zur Mehrheitsentscheidung des Supreme Court im Fall City of Arlington v. FCC im Jahre 2013 konstatierte Chief Justice John Roberts: Obwohl moderne Verwaltungsbehörden sich am besten in die Exekutive eingliedern, üben diese in der Praxis gesetzgebende Macht, durch die Verabschiedung von Regularien mit Gesetzeskraft, vollziehende Macht, indem sie die Einhaltung von Regularien kontrollieren, als auch richterliche Macht aus, indem sie über Vollzugsmittel entscheiden und diejenigen, die sich nicht an ihre Regeln halten, sanktionieren. (Die Anhäufung von soviel Macht in einigen wenigen Händen ist keine gelegentliche oder einzelne Ausnahme vom verfassungsmäßigen Plan, sondern ein zentrales Attribut moderner amerikanischer Regierungstätigkeit. (Arlington v. FCC, 2013; zitiert in Postell 2017, S. 3; Übersetzung des Autors)

Debatten über die Rolle von Bürokratie und öffentlicher Verwaltung im politischen System der USA reichen bis in die Anfänge der Republik zurück. Bei diesen Debatten geht es letztendlich um grundlegende Fragen demokratischer Gewaltenteilung und um die Machtbefugnisse von Verwaltungsorganen, deren nichtgewählte BeamtInnen weitreichende Kompetenzen besitzen, und die – nach Sicht von Chief Justice Roberts – sowohl vollziehende als auch gesetzgebende und richterliche Gewalt ausüben. Diese Debatten drehen sich dabei in erster Linie um die Vereinbarkeit administrativer Befugnisse mit der amerikanischen Verfassung. Die Verfassung ist also stets zentraler Bezugspunkt in politischen und wie auch in wissenschaftlichen Diskussionen über den administrativen Staat. Obwohl ich in diesem Beitrag zur Krise des administrativen Staates die verfassungsrechtlichen Fragen weitestgehend den JuristInnen überlasse und mich der Krise des administrativen Staates überwiegend aus soziopolitischer Sicht nähern werde, beginnt auch diese Analyse mit der Verfassung. Konservativen amerikanischen KommentatorInnen zustimmend werde ich den administrativen Staat als Polizeistaat interpretieren, welcher sich aus der umfassenden Herrschaftslogik der europäischen frühneuzeitlichen Polizei entwickelt hat. Dieser Zugang zum amerikanischen administrativen Staat mag zunächst nicht gerade intuitiv erscheinen, aber der Bezug auf die Logik der Polizei eröffnet einen interessanten Blick auf den vermeintlich exeptionalistischen Bruch der amerikanischen Verfassung mit kolonialer Fremdherrschaft. Dieser Zugang problematisiert darüber hinaus die starre Trennung zwischen Rechtsstaat und Polizeistaat, und lässt aktuelle Debatten über die Verfassungsmäßigkeit und demokratische Legitimation des administrativen Staates in neuem Licht erscheinen. Denn entgegen der konservativen Lesart sehe ich keinen radikalen Bruch zwischen

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Polizeistaat und verfassungsmäßigem Rechtsstaat, und werde darüber hinaus auch argumentieren, dass der administrative Staat nicht nur ein Polizeistaat, sondern immer auch ein Sozialstaat ist. Der administrative Staat manifestiert sich sowohl negativ, im reinen Schutz von Privateigentum und Bevölkerung, als auch positiv, im Versuch durch Transferleistungen und Umverteilung den Wohlstand und das Glück der Bevölkerung an sich, einzelner Bevölkerungsgruppen oder gar einzelner Individuen zu mehren. Sowohl in seiner negativen also auch in seiner positiven Form kann sich der administrative Staat sowohl repressiver als auch permissiver und unterstützender Mittel bedienen. Konkret manifestiert sich der administrative Staat in der Umsetzung von Strafverfolgung und Strafvollzug (negative Funktionen) sowie von Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik (vorwiegend positive Funktionen aber auch einige negative Funktionen). Darüber hinaus werde ich aufzeigen, dass sich der administrative Staat in den USA vor dem Hintergrund einer Krise des frühen industriellen Kapitalismus formierte und seither sowohl eine Krisenlösung als auch ein Krisenproblem darstellt, das auf das Engste mit der ökonomischen, sozialen und politischen Krisenhaftigkeit des Kapitalismus verwoben ist.

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Polizeistaat: Anfänge politischer Konsolidierung

Muss die Verfassung als kompletter Bruch mit den kolonialen Polizeibefugnissen („police powers“) der britischen Krone verstanden werden oder umhüllte die Verfassung diese Befugnisse lediglich mit dem Prinzip der Volksouveränität? Was ist die historische Grundlage des Spannungsverhältnisses zwischen der vermeintlichen Fremdregierung durch den administrativen Staat und der verfassungsmäßigen Selbstregierung des Volkes durch das Volk? Von der Gründung der amerikanischen Republik bis heute stellt sich die Frage wer zum Volk gehört, d. h. wer sich selbst regieren darf und wer fremdregiert werden muss. Die berühmte Präambel der amerikanischen Verfassung verkündet in der Tat ein revolutionäres Versprechen von Freiheit und Selbstbestimmung, das oft als radikaler Bruch mit der kolonialen Fremdbestimmung durch die britische Krone gesehen wird: Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, von der Absicht geleitet, unseren Bund zu vervollkommnen, die Gerechtigkeit zu verwirklichen, die Ruhe im Innern zu sichern, für die Landesverteidigung zu sorgen, das allgemeine Wohl zu fördern und das Glück der Freiheit uns selbst und unseren Nachkommen zu bewahren, setzen und begründen diese Verfassung für die Vereinigten Staaten von Amerika.

Eine genauere Analyse der genannten Ziele der Verfassungssetzung ergibt allerdings ein weitaus vielschichtigeres Bild. Waren Ziele wie „die Gerechtigkeit zu verwirklichen, die Ruhe im Innern zu sichern, für die Landesverteidigung zu sorgen, das allgemeine Wohl zu fördern und das Glück der Freiheit uns selbst und unseren Nachkommen zu bewahren“ nicht auch der Zweck der frühneuzeitlichen und eng mit dem Absolutismus verbundenen Polizeiwissenschaft? Hier stellt sich unmittelbar die

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Frage nach den notwendigen Mitteln diese hehren Ziele auch über die Verfassungssetzung hinweg zu verwirklichen. Bedarf es nicht umfassender Polizeibefugnisse um Gerechtigkeit, Sicherheit und Wohlstand nicht nur zu schaffen, sondern auch zu erhalten? Dies ist die Frage nach der Notwendigkeit umfassender Machtbefugnisse zur Produktion und Reproduktion sozialer Ordnung. Genau diese Machtbefugnisse waren aber auch Gegenstand der frühneuzeitlichen europäischen Polizeiwissenschaft. Die Polizeiwissenschaft umfasste sehr viel mehr als das was wir heute unter Polizei verstehen, auch wenn die moderne Institution der Polizei auf das frühneuzeitliche politische Verständnis von Polizeibefugnissen zurückgeht. Hierfür lohnt es sich einen Blick auf das spätmittelalterliche Europa zu werfen, denn Polizei oder auch Polizeiwissenschaft bildete sich als Rationalität und Praxis des Regierens vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der feudalen Ordnung im Europa des 15. Jahrhunderts. Die Polizeiwissenschaft erreichte ihren Zenit im Absolutismus und diente der umfassenden Herstellung und Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ordnung. Die Polizei, welche hier gerade nicht als Institution, sondern als Funktion verstanden werden muss, bediente sich dabei sowohl rechtlicher als auch administrativer Mittel. Wie Mark Neocleous in seinem Buch The Fabrication of Social Order: A Critical Theory of Police Power schreibt: Das Wort „Polizei“ fand seinen Ursprung im Französisch-Burgundischen „policie“ des 15. Jahrhunderts und führte zu einer Reihe von Adaptionen: „Policei“, „Pollicei“, „Policey“, „Pollicey“, „Pollizey“, „Pollizei“, „Politzey“, „Pollucey“, and „Pullucey“. Trotz unterschiedlicher Schreibweisen blieb die Bedeutung konstant: Die legislative und administrative Regulierung des Innenlebens einer Gemeinschaft mit dem Ziel das allgemeine Wohlergehen, den Zustand guter Ordnung (wie in den Ausdrücken „Polizei und gute Ordnung“ oder „gute Polizei und Ordnung“) sowie die Reglementierung des gesellschaftlichen Lebens (wie in „Reglementierung und Polizei“) zu fördern. (Neocleous 2000, S. 1; Übersetzung des Autors)

Die Polizei nutzte alle drei Gewalten staatlicher Macht, wie dies Chief Justice Roberts auch dem administrativen Staat anlastet, um das überaus ambitionierte Ziel einer auf Glück und Wohlstand basierenden stabilen gesellschaftlichen Ordnung zu erreichen. Die frühneuzeitliche Funktion der Polizei sah die Produktion von Ordnung, Wohlstand und Glück allerdings nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel um den Staat nach innen und außen zu stärken. Es gab dabei keinen Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft: Was gut für den Staat war, war auch gut für die Gesellschaft und umgekehrt. In der Tat ist der Begriff der Gesellschaft in diesem Zusammenhang ein Anachronismus, da dieser Begriff erst sehr viel später (ca. ab Mitte des 19. Jahrhunderts) geprägt wurde.

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Polizeistaat und Rechtsstaat: Liberale Kritik und frühe Interventionsmuster

Vom 18. Jahrhundert regte sich zunehmender Widerspruch an der Logik der Polizei. Die Kritik der aufkommenden liberalen politischen Theorie setzte dabei an den zwei zentralen Punkten von Wohlstand und Glück an. Die politische

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Ökonomie von Denkern wie Adam Smith argumentierte, dass Wohlstand nicht mehr als Folge von staatlicher Lenkung, sondern also Produkt des allgemeinen Strebens individueller wirtschaftlicher Interessen verstanden werden müsse. Moralphilosophen wie Immanuel Kant dagegen legten dar, dass Glück Privatsache sei und ein Souverän dieses seinen Untertanen nicht nach eigenem Gutdünken aufoktroyieren könne. Für Denker wie Kant war demnach die einzig legitime Aufgabe der Polizei eine rein Negative, nämlich die Gewährleistung der Sicherheit der Bevölkerung innerhalb einer rechtlichen Ordnung. Die liberale politische Theorie zog also eine Grenze zwischen den sozioökonomischen Sphären autonomen individuellen Handelns (Markt und Gesellschaft) und einer politischen Sphäre die wiederum als das Produkt des Zusammenspiels der autonomen politischen Interessen von Individuen gesehen wurde. Der Rechtsstaat sollte demnach den Polizeistaat ersetzten und Polizei lediglich die negative Aufgabe des inneren Schutzes der Rechtsordnung erfüllen, während Autonomie (Selbstbestimmung) an die Stelle von Heteronomie (Fremdbestimmung) treten sollte. Staatliche Einmischung in Markt und Gesellschaft wurde deshalb nicht nur als illegitim, sondern als auch kontraproduktiv gesehen. Soviel zur liberalen politischen Theorie. Die liberale politische Praxis im Kontext des Kolonialismus und einer sich rapide ausbreitenden kapitalistischen Produktionsweise bot sich etwas differenzierter dar. Frühe liberale Staaten, wie das Großbritannien des 19. Jahrhunderts, fußten nicht nur auf negativer Polizei, waren also keine reinen Nachtwächterstaaten, welche lediglich Privateigentum und öffentliche Sicherheit gewährleisteten, sondern intervenierten in systematischer Weise in Markt und Gesellschaft. Natürlich nahm der negative Schutz des Privateigentums eine zentrale Stellung ein. Privateigentum, insbesondere von Produktionsmitteln, ist schließlich eine Grundvoraussetzung für die kapitalistische Produktionsweise. Aber auch positive Polizeibefugnisse waren ein notwendiger Faktor für die Entstehung und das Fortbestehen des Kapitalismus. Die zweite Grundvoraussetzung für die kapitalistische Produktionsweise ist die Verfügbarkeit von Arbeitskraft als fiktive Ware. Da Arbeitskraft nicht als Ware produziert wird und deshalb nach Karl Polanyi fiktiv ist (Polanyi 1957), die kapitalistische Produktionsweise ohne einen Markt für Arbeitskraft aber undenkbar wäre, musste dieser Markt vom Staat geschaffen werden. Dies galt neben Arbeitskraft auch für Polanyis andere fiktive Waren: Land und Geld. Märkte für diese fiktiven Waren mussten also vom Staat geschaffen und aufrechterhalten werden, was einen enormen administrativen Aufwand bedeutete. Polanyi zeigt in seinem Buch The Great Transformation die Rolle des britischen Staates in der Entstehung des weltweit ersten nationalen Arbeitsmarktes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Gleichzeit führte das ständige Vordringen einer Marktlogik in immer mehr Gesellschaftsbereiche auch zu enormen Verwerfungen, so dass gesellschaftliche Abwehrmechanismen einsetzten um die negativen Konsequenzen kapitalistischer Akkumulation einzudämmen. Polanyi prägte dafür den Begriff des double movement: die ständige Ausbreitung eine Marktrationalität auf der einen Seite und eine Einhegung und Befriedung der sich daraus ergebenen negativen gesellschaftlichen Folgen auf der anderen. Der administrative Staat hat demnach eine wichtige

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Funktion an beiden Enden von Polanyis double movement. Eine Form des administrativen Staats, der immer sowohl Polizei- als auch Sozialstaat ist, ist demnach eine Notwendigkeit für die Reproduktion des Kapitalismus, sowohl hinsichtlich der zentralen Grundvoraussetzungen für Kapitalakkumulation – Privateigentum über Produktionsmittel und Verfügbarbarkeit von Arbeitskraft als Ware – als auch in Bezug auf gesellschaftliche Verwerfungen einer radikalen Marktwirtschaft welche immer auch Gefahr läuft ihre eigene Reproduktion zu gefährden. Staatliche Marktregulierung dient also nicht nur dazu Marktversagen zu verhindern oder zu korrigieren, sondern auch dazu Märkte zu schaffen. Die liberale Idee des freien Marktes ist demnach ein Mythos. Es gibt keine freien Märkte. Jeder Markt ist ein Produkt von Rechtsvorschriften, Regeln, Normen und Konventionen, die festlegen wer, wann, wo und unter welchen Bedingungen welche Markttransaktionen durchführen darf. Ein Markt ohne Regulierung ist also undenkbar, und die sogenannte Deregulierung von Märkten ist lediglich eine Form von Neuregulierung, die bestimmten Marktakteuren mehr und größere Vorteile verschafft als anderen. Denn die Art und Weise wie Märkte reguliert werden entscheidet über die Vorund Nachteile bestimmter Marktakteure und hat deshalb ganz konkrete Verteilungskonsequenzen (Harcourt 2011). Politische Diskussionen über Marktregulierungen sind also immer auch Interessenskonflikte zwischen Marktakteuren, und damit auch ein Ausdruck von Konflikten zwischen und innerhalb ökonomischer Klassen. Aber der frühe liberale Staat intervenierte nicht nur im Markt sondern auch in der Gesellschaft, da nicht jeder Mensch als gleichermaßen der Autonomie fähig galt. Frauen, Kindern, kolonialisierten Völkern und auch der aufkommenden Arbeiterklasse wurde die Fähigkeit autonom zu handeln schlichtweg abgesprochen. Diese Gruppen mussten daher durch Väter, Ehemänner, Kolonialherren oder die Bourgeoisie fremdbestimmt werden. Die angebliche Unfähigkeit zur Selbstbestimmung bot darüber hinaus auch eine willkommene Rechtfertigung für die koloniale Aneignung von Land und Arbeitskraft, und damit auch die anhaltende gewaltsame Unterdrückung der amerikanischen Ureinwohner und verschleppter und versklavter Menschen afrikanischer Herkunft. Das Standardnarrativ des Triumphs des politischen Liberalismus ist eine Geschichte darüber wie diesen Bevölkerungsgruppen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, definitiv aber im Zuge des 20. Jahrhunderts, Selbstbestimmung in immer größerem Maße zugestanden wurden. Diese Geschichte vergisst aber zunächst, dass die Selbstbestimmung dieser Gruppen gegen massive Widerstände und unter großen Opfern erkämpft wurden, und dass auch heute nicht allen Bevölkerungsgruppen in liberalen Demokratien gleichermaßen die Fähigkeit zu autonomem Handeln zugesprochen wird. Auch wenn essenzialistische Zuschreibungen von Heteronomie auf der Grundlage von Geschlecht, Rasse und Alter an Bedeutung verloren haben, so ist es heute vor allem die ökonomische Marktposition, d. h. die Fähigkeit den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten, die über Autonomie entscheidet. Polizeibefugnisse treten in liberalen demokratischen Gesellschaften also nicht nur in negativer Form (Schutz der Bevölkerung) sondern auch in positiver Form als Versuch die Fähigkeit zu autonomem Handeln derjenigen zu entwickeln, die sie vermeintlich (noch) nicht besitzen, auf.

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Polizeistaat, Rechtsstaat und Sozialstaat: Brüche und Kontinuitätslinien

Dies bringt uns zurück zur amerikanischen Verfassung und der Entstehung des administrativen Staates. Die Präambel der amerikanischen Verfassung setzt sich nicht nur das Ziel die Bevölkerung zu schützen (negative Polizei) sondern auch den Wohlstand und das Glück dieser zu mehren (positive Polizei). Dies bietet bereits eine verfassungsmäßige Grundlage für weitreichende staatliche Intervention im gesellschaftlichen und ökonomischen Leben der Bürgerinnen und Bürger und problematisiert die starre Trennlinie zwischen Polizeistaat und Rechtsstaat. Wie der amerikanische Rechtswissenschaftler William J. Novak bemerkt: Kurz gesagt, obwohl wir im Rahmen einer Metanarration vom Aufstieg, Fall und Phoenixhaften Wiederaufstieg westlicher Zivilisation, Rechtsstaat und Polizeistaat in zwei notwendige Gegensätze trennen, deutet die tatsächliche Verfassungsgeschichte, zumindest der amerikanischen Version des modern Nationalstaats, auf eine enge Verbindung und gegenseitige Durchdringung von Souveränität, Polizeibefugnissen und Rechtsstaatlichkeit hin. (Novak 2008, S. 56; Übersetzung des Autors)

Während positive wie negative Polizeibefugnisse bis zum Ende des amerikanischen Bürgerkriegs in erster Linie bei den Bundesstaaten oder gar in den Kommunen lagen, setzte ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine zunehmende Tendenz zur nationalstaatlichen Zentralisierung und Konsolidierung dieser Befugnisse ein. Dies erfolgte in erster Linie über die Regulierung von Handelsaktivitäten über Bundesstaatsgrenzen hinweg (Interstate Commerce) und den nationalen Postdienst. Im Zuge des sogenannte Progressive Movement gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts formierte sich dann der administrative Staat im engeren Sinne. Das Progressive Movement war eine breite und heterogene Reformbewegung, die vor dem Hintergrund der mannigfaltigen Krisenphänomene des frühen industriellen Kapitalismus entstand. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sahen sich vor allem amerikanische Industriestädte im Nordosten und im nördlichen mittleren Westen mit massiven Problemen wie Armut, Korruption, Umweltverschmutzung, monopolistischer Kartellbildung sowie einer sich zunehmend radikalisierenden Arbeiterbewegung konfrontiert. Progressives versprachen sich von der Rationalisierung, Modernisierung und Bürokratisierung der Verwaltungsapparate von der kommunalen Ebene bis hoch zur Bundesebene eine Lösung dieser Probleme. Die entsprechenden Reformen waren wegweisend für die Entwicklung des amerikanischen Staates in einen modernen Verwaltungsstaat. Diese Verwaltungsreformen und die Ausweitung von behördlichen Regulierungskompetenzen, beispielsweise durch Gesetze gegen Kartellbildung (antitrust laws) waren dabei Teil eines double movement – eine gesellschaftliche Reaktion auf die verheerenden Konsequenzen eines entfesselten Kapitalismus. Ein wichtiger Teil des Progressivism war auch die Forderung nach einer umfassenden Reformierung städtischer Polizeibehörden, welche bis dahin oft reine Erfüllungsgehilfen korrupter lokaler Parteichefs waren (Harring 2017; Monkkonen 1981). Progressive Polizeireformen zeigen das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen Rechtsstaat und Polizeistaat. Ziel dieser Reformen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in einer ganzen Reihe

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amerikanischer Städte umgesetzt wurden, war neben der Professionalisierung, Rationalisierung und Modernisierung der Polizei auch die Wiederherstellung der Legitimität lokaler Ordnungshüter. Tatsächlich veränderte sich das Bild der Polizei zunächst in der Selbstwahrnehmung aber auch zunehmend in der Wahrnehmung von außen. Polizeibehörden wandelten sich immer mehr zu professionellen Organisationen zur Bekämpfung von Rechtsverstößen. Dies versprach einen enormen Legitimationsgewinn gerade in den Augen derjenigen meist marginalisierten Bevölkerungsgruppen, die bis dahin oft Opfer brutaler und korrupter Ordnungshüter waren. Die rechtsstaatliche Verfolgung von Kriminalität durch professionale Behörden erschein als ein attraktiver Gegenentwurf zur korrupten, willkürlichen und oft gewaltsamen Durchsetzung einer von sozioökonomischen Konflikten und Hierarchien gezeichneten Gesellschaftsordnung. Da jeder Mensch Opfer von Verbrechen werden und gerade auch sozialbenachteiligte Minderheiten oftmals ein höheres Kriminalitätsrisiko tragen, sollten gerade auch diese Bevölkerungsgruppen ein Interesse an professioneller Verbrechensbekämpfung haben. Das ist grundsätzlich nicht falsch, erscheint aber bei näherem Blick weitaus ambivalenter. Die professionalisierte Verbrechensbekämpfung im Zuge des Progressive Movement diente auch als Vorwand für eine weitaus stärkere Polizeipräsenz im Leben sozial benachteiligter Minderheiten (Harring 2017; Kienscherf 2019). In der Praxis polizeilicher Arbeit geht es eben selten um schwerwiegende Verbrechen, sondern meistens um die Verfolgung von kleineren Delikten und Ordnungswidrigkeiten, die häufig nur von bestimmten meist strukturell benachteiligten Gesellschaftsgruppen begangen werden. Bis in die siebziger Jahre gab es in vielen US Kommunen zahlreiche sogenannte Statusvergehen. Diese ergaben sich aus lokalen Verboten von Landstreicherei (Vagrancy). Breite Definitionen von Landstreicherei ermöglichten wiederum ein hartes polizeiliches Vorgehen gegen alle möglichen unliebsamen Bevölkerungsgruppen (Goluboff 2016). Diese Gesetze und Vorschriften wurden Anfang der siebziger Jahre für verfassungswidrig erklärt. Seit den neunziger Jahren gibt es jedoch in sehr vielen US Kommunen eine Reihe neuer lokaler Rechtsvorschriften, die sogenannte Verhaltensvergehen schaffen. Die sind Verbote bestimmter Verhaltensweisen im öffentlichen Raum, wie etwa Herumlungern, Alkoholkonsum, Schlafen und Urinieren in der Öffentlichkeit, die zwar nicht formell an spezifische Statusgruppen geknüpft sind aber in der Regel fast ausschließlich von marginalisierten Bevölkerungsgruppen begangen werden. Hierbei geht es oft ganz explizit um die Verdrängung sichtbarer Armut (Beckett und Herbert 2009). Bis heute erleben also sozialbenachteiligte Bevölkerungsgruppen Fremdbestimmung durch einen lokalen Polizeistaat, der sich aber in die Legitimität des Rechtsstaats hüllt. Eine weitere Expansion des administrativen Staates ergab sich als Folge der massiven Wirtschaftskrise von 1929 bis 1933. Im Rahmen des sogenannten New Deal wurden unter Präsident Franklin Delano Roosevelt eine ganze Reihe ambitionierter Programme gestartet, um die Folgen der Wirtschaftskrise einzudämmen und neue ökonomische Krisen zu verhindern. Auch der New Deal muss als systematische Gegenbewegung zur Expansion der Marktlogik im Sinne von Polanyis double movement verstanden werden. Der New Deal führte zu einem enormen Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Programme, die allerdings so gestaltet waren, dass viele Afroamerikaner

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und Afroamerikanerinnen systematisch von staatlichen Transferleistungen ausgeschlossen wurden. Wie Fox Piven und Richard Cloward in ihrem Buch Regulating the Poor aufzeigen, dienen wohlfahrtsstaatliche Programme neben der Mobilisierung von Arbeitskraft immer auch der Befriedung gesellschaftlicher Konflikte (Piven und Cloward 1993). Dies gilt sowohl für die Ausweitung wohlfahrtsstaatlicher Programme während des New Deal, die in der Regel keine direkte Reaktion auf Massenarbeitslosigkeit waren sondern auf die sich daraus ergebenen Protestbewegungen, als auch für den sogenannten War on Poverty unter Präsident Lyndon B. Johnson. Die massive Expansion von Programmen zur Armutsbekämpfung unter Johnson muss vor dem Hintergrund der zunehmenden Radikalisierung der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung verstanden werden. Das erste Mal in der Geschichte der USA wurde Afroamerikanern und Afroamerikanerinnen eine Teilhabe an wohlfahrtstaatlichen Programmen gewährt. Dies geschah aber vor allem mit Blick auf eine mögliche Befriedung der Aufstände in den marginalisierten und segregierten schwarzen Innenstädten (Piven und Cloward 1993; Fording 2001). Staatliche Transferleistungen sind immer auch ein Mittel sozialer Kontrolle. Der Sozialstaat ist immer auch Polizeistaat.

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Fazit

In den USA (wie auch in Westeuropa) entstand ein moderner Verwaltungsstaat als Reaktion auf die Krisen des frühen industriellen Kapitalismus und diente sowohl der Schaffung von Märkten, vor allem für fiktive Waren, als auch der Einhegung und Befriedung der daraus resultierenden gesellschaftlichen Verwerfungen. Der administrative Staat war und ist bis heute sowohl Krisenlösung als auch Krisenproblem, da der Versuch die negativen Folgen von Kapitalakkumulation einzudämmen oftmals zu neuen Verwerfungen führt. Dies zeigt sich in der mannigfaltigen und Parteigrenzen überschreitenden Kritik an bürokratischer Fremdbestimmung. Der administrative Staat muss darüber hinaus in der Tradition der frühneuzeitlichen europäischen Polizeiwissenschaft gesehen werden. Die Entstehung und Expansion eines administrativen Staates mit sowohl negativen also auch positiven Polizeibefugnissen ist bereits in der Präambel der Verfassung angelegt. Die klare Trennlinie zwischen Polizeistaat und Rechtsstaat, die von der liberalen politischen Theorie, welche auch für die amerikanische Verfassung Pate stand, gezogen wurde, und die auch heute noch von konservativen KritikerInnen bedient wird, erweist sich bei näherer Untersuchung als hochgradig problematisch. Recht ist eben nicht das Gegenteil von Macht, wie William J. Novak so eloquent darlegt: Diese Vorstellung bietet die tröstliche Illusion, dass Recht eine bequeme Antwort auf das Problem der Polizei in der modernen Welt bietet, nämlich dass Recht zwischen „guter“ und „schlechter“ Polizei unterscheiden oder die willkürliche und despotische Ausübung von Polizeibefugnissen im Zaum halten kann. Diese Idee fußt auf einer festverwurzelten juristischen Mythologie, die fälschlicherweise Recht als das Gegenteil von Macht, Souveränität, Zwang, Gewalt und Polizei sieht. Sie fußt auch auf einer gleichermaßen mythologischen amerikanischen Verfassungsgeschichte die Rechtsstaatlichkeit in erster Linie als die verneinende, äußere Beschränkung von Staatsmacht sieht, welche die Gewaltenteilung sichert und

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als ultimativer Wächter über die Naturrechte auf Leben, Unversehrtheit und Eigentum der artifiziellen staatlichen Usurpation die Stirn bietet. (Novak 2008, S. 55–56; Übersetzung des Autors)

Tatsächlich verbergen sich hinter verfassungsrechtlichen Debatten um den administrativen Staat oftmals handfeste sozioökonomische Interessenskonflikte über die Verteilungskonsequenzen von Marktregulierungen sowie ideologische Kämpfe darüber, wer selbstbestimmt leben darf und wer fremdbestimmt werden muss. In der konservativen Kritik am ausufernden administrativen Staat geht es eben nicht um die rigide Strafverfolgung von meist armen AfroamerikanerInnen im Speziellen oder die diskriminierende Fremdbestimmung über marginalisierte Bevölkerungsgruppen im Allgemeinen, sondern um die vermeintliche Tyrannei wirtschaftlicher Regulierung, des Umweltschutzes und steuerlicher Belastung, welche oft als Eingriff in und Angriff auf historisch tradierte Privilegien gesehen wird. Die konservative Kritik am administrativen Staat ist eine Kritik an der scheinbaren Fremdbestimmung über diejenigen relativ privilegierten Bevölkerungsgruppen, die für sich (und mitunter nur für sich) den Anspruch auf Selbstbestimmung erheben. Hier wird aber übersehen, dass marginalisierte Gruppen sehr viel mehr unter der Fremdherrschaft des administrativen Staates gelitten haben und dies auch immer noch tun, trotzdem aber auch in weitaus größerem Maße auf die Transferleistungen des administrativen Staates angewiesen sind.

Literatur Beckett, Katherine, und Steve Herbert. 2009. Banished: The new social control in urban America. Oxford: Oxford University Press. City of Arlington v. FCC – 569 U.S. 290, 133 S. Ct. 1863, 2013. Devore, Chuck. 2017. The administrative state is under assault and that’s a good thing. Forbes, 27. November. https://www.forbes.com/sites/chuckdevore/2017/11/27/the-administrative-state-isunder-assault-and-thats-a-good-thing/#624300e3393c. Zugegriffen am 28.02.2019. Fording, Richard C. 2001. The political response to black insurgency: A critical test of competing theories of the state. American Political Science Review 95(1): 115–130. Goluboff, Risa. 2016. Vagrant nation: Police power, constitutional change, and the making of the 1960s. Oxford: Oxford University Press. Harcourt, Bernard E. 2011. The illusion of free markets: Punishment and the myth of natural order. Harvard: Harvard University Press. Harring, Sidney L. 2017. Policing a class society: The experience of American cities 1865–1915. Chicago: Haymarket Books. Kienscherf, Markus. 2019. Race, class and persistent coloniality: US policing as liberal pacification. Capital & Class 43(3): 417–436. Monkkonen, Eric H. 1981. Police in urban America, 1860–1920. Cambridge, MA: Cambridge University Press. Neocleous, Mark. 2000. The fabrication of social order: A critical theory of police power. London: Pluto Press. Novak, William J. 2008. Police power and the hidden transformation of the American state. In Police and the liberal state, Hrsg. Markus D. Dubber und Mariana Valverde, 54–72. Stanford: Stanford University Press.

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Piven, Fox, und Richard A. Cloward. 1993. Regulating the poor: The function of public welfare. New York: Vintage. Polanyi, K. 1957. The great transformation: The political and economic origins of our time. Boston: Beacon Press. Postell, Joseph. 2017. Bureaucracy in America: The administrative state’s challenge to constitutional government, studies in constitutional democracy. Columbia: University of Missouri. Rao, Neomi. 2018. The Administrative state and the structure of the constitution. The Heritage Foundation. http://report.heritage.org/hl1288. Zugegriffen am 28.02.2019.

Kongress Die legislative Gewalt im Belagerungszustand Christoph M. Haas

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Verfassungsrechtliche Vorgaben und Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Parteipolitische Zusammensetzung und interne Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Abstimmungsverhalten als Indikator parteipolitischer Homogenisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fazit: Der parlamentarisierte Kongress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

So alt wie der Kongress selbst sind auch die Parteien bzw. die Fraktionen, in denen sich die Abgeordneten und Senatoren der beiden Kammer der „First Branch of Government“ organisieren. Während zum Ende des 19. Jahrhunderts von Woodrow Wilson ebenso wie in der Mitte des 20. Jahrhunderts von der American Political Science Association ein more responsible party-system nach dem Modell parlamentarischer Demokratien gefordert wurde, wird heute im Zeitalter der Polarisierung bezogen auf den Kongress die Existenz von starken und homogenen Parteien kritisiert, die den Gesetzgebungsprozess lähmen. Nach einer verfassungsrechtlichen Einordnung legt der Beitrag seinen Schwerpunkt auf die Bedeutung von Parteien bzw. von Fraktionen für die Arbeit des Kongresses. Schlüsselwörter

US-Kongress · Unified government · Divided government · Parlamentarisierung · Parteipolarisierung

C. M. Haas (*) Seminar für Wissenschaftliche Politik, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Freiburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_57

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Einleitung

Im Jahr 1885, fast 100 Jahre nach der Verfassungsgebung, veröffentlichte Woodrow Wilson ein Buch mit dem Titel „Congressional Government“. Er beklagt darin den damaligen Zustand des Regierens. Der Kongress sei zur dominanten Institution geworden und die Balance der Gewalten nicht mehr gewährleistet: „Whereas Congress at first overshadowed neither President nor federal judiciary, it now on occasion rules both with easy mastery and with a high hand“ (Wilson 2006, S. 53–54). Ausgestattet mit einem Vetorecht, agiere der Präsident nicht wie eine kraftvolle Exekutive, sondern eher wie eine dritte Kammer der Legislative. In dieser wiederum dominierten die Ausschüsse, die hinter verschlossenen Türen tagten und von einzelnen Abgeordneten und Senatoren gelenkt würden. Wer sich für einzelne Gesetze bzw. die Politik als Ganzes tatsächlich verantwortlich zeichne, sei für die Öffentlichkeit nicht erkennbar. Was Wilson fehlte, war ein responsible government und responsible parties, ganz so, wie sie Walter Bagehot knapp zwei Jahrzehnte zuvor in seinem Buch „The English Constitution“ als Vorzüge des parlamentarischen Regierungssystems gepriesen hatte: Starke Parteien mit einem profilbildenden, je klar zuordenbarem Programm, von denen eine die Parlamentsmehrheit stellt und unter der Führung des Premierministers die Geschicke des Landes lenkt (Haas 2015, S. 70). 1950 publizierte die American Political Science Association (APSA) eine Studie, in der ebenfalls ein „more responsible two-party system“ gefordert wird. Demokratisches Regieren in einer Nation mit einer Bevölkerung von mehr als (damals) 150 Millionen Menschen bedürfe politischer Parteien, die der Wählerschaft klare Handlungsalternativen anböten. Zur Herausstellung der Verantwortlichkeit für Politik sei deswegen eine Oppositionspartei erforderlich, die als Kritikerin der Mehrheitspartei auftrete und zur Übernahme der Regierungsgeschäfte bereit sei. Darüber hinaus sei die Basis für eine größere Kohäsion der Parteien im Kongress, dass sie ihre Kandidaten bei Wahlen mit einer starken und aktiven Kampagnenorganisation unterstützten (APSA 1950, S. 1–2). Zusätzlich forderte die APSA, dass die Parteiführung im Kongress gestärkt werden müsse, indem etwa das Senioritätsprinzip bei Ausschussvorsitzen abgeschafft und die Besetzung von Ausschüssen den Parteiführern übertragen werde. Im Repräsentantenhaus solle der Lenkungssausschuss (Rules Committee) unter Kontrolle der Fraktionsführung die legislative Arbeit und die Tagesordnung bestimmen sowie im Senat das Quorum zur Beendigung von Filibustern im Senat (cloture) auf eine einfache Mehrheit reduziert werden (APSA 1950, S. 8–9). Ein Sprung in die Gegenwart und die Verhältnisse stellen sich ganz anders dar. Im Jahr 2006 bezeichnen Thomas E. Mann und Norman J. Ornstein den Kongress als broken branch: In den nach-2000er-Jahren sehe das Repräsentantenhaus mehr aus wie ein „House of Commons in a parliamentary system than a House of Representatives in a presidential system“ (Mann und Ornstein 2006, S. 7). Die Parteien – insbesondere die Republikanische Partei – hätten es unter ihre Kontrolle gebracht und seiner eigentlichen Aufgabe, der freien Deliberation und Entscheidungsfindung seiner Mitglieder, gleichsam beraubt. Auch die Parteien im Senat träten wie die im Repräsentantenhaus immer mehr als geschlossene Handlungseinheiten und ideolo-

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gisch polarisiert in Erscheinung und verhinderten eine überparteiliche Kompromissfindung (Mann und Ornstein 2006, S. 10). Die Kongressparteien heute bieten demnach offenbar das, was Wilson und die APSA forderten. Jedoch stellen sich dadurch, wie Mann und Ornstein deutlich machen, unerwünschte Nebenwirkungen ein, die zu einer „dysfunctional governance“ führten, wie sie es an anderer Stelle wenige Jahre später nennen (Mann und Ornstein 2013). Im Kern ist damit gemeint, dass starke, homogene, polarisierte Parteien die ohnehin nicht einfache Kompromissfindung im präsidentiellen System der USA erschweren (Binder 2017, S. 201). Die Funktionslogik des präsidentiellen Regierungssystems der USA erfordert für die Umsetzung von Gesetzesvorhaben die Zusammenarbeit von Präsident und Kongress. Diese beiden Regierungsinstitutionen haben unterschiedliche Legitimationsstränge und können daher von verschiedenen Parteien kontrolliert werden. Solange Parteien keine allzu homogenen Akteure mit starrer Programmatik sind, fallen Aushandlungen und Kompromissbildung leichter. Für die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg galt dieses Muster für die Interaktion zwischen Präsident und Kongress. In dieser Zeit setzte allerdings auch ein Prozess ein, der zu einer Polarisierung der Parteien führte, mithin homogene und immer weniger kompromissbereite Akteure hervorbrachte. Für den Kongress bedeutet dies, dass er im Grunde parlamentarisiert wurde oder wie es Mann und Ornstein formulieren, dass er wie ein House of Commons aussieht. Der Ursprung der Homogenisierung der Kongressparteien liegt in der Veränderung ihrer Zusammensetzung. Vormals konservative oder moderate Vertreter der Demokraten aus den Südstaaten wurden immer weniger in den Kongress gewählt, ebenso wie aus dem Nordosten immer weniger liberale oder moderate Republikaner. Gleichen sich die Vorstellungen innerhalb einer Partei jedoch immer weiter an, sind auch der Wille und der Zwang größer, innerhalb der Legislative geeinter aufzutreten. Vormals starke individuelle Akteure wie Ausschussvorsitzende wurden sukzessive entmachtet, das Ausschusswesen mehr und mehr auf den Willen der Fraktionsführungen ausgerichtet und somit zugleich die Homogenisierung und damit auch Polarisierung der Parteien befördert. Nach einer Darlegung der verfassungsrechtlichen Kompetenzen des Kongresses widmen sich die folgenden Ausführungen zunächst seiner parteipolitischen Zusammensetzung und internen Struktur im Zeichen der oben genannten Entwicklungen. Der Beitrag zeigt sodann die Veränderung des Abstimmungsverhaltens im Kongress als dem wichtigsten Indikator für parteiliche Geschlossenheit und schließt in einem zusammenfassenden Fazit zur Parlamentarisierung des Kongresses.

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Verfassungsrechtliche Vorgaben und Kompetenzen

Das Regierungssystem der USA ist auf Gewaltenteilung und -verschränkung angelegt. Legislative, Exekutive und Judikative sollen sich in einem Arrangement von checks and balances gegenseitig kontrollieren können und so ein Machtgleichgewicht herstellen. Für den Kongress als legislative Gewalt bedeutet dies etwa, dass seine gesetzgeberische Kompetenz einerseits durch die Möglichkeit eines präsidentiellen

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Vetos begrenzt wird, dass er jedoch andererseits einen derartigen Einspruch des Präsidenten mit qualifizierter Mehrheit auch wieder überstimmen kann. Im Hinblick auf die Judikative unterliegen die vom Kongress beschlossenen und vom Präsidenten unterzeichneten Gesetze dem Vorbehalt der Verfassungsmäßigkeit. Den Verfassungsgebern genügten allerdings diese Vorkehrungen zwischen den Gewalten nicht. „In einem republikanischen Regierungssystem dominiert notwendig die Legislative“, schreiben Hamilton, Madison und Jay (1994, S. 351) in Artikel 51 der Federalist Papers und da man nicht jeder Gewalt gleich viel Macht zur Selbstverteidigung geben könne, bestünde die Abhilfe darin, die stärkste Gewalt – die Legislative – in zwei Kammern mit unterschiedlichem Wahlmodus und unterschiedlichen Grundsätzen für ihre Tätigkeit aufzuteilen. Und so heißt es im ersten Artikel der US-Verfassung: „Alle in dieser Verfassung verliehene gesetzgebende Gewalt ruht im Kongress der Vereinigten Staaten, der aus einem Senat und einem Repräsentantenhaus besteht.“ (Art. I, Abs. 1 US-Verf.) Das Repräsentantenhaus ist als die Kammer des Volkes konzipiert. Es besteht aus Abgeordneten, die alle zwei Jahre durch die wahlberechtigte Bevölkerung in den einzelnen Staaten gewählt werden und zum Zeitpunkt ihrer Wahl mindestens 25 Jahre alt sein sowie die Staatsbürgerschaft seit mindestens sieben Jahren inne haben müssen Jedem Einzelstaat steht wenigstens ein Abgeordneter zu. Weitere Mandate für einen Staat ergeben sich aus seiner Einwohnerzahl. Die Verfassung sieht vor, dass auf 30.000 Einwohner nicht mehr als ein Abgeordneter kommen darf (Art. I, Abs. 2 US-Verf.). Für die erste Legislaturperiode von 1789–1791 ergab sich eine Sitzanzahl von 65. Mit wachsender Bevölkerungszahl und zudem weiteren Einzelstaaten, die in den Folgejahrzehnten der Union beitraten, stieg die Anzahl der Mandate mit Beginn der Legislaturperiode im Jahr 1913 auf 435. Diese Mandatszahl fixierte der Kongress 1929 per Gesetz. Beginnend mit dem Jahr 1790 findet gemäß der Verfassung alle zehn Jahre eine Volkszählung (census) statt, auf deren Grundlage die Anzahl der Sitze pro Einzelstaat festgelegt wird (apportionment). Mit den 1959 erfolgten Beitritten von Alaska und Hawaii als jüngsten Unionsmitgliedern sind die 435 Sitze seither auf 50 Einzelstaaten zu verteilen. Die Umverteilung der Sitze (reapportionment) zieht eine Neueinteilung der Wahlkreise (redistricting) nach sich (ausgenommen in den Staaten, denen nur ein Sitz zukommt). Die Wahlkreiseinteilung obliegt den Einzelstaaten. Abgesehen von einigen wenigen Staaten, in denen unabhängige Kommissionen diese Aufgabe übernehmen, sind es die einzelstaatlichen Legislativen, die Wahlkreisgrenzen ziehen, wobei dem Gouverneur ein Vetorecht zusteht. Gehören sowohl Gouverneur als auch die Mehrheiten in beiden Kammern der einzelstaatlichen Legislative derselben Partei an, können sie das redistricting zu ihren Gunsten nutzen. Tun sie dies, spricht man von parteipolitischen gerrymandering.1 1

Zusammen mit dem Phänomen des geographical sorting, wonach in den letzten Jahrzehnten die Wahl des Wohnorts auch auf der Basis parteipolitischer Präferenzen und ideologischer Übereinstimmung erfolgt, gilt das gerrymandering als Hauptursache für die kontinuierliche Abnahme kompetitiver Wahlkreise. Damit nahm auch die Zahl moderater Abgeordneter im Repräsentantenhaus ab und somit die Homogenität der Parteien zu (Haas 2018a, S. 282).

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Der Senat verleiht dem US-amerikanischen Föderalismusverständnis Ausdruck, wonach jeder Einzelstaat ein gleichberechtigtes Mitglied in der Union ist (Haas 2007a, S. 102). Jeder Staat entsendet zwei Senatoren, die zum Zeitpunkt ihrer Wahl mindestens 30 Jahre alt und seit neun Jahren Staatsbürger sein müssen (Art. I, Abs. 3 US-Verf.). Bis 1913 wurden die Senatoren von den einzelstaatlichen Legislativen gewählt. Mit dem 17. Zusatzartikel der Verfassung wurde die Direktwahl der Senatoren eingeführt. Für die Wahl der Senatoren findet keine Wahlkreiseinteilung statt – Wahlkreis ist der gesamte Einzelstaat. Die Amtszeit eines Senators beträgt sechs Jahre. Auch zum Senat wird alle zwei Jahre gewählt, jedoch werden niemals alle 100 Senatoren zugleich bestimmt. Vielmehr steht jeweils nur ein Drittel der Senatssitze zur Wahl, weshalb sich der Senat nie in seiner Gesamtheit auflöst und daher auch als continuing body bezeichnet wird. Unmittelbar nach der ersten Wahl 1789 wurden die Senatoren in drei möglichst gleichgroße Gruppen eingeteilt, von denen die erste nach zwei, die zweite nach vier und die dritte nach sechs Jahren zur Wiederwahl anstand. Die beiden Senatoren aus einem Staat durften nicht der gleichen Gruppe angehören. Die Senatssitze für jeden weiteren beigetretenen Staat wurden alternierend einer der drei Gruppen zugeteilt. Zieht sich ein Senator vor Ablauf der Sechsjahresfrist aus dem Amt zurück, so wird sein Nachfolger zunächst für die Dauer des verbleibenden Zeitraumes gewählt, bevor er in der darauffolgenden Wahl für sechs Jahre gewählt werden kann. Scheidet ein Senator innerhalb der Legislaturperiode aus dem Amt, so kann der Gouverneur einen Nachfolger bestimmen, der dann wiederum zum Zeitpunkt der nächsten turnusmäßigen Wahl oder je nach einzelstaatlichen Vorgaben in einer special election bestätigt werden muss (Haas 2010, S. 32–33, 40). Der Vizepräsident ist gemäß der Verfassung Vorsitzender des Senats (Art. I, Abs. 3 US-Verf.). Abgesehen von der möglichen Nachfolge ins Weiße Haus aufgrund eines vorzeitigen Ausscheidens des Präsidenten einzuziehen, ist das die einzige in der Verfassung für ihn vorgesehene Aufgabe. Heutzutage übernimmt der Vizepräsident den Senatsvorsitz nur bei besonderen Anlässen oder wenn wichtige Abstimmungen bevorstehen, bei denen ein Patt droht. Nur dann ist der Vizepräsident berechtigt, die entscheidende Stimme abzugeben.2 Ein über das Erfordernis der Sitzungsleitung hinausgehendes Rederecht zu inhaltlichen Fragen hat er nur, wenn ihm die Senatoren dies zugestehen. Die Kompetenzen des Kongresses – und damit zugleich die der Bundesebene gegenüber den Einzelstaaten – sind bis auf wenige Ausnahmen in Art. I, Abs. 7–10 der Verfassung niedergelegt. So hat er unter anderem das Recht Steuern, Zölle und Abgaben zu erheben, den Haushalt des Bundes zu bewilligen, Kreditverpflichtungen einzugehen, die Währungspolitik zu bestimmen, den Handel mit anderen Nationen und zwischen den Einzelstaaten zu regeln, dem Supreme Court nachgeordnete Gerichte zu bilden, den Krieg zu erklären sowie das Militär zu bilden und zu

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Mike Pence, Vizepräsident unter Donald Trump, musste davon zwischen 2017 und 2018 dreizehn Mal Gebrauch machen, davon sieben Mal bei Abstimmungen bezüglich von Nominierungen des Präsidenten. Joe Biden, Vizepräsident unter Barack Obama in acht Jahren kein einziges Mal.

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unterhalten. Im Rahmen dieser gesetzgeberischen Tätigkeiten sind Repräsentantenhaus und Senat hinsichtlich der Einbringung und Verabschiedung von Vorlagen (bills) gleichgestellt. Nur Gesetze zur Einnahme von Geldern müssen ihren Ursprung im Repräsentantenhaus haben. Alle Gesetze sind von beiden Kammern in identischer Version zu verabschieden, bevor sie dem Präsidenten zur Unterzeichnung vorgelegt werden können (zur Gesetzgebung ausführlich Haas 2007b). Neben der Gesetzgebungsaufgabe kommt dem Kongress die Funktion der Kontrolle der Regierung zu (Oleszek et al. 2016, S. 376–413). Die legislative oversight erstreckt sich als begleitende Kontrolle im Rahmen der Gesetzgebung etwa auf Anhörungen oder als konkrete Kontrolle auf die Einrichtung von Untersuchungsausschüssen. Zudem kann der Kongress bei strafrechtlich belangbaren Vergehen (Landesverrat, Korruption oder anderen schwerwiegenden Verbrechen) den Präsidenten oder andere Regierungsbeamte sowie Bundesrichter des Amtes entheben. Das Recht auf Einreichung einer Anklage zum Zweck der Amtsenthebung (impeachment) steht ausschließlich dem Repräsentantenhaus zu (Art. I, Abs. 2 US-Verf.), während dem Senat die Entscheidungsbefugnis in solchen Fällen zukommt. Im Falle der Präsidentenanklage sitzt einem Amtsenthebungsverfahren im Senat der Chief Justice des Supreme Court vor. Für die Amtsenthebung ist in wenigstens einem Anklagepunkt eine Zweidrittelmehrheit der anwesenden Senatoren erforderlich (Art. I, Abs. 3 US-Verf.). Auch hinsichtlich der Wahlfunktion haben Repräsentantenhaus und Senat unterschiedliche Rechte. Erreicht bei der Präsidentschaftswahl kein Bewerber eine absolute Mehrheit im Wahlgremium (electoral college), wählt das Repräsentantenhaus den Präsidenten, während der Senat über den Vizepräsidenten befindet (Zusatzartikel 12 US-Verf.). In solch einem Fall ist es denkbar, dass bei unterschiedlicher parteipolitischer Mehrheit in den beiden Kammern auch Präsident und Vizepräsident verschiedenen Parteien angehören. Bislang gab es allerdings nur drei Fälle solcher contingent elections, bei denen der Kongress diese Reservefunktion ausübte: 1800 und 1824 für Präsident und Vizepräsident sowie 1836 für den Vizepräsidenten. Ausschließlich dem Senat kommen zwei weitere Kompetenzen zu, die in dessen Geschäftsordnung als executive business bezeichnet werden. So muss der Senat bei Ernennungen, die der Präsident für Exekutivämter in Ministerien oder Behörden, als Botschafter oder als Richter an den Obersten Gerichtshof und die anderen Bundesgerichte ausspricht, jeweils mit einfacher Mehrheit zustimmen. Zudem bedarf die Ratifikation internationaler Verträge der Zustimmung von zwei Dritteln der anwesenden Senatoren (Art. II, Abs. 2 US-Verf.; Haas 2010, S. 49–50).

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Parteipolitische Zusammensetzung und interne Organisation

Die unterschiedlichen Wahlmodi haben zur Folge, dass möglicherweise verschiedene Parteien über die jeweilige Mehrheit im Repräsentantenhaus und im Senat verfügen. Ist dies der Fall, spricht man von einem divided government – ganz unabhängig davon, welche Partei den Präsidenten stellt. Nur wenn Präsidentenamt und die Mehrheiten in beiden Kammern des Kongresses von derselben Partei kontrolliert werden, liegt ein

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unified government vor. David Mayhew konnte in einer wegweisenden Studie die These unterfüttern, dass es für die Anzahl verabschiedeter bedeutsamer Gesetze keinen wesentlichen Unterschied macht, ob ein unified oder divided government vorliegt (Mayhew 2005, S. 198; Haas 2016, S. 197–199). Die parteipolitische Zusammensetzung des Kongresses stellt demnach auch für einen Präsidenten aus den Reihen der gegnerischen Partei kein unüberwindbares Hindernis dar. Mayhews Befunde fallen allerdings zu großen Teilen in eine Zeit, in der es zahlreiche moderate Abgeordnete und Senatoren aus beiden Parteien gab, die gewillt waren, auch entgegen der Parteilinie abzustimmen. Sind die Reihen jedoch weitgehend geschlossen, wird es in Zeiten eines divided government umso schwieriger, Mehrheiten für Gesetze zu organisieren. Umgekehrt ist bei großer parteipolitischer Homogenität ein unified government für die Umsetzung von Reformvorhaben günstiger, da der Präsident in solch einer Konstellation „weniger Abtrünnige aus den eigenen Reihen fürchten muss“ (Haas 2018b, S. 64). Tab. 1 dokumentiert die parteipolitische Zusammensetzung des Kongresses. Sie zeigt, dass seit dem Beginn der Polarisierungsära, die mit dem Gewinn der Republikanischen Mehrheiten in beiden Kammern des Kongresses in der 104. Legislaturperiode einsetzt,3 nur vier Mal ein unified government, dagegen doppelt so oft ein divided government vorlag. Bevor in Abschn. 3 anhand des Abstimmungsverhaltens in beiden Kammern des Kongresses gezeigt wird, dass in diese Zeit auch ein signifikanter Sprung in der parteipolitischen Geschlossenheit fällt, werden zunächst jene Entwicklungen in der internen Organisation des Kongresses dargelegt, die allesamt den eingangs genannten Forderungen der APSA entsprachen und die Homogenisierung der Kongressfraktionen beförderten. Gemäß der Verfassung obliegt jeder der beiden Kammern des Kongresses die interne Organisation ihrer Verfahrensabläufe. Zwei Elemente sind hierbei zu berücksichtigen: Die Geschäftsordnungen, die die Arbeit in den beiden Kammern als Ganzes strukturieren, sowie die fraktionsinternen Regeln, die jeweils für die Mitglieder der jeweiligen Partei gelten. An dieser Stelle sollen vor allem die Veränderungen in den Blick genommen werden, die die Position der Parteien respektive die der Parteiführungen innerhalb des Kongresses stärkten. Im Zuge der Wahl John F. Kennedys zum Präsidenten wurde eine ganze Reihe junger Demokratischer Abgeordneter in das Repräsentantenhaus gewählt. Sie stießen auf interne Strukturen, die sie sowohl von einer substanziellen Teilhabe ausschlossen als auch an der Einbringung ihrer Policy-Agenda behinderten. Das größte Ärgernis stellte für sie das Senioritätsprinzip dar, wonach die dienstältesten Abgeordneten und Senatoren den Zugriff auf die Ausschussvorsitze besaßen. Das war insofern von größter Bedeutung, als damals immer noch die Ausschüsse – zwar nicht mehr ganz so dominant wie von Wilson beklagt – zu großen Teilen den Gang der Gesetzgebung kontrollierten. Zudem war es eine große Zahl konservativer Demo-

3

Die Ursachen der heutigen Parteipolarisierung reichen bis in die 1960er-Jahre zurück. Empirisch eindrücklich bestimmbar ist sie gleichwohl ab der Mitte der 1990er-Jahre (Haas 2018a, S. 281–284, 2018b, S. 59–62).

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Tab. 1 Parteizugehörigkeit des Präsidenten, parteipolitische Zusammensetzung von Repräsentantenhaus und Senat sowie Regierungskonstellation, 1963–2021 Legislaturperiode Präsident (Partei) des Kongresses 88. (1963-65) 89. (1965-67) 90. (1967-69) 91. (1969-71) 92. (1971-73) 93. (1973-75) 94. (1975-77) 95. (1977-79) 96. (1979-81) 97. (1981-83) 98. (1983-85) 99. (1985-87) 100. (1987-89) 101. (1989-91) 102. (1991-93) 103. (1993-95) 104. (1995-97) 105. (1997-99) 106. (1999-01) 107. (2001-03) 108. (2003-05) 109. (2005-07) 110. (2007-09) 111. (2009-11) 112. (2011-13) 113. (2013-15) 114. (2015-17) 115. (2017-19) 116. (2019-21)

Kennedy/Johnson (D) Johnson (D) Johnson (D) Nixon (D) Nixon (R) Nixon/Ford (R) Ford (R) Carter (D) Carter (D) Reagan (R) Reagan (R) Reagan (R) Reagan (R) Bush Sr. (R) Bush Sr. (R) Clinton (D) Clinton (D) Clinton (D) Clinton (D) Bush (R) Bush (R) Bush (R) Bush (R) Obama (D) Obama (D) Obama (D) Obama (D) Trump (R) Trump (R)

Repräsentantenhaus D R I 258 295 247 243 255 243 291 292 278 243 269 254 258 260 267 258 204 207 211 213 205 201 233 257 193 201 188 194 235

176 140 187 192 180 192 144 143 157 192 166 181 177 175 167 176 230 226 223 220 229 233 202 178 242 234 247 241 200*

1 1 1 1 2 1 2 1 1 -

D

Senat R

I

Regierungskonstellation

66 68 64 57 54 56 61 61 58 46 45 47 55 55 56 57 48 45 45 50 48 44 49 57 51 53 44 47 45

34 32 36 43 44 42 37 38 41 53 55 53 45 45 44 43 52 55 55 50 51 55 49 41 47 45 54 51 53

1/1 1/1 1/1 1 1 1 1 1 2 2 2 2 2 2 2

unified unified unified unified divided divided divided unified unified divided divided divided divided divided divided unified divided divided divided # unified unified divided unified divided divided divided unified divided

R: Republikaner; D: Demokraten; I: Unabhängige (bis auf den 92.–94. Kongress, als im Senat ein Unabhängiger der Demokratischen und ein weiterer der Republikanischen Fraktion angehörte, schlossen sich alle anderen Unabhängigen den Demokraten in der jeweiligen Kammer an); die Mehrheitsfraktion ist grau unterlegt. Die Angaben zur Anzahl der Sitze in beiden Kammern entsprechen dem Stand nach den Wahlen;  2018: inklusive einer Nachwahl in North Carolina im September 2019; # Nach der Wahl 2000 ergab sich ein Patt im Senat; wegen eines Parteiübertrittes seitens eines Republikaners zu den Demokraten, hielten diese ab Juni 2001 die Mehrheit im Senat, so dass sich knapp ein halbes Jahr ein unified, danach ein divided government ergab. Daten entnommen bei U.S. House of Representatives. https://history.house.gov/Institution/PartyDivisions/Party-Divisions/ und U.S. Senate. https://www.senate.gov/history/partydiv.htm. Zugegriffen: 18. November 2019. Eigene Zusammenstellung.

kraten aus den Südstaaten, die die Ausschussvorsitze besetzten, inhaltlich häufiger den Positionen der Republikaner näherstanden und mit ihnen die sogenannte Conservative Coalition bildeten (Davidson et al. 2016, S. 141–142).

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Zwar wurde das Senioritätsprinzip nicht unmittelbar aufgehoben, jedoch die Entscheidung über die Ausschussbesetzung sowohl bei den Demokraten als auch etwas zeitverzögert bei den Republikanern in die Fraktionen hineinverlagert. Die Ausschussbesetzung wird seither in fraktionsinternen Abstimmungen beschlossen (Davidson et al. 2016, S. 177–183). Dieser Prozess resultierte somit in einer Stärkung der Fraktionen, die nun sicherstellen konnten, dass die Ausschussvorsitze von Mitgliedern besetzt wurden, die inhaltlich auch die Positionen der Fraktionsmehrheit vertraten. Mit dieser Entwicklung ging über die Jahre eine Stärkung der Rolle des Speaker of the House einher, der die Besetzung des Rules Committee kontrolliert, welches wiederum als verlängerter Arm des Speaker die Regeln für die Behandlung von Gesetzen festlegt und dies im Sinne der Mehrheitsfraktion tut.4 Eine zweite Welle der kongressinternen Veränderungen wurde im Zuge des Mehrheitswechsels von den Demokraten zu den Republikanern ab dem 104. Kongress (1995–97) ausgelöst. Unter Führung des neuen Speaker Newt Gingrich wurde eine Begrenzung der Ausübung von Ausschussvorsitzen auf drei Legislaturperioden eingeführt. Desweiteren wurde die Möglichkeit der Joint Referrals abgeschafft, wonach eine Gesetzesvorlage mehreren Ausschüssen gleichzeitig zur Bearbeitung zugewiesen werden konnte. Der Sprecher hatte nunmehr das Recht, einen Ausschuss festzulegen, dem die Vorlage federführend übergeben wurde. Es gab zudem Begrenzungen der Zahl der Mitgliedschaften in Ausschüssen und ein Abgeordneter durfte nunmehr nur einen Vorsitz in einem Ausschuss oder einem Unterausschuss innehaben – letzteres hatten die Demokraten unter ihrer Mehrheitsägide bereits in den 1970er-Jahren für ihre Fraktion festgelegt (Haas 2018a, S. 284–290). Zur internen Kohäsion der Parteien hat zudem beigetragen, dass die Kongressfraktionen mehr und mehr als wichtige Geldgeber in den Wahlkämpfen ihrer Kandidaten auftreten. Die verstärkte Kampagnentätigkeit der Fraktionen beider Parteien sowohl im Repräsentantenhaus wie im Senat fällt ebenfalls auf den Beginn der 1990er-Jahre. Die zur Unterstützung von Wahlkämpfen verausgabten Spendengelder der Campaign Committees5 an Amtsinhaber oder auch neue Kandidaten fördern die Loyalität zu ihrer jeweiligen Fraktion. Dies geht soweit, dass die Campaign Committees den neuen Fraktionsmitgliedern empfehlen, bis zu vier Stunden des täglichen Arbeitspensums für das Einwerben von Spendengeldern aufzuwenden (Davidson et al. 2016, S. 71). Aus der Liste der in der Einleitung genannten Forderungen der APSA fehlt nur noch die Veränderung des Quorums bei der cloture zur Beendigung einer nur im Senat möglichen Dauerrede, dem filibuster. Einzeln oder orchestriert versucht ein Senator oder eine Gruppe von Senatoren die Abstimmung über ein Gesetz zu verhindern. Eine cloture-vote kann jederzeit beantragt und nicht durch ein filibuster

4

In beiden Kammern stellen die Mehrheitsfraktionen auch die Mehrheit der Mitglieder in den Ausschüssen sowie den jeweiligen Ausschussvorsitzenden. 5 Im Senat: Democratic Senatorial Campaign Committee, National Republican Senatorial Committee; im Repräsentantenhaus: Democratic Congressional Campaign Committee und National Republican Congressional Committee.

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verhindert werden. Um ein filibuster erfolgreich durch cloture zu unterbinden und somit die Abstimmung über den anstehenden Sachverhalt durchführen zu können, bedarf es gemäß der Geschäftsordnung des Senates einer Dreifünftelmehrheit aller Senatoren, also 60 Stimmen. Für Nominierungen an Bundesgerichte wurde dieses Erfordernis jedoch durch einen Verfahrenstrick 2013 durch die Demokratische Mehrheit abgeschafft, weil sie die Blockade einer Richterernennung durch ein filibuster seitens der Republikaner unterbinden wollten. Denselben Verfahrenstrick wandten dann die Republikaner 2017 an, um ein filibuster der Demokraten der Nominierung von Neil Gorsuch an den Supreme Court zu beenden. Für das Erzwingen einer Abstimmung durch cloture ist bei Nominierungen an sämtliche Bundesgerichte nunmehr nur noch eine einfache Mehrheit der anwesenden Senatoren erforderlich (Haas 2018a, S. 293–296; Oleszek et al. 2016, S. 312–316).

4

Abstimmungsverhalten als Indikator parteipolitischer Homogenisierung

Die parteiliche Geschlossenheit hat sich seit den letzten 50 Jahren kontinuierlich und in beiden Kammern nahezu synchron erhöht (Davidson et al. 2016, S. 255–264). Dies lässt sich mittels der party unity votes sichtbar machen. Grundlage der Bestimmung der party unity sind namentliche Abstimmungen (roll calls). Steht bei einer Abstimmung eine Mehrheit der Abgeordneten bzw. der Senatoren der einen Partei einer Mehrheit der Abgeordneten bzw. Senatoren der anderen Partei gegenüber, handelt es sich um eine party unity vote. Abb. 1 zeigt den Anteil der party unity votes an der Gesamtzahl der roll calls in Repräsentantenhaus und Senat im Zeitverlauf seit 1963. Im Jahr 1967 etwa lag der Anteil der party unity votes im Repräsentantenhaus bei 36,3 Prozent, im Senat bei 34,6 Prozent. Es standen sich demnach nur bei rund einem Drittel der Abstimmungen Mehrheiten der einen Partei Mehrheiten der anderen Partei gegenüber. Oder andersherum: Bei fast zwei Drittel der Abstimmungen bildeten sich keine mehrheitlichen Parteiblöcke. Im Jahr 2017 dagegen betrug der Anteil der party unity votes im Repräsentantenhaus 76,0 Prozent, im Senat 68,9 Prozent. Wie der lineare Trend für beide Kammern anzeigt, stieg der Anteil der party unity votes innerhalb der letzten 50 Jahre um 30 Prozentpunkte an. Der Anstieg der party unity votes ist nicht der einzige Indikator für eine zunehmende Kohärenz der Parteien in beiden Kammern des Kongresses. Betrachtet man nur die party unity votes und bestimmt den Grad der Geschlossenheit bei diesen Abstimmungen, so zeigt sich auch hier ein signifikanter Anstieg. Der Maßstab hierfür sind die party unity scores, die abbilden, wie hoch der Anteil der jeweiligen Parteimehrheit bei party unity votes im Durchschnitt eines Sitzungsjahres war. Blickt man erneut auf das Jahr 1967, so stimmten im Repräsentantenhaus (Abb. 2) durchschnittlich 67 Prozent der Demokratischen Abgeordneten entlang der Parteilinie ab, bei den Republikanern waren es 74 Prozent. Die Referenzwerte 50 Jahre später liegen bei 93 Prozent bei den Demokraten und bei 92 Prozent bei den Republikanern. In Abb. 2 wird sichtbar, wie zwar die Quote Ende der 1960er-Jahre kurzzeitig abfiel, sich danach aber zunächst in einem Korridor zwischen 65 und 75 Prozent

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party unity votes* in Prozent

70 60 50 40 30 20

Repräsentantenhaus

Senat

Linear (Repräsentantenhaus)

Linear (Senat)

Abb. 1 Parteienkohärenz bei Abstimmungen in Repräsentantenhaus und Senat, 1963–2018.  Abstimmungen, bei denen eine Mehrheit der Abgeordneten bzw. Senatoren aus der einen Partei gegen die Mehrheit der Abgeordneten aus der anderen Partei steht. Datenmaterial aus CQ Magazine. 2019. Annual Vote Studies & 2018 Key Votes. Special Report vom 25. Februar, 36. Eigene Darstellung

bewegte. Auf Seiten der Republikaner wurde die Schwelle von 90 Prozent im Jahr 1995 erstmalig überschritten. Dies war das Jahr, in dem die Republikanische Partei zum ersten Mal seit vier Dekaden über die Mehrheit im Repräsentantenhaus verfügte. Diese hatten sie in den midterm elections von 1994 mit einem Wahlprogramm – dem Contract with America – unter Führung von Newt Gingrich gewonnen. Seither fielen die party unity scores der Republikaner nicht mehr unter 85 Prozent. Die Demokraten liegen erst seit 2002 durchgängig über dieser Schwelle und weisen erstmalig im Jahr 2007 einen Wert jenseits der 90 Prozent auf. In diesem Jahr stellten die Demokraten nach zwölf Jahren in der Minderheit unter der Führung von Nancy Pelosi erneut die Mehrheit im Repräsentantenhaus. Für das Repräsentantenhaus lässt sich somit festhalten, dass die Geschlossenheit beider Parteien deutlich zugenommen hat und Demokraten wie Republikaner seit 2002 kontinuierlich ein homogenes Abstimmungsverhalten jenseits der Schwelle von 85 Prozent an den Tag legten. Die Entwicklung im Senat verlief ähnlich wie im Repräsentantenhaus (Abb. 3). Auch hier überschritten die Republikaner die Schwelle von 85 Prozent bei den party unity scores erstmals im Jahr 1995. Ebenso wie im Repräsentantenhaus stellten sie damals auch im Senat die neue Mehrheit. Die Republikaner waren es auch im Senat, die im Jahr 2002 als erste die Marke von 90 Prozent übertrafen und im Jahr 2017 gar auf eine neue Rekordquote von 97 Prozent kamen. Die hohen Quoten in diesen beiden Jahren lassen sich durch die besondere Geschlossenheit der Partei im Nachgang der Terroranschläge vom 11. September 2001 sowie bei den Abstimmungen zu

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party unity scores* im Repräsentantenhaus (in Prozent)

95 90 85 80 75 70 65 60 55 50 House Democrats

House Republicans

Abb. 2 Parteigeschlossenheit (party unity scores) im Repräsentantenhaus bei party unity votes, 1963–2019.  Abstimmungsquote bei party unity votes, d. h. prozentualer Anteil derjenigen Abgeordneten einer Partei, die entlang der Parteilinie abstimmten, wenn eine Mehrheit der einen Partei gegen eine Mehrheit der anderen Partei steht. Datenmaterial aus CQ Magazine. 2019. Annual Vote Studies & 2018 Key Votes. Special Report vom 25. Februar, 36. Eigene Darstellung

von Donald Trump ausgesprochenen Nominierungen – und hier im speziellen Ernennungen an die obersten Bundesgerichte – erklären. Mit der Amtsübernahme Barack Obamas als Präsident im Jahr 2009 überschritten auch die Demokraten im Senat die Marke von 90 Prozent bei den party unity scores und hielten sie über seine gesamte Regierungszeit hinweg über diesem Wert, während die Republikaner in diesem Zeitraum diese Quote bis 2017 nicht mehr übertrafen. Auch der Rückgang der Raten im Jahr 2018 lässt sich erklären. Die anstehende midterm election führte insbesondere bei einigen Demokraten aus eher konservativen Einzelstaaten zu einem von der Parteilinie abweichenden Abstimmungsverhalten. Ganz generell sind beim party-line voting die Ausschläge nach unten sowohl im Repräsentantenhaus wie im Senat allesamt in Wahljahren zu verzeichnen (Miller 2019).

5

Fazit: Der parlamentarisierte Kongress

Die Quoten der Abstimmungen entlang der Parteilinien im Kongress erreichen zwar nicht ganz das Niveau, das in parlamentarischen Systemen üblich ist. Sie sind aber das erste wesentliche Kennzeichen dafür, dass sich der politische Prozess im Kongress über die letzten zweieinhalb Jahrzehnte – in Ansätzen bereits schon davor – mehr und mehr

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party unity scores* im Senat (in Prozent)

95 90 85 80

75 70 65 60 55 50

Senate Democrats

Senate Republicans

Abb. 3 Parteiengeschlossenheit (party unity scores) im Senat bei party unity votes, 1963–2019.  Abstimmungsquote bei party unity votes, d. h. prozentualer Anteil derjenigen Senatoren einer Partei, die entlang der Parteilinie abstimmten, wenn eine Mehrheit der einen Partei gegen eine Mehrheit der anderen Partei steht. Datenmaterial aus CQ Magazine. 2019. Annual Vote Studies & 2018 Key Votes. Special Report vom 25. Februar, 36. Eigene Darstellung

der Funktionslogik parlamentarischer Regierungssysteme angenähert hat. Es sind nicht allein die zunehmenden party unity votes und wachsenden party unity scores, die diesen Parlamentarisierungsprozess dokumentieren – genau genommen sind sie nichts anderes als der Beleg dafür, dass diese Entwicklung stattgefunden hat. Die Parteien sind homogener geworden, die Zahl der moderaten Abgeordneten und Senatoren auf ein Minimum geschrumpft. Die Kongressparteien stehen sich mehr und mehr wie unversöhnbare Kombattanten gegenüber. Intern sind sie sich zwar keinesfalls eins, sondern zeichnen sich wie in der Vergangenheit auch durch unterschiedliche Strömungen aus (Davidson et al. 2016, S. 157). Das zeigt sich etwa daran, dass selbst unter den Bedingungen des unified government sowohl Barack Obama um Mehrheiten in seiner Demokratischen Partei etwa bei seiner Gesundheitsreform ringen musste (Sinclair 2017, S. 170–218), als auch Donald Trump nicht ohne weiteres eine Steuerreform durch den von den Republikanern mehrheitlich kontrollierten Kongress bringen konnte (Haas 2018b, S. 64–65.). Einig sind sich die Fraktionen trotz interner Flügelkämpfe aber in einem: in ihrer Geschlossenheit gegenüber dem politischen Gegner. Die Veränderung der internen Strukturen, die in beiden Kammern – im Repräsentantenhaus etwas mehr als im Senat – auf die Erfordernisse strafferer Leitung durch die Fraktionsführungen angepasst wurden (Smith und Gamm 2017, S. 177–186), sind das zweite wesentliche Merkmal der Parlamentarisierung des Kongresses. Diese zentralisierte Führungsstruktur wurde den Fraktionsmitgliedern keinesfalls aufgezwungen,

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sondern von diesen, wenn auch nicht erzwungen, aber doch willentlich mitgetragen. Von der Fraktionsführung wird nunmehr auch erwartet, dass die Parteilinie weitgehend kompromisslos vertreten wird. Das geschieht auch vor dem Hintergrund, dass dies von der eigenen Wählerbasis goutiert wird. Trotz ihrer Klage darüber, dass das Repräsentantenhaus heute mehr wie ein britisches House of Commons in einem parlamentarischen System ausschaue, sehen mittlerweile auch Mann und Ornstein (2013, S. 20–21) eine Möglichkeit darin, „to accept the emergence of parliamentary-style polarized parties and try to adapt our political institutions to operate more effectively in that context“. Gleichwohl präferieren sie andere Optionen struktureller Reformen; darunter etwa die Öffnung der Vorwahlen für eine breitere Wählerschaft, um so dafür zu sorgen, dass wieder mehr moderate Abgeordnete und Senatoren in den Kongress gelangen und überparteiliche Kompromissfindung erleichtern. Ganz unabhängig davon, ob hier die Hoffnung auf solche Veränderungen größer ist als die Chance ihrer Realisierung: Solche Reformen dauern und so verbleibt der Kongress einstweilen im parteipolitischen Belagerungszustand.

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Präsident Möglichkeiten und Grenzen exekutiver Führung Markus B. Siewert

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Verfassungsrechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Der Präsident in der exekutiven Arena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Der Präsident in der legislativen Arena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Der Präsident in der öffentlichen Arena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Dieser Beitrag zeigt auf, unter welchen Bedingungen und mittels welcher Instrumente und Strategien der Präsident eine Führungsposition im politischen Prozess einzunehmen vermag. Dabei werden die Möglichkeiten und Grenzen präsidentieller Führung vor allem aus zwei Perspektiven betrachtet: Zum einen mit Blick auf die grundlegende Funktionslogik der „separated institutions sharing and competing for powers“ im politischen System der USA, zum anderen in Bezug auf die Hyperpolarisierung, welche den Konflikt um die Frage der präsidentiellen Führung in den vergangenen Jahren noch zusätzlich verschärft hat. Der Beitrag geht dabei auf die verfassungsrechtlichen Kompetenzen des Präsidenten ein und beleuchtet die Position des Präsidenten in drei zentralen Politik-Arenen: der exekutiven, legislativen und öffentlichen Arena. Schlüsselwörter

US-Präsident · Präsidentielle Führung · Exekutive Arena · Legislative Arena · Öffentliche Arena · Hyperpolarisierung

M. B. Siewert (*) Hochschule für Politik, TU München, München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_10

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M. B. Siewert

Einleitung1

Die moderne Präsidentschaft ist von einem offensichtlichen Dilemma geprägt: Wie kann der Präsident in einem politischen System der „separated institutions sharing (and competing for) powers“ (Neustadt 1991, S. 29; Jones 2005, S. 24; Hervorhebung im Original) den an ihn gerichteten Forderungen nach politischer und instrumenteller Führung (leadership) gerecht werden? Bereits ein flüchtiger Blick in die verfassungsrechtliche Kompetenzausstattung des Präsidentenamts in den USA zeigt, dass diese ihn nur bedingt in die Lage versetzt, die unzähligen Zuständigkeiten und immensen Erwartungshaltungen zu erfüllen und die Führung im politischen Prozess zu übernehmen. Darüber hinaus hat die Hyperpolarisierung der letzten Dekaden dazu geführt, dass die Auseinandersetzungen um die Gestaltungsmacht des Präsidenten immer stärker werden. Anders ausgedrückt, steht heute weniger Richard Neustadts originale Formulierung im Fokus, welche die institutionelle Gewaltentrennung bei funktionaler Gewaltenverschränkung betont, sondern vielmehr die ergänzte Version von Charles Jones, welche den Wettstreit um Macht ins Zentrum der Analyse rückt. Vor diesem Hintergrund betrachtet dieser Beitrag die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen präsidentieller Führung unter zweierlei Gesichtspunkten: Erstens der grundlegenden Funktionslogik der Gewaltenteilung und -verschränkung, welche den Präsidenten und alle anderen politischen Akteure in permanente Aus- und Verhandlungsprozess zwingt. Und zweitens der andauernden Hyperpolarisierung des politischen Raums in den USA, welche kaum einen Aspekt des politischen Prozesses unberührt lässt. Dabei ist es notwendig, sowohl die formellen und informellen Kompetenzen des Präsidenten sowie seine institutionellen Ressourcen näher zu betrachten. Da sich die Handlungsräume des Präsidenten zu einem nicht unerheblichen Maße aus dem Zusammenspiel mit anderen Institutionen und Akteuren ergeben, ist zudem zu analysieren, wie der Präsident die ihm zur Verfügung stehenden Machtmittel in unterschiedlichen Arenen – hier der exekutiven, legislativen und öffentlichen Arena – einzusetzen vermag.

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Verfassungsrechtliche Grundlagen

Die Debatte über die Möglichkeiten und Grenzen präsidentieller Führung ist so alt wie die Vereinigten Staaten von Amerika. Bereits auf dem Verfassungskonvent von Philadelphia 1787 und in der anschließenden Auseinandersetzung um die Ratifizierung der Verfassung kam der Ausgestaltung der Exekutive und ihrer Kompetenzen eine zentrale Bedeutung zu. So plädierten die Federalists für eine geschlossene Exekutive in Form eines Präsidenten, der mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet, ein Gegengewicht zum Kongress als Legislative bilden sollte. Die Antifederalists hingegen standen einer Ausweitung der exekutiven Handlungsfähigkeit nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber, sahen allerdings in einem zu starken 1

Ich danke Wiebke Baumann und Niko Klüsener für das aufmerksame Lektorat.

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Präsidenten, der nur unzureichend von den anderen Gewalten eingehegt würde, die Gefahr von Machtmissbrauch und Tyrannei. Letztendlich etablierte der Verfassungskompromiss von 1789 ein austariertes System wechselseitiger Kontroll- und Kooperationsmechanismen zwischen den Institutionen (checks and balances), das durch institutionelle Gewaltentrennung bei funktionaler Gewaltenverschränkung gekennzeichnet ist (Neustadt 1991). Gemäß der US-Verfassung wird der Präsident vom Volk indirekt über ein Wahlmännergremium (electoral college) auf vier Jahre gewählt (Art. II, Abs. 1). Dabei kann er einmal wiedergewählt werden (Zusatzartikel XXII, 1951). Grundelement der institutionellen Gewaltentrennung ist die unabhängige Wahl von Exekutive und Legislative. Beide Institutionen besitzen somit eine eigenständige Legitimation. Hieraus folgt, dass der Präsident im Gegensatz zur Regierung in parlamentarischen Systemen nicht vom Vertrauen der Legislative abhängig ist und von dieser nur aus strafrechtlichen Gründen abberufen werden kann (impeachment, Art. II, Abs. 4). Im Gegenzug hat der Präsident keinerlei Möglichkeit, den Kongress aufzulösen oder Neuwahlen einzuberufen. Ein weiteres Attribut der Gewaltentrennung ist das Inkompatibilitätsgebot, wonach kein Regierungsmitglied zugleich dem Kongress angehören darf – mit Ausnahme des Vizepräsidenten, der dem Senat vorsitzt (Art. I, Abs. 6). Betrachtet man den Zuschnitt der präsidentiellen Kompetenzen, zeigt sich die funktionale Verschränkung der Gewalten. Gemäß Verfassung ruht im Amt des Präsidenten die vollziehende Gewalt (vesting clause, Art II, Abs. 1). Damit stellt sie den Präsidenten an die Spitze der Exekutive, regelt deren konkrete Ausgestaltung sowie seine Machtbefugnisse allerdings recht unspezifisch: Der Präsident hat ganz allgemein dafür Sorge zu tragen, dass die Gesetze des Landes gewissenhaft vollzogen werden (taking care clause, Art. II, Abs. 3). Über die Struktur und Aufgabenbereiche der Ministerien und des Kabinetts schweigt die Verfassung, jedoch lässt sich aus der Berichtspflicht der Bundesbeamten gegenüber dem Präsidenten eine klare Hierarchie herleiten. Zu den wichtigsten administrativen Kompetenzen des Präsidenten zählt das Recht, mit Zustimmung des Senats Botschafter und Gesandte, Richter des Obersten Gerichtshofs und nachgeordneter Bundesgerichte sowie führende Mitglieder der Regierung und weitere Beamte zu ernennen. Darüber hinaus besitzt der Präsident das Recht zur Begnadigung bei Straftaten (Art. II, Abs. 2) – ausgenommen der eigenen Begnadigung bei Amtsenthebung (impeachment). Die gesetzgebende Gewalt ist explizit dem Kongress zugeschrieben (Art. I, Abs. 1), allerdings ist der Präsident an verschiedenen Stellen in den Gesetzgebungsprozess eingebunden: So bedürfen alle Gesetzentwürfe der Unterschrift des Präsidenten, um in Kraft zu treten. Dabei verfügt er über ein suspensives Veto, welches nur durch Zweidrittelmehrheiten in beiden Kongresskammern überstimmt werden kann (Art. I, Abs. 7). Zusätzlich kommt dem Präsidenten die Aufgabe zu, den Kongress von Zeit zu Zeit über die Lage der Nation zu informieren, sowie „Maßnahmen zur Beratung zu empfehlen, welche er für notwendig und nützlich erachtet“ (necessary and proper clause, Art. II, Abs. 3), woraus sich etwa die State of the Union Address ableitet. Zu den wenigen ausdrücklich genannten Kompetenzen des Präsidenten zählt der Oberbefehl über die Streitkräfte im Kriegsfall (Art. II, Abs. 2), wobei die formale Kriegserklärung durch den Kongress erfolgen muss. Darüber hinaus empfängt der Präsident als Staatsoberhaupt Repräsentanten anderer Nationen (Art. II, Abs. 3) und kann

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mit Zustimmung einer Zweidrittelmehrheit des Senats internationale Verträge abschließen (Art. II, Abs. 2). Insgesamt betrachtet, regelt die Verfassung die Aufgaben und Kompetenzausstattung des Präsidenten sehr knapp und wenig detailliert. Dies macht die beständige Interpretation ihrer Bestimmungen erforderlich und lädt die politischen Institutionen dazu ein, um die Grenzziehung ihrer Zuständigkeitsbereiche zu konkurrieren. Dabei kann historisch eine Ausweitung der verfassungsrechtlichen Befugnisse des Präsidenten konstatiert werden. Diese vollzog sich zum einen auf Grundlage einer weiten Auslegung bestimmter Verfassungsklauseln. So sind etwa zahlreiche Instrumente des Präsidenten, wie executive orders, proclamations, memoranda oder signing statements, nicht explizit durch die Verfassung geregelt, sondern leiten sich aus der vesting clause und der taking care clause ab (implied powers). Das Selbige gilt auch für das executive privilege, welches dem Präsidenten erlaubt, Angehörigen der Exekutive die Teilnahme an Anhörungen im Kongress oder vor dem Obersten Gerichtshof aus Gründen der nationalen Sicherheit zu verbieten. Zum anderen ist die Erweiterung präsidentieller Gestaltungskompetenzen ein Element der Herausbildung der modern presidency (Pfiffner 2010), und folglich eng verbunden mit dem Ausbau des Staats- und Verwaltungsapparates, dem Bedeutungszuwachs der Bundesebene gegenüber den Einzelstaaten, sowie der Innovation der Massenmedien und dem Aufstieg der USA zur Weltmacht.

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Der Präsident in der exekutiven Arena

Angesichts der herausgehobenen Stellung des Präsidenten im politischen System der USA übersieht man leicht, dass es sich bei der Exekutiven um keinen homogenen Akteur handelt und es die Exekutive eigentlich nicht gibt. Vielmehr steht der Präsident als chief executive an der Spitze eines gewaltigen Verwaltungsapparats, der nicht weniger als 15 Ministerien (departments) sowie unzählige Behörden umfasst, in denen rund 2,1 Mio. (Stand: 2017) zivile Angestellte permanent beschäftigt sind (Office of Personnel Management 2017). Im alltäglichen Regierungsgeschäft sieht sich der Präsident somit einer dezentral organisierten Bürokratie mit eigenen institutionellen Interessen und Politikvorstellungen gegenüber, die es zu führen gilt. Zugleich verfügt der Präsident aber nur über wenige Instrumente und Kompetenzen, die ihm eine absolute Autorität über den Verwaltungsapparat gewähren. Eine bewährte Strategie des Weißen Hauses sich den Einfluss auf die Planung und Implementation von Politikinhalten durch die Bürokratie zu sichern, ist die Politisierung (politicization) von leitenden Positionen, in dem diese aufgrund von politischer bzw. ideologischer Nähe oder gar persönlicher Ergebenheit besetzt werden (Lewis 2008; Lewis et al. 2018). Anders formuliert, muss sich der Präsident bei jeder Ernennung fragen: Wird der jeweiligen Person zugetraut, das Ministerium im Sinne des Präsidenten zu führen und sich ihm gegenüber loyal zu verhalten? Oder besteht die Gefahr, dass das Ministerium nach eigenen Interessen geleitet wird, oder dass die Eigeninteressen der jeweiligen Institution in den Vordergrund gerückt werden? Dabei ist der Anreiz einer Politisierung größer, je zentraler das Ministerium bzw.

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die Behörde für die Umsetzung der präsidentiellen Agenda ist. Zugleich birgt das Instrument der Politisierung aber auch Gefahren für den Präsidenten und seine Politikinhalte, da ergebenes Führungspersonal nicht zwangsläufig auch die notwendige fachliche Expertise für das Amt mitbringt – man denke nur etwa an Betsy DeVos, die ohne jegliches Fachwissen oder vorangegangene politische Erfahrung, dafür aber als massive finanzielle Unterstützerin von Trump in seinem Wahlkampf, zur Bildungsministerin im Kabinett ernannt wurde. Die Zentralisierung (centralization) von Ressourcen, Zuständigkeiten und Kompetenzen innerhalb des EOP und hier insbesondere im OMB und dem White House Office (WHO) bietet dem Präsidenten zudem die Möglichkeit, den Koordinationsaufwand in Bezug auf den fragmentierten Verwaltungsapparat zu reduzieren und die Kontrolle über die Politikformulierung zu erhöhen (Rudalevige 2002). Das OMB fungiert im Weißen Haus als zentrale Clearingstelle bei der Planung, Koordinierung und Umsetzung der präsidentiellen Agenda, während das WHO den engsten persönlichen Beraterkreis des Präsidenten sowie wichtige Stabstellen wie z. B. die Redenabteilung, die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowie die Verbindungsbüros des Weißen Hauses zum Kongress und den Ministerien umfasst. Der strategische Nutzen der Zentralisierung von Entscheidungsprozessen innerhalb des Weißen Hauses erhöht sich mit zunehmender Salienz, steigendem Problemdruck sowie bei vielschichtigen, politikfeldübergreifenden Themen. Allerdings ist es oftmals nur bedingt sinnvoll, die Verwaltung und Ministerien zu umgehen, da ihre Expertise gerade bei sehr komplexen und Detailfragen betreffenden Problemstellungen essenziell ist. Zudem stößt sie auch rasch an ihre Grenzen, da tagtäglich schlichtweg zu viele Entscheidungen getroffen werden müssen, als dies nur aus dem engeren Kreis des Präsidenten möglich wäre. Ein Blick auf die Organisationsstrukturen des innersten Kerns des Weißen Hauses während der letzten Präsidentschaften zeigt, dass diese stark variieren können. George W. Bush bevorzugte etwa ein relativ hierarchisches Modell mit einem starken Stabschef als gatekeeper zur Koordination des Informationsflusses und Regulierung des Zugangs zum Oval Office, sowie einem Entscheidungsprozess, bei dem ihm einige wenige ausgearbeitete Vorschläge vorgelegt wurden, aus denen er auswählen konnte (Pfiffner 2009; Rudalevige 2008). Barack Obama hingegen pflegte einen wesentlich offeneren Entscheidungsstil, bei dem seine Berater über unterschiedliche Strategien und Alternativen diskutierten und dabei durchaus auch diverse Positionen vertreten wurden (Pfiffner 2011; Rudalevige 2012). Der Führungsstil von Donald Trump kann wiederum als weitgehend anarchisch bezeichnet werden. Charakteristisch hierfür ist ein schwacher Stabschef und ein offener Zugang von einer Vielzahl an Beratern zum Ohr des Präsidenten (Böller und Siewert 2017; Lewis et al. 2018). Grundsätzlich besitzen alle Organisationsstrukturen Vor- und Nachteile: Während bei einem hierarchisch-geschlossenen Entscheidungsstil die Gefahr besteht, dass der Präsident nicht alle relevanten Informationen erhält, so erlaubt er in größerem Umfang, die Ausarbeitung von Politiken an die Mitarbeiter im Weißen Haus zu delegieren, und ist deshalb effizienter und ressourcenschonender. Ein offener Führungsstil hingegen ermöglicht es dem Präsidenten, eine größere Zahl an unterschiedlichen Standpunkten und Informationen zu hören, erhöht aber zugleich den Koordi-

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nationsbedarf und -aufwand, verzögert unter Umständen den Entscheidungsprozess und kann sogar zu einer Überlastung präsidentieller Ressourcen führen. Ein weitgehend kompetitiver Entscheidungsstil wiederum fördert die Kreativität innerhalb des Beraterstabs, kann aber auch schnell in Wettstreit und Zwietracht umschlagen und damit dysfunktional werden (Walcott und Hult 2005). Eine besondere Rolle spielen die persönlichen Berater des Präsidenten, die ihm als Generalisten ohne festes Aufgabengebiet innerhalb des WHO zuarbeiten. So sind mit den letzten Präsidentschaften immer auch starke senior advisor verbunden: Karl Rove und Karen Hughes standen George W. Bush zur Seite; David Axelrod, David Plouffe und Valerie Jarrett gehörten zu den zentralen Ratgebern Barack Obamas; und zum engsten Beraterkreis von Donald Trump zählen seine Tochter Ivanka und ihr Ehemann Jared Kushner ebenso wie Steve Miller, sowie zu Beginn seiner Präsidentschaft vor allem Steve Bannon. Dabei hat die extreme Parteipolarisierung die Bedeutung der persönlichen Berater des Präsidenten noch erhöht. Hintergrund dieser Aufwertung ist, dass diese senior advisors nicht vom Senat bestätigt werden müssen, sondern direkt vom Präsidenten ernannt werden können. Dies gilt zudem für sogenannte policy czars, die ebenfalls ohne Zustimmung des Senats eingesetzt werden können und oftmals ein spezifisches, themenübergreifendes Problemfeld bearbeiten. Insbesondere die Obama-Administration machte von der Möglichkeit weitreichenden Gebrauch und etablierte unter anderem die Position eines Policy-Zaren für die Automobilbranche, für Energie- und Klimapolitik, für städtische Strukturpolitik sowie für das Gesundheitswesen. Doch auch die Trump-Administration verfügt über eine Reihe an Policy-Zaren, etwa für Cybersecurity, Einwanderung und Grenzschutz oder Deregulierung. Dabei ist die Einrichtung solcher Positionen verfassungsrechtlich wie auch politisch sehr umstritten: So untergräbt die unilaterale Besetzung von policy czars durch den Präsidenten nicht nur die adivce and consent Funktion des Senats, sondern erhöht auch die Intransparenz, da die persönlichen Berater oftmals quer zu den traditionellen Politikfeldern operieren und sich durch unklare Abgrenzungen leicht Kompetenzstreitigkeiten ergeben. Zudem wird die Zuschreibung von Verantwortlichkeiten unterminiert, da die Policy-Zaren eben nur gegenüber dem Präsidenten, nicht aber dem Kongress Rechenschaft ablegen müssen (Vaughn und Villalobos 2015). Darüber hinaus kann der Präsident seine Politik direkt mithilfe exekutiver Instrumente (unilateral powers) gestalten (Belco und Rottinghaus 2017; Rudalevige 2018). So erlauben beispielsweise Exekutivanordnungen (executive orders) oder präsidentielle Memoranden (presidential memoranda) dem Präsidenten, eigenständig Politikinhalte zu formulieren und die Verwaltung direkt mit deren Umsetzung zu betrauen. Exekutivanordnungen und Memoranden sind in ihrer Wirkkraft Gesetzen gleichrangig, müssen aber an bestehende Gesetze anknüpfen und können vom Kongress jederzeit durch ein neues Gesetz abgeändert, vom Obersten Gerichtshof gekippt und vom Präsidenten durch eine neue executive order abgelöst werden. Unilaterale Instrumente wie Exekutivanordnungen verleihen dem Weißen Haus einen wichtigen strategischen Vorteil, weil es allein über Einsatz, Inhalt und Reich-

Präsident

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weite entscheidet. So verwundert es nicht, dass die Liste wichtiger executive orders lang ist: Beispielsweise setzte Abraham Lincoln das Recht auf habeas corpus außer Kraft, George W. Bush richtete im Zuge des war on terror Militärtribunale ein, Barack Obama ordnete die Schließung des Gefangenenlagers auf Guantanamo Bay an, und Donald Trumps travel ban verfügte die Verschärfung der Einreisebestimmungen für Personen aus vornehmlich muslimischen Herkunftsländern unter dem Vorwand des Schutzes vor terroristischen Anschlägen (Warber et al. 2018). Dabei zeigt sich ein deutlicher Trend hin zu einer Ausweitung der unilateralen Präsidentschaft durch den Einsatz von executive orders. Dies gilt auch für Barack Obama oder Donald Trump, die sich beide in ihren Wahlkämpfen als scharfe Kritiker eines übergriffigen Weißen Hauses generierten, im Amt dann aber umfänglich auf unilaterale Strategien des Regierens zurückgriffen. Ein weiteres unilaterales Instrument sind signing statements, d. h. Kommentare, die der Präsident bei der Unterzeichnung eines Gesetzes anfügen kann (Kelley und Marshall 2008). Meist dankt er in diesen den an der Gesetzgebung beteiligten Protagonisten. Allerdings kann der Präsident sie auch nutzen, um der Verwaltung seine Interpretation des Gesetzestexts darzulegen, die Ausführung gezielt vorzuschreiben oder die Bürokratie sogar anzuweisen, bestimmte Regelungen aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken nicht auszuführen. Letzteres kommt einem lineitem Veto nahe, welches der Oberste Gerichtshof 1998 für verfassungswidrig erklärt hat, da Gesetze nur ganz oder gar nicht vom Präsidenten zurückgewiesen werden können. Signing statements spielten insbesondere während der Bush-Administration eine prominente Rolle im unilateralen Instrumentarium des Präsidenten. Seither ist ihr Einsatz quantitativ zwar zurückgegangen, da sowohl Obama als auch Trump weitaus weniger von ihnen Gebrauch machten. Allerdings trügt dieser Rückgang in zweierlei Hinsicht: Erstens sind Präsidenten wie Obama auf andere Instrumente ausgewichen, die ähnliche Funktionen erfüllen, aber nicht zwangsläufig ans Licht der Öffentlichkeit gelangen wie es bei signing statements der Fall ist. Zweitens erlaubt die schiere Zahl keinerlei Aussagen darüber, wie wichtig die signing statements sind und inwiefern sie eben zur Politikformulierung bzw. -uminterpretation genutzt werden (Potter et al. 2018). Letztendlich existiert weder für die Organisation der Regierungsgeschäfte noch für die Strategie der Regierungspraxis die eine ideale Blaupause. Vielmehr müssen der Präsident und sein Mitarbeiterstab versuchen, die Organisationsstrukturen wie auch die exekutiven Strategien bestmöglich auf die jeweiligen Kontexte, Zielsetzungen, aber auch Charaktereigenschaften des Präsidenten anzupassen. Die große Herausforderung dabei ist, die besonderen Stärken des Entscheidungsstils des jeweiligen Präsidenten zu maximieren und diese auf seine politische Agenda abzustimmen, gleichzeitig aber auch die bestehenden Schwachstellen zu minimieren bzw. zu kompensieren. Dass dies in der Regel nach dem trial-and-error-Prinzip geschieht, zeigt sich an der steilen Lernkurve zu Beginn einer jeden Präsidentschaft, in der ein jedes Weiße Haus sich zunächst einmal im Politzirkus von Washington, D.C. zurechtfinden muss.

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4

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Der Präsident in der legislativen Arena

Ob und inwieweit es dem Präsidenten gelingt, sein politisches Programm umzusetzen, ist ein, wenn nicht gar das, zentrale Kriterium zur Beurteilung einer jeden Präsidentschaft. Die Verfassung rückt allerdings den Kongress ins Zentrum des Gesetzgebungsprozesses. Dementsprechend definieren dessen politische und ideologische Zusammensetzung sowie institutionellen Regelsets zu weiten Teilen die Handlungsspielräume, innerhalb derer der Präsident agieren kann (Bond und Fleisher 1990; Beckmann 2010). Ein Maßstab für die Bewertung präsidentiellen Erfolgs in der legislativen Arena sind die presidential success scores. Abb. 1 zeigt hier zweierlei: Erstens ist der Präsident erfolgreicher, wenn seine Partei die Mehrheit im Kongress innehat (unified government) und weniger erfolgreich, wenn die Kontrolle der Regierungszweige zwischen den Parteien aufgeteilt ist (divided government). So erreichte die Erfolgsquote von Donald Trump im ersten Jahr seiner Präsidentschaft einen Rekord mit 98,7 %; eine Marge, die im zweiten Jahr nur knapp unterschritten wurde. Trump übertraf damit sogar die alte Bestmarke von Obama aus dem Jahr 2009 (96,7 %), welche zuvor den historischen Erfolg von Lyndon B. Johnson aus dem Jahr 1965 (93 %) eingestellt hatte. Unter divided government sinkt die Erfolgsquote hingegen deutlich ab, wobei die tiefsten Werte in die Amtszeiten von Clinton (1995: 36,2 %; 1999: 38 %), Bush (2007: 38 %), und Obama (2016: 39 %) fallen. Zweitens wird deutlich, dass die seit Mitte der 1970er-Jahre zu beobachtende Polarisierung der Kongressparteien die Effekte der parteipolitischen Zusammensetzung des Kongresses auf den Erfolg des Präsidenten verstärkt. Zudem zeigt sich die asymmetrische Wirkung der Polarisierung: Während unter unified government die Erfolgsraten immer recht hoch sind und sogar leicht zunahmen, sank der Erfolg unter divided government in den letzten Jahrzehnten drastisch. So erreichen alle Präsidenten seit Ronald Reagan in Zeiten geteilter Regierungsverantwortung nur noch selten Erfolgsquoten von mehr als 50 %. Die parteipolitische Zusammensetzung des Kongresses und die Polarisierung der Kongressparteien beeinflussen auf unterschiedliche Weise die Position des Präsidenten in der legislativen Arena (Binder 2018; Rohde und Barthelemy 2013). So ist die Übereinstimmung elektoraler Interessen, inhaltlicher Ziele und ideologischen Grundausrichtungen innerhalb einer Partei in der Regel größer als über die Parteigrenzen hinweg. Im Umkehrschluss bedeutet dies zwar nicht, dass das Verhältnis von Präsident und Kongressmehrheit unter unified government immer harmonisch ist, wie die Beispiele der steckengebliebenen Klimaschutzgesetzgebung unter Obama oder der misslungenen Zurücknahme der Gesundheitsreform Obamacare unter Trump verdeutlichen. Allerdings sind die exekutiv-legislativen Beziehungen unter unified government normalerweise doch weit weniger konfliktgeladen als unter divided government. Dies zeigt sich nicht zuletzt an der Dynamik zwischen den jeweiligen Parteiführungen im Kongress und dem Weißen Haus (Aldrich und Rohde 2000; Sinclair 2013). Unter unified government sind die jeweiligen Mehrheitsführungen im Repräsentantenhaus und Senat wichtige Verbündete des Präsidenten, die seine legislative Agenda umzusetzen suchen. In Zeiten von divided government

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Abb. 1 Presidential success scores nach parteipolitischer Kontrolle der Regierungszweige; 1953–2018. (Quelle: CQ Vote Studies (2003–2018); eigene Zusammenstellung. Legende: Die presidential success scores werden jährlich auf der Grundlage aller namentlichen Abstimmungen (roll calls) im Kongress berechnet, zu denen eine klare Position des Präsidenten für oder gegen die Verabschiedung des Gesetzes vorliegt. Sie geben Auskunft darüber, in wie vielen Fällen, die Abstimmung im Sinne des Präsidenten erfolgte)

Eisenhower

1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018

in %

Präsident 185

186

M. B. Siewert

hingegen werden die Parteiführungen zu den zentralen Gegenspielern des Präsidenten in der legislativen Arena – die zahlreichen Konfrontationen zwischen Barack Obama und John Boehner, dem Republikanischen Sprecher des Repräsentantenhauses, oder die Showdowns zwischen Donald Trump und der Demokratischen Sprecherin Nancy Pelosi bieten hier eindrückliche Beispiele (Böller und Siewert 2020; Siewert und Haas 2012). Zudem waren in den letzten Jahren sowohl die Demokratische als auch Republikanische Partei im Kongress einem Homogenisierungstrend unterworfen. Dieser zeichnete sich dadurch aus, dass nicht nur liberale Republikaner bzw. konservative Demokraten (cross-pressured members) vollständig aus beiden Kammern verschwunden sind, sondern auch moderate Abgeordnete und Senatoren mittlerweile nur noch einen Bruchteil der Mitglieder im Kongress ausmachen (Binder 2018). Diese Homogenisierung resultiert wiederum in einer höheren innerparteilichen Geschlossenheit sowie einem strikteren Abstimmungsverhalten entlang der Parteilinien. Dies schlägt sich dann auch in der Unterstützung des Präsidenten (presidential support scores) nieder. Wie Abb. 2 illustriert, ist bei Abstimmungen im Kongress die Unterstützung aus der eigenen Partei weitaus größer als von der Gegenseite.

100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0

1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018

Repräsentantenhaus

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Bush I

Clinton

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Republikaner 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0

1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018

Senat

Reagan

Bush I

Clinton Demokraten

Bush II

Obama

Trump

Republikaner

Abb. 2 Presidential support scores im Repräsentantenhaus und Senat nach Parteien; 1981–2018. (Quelle: CQ Vote Studies (2018); eigene Darstellung. Legende: Die presidential support scores werden jährlich auf der Grundlage aller namentlichen Abstimmungen (roll calls) im Kongress berechnet, zu denen eine klare Position des Präsidenten für oder gegen die Verabschiedung des Gesetzes vorliegt)

Präsident

187

Wechselt folglich die Regierungsverantwortung, verringert sich für den Präsidenten die Zahl potenzieller Unterstützer. Die Polarisierung seit den 1980er-Jahren hat diesen Effekt noch verstärkt, da mit den cross-pressured members gerade die Abgeordneten und Senatoren aus dem Kongress verschwunden sind, die potenziell gegen ihre Parteilinie stimmen und damit auch einen Präsidenten der anderen Partei unterstützen würden. Gerade im Senat hat die schwindende Unterstützung des Präsidenten aus der Gegenpartei massive Folgen, da die institutionellen Spielregeln, wie etwa das hold oder der filibuster, den Einfluss einzelner Senatoren stärken und diesen die Möglichkeit einräumen, den Gesetzgebungsprozess zu blockieren. Der Präsident muss in der legislativen Arena deshalb zuvorderst mit den Karten spielen, die ihm durch die Kongresswahlen in die Hand gegeben werden. Allerdings verfügt er über unterschiedliche Kompetenzen, mithilfe derer er in der Lage ist, auf den Formulierungs- und Entscheidungsprozess Einfluss zu nehmen und seine Erfolgschancen zu maximieren (Beckmann 2010; Siewert 2020). In der Vorbereitungsphase des Gesetzgebungsprozesses kann der Präsident auf die Themen einwirken, die sich auf der politischen Agenda befinden. Hierzu besitzt er mit der State of the Union Address und dem Haushaltsentwurf zwei wichtige Instrumente, den Mitgliedern des Kongresses und der Öffentlichkeit die Leitlinien und Schwerpunkte seines politischen Programms darzulegen. Dabei kommt es darauf an, welche Themen er auswählt, welche Priorität er den einzelnen Initiativen zuschreibt und in welcher Reihenfolge er diese anzugehen gedenkt. Zwar kann der Präsident keine eigenen Gesetzentwürfe einbringen, jedoch kann er in der Regel seine Initiativen über ein Kongressmitglied in den Legislativprozess einspeisen. Gerade in Zeiten von unified government bestimmen präsidentielle Initiativen mehrheitlich die Tagesordnung des Kongresses, wohingegen unter divided government die Führung der Mehrheitspartei zu einem starken Kontrahenten heranwächst, der eine alternative politische Agenda formuliert (Edwards und Barrett 2000). Während der Beratungs- und Abstimmungsphase beruht die Machtposition des Präsidenten in erster Linie auf informellen Ressourcen. Dies hat zur Folge, dass der Präsident versuchen muss, in beständigen Verhandlungen mit den Kongressführungen sowie einzelnen Abgeordneten und Senatoren seine Politikinhalte im jeweiligen Gesetzentwurf unterzubringen. Dabei erfolgt der Prozess des Aushandelns und der Kompromissfindung über mehr oder minder institutionalisierte Kanäle – was auch zur Folge hat, dass die Kommunikationswege wesentlich einfacher innerhalb einer Partei verlaufen als über die Parteigrenzen hinweg (Beckmann 2008; Baker 2018). Am Ende des Gesetzgebungsprozesses angesiedelt, ist das Veto das einzige formale legislative Instrument des Präsidenten. Dabei handelt es sich beim Veto um kein rein negatives Instrument zur Blockade unliebsamer Gesetze. Vielmehr ist bereits die Androhung eines Vetos ein effektives Mittel, Zugeständnisse während des Aushandlungsprozesses zu erwirken und Gesetzesinhalte in die gewünschte Richtung zu beeinflussen (Cameron 2000; Gilmour 2011). Dabei kann davon ausgegangen werden, dass die Präferenzen des Präsidenten mit oder ohne Androhung eines Vetos fortwährend im Kongress „mitgedacht“ werden, um nicht am Ende des Gesetzgebungsprozesses ein Veto zu provozieren. Da zur Zurückweisung eines Vetos Zweidrittelmehrheiten in beiden Kammern notwendig sind, werden nur sehr wenige

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Eisenhower

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Kennedy Johnson

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Ford

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Carter

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Unified Government

Nixon

99.

98.

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Kongress

Reagan

102.

101.

Bush I

105.

104.

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Bush II

108.

107.

106.

Divided Government

Clinton

113.

112.

Obama

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Trump

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110.

103.

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91.

Abb. 3 Präsidentielle Vetos (regular & pocket vetoes) nach parteipolitischer Kontrolle der Regierungszweige; 1953–2019. (Quelle: Woolley und Peters 2019; eigene Darstellung. Legende: Neben dem regulären Veto gibt es noch das sogenannte pocket veto. Der Präsident hat zehn Tage Zeit, um ein Gesetz zu unterschreiben oder es mit einem Veto zu belegen. Lässt er diese Zehntagesfrist verstreichen, so tritt das Gesetz auch ohne seine Unterschrift in Kraft. Vertag sich der Kongress jedoch innerhalb dieser zehn Tage, verschwindet das Gesetz „in der Tasche“ des Präsidenten und stirbt damit)

Anzahl an Vetos

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Präsident

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Initiativen zu Gesetzen, welche der Präsident von Grund auf ablehnt. Von 1514 regulären Vetos seit 1789 wurden nur 111 (7,3 %) überstimmt (Senate Reference Desk 2019). Setzt man die Anzahl der Vetos in Beziehung zur parteipolitischen Kontrolle der Regierungszweige (Abb. 3), zeigt sich, dass der Präsident unter divided government weitaus häufiger von seinem Veto Gebrauch macht als unter unified government.

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Der Präsident in der öffentlichen Arena

Die Unterstützung in der öffentlichen Arena ist für den Präsidenten von zentraler Bedeutung – sei es um (wieder)gewählt zu werden oder um sein politisches Programm zu verwirklichen. Zwar liefern empirische Studien widersprüchliche Ergebnisse zum Zusammenhang von öffentlicher Zustimmung und gesetzgeberischem Erfolg des Präsidenten. Allerdings scheint es sehr plausibel, dass das Schicksal des Präsidenten in der legislativen und elektoralen Arena eng mit der Stimmungslage in der Öffentlichkeit verbunden ist. Ein wesentlicher Indikator zur Evaluierung des Präsidenten ist seine Zustimmungsquote ( job approval) innerhalb der Bevölkerung (Edwards 2009a). Tab. 1 gibt einen Überblick über die durchschnittlichen Zufriedenheitswerte mit der Amtsführung in den ersten beiden Jahren der jeweiligen Präsidentschaft. Hier zeigt sich gleich ein doppelter Effekt der Parteipolarisierung der letzten Jahre. Erstens liegen die Zustimmungswerte von Trump, Obama, Clinton und Reagan deutlich unter den Werten der Präsidenten Eisenhower, Kennedy und Johnsons, die noch unter weniger polarisierten Bedingungen regierten. Ausnahmen sind hier Bush senior und Bush junior, deren hohe öffentliche Zustimmungswerte sich mit dem rally-around-the-flag Phänomen im Zuge des ersten Irakkriegs (Bush I) und den Tab. 1 Durchschnittliche öffentliche Zustimmung für den Präsidenten in den ersten zwei Amtsjahren; 1953–2018. Quelle: Jones 2018 Präsident Trump Obama Bush II Clinton Bush I Reagan Carter Ford Nixon Johnson Kennedy Eisenhower

Zustimmung gesamt 39 % 52 % 70 % 48 % 70 % 50 % 54 % 48 % 59 % 75 % 74 % 67 %

Zustimmung Republikaner 85 % 13 % 84 % 27 % 82 % 83 % 30 % 68 % 75 % 44 % 49 % 88 %

Zustimmung Demokraten 8% 83 % 23 % 82 % 44 % 31 % 57 % 37 % 34 % 71 % 84 % 49 %

Differenz Rep – Dem 77 70 61 55 38 52 27 31 41 27 35 39

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Anschlägen des 11. Septembers (Bush II) erklären lassen. Besonders hervorstechend sind die extrem niedrigen Zufriedenheitswerte mit der Amtsführung von Präsident Trump, der die schlechtesten Werte seit dem Zweiten Weltkrieg aufweist. Zweitens zeigt sich ganz deutlich der partisan gap in der öffentlichen Wahrnehmung des Präsidenten. Während Demokratische Parteianhänger die Amtsführung eines Demokratischen Präsidenten durchweg (sehr) positiv bewerteten, liegt das Zustimmungsniveau bei Republikanischen Parteigänger durchweg deutlich niedriger – und umgekehrt. Dabei verstärkt sich die Differenz in der Beurteilung mit zunehmender Polarisierung in den letzten Jahren. So lag die Zustimmung der Demokraten zur Amtsführung Trumps in den ersten beiden Jahren bei nur 8 %, was noch mal einen Rückgang im Vergleich zur Präsidentschaft Obamas darstellt, dessen Führung von nur 13 % der Republikaner positiv bewertet wurde. Angesichts der massiven parteipolitischen Verzerrung in der Beurteilung der Amtsführung stellt sich die Frage, inwieweit der Präsident in der Lage ist, mittels geschickten Einsatzes seines bully pulpits, d. h. der medialen Präsenz des Weißen Hauses, die Öffentlichkeit zu beeinflussen oder gar zu führen (Edwards 2009b; Kernell 2006). Zwar weist ihm die Rolle als alleiniger Repräsentant der gesamten Nation zweifelsohne eine exponierte Stellung in der öffentlichen Arena zu, die Möglichkeiten präsidentieller Führung sind allerdings eher begrenzt. So ist der Präsident aufgrund seiner medialen Omnipräsenz ein zentraler, aber keinesfalls der dominierende Agendasetzer, zumal er mit anderen Akteuren, denen die gleichen Instrumente zur Verfügung stehen, in einer ausdifferenzierten Medienlandschaft um die Aufmerksamkeit einer zunehmend fragmentierten und polarisierten Gesellschaft konkurriert. Allerdings kann er mittels strategischem framing und priming versuchen, das Bewusstsein für bestimmte Problemstellungen zu schärfen oder deren Bedeutung zu steigern. Inwieweit der Präsident erfolgreich diese Strategien einzusetzen vermag, wird von drei Faktoren beeinflusst: seinen rhetorischen Fertigkeiten, dem jeweiligen Sachgegenstand – genauer dessen Inhalt, Komplexität und Salienz – sowie den Prädispositionen der Adressatengruppe – z. B. Partei und Ideologie, Bildung und politisches Interesse. Den Massenmedien kommt hierbei eine zentrale Rolle zu, da sie politische Informationen nicht nur bereitstellen, sondern auch selektieren und kommentieren. In diesem Zusammenhang verfolgen Präsidenten heutzutage eine Strategie des governing by campaigning, die auf mediale Dauerpräsenz sowie einen Mix aus verschiedenen Informationskanälen und -ressourcen setzt, der auf die jeweilige Zielgruppe sowie die persönlichen Eigenschaften des Präsidenten abgestimmt ist (Rottinghaus 2010; Eshbaugh-Soha und Peake 2011). Hier verfügt der Präsident über eine Vielzahl unterschiedlicher Plattformen: von town-hall meetings und kleineren Auftritten quer durch die Republik, über Radioansprachen und Pressekonferenzen, Interviews und Fernsehauftritten, bis hin zur direkten Ansprache an die Nation. Dabei hat sich das Arsenal an Kommunikationsmitteln mit der Digitalisierung und den Sozialen Medien noch vergrößert. Nachdem bereits Obama seine Kommunikationsstrategie um innovative Elemente wie YouTube, Facebook und direkte E-Mail-Listen erweitert hatte, setzt auch Trump verstärkt auf direkte Kanäle und hier in erster Linie auf sein Lieblingsmedium Twitter (Farnsworth 2018). Diese

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neuen Medien sind aus zweierlei Gründen ein wertvolles Instrument für den Präsidenten: Zum einen erlauben sie es ihm, ungefiltert von den traditionellen Medien, mit der Bevölkerung in Kontakt zu treten. Dabei können Twitter, Facebook, Direktmails u. a. m. als technologisch-innovative, aber funktionale Äquivalente zu früheren Strategien der Präsidenten wie going local oder storming the barn verstanden werden, die ebenfalls darauf abzielten, die Ansprache des Präsidenten direkt an die Bevölkerung zu richten. Zum anderen ist es in der gegenwärtigen post-broadcasting Ära schwierig, eine breite Öffentlichkeit zu erreichen, da diese zunehmend in unterschiedliche Nischenöffentlichkeiten zerfällt. Hier sind die Sozialen Medien ein ideales Instrument, politische Inhalte zielgruppenspezifisch (Stichwort microtargeting) aufzubereiten und zu verbreiten. Wie in jeder Demokratie, verläuft die Beziehung zwischen Präsident und Öffentlichkeit nicht einseitig, sondern vielmehr wechselseitig. So muss sich der Präsident gegenüber den Ansichten, Wünschen und Bedürfnissen der Bevölkerung responsiv zeigen, will er wiedergewählt werden oder seine Politikinhalte durchsetzen. Allerdings stellt sich die Frage, wem gegenüber genau sich der Präsident responsiv verhält? Auf der einen Seite umfasst sein Wahlkreis die gesamte Republik und demnach sollte er das Wohl aller oder zumindest einer Mehrheit der Bevölkerung im Blick haben. Auf der anderen Seite ist auch der Präsident ein parteipolitischer Akteur, der zuvorderst auf die Bedürfnisse derer reagiert, die ihn in sein Amt gewählt haben. Hier argumentiert ein Strang der Forschung, dass der Präsident seine Politikpositionen in der Regel den Präferenzen der Bevölkerungsmehrheit anpasst und sich damit in Richtung der gesellschaftlichen Mitte bewegt (Canes-Wrone und Shotts 2004; Rottinghaus 2006). Andere Studien hingegen verweisen darauf, dass der Präsident sich in erster Linie an der Zustimmung der Anhänger des eigenen Parteilagers orientiert und sich deshalb diesen Präferenzen gegenüber responsiver verhält – ein Trend, der durch die gestiegene Polarisierung der Parteien und ihrer Wählerschaft verstärkt wird (Wood 2009; Eshbaugh-Soha und Rottinghaus 2013).

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Fazit

Ausgangspunkt dieses Beitrags war die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen präsidentieller Führung in einem politischen System, das zum einen von der Logik der „separated institutions sharing and competing for powers“ geprägt ist und in dem zum anderen die parteipolitische Hyperpolarisierung sich mittlerweile auf alle politischen Institutionen, Prozesse und Sachfragen auswirkt. Es ist deutlich geworden, dass den Handlungsräumen des Präsidenten enge Grenzen gesetzt sind. Diese Diagnose steht im Kontrast zu den allgegenwärtigen Forderungen aus Politik, Medien und Gesellschaft, wonach der Präsident eine aktive Führungsrolle im politischen Prozess einnehmen soll. Ausgestattet mit nur wenigen harten verfassungsrechtlichen Kompetenzen, kann der Präsident selten seinen politischen Willen gegen den Widerstand anderer Akteure durchzusetzen und nur in Ausnahmefällen im Alleingang handeln – und selbst bei unilateralen Maßnahmen ist der Präsident auf die Umsetzung der Verwaltung angewiesen. Vor diesem Hintergrund ist der Präsi-

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dent weniger ein director of change, welcher eigenständig neue Handlungsspielräume kreieren und die Zustimmung anderer Akteure gegen ihren Willen erzwingen kann. Vielmehr ist er ein facilitator of change, der die vorhandenen Entscheidungsräume im politischen Spiel erkennen muss und die ihm zur Verfügung stehenden Instrumente situations- und gegenstandsadäquat strategisch einzusetzen und taktisch umzusetzen versteht (Edwards 2009b). Die parteipolitische Polarisierung wirkt sich nicht nur auf die Sachinhalte des politischen Entscheidungsprozesses aus, sondern beeinflusst auch die inhaltlichen Positionen, Strategien und Taktiken des Präsidenten. In einem System, das bereits unter weniger polarisierten Bedingungen zum Erhalt des Status quo tendierte, hat die Polarisierung gerade in den letzten beiden Jahrzehnten den Konflikt zwischen den Regierungszweigen nochmals enorm erhöht. So ist die Kompromissfindung zwischen Kongress und Weißem Haus in Zeiten von divided government fast unmöglich geworden. Politischer Stillstand ist somit der neue Regelfall, wobei dies noch als best-case Szenario bezeichnet werden kann, denn die politisierten Auseinandersetzungen zwischen den Institutionen nehmen immer stärker zu. So dominieren in der legislativen, exekutiven und öffentlichen Arena weniger inhaltliche Sachthemen, sondern vielmehr Skandale und Konfrontation. Dabei kann insgesamt festgestellt werden, dass die Herausbildung klarer parteipolitischer Lager in Politik und Gesellschaft zu einer Schwächung der Position des Präsidenten als Repräsentant der gesamten Nation geführt hat. Dabei ist mit der Präsidentschaft Donald Trumps noch mal ein qualitativer Bruch feststellbar. Anders als seine Vorgänger George W. Bush und Barack Obama versucht Trump nicht einmal vorzugeben, eine überparteiliche Politik anzustreben, sondern verfolgt offen eine Politik für seine Wählerschaft. Damit fällt der parteipolitische Hyperpolarisierung eine weitere Norm des politischen Systems der USA zum Opfer: das Amt des Präsidenten als einheitsstiftendes Symbol der Nation.

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Supreme Court Dritte Gewalt oder politischer Akteur? Michael Dreyer und Nils Fröhlich

Inhalt 1 Der Supreme Court – dritte Gewalt unter drei Gleichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Der Supreme Court zwischen Recht und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Die Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Verfahren und Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Living constitution oder original intent? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Trends und Entwicklungen im gegenwärtigen Supreme Court . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Anhang: Einige wichtige Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Der Supreme Court gilt als das älteste und zugleich mächtigste Verfassungsgericht der Welt, dessen Entscheidungen immer wieder weitreichende politische Konsequenzen gehabt haben. Oftmals treten die Urteile sogar als Ersatz an die Stelle ausbleibender Entscheidungen der politischen Gewalten. Umgekehrt steht das Gericht daher auch in der Kritik der Öffentlichkeit. Untersucht werden Aufbau, Funktionsweise und Urteilsfindung des Supreme Court im Rahmen des politischen Systems der USA. Schlüsselwörter

Supreme Court · Verfassung · Gewaltenteilung · Funktionsweise · Oberste Richter · Schlüsselurteile · Bürgerrechte

M. Dreyer (*) · N. Fröhlich Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_11

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Der Supreme Court – dritte Gewalt unter drei Gleichen

Unter den drei „co-equal branches of government“ wird der Supreme Court in der Regel etwas stiefmütterlich behandelt. Das gilt für die politikwissenschaftliche Forschung,1 aber auch bereits für die Verfassung, in der der Kongress in Art. 1 mit über 2000 Wörter beschrieben wird, die Präsidentschaft in Art. 2 immerhin noch mit gut 1000 Wörtern – aber der Supreme Court und das gesamte Rechtssystem der USA mit 369 Wörtern. Dazu passt, dass bis 1935 dauerte, bis der Supreme Court sein eigenes Gebäude im Washingtoner Regierungsviertel bekam, nachdem er sich bis dahin mit Räumen im Kongress-Gebäude hatte begnügen müssen. Ist der Supreme Court also die „least dangerous branch“, wie nicht nur Alexander Hamilton bereits in den Federalist Papers behauptete, sondern wie es auch der Titel eines der bekanntesten Bücher zum Thema aufgreift? (Bickel 1962/1986) Hamilton begründete seine Einschätzung im Federalist Nr. 78 damit, die Justiz habe „no influence over either the sword or the purse; no direction either of the strength or of the wealth of the society; and can take no active resolution whatever. It may truly be said to have neither force nor will, but merely judgment; and must ultimately depend upon the aid of the executive arm even for the efficacy of its judgments“ (Hamilton et al. 1788/1961, Nr. 78). Diese Einschätzung war 1788 sicherlich berechtigt, denn tatsächlich sollte Hamiltons Co-Autor der Federalist Papers, John Jay, 1795 entnervt die Position als erster Chief Justice der USA aufgeben, um Gouverneur von New York zu werden – das Oberste Gericht hatte in den sieben Jahren seiner Amtszeit gerade vier Fälle behandelt, was dem nach Aktivität strebenden Politiker offenbar zu wenig war. Und auch heute braucht der Supreme Court für seine Entscheidungen, ganz wie von Hamilton analysiert, die Unterstützung der politischen Gewalten, denn ohne exekutive und legislative Mitwirkung setzt sich keine von ihnen gleichsam von selbst durch. Ein schlagendes Beispiel hierfür ist die vielleicht berühmteste Entscheidung des Gerichts, Brown v. Board of Education (347 U.S. 483 (1954)), mit der 1954 die Rassentrennung in den USA rechtlich für unzulässig erklärt wurde. Das einzige Problem hieran ist, dass diese Entscheidung die Rassentrennung keineswegs beendete, nicht einmal die in öffentlichen Schulen, auf die sich Brown eigentlich bezog. Die mangelnde Kooperation der Regierung Eisenhower führte dazu, dass es ungefähr ein Jahrzehnt dauerte (und damit in die Präsidentschaften von Kennedy und Johnson hinein), bis die Rassenintegration in den Schulen sichtbare Fortschritte gemacht hatte. Und doch wäre es verfehlt, dem Supreme Court mit Hamilton nur mindere Machtmittel zuzuschreiben. Das Gegenteil ist der Fall.

1 Die beste kurz politikwissenschaftliche Einführung ist Baum (2019). Hilfreiche statistische Werte finden sich in Epstein und Segal (2015). Zur Geschichte des Supreme Court immer noch am besten Currie (1985, 1990); als populäre neuere Übersicht Rosen (2007). Als Nachschlagewerk unverzichtbar Hall (2005). Erwähnt werden muss, dass Wikipedia inzwischen zu allen wesentlichen Fällen, zu allen Richtern und Sachthemen gründliche Artikel aufweist. Zur deutschen Forschung Dreyer (2004).

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Der Supreme Court zwischen Recht und Politik

2.1

Die Stellung des Supreme Court im amerikanischen Rechtssystem

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Die Rechtsstellung des Supreme Court ist in der Verfassung nur ansatzweise geregelt. Weder die Zahl der Richter ist festgelegt, noch die Organisation der unteren Gerichte, noch irgendwelche notwendigen Qualifikationen für das Richteramt. Alles dies wurde erst im Judiciary Act von 1789 festgelegt, der seither bei zahllosen Gelegenheiten wieder geändert wurde. Selbst so grundlegende Fragen wie die Zahl der Richter im Supreme Court können also durch ein einfaches Gesetz geändert werden. Allerdings ist dies seit 1869 nicht mehr geschehen, und der letzte Plan, die Zahl aus durchsichtigen politischen Gründen zu erhöhen, scheiterte in der zweiten Amtszeit von F.D. Roosevelt spektakulär. (vgl. McKenna 2002; Solomon 2009; Feldman 2010). Der Judiciary Act regelt auch die Einrichtung der unteren Bundesgerichte, also „such inferior Courts as the Congress may from time to time ordain and establish“ (Art. III der Verfassung). Sie sind gegliedert in gegenwärtig 89 District Courts in den 50 Einzelstaaten der USA und 13 geografisch strukturierte Courts of Appeals. Hinzu kommen noch einige District Courts in den Territorien sowie einige sachlich geordnete Courts of Appeals, etwa der Court of Appeals for the Armed Forces. Anders als beim Supreme Court, dessen personelle Zusammensetzung seit 1869 auf neun Richter festgelegt ist, wird für die unteren Gerichte die Zahl der Richterstellen wie auch die geografische Zuordnung der einzelnen Gerichte immer wieder je nach demografischen Veränderungen (und auch politischen Zielrichtungen) geändert. Der Supreme Court ist, wie jedes Verfassungsgericht, ein politisches Gericht. Dies gilt umso mehr, als die Prozeduren zur formellen Verfassungsänderung so kompliziert sind und die Zahl der Vetospieler im Verfassungsrevisionsprozess so hoch ist, dass es in der gesamten Verfassungsgeschichte der USA überhaupt nur 27 Verfassungszusätze gegeben hat, von denen zudem die meisten entweder nur technischen Charakter haben2 oder aber nach ihrer Ausführung keine weiteren Konsequenzen folgten. So wichtig etwa die Sklavenbefreiung (13. Amendment) oder die Ausdehnung des Wahlrechts auf Frauen (19. Amendment) waren, hatten sie doch den Nachteil, dass sie nach Umsetzung der hier festgeschriebenen Verfassungsgebote vollkommen erfüllt waren. Neben der Bill of Rights (1791) ist es vor allem das 14. Amendment (1868), das für die Verfassungsinterpretation des Supreme Court eine besondere Rolle haben sollte und das uns noch mehrfach begegnen wird. Die geringe Zahl von 27 Amendments war nicht in der Lage, den gesamten Verfassungswandel von 1787 bis heute abzubilden. An der Stelle, wo die politischen Gewalten nicht handelten, musste notgedrungen der Supreme Court einspringen.

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Etwa das 20. Amendment (1933), das den Amtsantritt des Präsidenten vom März auf den Januar verschiebt.

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Das galt vor allem, für die Grundrechtsentwicklung, aber auch für die Abwägung der Rolle der Gewalten zueinander sowie für Fragen der föderativen Ordnung – horizontale und vertikale Gewaltenteilung bedürfen bis heute der Interpretation durch den Supreme Court. Ein zweiter Punkt kommt hinzu. Das Gericht heißt „Supreme Court of the United States“, und nicht „Supreme Constitutional Court of the United States“. Mit anderen Worten: der Supreme Court erfüllt die Funktion, die in der Bundesrepublik von den fünf obersten Bundesgerichten gemeinsam wahrgenommen werden. Und dies, obwohl er nur über eine einzige Kammer mit neun Richtern verfügt. Dies ist nur dadurch möglich, dass der Supreme Court fast vollkommen Herr über seine Verfahren ist. Von vernachlässigenswerten Ausnahmen wie etwa dem Rechtsstreit zwischen zwei Botschaftern abgesehen gibt es keine originäre Rechtsprechung, die direkt vor dem Supreme Court beginnt. In fast allen Fällen agiert er als Revisionsinstanz, nachdem schon mehrere untere Instanzen Urteile in gleicher Sache gefällt haben. Seit der Revision des Judiciary Act von 1925 hat der Supreme Court fast völlige Freiheit, welche Fälle er hören will und welche nicht. Er ist seither also Herr über seine Arbeitslast und nimmt fast nur solche Fälle an, die eine bedeutende Verfassungsfrage zur Entscheidung vorlegen und in der nachgeordnete Gerichte einander widersprechende Urteile gefällt haben. Soweit agiert der Supreme Court wie ein normales oberstes Gericht in anderen Ländern. Es ist aber seine Funktion als Verfassungsgericht, die ihm seine spezielle politische Rolle gibt, und zwar seit 1803.

2.2

Die Stellung des Supreme Court im politischen System

In der Verfassung ist nicht explizit festgelegt, dass der Supreme Court der letzte Schiedsrichter zur Auslegung der Verfassung ist, auch wenn Alexander Hamilton in Nr. 78 der Federalist Papers diese Auffassung bereits vertrat. Es war ein kühnes Urteil des Supreme Court selbst, in Marbury v. Madison (5 U.S. 137 (1803)), in dem das einstimmige Gericht und sein Chief Justice John Marshall als Autor des Urteils sich das Recht auf judicial review zuschrieben, also auf letztinstanzliche Überprüfung der Verfassungsgemäßheit von Gesetzen und Handlungen der anderen Gewalten. Marshall war sich dessen bewusst, dass dies eine Machterweiterung war, die vorsichtig gebraucht sein wollte, und er hat sie bis ans Ende seiner langen Amtszeit (1833) nie wieder genutzt – anders als die Verwerfung einzelstaatlicher Gesetzgebung, die von ihm regelmäßig ausgesprochen wurde und die erheblich zur Stärkung der schwachen Bundesgewalt gegenüber den Staaten beitragen sollte. Aber dies galt nicht für die Bundesebene und ihre Gesetzgebung selber. Tatsächlich sollte die zweite Gelegenheit, bei der ein Bundesgesetz vom Supreme Court für verfassungswidrig und damit ungültig erklärt wurde, das Gericht und das ganze Land in seine tiefste politische Krise stürzen. In Dred Scott v. Sandford (60 U. S 393 (1857)) wurde der die Sklaverei begrenzende Missouri Compromise von 1820 für verfassungswidrig erklärt. Anstatt die Debatte um die Sklaverei zu befrieden und

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zu beenden, wie es Chief Justice Roger Taney3 und die Mehrheit von immerhin sieben der neun Richter beabsichtigt hatten, sollte dieses Urteil die politische Polarisierung im Lande drastisch verschärfen und damit den Weg in den Bürgerkrieg bereiten. Konsequenzen dieser Tragweite sind extrem selten, aber mit vielen Urteilen, gerade zu Menschen- und Bürgerrechtsfragen, tritt das Gericht fast notgedrungen an die Stelle der Gesetzgeber, die viele politisch heikle Fragen schlicht ignorieren und Entscheidungen, in denen jede eigene Positionierung Stimmen kosten könnte, gerne den Gerichten überlassen. Als ältestes Verfassungsgericht der Welt hat der Supreme Court weltweit traditionsbildend gewirkt. Länder mit starken Verfassungsgerichten wie Deutschland, Kanada, Israel oder Indien haben sich zum Teil am amerikanischen Vorbild orientiert, wobei diese Vorbildfunktion stärker in der Existenz dieser Institutionen generell zu sehen ist und nicht in der konkreten Ausgestaltung der Gerichte. Ein aufschlussreicher Vergleich kann zwischen dem Supreme Court und dem Bundesverfassungsgericht gezogen werden. Der Einfluss beider Gerichte auf die Politik ihrer Länder ist ausgesprochen stark. Aber es ist ein Mythos, dass der Supreme Court unmittelbar Pate bei der Errichtung des Bundesverfassungsgerichtes gestanden hätte; hier waren vielmehr deutsche Traditionen weit einflussreicher. Die weltweite Leuchtturmfunktion des Supreme Court ist aber trotzdem unübersehbar. Wie funktioniert er nun im Detail, jenseits der mageren Verfassungsbestimmungen?

3

Die Richter

3.1

Wie wird man Richter am Supreme Court?

Art. III der Verfassung bestimmt, dass alle Richter an Bundesgerichten vom Präsidenten nominiert und dann vom Senat mit einfacher Mehrheit bestätigt werden. Danach besitzen sie ihr Amt „during good behavior“, also auf Lebenszeit. Ihre Amtszeit wird beendet durch freiwilligen Rücktritt oder durch den Tod, bzw. bei Vergehen der Richter durch ein Impeachment-Verfahren, das dem präsidentiellen Impeachment vergleichbar gestaltet ist. Gegen Richter am Supreme Court ist ein solches Impeachment noch nie erfolgreich durchgeführt worden, gegen korrupte Richter unterer Bundesgerichte hingegen schon ab und an. 1805 versuchte Präsident Jefferson, den ihm unliebsamen Richter Samuel Chase aus dem Gericht zu entfernen, aber das Impeachment-Verfahren scheiterte, was umgekehrt die Unabhängigkeit des Supreme Court wesentlich befestigte (Rehnquist 1992).

3 Roger Taney (1777–1864) war von 1863 bis zu seinem Tode Chief Justice und gilt in Fachkreisen als einer der bedeutendsten Richter in der Geschichte des Supreme Court. In der Öffentlichkeit ist er allerdings nur als Autor von Dred Scott, der schlimmsten Fehlentscheidung in der Geschichte des Gerichts bekannt.

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Wenn es auch keine rechtlichen Bestimmungen gibt, die den Präsidenten bei seinen Nominierungen zum Supreme Court (und zu den unteren Bundesgerichten) einschränken, gibt es doch handfeste politische Überlegungen, die beachtet sein wollen (Abraham 2008). Zunächst wird ein Präsident nur Richter nominieren, die ihm ideologisch nahestehen und in der Regel seiner Partei angehören. Tatsächlich war Lincoln 1863 der erste Präsident, der einen Richter aus der Minderheitenpartei ernannte – Stephen Johnson Field aus Kalifornien, der zwar Demokrat war, aber zugleich ein starker Verfechter der Einheit der Union, und der damit den Präsidenten im zentralen politischen Thema der Zeit unterstützte. Nicht immer ist diese vermeintliche ideologische Nähe jedoch ein Garant dafür, dass die so ernannten Richter auch eine Verfassungsinterpretation verfolgen, die wirklich auf der Linie des Präsidenten liegt. Die amerikanische Geschichte ist voll von Präsidenten, die ihre Ernennungen zum Supreme Court später bitter bereut haben. Sowohl Präsident Truman (Miller 1973, S. 242) wie Präsident Eisenhower betrachteten Supreme Court Ernennungen als die größten Fehler ihrer Präsidentschaft. Allerdings ist Eisenhowers angebliche Behauptung möglicherweise apokryph (Smith 2012, S. 603 FN). Da die Ernennungen auf Lebenszeit erfolgen, nützt diese späte Reue nichts mehr. Die lebenslange Dauer des Sitzes im Supreme Court ist zugleich auch ein Hinweis auf die nächste politische Überlegung: Präsidenten werden versuchen, relativ junge Richter zu ernennen, um einen möglichst langfristigen Einfluss auszuüben. In den letzten Jahrzehnten waren die ernannten Richter im Schnitt knapp über 50 Jahre alt, was eine entsprechend lange Amtsdauer vermuten ließ und lässt. Tatsächlich sind inzwischen Amtszeiten von über 20 Jahren normal geworden. Überhaupt hat es in der gesamten Geschichte der USA bislang nur 114 Richter am Supreme Court gegeben, darunter 17 „Chief Justices“. Nur vier der 114 waren Frauen; als bislang letzte Richterin wurde 2010 Elena Kagan von Barack Obama ernannt. Ihre drei direkten Vorgänger in ihrem Sitz, John Paul Stevens (ernannt 1975), William O. Douglas (1939) und Louis Brandeis (1916) hielten diesen einen Sitz im Supreme Court fast durch ein ganzes Jahrhundert. Die beiden Ernennungen, die Donald Trump bislang vornehmen konnte, sind beides konservative Männer, nämlich Neil Gorsuch (2017) und Brett Kavanaugh (2018). Andere Kriterien sind im Laufe der Zeit weniger wichtig geworden bzw. umgekehrt neu hinzugekommen. In Zeiten des sektionalen Konfliktes um die Sklaverei spielte die geografische Ausgewogenheit des Gerichtes zwischen Nord und Süd eine zentrale Rolle. Heute ist die Geografie belanglos geworden. Früher war die Religion der Kandidaten wichtig; ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde darauf geachtet, wenigstens einen Katholiken im Gericht zu haben. Als 2010 mit John Paul Stevens der einzige damals verbliebene Protestant aus dem Gericht ausschied (Baker 2010), wurde dies von kaum jemandem eines Kommentars würdig befunden. Gegenwärtig sind fünf Mitglieder des Gerichtes katholisch, einer ist Protestant und drei sind jüdischen Glaubens – eine Zusammensetzung, die noch vor kurzem politisch unmöglich gewesen wäre. 2005 endete mit dem Ausscheiden von Sandra Day O'Connor, einer ehemaligen Staatssenatorin aus Arizona, eine andere Tradition. Von Anfang an sind neben Fachjuristen immer auch ehemalige Politiker im Gericht gewesen, von denen einige zu den bedeutendsten Richtern der Geschichte des Supreme Court gezählt

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werden.4 Ihr konsensorientierter staatsmännischer Blick ist heute anscheinend nicht mehr gefragt; ein Indikator der politischen Polarisierung, die längst auch den Supreme Court erreicht hat. Gegenwärtig sind alle Mitglieder des Gerichtes Juristen ohne jegliche politische Erfahrung in einem Wahlamt. Wichtig geworden sind demgegenüber in vergangenen Jahren ethnische Überlegungen. Präsident Johnson ernannte 1967 mit Thurgood Marshall den ersten „African-American“ zum Richter im Supreme Court, während Ronald Reagan 1981 mit Sandra Day O'Connor die erste Frau ernannte. Es ist politisch undenkbar, dass der Supreme Court wieder zu einer reinen Bastion weißer Männer werden könnte. Gerade Minderheiten, die für Präsidenten politisch wichtig sind, achten auf entsprechende Ernennungen. Es ist kein Zufall, dass Ronald Reagan mit Antonin Scalia 1986 den ersten Italo-Amerikaner ernannte oder dass Barack Obama sich 2009 bei seiner ersten Ernennung mit Sonia Sotomayor für die erste Latina entschied. Im Schnitt kann ein Präsident damit rechnen, in einer vollen Amtszeit ein bis zwei Ernennungen durchzuführen – allerdings ist diese Angabe mit Vorsicht zu nehmen, denn angesichts der Freiheit der Richter, ihren eigenen Rücktritt zu bestimmen, gibt es keine Garantien. Pech hatte Jimmy Carter, der als einziger Präsident mit einer vollen Amtszeit keinen einzigen Richter bestimmen konnte. Glück hatte Donald Trump, der bereits vor Ende seiner ersten Amtszeit zwei Ernennungen vornehmen konnte und der im Fall seiner Wiederwahl und angesichts des hohen Durchschnittsalters im Gericht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weitere Ernennungen vor sich haben dürfte. Wenigstens am Rande sei erwähnt, dass natürlich auch die Nominierungen des Präsidenten zu den unteren Bundesgerichten wichtig sind. Auch hier war Donald Trump vom Glück begünstigt. Bereits nach drei Jahren seiner Amtszeit konnte er fast ebenso viele Richter auf diese Positionen ernennen wie Barack Obama, George W. Bush und Bill Clinton in jeweils zwei vollen Amtszeiten. Nach der Nominierung durch den Präsidenten werden (wie auch bei den Richtern für die unteren Bundesgerichte) Anhörungen im Justizausschuss des Senates durchgeführt, der danach eine Empfehlung an den gesamten Senat ausspricht. Dieser braucht eine einfache Mehrheit, um den Kandidaten zu bestätigen. So einfach, wie dies klingt, ist es in Zeiten politischer Polarisierung allerdings nicht mehr. Früher war es nicht ungewöhnlich, dass der Senat die Nominierungen des Präsidenten ohne wirkliche Debatte in kurzer Zeit bestätigte. Heute wollen Nominierungen über Wochen hinweg vorbereitet sein, damit man auf alle schwierigen Fragen vorbereitet ist. Der letzte im Senat gescheiterte Kandidat war Robert Bork, der 1987 mit 58:42 abgewiesen wurde. Bork war ein brillanter erzkonservativer Denker, der in zahllosen Aufsätzen seine Ansicht zur Verfassung niedergelegt hatte – was den Gegnern natürlich erhebliche Munition bot. Nach dem Bork-Debakel haben sich alle Präsi-

4

Etwa John Marshall (Chief Justice 1801–35; ehemaliger Kongress-Abgeordneter und Außenminister), Roger Taney (Chief Justice 1836–64; ehemaliger Verteidigungs-, Justiz- und Finanzminister), Charles Evans Hughes (Justice 1910–16, Chief Justice 1930–40; ehemalige Gouverneur von New York, Außenminister und 1916 Präsidentschaftskandidat) Earl Warren (Chief Justice 1953–69; ehemaliger Gouverneur von Kalifornien und 1948 Vizepräsidentenkandidat), und Hugo Black (Justice 1937–71, ehemaliger Senator aus Alabama). Die Liste ließe sich fast beliebig fortsetzen.

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denten, egal welcher Partei, für sogenannte stealth candidates entschieden, von denen nach Möglichkeit niemand wusste, was ihre Positionen waren. Die Nominierungsanhörungen sind inzwischen zu einem ritualisierten Kabuki-Theater verkommen, in dem die Senatoren versuchen, belastbare Antworten zu bekommen und die Kandidaten nach Möglichkeit vermeiden, solche Antworten zu geben. Die letzte bislang gescheiterte Kandidatin war Harriet Miers, die 2005 von Präsident Bush nominiert wurde, allerdings schon im Vorfeld wegen ihres Mangels an Qualifikation von beiden Parteien abgelehnt wurde und die auf die Nominierung schon vor Beginn der Anhörungen verzichtete. Alles in allem haben Präsidenten im 20. und 21. Jahrhundert jedoch ganz überwiegend Erfolg mit ihren Nominierungen gehabt, während im 19. Jahrhundert noch ca. ein Drittel der Kandidaten im Senat scheiterte. In der gesamten Geschichte der USA ab 1789 hat es ca. 3700 Bundesrichter insgesamt gegeben, davon 114 am Supreme Court. Die knappe Mehrheit der heutigen knapp 900 Bundesrichter ist von Republikanischen Präsidenten ernannt worden; während der Amtszeit von Präsident Barack Obama hatten noch Demokraten knapp die Nase vorn. Jeder Richter am Supreme Court hat Anspruch auf vier law clerks, die als Mitarbeiter für ein Jahr im Gericht arbeiten und die in der Regel zu den fachlich herausragenden Absolventen der wichtigsten Juristischen Fakultäten des letzten Jahres zählen. Finanziell lohnt sich die Arbeit in den Bundesgerichten kaum; ein Richter am Supreme Court verdient gut $ 200.000, ein Richter an den unteren Bundesgerichten knapp darunter. Das ist gemessen an den Summen, die Spitzenanwälte in den USA sonst verdienen können, keine große Summe. Tatsächlich bekommen die ehemaligen law clerks, die nach ihrem Jahr im Supreme Court natürlich bevorzugt von großen Anwaltskanzleien angestellt werden, im Durchschnitt bei Vertragsabschluss einen signing bonus der höher ist als das Jahresgehalt der Richter. Das vergleichsweise niedrige Gehalt ist vor allem ein Problem bei der Besetzung der unteren Gerichte. Die Positionen am Supreme Court sind so prestigereich, dass es lange her ist, dass ein Kandidat aus finanziellen Überlegungen abgelehnt hätte. Im Übrigen haben fast alle Richter am Supreme Court vor ihrer Zeit im Gericht mehr oder minder lange als Anwalt gearbeitet und bringen von daher ein erhebliches Vermögen ins Gericht. Nach den letzten Vermögensübersichten, die die Richter als Personen des öffentlichen Lebens ebenso wie Politiker zugänglich machen müssen, sind außer Anthony Kennedy alle Mitglieder des Gerichts Millionäre (Moneyline 2014). Seit 2014 sind zwei Richter aus dem Gericht ausgeschieden (Scalia und Kennedy), und die Richter, die sie ersetzt haben (Gorsuch und Kavanaugh) sind mehrfache Millionäre.

3.2

Persönlichkeit und Verfassungsphilosophie

Die Berufung in den Supreme Court ist in der Regel die letzte berufliche Position, die jemand in seinem Arbeitsleben ausüben wird. Auch früher sind Richter nur in Einzelfällen zurückgetreten, um andere Aufgaben zu übernehmen.5 Das bedeutet, 5

John Jay, der erste Chief Justice, trat 1795 zurück, um Gouverneur von New York zu werden; Charles Evans Hughes verließ das Gericht 1916, um Präsidentschaftskandidat der Republikaner

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dass man für die gesamte Dauer seiner Amtszeit exakt acht weitere Kollegen hat sowie vier jährlich wechselnde Mitarbeiter. Es wäre wünschenswert, unter diesen Umständen gut miteinander auszukommen. Tatsächlich sind die Richter früher als „Nine Scorpions in a Bottle“ (Lerner 1994) beschrieben worden. So war Justice James Clark McReynolds (ernannt durch Präsident Wilson 1914) ein offener Antisemit, Rassist und Frauenfeind, was das Leben im Gericht nach der Ernennung des ersten jüdischen Richters Louis Brandeis (gleichfalls durch Präsident Wilson 1916) schwierig gestaltete. Auch die Abneigung von Justice William Brennan gegen Chief Justice Warren Burger (seit 1969) war bekannt. Brennan hielt Burger, nicht ganz ohne Berechtigung, für inkompetent und nicht vertrauenswürdig. Aber dies sind die Ausnahmen. Normalerweise kommen die Richter gut miteinander aus, wobei oftmals auch persönliche Freundschaften jenseits ideologischer Gräben bestehen. So waren die sehr liberale6 Richterin Ruth Bader Ginsburg und der ebenso konservative Antonin Scalia durch ihr gemeinsames Interesse an der Oper über viele Jahre hinweg eng verbunden. Der Tod Scalias im Februar 2016 traf Ginsburg allem Anschein nach hart, obwohl die beiden Richter in kontroversen Fragen fast niemals übereinstimmten. Und im Alltag haben die Richter ohnehin weniger miteinander zu tun, als man erwarten würde. Jeder Richter bildet gewissermaßen mit seinen Mitarbeitern eine kleine Anwaltskanzlei. Gemeinsame Sitzungen aller Richter gibt es nur in den Verhandlungswochen; ansonsten verkehrt man untereinander durch schriftliche Memoranden, über die auch Urteilsentwürfe, Änderungswünsche, Zustimmungen und zuletzt abweichende Meinungen kommuniziert werden.

4

Verfahren und Entscheidungen

4.1

Wie kommt ein Fall vor den Supreme Court?

Ein Verfahren vor dem Supreme Court ist kein Recht, sondern ein Privileg. Da das Gericht keine nennenswerten Fälle mit originärer Jurisdiktion hat, ist die Basis eines Urteils fast immer ein vorliegendes Urteil eines unteren Gerichts. Je nachdem, wo das Verfahren seinen Anfang genommen hat, können sich sogar bereits bis zu fünf Instanzen (drei einzelstaatliche Gerichtsebenen sowie District und Appeals Court auf Bundesebene) mit der Materie befasst haben. Die Fakten des Falles sind also längst geklärt; dem Supreme Court geht es nur noch um die verfassungsrechtliche Würdigung – die letztverbindliche wohlgemerkt, denn jeder untere Bundesrichter kann Gesetze für verfassungswidrig erklären und damit die Anwendung des Gesetzes bis anzutreten. Nach 1945 ist nur Arthur Goldberg (Justice 1962–65) zurückgetreten, da Präsident Johnson ihn drängte, den Posten des UNO-Botschafters zu übernehmen - ein Schritt, den Goldberg später sehr bereute. 6 Die Begriffe „liberal“ und „konservativ“ werden im amerikanischen Sinne gebraucht und nicht im europäisch-ideengeschichtlichen Verständnis.

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zur Entscheidung einer höheren Instanz aussetzen. Allerdings gilt eine solche Entscheidung einer unteren Instanz nur für den geografischen Bereich ihres Districts. Das bedeutet auch, dass der Supreme Court in der Regel nur Fälle annimmt, die verfassungspolitische Bedeutung haben. Zum Beispiel können zwei unterschiedliche Appeals Courts die Verfassung verschieden ausgelegt haben. In diesem Fall ist ein Spruch des Supreme Court erforderlich, um die Rechtseinheit wieder herzustellen. Solche Voraussetzungen liegen aber nur in den wenigsten Fällen vor, und die große Majorität der an das Gericht herangetragenen Fälle gelangt nie zur Verhandlung. Zur Annahme eines Falles müssen sich vier Richter bereit erklären, ihn zu hören. Da sich neun Richter unmöglich durch Tausende von Berufungsunterlagen kämpfen können, liegt hier eine der wesentlichen Aufgaben der law clerks, die ihren Richtern Vorschläge machen, welche Fälle anzunehmen sind. In der Regel muss ein Antrag an den Supreme Court in gedruckter Form und mit einer hohen Zahl von Exemplaren eingereicht werden. Als Ausnahme gilt der Antrag in forma pauperis, also von Applikanten, die sich solchen Luxus nicht leisten können. Hierbei handelt es sich in der Regel um Strafgefangene, die gegen ihre Verurteilung vorgehen wollen. Einige der wichtigsten Fälle der 1960er-Jahre sind auf diese Weise eingereicht worden (z. B. Gideon v. Wainwright 372 U.S. 335 (1963)); heute ist dies seltener ein erfolgversprechender Weg zum Gericht.

4.2

Die Entwicklung des „docket“

Ein Meilenstein in der Entwicklung des Supreme Court war die bereits erwähnte Revision des Judiciary Act von 1925. Seither kann das Gericht im wesentlichen selbst entscheiden, wie viele Fälle es im Jahr hören und entscheiden will, womit natürlich zugleich die eigene Arbeitslast festgelegt wird. Angenommene Fälle werden in aller Regel innerhalb der gleichen Saison (die von Anfang Oktober bis Ende Juni reicht) entschieden; nur sehr selten werden Fälle in das nächste Jahr mit hinübergenommen. Seit 1925 ist die Entwicklung des docket, also die für jedes Jahr angenommenen Fälle, sehr ungleich verlaufen. Zunächst kam es zu einem erheblichen Anwachsen der Fallzahl, vor allem in der Zeit des Warren Court (1953–1969)7 wurden jährlich bis zu 300 Fälle bearbeitet. In diesen Jahren wurde nach und nach die Bill of Rights, die traditionell lediglich für die Bundesregierung bindend war, in ihrer Geltung auf

7

Es ist üblich, den Supreme Court in der sich wandelnden personellen Besetzung nach dem Chief Justice zu benennen. 2014 haben wir also den „Roberts Court“; um genau zu sein „Roberts 6“, da sich seit dem Amtsantritt von Roberts 2005 die personelle Zusammensetzung durch den Eintritt der Richter Alito, Sotomayor und Kagan, sowie Gorsuch und Kavanaugh noch fünfmal geändert hat.

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die einzelnen Staaten ausgeweitet (Incorporation). Dies führte, zu erheblichen Aktivitäten des Gerichtes gerade auf dem Sektor der Bürgerrechte. Mit dem Beginn des Rehnquist Court (1986–2005) war der neue Chief Justice William Rehnquist, der zuvor bereits seit 1972 dem Gericht als Associate Justice angehört hatte, bestrebt, die Arbeitslast des Gerichtes zu reduzieren. Rehnquist war erfolgreich, was dazu führte, dass der Supreme Court heute in der Regel nicht mehr als ca. 70 Fälle im Jahr hört und entscheidet. Dies hat vielfach zu Beschwerden über die vermeintliche Faulheit des Gerichtes geführt, die jedoch überzogen sind. Zunächst einmal sind die acht bis neun Urteile, die jeder Richter im Schnitt jährlich schreibt, keine Kleinigkeit. Es handelt sich dabei um viele Hundert Seiten, die als Resultat der Arbeit in die Öffentlichkeit gelangen – die vorhergehenden und oftmals vielfach umgeschriebenen Entwürfe bekommen nur die anderen Richter zu sehen. Zum anderen hat der Supreme Court in den Jahren des Warren Court und des Burger Court (1969–1986) viele Fälle angenommen, die nicht notwendig eine höchstrichterliche Entscheidung benötigten. Der Gang der Entscheidungsfindung ist zeitraubend genug, um auch bei 70 Fällen für volle Beschäftigung des Gerichtes zu sorgen.

4.3

Entscheidungsfindung und Urteilsbegründung

Nachdem der Supreme Court einen Fall zur Entscheidung angenommen hat (certiorari granted in der Gerichtssprache, im Gegensatz zu certiorari denied) wird dies den Parteien mitgeteilt, häufig mit Auflagen verbunden, welche verfassungsrechtlichen Themen sie in ihren Gutachten (briefs) ansprechen sollen. Neben den eigentlichen Parteien werden oftmals auch mehrere, wenn nicht Dutzende weitere Interessengruppen als Freunde des Gerichts (amicus curiae) zugelassen, die ebenfalls zum Teil sehr ausführliche Rechtsgutachten einreichen. Diese amicus briefs können von allen möglichen am Ausgang des Verfahrens interessierten ökonomischen, politischen oder weltanschaulichen Gruppen stammen. Bei allen einigermaßen wichtigen Verfahren kann man auch davon ausgehen, dass die Bundesregierung durch ihren ständigen Prozessvertreter, den Solicitor General ebenfalls ihre Rechtsauffassung zu Gehör bringt, auch wenn sie selbst keine Prozesspartei ist. Der Solicitor General ist nicht dem deutschen Generalbundesanwalt vergleichbar, sondern erfüllt die Funktion des Anwalts der Bundesregierung in allen Verfahren vor dem Supreme Court. Die von seinem Amt verfassten briefs haben hohes Gewicht für die Urteilsfindung, stellen sie doch die offizielle Verfassungsinterpretation der gleichrangigen Exekutive dar. Man hat deshalb den Solicitor General auch gelegentlich als den Tenth Justice bezeichnet, und mehrere Inhaber dieses Amtes sind später selbst in den Supreme Court aufgestiegen, darunter auch Elena Kagan, die 2010 von Präsident Obama für das Gericht nominiert wurde.8 8

Auch Chief Justice Roberts und Justice Samuel Alito haben Spitzenpositionen unterhalb des Solicitor General innegehabt. Insgesamt sind fünf frühere Prozessbevollmächtigte später selbst Richter im Supreme Court geworden, darunter William Taft und Thurgood Marshall.

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Nach der Annahme der Fälle beginnt im Oktober jedes Jahres die Sitzungsperiode des Gerichtes. Von Montag bis Mittwoch werden in den Sitzungswochen Fälle gehört, am Freitag treffen sich die Richter zur Beratung. In der Regel wird jeder Fall nicht nur schriftlich, sondern auch mündlich vor dem Gericht verhandelt (wiederum im Kontrast zum Bundesverfassungsgericht). Im 19. Jahrhundert konnten solche Verhandlungen mehrere Tage dauern, und die Plädoyers zogen sich nicht nur über Stunden hin, sondern waren geradezu gesellschaftliche Ereignisse in Washington. Seither ist die für die Plädoyers erlaubte Zeit immer mehr beschnitten worden. Heute steht für jeden Fall in der Regel nur eine Stunde zur Verfügung, die zwischen beiden Parteien aufgeteilt wird. Allerdings wird ein Anwalt kaum jemals mehr als ein bis zwei Sätze sagen können, bevor er von einem der Richter, die den Fall natürlich bereits aus den Akten perfekt kennen, unterbrochen wird. Die Fragen der Richter an die Anwälte dienen in der Regel dazu, extreme Konsequenzen der hier vertretenen Verfassungsinterpretationen aufzuzeigen sowie auf diesem Umweg in einen Dialog mit den anderen Richtern einzutreten.9 Nach allgemeiner Auffassung lässt sich durch kein noch so brillantes Plädoyer vor dem Gericht ein Fall gewinnen, wohl aber kann man Fälle, die nach der Aktenlage gut aussahen, durch ein ungeschicktes Plädoyer noch verlieren. Am Freitag jeder Sitzungswoche kommen die Richter im Beratungszimmer zu einer ersten Übersicht über die Fälle der Woche zusammen. Das ist, abgesehen von den öffentlichen Auftritten im Gerichtssaal, der einzige Moment im Entscheidungsfindungsprozess, in dem alle Richter in einem Raum zusammen sind – und auch nur die Richter; ohne jegliche Mitarbeiter. Jeder Richter gibt sein vorläufiges Votum ab, und der Chief Justice fasst die Meinungen zusammen. Wenn er sich selbst in der Mehrheit befindet, kann er bestimmen, wer für das Gericht das Urteil schreiben wird – bei knappen Mehrheiten empfiehlt es sich dabei, den unsichersten Kantonisten mit dem Urteil zu betrauen, um so ein späteres Abspringen zu verhindern. Bei besonders wichtigen und prestigereichen Urteilen, die weitreichende Folgen oder sogar historischen Charakter haben, behält sich der Chief Justice oftmals selbst vor, das Urteil zu schreiben – so etwa Warren bei Brown v. Board of Education (1954) oder Roberts im Obamacare-Fall (2013). Wenn der Chief Justice in der Minderheit ist, geht das Recht, das Urteil einem Richter zuzuteilen, auf den dienstältesten Richter der Mehrheit über. Der nächste Schritt ist die Formulierung des Urteilsentwurfs. Wenn das geschehen ist, zirkuliert der Entwurf unter den Richtern und der Autor wartet nunmehr auf join memoranda. Sobald vier weitere Richter schriftlich erklärt haben, dass sie sich dem Urteil anschließen, steht die Mehrheit. In dieser Phase fliegen die Memoranda hin und her, einzelne Richter verlangen mehr oder minder substanzielle Änderungen und der Autor bemüht sich, seine Mehrheit zusammenzuhalten. Neben den erwünschten join memoranda werden jetzt auch concurring opinions verfasst, also

9

Justice Clarence Thomas wird oft dafür kritisiert, dass er niemals während der öffentlichen Verhandlungen Fragen stellt. Diese Kritik ist nicht gerechtfertigt; die Meinungsbildung auf Grund der Aktenlage ist wesentlich wichtiger als die möglichen Antworten der Anwälte in der Verhandlung.

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Meinungen, die mit dem Ergebnis übereinstimmen, aber eine andere verfassungsrechtliche Begründung vorziehen, und dissenting opinions, die das Ergebnis der Mehrheit für falsch halten und dies auch mehr oder minder drastisch ausdrücken. Ein Meister des scharf formulierten Dissenses war Justice Scalia, der gelegentlich seinen Kollegen die Befähigung eines Studenten im ersten Jahr absprach und den Untergang des Abendlandes heraufbeschwor. In dieser Phase kann es auch passieren, dass ein Richter der Mehrheit abspringt und somit Mehrheit und Minderheit sich umdrehen können. Es spricht einiges dafür, dass Justice Roberts sein Urteil in National Federation of Independent Business v. Sibelius (der Obamacare-Fall 567 U.S. 519 (2012)) zunächst so verfasste, dass es die Gesundheitsreform für verfassungswidrig erklärte und erst später umschwenkte. Ein Indikator dafür findet sich darin, dass die anderen vier Richter, die seine knappe Mehrheit ausmachten, die Begründung von Roberts nicht mitgetragen haben, sondern ihre eigene vorlegten. Ein solcher Wechsel eines Richters ist natürlich vor allem dann von Bedeutung, wenn die Mehrheitsverhältnisse knapp liegen. Das gilt jedes Jahr nur für relativ wenige Urteile – aber unter denjenigen mit einer 5:4-Mehrheit sind oftmals die politisch wichtigsten und umstrittensten Urteile, die nach den ideologischen Bruchlinien im Gericht entschieden werden. Gegenwärtig gibt es vier durchgehend konservative und vier durchgehend liberale Richter im Supreme Court, mit dem ganz überwiegend konservativen John Roberts als Zünglein an der Waage. Roberts grundlegend konservative Überzeugungen geben in den eng umkämpften Urteilen in der Regel dem konservativen Flügel die Oberhand, aber eben nicht immer. In den letzten Jahren hat Roberts, anders als am Anfang seiner Amtsperiode 2005, hin und wieder auch den liberalen Richtern zu einer Mehrheit verholfen. Übrigens gibt es neben den 5:4-Urteilen auch viele einstimmige Urteile. In der Regel werden mehr als ein Drittel aller Fälle auf diese Art entschieden; manchmal sogar die Hälfte der Fälle eines Jahres. Problematisch ist es, wenn es zu einem 4:4-Patt kommt. Das kann dann geschehen, wenn ein Richter sich aus persönlicher Betroffenheit für befangen erklärt – so schied Justice Kagan am Anfang ihrer Amtszeit bei einigen Fällen aus, für die sie noch als Solicitor General der USA auf Seiten der Exekutive gearbeitet hatte. Ein 4:4 lässt das letzte Urteil bestehen, besitzt aber nicht die Kraft eines verbindlichen Präzedenzfalles, da die Mehrheit fehlt. In diesem Fall ist also alle Arbeit vergebens gewesen. Nach dem Tod von Scalia blieb die neunte Richterstelle fast ein ganzes Jahr unbesetzt. Der Supreme Court nahm in dieser Zeit fast nur Fälle an, in denen sich klare Mehrheiten abzeichneten. Die Gefahr des 4:4 sollte vermieden werden, was ganz überwiegend auch gelang. Nicht alle Urteile des Supreme Court haben das gleiche verfassungspolitische Gewicht; Gelegentlich fallen auch Urteile auf der Basis gewöhnlicher Gesetze oder Verträge (etwa in den sogenannten Indian cases, die Verträge zwischen den Native Americans und der Regierung der USA interpretieren), die dann keine große Reichweite haben. Bei der Entscheidung wenden die Richter unterschiedliche Testverfahren an. In den meisten Fällen ist das ordinary scrutiny, wo es reicht, dass etwa eine gesetzliche Ungleichbehandlung vernünftig bezogen ist auf ein legitimes Regierungsinteresse – etwa Ungleichbehandlungen bei progressiver Steuererhebung, oder Versagung des Wahlrechts für Bürger unter 18 Jahren. Anders sieht es bei Ungleichbehandlungen etwa auf Grund der Hautfarbe aus. Hier müsste unter dem strict

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scrutiny-Test nachgewiesen werden, dass die gesetzliche Maßnahme closely related ist zu einem compelling governmental interest – was in der Praxis nur selten gelingt (kritisch Winkler 2006). Die wichtigsten Urteile werden in der Regel gegen Ende des Gerichtsjahres verkündet und in seltenen Fällen auch teilweise im Sitzungssaal verlesen. Ganz selten kommt es vor, dass ein Richter mit dem Urteil nicht nur nicht einverstanden ist, sondern den Kurs der Mehrheit für so falsch hält, dass er oder sie den Dissens gleichfalls im Gericht verliest. Die Urteile enthalten natürlich ein gerüttelt Maß an juristischem Fachjargon und zitieren reichlich frühere Entscheidungen des Supreme Court. In der Regel, und vor allem bei politisch wichtigen Fällen, gibt es aber immer auch Abschnitte im Urteil, die weniger technisch sind und die in klaren Worten erklären, worum es bei der Entscheidung geht. In der klassischen Entscheidung Brown v. Board of Education, legte der neue Chief Justice Warren 1954 großen Wert darauf, dass das Urteil in allgemein verständlichen Worten verfasst und zugleich so kurz war, dass es in seiner Gesamtheit auf einer Zeitungsseite abgedruckt werden konnte. Präzedenzfälle haben in der Regel einen starken präjudizierenden Charakter gemäß dem Prinzip stare decisis; der Bestätigung der bestehenden Rechtssicherheit. Aber dies ist keineswegs selbstverständlich, wie das Schicksal von Plessy v. Ferguson (163 U.S. 537 (1896)) zeigt. Immerhin lagen hier 58 Jahre zwischen Präzedenzfall und seiner Aufhebung in Brown. Es ist sehr ungewöhnlich, dass grundlegende Urteile innerhalb weniger Jahre wieder aufgehoben werden. Ein solcher Fall ergab sich 2003, als die Entscheidung im Fall Bowers v. Hardwick (478 U.S. 186 (1986)), der Diskriminierung gegen Schwule für verfassungsgemäß erklärt hatte, in Bausch und Bogen durch Lawrence v. Texas (539 U.S. 558 (2003)) aufgehoben wurde. Der Verfassungstext hatte sich inzwischen nicht geändert, wohl aber die gesellschaftliche Akzeptanz von Homosexualität. Ist also das Gericht nur ein Spiegel der politischen Verhältnisse?

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Living constitution oder original intent?

5.1

Richterlicher Aktivismus und richterliche Zurückhaltung (judicial restraint)

Im Laufe der gut 200 Jahre des Supreme Courts haben sich Verfassungsinterpretationen und die hinter ihnen stehenden Ideologien und Verfassungsphilosophien immer wieder geändert. Die beiden wichtigsten gegenwärtigen Schulen werden durch die Begriffe living constitution (Breyer 2008, 2010, S. 78) bzw. original intent/textualism 10 (Scalia 1997, 2012) umrissen. Erstere postuliert, dass sich die Es gibt gewisse Unterschiede zwischen „originalism“ und „textualism“, die aber weniger bedeutend sind, als von ihren Anhängern behauptet und die hier vernachlässigt werden können. Grob gesagt geht „originalism“ auf die Intentionen der Gesetzgeber zurück, während „textualism“ die originäre Meinung des Gesetzestextes für primär hält. Beide sehen sich jedoch bei heutigen Interpretationen durch das gebunden, was bei der Verabschiedung der Verfassung oder der Amendments damit gemeint war.

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Verfassung und ihre Interpretation mit dem Wandel der Zeiten gleichfalls wandeln müsse. Wenn also das 1868 verabschiedete 14. Amendment equal protection under the law verlangt, dann müsse das heute etwa die Gleichbehandlung der Geschlechter einschließen, von der im 19. Jahrhundert natürlich keine Rede sein konnte. Für diese Verfassungsinterpretation steht im heutigen Gericht etwa Justice Stephen Breyer. Umgekehrt verlangt die Schule des original intent, dass eine Verfassungsbestimmung unwandelbar nur das bedeuten könne, was sie zur Zeit ihrer Verabschiedung bedeutete. So sei es absurd, unter equal protection etwa gleichgeschlechtliche Ehen zu verlangen, wenn Schwule 1868 mit Gefängnis bedroht waren. Hauptadvokat dieser Richtung war Justice Antonin Scalia, der aber zugleich auch eine Lösung offenbarte: in diesen Fällen müsse der demokratische Prozess Gesetze oder Verfassung ändern, nicht aber der Supreme Court. Das Problem der ersten Schule liegt darin, dass sie dazu verführen kann, den Text der Verfassung in gewagten Konstruktionen solange zu verzerren, bis er dem gewünschten Ergebnis entspricht. Das Problem der zweiten Schule, der alle fünf konservativen Richte des Supreme Court angehören, liegt darin, dass sich die originale Bedeutung einer Bestimmung oftmals nicht mehr rekonstruieren lässt und dass zudem die Verfassung so zu einem eisernen Korsett für die Gesellschaft wird (Rakove 1996). Die Frage, welche Haltung des Gerichts richterlichen Aktivismus darstellt, liegt fast ausschließlich in der politischen Überzeugung des Beobachters begründet. In den 1960er-Jahren beklagten Konservative den Aktivismus des liberalen Warren Court und verlangten richterliche Zurückhaltung gegenüber den Entscheidungen der politischen Gewalten, und heute beklagen Liberale den Aktivismus des konservativen Roberts Court und verlangen richterliche Zurückhaltung. Außer natürlich im Falle umgekehrter Mehrheiten. Wenn der Roberts Court hier und da in wichtigen Fällen liberale Entscheidungen fällt (Obamacare, Lawrence), dreht sich das Blatt sofort um 180 Grad, und nunmehr verlangen die Konservativen mehr Zurückhaltung. Es gibt im gegenwärtigen Gericht vermutlich keinen Richter – noch hat es jemals einen Richter gegeben – der in Fragen von Aktivismus oder Zurückhaltung eine vollkommen konsistente Haltung vertreten hätte. Ähnliches gilt für die political question doctrine, mit der das Gericht Entscheidungen in politisch heiklen Fällen ablehnen kann und diese den politischen Gewalten überlässt. In der Regel ist dies etwa in Fragen der Außenpolitik der Fall. So hat es zahllose Klagen gegen die Verfassungsgemäßheit des Irak-Krieges gegeben, für die sich das Gericht nicht zuständig erklärte. Aber diese Zurückhaltung reicht eben nur so weit, wie das Gericht es will. Sobald vier Richter einen Fall hören wollen, hält sie auch keine political question davon ab. In politikwissenschaftlichen Analysen wurde gezeigt, dass die Verfassungsinterpretation des Supreme Court in ungefähr der öffentlichen Meinung und den Wahlergebnissen folgt (etwa Casillas et al. 2011) – was natürlich auch daran liegt, dass jeder neue Präsident Richter ernennt, die ihm ideologisch nahestehen. Aber es steckt noch mehr dahinter. Der Supreme Court bemüht sich, weder zu weit vor der öffentlichen Meinung vorauszuschreiten, noch zu weit hinterherzuhinken. Das hängt mit der demokratisch prekären Legitimation des Gerichts zusammen. Ein ungewähltes

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Gericht mit lebenslanger Amtszeit passte problemlos in die politische Landschaft von 1787, als weder Präsident noch Senat direkt durch das Volk gewählt wurden. Die Demokratisierungswellen seither haben das Gericht immer wieder anfällig gegenüber Kritik gemacht, und auf einzelstaatlicher Ebene gibt es seit dem Progressive Movement um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zahllose Staaten, in denen auch Richter gewählt werden – was allerdings, wie man inzwischen sehen kann, seine eigenen Probleme mit sich bringt. Jedenfalls ist auch das Gericht Gegenstand von zum Teil heftiger öffentlicher Kritik, bleibt aber trotzdem im Vergleich zum Präsidenten oder gar dem Kongress immer noch die öffentliche Institution mit dem höchsten Ansehen.

5.2

Die wachsende Bedeutung des Internationalen Rechts

Prinzipiell steht der Supreme Court ganz und gar innerhalb der angelsächsischen Rechtstradition. Neben der Verfassung und dem statuarischen Recht spielen Präzedenzfälle eine große Rolle und dem Gericht gehen Sätze wie „as we held in Marbury v. Madison“ ganz selbstverständlich von der Zunge, als sei dieser Fall gerade gestern entschieden und nicht vor über 200 Jahren. Neben der Kontinuität steht aber auch eine steigende Bereitschaft, sich dem Internationalen Recht zu öffnen, was wiederum den erbitterten Widerstand konservativer Kreise nach sich zieht, die hier einen Ausverkauf amerikanischer Werte sehen. Es ist bemerkenswert, dass am gegenwärtigen Gericht immerhin drei der neun Richter neben ihren amerikanischen Universitätsabschlüssen auch ausländische Studienabschlüsse haben – also nicht nur ein Studienjahr im Ausland verbracht, sondern tatsächlich einen akademischen Titel erworben haben.11 Es war vor allem Justice Kennedy, der ein aufmerksames Auge für internationale Entwicklungen hatte und der in einer Reihe von Fällen diese Rechtsentwicklungen herangezogen hatte, um das Argument zu unterstützen, dass sich weltweite Rechtsvorstellungen in eine bestimmte Richtung entwickelten. Prinzipiell ist dies nichts Neues; seit den 1790ern sind immer wieder internationale Fälle zitiert worden. Trotzdem war es bemerkenswert, dass Kennedy diese Fälle systematisch in seine Überlegungen mit einbezog (McCaffrey 2013). Ob dies einen neuen Trend markiert oder eine auf eine Person begrenzte Abweichung kann allerdings erst die Zukunft erweisen, zumal seit dem Ausscheiden von Kennedy aus dem Gericht (2018) bislang kein anderer Richter diese Argumentationslinie aufgegriffen hat.

11

Es handelt sich dabei um die Justices Stephen Breyer (BA, Oxford), Elena Kagan (MPhil Oxford) und Neil Gorsuch (DPhil Oxford).

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6

Trends und Entwicklungen im gegenwärtigen Supreme Court

6.1

Der Rehnquist Court und der Roberts Court

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Seit 2005 ist John Roberts (nominiert von George W. Bush) Chief Justice, vor ihm waren es William Rehnquist (1986–2005, nominiert von Ronald Reagan) und Warren Burger (1969–1986, nominiert von Richard Nixon). Der letzte Demokratische Präsident, der einen Chief Justice nominieren konnte, war Harry Truman, und von den gegenwärtigen neun Richtern verdanken fünf ihre Position Republikanischen Präsidenten. Zudem ist inzwischen die Durchleuchtung der Kandidaten wesentlich gründlicher geworden. Ernennungsdesaster wie die Erfahrung, die Eisenhower mit dem entschieden liberalen Earl Warren (Chief Justice 1953–1969) machen musste, hat es lange nicht mehr gegeben. Unter sämtlichen seit der Präsidentschaft von Ronald Reagan ernannten Richtern hat vermutlich nur David Souter (1990–2009, nominiert von George H.W. Bush) seinen Mentor überrascht, da er zum liberalen Flügel des Gerichts gezählt wurde. Das ist ein bemerkenswertes Zeugnis für die wachsende Fähigkeit des Weißen Hauses, Kandidaten so gut einzuschätzen, dass sie tatsächlich der politischen Linie des Präsidenten aus eigenem Antrieb folgen. Man kann Richter am Supreme Court auf einer Links-Rechts-Skala messen, auch wenn diese quantitative Auswertung der Stimmenverhältnisse nicht unumstritten ist (Martin et al. 2004), schließlich geht es hier um Verfassungsauslegungen und nicht um freie Abstimmungen wie im Kongress. Außerdem verschieben sich die Koordinaten. Eine Verfassungsinterpretation, die vor Jahrzehnten liberal gewesen sein mag, wäre heute konservativ, besonders wenn man die Entwicklung der Bürgerrechte betrachtet. Gleichwohl: wenn man die Stimmen der Richter skaliert, ergibt sich eine Liste, die den Vermutungen entspricht (einen sehr guten Überblick bietet Wikipedia 2020). Die als konservativ geltenden Richter sprechen sich tatsächlich in weit höherem Maße als ihre liberalen Kollegen z. B. für die Einzelstaaten gegen den Bund aus, für Handlungen der Polizei und gegen die Rechte von Angeklagten in Strafprozessen, für eine restriktive Auslegung der Grundrechte und so weiter. Solche Tabellen geben aber noch weitere Aufschlüsse: seit Jahrzehnten ist jeder neuberufene Richter am Supreme Court konservativer in seiner Stimmabgabe als der direkte Vorgänger. Das gilt auch für die von Obama ernannten Richterinnen Sotomayor (im Vergleich zu David Souter) und Kagan (im Vergleich zu John Paul Stevens). Was bedeutet dies für die politische Richtung des Supreme Court?

6.2

Auf dem Weg zu einer einheitlich konservativen Verfassungsinterpretation?

In der Tat gibt es viele Bereich der Verfassungsauslegung, in denen der Supreme Court in der Ära der beiden letzten Chief Justices von der liberalen Linie seiner Vorgänger abgewichen ist und deren Präzedenzfälle durch konservative Auslegun-

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gen ersetzt hat. Besonders deutlich war dies im Bereich des Strafrechts (mit deutlich restriktiveren Interpretationen der Rechte der Angeklagten) und des Föderalismus. Beginnend mit United States v. Lopez (514 U.S. 549 (1995)) hat der Rehnquist Court erhebliche Bestandteile der Kompetenzübertragungen von den Einzelstaaten auf den Bund, wie sie seit dem New Deal kennzeichnend waren, wieder zurückgenommen und für verfassungswidrig erklärt – und dies, obwohl es sich zum Teil um bis zu 60 Jahre alte, wohletablierte Präzedenzfälle handelte. Die hauptsächlichen Motoren dieser Entwicklung waren William Rehnquist und Sandra Day O'Connor, die beide inzwischen aus dem Gericht ausgeschieden sind. Seither ist es auch um die Neuordnung der föderativen Ordnung etwas stiller geworden. Prinzipiell aber hat der Roberts Court die konservative Linie seines Vorgängers fortgesetzt und liberale Präzedenzfälle sehr kritisch unter die Lupe genommen. Das gilt etwa für Affirmative Action-Programme, die die Folgen der Segregation überwinden sollten und die immer mehr eingeschränkt wurden. Das Recht, Waffen zu tragen wurde entgegen langgeltenden Präzedenzfällen als fundamentales Individualrecht neu interpretiert (District of Columbia v. Heller 554 U.S. 570 (2008), McDonald v. Chicago 561 U.S. 742 (2010)) und auch Restriktionen der Wahlkampffinanzierung wurden weitgehend über Bord geworfen, zuletzt mit dem monumentalen Urteil in Citizens United, das das mühsam errungene McCain-Feingold Parteifinanzierungsgesetz fast völlig aufhob. Und auch wenn der Supreme Court 2013 etwas überraschend Obamacare nicht für verfassungswidrig erklärte, hat er inzwischen allerlei Lücken und Ausnahmen in die wichtigste gesetzgeberische Leistung der Obama-Präsidentschaft geschlagen (Burwell v. Hobby Lobby 573 U.S. (2014)). Dem gegenüber stehen jedoch auch Ausweitungen der Bürgerrechte, insbesondere zur Meinungsfreiheit sowie bahnbrechende Urteile zugunsten sexueller Minderheiten, die wesentlich auf den libertären Ideen von Justice Kennedy beruhten (Lawrence v. Texas 539 U.S. 558 (2003)), United States v. Windsor 570 U.S. 744 (2013), Obergefell v. Hodges, 576 U.S. __ (2015). Der Supreme Court scheint sich in diesen Fällen in die Richtung zu bewegen, Diskriminierung auf Grund sexueller Orientierung unter den strict scrutiny-Test zu stellen. Jedenfalls ist dies eine der interessantesten gegenwärtigen Entwicklungen, und hier ist die Verfassungsinterpretation noch sehr im Flusse. Dies sind jedoch Ausnahmen, die die generelle konservative Linie des Supreme Court nicht ändern. Daran wird sich auch nichts ändern, solange die personelle Zusammensetzung des Gerichtes sich nicht wesentlich ändert. Radikale Abweichungen der Richter von ihrer jeweiligen bisherigen Verfassungsphilosophie sind extrem unwahrscheinlich. Es kommt aber auch noch hinzu, dass die Richter, die sich ja einer lebenslangen Amtszeit erfreuen, den Moment ihres Rücktritts in der Regel genau bestimmen können. Man muss bis 1991 zurückgehen, um einen Fall zu finden, in dem ein amtierender Richter zurücktrat, als ein ihm ideologisch entgegengesetzter Präsident im Amte war. Das war der von Lyndon B. Johnson 1967 ernannte Thurgood Marshall, der wegen erheblicher gesundheitlicher Probleme nicht länger im Gericht bleiben konnte und somit George H.W. Bush die Gelegenheit gab, mit Clarence Thomas einen außerordentlich konservativen Richter an Stelle des liberalen Marshall zu setzen – ein

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Wechsel im Personal, der den Kurs des Gerichtes wesentlich bestimmte. Seither sind sämtliche Richter strategisch zu einem Zeitpunkt zurückgetreten, an dem sie einem Präsidenten ihrer eigenen Couleur die Gelegenheit gaben, einen Nachfolger zu bestimmen. Abgesehen von plötzlichen Todesfällen oder ernsthaften gesundheitlichen Problemen einzelner Richter wird dies mit Sicherheit auch in der Zukunft der Fall sein. Und selbst wenn ein solcher Todesfall eintritt, wie im Februar 2016 bei Antonin Scalia, führt dies nicht notwendig zu einem ideologischen Wechsel im Gericht. Obwohl Präsident Obama noch fast ein volles Jahr im Amt war, weigerte sich der Republikanische Mehrheitsführer im Senat, Sen. Mitch McConnell (R-KY) schlichtweg, dem von Obama nominierten Merrick Garland auch nur eine Anhörung zu gewähren. Mit Erfolg, denn nach dem Wahlsieg Trumps konnte dieser einen konservativen Nachfolger nominieren, der die Linie Scalias im Gericht fortsetzte.

7

Anhang: Einige wichtige Fälle

Die bisherigen Ausführungen haben sich primär mit den Strukturen des Gerichts und seiner Funktionsweise beschäftigt. Man kann aber ein Kapitel über ein oberstes Gericht nicht abschließen, ohne nicht auch einige zentrale Fälle zu erwähnen. Bei einem Gericht, das seit 1789 amtiert und eine im Prinzip gleichgebliebene Verfassung auslegt, liegen inzwischen unzählige Urteile vor, darunter auch eine enorme Zahl von Urteilen mit bleibender Bedeutung für Verfassung und Politik. Der Versuch, hier auch nur annähernd Vollständigkeit zu erreichen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. So wird der folgende Überblick nur einige wenige Fälle kursorisch herausgreifen. Die Information in eckigen Klammern enthält das Stimmverhältnis und den Autor des Urteils. 1. Die „Klassiker“ – Präzedenzfälle aus der Ära von Chief Justice John Marshall 1. Marbury v. Madison, 5 U.S. 137 (1803) [4:0, Marshall]; „judicial review“ liegt beim Supreme Court, der allein die Verfassung verbindlich interpretieren und der damit auch Gesetze für verfassungswidrig erklären kann. 2. McCulloch v. Maryland, 17 U.S. 316 (1819) [7:0, Marshall]; Doktrin der „implied powers“; der Bund hat neben den explizit festgelegten Kompetenzen auch die implizite Macht, alle Mittel anzuwenden, um legitime Ziele der Verfassung zu erreichen. 3. Trustees of Dartmouth College v. Woodward, 17 U.S. 518 (1819) [5:1, Marshall]; einmal geschlossene Verträge dürfen nicht durch einen einseitigen Akt der einzelstaatlichen Legislativen verändert werden. Hierdurch wurde die Rechtssicherheit wirtschaftlicher Verträge für die gesamte Union gesichert. 4. Cohens v. Virginia, 19 U.S. 264 (1821)

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[7:0, Marshall]; der Supreme Court beansprucht das Recht für sich, Entscheidungen eines einzelstaatlichen Supreme Court aufzuheben, falls sie der Verfassung widersprechen. 5. Gibbons v. Ogden, 22 U.S. 1 (1824) [6:0, Marshall]; die „commerce clause“ der Verfassung verbietet einzelstaatliche Handelshemmnisse; das Urteil lässt einen liberalen Markt entstehen. Die „Klassiker“ des Marshall Court (1801–35) teilen wegen ihrer zeitlichen Nähe zur Verfassunggebung ein Merkmal miteinander: sie sind allesamt zu Präzedenzfällen mit einer Bedeutung über die Jahrhunderte hinweg geworden. Ihr gemeinsamer Tenor ist die Stärkung der damals politisch noch recht schwachen Bundesregierung gegenüber den Einzelstaaten, die versuchten, ihren Machtbereich gegenüber dem Bund weiter auszudehnen. Mit Marbury und Cohens beanspruchte der Supreme Court das Recht für sich, alleiniger Interpret der Verfassung zu sein. Auf Bundesebene wurde dieses Recht erst 1857 wieder angewendet (im Dread Scott-Fall), während es gegenüber den Einzelstaaten auch von Marshall noch vielfach genutzt wurde. Diese Urteile ließen überhaupt erst die USA als Rechts- und Wirtschaftseinheit praktisch entstehen und haben somit maßgeblichen Anteil am amerikanischen „nation building“. 2. First Amendment – Meinungs- und Pressefreiheit 1. Schenck v. United States, 249 U.S. 47 (1919) [9:0, Holmes]; Meinungsfreiheit wird als Grundrecht anerkannt unter dem Vorbehalt des „clear and present danger“-Tests. 2. West Virginia State Board of Education v. Barnette, 319 U.S. 624 (1943) [6:3, Jackson]; kein Schüler kann gezwungen werden, der amerikanischen Flagge zu salutieren oder die „Pledge of Allegiance“ zu sprechen. 3. New York Times v. Sullivan, 376 U.S. 254 (1964) [9:0, Brennan]; Pressefreiheit siegt über Persönlichkeitsschutz, außer bei „actual malice“ oder „reckless disregard“. 4. New York Times v. United States, 403 U.S. 713 (1971) [6:3, Douglas, Stewart, White, Black, Marshall, Brennan]; Pressefreiheit verbietet Vorzensur selbst bei gestohlenen Geheimdokumenten. 5. Texas v. Johnson, 491 U.S. 524 (1989) [5:4, Brennan]; „symbolic speech“, das Verbrennen der US-Flagge ist als politischer Protest erlaubt. Die Meinungsfreiheit des Ersten Verfassungszusatzes ist zentral für die politische Kultur der USA. Es mag daher erstaunen, dass es bis 1919 dauerte, bis ein erster zentraler Fall dem Grundrecht zur Geltung verhalf. Das lag daran, dass Einschränkungen der Meinungsfreiheit in der Regel auf Einzelstaatsebene erfolgten, während die „Bill of Rights“ nur für die Bundesebene galt. Seither sind diese Freiheiten immer mehr ausgeweitet worden, bis sie heute fast unumschränkt gelten.

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3. First Amendment – Religionsfreiheit („free exercise“ und „establishment clause‫)“ׅ‬ 1. Engel v. Vitale, 370 U.S. 421 (1962) [7:1, Black]; „wall of separation“ zwischen Staat und Kirche macht nichtkonfessionelles Schulgebet im Staat New York verfassungswidrig. 2. Abington School District v. Schempp, 374 U.S. 203 (1963) [8:1, Clark]; ein Gesetz in Pennsylvania, nachdem zu Beginn jedes Schultages kommentarlos eine Reihe von Bibelversen gelesen werden sollte, ist verfassungswidrig. 3. Lemon v. Kurtzman, 403 U.S. 602 (1971) [8:0, Burger]; der Fall etablierte den „Lemon Test“, der seither etwa die Förderung von religiösen Schulen mit Steuergeldern erlaubt, wenn es kein „excessive government entanglement“ mit der Religion gibt, wenn dadurch Religion weder gefördert noch behindert werden und wenn das Gesetz einen weltlichen Zweck habe. 4. Edwards v. Aguillard, 482 U.S. 578 (1987) [7:2, Brennan]; ein Gesetz aus Louisiana, das in öffentlichen Schulen neben der Evolutionslehre auch Unterricht in „scientific creationism“ vorsah, ist verfassungswidrig. 5. Burwell v. Hobby Lobby, 573 U.S. __ (2014) [5:4, Alito]; profitorientierte Geschäfte können unter bestimmten Voraussetzungen religiöse Ausnahmen von gesetzlichen Vorschriften reklamieren (in diesem Fall Obamacare). Fälle zur Religionsfreiheit erreichten den Supreme Court noch später als die zur Meinungsfreiheit. Seither hat er eine starke Trennung von Staat und Religion durchgesetzt, die allerdings nicht notwendig staatliche Finanzhilfen für religiöse Institutionen ausschließt (der Lemon Test). Konservative Richter haben seit langem versucht, der Religion eine stärkere Position im öffentlichen Leben zu sichern. 4. Bürgerrechte – ethnische Minderheiten 1. Scott v. Sandford, 60 U.S. 393 (1857) [7:2, Taney]; der berüchtigte „Dred Scott“-Fall; Schwarze können nie, auch nicht als freie Menschen, Bürger der USA sein; die Sklaverei ist überall in der Union legal. Das Urteil hob den „Missouri Compromise“ von 1820 auf und sorgte im Norden für einen Sturm des Unmuts, der den Weg zum Bürgerkrieg beschleunigte. 2. Plessy v. Ferguson, 163 U.S. 537 (1896) [7:1, Brown]; die Rassentrennung in Eisenbahnen (und überall sonst) ist mit der Verfassung vereinbar, vorausgesetzt, dass die getrennten Einrichtungen „separate but equal“ sind. 3. Brown v. Board of Education, 347 U.S. 483 (1954) [9:0, Warren]; Verbot der Segregation in Schulen und faktische Aufhebung von Plessy.

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4. Grutter v. Bollinger, 539 U.S. 306 (2003) [5:4, O'Connor]; bestätigt im Prinzip „affirmative action“; Rasse darf als ein Faktor bei Universitätszulassungen berücksichtigt werden. 5. Parents Involved in Community Schools v. Seattle School District No. 1, 551 U.S. 701 (2007) [5:4; Roberts]; Rasse der Schüler darf nicht berücksichtigt werden bei Verteilung auf Schulen. Die Sklaverei ist eines der Urübel der amerikanischen Geschichte. In vielen Fällen hat der Supreme Court mit den Auswirkungen zu kämpfen gehabt. In Brown wurde erstmals die Rassentrennung als verfassungswidrig verurteilt. In den letzten Jahren geht es in den Fällen primär um „reverse discrimination“, also bevorzugte Behandlung auf Grund ethnischer Zugehörigkeit, die vom Supreme Court immer enger eingegrenzt wird. 5. Bürgerrechte – „privacy“ 1. Griswold v. Connecticut, 381 U.S. 479 (1965) [7:2, Douglas]; in diesem berühmt gewordenen Fall fand Justice Douglas, dass es in der Verfassung ein „right to privacy“ gebe, auch wenn diese Worte nirgendwo explizit zu finden sind. 2. Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (1973) [7:2, Blackmun]; basierend auf dem „right to privacy“ wird die Straffreiheit der Abtreibung eingeführt; das ungeborene Leben ist keine Person und hat deshalb auch keine Rechte. 3. Bowers v. Hardwick, 478 U.S. 186 (1986) [5:4, White]; das in Georgia bestehende Verbot der Homosexualität wird unter Berufung auf christliche Moral aufrechterhalten. 4. Planned Parenthood v. Casey, 505 U.S. 833 (1992) [5:4, O'Connor, Kennedy, Souter]; entgegen allen Erwartungen bestätigt der Supreme Court, inzwischen mit acht Republikanern und nur einem Demokraten besetzt, den Präzedenzfall Roe und damit die fortdauernde Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs. Der Fall ist auch deshalb ungewöhnlich, weil das Urteil von drei Richtern gemeinsam geschrieben wurde. 5. Lawrence v. Texas, 539 U.S. 558 (2003) [6:3, Kennedy]; Straffreiheit der Homosexualität mit Berufung auf das „right to privacy“. Hardwick wird in Bausch und Bogen explizit aufgehoben. 6. United States v. Windsor, 570 U.S. 744__ (2013) [5:4; Kennedy]; weite Teile des „Defense of Marriage Act“ von 1996 werden für verfassungswidrig erklärt und damit der Boden für die rasante Verbreitung gleichgeschlechtlicher Ehen in immer mehr Einzelstaaten gelegt. 7. Obergefell v. Hodges, 576 U.S. ___ (2015) [5:4; Kennedy]; der in Lawrence 2003 begonnene Entwicklungsprozess wird abgeschlossen und der Supreme Court erklärt ein verfassungsrechtliches Grundrecht auf gleichgeschlechtliche Eheschließung, das in den ganzen USA gilt.

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Die um das Konzept der „privacy“ gruppierten Fälle zählen zu den problematischsten des gegenwärtigen Supreme Court, und zugleich zu Verfassungsbereichen, in denen sich die Interpretation am schnellsten fortentwickelt. Von den unterlegenen Richtern wird hier prinzipiell behauptet, dass es kein Verfassungsrecht auf Privatsphäre gibt. Die Mehrheit nutzt diese Verfassungskonstruktion vor allem in Fällen, die für viele Amerikaner moralisch fragwürdig erscheinen. Um die Geltung von Roe wird heute ebenso gestritten wie 1973. 6. Strafrecht und Rechte von Angeklagten 1. Mapp v. Ohio, 367 U.S. 643 (1961) [6:3, Clark]; unrechtmäßig gefundene Beweismittel dürfen in Strafverfahren von den Anklagebehörden nicht genutzt werden. Der Fall ist wichtig, weil hier erstmals eine Bestimmung aus dem Vierten Amendment der Bundesverfassung, das Verbot von „unreasonable searches and seizures“, auf dem Weg über das Vierzehnte Amendment auch auf einzelne Staaten angewandt wurde. 2. Gideon v. Wainwright, 372 U.S. 335 (1963) [9:0, Black]; jeder Angeklagte hat in einem Strafverfahren das Recht auf einen öffentlich bestellten Verteidiger. Mit diesem Fall wurde ein weiterer Teil der „Bill of Rights“ für die Einzelstaaten verbindlich erklärt. 3. Miranda v. Arizona, 384 U.S. 436 (1966) [5:4, Warren]; jeder Verdächtige muss vor seiner Vernehmung darüber belehrt werden, dass er die Aussage verweigern kann und das Recht auf einen Anwalt hat. 4. Gregg v. Georgia, 428 U.S. 153 (1976) [7:2, Stewart]; die Todesstrafe ist prinzipiell mit der Verfassung vereinbar. 5. Boumediene v. Bush, 553 U.S. 723 (2008) [5:4, Kennedy]; „Habeas Corpus“-Garantien gelten auch für Gefangene in Guantanamo, die das Recht haben, sich an ordentliche Gerichte der USA zu wenden. 6. United States v. Jones, 565 U.S. 400 (2012) [9:0, Scalia]; das heimliche Anbringen eines GPS-Senders am Auto eines Verdächtigen ist ohne richterlichen Befehl eine Verletzung von Mapp. Wie auch in anderen Grundrechtsbereichen beginnt die Involvierung des Supreme Court in die Strafgesetzgebung der Einzelstaaten in den 1960er-Jahren. Nach und nach wurde die „Bill of Rights“ der Bundesverfassung auf dem Weg über die Garantien des Vierzehnten Amendments auch für die Einzelstaaten „inkorporiert“. Seither gibt es bundeseinheitliche Grundrechtsgarantien, die zudem an aktuelle technische Entwicklungen angepasst werden können, wie Jones zeigt. 7. Staatsorganisation – „checks and balances“ auf Bundesebene 1. United States v. Curtiss-Wright Export Corp, 299 U.S. 304 (1936) [7:1, Sutherland]; der Fall gibt dem Präsidenten weitgehende Freiheiten, die Außenpolitik der USA nach seinem Ermessen und ohne richterliche Nachprüfung zu gestalten.

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2. Youngstown Sheet & Tube Co. v. Sawyer, 343 U.S. 579 (1952) [6:3, Black]; der sogenannte „Steel Seizure Case“ stärkte die Rechte des Kongresses gegenüber dem Präsidenten, der nicht einfach auf Grund von Verordnungen in privates Eigentum eingreifen kann (sehr wohl aber auf gesetzlicher Grundlage). 3. Clinton v. City of New York, 524 U.S. 417 (1998) [6:3, Stevens]; das „line item veto“, nach dem der Präsident einzelne Teile eines Gesetzes mit seinem Veto verhindern kann ohne den Rest des Gesetzes zu berühren, verletzt die Gewaltenteilung. Das entsprechende Gesetz von 1996 ist daher verfassungswidrig. 4. National Federation of Independent Business v. Sibelius, 567 U.S. 519 (2012) [5:4, Roberts]; „Obamacare“ ist nicht verfassungsgemäß auf Basis der „commerce clause“ der Verfassung (Art. I, Sec. 8, Cl. 3), wohl aber als Steuer (Art. I, Sec. 8, Cl. 1). Immer wieder ist die Gewaltenteilung Gegenstand von Urteilen gewesen, beginnend mit Marbury (1803), als der Supreme Court seine eigene Rolle im Verfassungssystem in gewisser Weise selbst schuf. Manchmal agiert das Gericht als Schiedsrichter zwischen den streitenden Gewalten, manchmal bewahrt es aber auch Rechte (wie in City of New York), die eine Gewalt freiwillig aufzugeben bereit war. 8. Staatsorganisation – Wahlrecht und Föderalismus 1. Colegrove v. Green, 328 U.S. 549 (1946) [4:3, Frankfurter]; der Supreme Court greift nicht in die Wahlkreiseinteilung von Illinois ein, da dies eine rein politische Frage sei, die gemäß der „political question doctrine“ nicht justiziabel sei. 2. Baker v. Carr, 369 U.S. 186 (1962) [6:2, Brennan]; Colegrove wird weitgehend aufgehoben; die Verfassung verlangt gleichgroße Wahlbezirke auf Staatsebene in Tennessee. Hier verändert der Supreme Court die „political question doctrine“ in einer Entscheidung, die die Legislativen fast aller Einzelstaaten grundlegend veränderte. 3. United States v. Lopez, 514 U.S. 549 (1995) [5:4, Rehnquist]; diese Entscheidung leitete eine Reihe von Urteilen des Rehnquist Court ein, die die Rechte der Einzelstaaten nach dem Zehnten und Elften Amendment stärkte und die Fähigkeit des Bundes, Kompetenzen nach der „commerce clause“ an sich zu ziehen, erheblich reduzierte. 4. Citizens United v. Federal Election Commission, 558 U.S. 50 (2010) [5:4, Kennedy]; der Fall hebt wesentliche Grenzen der Wahlkampffinanzierung auf und erlaubt Einzelpersonen und Firmen (die als „Personen“ gelten) fast unbegrenzte Ausgaben. Das Gericht betrachtet Geldausgaben als „speech“ im Sinne des Ersten Amendments. 5. Shelby County v. Holder, 570 U.S. 529 (2013) [5:4; Roberts]; ein wesentlicher Bestandteil des „Voting Rights Acts“ von 1965, nach dem Einzelstaaten mit einer Geschichte von Rassendiskriminierung bei Wahlen Änderungen des Wahlrechts vom Bundesjustizministerium genehmigen lassen müssen, wird für verfassungswidrig erklärt.

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6. Rucho v. Common Cause, 588 U.S. __ (2019) [5:4, Roberts]; „gerrymandering“, also die politisch motivierte Einteilung von Wahlkreisen zu Gunsten einer Partei, ist eine politische Frage („political question doctrine“) und fällt als solche nicht in die Zuständigkeit des Supreme Court. Die Eingriffe des Supreme Court in die Ausgestaltung des Wahlrechts zählen zu den politisch folgenreichsten Fällen, da hier die Grundstruktur der Gewaltenteilung in Frage steht. Seit Lopez sind die Rechte der Einzelstaaten außerhalb von Wahlrechtsfragen erstmals seit dem New Deal der 1930er-Jahre wieder systematisch gegenüber der Bundesebene gestärkt worden. 9. Politische Fälle – große politische Bedeutung, wenig Bedeutung für die Verfassung. . . 1. United States v. Nixon, 418 U.S. 683 (1974) [8:0, Burger]; Präsident Nixon muss die „Watergate Tapes“ der Staatsanwaltschaft aushändigen; 15 Tage nach dem Urteil trat der Präsident zurück. 2. Bush v. Gore, 531 U.S. 98 (2000) [5:4, per curiam]; eine weitere Auszählung der Stimmen in Florida verletzt die „equal protection clause“ des Vierzehnten Amendments und muss deshalb gestoppt werden. Mit dieser von fünf Republikanischen Richtern gefällten Entscheidung ging der Staat Florida und damit die Präsidentschaft an George W. Bush. Rein politische Entscheidungen sind selten in der Geschichte des Supreme Court, da sie zu spezielle Begleitumstände verlangen, die in dieser Form kaum jemals wieder vorkommen werden. Trotzdem haben sie in der jeweiligen politischen Situation natürlich erhebliche einmalige Wirkung. In Bush v. Gore stipulierte die Mehrheit des Gerichts sogar explizit, dass dieses Urteil niemals als Präzedenzfall gelten solle, sondern lediglich für den Einzelfall, der hier entschieden wurde – ein klares Zeichen, dass das Urteil verfassungsrechtlich bedenklich war.

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Bundesverwaltung Dienerin zweier Herren Kai-Uwe Schnapp

Inhalt 1 2 3 4

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Kontext bürokratischen Handelns im politischen System der USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Federal Bureaucracy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Policyentwicklung und -implementation: Zwei Wege, Policygestaltung zu beeinflussen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ausblick: Donald J. Trump und die federal bureaucracy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Herrschaft ist nach Max Weber im Alltag vor allem Verwaltung. Vor dem Hintergrund dieser Feststellung befasst sich dieser Beitrag mit dem institutionellen Kontext von Verwaltungshandeln im federal government der USA, der Struktur der Verwaltung, sowie ihrem Personal und seiner Rekrutierung. In einem zweiten Schritt wird die Frage nach dem Einfluss von Verwaltungen auf legislative und administrative rule making beantwortet. Der Text schließt mit einem Blick auf die Interaktion von federal bureaucracy und dem 45. Präsidenten der USA, Donald J. Trump. Dabei werden vor allem die Gefährdungen eines regelund rechtsgebundenen Verwaltungsbetriebes durch den amtierenden Präsidenten in den Blick genommen. Schlüsselwörter

Federal bureaucracy · Gesetzgebung · Issue networks Themennetzwerke · Öffentlicher Dienst civil service

K.-U. Schnapp (*) Fachbereich Sozialwissenschaften, Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_12

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Einleitung

Am 24. September 2019 gab House Speaker Nancy Pelosi den offiziellen Beginn der Impeachmentanhörungen gegen den amtierenden 45. Präsidenten der USA, Donald J. Trump, bekannt.1 Während dieser Artikel finalisiert wird, dauern die Anhörungen an. Sie werfen auch Schlaglichter auf eine Ministerialbürokratie, deren bisherige Funktionsweise und Rolle mit dem Amtsantritt von Donald Trump aus mehreren Richtungen in Frage gestellt ist. Aus der einen Richtung wird seit der Wahl Trumps an die Mitarbeitenden der federal bureaucracy implizit und explizit die Hoffnung und Erwartung gerichtet, sie möge durch internal resistance (Nelson 2018; Heer 2019) dafür sorgen, dass die Präsidentschaft Trumps im Sinne seiner politischen Gegner so folgenarm wie möglich bleibe. Sie sollen, so die Erwartung, Policyideen des chief administrator (Pika et al. 2017, S. 17) nicht umzusetzen oder deren Umsetzung verzögern. Mit einer solchen Handlungsweise würde sich die Verwaltung allerdings sowohl gegen die Verfassung wie auch gegen das Demokratieprinzip stellen, denn beide gehen davon aus, dass gewählte Politikerinnen Policyentscheidungen treffen, die dann von den Mitarbeiterinnen der Verwaltung zuverlässig umgesetzt werden. Funktionsweise und Rolle der federal bureaucracy werden gleichzeitig aus einer anderen Richtung in Frage gestellt, wenn Folgsamkeit erwartet wird auch dann, wenn die Geltung rechtsstaatlicher Normen im praktischen politischen und administrativen Handeln in Zweifel gestellt wird. Mitarbeitende der Verwaltung finden sich daher in dem Dilemma, einerseits dem legitimen Führungsanspruch eines demokratisch gewählten Präsidenten (Pika et al. 2017, S. 12–15) zu entsprechen, und andererseits als Verwaltung dem Anspruch zu genügen, rechtsstaatlich, also regelgebunden und verlässlich zu handeln. Der Impeachmentprozess macht insbesondere in den Äußerungen von Mitarbeitern aus der Verwaltung deutlich, wie stark in der Ära Trump die bisherige Funktionsweise der federal bureaucracy unter Druck gerät.2 Hier setzt der vorliegende Beitrag an. Er beschreibt die (bisherige) Struktur und Funktionsweise der Bundesbürokratie in den USA und skizziert, welche Veränderungen sich in den letzten Jahren ergeben haben. Die US-Bundesbürokratie ist, darin unterscheiden sich die Vereinigten Staaten von Amerika von vielen anderen heutigen Demokratien, nicht nur nach der Gründung des Nationalstaates, sondern auch deutlich nach der Gründung der USA als demokratisch verfasster Staat entstanden (Heclo 1984, S. 11). Nimmt man die Beobachtung hinzu, dass die USA ein Gemeinwesen mit einer geringen Akzeptanz gegenüber zentraler staatlicher Autorität sind (Glassman 1987), so beginnt man zu 1

Der vorliegende Text geht von dem für den Vorgängerband gemeinsam mit Roland Willner verfassten Text aus, ist aber neu strukturiert und anders fokussiert. 2 Folgt man Levitsky und Ziblatt (2018), dann stehen nicht nur die Funktionsweise der Verwaltung, sondern wesentliche Teile der verfassungsmäßigen institutionellen Ordnung der USA in Frage. Diese Anfechtungen werden in anderen Teilen dieses Bandes verhandelt und nur hier erwähnt, wenn sie für das Verständnis von Prozessen und Veränderungen in der Ministerialverwaltung der USA bedeutsam sind.

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ahnen, dass es diese nationale Bürokratie als Vergegenständlichung zentraler staatlicher Autorität vergleichsweise schwer hat, ein akzeptierter Bestandteil der politischen Struktur und Kultur des Landes zu sein. Im Kontext einer beständigen Diskussion über die Rolle der Verwaltung im politischen Prozess und die Interpretation ihrer verfassungsmäßigen Stellung entstand so die Vorstellung von einer strikten Dichotomie von Bürokratie und Politik (Martin 1988). Diese Vorstellung – Svara (2001) bezeichnet sie als Mythos – beschreibt Bürokratie und Politik als klar unterscheidbare Sphären mit eigenen Handlungslogiken und Entwicklungsdynamiken. Für die Bürokratie erwies sich das Narrativ von der Dichotomie immer wieder als Mittel, mit dem auf die Legitimitätsgrundlagen des eigenen Handelns verwiesen werden konnte. Die klare Trennung zwischen Politikgestaltung (policy making) und Administration (policy implementation) wurde aber auch immer wieder von Politikern wie etwa den Präsidenten Richard Nixon und Ronald Reagan vertreten. Sie wollten damit markieren, wo ihr Einflussbereich als Staats- und Regierungschef liegt, und der von ihnen für unzuverlässig gehaltenen Bürokratie signalisieren, wo sie als Präsident die Grenzen von Verwaltungshandeln sehen. Faktisch ist die Beteiligung der Bürokratie an politischen Prozessen aufgrund unten zu beschreibender Staats- und Verwaltungsstrukturen in der Bundeshauptstadt Washington D.C. gleichwohl sehr real (Heclo 1986, S. 100). Ziel dieses Beitrags ist es, die nationale Bürokratie in den USA in ihren Strukturen und Prozessen, aber auch in ihrer Verwobenheit mit der Präsidentschaft, dem Kongress und weiteren politischen Akteuren, wie den organisierten Interessen, vorzustellen. Hierzu wird zunächst der institutionelle Kontext von Verwaltungshandeln im federal government der USA vorgestellt. Dem folgt ein Abschnitt, der die Struktur der Verwaltung selbst skizziert und auf ihr Personal und seine Rekrutierung eingeht. Anschließend wird die Frage nach dem Einfluss von Verwaltungen auf zwei wichtige politische Prozesse, das legislative und das administrative rule making beantwortet. Der Text schließt mit einem Blick auf mögliche Wirkungen der ersten Amtszeit des 45. Präsidenten Donald J. Trump auf die federal bureaucracy der USA.

2

Der Kontext bürokratischen Handelns im politischen System der USA

2.1

Kongress und Präsident: Zwei Prinzipale für eine Verwaltung

Im gewaltentrennenden Regierungssystem der USA hat die nationale Verwaltung zwei Prinzipale, den Kongress und den Präsidenten. Beide Institutionen haben direkten Einfluss auf die Arbeit der Regierungsbürokratien. Der Präsident ist der Dienstherr der nationalen Bürokratie, und diese ist prinzipiell an seine Weisungen gebunden. Gleichzeitig hat der Kongress einen starken Einfluss auf die Arbeit der Ministerialbürokratie in Washington D.C., weil jede Bewilligung finanzieller Mittel, sei sie zur Sicherung der Arbeit der Bürokratie im engeren Sinne oder zur Ausführung politischer Programme benötigt, durch den Kongress vorgenommen werden

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muss. Ebenso entscheidet der Kongress über die Struktur der Bürokratie, also etwa über die Einrichtung, Schließung oder Zusammenlegung von departments (Ministerien) und unabhängigen Behörden (independent agencies). Funktionsbestimmend ist diese Gewaltentrennung für die Verwaltung, weil Präsident und beide Kammern des Kongresses in ihren Entscheidungen voneinander weitgehend unabhängig sind. Sie sind zwar formal gemeinsam für das Wohl und Wehe der Union verantwortlich, von Seiten der Verfassung aber nicht zu einem kooperativen Umgang miteinander gezwungen. Gleichzeitig ist eine Zusammenarbeit im unmittelbaren Interesse eines reibungslos funktionierenden politischen Prozesses notwendig, denn der Kongress kann nur unter verschärften Anforderungen an die Mehrheitsverhältnisse (Zwei-Drittel-Mehrheit zur Überwindung eines präsidentiellen Vetos) gegen den Präsidenten regieren. Der Präsident wiederum ist zur Realisierung seiner Gesetzesvorhaben grundsätzlich auf die Unterstützung des Kongresses angewiesen, denn er hat nicht einmal ein eigenes Initiativrecht im Gesetzgebungsprozess. In dieser Struktur tritt insbesondere dann Blockade an die Stelle von Zusammenarbeit, wenn Präsidentschaft und Kongress nicht von der gleichen Partei dominiert werden. Diese Blockaden behindern nicht nur das gute Funktionieren der Verwaltung. Wie das Beispiel des letzten und bislang längsten government shutdown zum Jahreswechsel 2018/19 zeigt, können diese Blockaden sehr direkt in das tägliche Leben der US-amerikanischen Bürgerinnen und Bürger eingreifen. So wurden bei diesem shutdown nicht nur über 300.000 Mitarbeiterinnen der departments und agencies zum Teil mehrere Wochen in den unbezahlten Zwangsurlaub geschickt; Museen und Nationalparks schlossen, die Steuerverwaltung drohte just in dem Moment zum Erliegen zu kommen, in dem die Steuerzahlerinnen auf ihre Rückerstattungen warteten, Gerichte mussten die Arbeit einschränken, so dass nur die gravierendsten Fälle verhandelt werden konnten usw. (Lu und Singhvi 2019). Neben die Gewaltentrennung tritt die Zersplitterung des Regierungssystems in viele eigenständige voneinander formal unabhängige Akteure als weiteres die Koordination erschwerendes Element. Das sind die in Einerwahlkreisen gewählten Abgeordneten beider Häuser des Kongresses, die Bundesstaaten und Kommunen, und schließlich tausende Interessengruppen, die alle versuchen, Einfluss auf Regierungsentscheidungen und Regierungsprozesse in Washington D.C. zu nehmen. Davidson (1990, S. 63) sieht diese institutionelle Zersplitterung als Reflexion des Pluralismus und der Fragmentierung der US-amerikanischen Gesellschaft an. Das ändert nichts daran, dass die beschriebenen Strukturen eine abgestimmte und zielorientierte Arbeit der nationalen Verwaltung mitunter deutlich behindern.

2.2

Institutional presidency und departments/agencies: Zwei Verwaltungen für eine Regierung

Die federal bureaucracy ist aber nicht nur Dienerin zweier Herren, sie zerfällt in gewisser Weise auch in zwei Verwaltungen. Das ist zum einen die auch in der Verfassung angelegte Struktur aus dem Präsidenten, den departmental secretaries

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(den Ministern), die das Kabinett bilden, und den entsprechenden government departments (Ministerien) sowie einer größeren Zahl von unabhängigen Verwaltungseinheiten, den sogenannten independent agencies (für Details siehe Abschn. 3.1). Zum anderen ist das die sogenannte institutional presidency, das Executive Office of the President (EOP) mit seinen Untereinheiten, allen voran dem White House Office (WHO). In der erstgenannten Struktur steht der Präsident als chief administrator (Pika et al. 2017, S. 17) der gesamten Ministerialbürokratie vor und ist für die Politik der Regierung verantwortlich. Bei der Wahrnehmung dieser Verantwortung stützt er sich unter anderem auf die departmental secretaries, die als seine „Gesandten“ den Ministerien vorstehen und die gleichzeitig das Regierungskabinett bilden. Dieses Kabinett ist jedoch nicht – wie in parlamentarischen Regierungssystemen üblich – mit kollektiver Regierungsverantwortung ausgestattet. Das Kabinett als ‚Versammlung der Minister‘ ist im politischen System der USA politisch fast bedeutungslos. Seine Rolle ist beschränkt auf grundlegende Koordinierungsaufgaben und, soweit vom Präsidenten genutzt, die Beratung des Präsidenten. Das Kabinett wird nur selten einberufen und wenn es berät, so sind die dort getroffenen Entscheidungen ohne Verbindlichkeit (Pika et al. 2017, S. 283–291; Oldopp 2005, S. 74–75). Gleichzeitig ist es für den einzelnen Minister oft schwer, persönlich Gehör beim Präsidenten zu finden. Insbesondere je länger ein Präsident im Amt ist, desto geringer wird für ihn die Bedeutung des Kabinetts als Beratungsgremium. Er verlässt sich dann vor allem auf Berater und Unterstützungsstrukturen im Weißen Haus. Minister werden, wenn sie Anliegen erörtern wollen, von den Präsidenten bzw. deren näherem Stab, teilweise sogar ausdrücklich abgeblockt (Pika et al. 2017, S. 284–285). Fasst man zusammen, so ist das Kabinett in Washington D.C. weder eine politikgestaltende (policy making), noch eine die Regierungsarbeit koordinierende Institution. Da Präsidenten öffentlich immer direkter für alle Handlungen, Erfolge und Misserfolge der Regierung in die Verantwortung genommen werden, und gleichzeitig das Kabinett als Koordinierungsgremium nicht geeignet scheint, wurden im Laufe der Zeit wichtige Politikfunktionen im Weißen Haus konzentriert. In unmittelbarer „organisationeller Nähe“ des Präsidenten entstand eine große präsidentielle „Hilfsbürokratie“, das Executive Office of the President (EOP) (McKeever und Davies 2012, S. 203). Das EOP ist eine eigene, in Fachabteilungen untergliederte Behörde, die dem Präsidenten als großer Beratungs- und Policyentwicklungsstab direkt zuarbeitet. Zu den Abteilungen des EOP gehören u. a. das White House Office (WHO), das mächtige Office of Management and Budget (OMB) und das Office of Presidential Personell (OPP). Die wichtigsten Entscheidungen trifft der Präsident mit seinem persönlichen Mitarbeiterstab im WHO, der zentralen Steuerungseinheit innerhalb des EOP. WHO, OMB, OPP sowie andere Organisationseinheiten des EOP unterstützen den Präsidenten bei der Steuerung der departments und agencies (Peters 2011, S. 132). Das EOP besitzt vergleichsweise großen Einfluss auf politische Prozesse in Washington D.C. Es sind daher oft nicht mehr die Linienorganisationen in den departments, sondern Stabseinheiten im EOP, die die Verantwortung für wichtige politische Projekte tragen (Rudalevige 2002, S. 4–6; Pika et al. 2017, S. 314).

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Ein Beispiel für die Zentralisierung wichtiger Policyreformen im Weißen Haus ist die Gesundheitsreform von Präsident Bill Clinton. Diese für das politische Programm Clintons zentrale Reform wurde unter Leitung von First Lady Hillary Clinton maßgeblich vom Weißen Haus aus betrieben und koordiniert. Die departments waren seinerzeit zwar involviert und haben große Teile der rund 500 Mitarbeiter gestellt, die an dieser Reform gearbeitet haben; die Führung des Projektes Gesundheitsreform lag aber nicht im Department of Health (DoH), sondern im Weißen Haus. Ein konsequenter Zentralisierer war auch Präsident Barack Obama. Er nutzte mit den sogenannten policy czars eine Zentralisierungstechnik, die es bereits bei früheren Präsidenten gab, die aber von niemandem so ausgiebig genutzt wurde wie von Obama. Policy czars sind Personen, die als persönliche Beauftragte des Präsidenten große Policykomplexe über unterschiedliche departments und agencies und bis in den Kongress hinein koordinieren. Sie sollen dafür sorgen, dass a) die Pläne des Präsidenten möglichst getreu umgesetzt werden und b), dass bei Politikproblemen, die mehrere departments und/oder agencies betreffen, angemessen für Kooperation zwischen diesen gesorgt wird (Villalobos und Vaughn 2010). Die Stellung der „Zaren“ ist informell. Sie werden an den für höchste Regierungsämter üblichen Nominierungsprozeduren im Senat vorbei (siehe unten) auf ihren Posten gesetzt, nehmen dann aber zentrale Policykoordinierungsaufgaben war. Sie sind zum Teil für den Politikprozess wichtiger als die formal zentraler positionierten departmental secretaries oder andere hohe Regierungsmitarbeitende (Pfiffner 2010, S. 5; Pika et al. 2017, S. 290). Die hohe Macht der Zaren hat im Zusammenspiel mit ihrer informellen Besetzung bereits unter Barack Obama zu umfassender Kritik geführt (Dayen 2016). In parlamentarischen Regierungssystemen sind Minister einerseits Gesandte der Regierung bzw. des Regierungschefs in den Ministerien. Sie sind gleichzeitig Fürsprecher ihrer Häuser in der Regierung. Die Zentralisierung politischer Entscheidungen im Weißen Haus, die institutionell angelegte Geringachtung des Kabinetts und der selektive Umgang des Präsidenten mit den Ministern verringern die Effektivität, mit der die secretaries in Washington D.C. jede der beiden Rollen spielen können. Eine häufige Reaktion der Minister darauf ist eine schnelle Anpassung an die Gepflogenheiten und Policysichtweisen ihres Hauses, das sogenannte going native (McKeever und Davies 2012, S. 215). Das going native ist nicht nur bei Ministern, sondern auch bei political appointees tiefer in der Ministerialhierarchie zu finden: „Even so presidents try to appoint loyalists to positions that oversee the internal bureaucracies, the organizational cultures may dominate“ (Peters 2011, S. 140). Minister werden dann zu Anwälten ‚ihrer‘ Häuser und lassen sich – aus der Sicht des Präsidenten – von der Handlungslogik ihres Hauses einfangen (Wilson 2009, S. 238–240). Das going native schwächt also den präsidentiellen Einfluss auf die Tätigkeit der Ministerien. Gleichzeitig sind die secretaries in ihren eigenen Häusern nicht im gleichen Sinne einflussreich wie ihre Kollegen in Berlin, London oder Paris. Sie haben nur wenige eigenständige Entscheidungsbefugnisse und vergleichsweise kurze Amtszeiten. Eine stärkere Einflussnahme der secretaries auf die Arbeit der departments wird vor allem durch die strikte Trennung von politischer und Laufbahnbürokratie

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gehemmt (zu diesen beiden Typen von Bürokraten siehe unten). Minister in den USA verfügen zwar aufgrund der ausführlichen Nutzung der Praxis von political appointments über eine große Zahl vertrauter und politisch konformer Mitarbeiter; diese politischen Funktionäre bedürfen aber kooperationsbereiter Laufbahnbürokraten, die ihnen helfen, sich im politischen Dickicht Washingtons zurechtzufinden und die ihnen Einsicht in die Funktionsweise des departments gewähren. Das Zusammenbringen dieser beiden Arten von Ministerialbürokraten in eine funktionierende Arbeitsbeziehung erweist sich allerdings oft als schwierig und als Sache persönlicher Zufälle. Die Einbindung eines Ministers oder gar des Präsidenten in die permanente Bürokratie ist also, das kann hier nur wiederholt werden, oft brüchig. Trotz ihrer insgesamt eher randständigen Position, können einzelne Minister als Person auf verschiedene Weise politisch einflussreich sein. Das ist etwa dann der Fall, wenn sie (1) einem der zentralen Ministerien wie z. B. dem Finanz-, Verteidigungs- oder Außenministerium vorstehen oder es ihnen (2) gegen die oben beschriebenen Widerstände gelingt, ihr Haus hinter sich zu bringen, oder wenn sie (3) als persönlicher Berater einen exklusiven Zugang zum Präsidenten genießen. Als Einzelakteure sind sie in den von ihnen verantworteten Politikfeldern wichtig, stehen dabei aber immer in Konkurrenz zu etablierten Netzwerken aus permanenter Bürokratie, Kongress und Interessengruppen. Die aktive Arbeit in den Washingtoner Netzwerken wird ihnen dadurch erschwert, dass sie ihr Amt in der Regel nur kurz bekleiden, während Stellen in der permanent bureaucracy meist sehr langfristig mit der gleichen Person besetzt sind und Abgeordnete auf dem Capitol Hill auch oft ihr Mandat über viele Legislaturperioden hinweg ausüben (McKeever und Davies 2012, S. 211). Das gleiche gilt für Personen, die in Washington D.C. organisierte Interessen vertreten. Zusammenfassend kann man also sagen, dass die federal bureaucracy in einem hochkomplexen Akteursgefüge aktiv werden muss. Dieses Gefüge, insbesondere die Tatsache, dass die Bundesverwaltung zwei Prinzipalen dient, gibt ihr gewisse Handlungsmöglichkeiten. Gleichzeitig schränkt das erweiterte System der checks and balances, man schaue nur auf Gerichte und den Einfluss von Interessengruppen, den Aktionsraum der Verwaltung auch gleich wieder ein. Um genauer sichtbar zu machen, wie die federal bureaucracy sich in diesem Kontext entwickelt hat und agieren kann, wird im nächsten Abschnitt stärker auf die innere Funktionsweise der Verwaltung geschaut.

3

Die Federal Bureaucracy

3.1

Die Struktur der Bundesbürokratie

Die US-amerikanische Bundesbürokratie ist sehr jung. Eigentlich kann erst mit Franklin D. Roosevelts New Deal und der zeitlich parallel verlaufenden Zentralisierung politischer Entscheidungsprozesse auf nationaler Ebene wirklich von der Etablierung einer Ministerialbürokratie gesprochen werden (Beer 1978, S. 10; Lowi 1969, S. 33–36). Zwar gab es auch im 19. Jahrhundert schon eine nennenswerte

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Anzahl von Bundesbeamten. Diese waren aber – anders als heute – weniger in politik- und gestaltungsnahen Positionen tätig, sondern nahmen ausführende Tätigkeiten wie die im US Post Office wahr. Erst mit der Politik des New Deal in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, der Kriegsökonomie des Zweiten Weltkriegs und der Politik der Nachkriegszeit wuchs die Größe und politische Bedeutung der Bundesverwaltung massiv (Wilson 2009, S. 266–269). Wie oben bereits gesagt, besteht die US-Bundesverwaltung aus den Ministerien (departments) sowie einer sehr großen Anzahl von Bundesbehörden (independent agencies) und sonstigen Behörden.3 Es gibt gegenwärtig (Stand 2019) 15 departments und fast 70 independent agencies. Zu letzteren gehören so unterschiedliche Einrichtungen wie die Federal Reserve Bank (die Fed) und das Federal Bureau of Investigation (FBI), die Equal Employment Opportunity Commission (EEOC) oder die Federal Aviation Administration (FAA) und die Environmental Protection Agency (EPA). Diese agencies sind oft ähnlich einflussreiche Policyakteure wie die departments. Sie können in ihrem Wirkungsfeld eine hohe Regulierungskraft besitzen und oft nur schlecht umgangen werden. Ihre Leitungen werden vom Präsidenten bestimmt und müssen, wie die departmental secretaries, durch den Senat bestätigt werden. Der Präsident besitzt die Möglichkeit der Einrichtung, Schließung oder Umstrukturierung von departments und agencies. Er ist dabei jedoch von der Zustimmung des Kongresses abhängig, weil dieser die Finanzierung genehmigen muss. Bisher haben Präsidenten daher diese Organisationsgestaltungsmacht nur in seltenen Fällen genutzt. Wenn tatsächlich Änderungen vorgenommen wurden, so nahm man sie in der Regel bald wieder zurück, weil sie sich, wie etwa Nixons ‚super-departments‘, als impraktikabel erwiesen (Nathan 1975, S. 68–70). Die Zahl und Aufgabengliederung der Ministerien war daher in der gesamten Zeit seit 1945 erstaunlich konstant. Eine größere Ausnahme von der Regel stellt das Department of Homeland Security (DHS) dar. Die Schaffung des DHS wurde von Georg W. Bush nach den Angriffen auf das World Trade Center in New York sowie das Pentagon in Washington D.C. am 11. September 2001 betrieben, um die Terrorismusabwehr in den USA neu zu organisieren. Sie stellt nach Pika und Ko-Autoren (2017, S. 268) die größte zusammenhängende Regierungsneuorganisation seit 1947 dar. Seinerzeit war das Department of Defense (DoD) geschaffen worden. Das DHS umfasst heute ca. 170.00 Beschäftigte, die aus den unterschiedlichsten Herkunftsorganisationen stammen. Folgende Beispiele mögen zur Illustration genügen: Die US Coast Guard und die Transportation Security Agency wurden aus dem Transportministerium herausgelöst und in das DHS integriert, der Secret Service und die Zollverwaltung aus der Treasury, die Border Patrol und das Center of Domestic Preparedness kamen aus dem Justizministerium, das National Communications System verließ das Verteidigungsministerium (DoD) und das National Domestic Preparedness Office das FBI. Auch vormals unabhängige agencies wie die Federal Emergency Management

3

Das Executive Office of the President (EOP) wird im Kontext dieses Kapitels nicht erörtert.

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Agency, die nach dem Hurrikan Katrina als FEMA negative Schlagzeilen gemacht hatte, wurden in das DHS eingegliedert (Pika et al. 2017, S. 269).

3.2

Personal und Rekrutierung: Zwei Typen von Verwaltungsmitarbeitenden

Historisch ist das System der Rekrutierung von Personen in höhere Ämter in der Ministerialbürokratie als spoils system bekannt. Präsidenten brachten in großer Zahl Personen in Verwaltungsämter, die ihnen im Wahlkampf geholfen hatten und die die Parteimaschine am Laufen hielten. Es war also nicht Professionalität, sondern vor allem politische Loyalität und persönliche Bekanntschaft, die jemanden für nationale administrative Ämter ‚qualifizierten‘ (Anagnoson 2011, S. 126; McKeever und Davies 2012, S. 212). Die Dysfunktionalität dieses Systems nahm jedoch immer mehr zu, so dass im Jahre 1883 dieser Rekrutierungspraxis mit dem Pendleton Act ein Ende bereitet und auf ein meritokratisches, also qualifikationsbasiertes System umgestellt wurde (Anagnoson 2011, S. 127). Dies führte zum sogenannten competitive service, einem System, in dem Bewerberinnen und Bewerber sich in einem wettbewerblichen Verfahren als geeignet für eine Stelle erweisen mussten. Das entsprechende Verfahren wird heute vom Office of Personal Management (OPM) durchgeführt (Wilson 2009, S. 272).4 Im Jahre 1939 wurden durch eine Expertenkommission, das so genannte Brownlow Comittee, erneut erhebliche Änderungen in der Struktur der US-amerikanischen Exekutive angeregt. Den Verfassern des Reports ging es vor allem darum, die Arbeitsfähigkeit des Präsidenten zu erhöhen, indem ihm ein größerer präsidentieller Stab zur Verfügung gestellt wurde. Als Ergebnis des Brownlow Reports wurde das bereits erwähnte EOP gegründet und unter anderem auch das Bureau of the Budget (BOB). Dieses wurde 1970 in OMB umbenannt und zu einem Teil des EOP gemacht. In Folge dieser Organisationsänderung kam es auch zu einer deutlichen Ausweitung explizit politischer Besetzungen in der US-amerikanischen Bundesadministration (Anagnoson 2011, S. 130–131). Diese unterscheiden sich von den Patronagebesetzungen des spoils system vor allem dadurch, dass heute Positionen existieren, die explizit für politische Besetzungen vorgesehen sind, und dass diese Besetzungen zum großen Teil durch den Senat kontrolliert werden (siehe unten). Während die 1950er-bis 1970er-Jahre als Phase der Konsolidierung der professionellen Orientierung der Verwaltung bei einer gleichzeitigen weiteren Ausdehnung des staatlichen Regelungsbereichs bezeichnet werden können, schwang das Pendel seit dem Beginn des National Performance Review im Jahre 1993 wieder in Richtung einer Verstärkung des politischen Einflusses und einer stärkeren Politisierung der Verwaltung (Aberbach 2003; Savoie 1994, Kap. 2; Thayer 1997). Gleichzeitig mit dieser Entwicklung stieg auch bei den politisch zu besetzenden Positionen der 4

Das Office of Personal Management ist Teil des EOP.

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Anteil der Patronageentscheidungen wieder an. Gegenstand der öffentlichen Diskussion wurde dies unter anderem, nachdem Hurrikan Katrina im Jahre 2005 die Stadt New Orleans schwer zerstört hatte. Die FEMA reagierte seinerzeit sehr langsam und zunächst unzureichend auf die Naturkatastrophe. Als eine zentrale Ursache dafür wurde genannt, dass die Führungsebene der Behörde mit Personen besetzt war, die vom Präsidenten aus politischen Gründen ausgewählt worden waren, und die von Katastrophenmanagement wenig verstanden (Lewis und Waterman 2013, S. 36). Das Personal der Bundesbürokratie setzt sich aus zwei Typen von Beschäftigten zusammen. Da ist zum einen die permanente Bürokratie. Zu ihr gehören die dauerhaft in den departments und agencies tätigen Laufbahnbeamten (career bureaucrats). Zum anderen gibt es eine sehr große Anzahl von political appointees. Hierbei handelt es sich um eine Schicht von Funktionären, die entweder durch den Präsidenten, die Minister oder die Leitungen der agencies auf Basis politischer Eignung auf administrative Führungspositionen eingesetzt werden (Heady 1988, S. 400). Insgesamt arbeiten ca. 2,6 Millionen Menschen in zivilen Berufen bei der US-Bundesverwaltung im sogenannten federal civil service. Diese Zahl schließt das Ausführungspersonal in den field offices, also etwa den regionalen und lokalen Niederlassungen der Finanzbehörden, des Department of Veterans Affairs, von NSA, CIA, und FBI und der EPA und vieler weiterer Ministerien und agencies mit ein. Darüber hinaus sind 1,4 Millionen Menschen in militärischen Verwendungen beschäftigt (Jennings und Nagel 2019, S. 6). Der civil service besteht aus dem allgemeinen Dienst, dem General Service (GS) mit 15 Besoldungsstufen (grades) und an der Spitze dem Senior Executive Service (SES). Positionen im SES sind zum Teil Laufbahnpositionen und zum Teil political appointees. Die political appointees stellen nur einen sehr kleinen Teil der Administration dar.5 Die Besetzung der politischen Positionen ist für jeden Präsidenten eine zentrale Aufgabe, denn nur, wenn diese Leitungspositionen in den Ministerien und agencies besetzt sind, kann dort normal gearbeitet werden. Insbesondere bei den appointments with senate confirmation zieht sich dieser Prozess aber immer länger hin und wird, entsprechende Mehrheitsverhältnisse vorausgesetzt, auch als politisches Mittel gegen den Präsidenten benutzt (Pika et al. 2017, S. 298). In der Amtszeit von Barack Obama gab es ca. 4000 politisch besetzte Positionen in den Bundesbehörden der USA. Von diesen wurden ca. 1700 Positionen direkt durch den Präsidenten besetzt. Davon wiederum bedurften ca. 1200 der Bestätigung durch den Senat (political appointments with senate confirmation), die verbleibenden ca. 500 Positionen werden allein vom Präsidenten besetzt. Weitere ca. 2300 Funktionen werden in den einzelnen departments und agencies politisch besetzt. Eine detaillierte Übersicht

5 Gleichwohl ist die Zahl von political appointments ungleich höher als in fast allen anderen Ländern der Welt. So werden in der Bundesrepublik Deutschland nur Staatssekretäre und Abteilungsleiter in den Bundesministerien politisch besetzt. Das sind insgesamt im Jahre 2019 ca. 150 Personen.

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über die political appointments mit Namen, Art des appointments und Bezahlung vermittelt alle 4 Jahre das sogenannte Plum Book (Committee on Homeland Security, U.S. Senate 2016), aus dem auch die obigen Angaben stammen (ebd., S. 216, vgl. auch Pfiffner 2017a, S. 9). Bei den politischen Besetzungen müssen Präsidenten versuchen, gleichzeitig mehrere Ziele zu erreichen. Auf der einen Seite gibt es elektorale und politische Gründe für die Besetzung von Ämtern. Es sind Personen zu belohnen, die den Wahlkampf eines Präsidenten auf die eine oder andere Weise unterstützt haben, außerdem sollen Interessengruppen und Abgeordnete gewogen gemacht werden (Hollibaugh et al. 2014, S. 1026). Vor allem aber wollen Präsidenten Personen finden, die mit hoher politischer Loyalität und hoher Kompetenz dazu beitragen, ihr politisches Programm in den Behörden umsetzen (Lewis und Waterman 2013). Fälle wie die unangemessen besetzte FEMA (siehe oben) sind für die Gesellschaft ein Problem, weil sie gegebenenfalls die Konsequenzen solcher Personalentscheidungen tragen muss. Sie sind damit auch für den Präsidenten ein Problem, der für die schlechte Performanz von Behörden verantwortlich gemacht wird. Die Forschung zeigt, dass sich Präsidenten dessen offenbar meist bewusst sind, denn political appointments aus elektoralen oder politischen Gründen erfolgen vor allem auf Positionen, die weniger hoch auf der politischen Agenda des Präsidenten stehen und die wenig Einfluss auf den Policyoutput haben. Je mehr Expertise auf einer Position gebraucht wird oder je wichtiger eine agency für den Präsidenten ist, desto höher sei in der Regel der Anteil an professionellen Besetzungen (Hollibaugh et al. 2014, S. 1031–1035). Das Verhältnis von political appointees und Laufbahnbürokraten ist unter den meisten Präsidenten der letzten Jahrzehnte angespannt gewesen. Die appointees werden wegen der Vorläufigkeit ihrer Tätigkeit von den Laufbahnbeamten kritisch beäugt. Den Laufbahnbürokraten wiederum wird von den appointees nicht zugetraut, aus eingefahrenen bürokratischen Bahnen auszubrechen und politisch neutral zu sein (Durant und Resh 2010, S. 559). Es gehört jedoch zu den zentralen Werten der permanent bureaucracy, eigenen parteipolitischen Orientierungen keinen zentralen Platz in der Arbeit einzuräumen, sondern zu versuchen, neutral und sachorientiert die politischen Ziele der aktuellen Regierung umzusetzen (McKeever und Davies 2012, S. 213). Das Vorhandensein dieser Neutralität wurde und wird von Politikern allerdings immer wieder in Frage gestellt. Das galt unter anderem in starkem Maße für Richard Nixon und Ronald Reagan (Rockman und Thiam 2009, S. 207, 211). Der Bundesbürokratie wurde von beiden unterstellt, dass sie in großer Mehrheit den Demokraten und ihren politischen Werten und Zielen zugeneigt sei. Anders war Barack Obama zur Bürokratie eingestellt, der etwa ein Programm zur aktiven Verbesserung der öffentlichen Wahrnehmung der Verwaltung hatte (Light 2010, S. 81). Empirische Forschung zu den Einstellungen der Beamten zeigt, dass deren politische Überzeugungen keineswegs fixiert sind. Sie folgen zum einen den politischen Bewegungen an der Spitze der Regierung (Aberbach 2003, S. 384–387). Sie sind gleichzeitig abhängig von dem Aufgabenspektrum eines Ministeriums oder einer agency. Überwiegen hier traditionelle Aufgaben, dann tendieren die Mitarbei-

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tenden eher zu konservativen Werten, überwiegen aktiv sozialstaatliche Aufgaben, dann ist das Gegenteil der Fall (Wilson 2009, S. 276).

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Policyentwicklung und -implementation: Zwei Wege, Policygestaltung zu beeinflussen

Wird über die Rolle von Verwaltungen im politischen Prozess gesprochen, so taucht immer wieder die Frage auf, wieviel Einfluss Verwaltungen auf diese Prozesse haben, wieviel „Macht“ die Bürokratie hat. Welche Rolle spielt sie bei der Vorbereitung und Umsetzung politischer Entscheidungen und worauf gründet sich gegebenenfalls ihr Einfluss? Diese Frage soll im vorliegenden Kapitel mit Blick auf zwei Prozesse erörtert werden. Erstens mit Blick auf die Entwicklung von Gesetzen, das legislative rule making, und zweitens mit Blick auf die Umsetzung von Gesetzen in administrative Regeln, die für die Implementation benötigt werden, das administrative rule making.

4.1

Die Rolle der Verwaltung bei der Entwicklung von Gesetzen

Politikentwicklung findet in den USA in der Regel in den sogenannten issue networks statt. Themennetzwerke sind ein enges Gewebe von Ministerialabteilungen (bureaus) und Kongressausschüssen (committees), in denen die Entwicklung von politischen Programmen und Gesetzen vonstatten geht (Fiorina 1977, S. 72–79; Ripley und Franklin 1980, S. 209). Eng in diese Netzwerke eingebunden ist auch das hoch differenzierte System der Interessengruppen (Gormley 1991, S. 12). Alle drei Akteursgruppen zusammen bilden die issue networks, wie Hugh Heclo sie in seinem berühmten Aufsatz nannte (Heclo 1978). Jede der drei Gruppen spielt dabei eine spezifische Rolle: administratives und juristisches Sach- und Prozesswissen kommt aus der Bürokratie, die Kenntnis von Zuständen und Erwartungen vor Ort in den Bundesstaaten von den Abgeordneten, Interessenverbände schließlich bringen Erfahrungen aus den unterschiedlichsten Regelungsbereichen und konkrete Problemkenntnis ein. Alle Netzwerkpartner nehmen damit als Informationslieferanten wechselseitig füreinander eine wichtige Stellung ein. Für die bureaus und die dort tätigen Laufbahnbeamten sind die issue networks in der Regel der zentrale inhaltliche Orientierungspunkt, weniger der Präsident und seine political appointees. Das liegt vor allem daran, dass die Netzwerke auf lange Sicht von den gleichen Personen und Akteuren besetzt und dadurch ein stabiler Handlungs- und Orientierungsrahmen sind, während der Präsident und sein Gefolge als vorübergehend, als transients wahrgenommen werden (Durant und Resh 2010, S. 549).

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Initiativen für neue Politiken kommen oft aus den bureaus der Ministerien. Diese orientieren sich an der eigenen Problemwahrnehmung, den Erfolgsaussichten eines Vorschlags im Kongress, und an den politischen Leitlinien des Präsidenten (McKeever und Davies 2012, S. 217; Pika et al. 2017, S. 272). Die andere Quelle von Gesetzesinitiativen ist der Kongress selbst. Der Kongress ist auch derjenige Ort, an den sich Interessengruppen (Lobbyisten) vornehmlich wenden, wenn sie politische Entscheidungen beeinflussen, also etwa Gesetze befördern oder verhindern wollen. Die Ministerialbürokratie steht dagegen beim legislative rule making eher am Rande aktiver Lobbyprozesse (Baumgartner et al. 2009, S. 151). Dies ändert sich bei der Umsetzung von Gesetzen in Verordnungen, dem administrative rule making, wie im folgenden Abschnitt dargestellt ist. Die meisten Policyinitiativen, die aus der Ministerialbürokratie heraus entwickelt werden, gehen auf dem Pfad über die Themennetzwerke in den Kongress. Eine Organisationseinheit aus der Bürokratie sucht für eine Initiative einen Partner im Kongress (einzelne Abgeordnete, Unterausschüsse oder Ausschüsse). Gemeinsam wird ein Regelungsentwurf entwickelt, der von den Netzwerkpartnern im Kongress in den dortigen Abstimmungs- und Entscheidungsprozess eingebracht wird. Dabei muss die Bürokratie immer Möglichkeitsfenster finden, in denen ein Thema erfolgreich platziert werden kann, in denen es gelingt, die Netzwerkpartner von diesen Ideen zu überzeugen. Nur so kann sie erreichen, dass Gesetzesentwürfe den Weg auf die Tagesordnung des Kongresses finden und am Ende positiv entschieden werden. Der Kongress ist Kraft seiner außerordentlichen großen Ressourcen ein sehr eigenständiger Partner bei der Bearbeitung von Policyproblemen. Insgesamt arbeiten für den Kongress ca. 24.000 Personen. Hinzu kommt, dass sehr viele Abgeordnete ihr Mandat sehr lange halten, was dazu beiträgt, dass diese ein tiefes Verständnis der von ihnen jeweils bearbeiteten Materie entwickeln (Gellner und Kleiber 2012, S. 38). Die enormen Personalkapazitäten und die oft hohe Expertise der Abgeordneten führen dazu, dass nur geringe Informationsasymmetrien zwischen Parlament und Bürokratie bestehen. Kongress und Bürokratie stehen sich hier also sehr gleichwertig gegenüber. Am meisten benachteiligt sind in diesem System die In and Outers (Heclo 1988) in den politisch besetzten Verwaltungspositionen, die secretaries und der Präsident selbst. Der oben beschriebene sehr kritische Blick einiger Präsidenten auf die Bundesbürokratie hat nach meiner Ansicht eine zentrale Ursache in den eben beschriebenen Strukturen. Vor dem Hintergrund dieser Strukturen erscheint es gleichwohl nicht als plausibel, von einer run away bureaucracy (Calvert und Weingast 1982), einer demokratisch nicht kontrollierten und nicht kontrollierbaren Bürokratie zu sprechen, denn der teilweise begrenzte Einfluss von Präsidenten auf viele Policydetails wird ergänzt durch eine umfassende Kontrolle durch die gewählten Abgeordneten (Weingast und Moran 1982). Kontrolle ist also gewährleistet, die Einflussmöglichkeiten der Verwaltung sind eindeutig demokratisch begrenzt.

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4.2

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Die Rolle der Verwaltung bei der Implementation von Gesetzen

Die Implementation von Bundesrecht erfolgt in der Regel durch eine der vielen agencies der Bundesregierung, wie z. B. die Umweltschutzbehörde EPA. In ausgewählten Fällen erfolgt die Implementation auch direkt durch die departments, wie im Falle des 1989 von einer agency zum department umgewandelten Department of Veterans Affairs, das sich um die Betreuung und Versorgung der US-amerikanischen Kriegsveteranen kümmert. Eine der zentralen Aufgaben der agencies und departments bei der Umsetzung von Gesetzen in praktische Politik ist das Kleinarbeiten der gesetzlichen Bestimmung in sogenannte administrative decrees. Der Prozess wird auch als administrative rule making bezeichnet. In den decrees wird beschrieben, welche konkreten Schritte und Maßnahmen eine Policy umsetzen sollen. Wie sieht es also beim Schreiben der decrees mit der „Macht“ der Bürokratie aus? Die Rolle der political appointees im administrative rule making ist vor allem die Anregung von rule making, das dann von den Laufbahnbeamten inhaltlich umgesetzt wird. Im weiteren Prozess ist eine Reihe von Akteuren involviert. Die Rückbindung des rule making an den Präsidenten erfolgt durch eine grundsätzlich notwendige Einbindung des OMB. Das wird schon wegen der finanziellen Konsequenzen der meisten Regeln als notwendig erachtet (Page 2012, S. 110). Eine große Rolle spielen auch hier die organisierten Interessenverbände. Diese sind nach dem Administrative Procedures Act (APA) ab einem sehr frühen Zeitpunkt des rule making durch die sogenannte notice and comment procedure in den Prozess einzubinden. Das bedeutet, dass kraft Gesetzes frühe Entwürfe aus der Verwaltung öffentlich gemacht und Interessengruppen zur Stellungnahme eingeladen werden müssen (Yackee 2006). In dieser Phase findet dann auch ein intensives Lobbying bei den departments und agencies statt. Außerdem sind weitere Behörden und der Kongress in den Prozess eingebunden. Die regelschreibenden Behörden stellen auch regelmäßige Expertengremien zu ihrer Beratung zusammen (Page 2012, S. 112). Bezogen auf die „Macht“ der Verwaltung beim administrative rule making stellt Page fest, dass die Verwaltung stark an der Identifizierung von Themen beteiligt ist und vor allem die inhaltliche Ausarbeitung der detaillierten Regeln bestimmt. Gleichzeitig sei klar, dass durch die eben beschriebenen umfassenden Konsultationsroutinen auch hier von einer engmaschigen demokratischen und gesellschaftlichen Kontrolle der Arbeit der Verwaltung ausgegangen werden kann (ebd., 120). No runaway bureaucracy here either, ist daher zu konstatieren.

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Ausblick: Donald J. Trump und die federal bureaucracy

Der Beitrag wurde mit einem Blick auf im November 2019 aktuelle Vorgänge in Washington D.C. eröffnet; auf diese Zeitebene geht es nun zurück. Für Donald J. Trump scheint seine Staatsverwaltung einer der Hauptfeinde seiner Politik zu sein. Mit seinem Misstrauen gegen die Verwaltung, die er oft als deep state

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bezeichnet,6 stellt er Personen wie Ronald Reagan und Richard Nixon wahrscheinlich in den Schatten.7 Wenn er vom deep state spricht, dann meint Trump eine zutiefst von Demokratischen Werten „infiltrierte“ gesamte Bundesbürokratie, die sich in ihrem gesamten Handeln gegen die politischen Ziele eines Republikanischen Präsidenten und seiner Wählerschaft, in diesem Falle also gegen Donald Trumps politische Agenda, stelle, um ihre geheime Agenda umzusetzen (Myre und Treisman 2019). Wie steht es um die Verwaltung unter diesem Präsidenten? Ein abschließendes Urteil, vor allem über die langfristigen Folgen, kann gegenwärtig nicht getroffen werden. Gleichwohl gibt es eine Reihe von Autoren, die versuchen zu ermessen, welche Konsequenzen der amtierende Präsident auf die Verwaltung hat. Charles T. Goodsell fasst das unter dem Titel The Anti-Public Administration Presidency mit folgenden Punkten zusammen, die inhaltlich von anderen Autoren (Peters und Pierre 2019; Rockman 2019; Pfiffner 2017b, 2018) unterstützt werden: Trump habe erstens den Personalstamm der Verwaltung beschädigt, durch Einstellungssperren, die Verzögerung politischer Besetzungen, die Herabstufung des OPM und eine willkürliche Behandlung des SES. Zweitens habe er den systematischen Policyprozess beschädigt durch seine Art, Politik über Twitter zu betreiben, seine vielen unerwarteten Kehrtwendungen, fehlende Planung und Planbarkeit und nicht zureichend geprüften Entscheidungen; zu denken ist hier etwa an den mehrfach gerichtlich zurückgewiesenen travel ban gegen Reisende aus einigen muslimischen Ländern am Beginn seiner Amtszeit. Drittens störe Trump aktiv die Erfüllung des Gründungsauftrages ihm nicht genehmer Behörden. Als Beispiel wird die EPA genannt. Sie bekam eine Führung,8 die aktiv gegen die Behördenziele agiert und wurde durch massive finanzielle Einschnitte gehindert, ihren Auftrag zu erfüllen. Viertens konstatiert Goodsell, dass Trump sogar die institutionelle Basis, auf der bestimmte Institutionen operieren, infrage stelle. Als Beispiel dient ihm die formale Unabhängigkeit der Fed von allen politischen Akteuren, die Trump in unterschiedlicher Weise zu untergraben versucht habe. In ähnlicher Weise greife er fünftens auch die rechtlichen Grundlagen von Verwaltungshandeln an, indem er etwa versuchte, den US Census für die Sammlung von unerlaubten Informationen über die Bevölkerung zu missbrauchen. Diese Informationen sollten ihm bei den Wahlen für eine zweite

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Der Begriff deep state wurde von Lofgren in einem Artikel (Lofgren 2014) geprägt und bezieht sich vor allem auf die öffentlich und dennoch abgekapselt agierenden sicherheitspolitischen Strukturen und Dienste in den USA, die vom EOP durch den National Security Council koordiniert werden. 7 Auf wissenschaftlicher Seite wird dies reflektiert durch eine konservativ geprägte Debatte um den sogenannten administrative state, eine Verwaltung, die weit mehr Einfluss nimmt, als von der Verfassung vorgesehen und die dabei von Gerichten, die zu viel Eingriff der Verwaltung in das tägliche Leben zulassen, nicht gebremst wird. Eine ausführliche Darstellung dieser Position ist Postell’s Buch „Bureaucracy in America“ (2017). 8 Scott Pruitt trat im Juli 2018 nach Korruptionsverdacht und massiven Vorwürfen über den Missbrauch öffentlicher Gelder nach etwas mehr als einjähriger Amtszeit zurück.

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Amtszeit Vorteile verschaffen. An anderer Stelle forderte er Polizisten auf, gefassten Verdächtigen beim Einstieg in ein Auto nicht mehr den Kopf zu schützen. Das letzte Beispiel mag unbedeutend klingen. Allerdings ist der offene Aufruf zum offensichtlichen Rechtsbruch vom obersten Vertreter eines Staates an seine Beamten keine Kleinigkeit, auch wenn es ‚nur‘ um die Vermeidung von Beulen geht. Das Beispiel zeigt vielmehr klar, in welche Richtung ein konsequentes Ignorieren der Funktionsprinzipien öffentlicher Verwaltung führen kann. Bert Rockmann fasst das so zusammen: „When independent and competent, the bureaucracy grounds policy in realism legally, politically, and evaluatively; provides and encourages expertise about options and implications for the future; and grants some measure of deference to technocratic choices“ (Rockman 2019, S. 1570). „What do we have to lose?“, fragt er weiter. „The answer comes twofold: the brains and experience with which to govern and quite possibly the rule of law itself.“ (Rockman 2019, S. 1571).

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Militär Herausforderungen demokratischer Kontrolle und das zivil-militärische Verhältnis in den USA Florian Böller

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Institutionelle Strukturen zur Kontrolle des Militärs innerhalb der US-Demokratie . . . . . . 3 Herausforderungen demokratischer Kontrolle des Militärs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Das Militär in den USA nimmt eine hervorgehobene Stellung in der Außen- und Sicherheitspolitik ein. Der vorliegende Beitrag stellt zunächst die verfassungsrechtlichen Prinzipien dar, die auch für den Bereich des Militärs eine demokratische Kontrolle im Rahmen von checks and balances vorsieht. Neben den institutionellen und gesetzlichen Strukturen untersucht der Beitrag drei Herausforderungen demokratischer Kontrolle: i) die Auseinandersetzungen um die war powers zwischen Präsident und Kongress, ii) die Verzahnung wirtschaftlicher, politischer und bürokratischer Akteure im sogenannten „militärisch-industriellen Komplex“, und iii) die Friktionen im zivil-militärischen Verhältnis. Es zeigen sich dabei eine in der Tendenz zunehmende Machtkonzentration bei der Exekutive, die Politisierung der Außen- und Sicherheitspolitik, die auch auf die zivilmilitärischen Beziehungen übergreift sowie die nach wie vor erhebliche politische und wirtschaftliche Bedeutung des Militärs für die Gesellschaft der USA insgesamt.

F. Böller (*) Fachbereich Sozialwissenschaften, TU Kaiserslautern, Kaiserslautern, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_42

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Schlüsselwörter

Militär · Exekutiv-legislative Beziehungen · Außen- und Sicherheitspolitik · Zivil-militärische Beziehungen · War powers

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Einleitung

Das Militär nimmt in der US-amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik eine zentrale Rolle ein. Neben wirtschaftlichen Ressourcen speist sich die hegemoniale Stellung der USA seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor allem aus der Vormachtstellung der US-Streitkräfte. Dies galt umso mehr nach dem Ende des OstWest-Konflikts 1991, als die bipolare Machtkonstellation auf internationaler Ebene einer unipolaren wich. Und trotz des relativen Machtverlusts durch den Aufstieg Chinas behaupten die USA im militärischen Bereich ihren Status als Supermacht. Im Jahr 2018 betrug der Verteidigungshaushalt 648 Milliarden US-Dollar. Damit investierten die USA fast so viel in ihre Verteidigung wie die acht nächstgrößten Militärmächte zusammen. Der Anteil der Verteidigungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt lag bei 3,2 Prozent – der höchste Wert nach Israel innerhalb der Gruppe demokratischer Systeme (Daten nach SIPRI 2019). Das US-amerikanische Militär ist zudem eine Armee im Einsatz: Keine andere Demokratie war bislang häufiger an kriegerischen Auseinandersetzungen beteiligt (Müller 2015). Aus dieser zentralen Rolle des US-Militärs ergeben sich weitreichende Herausforderungen für die demokratische Kontrolle der Streitkräfte. Dieser Aspekt ist aus normativer Perspektive besonders relevant: Die Streitkräfte verfügen über erhebliches Machtpotenzial und sollen eine zentrale Funktion des Staates übernehmen, nämlich den Schutz der Gesellschaft gegenüber äußeren Bedrohungen. Gleichzeitig gehört die zivile Kontrolle des Militärs durch demokratisch legitimierte Akteure zu den wesentlichen Merkmalen demokratischer Regime (Croissant und Kühn 2011, S. 18–23). Drei Herausforderungen demokratischer Kontrolle des Militärs sollen in diesem Beitrag näher untersucht werden. Erstens die Frage der checks and balances, insbesondere mit Blick auf die Kriegsvollmachten des Kongresses und damit die Auseinandersetzung darüber, welche Institution den Einsatz der Streitkräfte bestimmt und kontrolliert. Zweitens ergibt sich aus der schieren Größe des Militärs und den dafür nötigen Finanzmitteln die Frage, wie eng verzahnt politische, wirtschaftliche und militärische Interessen sind und inwiefern ein intransparenter und keiner ausreichenden demokratischen Kontrolle unterworfener „militärisch-industrieller Komplex“ entsteht. Schließlich muss drittens das zivil-militärische Verhältnis hinterfragt werden, etwa hinsichtlich des Einflusses von hochrangigen Militärs als Berater innerhalb der Politik sowie einer möglicherweise entstehenden Kluft zwischen Gesellschaft und Militär. Im Folgenden werden zunächst die verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Strukturen vorgestellt, in die das Militär eingebettet ist und aus denen sich die Bedingungen einer demokratischen Kontrolle der Streitkräfte ergeben. Daran an-

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knüpfend werden die genannten Herausforderungen demokratischer Kontrolle und zivil-militärischer Beziehungen für die USA analysiert.

2

Institutionelle Strukturen zur Kontrolle des Militärs innerhalb der US-Demokratie

Das Prinzip des limited government und die Furcht vor einer starken Zentralregierung, die zu den Konstruktionsprinzipien der US-Demokratie gehören, spiegeln sich auch in der historischen Entwicklung des Militärs in den USA wider. Waren doch stehende Heere, die von der Zentralregierung befehligt werden, maßgebliche Herrschaftsinstrumente autoritärer Regime in Europa, gegen die sich die Verfassungsväter der USA richteten (Stevenson 2006, S. 1). Daher müsse die Armee besonders wachsam kontrolliert werden. Gleichzeitig war den Verfassungsvätern der USA gerade in Anbetracht der Erfahrung des Unabhängigkeitskriegs klar, dass ein effizientes Militär zum Schutz der Gesellschaft notwendig sein würde. Alexander Hamilton, der auch an anderer Stelle die Notwendigkeit einer starken Exekutive anmahnte, betonte daher im 74. Federalist-Artikel, dass die Macht zur Kriegsführung in einer Hand liegen müsse: „(. . .) the direction of war most peculiarly demands those qualities which distinguish the exercise of power by a single hand“ (Hamilton et al. 2003, S. 452).

2.1

Verfassungsrechtliche Normen

Aus beiden Anforderungen – effizienter Führung der Streitkräfte und der Sorge vor einer Gefährdung der Freiheit – wird in der US-Verfassung einerseits ein klares Primat der Politik, also der zivilen Führung über die Streitkräfte einschließlich einer Kontrolle verschiedener Regierungszweige abgeleitet, sowie andererseits die Kommandogewalt bei der Exekutive verortet. Zunächst weist die Verfassung in Artikel 1, Abschn. 8 dem Kongress das Recht zu, den Krieg zu erklären. Diese power to declare war ist der zentrale Bezugspunkt der Kriegsvollmachten des Kongresses und begründet dessen weitreichende Einflussmöglichkeiten auf den Bereich des Militärs. Die Verfassung legt darüber hinaus fest, dass die Budgethoheit (power of the purse) ebenfalls beim Kongress liegt und dieser das Recht habe, „Armeen aufzustellen und zu unterhalten“. Weitere Bestandteile der enumerated powers des Kongresses sind das Recht, „eine Flotte zu bauen und zu erhalten“, die „Reglements für Führung und Dienst der Land- und Seestreitkräfte zu erlassen“ sowie „Aufbau, Bewaffnung und Ausbildung der Miliz“ zu regeln. Aus diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben ergeben sich eine Vielzahl von Möglichkeiten der Legislative, um Ausstattung, Einsatz und Regeln für die Streitkräfte festzulegen und die Einhaltung dieser Vorgaben, zum Beispiel im Rahmen der Fachausschüsse für die Streitkräfte, zu kontrollieren (als Teil der oversight powers des Kongresses; Campbell und Auerswald 2015).

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Der zweite Artikel der US-Verfassung befasst sich mit den Kompetenzen des Präsidenten. In Abschn. 2 heißt es hier: „Der Präsident ist Oberbefehlshaber der Armee und der Flotte der Vereinigten Staaten und der Miliz der Einzelstaaten.“ Damit wird der Exekutive die Kommandogewalt über das Militär zugewiesen. Außerdem bezieht sich das ebenfalls in Abschn. 2 verbriefte Recht zur Nominierung wichtiger Ämter auch auf den Bereich der Streitkräfte. Wie auch bei anderen zentralen Regierungsposten, etwa Kabinettsmitgliedern oder Botschaftern, müssen diese Ernennungen durch den Senat mittels advise and consent-Verfahren (mit einfacher Mehrheit) bestätigt werden. Entsprechend der Grundstruktur der republikanischen Ordnung in den USA sind die verfassungsrechtlichen Regelungen auch im Bereich des Militärs damit auf gegenseitige Kontrolle durch machtbewusste Institutionen ausgelegt. Präsident und Kongress konkurrieren vor diesem Hintergrund immer wieder um die Grenzen ihrer Macht über militärische Belange (wie auch in anderen Feldern der Außen- und Sicherheitspolitik, Lindsay 1994). Der Oberste Gerichtshof hat bisweilen auch für den außen- und sicherheitspolitischen Bereich wichtige Urteile getroffen, aber keine abschließende Kompetenzzuordnung vorgenommen und mehrfach Entscheidungen als political question abgelehnt (Henkin 1996).

2.2

Gesetzliche Regelungen und Strukturreformen der Militärorganisation

Die gegenwärtige Organisation des Militärs besteht aus den vier Teilstreitkräften, der Army, Navy, Air Force und des Marine Corps, die dem Verteidigungsministerium unterstellt sind. Die Küstenwache gehört dagegen organisatorisch zum Heimatschutzministerium (Department of Homeland Security). Daneben wurde ein eigenes Department of Veteran Affairs eingerichtet, das insbesondere die Gesundheitsversorgung der Veteranen gewährleisten soll. Diese in Umfang und Aufgaben weitgefächerte bürokratische Struktur des Militärs ist Resultat der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und des nach 1945 einsetzenden Ost-West-Konflikts. Der National Security Act von 1947 stellte den wichtigsten gesetzlichen Reformschritt der Militärorganisation seit der Unabhängigkeitserklärung dar. Mit dem Gesetz sollte eine stärkere Zentralisierung der Verteidigungspolitik sowie eine bessere Koordinierung der Teilstreitkräfte auf den Weg gebracht werden. Zu diesem Zweck schuf das Gesetz das Amt eines Verteidigungsministers, der einem ebenfalls neu geschaffenen National Military Establishment vorstand. Dieses sollte eine effizientere Koordinierung der Teilstreitkräfte gewährleisten. Daneben wurde mit dem Gesetz auch die Gründung des Auslandsgeheimdienstes CIA (Central Intelligence Agency) beschlossen. Der National Security Act etablierte zudem zwei zentrale Beratungsgremien des Präsidenten. Der National Security Council soll die Koordination der Militärzweige sowie Geheimdienste gewährleisten und dem Präsidenten Expertise bereitstellen, um dadurch auch die politische Kontrolle durch die Exekutive gegenüber dem Militär zu stärken. Das zweite seit 1947 institutionalisierte Gremium ist der Vereinigte Generalstab (Joint Chiefs of Staff), der aus den leitenden

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Generälen der Teilstreitkräfte besteht. Dieser dient Präsident und Verteidigungsminister als wichtigste militärische Beratungsinstanz (Zegart 1999). Bereits 1949 wurde der National Security Act durch ein amendment reformiert und so ein zentrales Verteidigungsministerium geschaffen, in dem die bisherigen Ministerien aufgingen, und der Verteidigungsminister in seinen Kompetenzen gestärkt wurde (Bruder 2012, S. 119 f.). Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erfolgte zwar eine Demobilisierung der Streitkräfte, gleichzeitig wurden aber Militär und Rüstungskapazitäten in einem erheblichen Maß beibehalten, was ein Novum in der US-Militärgeschichte im Vergleich zu früheren Konflikten darstellte. Insofern wurde in der Anfangsphase des Kalten Kriegs das alte Paradigma der zeitweisen „mobilization“ durch eine „force in being“ abgelöst (Janowitz und Moskos 1979, S. 177). Insgesamt wurde mit dieser ersten Reformperiode nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die bis dahin bestehende Fragmentierung, dezentrale Organisation und relativ geringe Professionalisierung des US-Militärs in Friedenszeiten (vgl. Rosati und Scott 2011, S. 159) durch einen massiven Ausbau von Bürokratie, zentraler Koordination durch die Exekutive und einen Bedeutungszuwachs abgelöst, der sich auch im Umfang des Militärbudgets widerspiegelt. Der zweite wichtige Reformschritt wurde unter Führung von Präsident Dwight D. Eisenhower 1958 angestoßen. Der Präsident und ehemalige Oberbefehlshaber der US-Armee in Europa hatte in seiner State of the Union Address angesichts der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion eine Neuorganisation des Militärs angemahnt. Rivalitäten zwischen einzelnen Teilen der Streitkräfte und ineffiziente bürokratische Strukturen sollten ein Ende haben. Allerdings stießen Eisenhowers Reformideen im Demokratisch kontrollierten Kongress auf Widerstand, da die Legislative ihren Einfluss auf das Militär gegenüber der Exekutive schwinden sah. Der daraufhin zwischen Weißem Haus und Kongress vereinbarte Kompromiss mündete im Department of Defense Reorganization Act von 1958. Dieser stärkte die Stellung des Verteidigungsministers, z. B. mit Blick auf die Verwendung der Finanzmittel und durch einen Ausbau der zivilen Strukturen im Pentagon. Insgesamt konnte der Präsident vor dem Hintergrund eines Gefühls der nationalen Bedrohung eine weitere Stärkung der Exekutive als Prinzipal des Militärs gegenüber dem Kongress durchsetzen. Die Erfahrungen des Vietnamkriegs und anderer militärischer Fiaskos, etwa die gescheiterte Befreiung von Geiseln in Teheran oder der Bombenanschlag auf US-Marines in Beirut (Roman und Tarr 1998, S. 98), erhöhten den Reformdruck für Kongress und Administration spätestens seit Anfang der 1980er-Jahre erneut. Ergebnis der Reformdiskussionen war der Goldwater-Nichols Department of Defense Reorganization Act von 1986 (Locher 2001). Dieser zielte einerseits auf eine weitere Stärkung des Vorsitzenden des Vereinigten Generalstabs, der nun als zentraler Berater des Präsidenten fungierte, wodurch die Rolle der einzelnen Chiefs of Staff der Teilstreitkräfte in dem Gremium herabgestuft wurde. Zudem straffte das Gesetz die militärische Kommandokette. Die regionalen Kommandeure (Combatant Commander aufgeteilt in sechs Weltregionen) sowie die funktionalen Kommandeure (Nuklearstreitkräfte, Transport, Spezialeinheiten, Joint Forces) waren nun direkt

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dem Verteidigungsminister und dem Präsidenten unterstellt und nicht mehr der Leitung ihrer jeweiligen Teilstreitkräfte. Gleichzeitig beharrte der Kongress darauf, dass der Generalstab keine direkte Kommandogewalt gegenüber den Streitkräften ausüben durfte, und betonte damit die zivile Autorität in der Führung des Militärs (Bruder 2012, S. 128). Mit Blick auf die Entwicklung der Militärorganisation nach 1945 bleibt festzuhalten, dass die Reformen Ergebnis von Aushandlungsprozessen zwischen Präsident und Kongress waren, bei der sich in der Tendenz vor allem die Exekutive ihren stärkeren Einfluss auf das Militär in Folge mehrerer Zentralisierungsschübe sichern konnte. Gleichzeitig wurde das Militär mit starken regionalen Kommandeuren und einem einflussreichen Generalstab an zentralen Stellen des außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungsprozesses verankert.

3

Herausforderungen demokratischer Kontrolle des Militärs

3.1

Exekutive versus Legislative und die Frage der Kriegsvollmachten

Ebenso wie der Bereich der Militärorganisation ist die Frage der Kriegsvollmachten, also welcher Zweig der Regierung über die Entsendung von Streitkräften in bewaffnete Konflikte entscheidet, vom Ringen zwischen Exekutive und Legislative gekennzeichnet (Fisher 2004). Neuere Entwicklungen haben die Relevanz dieser Frage weiter erhöht: Dazu zählt zum einen das Aufkommen humanitärer Interventionen und begrenzter Militäreinsätze unterhalb der Schwelle traditioneller zwischenstaatlicher Kriege nach 1991. Die USA sind dabei häufiger in kriegerische Auseinandersetzungen involviert als jede andere Demokratie (Müller 2015). Zum anderen haben technologische Entwicklungen wie der vermehrte Einsatz von Lenkwaffen und das Aufkommen autonomer Waffensysteme die Kriegseinsätze grundsätzlich verändert und stellen aus diesem Grund neue Anforderungen an die demokratische Kontrolle (Sauer und Schörnig 2012). Aus verfassungsrechtlicher Perspektive ist die Frage der Kriegsvollmachten eigentlich klar geregelt: Der Kongress erklärt den Krieg, der Präsident ist Oberbefehlshaber der Truppen. Der Blick auf die Praxis der Außen- und Sicherheitspolitik zeigt jedoch, dass die war powers des Kongresses einerseits von Präsidenten häufig ignoriert und andererseits von den Mitgliedern der Legislative bisweilen willfährig an die Exekutive abgetreten wurden. Seit 1787 fanden mehr als 150 Kriegseinsätze von US-Streitkräften statt. Lediglich fünf Mal wurde dabei offiziell ein Krieg erklärt und nur 13 größere Militäreinsätze wurden durch den Kongress seit dem Ende des Vietnamkrieges explizit autorisiert (Torreon und Plagakis 2019). Im Falle des Vietnamkriegs stellte der Kongress Präsident Johnson mit der Gulf of Tonkin-Resolution 1964 eine Blankovollmacht aus, die in einen über 11 Jahre andauernden Konflikt mündete. Erst als sich die öffentliche Stimmung angesichts steigender Opferzahlen auf amerikanischer Seite wandelte, begann der Kongress sich gegen den Präsidenten zu positionieren und auf ein Ende des Krieges hinzu-

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wirken. Am Ende dieser Auseinandersetzung stand die Verabschiedung der War Powers Resolution von 1973 (Zelizer 2010). Diese sollte die Kriegsvollmachten der Legislative konkretisieren und eine Vetomacht des Kongresses über Kriegseinsätze garantieren. Der Präsident ist demnach außer im Falle eines direkten Angriffes verpflichtet, die Zustimmung der Legislative – entweder in Form einer Kriegserklärung oder einer spezifischen Autorisierungsresolution – für einen Kampfeinsatz einzuholen. Ohne diese Zustimmung der Legislative muss der Einsatz nach 60 Tagen beendet sein, sofern der Kongress die Frist nicht per Gesetz verlängert hat oder aufgrund eines Angriffs nicht in der Lage ist, zusammen zu treten. Der Präsident kann die Frist allerdings um maximal 30 Tage verlängern. Zudem sieht die War Powers Resolution klare Konsultations- und Berichtspflichten gegenüber dem Kongress und ein – allerdings verfassungsrechtlich umstrittenes – legislatives Rückholrecht vor (vgl. Congressional Research Service 2019a). Wenngleich die War Powers Resolution angesichts zentraler Konstruktionsfehler – etwa das 60 bis 90 Tage währende Schlupfloch für nicht-autorisierte Kriegseinsätze oder die unklare Definition von Kampfhandlungen (hostilities), deren Vorliegen die Vorgaben der War Powers Resolution erst auslöst – den Kongress kaum stärken konnte, bleiben der Legislative direkte und indirekte Kontrollmöglichkeiten, um sich in der militärischen Interventionspolitik dem Präsidenten entgegenzustellen und diese im Vorhinein oder im Verlauf von Konflikten zu beeinflussen (Howell und Pevehouse 2007). Dazu zählen neben der Autorisierungsentscheidung, das Budgetrecht, gesetzgeberische Maßnahmen, öffentliche Kritik und Debatten über Einsätze sowie Anhörungen im Kongress (vgl. Tab. 1). Ob der Kongress allerdings von diesen Mitteln Gebrauch macht, ist vor allem eine politische Frage. Während die ältere Forschung zumeist von einer uniformen Unterordnung der Legislative gegenüber dem Präsidenten ausging (Fisher 2004), zeigen neuere Studien, dass die Positionierung der Legislative in der militärischen Außen- und Sicherheitspolitik von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst wird (Böller und Müller 2018). Dazu zählt zum einen die parteipolitische Zusammensetzung des Kongresses. Mitglieder der eigenen Partei folgen dem Präsidenten auch in Entscheidungen über Krieg und Frieden wesentlich häufiger als Repräsentanten und Senatorinnen der Opposition. Zum anderen übt die öffentliche Meinung einen großen Einfluss aus. Kippt die innergesellschaftliche Stimmung zu einem KriegsTab. 1 Kontroll- und Einflusswege der war powers des Kongresses ExAnte ExPost

Direkt • (Veto der) Autorisierung • (keine) Mittelzuweisung • Rückholung der Truppen • Bewilligung oder Streichung der Finanzmittel

Indirekt • Präskriptive Gesetzgebung (z. B. zur Verhinderung von Einsätzen) • Limitierung präsidentieller Politikoptionen (Abzugszeitpläne; Vorgaben zum Einsatz von Truppen) • Öffentliche Kritik oder Unterstützung u. a. durch Debatten, nicht-bindende Resolutionen • Anhörungen zur Intervention in Kongressausschüssen

Quelle: Eigene Darstellung nach Böller (2017)

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einsatz in Kritik und Ablehnung, wie etwa in der Endphase des Vietnamkriegs oder des Irakkriegs ab 2005, steigen die elektoralen Anreize für die Mitglieder des Kongresses sich gegen den Präsidenten zu stellen und auf ein Ende unpopulärer Kriegseinsätze zu drängen (Jeong 2019). Die öffentliche Meinung und die Haltung der Kongressmitglieder werden dabei auch von materiellen und vor allem menschlichen Verlusten beeinflusst. Hinzu kommt, dass die Frage, welche Ziele ein Einsatz verfolgt, für Zustimmung oder Ablehnung im Kongress bedeutsam ist. Wenn Kongressmitglieder der Ansicht sind, dass ein bestimmter Einsatz nicht den nationalen Interessen der USA dient, steigen die Anreize sich gegen den Präsidenten zu stellen. Dies war etwa beim Somaliaeinsatz 1995 der Fall und erklärt die vehemente Kritik aus den Reihen der Republikanischen Partei an den humanitären Interventionen Präsident Clintons auf dem Balkan, in Haiti oder zuletzt in Libyen unter Präsident Obama (Böller 2017). Blickt man auf die Interventionen nach 1990 muss die Frage der demokratischen Kontrolle von Militäreinsätzen daher differenziert beurteilt werden. Die Kriege im Irak 1991, in Afghanistan ab 2002 und im Irak ab 2003 hat der Kongress explizit autorisiert und Kritik an letzterem Einsatz wurde erst vor dem Hintergrund steigender Opferzahlen und der Delegitimierung der ursprünglichen Kriegsgründe (Massenvernichtungswaffen) laut (Kriner 2010). Die nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 verabschiedete Authorization for Use of United States Armed Forces wurde als rechtliche Grundlage nicht nur für den Afghanistankrieg, sondern auch für den global geführten Einsatz gegen den internationalen Terrorismus genutzt. Auch der Kampfeinsatz in Syrien gegen den „Islamischen Staat“ ab 2014 wurde auf Grundlage dieser Resolution geführt. Der Kongress hat sich gerade mit Blick auf den Global War on Terrorism vor dem Hintergrund breiter öffentlicher Unterstützung und einer überparteilich geteilten Bedrohungswahrnehmung dem Präsidenten weitgehend untergeordnet (Müller 2019). Im Vergleich dazu hat sich der Kongress bei verschiedenen humanitären Interventionen deutlich selbstbewusster verhalten. Insbesondere bei der SomaliaIntervention zeigte der Kongress Zähne, indem er über das Haushaltsrecht ein Ende des Kampfeinsatzes erzwang. Gleichwohl kam es häufig nicht zu bindenden gesetzgeberischen Maßnahmen. Als Ursache hierfür können fehlende elektorale Anreize für eine klare Positionierung der Legislative ausgemacht werden. Begrenzte Einsätze, die mittels moderner Kriegstechnologien geführt werden, senken die Risiken für eigene Soldaten und damit eine der wichtigsten Faktoren für legislative Kritik. Das gilt gerade für den Einsatz von Kampfdrohnen, die in der Ära der internationalen Terrorismusbekämpfung immer wichtiger geworden sind. Der Drohnenkrieg unterliegt dabei in weit geringerem Ausmaß einer legislativen Kontrolle und wird weitgehend autonom durch die Exekutive gesteuert. Unter Präsident Trump wurden darüber hinaus die Einsatzregeln für Kampfdrohnen im Vergleich zur Obama-Administration erheblich gelockert (Müller 2019, S. 110). Trotz vereinzelter gesetzgeberischer Initiativen und Anhörungen in den Geheimdienst- und Streitkräfteausschüssen zeigt sich an dieser Stelle insgesamt ein erheblicher blinder Fleck der demokratischen Kontrolle von Militäreinsätzen.

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3.2

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Militärisch-Industrieller Komplex

Eine zweite Herausforderung für die demokratische Kontrolle des Militärs in den USA ergibt sich aus der Verbindung zwischen der schieren Größe der Streitkräfte auf der einen Seite, sowohl in Bezug auf deren Personalstärke als auch hinsichtlich der materiellen Aufwendungen und der damit einhergehenden wirtschaftlichen Bedeutung der Rüstungsindustrie, insbesondere mit Blick auf die dort angesiedelten Arbeitsplätze: Das Pentagon ist mit 744.005 zivilen Angestellten und 1.297.902 Militärangehörigen der größte Arbeitgeber der USA (Stand 2018; siehe Congressional Research Service 2019b); 2018 wurden über 600 Mrd. US-Dollar und damit 9 Prozent des allgemeinen Staatshaushalts für Verteidigung ausgegeben. Die USRüstungsindustrie ist auch aus internationaler Perspektive führend: 13 der 25 größten Rüstungsunternehmen sind in den USA angesiedelt. Rüstungsexporte aus den USA machten 2018 insgesamt 38 % der Waffengeschäfte weltweit aus (SIPRI 2019). Die Sorge, dass aus dieser Verbindung partikulare Interessen entstehen und in der Politik einseitig repräsentiert werden, ist nicht neu. Präsident Eisenhower brachte sie mit der Warnung vor einem „militärisch-industriellen Komplex“ (Eisenhower 1961) auf eine griffige Formel. Während Eisenhower die Notwendigkeit eines großen Verteidigungshaushalts betonte, warnte er gleichzeitig vor der Verbindung aus militärischem Establishment und Rüstungsindustrie. Demokratische Institutionen und eine wachsame Gesellschaft müssten diese Einflüsse in Schranken weisen, da andernfalls die Gefahr bestünde, dass Freiheitsrechte und demokratische Prozesse Schaden nehmen würden. Bei der Analyse des militärisch-industriellen Komplexes stehen insbesondere zwei Aspekte im Fokus: Erstens wird gefragt, wie und warum sich bestimmte Interessengruppen im Bereich der Rüstungspolitik durchsetzen können. Dabei geht die neuere Forschung von einem differenzierteren Akteursspektrum aus als der ursprüngliche Begriff des militärisch-industriellen Komplexes andeutete (Cox 2014). So zählen zu den maßgeblichen Akteuren neben Industrie und Bürokratie auch der Kongress und gesellschaftliche Netzwerke, etwa Lobbygruppen und Thinktanks, aber auch Forschungseinrichtungen. Diese Akteure verfügen jeweils über spezifische Verbindungen – sowohl hinsichtlich gemeinsamer materieller Interessen, als auch in Bezug auf die ideologische Orientierung und institutionelle Zugangschancen. In diesem Zusammenhang wird etwa auf die „revolving door“ zwischen Industrie und Bürokratie verwiesen (POGO 2018) oder auf die spezifischen Interessen einflussreicher Kongressmitglieder, wie Henry „Scoop“ Jackson (D-WA), der in Zeiten des Ost-West-Konflikts aufgrund seines vehementen Eintretens für Rüstungsaufträge auch als „Senator von Boeing“ verspottet wurde (Sapolsky et al. 2014, S. 140). Über anekdotische Beispiele hinaus argumentieren politikwissenschaftliche Studien, dass die institutionelle Struktur in der Rüstungspolitik zu einem Kontrollverlust demokratisch legitimierter Instanzen gegenüber Bürokratie und Industrie beitrage (Avant 1996). Zu beachten ist gleichwohl, dass sich die Forschung keineswegs einig ist, inwiefern die Interessengruppen der Industrie tatsächlich ihre materiellen Ressourcen in übermäßigen politischen Einfluss münzen können (Skonieczny

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Abb. 1 Militärausgaben der USA 1949–2018 (gesamt, anteilig am BIP). (Quelle: Eigene Darstellung nach Daten von SIPRI (2019). Konstante Wechselkurse, Basisjahr 2017)

2017). Trotz der großen wirtschaftlichen Bedeutung von Rüstungsindustrie und Sicherheitsdienstleistern sind deren Lobbyingaktivitäten im Vergleich zu anderen Industriezweigen nicht dominant: Für direktes Lobbying gab die Rüstungsindustrie 2019 circa 84 Millionen US-Dollar aus und damit wesentlich weniger als die in diesem Ranking führende Pharmaindustrie mit circa 228 Millionen US-Dollar (Zahlen nach OpenSecrets.org 2019). Ein zweiter Strang der Forschung zoomt von den einzelnen Akteuren weg und betrachtet die gesellschaftlichen Auswirkungen der im Vergleich zu anderen Demokratien außerordentlich hohen Verteidigungsausgaben. Diskutiert wird etwa, inwiefern das Militärbudget sozialpolitische Ausgaben verdrängt – also die Frage guns or butter. Während einige Studien argumentieren, dass höhere Militärausgaben zu geringeren wohlfahrtsstaatlichen Leistungen führen (Bove et al. 2017; kritisch: Narizny 2003), betont etwa Williams (2019) den mit Rüstungsausgaben verbundenen arbeitsmarktpolitischen Effekt (guns yield butter). In jedem Fall zeigt die Makroperspektive auf die rüstungspolitischen Zyklen der USA, dass die Verteidigungsausgaben schwanken (vgl. Abb. 1) und daher die These einer uniformen Wirkung eines militärisch-industriellen Komplexes wenig überzeugend ist. Insgesamt offenbaren sich aus der Perspektive eines militärisch-industriellen Komplexes relevante gesellschaftliche Problemfelder. Auch wenn der Einfluss von Lobbyaktivitäten der Rüstungsindustrie im Vergleich zu anderen Industriezweigen nicht außergewöhnlich erscheint, ist die Verzahnung zwischen organisierten Interes-

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sen, Bürokratie und Kongress offenkundig. Gleichzeitig sollten auch die nichtökonomischen Auswirkungen eines permanenten Kriegszustands, in dem sich die USA im Zuge des seit 2001 andauernden „Krieg gegen den Terror“ befinden, nicht unterschätzt werden. Auf diesen Zusammenhang wies auch Präsident Barack Obama hin, als er 2013 vor der UN-Generalversammlung ein Ende des perpetual war footing der USA forderte und Änderungen in der Interventions-, Gefangenen- und Geheimdienstpolitik ankündigte (Obama 2013). Freilich hatte der 44. Präsident die massive Ausweitung des Sicherheitsstaats durch moderne Überwachungstechniken oder die Privatisierung militärischer Aufgaben mitgetragen und konnte sein Ziel, den permanenten Kriegszustand der USA zu beenden, aufgrund des von Republikanern und Demokraten geteilten sicherheitspolitischen Konsenses nur begrenzt realisieren. Dass diese Auswirkungen eines modernen „militärisch-industriellen Komplexes“ ein Problem für die Balance von Demokratie und Sicherheit darstellen, kann indes kaum bestritten werden.

3.3

Zivil-militärische Beziehungen

Während das Primat der zivilen Führung gegenüber dem Militär gerade in Autokratien oder in Transformationsphasen junger Demokratien als kritisch gelten muss, sind die USA von einem militärischen Coup weit entfernt. Das bedeutet jedoch nicht, dass die zivil-militärischen Beziehungen in der ältesten Demokratie spannungsfrei sein würden. In diesem Kontext sind zwei Werke zentral, die nachfolgenden Studien als Referenzpunkt dienten: Samuel Huntingtons „The Soldier and the State“ (1957) und Morris Janowitz „The Professional Soldier“ (1960). Beide Studien folgen einer kulturalistischen Perspektive, welche das Verhältnis Gesellschaft und Militär mit Blick auf zugrunde liegende Normen und Sozialisierungsprozesse ausleuchtet (Croissant und Kühn 2011, S. 30). Beide sind auch an der gleichen Fragestellung interessiert: Wie eine zivile Kontrolle des Militärs sichergestellt werden kann, die gleichzeitig auch funktionale Anforderungen der Herstellung äußerer Sicherheit erfüllt. Für Huntington kann das zivile Primat nur durch eine „objektive Kontrolle“ gewährleistet werden (Huntington 1957, S. 83). Ausschlaggebend ist hierfür eine klare Trennung von militärischer und gesellschaftlicher Funktionssphäre, wobei das Militär die Autorität der zivilen Führung akzeptiert und politisch neutral seine professionellen Aufgaben verfolgt (Croissant und Kühn 2011, S. 31). Sowohl während des Kalten Kriegs als auch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts kam es jedoch immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen politischer Führung und dem Militär über sicherheitspolitische Strategien und die sich wandelnden Aufgaben und Anforderungen an die Streitkräfte. Diese nahmen nach dem Ende der bipolaren Systemkonfrontation in der Tendenz zu, auch weil sich nun begrenzte Militäreinsätze häuften und eine übergeordnete Bedrohungswahrnehmung fehlte. So wurden für alle Präsidenten seit Clinton signifikante Krisen im zivil-militärischen Verhältnis konstatiert (Groitl 2015). Als besonders schwierig galt das zivil-militärische Verhältnis unter Präsident Bill Clinton. Konflikte traten hier insbesondere in der Frage der Aufhebung der Diskri-

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F. Böller

minierung von Homosexuellen im Militär auf, für die sich Clinton einsetze, die das Militär aber weitgehend ablehnte. Die Auseinandersetzung führte zu einer Niederlage des Präsidenten, denn der Kompromiss des „Don’t Ask, Don’t Tell“ entsprach nicht den Wahlkampfforderungen Clintons. Die Formel bedeutete, dass homosexuelle Armeeangehörige in den Streitkräften dienen können, solange sie sich nicht zu ihrer sexuellen Präferenz bekannten, während umgekehrt diese nicht erfragt wurde – was die Entlassung tausender Soldatinnen und Soldaten nicht verhinderte. „Don’t Ask, Don’t Tell“ wurde erst unter Präsident Barack Obama aufgehoben. Mit dem unter Trump erlassenen Bann von Transgender-Personen im Militär erfolgte ein erneut kontrovers diskutierter Richtungswechsel. Konflikte zwischen Militär und Administration wurden darüber hinaus durch die Zunahme humanitärer Interventionen seit Anfang der 1990er-Jahre entfacht. Selbstbewusste Generäle, wie etwa der Vorsitzende des Vereinigten Generalstabs, Colin Powell, scheuten sich nicht, öffentlich Kritik an den Einsätzen in Somalia, Haiti und Bosnien zu üben. Die Kritik der Militärs kann als Verletzung der Norm ziviler Autorität interpretiert werden, versuchten sie doch die politische Entscheidungsfindung über Missionen durch Lageeinschätzungen entsprechend eigener Präferenzen zu beeinflussen (Bruder 2012, S. 201). Allerdings argumentiert etwa Deborah Avant (1996, S. 77), dass diese Spannungen nicht ohne eine ebenfalls kritische Positionierung des Kongresses gegenüber der Interventionspolitik Clintons zu verstehen ist. Auch in der Ära nach den Anschlägen vom 11. September 2001 offenbarten sich zivil-militärische Friktionen. Präsident Bushs Verteidigungsminister Donald Rumsfeld ignorierte zum Beispiel die Empfehlungen hinsichtlich der für den Irakkrieg benötigten Truppen. Fehlende politisch-militärische Planung für die Phase nach dem Sturz des Regimes Saddam Husseins schufen dann erst den Nährboden für Aufstandsbewegungen und Bürgerkrieg (Groitl 2015, S. 69). Die überparteiliche Iraq Study Group, die der Kongress zur Strategierevision 2006 einsetzte, stellte unmissverständlich fest: „The U.S. military has a long tradition of strong partnership between the civilian leadership (. . .). That tradition has frayed, and civil-military relations need to be repaired“ (Baker und Hamilton 2006, S. 52). Präsident Barack Obamas Verhältnis zur Militärführung kann ebenfalls als spannungsreich bezeichnet werden. Obama musste schon in den ersten beiden Amtsjahren wichtige Weichenstellungen über die Fortsetzung der Einsätze im Irak und in Afghanistan treffen. Dabei ergaben sich die Konflikte aus den kaum zu vereinbarenden Anforderungen zwischen einer kriegsmüden Öffentlichkeit und den aus militärischer Perspektive wahrgenommenen Notwendigkeiten des Kriegsschauplatzes. Die Obama-Administration sah sich durch die Militärführung unter Druck gesetzt, die Informationen im Vorfeld der Entscheidung über eine Truppenerhöhung in Afghanistan 2009 an die Presse gegeben hatte. Die Affäre um despektierliche Äußerungen aus dem Umfeld des Afghanistan-Kommandeurs Stanley McChrystal, den Obama daraufhin entließ, liefert einen weiteren Hinweis für Friktionen im zivilmilitärischen Verhältnis (Groitl 2015, S. 653). Im Vergleich dazu stellen sich in der Ära Trump neue Herausforderungen für die zivil-militärischen Beziehungen. Nach Amtsantritt Trumps wurden gleich mehrere zentrale Positionen im Weißen Haus mit (ehemaligen) Generälen besetzt: Darunter

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Verteidigungsminister James Mattis (Januar 2017–Dezember 2018), Sicherheitsberater H.R. McMaster (Februar 2017–April 2018, der den nach kurzer Zeit entlassenen Michael Flynn ersetzte) sowie Chief of Staff John Kelly (Juli 2017–Januar 2019). Wenngleich auch Präsidenten vor Trump Militärs in hochrangige zivile Positionen im Weißen Haus beriefen, erzeugte Trumps Personalpolitik die Sorge vor einer Politisierung des Militärs (Popescu 2018), gerade angesichts der vorhanden Hyperpolarisierung in Washington. Problematisch sind diese Entwicklungen im Sinne der von Huntington angemahnten Trennung von Politik und Militär. Auf der einen Seite versucht Trump das Prestige ehemaliger Militärs zu nutzen, die in ihrer neuen Rolle aber keine „neutrale“ Funktion ausfüllen, sondern politisch handeln müssen (Robinson 2018). Andererseits nimmt Trump eine Politisierung in Kauf, in dem etwa Militärangehörige zur Unterstützung seiner Präsidentschaft aufgefordert werden oder die Begnadigung von Offizieren, die wegen Kriegsverbrechen vor Militärgerichten verurteilt wurden, durchgesetzt wird (Exum 2017; Shane 2019). Hinzu kommen Hinweise auf Versuche von Mitarbeitern Trumps (darunter Kelly und Mattis) die Entscheidungsfindung Trumps zu manipulieren, um traditionelle Ziele der US-Außen- und Sicherheitspolitik vor dem Präsidenten zu schützen (Kitfield 2017) – solche Praktiken widersprechen klar Huntingtons Ideal. Neben Huntingtons „Soldier and the State“ bildet Morris Janowitz, „The Professional Soldier“ (1960) einen zweiten zentralen Referenzpunkt für die Herausforderungen der zivil-militärischen Beziehungen in den USA. Anders als Huntington ging Janowitz jedoch nicht davon aus, dass eine klare Trennung der militärischen und gesellschaftlichen Sphären dem Ziel ziviler Suprematie zuträglich sei. Auf der einen Seite wirke ein funktionaler Modernisierungsdruck auf das Militär ein, das sich professionalisiert (Janowitz und Moskos 1979, S. 177). Gleichzeitig wird das Militär der zivilen Seite immer ähnlicher und der militärische Einfluss auf das Politische steigt. Um den Primat der Politik zu sichern, müsse eine enge Einbindung des Militärs in die Gesellschaft erfolgen. Für Janowitz liegt dabei der Schlüssel in gemeinsamen Werten, die sowohl Gesellschaft als auch Militär teilen (Janowitz 1960, S. 418). Empirische Studien zu Werten und Präferenzen der Streitkräftemitglieder in den USA haben jedoch für die Phase nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eine Differenz zwischen Militär und Gesellschaft identifiziert, auch wenn sich die Forschung über Ausmaß und Auswirkungen uneins ist (Brooks 2019). Drei verschiedene Dimensionen dieses „gaps“ lassen sich hierbei unterscheiden (vgl. RahbekClemmensen et al. 2012). Erstens existieren unterschiedliche Teilkulturen im Militär im Vergleich zur Gesamtgesellschaft. Auf ein steigendes Misstrauen und gar eine Antipathie von Militärangehörigen gegenüber dem gesellschaftlichen Mainstream hat nach dem Ende des Kalten Kriegs zuerst Thomas Ricks (1997) hingewiesen. Breiter angelegte Befragungen innerhalb der Streitkräfte haben diese kulturelle Diskrepanz zwischen Werteeinstellungen der Gesellschaft und des Militärs teilweise bestätigt (Szayna et al. 2007). Neben kulturellen Differenzen konnten zweitens auch Unterschiede hinsichtlich sozio-demografischer Faktoren und politischen Einstellungen festgestellt werden. Militärangehörige stammen dabei häufiger aus dem Süden der USA (Reynolds und Shendruk 2018) und sind eher konservativer, was sich in einer über-

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Abb. 2 Vertrauen in das Militär im Vergleich zu den drei Regierungszweigen in den USA (1973–2019). (Quelle: Eigene Darstellung nach Daten von Gallup (2019). Antworten zusammengenommen jeweils für „quite a lot (of trust)“ und „a great deal (of trust)“; zwischen 1973 und 1991 keine Werte für Präsident vorhanden)

durchschnittlichen Parteipräferenz für die Republikaner widerspiegelt (Szayna et al. 2007, S. 84). Drittens gibt es signifikante Unterschiede hinsichtlich der Präferenzen zu spezifischen außen- und sicherheitspolitischen Themen, insbesondere in der Frage des Einsatzes von Gewalt – wobei die militärische Elite Kriegseinsätzen skeptischer gegenüber steht als die zivile Führung (Feaver und Gelpi 2004, S. 184). Trotz dieser Unterschiede zwischen Militär und Gesellschaft zeigen Umfragen, dass die US-amerikanische Öffentlichkeit den Streitkräften weiterhin großes Vertrauen entgegenbringt (vgl. Abb. 2). Das Militär bleibt damit vertrauenswürdiger als die drei Regierungszweige Kongress, Präsident und Oberster Gerichtshof. Dies deutet daraufhin, dass die oben beschriebenen Unterschiede bislang keinen disruptiven Effekt auf die zivil-militärischen Beziehungen erkennen lassen.

4

Fazit

Der vorliegende Beitrag hatte zum Ziel, die Herausforderungen demokratischer Kontrolle gegenüber dem Militär zu analysieren, um damit Dynamik und politische Prozesse der zivil-militärischen Beziehungen in den USA einzuordnen. Insgesamt zeigt sich, dass die checks and balances auch in diesem Politikfeld wirksam sind. Es

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253

bleibt aber auch festzustellen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg mehrere Zentralisierungsschübe und die fortschreitende Verankerung des Militärs in den außenpolitischen Entscheidungsapparat insbesondere die Exekutive gestärkt haben. Dieser Zuwachs exekutiver Macht ist zwar keineswegs uniform und wird immer wieder von legislativer Gegenmacht durchbrochen. Dabei kommen auch politikfeldspezifische Unterschiede zum Tragen: Der Kongress kann seinen Einfluss bei der Rüstungspolitik stärker geltend machen als in der militärischen Interventionspolitik. Auch darf nicht übersehen werden, dass exekutiv-legislative Auseinandersetzungen bisweilen die effektive Kontrolle des Militärs schwächen können, zum Beispiel dann, wenn widersprüchliche Anforderungen der beiden Prinzipale an den Agenten gestellt werden. Deutlich wurden in der Analyse auch die Brüche und Friktionen des zivil-militärischen Verhältnisses und deren Intensivierung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Diese sind keinesfalls isoliert von gesellschaftlichen und politischen Faktoren zu verstehen. So macht etwa der Trend zur Politisierung der Außen- und Sicherheitspolitik nicht vor der militärischen Führung halt, insbesondere dann nicht, wenn es um strategische Entscheidungen beim Einsatz der Streitkräfte geht, wie die kontrovers geführten Debatten um humanitäre Interventionen in den 1990er-Jahren und die Kriege in Irak und Afghanistan zeigten. Mit der Präsidentschaft Donald Trumps haben Versuche der Politisierung des Militärs weiter zugenommen. Aus einer traditionellen Perspektive, die das Primat der Politik und die Neutralität des Militärs betont – wie sie Samuel Huntington in „The Soldier and the State“ formuliert hat – erscheinen insbesondere zwei Entwicklungen problematisch: Einerseits der Versuch Trumps, militärisches Personal für politische Zielsetzungen zu mobilisieren und die weiterhin vorhandene gesellschaftliche Wertschätzung für das Militär als Institution auszunutzen. Andererseits wäre die Einschränkung des präsidentiellen Handlungsspielraums durch erfahrene Militärs im Weißen Haus ebenfalls ein Bruch mit der Norm demokratischer Kontrolle.

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F. Böller

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Die USA als föderales Regierungssystem Eva Marlene Hausteiner

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Der US-Föderalismus: Grundlagen und Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Fazit: Neue Föderalismen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

257 258 265 266

Zusammenfassung

Die US-Verfassung hat gerade in ihrem föderalen Aufbau globalen Einfluss entwickelt. Was aber sind die Grundzüge des US-Föderalismus, wie hat er sich seit seiner Entstehung entwickelt und wie verhalten sich die unterschiedlichen Dimensionen seiner Transformation zueinander? Der vorliegende Beitrag zeichnet die föderalen Grundlagen der Bundesverfassung nach, skizziert die anhaltende Konflikthaftigkeit des Systems und verfolgt die territoriale, rechtliche und politische Dynamik des US-Föderalismus bis in die Gegenwart. Schlüsselwörter

Föderalismus · Verfassung · Expansion · Sezession · Gründung

1

Einleitung

Die Vereinigten Staaten von Amerika sind die älteste föderale Demokratie der Welt (Hennl 2016). Ihre Verfassung hat sich in den vergangenen 230 Jahren zu einem politisch wie ideengeschichtlich extrem wirkmächtigen Modell entwickelt (Auderset 2016). Bis heute werden Verfassungen nach dem US-amerikanischen Vorbild entworfen, wobei gerade die föderale Struktur ein wiederholt übernommenes VerfassungsE. M. Hausteiner (*) Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_56

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E. M. Hausteiner

merkmal darstellt (Billias 2009, S. xiii). Selbst in der Frage, ob die Europäische Union sich beispielsweise zu einem bundesstaatlichen System weiterentwickelt, sind die USA ein zentraler Referenzpunkt (Parent 2009). Das politische System gilt vielen als wegweisende Errungenschaft des Verfassungsdesigns: Die innovative Kombination aus Föderalismus, Repräsentation und Checks and Balances hat, so die bereits von den Verfassungsvätern angebotene Deutung, die republikanische Regierungsform auf extrem große geographisch Räume anwendbar gemacht. Diese Modellfunktion wird allerdings dadurch verkompliziert, dass der US-Föderalismus selbst ein verfassungsrechtliches und diskursives Kampffeld ist. In der anhaltenden Deutungsauseinandersetzung dominiert dabei die Frage, wie der föderale Staatsaufbau verfassungsgemäß zu erhalten und gegenwärtigen Herausforderungen anzupassen sei. Hierfür wird neben dem Wortlaut der US-Verfassung und ihrer Zusatzartikel immer wieder die rekonstruierte Intention der Verfassungsväter ins Feld geführt. Allerdings ist gerade die dynamische Entwicklung des US-Föderalismus nicht allein auf rechtliche Interpretationsspielräume reduzierbar, sondern auch auf politischen Wandel. Das Verhältnis von Bund und Gliedstaaten ist nicht zuletzt Resultat der Transformation der US-amerikanischen Gesellschaft selbst, also der Territorial-, Bevölkerungs- und Parteienstruktur. Der vorliegende Beitrag gliedert sich wie folgt: Abschn. 2.1 zeichnet zunächst die Entstehungsphase der bestehenden föderalen Ordnung nach und geht insbesondere auf begriffssystematische Probleme ein, die mit der Modellfunktion des US-Föderalismus einhergehen. In Abschn. 2.2 wird dann die Dynamik des Systems – territorial, rechtlich und politisch – seit der Gründungsphase diskutiert. Mit Blick auf jüngere Entwicklungen zeigt Abschn. 3. schließlich, dass die Konflikthaftigkeit des US-Föderalismus keineswegs abgeschlossen ist, sondern derzeit eine neuerliche Phase der Transformation durchläuft.

2

Der US-Föderalismus: Grundlagen und Entwicklungen

2.1

Die föderale Verfassung der Vereinigten Staaten

2.1.1 Entstehung und Grundzüge der föderalen Verfassung Zwischen der Unabhängigkeitserklärung am 4. Juli 1776 und dem Datum, das als Geburtsstunde des amerikanischen Föderalismus gilt – nämlich dem Inkrafttreten der Verfassung am 4. März 1789 – lagen gut vierzehn Jahre. In diesem Zeitraum waren die noch dreizehn ehemaligen Kolonien zwar bereits als Vereinigte Staaten von Amerika neu gegründet, aber noch durch die Articles of Confederation verfasst, die den Einzelstaaten volle Souveränität garantierten. Dieses Arrangement erwies sich nach seiner Einführung als politisch nicht tragfähig. Seine Kritiker nahmen die resultierenden Schwierigkeiten – nicht zuletzt die angesichts des Unabhängigkeitskrieges fatale Zahlungsunwilligkeit der Mitglieder, die aber in Ermangelung fiskalischer Rechte des Bundes nicht wirksam sanktioniert werden konnte – zum Anlass, eine Alternative ins Feld zu führen, die Benjamin Franklins früher Forderung nach einem Zusammenschluss der Kolonien gemäß dem Grundsatz e pluribus unum im

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259

Sinne größerer Einheit gerecht werden sollte (LaCroix 2011). Der Entwurf aus der Feder der 55 framers der Verfassung sollte die Defizite der Articles korrigieren und aus der Geschichte schwacher Staatenbünde lernen: Wie Alexander Hamilton, James Madison und John Jay in den 1787/1788 erschienen Federalist Papers mit beträchtlicher rhetorischer Sprengkraft begründeten, erfordere die Sachlage einen neuen, zentralisierteren Typ föderalen Regierens, der dennoch gegenüber den Gefahren einer zentralstaatlichen oder majoritären Tyrannei immun sei (Hamilton et al. 1994, No. 10). Der im Vergleich zu gegenwärtigen Verfassungen schmale Textkorpus der US Constitution erwähnt die Termini federal oder federalism nicht. Er entwirft aber eine Ordnung, die die moderne Vorstellung von Bundesstaatlichkeit bleibend geprägt hat. Die zentralstaatliche Exekutive und Judikative werden von einer Legislative, dem Kongress, flankiert: Dessen zweite Kammer – der Senat, dessen Mitglieder bis zum 17. Zusatzartikel von 1913 von den Länderparlamenten und nicht direkt gewählt wurden – erfüllt die Aufgabe gliedstaatlicher Kontrolle der Bundesregierung. Das Prinzip der Volkssouveränität, das die legitimatorische Grundlage des Staatsgebildes darstellt, geht also zwar von einem einzigen Staatsvolk aus, gewährt diesem aber auf zweierlei Wegen, direkt über den Bundesstaat sowie indirekt über die Einzelstaaten, Einfluss auf den politischen Prozess. Dieser Einfluss beschränkt sich nicht auf den Kongress, sondern er soll auch auf die Exekutive wirken: Die Wahlmänner und -frauen im electoral college, die den Präsidenten bzw. die Präsidentin wählen, sind ihrerseits aus den Einzelstaaten abgeordnet. Die im Gegensatz zum Repräsentantenhaus nicht-proportionale Sitzverteilung im Senat – jeder Staat verfügt über zwei SenatorInnen – setzt sich teilweise im electoral college fort, indem jeder Staat so viele Wahlleute einbringt, wie er Abgeordnete in beiden Kammern bestellt. Dieser relative Vorteil für bevölkerungsschwache Staaten hat dem Versuch der Verfassungsväter, allen Einzelstaaten als Staaten beträchtliche Mitsprache in der Bundespolitik einzuräumen, immer wieder den Vorwurf einer mangelhaften Repräsentation der Bevölkerung eingebracht – zumal sich die Bevölkerungsungleichgewichte seit der Gründungsphase weiter drastisch verstärkt haben. Die innere Organisation der Gliedstaaten ist im Gegensatz zu den Institutionen des Bundesstaates dabei nur lose geregelt: Sie verfügen über Verfassungsautonomie, jedenfalls im Rahmen der Anforderungen der republikanischem Regierungsform, die wiederum die Bundesregierung in jedem einzelnen Staat zu garantieren hat (U. S. Const. Art. IV,4; vgl. Haas 2007). Entwarfen die Autoren der Verfassung die föderale Regierungsform maßgeblich als Machtteilung zwischen zwei Ebenen, so spielt insbesondere die trennscharfe Kompetenzzuweisung eine zentrale Rolle im Verfassungstext: Artikel I,8 zählt die der Bundesgewalt zugeteilten Befugnisse auf – etwa handelspolitische Vorrechte wie auch eine Steuererhebungsbefugnis in Fragen der Verteidigung, Wohlfahrt und Schuldentilgung.1 Der bereits 1791 verabschiedete zehnte Zusatzartikel klärt zudem,

1

Erst der 16. Zusatzartikel von 1913 räumte die Möglichkeit einer durch den Kongress erhobenen Einkommenssteuer ein.

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E. M. Hausteiner

dass die Bundesgewalt tatsächlich nur über diese Kompetenzen (enumerated powers) verfügt, alle übrigen dagegen gemäß einer föderalen Zuständigkeitsvermutung den Mitgliedsstaaten oder der Bevölkerung vorbehalten sind (Heun 2012, S. 611). Gerade an dieser vermeintlich klaren Regelung aber erweist sich seit der Gründungsphase die anhaltende Konflikthaftigkeit des föderalen Systems der Vereinigten Staaten. Sie ist einerseits der Vagheit des Verfassungsdokuments und der anhaltenden, politisierten Suche nach Interpretationshilfen – etwa den Federalist Papers – geschuldet, andererseits aber auch der kompetitiven Dynamik föderaler Machtteilung insgesamt (siehe Abschn. 2.2).

2.1.2 Begriffspolitik und Modellcharakter Diese Deutungsoffenheit föderaler Verfassungselemente wie der Kompetenzzuweisung betrifft letztlich auch die Frage des Regierungstyps selbst. Ihr haben sich bereits die Autoren der Federalist Papers in besonderer Ausführlichkeit gewidmet – die neue Verfassung bedeutete in ihrer Argumentation nichts Geringeres als die Erfindung einer neuen Staatsform, nämlich jener der compound republic (Hamilton et al. 1994, No. 51), die durch die Aufteilung der Macht auf zwei Regierungsebenem in besonderer Weise vor Tyrannei geschützt sei. Nicht allein die Machtfülle der Herrschenden, sondern auch der Machtmissbrauch einzelner Gruppen – die als factions, wie bei vielen verwendeten Motiven der Fall, römisch-antik tituliert werden (Nippel 2008, S. 131–134) – könne durch die gegenseitige Kontrolle beider Ebenen sowie die Unterteilung von Staatsgebiet und -bevölkerung in die Schranken gewiesen werden. Dieses Gebilde sei – hier wird Madison, anders als der Verfassungstext, explizit – „neither wholly national nor wholly federal“ (Hamilton et al., No. 39). Bei diesem Wortgebrauch handelt es sich um geschickte Begriffspolitik. Madison grenzt einerseits den Föderalismus vom angeblich gescheiterten Konföderalismus ab und postuliert eine mit der Zentralisierung einhergehende größere Handlungsfähigkeit der Union. Gleichzeitig spricht er jenen Kontrahenten, die ebendieses konföderale Modell aufrechterhalten wollen, die Orientierung am „federal spirit“ ab: Sie werden als „Anti-Federalists“ tituliert, obgleich sie selbst für sich in Anspruch nehmen, föderal zu argumentieren (Cornell 1999; Jörke 2016). Diese begriffspolitische Vereinnahmung des Föderalismusbegriffs für einen letztlich zentralisierenden Verfassungsvorschlag, der auf eine geteilte Souveränität zwischen Bund und Einzelstaaten abhebt – statt diese nur letzteren vorzubehalten –, verdeutlicht die Stoßrichtung des Projekts der founding fathers: Der Begriff des Föderalen wird einer dezidiert staatlichen – nicht aber zwischenstaatlichen – Ordnung mit hohem Stabilitätsanspruch vorbehalten. Durch diese Linse werden in der historischen Rückschau auch Vorgängermodelle des Bundes betrachtet: Die antiken Städtebünde gelten als ebenso schwach wie die US-amerikanische Konföderation, die Schweiz und Holland (Hamilton et al., No. 18, 19; vgl. Hausteiner 2017). Der Föderalismus wird vor dieser Vergleichsfolie als politische Erfindung der Moderne präsentiert – und zwar als US-amerikanische (Elazar 1969, S. VII; Gerston 2015, S. 6). Diese verfassungspolitisch weitreichende begriffliche Setzung hat sich als außerordentlich erfolgreich erwiesen. Föderale Typologien blenden konföderale, also zwi-

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261

schenstaatliche Bünde häufig aus; die Vereinigten Staaten von Amerika unter der 1789 ratifizierten Verfassung gelten damit als Schauplatz der Erfindung des Föderalismus. Ideengeschichtlich und verfassungspolitisch hat das US-amerikanische Regierungssystem seit seiner Gründung enormen Einfluss entfaltet – und zwar nicht allein als Verfassungsvorbild, sondern als kategorienbildender Prototyp des Föderalismus. „Indeed the various modern definitions of federalism are slightly more than generalized descriptions of the American way of governing“ – diese Feststellung Martin Diamonds (1963, S. 25) ist in Grundzügen weiter plausibel. Der US-Föderalismus gilt als Garant individueller Freiheit und zivilgesellschaftlicher Vitalität (Tocqueville 1951, S. 176–193), als besonders fortschrittliche Variation des flexiblen Prinzips des Föderalismus (Bryce 1898) wie auch als Verkörperung eines freiwilligen Bundes (covenant) (Elazar 1998). Diese unterschiedlichen Interpretationen des US-Föderalismus sind eng verbunden mit dessen konflikthafter Dynamik – und werden tatsächlich oft verstanden als charakteristisch für den US-Föderalismus wie auch für den Föderalismus als allgemeines Prinzip. Auch für dieses Verständnis haben die Federalist Papers mit ihrer Idee von Politik als Widerstreit und Balance sich gegenseitig austarierender Interessen, die in einer großräumigen Föderation besonders gelingen könne (Hamilton et al., No. 10), eine theoretische Vorlage geliefert, die in der Rezeption aufgenommen und weiterentwickelt wurde.

2.2

Föderale Dynamiken

Als komplexe, heterogene Ordnungen mit einer Fülle von Akteuren sind Föderationen von einer besonderen inneren Dynamik gekennzeichnet (Benz und Broschek 2013) Zwischen Bund- und Gliedstaaten, aber auch unter den Gliedstaaten selbst, wird um Kompetenzen und Macht gerungen, soweit rechtliche Spielräume dies zulassen, aber auch die grundlegenden Spielregeln des föderalen „Balanceakts“ stehen immer wieder zur Disposition. Der US-amerikanische Föderalismus ist in mehrfacher Hinsicht besonders dynamisch angelegt. Erstens hat sich die territoriale Struktur der USA bis 1959 laufend erweitert – eine Entwicklung, die die föderale Union grundlegend transformiert, aber auch ihre Grenzen aufgezeigt hat. Zweitens ist die eher deutungsoffene Verfassung in ihrer über 200-jährigen Geschichte immer wieder unterschiedlich ausgelegt worden und in wenigen Fällen auch durch Zusatzartikel geändert worden. Innerhalb dieses dynamischen rechtlichen Rahmens ringen konkurrierende politische Kräfte um Einfluss, von politischen Parteien bis hin zu organisierten Interessensgruppen, die die föderale Struktur formen.

2.2.1 Territoriale Transformationen Die territoriale Ausdehnung der Vereinigten Staaten hat sich seit deren Gründung von rund 864.000 Quadratmeilen vervierfacht. Die Zahl der Bundesstaaten ist von dreizehn auf fünfzig angewachsen. Damit hat sich zwar nicht die Verfassungsstruktur, aber die Zusammensetzung, der Umfang und die Diversität der amerikanischen Föderation grundlegend verändert.

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Die Phasen der territorialen Expansion – insbesondere: der Louisiana Purchase von Frankreich 1803, die Expansionsphasen zur Mitte des 19. Jahrhunderts nach Nordwesten und Südwesten sowie der Kauf Alaskas vom Russischen Zarenreich 1867 – sind nicht allein aufgrund des massiven territorialen Ausmaßes bemerkenswert, sondern auch aufgrund der sehr unterschiedlichen Modi der Expansion. Bereits vor der Verabschiedung der neuen Verfassung hatte insbesondere Thomas Jefferson darauf hingewirkt, dass die im Nordwesten an die Vereinigten Staaten angrenzenden Gebiete nicht von Einzelstaaten appropriiert, sondern als eigenständige, neue Staaten in die Union aufgenommen werden sollten. Die auf Jeffersons Vorschlag aufbauende Northwest Ordinance von 1789 regelt – gemeinsam mit Verfassungsartikel IV, 3:1 – den Modus der territorialen Expansion der Föderation: Ab einer Bevölkerungszahl von 60.000 sei ein Territorium mit Zustimmung des Kongresses als neuer Mitgliedstaat – gleichwertig den bisherigen Staaten – aufzunehmen, unterhalb dieser Schwelle unterliege das Gebiet einer Übergangsregierung durch den Bund (Library of Congress 1789). Der rechtliche Erweiterungsmodus der Union war damit geklärt: Statt durch Expansion bestehender Einzelstaaten wuchs die US-Föderation durch den „Beitritt“ neuer Staaten. Die innere Grenzziehung zwischen den Einzelstaaten wurde damit tendenziell gefestigt, und die politisch gewollte Erweiterung um neue Staaten erhielt rechtliche Präzedenz und Prozedur, die für die kommenden zwei Jahrhunderte prägend sein sollte. Gleichzeitig schuf die Ordinance die Grundlage für den Territorialstatus der public domain, also der unmittelbaren Zugehörigkeit von indigenen Bevölkerungen abgekauften oder abgesprochenem Territorium zum Bundes- statt zu einem Einzelstaatsgebiet. Von anhaltender Bedeutung ist hier die Autorität des Kongresses in der Zulassung neuer Mitgliedstaaten – und die darin enthaltene Möglichkeit, Territorien langfristig zu regieren, ohne ihnen den Status als Mitgliedsstaat zu gewähren. Hawaii etwa wurde 1898 von den USA annektiert, aber erst 1959 als 50. Staat in die Union aufgenommen; und Alaska musste, nach seinem Erwerb 1867 von Russland, ganze 92 Jahre im Status eines incorporated territory – also in einem rechtlichen Zwischenstatus auf dem Weg zur Gliedstaatlichkeit – verharren. Wie der Supreme Court in den „Insular Cases“ der Jahre 1900 und 1901 klärte (Sparrow 2006), ist es dem Kongress zudem erlaubt, Territorien auch im unincorporatedStatus zu belassen – sie also ohne Aussicht auf gleichwertige Partizipation in einem kolonieähnlichen Zustand der Kontrolle des Kongresses zu unterwerfen. Neben einigen unbewohnten Pazifikinseln trifft dies heute noch auf AmerikanischSamoa, die Nördlichen Marianen, die Amerikanischen Jungferninseln, Puerto Rico sowie Guam (die beiden letzteren als Kriegsgewinne des Spanisch-Amerikanischen Krieges von 1898) zu: Sie sind unter direkter US-amerikanischer Kontrolle, aber nicht Teil der Föderation. Diese Expansionsweise wurde, wie auch die Gewinnung von Territorien durch gezielte Enteignung und Besiedlung, jüngst immer wieder als imperial bezeichnet (Frymer 2017). Die amerikanische Föderation hat ihren heutigen Mitgliederumfang also nicht allein durch freiwilligen Beitritt erreicht.

Die USA als föderales Regierungssystem

263

2.2.2 Rechtsentwicklung und Machtbalancen Neben der territorialen Dynamik, die im Fall der USA durch relative innere Grenzstabilität bei äußerem Expansionismus gekennzeichnet ist, ist das Rechtsverhältnis von Gliedstaaten und Bundesstaat von andauernden Konflikten geprägt – trotz der scheinbaren Festschreibung der föderalen Spielregeln in der Verfassung. Die rechtliche Dynamik des US-amerikanischen Föderalismus ist dabei nicht trennscharf von politischen Dynamiken abzugrenzen. Inhalt und Implikationen des Verhältnisses beider Regierungsebenen und der Kompetenzzuteilung der Verfassung waren bereits in der Frühphase nach der Gründung Gegenstand juristischer, im Kern aber hochgradig politischer Deutungsauseinandersetzungen. Bereits im frühen 19. Jahrhundert haben verschiedene Verfassungsklauseln eine interpretatorische Ausweitung erfahren – insbesondere in der Phase des Supreme Courts unter John Marshall (1801–1835). Die Aufzählung der Kompetenzen des Kongresses in Artikel I,8 etwa ist in entscheidenden Punkten vage gehalten. Dies betrifft einerseits die umkämpfte Definition der „general welfare“; besondere Sprengkraft hat aber jene Passage, die dem Kongress all jene Befugnisse zuspricht, die „necessary and proper“ zur Ausführung der zuvor aufgezählten Kompetenzen seien. Diese Klausel war bereits in der Entwurfsphase der Verfassung hochumstritten, da die Anti-Federalists in ihr ein Einfallstor zentralstaatlicher Tyrannei vermuteten, Alexander Hamilton und James Madison dagegen auf der Notwendigkeit der Befugnisse zur Handlungsfähigkeit des Bundes beharrten (Hamilton et al., No. 33, 44). Auf Grundlage dieser Klausel sei, wie der Supreme Court in seiner Entscheidung zum Fall McCulloch v. Maryland (1819) einstimmig entschied, der Kongress befugt, eine Bundesbank zu gründen – der Bundesebene kommen demnach nicht nur explizit aufgezählte, sondern auch implizite Kompetenzen zu. Gleichzeitig bescheinigte Marshall in der einstimmigen Meinung des Gerichts dem US-amerikanischen Volk – „the people“ – und nicht den Einzelstaaten volle Souveränität. Teil des Kompetenzkatalogs in Artikel 1 ist außerdem die Commerce Clause, die dem Kongress die Autorität über Handelsfragen nach außen, mit indigenen Völkern sowie zwischen den Einzelstaaten vorbehält. Auch diese Klausel hat sich über weite Strecken der US-amerikanischen Rechtsgeschichte als Einfallstor für nationale Ambitionen erwiesen: Im Fall Wikard v. Filburn (1942) etwa hieß der Supreme Court Agrarproduktionsquoten mit Verweis auf deren Implikationen für den Handel zwischen Einzelstaaten gut. Die Auslegung der Supremacy Clause in Artikel IV,2, gemäß der Bundesrecht im Konfliktfall über Landesrecht steht und die Judikative der Einzelstaaten bindet, hat seit den späten 1970er-Jahren zu laufenden und zunehmenden Eingriffen des Bundes – häufig sanktioniert vom Supreme Court – geführt. Über federal preemption, also die Invalidierung von Landesrecht durch Bundesrecht, setzte etwa der bundesstaatliche Voting Rights Act von 1965 landesrechtliche Bestimmungen außer Kraft. Diese Tendenz hat zur ihrerseits nicht unkontroversen Diagnose eines coercive federalism geführt, in der die Machtbündelung auf die nationale Ebene nicht allein durch preemptions, sondern auch durch seit den 1960ern vermehrt erteilte, aber an Auflagen gebundene Finanzzuweisungen des Bundes erwirkt wird (Kincaid 2011; Zimmermann 2008; Welz 2007, S. 76).

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Im Ergebnis haben diese juridischen aber ebenso politischen Auseinandersetzungen den US-amerikanischen Föderalismus transformiert – von einer tendenziellen Trennung beider Regierungsebenen hin zu einer zunehmenden Verflechtung unter Dominanz der Bundesstaatsebene. Erstere wurde als dual federalism bezeichnet (Corwin 1950; Zimmermann 2008, S. 7), wobei beide Sphären als streng getrennt und jeweils souverän konzipiert sind und die nationale Regierung als in ihrer Handlungsfähigkeit beschränkt verstanden ist. Die Phase ab den 1930ern, also der New Deal-Ära eines zunehmend intervenierenden Wohlfahrtsstaates, gilt dagegen als Wende hin zum cooperative federalism, der die Ebenen zunehmend verflicht und unter Umständen die Einzelstaatenexekutiven zu Erfüllungsorganen der Entscheidungen des Bundes herabstuft.2 Obgleich etwa die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Einzelstaaten tendenziell auf Trennung angelegt sind und beispielsweise keinen Finanzausgleich kennen, wurde auch die Fiskalautonomie beider Ebenen durch die zunehmende Verflechtung und insbesondere durch Finanzhilfen, Kredite und Rückzahlungen zunehmend aufgeweicht. Unter diesem Gesichtspunkt ist die immer wieder gebrauchte Metapher des Pendels für die Machtverteilung zwischen Bund und Gliedstaaten (Welz 2007, S. 75) irreführend: Verflechtung und Aufgabenteilung sind zwar tendenziell als Machtgewinn des Bundes interpretierbar, letztlich aber ist es die Trennung der Ebenen selbst, die im Laufe des 20. Jahrhunderts sukzessive aufgelöst wurde. Das föderale Gefüge hat eine grundlegende Transformation erfahren, zu der nicht zuletzt der zunehmende bundesweite Einfluss der beiden Parteien beigetragen hat. Trotz dieser Tendenz lebt in der öffentlichen Debatte bis heute die Forderung nach states’ rights und sogar gliedstaatlicher Souveränität fort. Sie ist nicht allein Erbe der Gründungsphase, sondern ein Nachhall des Amerikanischen Bürgerkrieges (1861–1865) – also der blutigen Auseinandersetzung um die Forderung der Südstaaten, im Alleingang die Sklavenhaltung fortzuführen. Während die Federalist Papers von geteilter oder „dualer“ Souveränität sprechen (Hamilton et al., No. 45), haben Vertreter der These einer vollen Souveränität der Einzelstaaten, insbesondere John C. Calhoun, mit Verweis auf die Virginia und Kentucky Resolutions James Madisons den Vorrang der Bundesregierung scharf zurückgewiesen. Calhoun nahm für die Einzelstaaten nicht nur die Rechte der Nullifikation und der Imposition – also der Außerkraftsetzung von und sogar des Widerstandes gegen Bundesgesetze in den Staaten – in Anspruch, sondern auch das Recht auf unilaterale Sezession (Calhoun 1992). Während die Frage der Sezession in den politischen Debatten gegenwärtig keine ernstzunehmende Rolle mehr spielt, wurden mit Verweis auf states’ rights eine Reihe hochproblematischer politischer Maßnahmen gerechtfertigt – insbesondere der „Rassen“-Segregation und Jim-Crow-Gesetze im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Wiederholt hat in der US-amerikanischen Geschichte erst nationale Gesetzgebung gleiche Bürgerrechte sowie den Schutz von Minderheiten sichergestellt.

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Morton Grodzins hat zur Kontrastierung beider Föderalismen die Metaphern des layer cake vs. marble cake geprägt (Grodzins 1961).

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Fazit: Neue Föderalismen?

Angesichts der Tendenz zur Verflechtung beider Regierungsebenen bei zunehmenden Eingriffen der Bundesebene in fiskalische und regulatorische Belange sind bereits seit den 1980ern Stimmen insbesondere aus der Republikanischen Partei laut geworden, die eine größere Autonomie der Einzelstaaten forderten. Die Regierung Ronald Reagans unternahm – wenn auch nicht immer erfolgreich – unter dem Label New Federalism den Versuch einer dezidierteren Trennung der föderalen Ebenen, etwa durch eine Reorganisation und Reduktion von Finanzzuweisungen des Bundes (Conlan 2010). Reagan ernannte außerdem William Rehnquist 1986 zum Chief Justice. Das Gericht unter Rehnquist verfolgte bis 2005 einen Kurs der Machtverlagerung hin zu den Einzelstaaten, indem etwa die Commerce Clause in United States v. Lopez (1995) zuungunsten des Kongresses ausgelegt und die Einzelstaatssouveränität und die Begrenzung der Bundesbefugnisse anlässlich Printz v. United States (1997) gemäß dem 10. Zusatzartikel affirmiert wurden. Politisch begleitet wurde dieser Prozess insbesondere in den 1990er-Jahren von einer Rhetorik der Effizienz und der Reduktion von big government – stets gemeint in Hinblick auf das federal government. Nicht nur unter Republikanischen Präsidenten, sondern auch unter Bill Clinton wurden bundesweite wohlfahrtsstaatliche Programme zurückgefahren, so etwa im Rahmen des Personal Responsibility and Work Opportunity Reconciliation Act von 1996, eines Gesetzes, das die Gestaltung sozialer Unterstützungsleistungen von der Bundes- auf die Mitgliedsstaatenebene verlagerte und im Endeffekt radikal reduzierte.3 Insbesondere die Phase Republikanischer Kontrolle in beiden Häusern des Kongresses ab 1995 resultierte in Maßnahmen zur Stärkung gliedstaatlicher Programme und Infrastrukturen in einer Reihe von Politikfeldern. Die Betonung von Dezentralisierung, devolution und lokaler Partizipation setzte sich während der Präsidentschaft Barack Obamas fort – allerdings, anders als unter Clinton und George W. Bush, unter dezidiert progressiven Vorzeichen: „[I]t is a mistake to equate federalism’s past with its future. State and local governments have become sites of empowerment for racial minorities and dissenters“, so etwa die Juristin Heather Gerken (Gerken 2012). Auch hier wird ein neuer Föderalismus im Sinne eines Progressive Federalism reklamiert, insofern als er tatsächlich mit der seit Jahrzehnten etablierten parteipolitischen issue ownership bricht und nun verschiedentlich auch VertreterInnen der Demokratischen Partei für eine stärkere Autonomie der Einzelstaaten plädieren. Wenngleich sich dieser Trend bereits zwischen 2008 und 2016 abzeichnete, hat er sich seit der Wahl Donald J. Trumps konsolidiert und konkrete politische Resultate gezeitigt. Wirtschaftsstarke, eher progressive Gliedstaaten wie Kalifornien haben nach Trumps Aufkündigung des Pariser Klimaabkommens angekündigt, eigenständig rigorose Klimaschutzmaßnahmen zu ergreifen;

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Die überparteilichen Bestrebungen, das föderale System im Sinne einer devolution umzugestalten, firmierten bei den Republikanern unter dem Projektnamen Contract with America, bei Clintons Demokraten unter dem Slogan Reinventing Government Initiative.

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sie haben damit nicht nur Dissens geäußert, sondern einen politischen Sonderkurs eingeschlagen. Wenn rund 200 Städte entgegen Trumps drastischer Einwanderungspolitik erklärt haben, als sanctuary cities nicht mit staatlichen Abschiebungsmaßnahmen zu kooperieren, tritt hier außerdem zutage, dass das föderale System der USA auch eine dritte, lokale Ebene umfasst, die in den Machtverteilungsdynamiken eine besondere Rolle spielt (Schragger 2016; Welz 2007, S. 74). Die Transformation des US-amerikanischen Föderalismus mit ungewissem Ausgang setzt sich also fort. Parteipolitische Konjunkturen und entsprechend veränderte Besetzungen des Supreme Court, Verschiebungen in Wirtschaftsmacht und Bevölkerungszahl der Einzelstaaten, die weiter ungeklärte Frage der Zukunft Puerto Ricos am Rande der Föderation und die zunehmende Bedeutung der kommunalen Regierungsebene – diese Entwicklungsperspektiven deuten darauf hin, dass das föderale Experiment der Vereinigten Staaten alles andere als abgeschlossen ist und aus diesem Grunde auch kaum als stabiles Modell begriffen werden sollte.

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Metropolregionale Akteure Zwischen Stadt und Zentralstaat Boris Vormann

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Neue Realitäten: Die Entstehung metropolregionaler Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Eine neue Politik? Stadt- und Regionalplanung in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Abgesänge auf den Nationalstaat gingen nach Ende des Kalten Krieges oft einher mit dem Verweis auf erstarkende globale Städte und subnationale Regionen. Die Globalisierung schien Regionalismen ökonomisch und politisch zu begünstigen. Dieses Kapitel befasst sich historisch einordnend mit der Frage, inwiefern globale Metropolregionen in den USA tatsächlich eine eigenständige Regionalpolitik und eigene politische Institutionen entwickelt haben, um den neuen Realitäten globaler Märkte im 21. Jahrhundert zu begegnen. Schlüsselwörter

Globale Städte · Metropolregionen · Suburbanisierung · Regionalisierung · Globalisierung

B. Vormann (*) Bard College Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_25

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Einleitung

Gibt es in den USA eine dezidiert metropolregionale Politik? Haben sich dort politische Akteure und Institutionen zwischen kommunaler und föderalstaatlicher Ebene ausgeformt, um Einfluss auf politische und ökonomische Geschicke der Metropolräume zu nehmen? Die Chancen dafür stünden eigentlich gerade heutzutage historisch günstig. Wegen der engen Verflechtung von Globalisierungs- und Urbanisierungsprozessen spricht man in Politik und Wissenschaft seit Anbruch des frühen 21. Jahrhunderts oft vom Beginn eines urbanen Zeitalters. Doch während Metropolen und subnationale Regionen seit Ende des 20. Jahrhunderts immer mehr an ökonomischer Bedeutung gewinnen (Keating 2011), hinkt die Entwicklung von Steuerungsinstrumenten hinterher, auch und besonders in den USA. Dies nicht zuletzt auf Grund der komplexen institutionellen Gemengelage des US-amerikanischen Föderalismus. Dort kann die lokale Raumplanung (‚von unten‘) zunächst klar von der wirtschaftlichen Regionalplanung des Föderalstaats (‚von oben‘) unterschieden werden, zu der sie historisch oftmals auch im offenen Widerspruch gestanden hat. Mit der Ausweitung urbaner Räume kam es jedoch im Laufe des 20. Jahrhunderts immer wieder auch zur Überlappung existierender Gerichtsbarkeiten und politischer Verantwortlichkeiten und damit auch zu Problemen bei der Plan- und Steuerbarkeit der größeren Metropolregionen. Hinzu kommt fraglos ein nach wie vor dominanter Glaube an den amerikanischen Sonderweg einer staatslosen Marktwirtschaft, der zur Meidung offener Interventionen im Privatsektor zumindest in sozialen Belangen geführt hat. Wenn sich auch auf einzel- und bundesstaatlicher Ebene insbesondere in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg eine dezentral gesteuerte Regionalplanung etablierte, führte der Rückzug des Staats aus marktwirtschaftlichen Entwicklungsprozessen insbesondere seit den 1970er-Jahren, abgesehen von wenigen Ausnahmen, zu einem jähen Ende regionaler Planung. Stadtregionale und subnationale Akteure verfügen deshalb jeweils nur über eingeschränkte Handhabe zur Steuerung regionaler Entwicklung. Trotz der zunehmenden wirtschaftlichen Verflechtung von Städten und ihrem regionalen Hinterland kann daher auch heute von einer metropolregionalen Politik, mit Ausnahme verkehrsplanerischer Kompetenzen, nur mit Einschränkungen die Rede sein. Zwar existieren durchaus nicht-staatliche und zivilgesellschaftliche Institutionen auf dieser Ebene, jedoch sind jene oft nicht demokratisch legitimiert und rechenschaftspflichtig, was berechtigten Zweifel daran erlaubt, ob sie den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts tatsächlich nachhaltig begegnen können.

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Neue Realitäten: Die Entstehung metropolregionaler Akteure

Städte und ihr regionales Hinterland waren historisch betrachtet bereits deutlich vor dem 21. Jahrhundert ökonomische und geopolitische Schaltzentralen der US-amerikanischen Gesellschaft. In den USA spielten Städte als Knotenpunkte

Metropolregionale Akteure

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des Handels, vor allem entlang der Wasserwege und Küsten, eine entscheidende Rolle in der Kolonialisierungsgeschichte und Westexpansion. New York City wurde mit seinen merkantilen Eliten bereits im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert zu einem Drehkreuz der kontinentalen Landnahme und stand mit anderen Städten der Atlantikküste wie Philadelphia, Baltimore und Boston im Wettbewerb um die Ressourcen des Appalachenhinterlandes. Im Zuge der Industrialisierung entwickelten sich die Städte zu Wachstumsmaschinen und Knotenpunkten der US-amerikanischen Wirtschaft. Der US-amerikanische Bürgerkrieg (1861–1865) und der sich anschließende nationale Wiederaufbau (reconstruction) stimulierten die Wirtschaft und führten zu einem Städteboom im Mittleren Westen, wo allem voran Chicago, als Verbindungsglied zwischen den Finanziers im Osten und der Expansion im Westen, zum industriellen Herzstück der USA heranwuchs. Kein Wunder also, dass der Stadthistoriker Robert Fishman bereits die Zeit von 1830 bis 1930 als das „urbane Jahrhundert“ (urban century) der Vereinigten Staaten bezeichnete (Fishman 2000a, S. 6). Schon zu Anbeginn des Nationenbildungsprozesses im späten 18. Jahrhundert war die öffentliche Wahrnehmung der Stadt ambivalent. Zum einen galten Städte seit dem Zeitalter der Aufklärung als Orte des Kosmopolitismus, des Austausches zwischen dem Fremden und dem Eigenen und als Keimzellen einer entstehenden demokratischen Öffentlichkeit. Bis heute ist jedoch Thomas Jeffersons Skepsis gegenüber der Stadt als Brutstätte gesellschaftlicher Ungleichheit, aristokratischer Dekadenz und politischer Tyrannei nicht verklungen (Lieberman 2009, S. 17). Dies auch, weil Städte im Laufe des 19. Jahrhunderts als Ballungszentren der Industrialisierung zu Schmelztiegeln wachsender sozialer Ungleichheiten und Konflikte wurden – und dieses Image bis heute nur zum Teil ablegen konnten. Nach 1830 nahm die Stadtbevölkerung und die Zahl von Großstädten in den Vereinigten Staaten rapide zu: Bis 1860 existierten acht Städte mit einer Bevölkerungszahl von über 100.000 Einwohnern, bis 1910 dann fünfzig. In Boston wuchs die Einwohnerzahl von 1820 bis 1900 von 43.000 auf 748.000, in Philadelphia sprang sie von 64.000 auf 1,8 Mio und in New York, der Stadt, die am rasantesten wuchs, von 137.000 auf 5,6 Mio (siehe Cullingworth 1997, S. 22). Diese demographische, wirtschaftliche und territoriale Ausdehnung US-amerikanischer Städte, die mit dem Ende des 19. Jahrhunderts und dem Bau erschwinglicher Straßenbahnen bereits Suburbanisierungstendenzen des Folgejahrhunderts vorwegnahm, rief Kritiker und Visionäre auf den Plan, die gleichermaßen die sozialen und ökologischen Konsequenzen ungebremster Industrialisierung in Frage stellten und nach neuen politischen Steuerungsmöglichkeiten forderten – zum ersten Mal auf metropolregionaler Ebene. Heute befinden wir uns interessanterweise erneut in einer ähnlichen Situation. Das Wachstum städtischer Zentren über existierende Gerichtsbarkeiten, fragmentierte politische Prozesse und die Zwiegespaltenheit gegenüber der gesellschaftlichen Rolle der Stadt in den Vereinigten Staaten, die man schon damals beklagte, gehören keineswegs der Vergangenheit an. Angesichts wachsender urbaner Ballungsräume sprechen einige Stadtforscher heute sogar von globalen Stadtregionen (global city-regions) – ein Begriff, der oftmals Synonym mit dem Term der ‚Metropolregion‘ und auch nicht immer in klarer Abgrenzung zum Konzept der globalen

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Stadt Gebrauch findet. Stadtforscherinnen sehen in diesen Stadtregionen die neuen ökonomischen, politischen und territorialen Knotenpunkte der Globalisierung (z. B. Scott et al. 2001, S. 11). Trotz gewisser Kontinuitäten in der Stadtentwicklung nehmen Urbanisierungsprozesse heute jedoch eine neue Qualität ein. Mit der Verlagerung industrieller Aktivitäten und der Entstehung eines militärisch-industriellen Komplexes (military-industrial complex) wurde der Sunbelt und insbesondere Los Angeles schon unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu einem Wachstumszentrum der US-amerikanischen politischen Ökonomie (Ethington und Levitus 2009, S. 162). Das Silicon Valley als regionale Wachstumsmaschine par excellence lässt sich ohne die enormen Investitionen des Zentralstaats im Kontext des Kalten Krieges nicht erklären und gilt bis heute vielen Stadtentwicklern als vorbildhaft. Ökonomische Restrukturierungsprozesse haben seit den 1970erJahren dann zu einer Neuausrichtung urbaner und regionaler Wirtschaftsstrukturen geführt, in der sich auch die Beziehung zwischen Staat und Markt verschob. Drei Entwicklungen sind mit Blick auf die Entstehung gegenwärtiger globaler Stadtregionen besonders hervorzuheben: (1) Ökonomische Restrukturierung: Während bereits Präsident Carter Programme zur Inflationsbekämpfung initiierte, „revolutionierte“ vor allem Ronald Reagan das Verhältnis zwischen Staat und Markt – und damit die ökonomische Geographie US-amerikanischer Städte und Regionen. Neben antiinflationären Austeritätsprogrammen und Steuersenkungen wirkte sich, indirekter, vor allem die Verknappung der Geldmenge und ein deshalb explodierendes Zinsniveau (Volcker shock) auf die wirtschaftliche Geographie der USA aus. Eine daraus resultierende Aufwertung des US-Dollars (USD) um 55 % von 1979 bis 1984 verringerte die internationale Wettbewerbsfähigkeit der verarbeitenden Industrie und begünstigte damit die Ausverlagerung von Produktionsprozessen (Offshoring). Waren die Vereinigten Staaten 1970 noch weltweit führender Exporteur von Industriegütern, kehrte sich die Handelsbilanz im Jahre 1983 um, ein Trend der sich bis heute noch verstärkt hat. Zugleich wurde der wenig gewerkschaftlich organisierte Dienstleistungssektor ausgebaut. In der Zeit von 1979 bis 1985, in dem die verarbeitende Industrie um 10 % schrumpfte (von 21 Mio auf 18,9 Mio), stieg die Zahl von Angestellten im Dienstleistungssektor um 7,8 Mio (siehe Sassen 1990, S. 467). Dies führte in den Städten des Nordostens und des Mittleren Westens zu beschleunigten Deindustrialisierungsprozessen bei einem gleichzeitigen Wachstum der Finanz-, Versicherungs- und Immobilienindustrien (FIRE), der unternehmensbezogenen Dienstleistungen (business services) und der Tourismusindustrien. In New York City schrumpfte die Zahl der Industriearbeitsplätze von einer Million im Jahr 1950 auf nur noch etwa ein Viertel im Jahr 1995. Zugleich wurden in Manhattan allein zwischen 1948 und 1978 282 neue Bürogebäude mit einer Nutzfläche von knapp 134 Mio Quadratmeter errichtet (Wagner 1980, S. 84). Infolge einer unternehmensfreundlichen Stadtpolitik avancierte New York City zum Finanzzentrum der USA, weshalb trotz hoher Abwanderungsquoten das ökonomische Potenzial der Stadtregion vor allem im tertiären, wissensintensiven Sektor gesehen wird.

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(2) Relativierung des Nationalstaats: Neben dem Ausbau des Dienstleistungssektors (tertiarization) haben Globalisierungsprozesse außerdem, insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zu einer Verschiebung politischer Zuständigkeiten und Handlungsmöglichkeiten geführt. Die vormals nationalstaatlich gebündelte politische Macht wurde in gewissen Bereichen dezentralisiert, teils entstaatlicht und auf Institutionen und Akteure auf lokaler, regionaler – und globaler – Ebene neuverteilt. Städte und Stadtregionen sind in diesem Kontext zu strategischen Orten im Kontext globaler Verflechtungen neuen Ausmaßes geworden: Güter-, Informations- und Kapitalströme werden in ihnen hergestellt und koordiniert. Die Schaltzentralen des Finanzkapitalismus befinden sich den gängigen Definitionen zufolge in Städten wie Tokyo, London und Frankfurt – und, in den USA, in New York City, Los Angeles und Chicago. John Friedmann und Goetz Wolff sprachen in den frühen 1980er-Jahren noch von Weltstädten (world cities) als Zentren des Finanzkapitals, in denen sich Banken, Finanzindustrien, Verwaltungshauptquartiere und Investitionsstandorte für den Immobilienmarkt boten (Friedmann und Wolff 1982). Systematischer erschloss Friedmann dann die Verbindung zwischen Urbanisierungs- und Globalisierungsprozessen mit seiner Weltstadthypothese und der Annahme, strukturelle Veränderungen in Weltstädten seien Konsequenz einer neuen internationalen Arbeitsteilung, in der Städte als Knotenpunkte (basing points) zur räumlichen Organisierung internationaler Märkte dienten (1986). Für Saskia Sassen, die die globale Stadtforschung mit ihren Konzepten wie keine andere geprägt hat, sind globale Städte „moderne Moleküle“ der Wirtschaftsglobalisierung, in denen die Strukturen der Weltwirtschaft notwendigerweise verankert sind. Je globalisierter die Wirtschaft, so eine der Schlüsselthesen Sassens, desto höher auch die Agglomeration zentraler Funktionen in einer relativ überschaubaren Anzahl von Orten, den global cities (Sassen 1991). Globale Städte sind damit mehr als nur Ballungsräume von Finanz- und unternehmensbezogene Dienstleistungszentren, von Geschäfts- und Freizeittourismus, von kulturellen und kreativen Industrien: Sie vereinen in räumlicher Nähe mit den Regierungsinstitutionen, internationalen Agenturen und Hauptquartieren großer Privatunternehmen außerdem die zentralen Kommando- und Kontrollfunktionen des Finanzkapitalismus (Hall 2001, S. 61–64). (3) Suburbanisierung: Schließlich kam es parallel zur Bündelung tertiärer Beschäftigungsfelder in den global cities Nordamerikas auch zur territorialen Ausdehnung urbaner Agglomerationen (sprawl). Dieser Prozess setzte schon Ende des 19. Jahrhunderts ein, als städtische Eliten die industrialisierten Innenstädte auf der Suche nach ihrem ländlichen Idyll verließen – und die Kommerzialisierung der Straßenbahn einer etwas größeren Bevölkerungsgruppe diesen Luxus gewährte. Auf Grund von Innovationen im Transport, der Stadtflucht weißer Mittelschichten und einem suburbanen Lebensstil der Nachkriegsära, dehnte sich das städtische Einzugsgebiet dann weit über existierende administrative Grenzen der Stadt aus (Jackson 1985). Die Massenproduktion und Erschwinglichkeit des Autos im fordistischen Zeitalter und der Ausbau von Highways, beispielsweise unter Robert Moses in New York City, ermöglichte höheren

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(weißen) Einkommensschichten den Wegzug aus der Innenstadt (white flight), welche insbesondere nach den blutigen Protestaktionen der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre im politischen Mainstream als symbolischer Krisenherd der US-amerikanischen Gesellschaft betrachtet wurde. Zudem lockten seit Ende des Weltkriegs massenproduzierte suburbane Siedlungen, die für überwiegend vermögende Familien einen ländlichen Lebenswandel mit den Bequemlichkeiten eines Einfamilienhauses und Gartengrundstücks verbanden. Als Symbol dieser suburbanen Utopie der (weißen) Mittelschichten gilt das wohl bekannteste und größte, von 1947 bis 1951 entstandene Levittown im Nassau County, New York, auf Long Island. In diesen und vergleichbaren suburbanen Kontexten haben sich seither multifunktionale, nahezu eigenständige Stadtgebiete entwickelt, sogenannte edge cities (Garreau 1991), die Wohn-, Handels- und Büroflächen miteinander vereinen und dennoch räumlich funktionsspezialisiert sind und keine urbane Identität im herkömmlichen Sinne ausgebildet haben. Ferner werden jene Randstädte – von denen es Ende 1990er-Jahre entlang von Autobahnkreuzen und Transportkorridoren allein im Metropolraum New York City siebzehn gab – zumeist privat geplant, vermarktet und verwaltet, was die ohnehin schon komplexe Steuerung metropolregionaler Entwicklungen weiter erschwert hat. Ergebnis dieser ökonomischen, politischen und demographischen Entwicklungen sind riesige globale Stadtregionen, die herkömmliche Gerichtsbarkeiten und Zuständigkeiten bei weitem überschreiten. Die Stadtregion New York-Newark ist mit 18.351.295 Einwohnern laut der aktuellsten Bevölkerungszählung nach wie vor die bevölkerungsreichste urbane Gegend der USA, gefolgt von Los Angeles-Long Beach-Anaheim (12.150.996) und der Metropolregion Chicago (8.608.208; Census 2012a). Zählt man im Falle New York Citys neben dem Kerngebiet in den Staaten New York und New Jersey auch die Einzugsgebiet im Nordosten Pennsylvanias und Connecticuts hinzu, variiert die Bevölkerungszahl je nach Definition sogar zwischen 19,8 Mio (metropolitan statistical area; Census 2012b) und 23,4 Mio (combined statistical area; Census 2012c). Die Stadtregion Los Angeles nimmt im Kontext der USA eine Sonderstellung ein, weshalb sie, insbesondere von Stadtforscherinnen der sogenannten Los Angeles School, zumeist im Kontrast zu den urbanen Agglomerationen des Nordostens analysiert worden ist (z. B. Davis 1990; Dear 2002). Los Angeles hat Chicago als zweitgrößte Stadt bei der Bevölkerungszählung von 1960 überholt; seither hat sich an dieser Reihenfolge nichts geändert. Dies nicht zuletzt, weil Los Angeles in der Nachkriegszeit zum Wachstumszentrum neuer Militär- und Informationstechnologien avancierte. Los Angeles galt lange Zeit sowohl als pulsierendes Herz dieser neuen politischen Ökonomie als auch als die Stadt, die Suburbanisierung wie keine andere Stadt ins Extreme trieb. Insbesondere in der Zeit zwischen 1960 und 1990 profitierte Los Angeles von der günstigen Lage am Pazifik und damit sowohl vom Wachstum im transpazifischen Handel angesichts der Verlagerung von Industriearbeit nach Asien – Los Angeles/Long Beach ist der größte und bedeutendste Hafenkomplex des nordamerikanischen Kontinents – und Militärinvestitionen des Pentagons, die unmittelbar zum Ausbau der High-tech-, Computer- und Luftfahrtindustrien beitru-

Metropolregionale Akteure

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gen. In der im Vergleich zu Chicago und New York deutlich späteren Entstehung von Los Angeles unter völlig verschiedenen technologischen Voraussetzungen liegt auch der Grund für eine stadtregionale Geographie, die mit ihrer territorialen Ausdehnung und raumfunktionalen Ausdifferenzierung von vielen Autoren als das Paradebeispiel einer postmodernen Megalopolis interpretiert worden ist (z. B. Dear 2000). Die horizontale Expansion der Stadt – ihre mosaikartige Versprengung über ein ausgedehntes Territorium, in das über 140 Städte inkorporiert worden sind – galt vielen als materieller Ausdruck sowohl eines neuartigen gesellschaftlichen Pluralismus als auch der Zersplitterung moderner Identitäten und Narrative (Abu-Lughod 1999). Die territoriale Ausdehnung urbaner Gebiete im Kontext einer globalisierten Wirtschaft hat mit den globalen Stadtregionen zu einer neuen gesellschaftlichen Wirklichkeit geführt. Allein in New York City, Los Angeles und Chicago lebten zu Beginn dieses Jahrzehnts knapp zehn Prozent der gesamten US-amerikanischen Bevölkerung (29,1 Millionen von 308,7 Millionen Menschen; Census 2012a). Heutige Urbanisierungsprozesse haben den Maßstab der Stadt überschritten und sind nur regional begreifbar: In diesen globalen Stadtregionen sind die administrativen Grenzen der Stadt nicht mehr deckungsgleich mit deren ökonomischen und politischen Grenzen (Soja 2011). Dort bündeln sich die Güter- und Kapitelströme und die entscheidenden Institutionen der Wirtschaft und Politik. Dort verdichten sich die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart. Neue Ungleichheiten materialisieren sich in segregierten Stadtteilen; Umweltverschmutzung ist in großen Teilen Konsequenz des urbanen Lebenswandels – und soll dort am effektivsten bekämpft werden (z. B. Glaeser 2011). Herkömmliche Steuerungsinstrumente und Institutionen der Stadt- und Regionalplanung scheinen den sozialen und ökologischen Herausforderungen der Globalisierung deshalb nur bedingt gewachsen. Auch in der Gegenwart werden – wie im frühen 20. Jahrhundert – Forderungen nach einer adäquaten Politik laut, um die Gegensätze zwischen gesellschaftlicher und politischer Realität zu überbrücken.

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Eine neue Politik? Stadt- und Regionalplanung in den USA

Wegen der Einbettung globaler Städte und Stadtregionen in transnationalen Netzwerken liegt deren Entwicklung selbstverständlich nicht allein in den Händen der Stadt- und Regionalpolitik. Die bereits erläuterten ökonomischen Restrukturierungsprozesse des 20. Jahrhunderts waren beispielsweise Konsequenz politischer Entscheidungen auf verschiedenen Regierungsebenen und einer wirtschaftlichen Konjunktur, die teils sogar den nationalstaatlichen Rahmen überstiegen. Stadt- und Regionalentwicklung sind in dem Sinne überdeterminiert. Auch die Entstehung lokaler und stadtregionaler Wachstumskoalitionen (growth coalitions) zwischen Akteuren der Wirtschaft und Politik ist klar in nationalstaatliche institutionelle Parameter eingebettet. Unternehmer und Politiker sind bei der Finanzierung und Durchführung von Entwicklungsprojekten deshalb an Sachzwänge gebunden, die von Seiten des Nationalstaats bestimmt werden (Brenner 2009, S. 127–130). Und dennoch steht Lokalregierungen eine gewisse politische Handlungsfreiheit zu. Dies

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auch deshalb, weil viele Programme und Initiativen von föderaler Ebene erst durch lokale Behörden implementiert und umgesetzt werden (Ross und Levine 2006, S. 441). Dasselbe gilt, wenn auch eingeschränkt und weniger systematisch, auf der Ebene der Regionalpolitik. In der Stadtpolitik werden für gewöhnlich drei historische Entwicklungsphasen unterschieden. Die erste Phase des urban boosterism (Abschn. 3.1) bezeichnet die marktradikale Zeit der rasanten Verstädterung der USA im Kontext der Industrialisierung von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Einsetzen der Weltwirtschaftskrise 1929. In dieser Zeit sind die Anfänge metropolregionaler Politik zu verorten. Die zweite Phase des managerialism (Abschn. 3.2), deren Beginn sich mit den Programmen des New Deal in den 1930er-Jahren recht genau datieren lässt und die in den 1960er-Jahren endete, zeichnet sich durch eine engere Koordination zwischen makroökonomischen Zielsetzungen des Föderalstaats und dessen Intervention auf verschiedenen Regierungsebenen aus. Wie in anderen Industriestaaten jener Zeit entwickeln sich zu diesem Zeitpunkt auch in den USA Interventions- und Steuerungselemente auf regionaler Ebene, insbesondere seitens des Föderalstaats, also top down. Die Krise der 1970er-Jahre und die Reagan Revolution führten wiederum zu einer Rückkehr zum Ideal des freien Marktes: In der Phase des entrepreneurialism (Abschn. 3.3), von manchen auch als Neuer Regionalismus bezeichnet, rückte erneut die Wettbewerbsfähigkeit von Städten und Regionen in den Vordergrund. Seit den 1990er-Jahren mehren sich erneut Stimmen, die deshalb eine stadtregionale Steuerung einfordern. Ob es zu einem solchen neuen metropolitanism kommen könnte, ist angesichts der widersprüchlichen Interessenlagen, der institutionellen Fragmentierung und der oft eingeschränkten Perspektive derartiger Diskussionen jedoch fraglich – nicht zuletzt weil Donald Trump im Amt trotz seiner neomerkantilistischen Außenhandelspolitik keinerlei regionalpolitische Vision entwickelt hat.

3.1

Boosterism: Die Progressive Era und die Anfänge metropolregionaler Politik

Bereits im 19. Jahrhundert hob sich Stadtpolitik in den USA durch die besondere Bedeutung marktzentrierter lokaler Wachstumsregimes von europäischen Städten ab. Ziel der staatlichen und, vor allem, zivilgesellschaftlichen Akteure war die Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Stadt, unter nachgestellter Rücksichtnahme auf gesellschaftliche Folgen. Die zumeist nepotistisch organisierten lokalen Parteien und Wachstumskoalitionen bestimmten die politische Organisation der USA bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, als erst mit dem Ausbau des kontinentalen Schienennetzes und dem Bürgerkrieg nationale administrative Kapazitäten herausgebildet wurden (Skowronek 1982). Die starke Marktorientierung und ein Mangel an regulatorischen Institutionen auf lokaler Ebene entfachten ein städtisches Wachstum welches auch sozialen und ökologische Probleme mit sich brachte – und welche wiederum zu Beginn des 20. Jahrhunderts kritische Stimmen in der Zivilgesellschaft erstarken ließen.

Metropolregionale Akteure

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Zwischen 1900 und 1930 unternahmen insbesondere Wirtschaftseliten der Metropolregionen Chicagos und New York Citys erstmals den Versuch, Pläne zur Entwicklung der gesamten Metropolregion zu entwerfen um dem urbanen Wachstum Herr zu werden. Ihre Vision eines metropolitanism speiste sich aus einer Denktradition, die sich gegen Jeffersons Anti-Urbanismus richtete, und orientierte sich sehr pragmatisch an der Notwendigkeit, die sozialen Konsequenzen der Industrialisierung in den Griff zu bekommen (Fishman 2000b). Ihr Engagement basierte dabei auf der keineswegs uneigennützigen Einsicht, dass die Profitabilität ihrer Unternehmen gleichermaßen von funktionierenden Infrastrukturen und einer gesunden Arbeiterschaft abhingen wie das Wohl der arbeitenden Stadtbewohner. Der nur teilweise umgesetzte „Plan of Chicago“ (1909) und der „Regional Plan of New York and its Environs“ (1929) bezeugen diese ersten Versuche der sogenannten metropolitanists, nicht nur die Stadt, sondern die gesamte Stadtregion mittels öffentlicher Räume und Grünflächen und einer modernisierten Infrastruktur ästhetisch ansprechender (city beautiful movement) und effizienter (city efficient movement) zu gestalten, wobei soziale Fragen nicht zuletzt auf Grund der Akteurskonstellation hierbei weitestgehend ausgeklammert wurden (hierzu Schönig 2011, S. 92–113; Wilson 1989). Dieser metropolitanism kam „von unten“ – also von Institutionen und Akteuren auf der lokalen und regionalen Ebene – und wurde eher indirekt institutionell gestützt, beispielsweise durch die Programme des Research Committee on Social Trends unter Präsident und zivilgesellschaftliche Institutionen wie die Russell Sage Foundation und die National Municipal League. Das Wachstum von Metropolregionen – welche sich in diesem historischen Kontext noch um einen Stadtkern formierten – wurde von diesen Akteuren nicht in Frage gestellt, sondern zum Gesellschaftsziel erhoben, das man anhand wissenschaftlicher und technokratischer Lösungen (des scientific management) effizienter verwirklichen wollte. Der Fokus lag auf administrativen Reformen, um die Wettbewerbsfähigkeit der Stadt anhand des Ausbaus von Transportinfrastrukturen, koordiniertem Wohnbau und neuen Parkanlagen zu erhöhen. Die unhinterfragte Wachstumsorientierung der metropolitanists stieß aber auch durchaus auf Kritik. Regionalists des frühen 20. Jahrhunderts und deren bekanntester Fürsprecher Lewis Mumford forderten in den 1920er-Jahren eine Dezentralisierung der Metropolregionen. Durch die Entstehung regional vernetzter und ökologisch nachhaltiger Kleinstädte sollten Wohnbedingungen verbessert und eine sozial gerechte Ressourcenverteilung begünstigt werden (Schönig 2011, S. 407). Hier deutete sich bereits ein Spannungsverhältnis an, das auch in der Folgezeit unter dem Prinzip des managerialism nicht aufgelöst werden konnte: Während die Stadtzentren in Ansätzen stadtregionale Politik betrieben, um ihre politische Kontrolle regional projizieren zu können, begannen sich suburbane Interessenskoalition zu formieren, deren eigene Strategien im Laufe der 1920er-Jahre zunehmend an politischem Gewicht gewannen und die Dominanz der Städte wiederum zusehends in Frage stellten (siehe Brenner 2002, S. 5–6).

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3.2

B. Vormann

Managerialism und Fordistischer Interventionsstaat

Die Leitprinzipien der zivilgesellschaftlichen Befürworter des metropolitanism und des regionalism erhielten in den 1930er-Jahren teils Eingang in die Politik des Föderalstaats. Mit dem New Deal nahm die Stadtpolitik 1933 unter Franklin D. Roosevelt eine besondere Rolle bei der Umsetzung sozialpolitischer Reformen ein. Im Kontext eines kooperativen Föderalismus wurde in dieser Ära des managerialism die unmittelbare Verbindung zwischen der kommunalen und der föderalen Ebene ausgebaut. Städtische Entwicklung wurde unter makroökonomischen und sozialpolitischen Gesichtspunkten maßgeblich von nationalstaatlicher Ebene mitbestimmt. Angesichts der Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise rückten soziale Probleme damit in den Vordergrund dieser neuen Art von Stadt- und Regionalpolitik. Obgleich, gewissermaßen aus gegenläufiger Richtung, von Seiten des Nationalstaats, mit dem New Deal auch eine neue Form der Regionalplanung einsetzte, die ebenso Aspekte der Leitbilder der regionalists und der metropolitanists in die Tat umsetzte, blieb die Ausprägung einer dezidierten Regionalpolitik jedoch auch in dieser Ära unvollständig. Regionale Behörden wurden nicht eindeutig in die föderalen Strukturen der Vereinigten Staaten eingepasst und sind eher aus einem an den spezifischen Herausforderungen individueller Regionen orientierten Pragmatismus heraus entstanden. Nur einige der nach 1933 ins Leben gerufenen regionalen Planungsbehörden haben deshalb beständig über einen längeren Zeitraum Einfluss auf die Entwicklung von Regionen nehmen können (Gray und Johnson 2005). So bot zwar beispielsweise die Tennessee Valley Authority (TVA) in den 1930er- und 1940er-Jahren ein erfolgreiches Vorbild integrierter Regionalplanung, die Infrastrukturprojekte, Industriepolitik und gesellschaftliche Erholungsprojekte miteinander verband. Sie führte jedoch nirgends zu vergleichbaren Folgeprojekten (Hall und Tewdwr-Jones 2011, S. 228). Insbesondere nach Ende des Weltkriegs diente Regionalplanung mit dem Bau nationaler Highways und der Industrialisierung verarmter ländlicher Gegenden makroökonomischen Zielen. Die Entstehung polyzentrischer Stadtregionen, die durch Subventionen des Föderalstaats für Transportinfrastrukturen und den Wohnungsbau begünstigt wurden (Florida und Jonas 1991), beschleunigten den ökonomischen Niedergang von Innenstädten und verschärften die räumliche Segregation ethnischer und sozialer Gruppen innerhalb der Metropolregionen (Marcuse 2006). Diese urbane Fragmentierung stellte Politiker vor neue Herausforderungen und ließ Forderungen nach einer verstärkten Koordinierung verschiedener Regierungsebenen laut werden. Die administrative Neuausrichtung der stadtregionalen Politik beließ jedoch existierende Institutionen und Gerichtsbarkeiten bei. Etabliert wurden stattdessen informelle Formen der stadtregionalen Kooperation und Koordination beispielsweise durch die Entstehung von stadtregionalen Räten (Metropolitan Councils of Governments, COGS) und Planungsverbänden (Metropolitan Planning Organizations) – Institutionen, denen vor allem eine zentrale Rolle bei der Verteilung und Aufsichtsplanung föderaler Zuweisungen zukam (Brenner 2002, S. 7).

Metropolregionale Akteure

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Mit der Entstehung der Advisory Commission on Intergovernmental Relations (ACIR) im Jahre 1959 konnten die föderale und die einzelstaatlichen Regierungen dann eine umfassendere (wenn auch immer noch begrenzte) Regionalplanung durchsetzen. Durch den Zusammenschluss verschiedener Counties mit Städten konnten so tatsächlich auch stadtregionale Institutionen entstehen, wie beispielsweise in Indianapolis, Minneapolis-St. Paul und Seattle (Hamilton 1999, S. 155–169). In den 1960er-Jahren kam es mit der Area Redevelopment Administration und dem Public Works Acceleration Act von 1962 darüber hinaus zu einer Unterstützung für Infrastrukturprojekte. Doch erst mit dem Public Works and Economic Development Act von 1965 und der Entstehung der Economic Development Administration (EDA), die die Area Redevelopment Administration ersetzte, wurden konzertiert einkommensschwache Regionen unterstützt, der Zusammenschluss mehrerer Entwicklungsregionen um Städte vorangetrieben, die als Entwicklungszentren (growth center) dienen sollten, und regionale Planungskommissionen eingerichtet (Hall und Tewdwr-Jones 2011, S. 229). Letztere konnten Einzelstaatsgrenzen sogar überschreiten, wie zum Beispiel im Falle der Four Corners (Arizona, New Mexico, Colorado und Utah), was jedoch die Ausnahme blieb. Mit Blick auf sozialpolitische Fragen erreichte die Phase des managerialism ihren Höhepunkt in den Great Society Programmen und mit dem War on Poverty unter der Administration Lyndon B. Johnsons. In sogenannten Modellstädten (model cities) experimentierte die Regierung von 1966 bis 1974 mit neuen Programmen zur Armutsbekämpfung und Stadtentwicklung. Diese Phase der Stadtpolitik scheiterte mit den städtischen Krisen der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre und dem sich zugleich vollziehenden Niedergang des keynesianisch-fordistischen Wohlfahrtsregimes. Wendepunkt dieser Politik war die New Yorker Finanzkrise von 1975, die die Stadt an den Abgrund des Bankrotts trieb, und dem Präsidenten Gerald Ford Anlass bot, mit der Verwehrung föderaler Zuwendungen eine neue Ära der Stadtpolitik einzuläuten. Damit wurde auch die zentrale Rolle neuer stadtregionaler Institutionen in der makroökonomischen Politik des Nationalstaats – als Verwaltungs-, Finanzierungs- und Planungsautoritäten – aufgegeben.

3.3

Entrepreneurialism: Unternehmerische Akteure im Wettbewerbsstaat

Der Rückzug staatlicher Unterstützung für Städte im Zuge eines reformierten Föderalismus (new federalism) nach den Krisen der 1970er-Jahre führte zu einer Situation, in der Städte und Regionen finanziell zunehmend auf sich allein gestellt waren. Im Kontext des urban entrepreneurialism, der dritten Phase der Stadt- und Regionalpolitik, waren lokale und regionale Akteure darauf angewiesen, neue Mittel zur Stadtentwicklung zu finden (Harvey 1989; Hall und Hubbard 1998). Verschärft wurde dieser Umstand durch fallende Steuereinnahmen angesichts der Abwanderung finanzkräftiger Mittelschichten ins suburbane Umland (white flight) sowie von Industrien in die Vororte, in andere Regionen und ins Ausland. Konsequenz dieses neuen Föderalismus und der Aufkündigung sozialpolitischer Regulierungen des

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keynesianisch-fordistischen Regimes war ein erhöhter Wettbewerb subnationaler Regierungseinheiten auf lokaler, regionaler und einzelstaatlicher Ebene. Ähnlich dem frühen 20. Jahrhundert rückte erneut die Wettbewerbsfähigkeit der Städte in den Vordergrund politischer und zivilgesellschaftlicher Entwicklungsstrategien – stadtregionale und regionale Institutionen wurden hingegen als übermäßig rigide und bürokratische Residuen eines zu starken Staates angesehen, die es zu fragmentieren und letztlich auch zu überwinden galt (Brenner 2002, S. 8). Für jene inzwischen generalisierte Stadtentwicklungspolitik des Entrepreneurialism diente New York City als Blaupause (Hackworth 2007; Greenberg 2008). Zum Ziel der unternehmerischen Stadt (entrepreneurial city) wurde die Schaffung eines wirtschaftsfreundlichen Umfelds anhand von Steueranreizen sowie der Gewährleistung eines sicheren Umfelds und einer hohen Lebensqualität für die Eliten der Wissensgesellschaft. In dieser jüngeren Entwicklung ist die Bedeutung der Kultur und der städtischen Identitäten vor allem aus Vermarktungszwecken (branding) deutlich gestiegen. Repräsentative, oftmals von Stararchitekten entworfene Bauwerke an Uferpromenaden und die Revitalisierung vormals brachliegender Industriegebäude, wurden zwei unter vielen Entwicklungsstrategien, die darauf ausgelegt waren, Städten ein neues, postindustrielles Gesicht zu verleihen und vermögende Bevölkerungsschichten zurück in die Innenstadt zu locken (Vormann 2015). In einer jüngeren Entwicklung seit den 1990er-Jahren wurde zwar unter der Bush- und Clinton-Administration die stadt- und regionalpolitische Marschroute Reagans weitestgehend eingehalten, die Rolle stadtregionaler Planungsstrategien erfuhr jedoch eine erneute Aufwertung. Seither haben sich neue Debatten über die regionalen Dimensionen urbaner Probleme entfacht – wie beispielsweise die Segregation und Ghettoisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen, Verkehrsstörungen auf Grund der langen Pendelwege in suburbanen Regionen oder die damit zusammenhängende Umweltverschmutzung. Im Vordergrund stehen hierbei auch Forderungen nach institutioneller Reformen, um diesen Problemen zu begegnen. Ebenso wurden in den 1990er-Jahren die regionale Kooperation und die Reform stadtregionaler Institutionen in den urbanen Ballungszentren beispielsweise von Portland, Minneapolis-St. Paul, Chicago, Philadelphia und Boston intensiviert, weshalb viele Kommentatoren in Anlehnung an die Debatten des frühen 20. Jahrhunderts von einer neuen Regionalbewegung (new regionalism) sprachen (siehe Brenner 2002, S. 3–4).

3.4

Eine neue Politik der Stadtregion?

Die Neuentdeckung der globalen Stadtregion vollzog sich seit den 1990er-Jahren nicht nach denselben Parametern des Nachkriegs-managerialism. Statt als institutionelle und räumliche Anker einer intragouvernmentalen Sozialpolitik werden Stadtregionen seither als strategische Wachstumsinstrumente betrachtet, wohingegen die Minimierung gesellschaftlicher Folgekosten eines unregulierten Marktes oft als notwendiges Übel verstanden wird. Auch heute ist daher angesichts der Vielfalt stadtregionaler Projekte nicht von einem Regionalismus zu sprechen, sondern eher

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von nicht koordinierten Anpassungsstrategien regionaler Akteure an lokalspezifische Probleme. Ob diese neueste Form der Stadt- und Regionalpolitik zur Entstehung nachhaltiger metropolregionaler Strategien beigetragen hat, die den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen sind, ist auch deshalb äußerst fraglich. Zum einen ging die marktorientierte Entwicklung der letzten Jahrzehnte mit dem Problem der Verdrängung wirtschaftlich schwächerer Bevölkerungsgruppen einher. Zum Beispiel wurden Business Improvement Districts (BIDs) zunächst in Philadelphia, später dann in anderen US-amerikanischen Städten eingesetzt, um innenstädtische Räume wiederzubeleben und verwertbar zu machen – was in vielen Städten, auch in den globalen Stadtregionen der USA, über die letzten Jahrzehnte zu Inseln des Reichtums inmitten sich vertiefender Ungleichheiten geführt hat (Hall und Tedwr-Jones 2011, S. 238). Zum anderen verlagerte bei diesen Revitalisierungsprojekten die Umsetzung in öffentlich-privaten Partnerschaften (public private partnerships) die Entscheidungsgewalt von Lokalpolitikern auf Unternehmer, womit ein Steuerungsverlust kommunaler Prozesse und eine Unterwanderung demokratischer Rechenschaftsmechanismen einhergingen. Bei diesen inzwischen dominant gewordenen Arrangements zwischen öffentlichem und privatem Sektor wird oft vergessen, dass, trotz der rhetorischen Betonung marktwirtschaftlicher Instrumente, der lokale Staat beispielsweise in der Umsetzung von public-private partnerships immer noch eine entscheidende Rolle einnimmt, nämlich durch die Verbürgung von Risiken, durch Steuervergünstigungen und die Bereitstellung von Infrastrukturen. Die Rhetorik der unternehmerischen Stadt und Stadtregion sollte also nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Staat in der Tat nach wie vor eine zentrale Funktion in der Stadtentwicklung einnimmt. Nur mit diesem eingeschränkten Blick ist jedoch zu erklären, weshalb bei der marktorientierten Stadt- und Regionalplanung soziale Fragen den Maßnahmen zur technologischen Effizienzsteigerung und Stadtverschönerungsprojekten nachgestellt werden. Diese Verengung des Stadtbegriffs ist ein Hauptgrund dafür, dass stadtregionale Fragen auch in der Politik aus dem Blickfeld geraten sind. Dieses Problem wird dadurch verschärft, dass gegenwärtige Debatten in der Öffentlichkeit dazu tendieren, die stadtregionalen Infrastrukturen auszublenden und für selbstverständlich zu halten – und damit das Spielfeld den Akteuren zu überlassen, die ein Eigeninteresse an stadtregionaler Entwicklung haben, statt eine demokratische Debatte über nachhaltige und sozial gerechte stadtregionale Entwicklung zu führen. Ähnlich der Situation im frühen 20. Jahrhundert sind es vor allem zivilgesellschaftliche Akteure, die sich der stadtregionalen Entwicklungsplanung zuwenden. Insbesondere in Fragen der Logistik und der Koordination in Transportnetzwerken kommt diesen ad-hoc Koalitionen eine wichtige Rolle zu (Wachsmuth 2017). Soziale Fragen drohen weitestgehend unberücksichtigt zu bleiben. Dies umso mehr, als die Privatisierung zu einem ungleichen Zugang zu öffentlichen Gütern (wie Bildung, Kommunikation und Transport) geführt hat (Graham und Marvin 2001). Stadtregionale Akteure wie Handelskammern (chambers of commerce) und Hafenbehörden (port authorities) sind nicht demokratisch durch Wahlen legitimiert, Entscheidungen zumeist intransparent und nur sehr eingeschränkt rechenschaftspflich-

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tig. Der kurzfristige Entscheidungshorizont privater und semi-öffentlicher Akteure erlaubt deshalb berechtigten Zweifel an der ökologischen Nachhaltigkeit und sozialen Gerechtigkeit der von zivilgesellschaftlicher Seite initiierten Projekte. Zwar haben sich in den letzten Jahren immer wieder kleinere Gemeinden und zivilgesellschaftliche Gruppen zu Interessensvertretungen (advocacy groups) zusammengeschlossen, um, teils erfolgreich, ärmeren Bevölkerungsgruppen bei politischen Entscheidungsträgern Gehör zu verschaffen. Aber ohne einen geeinten politischen Willen auf Seiten des politischen Betriebs und existierender Institutionen sind die Forderungen und Strategien dieser Gruppen bislang Flickwerk geblieben. Das scheint sich auch unter Trump, der trotz neomerkantilistischer Industriepolitik und einer gewissen Nostalgie für den Fordismus keinerlei regionalpolitische Ambitionen entwickelt hat, nicht zu ändern. Vielleicht sind aber die Proteste gegen seine Einwanderungs- und Sozialpolitik auf lokaler und Einzelstaatenebene Zeichen eines neu aufkeimenden Metropolregionalismus?

4

Fazit

Das frühe 21. Jahrhundert ähnelt in vielen Aspekten dem frühen 20. Jahrhundert. Auch heute hat ein marktorientiertes Wachstumsregime in den USA zur explosionsartigen Ausweitung urbaner Agglomerationen geführt, auch heute mit ähnlichen Konsequenzen für Gesellschaft und Umwelt. Existierende politische Institutionen stoßen erneut an ihre Grenzen und zivilgesellschaftliche Gruppierungen formieren sich, die in ihrem Eigeninteresse stadtregionale Institutionen fordern. Wenn man sich in den USA auch früher als anderswo, beispielsweise in Europa, der politischen Herausforderungen angenommen hat, die aus der Ausweitung metropolitaner Räume über existierende Gerichtsbarkeiten erwachsen sind, bleiben Konflikte zwischen residualen Verwaltungsstrukturen und Versuchen einer neuausgerichteten Entwicklungsplanung auf stadtregionaler Ebene bestehen. Verschiebungen in der internationalen Arbeitsteilung und die Erstarkung stadtregionaler Agglomerationen haben zwar zur Entstehung neuer Bündnisse zwischen Akteuren in der Politik und Wirtschaft geführt. Diese haben jedoch nur vereinzelt politische Institutionen und nachhaltig prägende Strukturen und Strategien ausgebildet. Vielmehr bestehen existierende Planungsinstrumente und Institutionen der New Deal Ära und der Great Society fort, die nur begrenzt den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen sind. Wenn Barack Obama mit seinem Amtsantritt 2008 auch eine neue Stadtpolitik ankündigte, die stadtregionale Problematiken mit einschloss, sind diese Ambitionen – auch wegen der Krise – ohne nennenswerte Erfolge verpufft. Auch schon vor Donald Trump wurde im Zuge des Krisenmanagements vor allem an Geldern für die Kommunalpolitik und öffentliche Einrichtungen auf substaatlicher Ebene gespart. Trump wiederum trieb den Rückbau des Staates weiter voran und entzog damit auch stadtregionalen Visionen des frühen 21. Jahrhunderts den Boden. Eine stadtregionale Politik, die sich nicht nur ästhetischer und technologischer, sondern auch

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sozialer Probleme annimmt, scheint in diesem politischen Klima daher in weite Ferne gerückt zu sein.

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Kommunen Versuchsräume der Demokratie Boris Vormann und Christian Lammert

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Strukturen und Prozesse der Kommunalpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Vom dualen zum kooperativen zum neuen Föderalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Von Government zu Governance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Die Kommunalpolitik genießt in den Vereinigten Staaten von Amerika als Versuchsraum der Demokratie hohes öffentliches Ansehen. Auch wenn sich die Vielfalt kommunalpolitischer Strukturen im Laufe des vergangenen Jahrhunderts weitgehend erhalten hat, bergen jedoch Kompetenzverlagerungen neben einem Steuerungsverlust die Gefahr, die Funktion der Kommunalpolitik als Ort demokratischer Partizipation und als Legitimationsquelle demokratischer Politik zu unterlaufen. Auf eine Erläuterung der wichtigsten Strukturen und Prozesse der kommunalen Ebene folgt ein Überblick über die historischen Entwicklungstendenzen der Kommunalpolitik im Kontext einer sich wandelnden föderalen Ordnung. Schlüsselwörter

Kommunalpolitik · Gemeinde- und Stadtverwaltung · Föderalismus in den USA · Local governance · Zufluchtsstädte (sanctuary cities) B. Vormann (*) Bard College Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Lammert John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_14

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B. Vormann und C. Lammert

Einleitung

Alexis de Tocqueville sprach in seinem epochemachenden Werk Über die Demokratie in Amerika 1835 vom township als dem Ort zur direkten Ausübung politischer Macht und als Forum politischer Teilhabe (2011 [1835/1840]). Als „Versuchsräume der Demokratie“ (laboratories of democracy) bezeichnete auch der Supreme Court Justice Louis Brandeis ein Jahrhundert später, im Jahr 1932, die lokalen und einzelstaatlichen Regierungen (The New State Ice Company v. Liebmann [1932] 285 U.S. 262). Dieses Vertrauen in die lokale Regierungsebene ist bis heute nicht versiegt. Trotz genereller, politisch tief verwurzelter Skepsis gegenüber dem Staat, ist das Vertrauen in die lokale Regierungsebene laut Umfragen in den letzten Jahrzehnten konstant hoch (69–74 %; Gallup 2018). Selbst mit der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 konnte der Glaube an die Wichtigkeit der Kommunalpolitik nicht erschüttert werden. Dies steht in starkem Kontrast zur Einstellung der Bürgerinnen und Bürger gegenüber der Bundesregierung: Vertrauten Ende der 1990er-Jahre in innenpolitischen Fragen noch 65 % der Politik in Washington, D.C., waren es 2019 nur noch 35 % (Gallup 2019). Im Kontext einer zunehmend entgrenzten Wirtschaft, einer polarisierten Gesellschaft und einer blockierten Politik auf Bundesebene wird der durch die Kommunalpolitik ermöglichte direkte Kontakt mit der Bevölkerung als ein vielversprechender Kanal für einen demokratischen politischen Diskurs empfunden. Die Bedeutung der Kommune als politischer Akteur wird insbesondere in der jüngsten Migrationsdebatte deutlich. Sowohl beim sogenannten „Muslim Ban“ als auch im Falle des Schutzes undokumentierter Einwanderer vor Abschiebung und Repression, entwickelten sich so unterschiedliche Städte wie San Francisco, New York oder Denver (Colorado) und Jackson (Mississippi) zu Zufluchtsorten (sanctuary cities). Aber auch in ländlichen Räumen des Südens und des Mittleren Westens, berufen sich Befürworter Trumps in den Kommunen auf das Recht demokratischer Selbstbestimmung. In der Tat ist ein oft gerühmter Vorteil der kommunalen Ebene deren Nähe zu den Bürgerinnen und Bürgern und damit ihre Funktion als Keimzelle der Demokratie. Mit der Tradition einer möglichst freien Handhabe bei kommunalpolitischen Entscheidungen, die in den Vereinigten Staaten von Amerika besonders ausgeprägt ist, ging jedoch historisch betrachtet auch eine Fragmentierung politischer Prozesse und Mechanismen einher, welche die Regierbarkeit und Koordination der institutionell äußerst unterschiedlich ausgestalteten Formen kommunaler Politik erheblich einschränkt (Falke 2008). Überdies werden in der gegenwärtigen Situation, in der globale Städte und Regionen an ökonomischer Bedeutung gewinnen, die politischen und wissenschaftlichen Diskussionen um die Autonomie lokaler Regierungen angesichts der teils konträren Interessen verschiedener politischer Ebenen und Akteure mit einer gewissen Schärfe geführt. Die Kontroversen gehen unter anderem darüber, ob unter diesen Bedingungen die Grenzen der Stadt enger werden oder ob und wie die Handlungsspielräume der Gebietskörperschaften sich erweitern – und welche Rolle lokale politische Auseinandersetzungen darin zu spielen haben (Brenner 2009; Soja und Kanai 2006).

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Der folgende Überblick über die Akteure, Strukturen und Finanzen der Kommunalpolitik in den USA veranschaulicht die Diversität politischer Prozesse auf kommunaler Ebene. Verstehen kann die Vielfalt, Muster und Konflikte der Kommunalpolitik in den Vereinigten Staaten nur, wer nach ihrem Funktionieren im föderalen System fragt. Die Bedeutung der Kommunalpolitik soll daher im Zeichen eines sich verändernden Föderalismus dargestellt werden – vom dualen zum kooperativen und schließlich zum neuen Föderalismus. Im Vordergrund steht dabei, wie sich sozialpolitische Strategien, institutionelle Pfadabhängigkeiten und neue politische Instrumente unter verschiedenen Präsidenten seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die Rolle und Funktionsweise der Kommunalpolitik ausgewirkt haben. Abschließend wenden wir uns einer Neudefinierung von Regierungstechniken zu, wie sie im Laufe der vergangenen Jahrzehnte in der politischen Praxis zu beobachten ist, und in welcher die Kommunalpolitik einem für die Demokratie bedenklichen Funktionswandel unterzogen wurde.

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Strukturen und Prozesse der Kommunalpolitik

Traditionell haben Gebietskörperschaften in den USA eine größere Autonomie als vergleichbare Regierungseinheiten in anderen Demokratien. Aber die Rechte der home rule sind auch hier deutlich begrenzt und variieren von Einzelstaat zu Einzelstaat erheblich. In den sogenannten home rule states gewährt ein Verfassungszusatz den lokalen Regierungseinheiten die Möglichkeit der autonomen Gesetzgebung, während in anderen Staaten nur begrenzte Kompetenzen durch Parlamentsbescheid an die Lokalregierungen übertragen wurden. Die kommunale Ebene ist außerdem integraler Bestandteil des US-amerikanischen Föderalismus. Sie gliedert sich zugleich vertikal in das föderale System ein, indem die Kommunalpolitik mit gliedstaatlichen Regierungen und der Bundesregierung interagiert; als auch horizontal, im Austausch zwischen kommunalen Regierungen. In dieser komplexen Gemengelage werden Kommunen maßgeblich von politischen Entscheidungen auf einzel- und föderalstaatlicher Ebene beeinflusst. Dies geschieht einerseits direkt, etwa mittels finanzieller Zuwendungen, andererseits aber auch indirekt, da beispielsweise Änderungen auf Bundesebene in der Bildungspolitik oder im Transportwesen sich auf lokaler Ebene manifestieren und dort weitreichende Konsequenzen für das gesellschaftliche Miteinander nach sich ziehen. Trotz dieser Einschränkungen, Zwänge, und wechselseitigen Abhängigkeiten sind Kommunen jedoch den Anweisungen seitens der Gliedstaaten und des Bundesstaats nicht willkürlich ausgeliefert. Zum einen profitieren sie durchaus davon, in intergouvernementalen Auseinandersetzungen auf beiden Ebenen Verhandlungspartner zu finden – was Städten und Gemeinden nicht selten einen gewissen Handlungsspielraum verschafft, die anderen Akteure gegeneinander auszuspielen. Wenn die Politik auf kommunaler Ebene auch von anderer Stelle eingeschränkt und begünstigt werden kann, verfügen lokale Regierungen, zum anderen, über eine beträchtliche politische Entscheidungsgewalt. Dies gilt zum Beispiel auch bei vom Bundesstaat finanzierten Initiativen, bei denen lokale Gebietskörperschaften wie

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beispielsweise Stadtverwaltungen oftmals das letzte Wort bei der konkreten Umsetzung politischer Strategien behalten. Umgekehrt stützen sich Regierungsverantwortliche auf föderaler Ebene erfahrungsgemäß auch auf das Wissen kommunaler Verwaltungen, um ein Gelingen politischer Maßnahmen wahrscheinlicher zu machen. Historisch sind im föderalen Prinzip die Gebietskörperschaften in erster Linie dem Einzelstaat untergeordnet. Dieses Prinzip wurde in verschiedenen Gerichtsentscheidungen im 19. Jahrhundert wiederholt bestätigt. Dillon’s Rule (Atkins v. Kansas [1903] 191 US 182) legte schließlich fest, dass Städte die „Schöpfungen, [und damit] nur politische Unterabteilungen des Staates zum Zwecke der Ausübung von Teilen seiner Macht“ sind. Dieses Prinzip regelt einerseits grundsätzlich die Abhängigkeit der lokalen Regierungen von den Einzelstaaten, andererseits beschränkt diese tief in der politischen Kultur verankerte föderalistische Rechtsauslegung die Aktivitäten der Bundesregierung. Auch als dualer Föderalismus (dual federalism) bezeichnet, bestimmte diese klare Trennung der Kompetenzen von Bund und Gliedstaaten bis in das frühe 20. Jahrhundert die politische Realität (Landy und Milkis 2008, S. 211–215). Das bedeutet jedoch nicht, dass es im 19. Jahrhundert keine Gegenstimmen zu dieser Interpretation der föderalen Aufgabenverteilung gab. Thomas M. Cooley, Richter des Obersten Gerichtshof von Michigan, hielt der Dillon’s Rule 1871 entgegen: „Lokalregierungen genießen absolutes Recht; und der Staat kann ihnen dieses nicht nehmen“ (People v. Hurlbut [1871] 24 Mich 44, 95). Diese Gegentendenz beschränkte sich keineswegs auf Meinungsverschiedenheiten. Die föderale Struktur ließ in der Tat eine gewisse Offenheit in der politischen Praxis zu, die unsere Auffassung vom dualen Föderalismus zumindest nuancieren sollte. Auch Gary Gerstle und Kimberley Johnson schränken die gängige These eines zunehmend starken Staates im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert ein: Sie argumentieren, dass das föderale System des 19. Jahrhunderts zwar durch eine schwache Zentralregierung charakterisiert war, jene aber umso mehr Spielraum für die Entstehung einflussreicher lokaler und einzelstaatlicher Regierungen ließ (Gerstle 2009; Johnson 2009). Diese Offenheit spiegelt sich noch heute in den institutionellen Strukturen der Kommunalpolitik in den Vereinigten Staaten wider, deren frappierende Diversität in der politischen Organisation auffällt. Sie ist generell auf die historische Tatsache zurückzuführen, dass die gebietskörperlichen Einheiten auf kommunaler Ebene nach den Gesetzen in den Einzelstaaten strukturiert sind. Überdies hat jeder Staat in der Regel zumindest zwei separate Formen in der Gemeindeverwaltung: Landkreise (counties) und Kommunen (municipalities). Einige Bundesstaaten unterteilen ihre Landkreise zusätzlich in Gemeinden. Auch die Kommunen heben sich in ihren Organisationsformen, abhängig vom Bedarf und der Bevölkerungsdichte, voneinander ab. Die genauen Formen variieren abhängig vom Bundesstaat, aber grundsätzlich kann man Großstädte (city), Städte (town), Bezirke (borough) und Dörfer (village) unterscheiden. Die Komplexität der kommunalen Verwaltungsebene ist auch dem Umstand geschuldet, dass die speziellen Zuständigkeiten in verschiedenen Kontexten unter-

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schiedlich zugeteilt sein können. Zahlreiche ländliche Regionen und auch einige städtische Außenbezirke haben keine Kommunalregierung unterhalb der Landkreisebene. In einigen Bundesstaaten existiert sogar nur eine Ebene von Kommunalverwaltung: Hawaii hat beispielsweise keine Kommunalregierung unter der Landkreisebene und in Massachusetts, Connecticut und Rhode Island haben die Landkreise keine legislative Funktion; diese wird dort von den Städten und Gemeinden ausgeübt. Zusätzlich existieren noch zahlreiche Sonderbezirke (special districts) für bestimmte Aufgaben wie Wasserversorgung, Entsorgung, Feuerwehr und Straßenbau. In vielen Bundesstaaten werden die Schulen von Schulbezirken (school districts) verwaltet (Lammert 2013, S. 650). Nach den Daten des letzten Zensus (2010) existieren insgesamt 90.056 kommunale bzw. lokale Regierungseinheiten. Davon sind 38.910 sogenannte general purpose governments, also Landkreise (3031), Städte (19.519) und Gemeinden (16.360) und 51.910 Sonderbezirke: 12.880 unabhängige school districts und 38.266 sonstige Sonderbezirke (Census Bureau 2013). In der Struktur der lokalen Regierungsebene lassen sich besondere regionale Unterschiede aufzeigen. Im Mittleren Westen findet sich mit durchschnittlich 3332 Regierungen pro Einzelstaat die höchste Dichte auf der lokalen Ebene, gefolgt vom Nordosten mit 1494, dem Westen mit 1274 und dem Süden mit 1181. Diese Unterschiede lassen sich damit erklären, dass im Westen und im Süden keine Gemeinderegierungen und in Connecticut, Rhode Island und District of Columbia (D.C.) keine Landkreisregierungen existieren. Andererseits haben einige Einzelstaaten öffentliche Schulsysteme, die den Regierungen des Bundesstaates, der Gemeinde oder des Landkreises unterstehen. D.C., Maryland, North Carolina und Hawaii haben keine unabhängige Schulverwaltung, wobei Hawaii der einzige Bundesstaat mit einem Schulsystem ist, das völlig der einzelstaatlichen Regierung untergeordnet ist. In 16 weiteren Staaten gibt es sowohl abhängige als auch unabhängige Schulbezirke; Virginia hat beispielsweise nur einen unabhängigen Schulbezirk und 135 abhängige Schulbezirke, Louisiana demgegenüber 69 unabhängige und nur einen abhängigen Schulbezirk. Die Sonderbezirke machen mit 38.266 den Löwenanteil der lokalen Regierungseinheiten aus. Die meisten Sonderbezirke finden sich mit 13.145 im Mittleren Westen, gefolgt vom Westen (11.205); dem Süden (9277); und dem Nordosten mit 4639. Die Sonderbezirke umfassen in erster Linie Brandschutz (5865), Wasserversorgung (3522), Raum- und Gemeindeentwicklung (3438) sowie Abwasser und Hochwasserschutz (3248). Aber nicht nur regional lassen sich Unterschiede in der Strukturierung der Lokalverwaltung aufzeigen, auch über die Zeit hinweg haben sich diese Strukturen verändert. Zwischen 2007 und 2012 ist die Zahl der lokalen Regierungseinheiten leicht um 0,6 % angestiegen. Seit 1952 hingegen ist die Zahl um 22,9 % zurückgegangen, wobei sich in einigen Staaten die Zahl der lokalen Regierungseinheiten deutlich erhöht hat: in Alaska um 263 %, in Delaware um 215 %, in New Mexico um 199 Prozent und in Florida um 168 %. Besonders interessant erscheint hier der drastische Anstieg von Sonderbezirken von 12.340 (1952) auf 38.266 (2012). Im gleichen Zeitraum ging die Zahl der unabhängigen Schulbezirke von 67.355 auf 12.880 zurück (Census Bureau 2013).

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Entstehen können neue Kommunen grundsätzlich auf vier verschiedene Arten: (1) durch Spezialgesetzgebung der einzelstaatlichen Legislative; (2) durch allgemeines Gesetz; (3) durch Gesetze, die die Erstellung einer Stadt-Charta regeln und (4) durch Prozeduren lokaler Selbstverwaltung (home rule). Hierdurch erhält die lokale Regierung eine Art örtlich gültige Konstitution. Heute sind vor allem durch Volksabstimmung sanktionierte Inkorporierungen nach den letzten drei Methoden üblich. Die Gründung neuer lokaler gebietskörperschaftlicher Einheiten hat dabei oft den Zweck der sozialen Abgrenzung und hat historisch sozialräumliche Ungleichheiten in den USA verstärkt. Eine Folge dieser Entwicklungen ist die anhaltende Diskussion um das beste Maß lokalstaatlicher Selbstverwaltung im Gegensatz zu stadtregionalen Konsolidierungsbestrebungen bei wachsenden Problemen der metropolitanen Gebiete. Gewöhnlich unterscheidet man drei Arten von Gemeindeverwaltung: (1) Das council-mayor-System, in dem Stadtrat und Bürgermeister separat gewählt werden. In dieser Variante ist der Bürgermeister zumeist vollbeschäftigt und hat erhebliche administrative und haushalterische Befugnisse. Abhängig von der jeweiligen municipal charter hat der Stadtrat mehr oder weniger Kompetenzen. In der strong-mayorVariante dieses Systems bestimmt der Bürgermeister über die städtischen Abteilungen. In der weak-mayor-Variante übernimmt dies der Stadtrat, der üblicherweise auch die Ausschüsse stellt. Weak-mayor-Regierungen findet man vor allem in kleinen Gemeinden und wenigen Großstädten (Chicago), strong-mayor-Regierungen sind in den meisten Groß- und vielen Kleinstädten üblich. (2) Das commissionSystem war die Reaktion von progressivistischen Reformern um die Jahrhundertwende, die der Instrumentalisierung lokaler Regierungen durch party machines im Stil des bossism einen Riegel vorschieben wollten. Diese wenig verbreitete Form (ca. 300 Städte) konsolidiert die legislativen und exekutiven Funktionen der städtischen Regierung in einem städtischen Ausschuss. (3) Auch die council-managerForm hat ihren Ursprung im Effizienzstreben städtischer Reformer. Der von der Bevölkerung gewählte Stadtrat, der aus seiner Mitte meist einen Bürgermeister wählt, übergibt hier die administrativen Funktionen an einen city-manager. Die zugrunde liegende Vorstellung ist die Abschottung einer geforderten rationalen Stadtverwaltung nach betriebswirtschaftlichen Prinzipien von der Politik. Diese Form findet man vornehmlich in sozial homogenen Vorstädten. County-Regierungen, die in vieler Hinsicht lediglich administrative Funktionen für Bundes- oder Staatsprogramme sind, sind zumeist politisch schwache Ausschüsse oder Aufsichtsräte (boards of supervisors). Insgesamt lässt sich ein Trend aufzeigen, wonach die Unterschiede zwischen den lokalen Regierungsmodellen abnehmen. Dies lässt sich in erster Linie mit konvergenten Reaktionsmustern auf sozio-ökonomische, demografische und politische Veränderungen auf der lokalen Ebene erklären. Die Reformprozesse kulminieren mehr und mehr in einen spezifischen Mix innerhalb der beiden dominanten Modelle, dem council-mayor und dem council-manager Modell (Svara 2003). Die Einnahmen der Lokalregierungen können grob vereinfacht in zwei Kategorien unterteilt werden: Finanztransfers vom Bund und den Einzelstaaten sowie selbst erhobene Einnahmen aus Steuern und Gebühren. Im Jahr 2016 nahmen die lokalen

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Regierungen insgesamt 1,6 Billionen US-Dollar (USD) ein. Rund 36 % dieser Einnahmen kamen vom Bund und den Einzelstaaten, die restlichen 64 % verteilten sich auf Einnahmen aus der Einkommenssteuer (2 %), Umsatzsteuer (7,2 %), Besitzsteuer (29,8 %) und diversen Gebühren (Census Bureau 2018). Bei den Bundeszuweisungen ( federal grants-in-aid) ist zwischen categorical grants und block grants zu unterscheiden. Der zentrale Unterschied liegt darin, wie zweckgebunden diese Mittel verwendet werden können. Categorical grants lassen den subnationalen Regierungsebenen wenig Handlungs- und Ermessensspielraum bei der Ausgabengestaltung; die Bundesgelder sind strikt an spezifische Programme und Ausgabenkategorien gebunden. Block grants hingegen werden den Einzelstaaten von der Bundesebene pauschal für breiter gefasste politische Zielsetzungen (z. B. Umweltschutz, Kriminalitätsbekämpfung) zugewiesen und bieten ihnen damit einen größeren Gestaltungsspielraum bei der Verwendung der Bundesmittel. Die spezifische Ausgestaltung der Finanzzuweisungen – die Entscheidung also, für block grants oder categorical grants – ist ein zentrales Kennzeichen der sich wandelnden föderalen Ordnung: Zentralisierung geht einher mit einer stärkeren Zweckbindung der Mittel, was die Ausgabenkontrolle durch die Bundesregierung stärkt, wohingegen Dezentralisierungstendenzen im Föderalismus auch mit der Verlagerung der Entscheidungskompetenzen in der Ausgabenpolitik auf untere Regierungsebenen verknüpft sind. Von diesen Kompetenzverlagerungen hängt auch das tatsächliche, bereits zu Beginn angesprochene demokratische Potenzial der Kommunalpolitik ab.

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Vom dualen zum kooperativen zum neuen Föderalismus

Wachsende städtische Probleme führten seit dem New Deal in den 1930er-Jahren zur Restrukturierung der Beziehungen zwischen den staatlichen Ebenen, als deren wichtigstes Resultat die Etablierung direkter Beziehungen zwischen der Bundesregierung und den lokalen Regierungen gelten kann. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise und angesichts hoher Arbeitslosigkeit sowie anderer von der Krise ausgelöster gesellschaftlicher Probleme, die über die Einzelstaaten nicht in den Griff zu bekommen waren, umging man mit dieser Unmittelbarkeit bei der Umsetzung antizyklischer politischer Maßnahmen den sperrigen Zwischenschritt über die Einzelstaaten. Ermöglicht wurden die direkten Beziehungen zwischen föderaler und kommunaler Ebene vor allem durch eine der Konjunktur geschuldete wechselseitige Abhängigkeit: benötigten Städte finanzielle Unterstützung seitens des Bundes, baute man auf föderaler Ebene auf die Unterstützung der kommunalen Verwaltungen, um Notprogramme des New Deal möglichst effizient in die Tat umzusetzen. Die Gliedstaaten ließen sich auch deshalb auf die Restrukturierung des Föderalismus ein, weil es ihnen Rechte einräumte, kommunale Verwaltungen bei der Umsetzung von bundesstaatlichen Programmen in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Sozialhilfe zu überwachen (Berman 2003, S. 23–24). Infolgedessen kam es zu einem enormen Anstieg der Bundeszuweisungen sowohl an die Einzelstaaten als auch an lokale Gebietskörperschaften. In diesen

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Entwicklungen sahen manche die Abkehr von einem hierarchischen dreigliedrigen föderalen System, in dem Kommunen lediglich den untersten Rang einnahmen und damit Befehlsempfänger waren, hin zu einem kooperativen Föderalismus (cooperative federalism), der intergouvernementale Beziehungen auf Augenhöhe ermöglichte (z. B. Reagan und Sanzone 1981, S. 3). Im Laufe der 1940er- und 1950er-Jahre vereinfachte sich wie für Stadt- und Gemeindeverwaltungen auch für Schuldistrikte, Counties und andere kommunale Verwaltungsbehörden der Zugang zu Bundesmitteln. Vor allem infolge der städtischen Unruhen der 1960er-Jahre erfuhr das Verhältnis zwischen kommunaler und föderaler Ebene durch massive Sozialprogramme des Bundes (Great Society) eine Stärkung (Lammert und Grell 2013, S. 89–93). In diesem Kontext wurde auch das Bauministerium der Vereinigten Staaten (United States Department of Housing and Urban Development, HUD) im Jahre 1965 gegründet, welches staatliche Impulse in der Stadtentwicklung und im sozialen Wohnungsbau setzen sollte. In den Jahren 1965 und 1966 wurden 130 neue grantProgramme initiiert, was bis 1968 insgesamt zu einer Erhöhung der intergouvernementalen Bundeszuweisungen auf 19 Mrd. USD führte (Welz 2007, S. 76). Auf Druck der Kommunen und mit dem Ziel, den Föderalismus anpassungsfähiger zu gestalten, wurde 1972 unter der Republikanischen Nixon Administration das general revenue sharing eingeführt, mit dem föderale Steuereinnahmen von der Bundesebene mit den Gliedstaaten und der kommunalen Ebene geteilt wurden. Besonders beliebt war diese Form der intergouvernementalen Zuwendung, weil sie nahezu ohne Auflagen und nicht zweckgebunden verteilt wurde. Ferner kam es unter Nixon zu einer Verschiebung von categorical grants hin zu block grants, die von den Kommunen und Einzelstaaten flexibler eingesetzt werden konnten. Insgesamt standen die 1970er-Jahre allerdings im Zeichen eines tief greifenden Wandels, der Folge eines technologisch ermöglichten und politisch gewollten ökonomischen Umstrukturierungsprozesses war, sich in städtischen Krisen äußerte und zu einer Umkehr in der Stadtpolitik führte. Der Bankrott New York Citys von 1975 gilt in Teilen der Stadtforschung als beispielhaft, da dort auch erstmals die wirtschaftsnahe Neuorientierung der Stadtentwicklung politische Form annahm. Unter anderem auch Konsequenz einer erodierenden Steuerbasis aufgrund nationaler und globaler ökonomischer Umstrukturierungsprozesse und der Suburbanisierung wurde jene Fiskalkrise New York Citys jedoch im politischen Diskurs nicht auf diese breiteren gesellschaftlichen Dynamiken zurückgeführt, auf welche man politisch ja auf verschiedenen föderalen Ebenen hätte Einfluss nehmen können. Vielmehr rückten Medien und führende Politiker den Verfall der Innenstädte sowie die Krawalle der späten 1960er (urban riots) in den Fokus der Debatte, weshalb statt etwa über eine neue, affirmierende Industrie- oder Sozialpolitik nachzudenken, New York City’s Staatsbankrott insbesondere in konservativen Kreisen als Sinnbild eines dysfunktionalen Wohlfahrtsstaats und Schlusspunkt der industriellen Ära interpretiert wurde. Neue Priorität erhielten nach der Krise – nicht nur in New York – unternehmerische Stadtentwicklungsstrategien, die darauf abzielten mit einem neuen, postindustriellen Image die Stadt für Investoren attraktiv zu machen (Greenberg 2008). Obgleich die Politik Nixons von vielen als Fortsetzung des kooperativen Föderalismus verstanden wurde, zeichnete sich mit der Verlagerung administrativer Funk-

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tionen an regionale Körperschaften (devolution) bereits ein Kernelement des neuen Föderalismus der Reagan Jahre ab. Einige sehen deshalb das Jahr 1972 und die mit ihm einsetzende Reduktion bundesstaatlicher Mittel und lokaler Steuereinkünfte als Geburtsstunde der unternehmerischen Stadt und des urban entrepreneurialism (z. B. Judd und Ready 1986; Peterson 1981; Leitner 1990). Gemeint ist eine die US-amerikanische Tradition des urban boosterism unter Konditionen der fiskalen Austerität fortsetzende Stadtpolitik, die sich von ihrem wohlfahrtstaatlichen Auftrag verabschiedete, um das Heil der Stadt im Wirtschaftswachstum zu suchen. Vornehmliche Aufgabe der unternehmerischen Stadt, die zur Einnahme zusehends auf neue, globale Investoren, das Zuziehen großer Wirtschaftsunternehmen und Tourismusströme setzte, wurde damit die Herstellung eines wirtschaftsfreundlichen Umfeldes, beispielsweise durch Steueranreize und ein attraktives und sicheres Wohnklima für die neuen Eliten der Dienstleistungsgesellschaft (Harvey 1989; Jessop 1998). Die Präsidentschaft Jimmy Carters kann in diesem Sinne rückblickend als episodenhafter Rückfall betrachtet werden. Er setzte ab 1976 mit seinem New Partnership to Preserve America’s Communities noch die intergouvernementale Politik des kooperativen Föderalismus fort, intensivierte sie sogar. Sein letztlich gescheiterter Versuch, eine nationale Stadtpolitik einzurichten (national urban policy), markierte jedoch das Ende eines Prozesses, den manche als rapide „Intergouvernementalisierung“ (galopping intergovernmentalization) gefürchtet hatten und zum Schreckgespenst überhöhten (Hovey 1989, S. 164): 1978 waren 28 % aller Bundesmittel direkt an lokale Regierungen gegangen, gegenüber lediglich 13 % im Jahr 1970. Zwischen 1960 und 1980 war die Zahl föderaler Programme von 132 auf 540 und die damit verbundene finanzielle Unterstützung von 7 Milliarden auf über 80 Milliarden USD gestiegen (Berman 2003, S. 25). Wer sollte sich diesen Luxus angesichts des steigenden internationalen Wettbewerbs in den Arbeitsmärkten und der ohnehin effizienteren, transparenteren und gerechteren Bereitstellung öffentlicher Güter mittels des Marktmechanismus noch leisten wollen? Ein klarer Bruch folgte. Seit der Reagan-Administration gab es einen Trend zur Reduzierung von Bundesausgaben für die Städte und eine Tendenz weg von der Unterstützung ökonomisch, fiskalisch und sozial belasteter Munizipalitäten. Der New Federalism der Reagan-Administration stellte die in der Ära des kooperativen Föderalismus gestärkten Beziehungen zwischen dem Bundesstaat und den Lokalstaaten damit klar in Frage. Während sich Demokraten und sogar weite Teile der Republikaner in den 1960er- und 1970er-Jahren noch darum bemüht hatten, ihre wohlfahrtsstaatliche Sozialpolitik mittels intergouvernementaler Lösungen umzusetzen, drang die Republikanische Partei nun darauf, politische Verantwortung von der föderalen Ebene auf die lokale und Einzelstaatenebene zu übertragen, gleichzeitig aber die Mittel hierfür nicht aus staatlichen Kassen bereitzustellen, sondern auf die Überlegenheit der Märkte zu bauen. Dass Ideen des new public management und eines verschärften Marktliberalismus besonders in den USA Anklang fanden, hängt mit einer politischen Tradition zusammen, die oftmals als staatsskeptisch und freiheitsliebend charakterisiert – und karikiert – worden ist. Es entstand ein neoliberales Modell der Stadtentwicklung und Kommunalpolitik, das ebenso in anderen politischen Kontexten zur Anwendung gekommen ist.

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Das unter Nixon eingeführte revenue sharing wurde 1986 abgeschafft und durch kleinere zweckgebundene block grants ersetzt. Im Gegensatz zu Carter setzte die Reagan-Administration nicht auf föderale Subventionen zur ökonomischen Wiederbelebung der Kommunen. Bereits in einer frühen Version des President’s National Urban Policy Report fasste man die neue Perspektive auf die Kommunalpolitik ohne Umschweife zusammen: „Städten ist kein ewiges Leben beschieden“. (zitiert in Ross und Levine 2006, S. 453) War bereits unter Nixon von Dezentralisierung und Devolution die Rede gewesen, sah Reagan nunmehr von jeglicher staatlichen Intervention ab, gleich von welcher Ebene. Block grants dienten hierbei vor allem als Mittel des Übergangs bei dem Versuch, staatliche Eingriffe zu eliminieren. Unter Reagan wurden Mittel für den sozialen Wohnungsbau um drei Viertel gekürzt, der Neubau von Sozialwohnungen komplett eingestellt. Verbunden mit der neuen Betonung privatwirtschaftlicher Prinzipien und der Eigenverantwortlichkeit subnationaler Regierungen erhöhte diese Politik in der Folge lokale Ungleichheiten. In seinem letzten Regierungsjahr beendete Reagan schließlich das Urban Development Action Grant (UDAG) Programm, ein Instrument zur Revitalisierung von Innenstädten, das dafür in Kritik geriet, zu sehr vom Staat und damit von ‚oben nach unten‘ (‚top-down‘) zu funktionieren (Ross und Levine 2006, S. 454). Konsequenz dieser neuen Politik war ein deutlicher Rückgang föderaler Zuwendungen. Stellten bundesstaatliche Förderprogramme 1979 noch 22 % der gliedstaatlichen und kommunalen Einnahmen dar, fiel diese Zahl bis 1989 auf 16 %. Zwar erhöhten die Gliedstaaten im Gegenzug ihre Unterstützung für die kommunale Ebene – von 1980 bis 1986 stieg diese Unterstützung von 83 Millionen auf 130 Millionen USD – allerdings reichte dies nicht aus, um die Umkehr der nationalen Politik aufzufangen, so dass kommunale Gebietskörperschaften sich im Sinne der unternehmerischen Stadt auf die Suche nach neuen Einnahmequellen begeben mussten (Berman 2003, S. 27). Unter der Regierung von George H. W. Bush stiegen zwar erneut die Mittel, die von der Bundesregierung an die Glied- und Lokalstaaten flossen. Jedoch kam es wegen der enormen Defizite der Reagan-Jahre zu Verdrängungseffekten, so dass in diesem Zeitraum kaum neue Programme für Städte ins Leben gerufen wurden. Zudem wurden auch durch eine restriktivere Haushaltsplanung des Kongresses die föderalen Ausgaben für Kommunen beschnitten (Ross und Levine 2006, S. 454). So stellte Demetrios Caraley im Jahre 1992 in seinem viel beachteten Aufsatz mit dem Titel „Washington Abandons Cities“ den Administrationen Reagans und Bushs für ihre innen- und, im Speziellen, kommunalpolitischen Maßnahmen des New Federalism ein verheerendes Zeugnis aus, [da jene] zu einer Kürzung föderaler Zuschüsse an lokale und einzelstaatliche Regierungen führten, die ehemals dazu dienten, armen Bevölkerungsteilen und bedürftigen Stadtbezirken zu helfen. Diese Kürzungen haben das Abdriften der großen Städte beschleunigt, insbesondere jener im Osten und Mittleren Westen. Diese Städte werden zunehmend zu verwahrlosenden, von Gewalt beherrschten, von Crack-Sucht befallenen, von Obdachlosigkeit heimgesuchten Slum Ghettos, die am Bankrott entlangschlittern. (Caraley 1992, S. 1; Übers. d. Verf.)

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Unter Bill Clinton, dem ersten Demokraten im Amt des Präsidenten seit den 1970er-Jahren, kam es keineswegs zu einer klaren Abkehr von Reagans New Federalism. Clintons Politik des Dritten Weges, die dem Markt ohnehin einen hohen Stellenwert einräumte, führte zu einer gewissen Kontinuität der politischen Ideologie; das Scheitern seiner Gesundheitsreform und seine Niederlage bei den Kongresswahlen von 1994 schränkten darüber hinaus seine politischen Handlungsspielräume deutlich ein, auch in den gesellschaftlichen Bereichen, in denen die Administration dem Staat einen höheren Interventionsanteil beigemessen hätte. Anstelle einer Rückkehr zur Idee der national urban policy entschied sich die Clinton Administration deshalb für eine Politik der kleinen Schritte, die eher indirekt Einfluss auf die Kommunalpolitik nahm, beispielsweise durch Zuschüsse für das Bildungswesen, das Gefängnissystem und zur Revitalisierung von Industriebrachen. Eine Reform des HUD nach der Wahlschlappe von 1994 führte zu einer weiteren Dezentralisierung der Stadtpolitik sowie zur Einführung leistungsabhängiger Zuschüsse. Teil dieser heimlichen Stadtpolitik (stealth urban politics) unter Clinton war auch die Ausweitung des Earned Income Tax Credit (EITC), welcher vor allem der arbeitenden Bevölkerung in Städten als Lohnauffüllung zugutekommen sollte. Der EITC genießt bis heute große Beliebtheit und ist seither gewachsen, da er als Steuergutschrift geringen bürokratischen Aufwand verursacht – der Wohlfahrtsstaat also gewissermaßen unsichtbar wird. Gleichwohl ist er wegen seiner Leistungsabhängigkeit weit vom Ideal einer sozialen Staatsbürgerschaft (social citizenship) entfernt. Diesem näherte man sich, zumindest für gewisse Bevölkerungsteile, in der Zeit des kooperativen Föderalismus an, als man staatliche Sozialdienstleistungen auch auf kommunalpolitischer Ebene nicht als Almosen, sondern Anrecht interpretierte. In einer dem EITC ähnlichen Logik waren empowerment zones und enterprise communities weitere Versuche unter Clinton, Förderungen bei der Zusammenarbeit von Stadtverwaltung, der Wirtschaft und lokalen Gemeindegruppen an das Leistungsprinzip zu koppeln – auch wenn sie die in sie gesteckten hohen Erwartungen nicht erfüllten (Ross und Levine 2006, S. 456). Dieser Trend hin zur Leistungsbindung war auch während der Regierung George W. Bushs erkennbar, unter der es aber nach dem Amtsantritt von 2001 angesichts hoher Defizite zu weiteren Einschnitten in der Kommunal- und Sozialpolitik kam. Mit den enormen Ausgaben für den Irakkrieg und den Krieg gegen den Terror geriet die Finanzierung staatlicher Sozialprogramme auf kommunaler Ebene weiter unter Druck. Wenn auch mit der Bildungsreform und glaubensbasierten Initiativen ( faithbased initiatives) Spuren eines sozialpolitischen Programms erhalten blieben, forcierte die Bush-Regierung massive Kürzungen bei Bundeszuweisungen für die kommunale Ebene. So blieben zwar community development block grants und Steuergutschriften für Niedrigverdiener erhalten, andere auf lokaler Ebene wirkende Sozialprogramme kamen jedoch massiv unter Beschuss. Bei den Bemühungen, Bundesausgaben zu begrenzen, griff die Bush-Administration wieder vermehrt auf block grants zurück unter gleichzeitiger Forcierung von Voucher-Programmen in der Bildungs- und Sozialpolitik. Barack Obama setzte mit seinen Reformversuchen einige sozialpolitische Akzente. Anzeichen für eine gewisse Einhegung unkontrollierter Märkte waren

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vor allem die Reform des Gesundheitswesens (health care reform), sowie die Konjunkturpakete in Reaktion auf die Finanzkrise. Der Recovery Act stellte sogar alle früheren Konjunkturmaßnahmen der Nachkriegszeit in den Schatten. Entsprechend verzeichnete die erste Obama-Administration auch den größten Anstieg von Bundeszuweisungen an einzelstaatliche und lokale Regierungen seit den 1970erJahren: von 461 Mrd. USD im Jahr 2008 auf geschätzte 624 Mrd. USD 2011 (Conlan und Posner 2011, S. 424). Allerdings waren zahlreiche dieser Initiativen lediglich temporär und es formierte sich auf den subnationalen Regierungsebenen gegen einige dieser Maßnahmen rasch Widerstand. Wenn sich also hier trotz aller Kontinuitäten, ein gewisser Bruch mit der Bush-Administration erkennen lässt, musste Obama in einem politischen Klima der Konfrontation und Blockade insbesondere in der zweiten Amtszeit seine Programme derart kompromittieren, dass die kommunalpolitischen Effekte seiner Sozialpolitik gering blieben. Die grundlegenden Strukturen des Föderalismus blieben dabei weitestgehend erhalten. Die Trump-Administration stoppte die ohnehin nur schwach ausgeprägte Gegenbewegung der Obama-Administration vollends und setzte den längeren Trend des bundespolitischen Rückzugs aus kommunalen Angelegenheiten weiter fort. Eine kohärente Bundespolitik gegenüber den Kommunen zeichnete sich unter Trump indes nicht ab. Um im Wahlkampf afro-amerikanische Wählerschichten zu binden und insbesondere die soziale Situation in den Innenstädten zu verbessern, hatte er zwar noch eine massive Ausweitung der Bundeshilfen angekündigt. Die Trump Administration machte insgesamt und im Widerspruch zu jenen Ankündigungen jedoch im Amt schnell Vorschläge, die Bundeszuschüsse für die kommunale Ebene mit dem Verweis auf lokale Handlungsspielräume stark zu kürzen (Lav und Leachman 2017). Im Zuge der Proteste gegen seine Immigrationspolitik auf lokaler Ebene drohte er auch ohne zu zögern damit, verschiedenen Städten, die sich als Zufluchtsstädte (sanctuary cities) gegen die Bundespolitik wehrten, den Geldhahn abzudrehen. Im Rückblick fiel das Bauministerium (HUD) unter der Leitung von Ben Carson vor allem durch Skandale und nicht durch Politikinitiativen auf. Er kündigte bereits nach kurzer Zeit an, er wolle seinen Posten zum Ende Trumps erster Amtszeit wieder verlassen. Gepaart mit dem Sozialabbau in anderen Politikfeldern fällt die Bilanz für Trumps Politik für Kommunen daher düster aus. Sie verschärfte Probleme, die sich in den letzten Jahrzehnten zugespitzt haben. Die Krise der Demokratie und Ungleichheiten, die sich Trump aufgeschwungen hatte, im Sinne des Kleinen Mannes und der Kleinen Frau anzugehen, vertieft sich.

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Von Government zu Governance

Mit dieser historischen Entwicklung der Kommunalpolitik im Kontext eines sich transformierenden föderalen Systems veränderten sich auch die Regierungstechniken und politischen Führungsstrategien – und damit das Potenzial einer direkteren Teilhabe an der Demokratie, das in der US-amerikanischen Bevölkerung als Ideal nach wie vor hoch im Kurs steht. Die in den 1980er-Jahren, vor allem unter Ronald Reagans Ägide, an Unterstützung gewinnende politische Ideologie des Neolibera-

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lismus – als der (in der Praxis letztlich unerreichbare) Versuch, Marktmechanismen in allen Lebensbereichen als Verteilungsinstrument einzusetzen (Peck 2010) – äußerte sich in einem gesellschaftlichen Übergang, der mit dem Wechsel von government zu governance beschrieben werden kann. Gemeint ist hiermit eine Verlagerung der Regierungsaufgaben und -verantwortlichkeiten von den staatlichen Institutionen auf private Akteure der Zivilgesellschaft und den Markt. Man erwartete sich hiervon eine größere Nähe zu den Bürgerinnen und Bürgern, gewissermaßen als Gegengift zum demokratischen Defizit, das sich mit Globalisierungsprozessen eingestellt hat. Erwachsen ist diese neue politische Kultur unter anderem aus einer gewissen Frustration mit den Bürokratien des fordistisch-keynesianischen Regierungsapparats der Nachkriegszeit und der Hoffnung, der Markt könne gewisse Güter effizienter bereitstellen (Vormann 2012). In den letzten Jahren paarte sich diese Skepsis gegenüber sozialpolitischer, staatlicher Invention mit einer Kritik an der Bürgerferne politischer und ökonomischer Prozesse. Im Gegensatz zu government wird governance als politische Praxis bezeichnet, die außerhalb der formalen politischen Institutionen betrieben wird und in der private und zivilgesellschaftliche Akteure entscheidende politische und wirtschaftliche Funktionen einnehmen (Slater und Tonkiss 2004, S. 143). Mit dieser Aufwertung der Zivilgesellschaft als politischer Raum ging, keineswegs zwangsläufig, eine Neugewichtung des Marktes einher. Zurückgreifend auf den Wirtschaftsliberalismus des 19. Jahrhunderts betont diese Sichtweise die Vorzüge eines unbürokratischen, emanzipatorischen und Eigeninitiative belohnenden Ausgleichs von Angebot und Nachfrage. Die zunehmend privatwirtschaftliche Bereitstellung vormals öffentlicher Güter betraf viele Bereiche der Kommunalpolitik, beispielsweise den Bau und die Instandhaltung öffentlicher Räume, Infrastrukturen wie Straßen, Häfen oder Flughäfen und Dienstleistungen wie Wasser- und Stromversorgung. Es handelt sich hier nicht nur um eine Verschiebung von öffentlicher zu privater Verantwortung, sondern vielmehr um eine komplexe Restrukturierung von Zuständigkeiten, Rechenschaftsmechanismen und Kontrollfunktionen mit weitreichenden Konsequenzen für die Demokratie. Zum einen sind die neu entstandenen Gremien und Institutionen weder rein öffentlich oder privat. Oftmals werden Funktionen auf lokaler Ebene an quasi-öffentliche Funktionsträger übertragen, die aber nicht gewählt, sondern ernannt werden. Angesichts der für die Allgemeinheit beträchtlichen Entscheidungen, die in derartigen Foren gefällt werden, stellt sich in diesen Fällen durchaus die Frage nach der Legitimität politischen Handelns. So werden beispielsweise Ausschüsse der special districts oftmals nicht anhand eines Wahlverfahrens bestimmt, sondern von lokalen und einzelstaatlichen Entscheidungsträgern eingesetzt. Wenig trennscharf ist die Unterscheidung zwischen Öffentlichem und Privatem auch deshalb, weil der Staat auf kommunaler Ebene privatwirtschaftlich ausgelagerte Funktionen direkt und indirekt entscheidend mitgestaltet. Öffentlich-private Partnerschaften (public-private partnerships), beispielsweise in der Stadtentwicklung, gehen oftmals einher mit Subventionen für Bauunternehmen und Investoren, mit Steuervergünstigungen bei gleichzeitiger Haftungsgarantie der öffentlichen Hand.

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Mit der verstärkten Marktorientierung der Kommunalpolitik haben sich auch veränderte Kontrollmechanismen etabliert, deren Maßstab nicht das demokratische Gemeinwohl, sondern vielmehr die Rentabilität geworden ist. Angesichts der zunehmenden Abhängigkeit von volatilen Kreditmärkten sind es oftmals Rating Agenturen, die über die Kreditwürdigkeit – und damit über die Funktionsfähigkeit – von Kommunen entscheiden (Hackworth 2007). Die Depolitisierung der kommunalen Ebene äußert sich auch darin, dass neue governance-Strategien, wie beispielsweise die Gentrifizierung von Stadtteilen, als nicht gesteuerter Prozess der Stadtentwicklung verstanden werden (Vormann und Schillings 2013). Davon zeugt auch das Vokabular von Stadtentwicklern, Architekten und Planern, die von der „Revitalisierung“ von Stadtteilen und der „Wiederbelebung“ ganzer Nachbarschaften sprechen, als seien diese Entwicklungen organisch gewachsen, völlig natürlich und unpolitisch (Smith 2002). Dieses Verständnis unterminiert weiter die Leistungsfähigkeit kommunalpolitischer Funktionen, die immer weniger durch demokratische Kontrollmechanismen legitimiert sind und zunehmend von technokratischen Instanzen und externen Akteuren umgesetzt werden. Dabei wäre eine aktiv eingreifende Kommunalpolitik im demokratischen Interesse durchaus möglich, beispielsweise im sozialen Wohnungsbau oder beim Mieterschutz. Mit der scheinbar neutralen Ausverlagerung wichtiger kommunalpolitischer Funktionen an die Privatwirtschaft und nicht rechenschaftspflichtige Institutionen verschärfen sich gesellschaftliche Ungleichheiten auch auf lokaler Ebene, die zur Erosion demokratischer Partizipationsmöglichkeiten beitragen.

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Fazit

Ungeachtet ökonomischer und politischer Krisen und trotz des gesellschaftlichen Wandels ist das Vertrauen in die Kommunalpolitik in den USA über die letzten hundert Jahre sehr stabil geblieben. Dieses Vertrauen ist sicherlich zu einem großen Teil Konsequenz der weitreichenden Freiheitsräume, die die Einzelstaaten der kommunalen Ebene von Beginn an eingeräumt haben und die sich auch in einer Vielfalt von Regulierungsmechanismen und Partizipationsformen ausdrückt. Dieser Glaube an die Kommunalpolitik hat sich auch erhalten, nachdem sich die Autonomiebereiche im Zuge von Föderalismusreformen gewandelt haben. In der Entwicklung vom dualen zum kooperativen zum neuen Föderalismus hat sich die politische Rolle der kommunalen Ebene jedoch grundlegend verändert. Im dualen Föderalismusmodell lässt sich eine verstärkte Integration von kommunaler und einzelstaatlicher Ebene erkennen, an der sich auch die Kompetenz- und Aufgabenverteilung orientierte. Nach der Weltwirtschaftskrise und im Zuge des New Deal wurde die Rolle der Einzelstaaten in innenpolitischen Bereichen begrenzt und die Kommunalpolitik schrittweise zum Instrument der föderalen Sozialpolitik ausgebaut. Diese enge Verbindung zwischen kommunaler und föderaler Ebene ist im Kontext der grundlegenden gesellschaftlichen Transformationsprozesse der 1960erund 1970er-Jahre wieder aufgebrochen worden. Im Rahmen des Neuen Föderalismus der Reagan-Administration wurden weitreichende Zuständigkeiten bei gleich-

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zeitiger Kürzung der Mittel an die Kommunalpolitik transferiert. Dies ging einher mit der Privatisierung und Zersplitterung kommunalpolitischer Funktionsbereiche, die damit oftmals auch der demokratischen Kontrolle enthoben wurden. Mit Trumps Politik der Deregulierung und Dezentralisierung setzt sich das Problem der Unterfinanzierung der Kommunen fort und verschärft sich gar. Wenn sich also auch die Vielfalt kommunalpolitischer Strukturen weitgehend erhalten, ja sogar verstärkt hat, bergen die aufgezeigten Veränderungen gerade unter der TrumpAdministration neben dem Steuerungsverlust die Gefahr, die Kommunalpolitik als Ort demokratischer Partizipation und als Legitimationsquelle demokratischer Politik zu unterlaufen. Gleichzeitig formiert sich aber auf der lokalen Ebene auch Widerstand gegen die Politik der Bundesregierung. Die Kongress-Zwischenwahlen 2018 haben einer extremen Mobilisierung und Politisierung der kommunalen Ebene Ausdruck verliehen. Neben gestärkten Stadtnetzwerken (wie C-40) wurde außerdem in bestimmten Kreisen sogar die Möglichkeit der Sezession einzelner Städte debattiert. Angesichts der skizzierten historischen Entwicklungslinien der Kommunalpolitik in den USA, die immer auch das Potenzial politischer Erneuerung in sich trugen, ist es derzeit unklar, ob diese Tendenzen unter Trump eher als eine weitere Fragmentierung der US-Demokratie zu werten sind oder aber als ein erstes Zeichen ihrer Renaissance.

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Teil IV E pluribus unum? Öffentlichkeit und Teilhabe

Amerikanische Öffentlichkeit und ihre Infrastrukturen Christoph Raetzsch

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die journalistische Öffentlichkeit des modernen Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Die digitale Öffentlichkeit: Von der Krise zur (un)angenehmen Pluralität . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Der Begriff der Öffentlichkeit ist zentral für die Analyse der modernen, amerikanischen Gesellschaft. An ihm kristallisieren sich exemplarisch gesellschaftliche Aushandlungsprozesse über demokratische Teilhabe, politische Willensbildung und die technologischen Grundlagen von öffentlicher Kommunikation. Dieser Beitrag behandelt die Medien und Infrastrukturen dieser Öffentlichkeit in den USA seit dem 19. Jahrhundert in Bezug auf Journalismus und soziale Medien der Gegenwart. Im ersten Teil wird die Anfangsphase der Massenpresse als eine grundlegende Konstellation der journalistischen Öffentlichkeit erläutert, die mit dem Aufkommen des Internet und der sozialen Medien seit Beginn der 2000er-Jahre in eine fundamentale Krise geraten ist. Im zweiten Teil wird dann der problematische Charakter von sozialen Medien diskutiert, die sich als neutrale Plattformen für die Vermittlung von Kommunikation zwischen einzelnen Nutzer_innen sehen, jedoch gleichzeitig eine algorithmen- und datenbasierte Infrastruktur der digitalen Öffentlichkeit schaffen, in der Journalismus nur noch ein Akteur unter Vielen ist.

C. Raetzsch (*) Department of Media and Journalism Studies, Aarhus University, Aarhus, Dänemark E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_52

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Schlüsselwörter

Digitale Öffentlichkeit · Soziale Netzwerke · Journalismus · Infrastruktur · Digitale Medien

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Einleitung „[W]e cannot easily line up the public spheres of different nations on a chart of ‚more‘or ‚less‘ public sphere-ness. We have public spheres of different personality.“ (Schudson 1994, S. 539)

Öffentlichkeit kann vorausgesetzt oder eingefordert werden. Sie ist Mittel der Macht und zentrales Instrument der Kritik am Machtmissbrauch. Sie wurde oft erst durch Formen des Journalismus möglich, sie ist Zeitvertreib und Forum des Austauschs, oder stellt als Gegenöffentlichkeit die Verhältnisse in Frage. Sie findet Ausdruck in einem Tweet, einem Plakat am Zaun, einer alltäglichen Unterhaltung oder der Liveübertragung aus dem Parlament oder Stadion. Öffentlichkeit soll ein Raum der Diskussion und Sinnstiftung sein, wie auch die Kontrolle staatlicher Gewalt ermöglichen. Öffentlichkeit soll politische Interessen und Machtgefüge verhandeln, ist selbst aber in direktem Sinn nicht mit Macht ausgestattet. Sie ist, wie Charles Taylor es ausdrückte, ein „space of discussion that is self-consciously seen as being outside power. It is supposed to be listened to by power, but it is not itself an exercise of power.“ (Taylor 2002, S. 114). Öffentlichkeit erlangt Macht erst durch die Teilhabe und Aufmerksamkeit Vieler, durch die Artikulation und Bündelung von Einzel- und Kollektivinteressen, die als Wahlstimmen politische Mehrheiten schaffen. In der Öffentlichkeit wird öffentliche Meinung generiert und erlangt somit politische Macht: „public sphere is conceived as a vehicle for marshaling public opinion as a political force“ (Fraser 2007, S. 7). Um dieses Gefährt (dieses vehicle) auf den Weg zu bringen, braucht es Austausch, Konversation und Deliberation Vieler mit Vielen. Der amerikanische Soziologe Michael Schudson mahnt jedoch, dass Konversation allein kein Maßstab demokratischer Teilhabe sei, denn sie ist voraussetzungsvoll und oft exklusiven Kreisen vorbehalten. Konversation könne eben auch „unbequem [uncomfortable]“ und konfrontativ sein (Schudson 1997, S. 299). Demokratische Teilhabe im politischen Sinn wird nach Schudson erst durch Institutionen gewährleistet, die ihre demokratische Legitimität auf organisatorische Routinen der Kontrolle und Beobachtung stützen. Erst dadurch wird Öffentlichkeit als politischer Akteur in der Gesellschaft verankert, nicht allein durch deliberative Prozesse (Schudson 1992). Allen voran ist dies die Rolle und Aufgabe journalistischer Institutionen, aber auch parlamentarischer Ausschüsse und des Bildungssystem (Schudson 1994). Öffentlichkeit ist kein neutraler, universeller oder eindeutig positiver Begriff. Es ist ein normativer und analytischer Begriff, anhand dessen Geschichte der Wandel von Teilhabe an und in der Gesellschaft sichtbar wird. In seinem Grundlagenwerk Strukturwandel der Öffentlichkeit (1961) stellte der deutsche Philosoph Jürgen

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Habermas treffend fest, dass Öffentlichkeit vor allem die Gestaltung eines Verhandlungsraums meine, in dem aus persönlichen und privaten Interessen politische Forderungen an Staat und Gesellschaft formuliert werden. Trotz aller historischen Veränderungen seit den Zeiten der griechischen Agora, die allein besitzenden Männern vorbehalten war, hat „das ideologische Muster [der Öffentlichkeit] seine Kontinuität, eben eine geistesgeschichtliche, über die Jahrhunderte bewahrt.“ (Habermas [1961] 1991, S. 57) Dieses ideologische Muster umschreibt eine bis heute äußerst wirksame Vorstellung davon wie sich aus verschiedenen privaten Interessen gemeinsame Aufgaben und Ziele ergeben, nach denen Gesellschaft ausgerichtet werden soll (Weintraub 1997). Auch in Zeiten des digitalen Wandels und der global verfügbaren sozialen Medien bleibt die normative Frage relevant, was Öffentlichkeit leisten soll und wie sie tatsächlich dazu im Stande ist. Zwischen den beiden Polen des Anspruchs und seiner Verwirklichung liegt wiederum das heute sehr breite Spektrum von persönlicher und öffentlicher Artikulation, die nun nicht mehr eindeutig durch verschiedene Medien getrennt voneinander sind. Ist aber jeder like, share und Kommentar gleich ein Beitrag zu einem öffentlichen Interesse? Wo soll oder kann die Grenze zwischen persönlichem und öffentlichem Interesse heute noch gezogen werden? Öffentlichkeit erscheint noch immer als ein „Komplex“ von Akteuren, Institutionen und Kommunikationen über alle gesellschaftlichen Ebenen hinweg, den wir heute wieder als „konfus“ wahrnehmen (können), der uns aber noch stets herausfordert „unsere eigene Gesellschaft von einer ihrer zentralen Kategorien her systematisch in den Griff zu bekommen.“ (Habermas [1961] 1991, S. 57–58). Öffentlichkeit war lange nur der anonyme Adressat kollektiver Vorstellungen und Wünsche. Sie war eine Gesellschaft von Fremden mit unterschiedlichen Interessen und Wahrnehmungen gesellschaftlicher Realitäten. Zunehmend wird Öffentlichkeit aber sichtbar als ein Netzwerk aus ‚semi-öffentlichen‘ Bekannten (Klinger 2018). Durch Öffentlichkeit soll normativ gesehen politische Willensbildung möglich werden, bevor sie in einen parlamentarischen Prozess eintritt. Sie soll ermöglichen, dass Bürger_innen eines Staates – nicht nur eines demokratischen Staates – aus ihrem persönlichen Umfeld heraustreten und zur Formulierung und Verhandlung kollektiver Interessen und Handlungsspielräume beitragen. Inwieweit Öffentlichkeit dazu in der Lage ist, unterliegt notgedrungen unterschiedlichen politischen, technologischen und sozialen Bedingungen. Ziel dieses Beitrags ist es, den Begriff der Öffentlichkeit im Rahmen einer kurzen Medien- und Technologiegeschichte in Bezug auf die USA zu diskutieren. Durch das Zusammenspiel von ‚ideologischem Muster‘ und seiner medialen wie sozialen Verwirklichung z. B. im Journalismus oder durch soziale Medien, soll deutlich werden, wie Vorstellungen von Öffentlichkeit eng an den Wandel von Technologien, Institutionen und Akteuren gekoppelt sind und waren. Die Frage ist, ob sich dadurch an dem „ideologischen Muster“ und seinem normativen Anspruch etwas geändert hat, oder ob die Wahrnehmung einer Krise der Öffentlichkeit nur Ausdruck einer neuen Pluralität ist, die wir in ihrer Tragweite erst ansatzweise beginnen zu verstehen. Der Beitrag gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Teil wird ein Überblick zur

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Frühphase der Etablierung einer journalistischen Öffentlichkeit und ihrer Infrastrukturen durch die Presse im 19. Jahrhundert in den USA gegeben. Im zweiten Teil wird diese in eine Krise geratene Öffentlichkeit in Bezug zu sozialen Medien als scheinbar neutralen Plattformen der rein technischen Vermittlung kritisch diskutiert. Den Abschluss bildet eine Diskussion digitaler Öffentlichkeiten und ihrer Infrastrukturen jenseits des Journalismus, die im Fazit auf ihre normativen und empirischen Auswirkungen hin betrachtet werden.

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Die journalistische Öffentlichkeit des modernen Amerika

Der französische Philosoph Alexis de Tocqueville schrieb in seiner Studie des jungen Amerika in den 1830er-Jahren den bemerkenswerten Satz: „Means then must be found to converse every day without seeing each other, and to take steps in common without having met.“ (de Tocqueville 2002, S. 634) Diese Aussage bringt ein Grundproblem moderner Gesellschaften und ihrer politischen Ordnungen zum Ausdruck: Wie können räumliche und zeitliche Entfernung zwischen Staat und Bürger_innen überwunden werden, ohne den Sinn eines Gemeinwesens in einer Gesellschaft von Fremden zu verlieren? In Bezug auf die USA ist hier die Dimension der räumlichen Entfernung von besonderer Bedeutung. Die lokale Gemeinschaft in den Siedlungen des jungen Amerika, war in der Frühphase konstitutiv für Identität(en) fernab des alten Europa, seiner Traditionen und feudalen Staatsstrukturen. Die Stärke dieser lokalen amerikanischen Identität geht allerdings auch einher mit Distanz zur Politik der Hauptstadt Washington. Effektive Mittel der Kommunikation über Distanzen hinweg waren also nötig, um in diesem Geflecht lokaler und nationaler Interessen überhaupt gemeinsam Entscheidungen treffen zu können. Der kanadische Medienwissenschaftler Harold Innis nannte die Eignung von Medien, Zeit und Raum zu überwinden den bias of communication: ob ein Medium besonders gut für die Bewahrung des Wissens über die Zeit oder den Transport durch den Raum geeignet sei, präge in signifikantem Maße die Gesellschaft, in der es genutzt wird (Innis 1949). Diese Annahme ist zwar mittlerweile deutlich revidiert worden, sie bringt aber mit Hinblick auf die USA einen entscheidenden Punkt zu Ausdruck: Die sehr frühe Expansion der jungen Nation schaffte auch entscheidende Grundlagen für Infrastrukturen der Kommunikation über große Distanzen hinweg (Vormann 2015). Bis in das 19. Jahrhundert tragen vorwiegend Pferdekutschen Güter und Post, Nachrichten und Personen von Ort zu Ort. Für den Drucker einer Zeitung in der amerikanischen Provinz des 18. Jahrhunderts ist es noch relativ unerheblich, wann oder ob etwas Bemerkenswertes anderswo passiert. Es wird ausgeschnitten, abgeschrieben und gedruckt, was einem in die Hände fiel (Pasley 2001; Leonard 1995; Smith 1988); Nachrichten blieben Beiwerk des Druckens von Zeitungen, „an unsought-for by-product“ (Carlson 1942, S. 63). In der amerikanischen Provinz sind Neuigkeiten durch „Hörensagen“ ohnehin schneller zu bekommen, das Gedruckte gilt als „exotisch“ (Warner, 1990, S. 17). Der amerikanische Staat subventioniert die

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Versendung von Zeitungen durch das Postsystem (John 1998, 2010; Starr 2004), um in der jungen Republik die Kommunikation zwischen entfernten Ortschaften und den großen Zentren der Ostküste zu ermöglichen. Zeitungen werden das transportable, flexible Medium des öffentlichen Lebens, das eine hohe Bandbreite an Formaten kennt. Sie sind zwar noch weit entfernt von modernem Journalismus, aber versammeln auf ihren meist nur vier Seiten einen veritablen Index der Gesellschaft: „Americans had acquired the habit of announcing everything in the newspapers, and of searching them for information of all kinds“ (Faÿ 1927, S. 21–29). Anfänge der Massenpresse in der Penny Press Erst mit dem Beginn der penny press in den 1830er-Jahren wird aus der unsystematischen, unregelmäßigen Verbreitung von diversen Inhalten durch Zeitungen ein marktorientiertes Produkt, dass einer sich schnell wandelnden und wachsenden Gesellschaft als Leitmedium der Information und Kommunikation dient. Dieses Medium ist nicht länger durch teure Abonnements und exzessive Größe des Papiers nur einer Minderheit zugänglich, sondern richtet sich in Preis und Aufmachung an ein breites Publikum (Schudson 1978). In der ersten Ausgabe der New Yorker Penny Zeitung Sun von 1833 heißt es bezeichnend, diese kleine und erschwingliche Zeitung biete neben sämtlichen Nachrichten des Tages eben auch ein vorteilhaftes Medium für Werbung: „The object of this paper is to lay before the public, at a price within the means of every one, ALL THE NEWS OF THE DAY, and at the same time afford an advantageous medium for advertising.“ (The Sun, 3. September 1833, S. 1, originale Typografie). Erst mit der regelmäßigen Erscheinungsweise und der Orientierung auf ein allgemeines Publikum werden aus den diversen gedruckten Neuigkeiten tatsächlich Nachrichten in einem öffentlich relevanten Sinn (Schudson 2013, S. 32). Gleichzeitig ist diese Umbruchphase auch gekennzeichnet durch eine große Offenheit für viele neue Arten von Inhalten, Formaten, experimenteller Typografie, ersten Abbildungen und Fortsetzungsgeschichten, die große Aufmerksamkeit und öffentliche Diskussion nach sich ziehen, auch wenn sie, wie im Fall des Great Moon Hoax von 1835, rein fiktiver Art sind (Goodman 2008). Wie Henry Adams in seinen Memoiren schreibt: „Any man who was fit for nothing else could write an editorial or a criticism.“ (Adams [1918] 1999, S. 179). Die Periode der 1830er-Jahre ist von besonderer Bedeutung für einen tief greifenden Wandel der amerikanischen Öffentlichkeit. Zum einen erweitert die Popularisierung der Tageszeitung den Zugang zu Informationen und Kommunikation für weite Teile der Bevölkerung. Zum anderen wird durch Spezialisierung die regelmäßige Verbreitung von Nachrichten zu einem lukrativen Geschäft und die journalistische Profession wird eine eigenständige, ökonomische und politische Instanz (Starr 2004). Demgegenüber wandeln sich aber auch die Formen der bürgerlichen Identität, die ihrerseits neue Bedürfnisse nach Information und Kommunikation erzeugen. Aus der exklusiven Bürgerschaft anglo-amerikanischer gentlemen im 17. und 18. Jahrhundert wird durch die Massenpresse ein Repräsentant der Öffentlichkeit geschaffen, der die Beteiligung großer Bevölkerungsschichten durch Parteien,

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Gewerkschaften und soziale Bewegungen im 19. und 20. Jahrhundert strukturiert und begleitet (Schudson 1998). Wie der amerikanische Soziologe Robert Park bereits 1923 treffend feststellte, ist der öffentliche Charakter einer Zeitung in ihrer Verbreitung zu sehen, nicht allein in ihrer Herstellung: „A newspaper is not merely printed. It is circulated and read. Otherwise it is not a newspaper“ (Park 1923, S. 274–75). Durch die Hinwendung zu journalistischen Nachrichten über eine Welt von mehr und mehr Fremden können Leser_innen eine Vorstellung von der Widersprüchlichkeit ihrer Gegenwart erlangen oder ein gemeinsames Narrativ der Gegenwart entwickeln. Der Kontakt zu einer vor allem national aufgefassten Gesellschaft wird Ende des 19. Jahrhunderts vor allem durch Medien hergestellt, imaginiert und verbreitet. Damit tritt auch eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Fremden ein, die sich zunehmend der neuen Technologien bedienen, die Distanz und Nähe ermöglichen (Anderson [1983] 2006). Gleichzeitig wird aus der Presse im Zuge dieser Entwicklung jener Repräsentant der Öffentlichkeit, dem es gelingt Macht auszuüben, ohne sie im verfassungsmäßigen Sinne eigentlich zu haben. Öffentlichkeit wird vor allem durch die Presse hergestellt, indem sie Themen und stories aufgreift und verbreitet, die nicht allein jene betreffen, die an dieser Herstellung beteiligt sind: „For the essence of the consequences which call a public into being is the fact that they expand beyond those directly engaged in producing them.“ (Dewey 1927, S. 27). Habermas Definition bürgerlicher Öffentlichkeit als „die Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute“ (Habermas [1961] 1991, S. 86) lässt sich in diesem Sinn auch kritisch verstehen: In der Publikumsrolle wird Öffentlichkeit zunehmend abhängig von Infrastrukturen und Darstellungsformen von Medien, die zwar zu einer größeren Unabhängigkeit der journalistischen Profession führen, gleichzeitig aber auch die Ebene alltäglicher, sozialer Sinnstiftungsprozesse beginnen zu ignorieren. Die Etablierung eines modernen Marktmodells der Öffentlichkeit Die Frühphase der Massenpresse in den USA ist insofern signifikant, weil sie ein Marktmodell öffentlicher Kommunikation etabliert, dass bis an das Ende des 20. Jahrhundert nicht in Frage gestellt wurde. Mit der Kommerzialisierung der Presse und ihrer wachsenden Markorientierung wird auch das Ende der bis dahin prägenden Beziehung von Kommunikation und Transport eingeläutet, die für elementare Infrastrukturen der Presse und des Kommunikationswesens prägend war. Bereits 1846 wird Associated Press als Telegraphenbüro verschiedener New Yorker Zeitungen gegründet (Blondheim 1994), was den Wettlauf um die schnelle Beschaffung von Nachrichten, vor allem aus Europa mittels Schiffen, Pony Express und Eisenbahn mit einem Mal beendet. Nachrichten werden nun per elektrischem Signal versendet – nicht ausschließlich, aber doch in zunehmendem Maße. Der Telegraph ist, wie Tom Standage es nannte, das „viktorianische Internet“ (Standage 2007). Er beendet die Abhängigkeit von Kommunikation an Transportverbindungen, auch wenn es mehrere Anläufe braucht, bis ein zuverlässiges Kabel die alte und neue Welt verbindet. Die dafür nötigen Investitionen werden erst möglich, weil die Voraussetzungen des Eintritts in den Pressemarkt sich seit der Institutionalisierung der Presse deutlich erhöht haben.

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Die Zeitung ist nicht mehr nur ein Beiprodukt des Druckgewerbes. Sie wird in einem modernen Sinn eine Industrie mit immer größerer Produktvielfalt. Damit ändern sich aber auch die Zugangsbedingungen zur Teilhabe an dieser Öffentlichkeit. Aus dem Modell von Kommunikation als Übertragung (mittels Druck, Transport und Verbreitung) wird im Laufe des 20. Jahrhunderts zunehmend ein Modell des Rituals, des regelmäßigen Konsums von Nachrichten und Unterhaltung, in dem sich soziale Normen, Werte und Vorstellungen über ein abstraktes Gebilde namens Gesellschaft formen (Carey 1989). So stellte Herbert Gans mitten in der Krise des Journalismus Anfang der 2000er-Jahre fest: „Much of the audience is interested in keeping up with the news rather than being politically involved citizens.“ (Gans 2003, S. 21). Journalismus und Medien werden zu einem „framing and organizing device for . . . experience“ (Bird, 2003, S. 17), eine Erfahrung die sich im Ritual der gemeinsamen Hinwendung zu Medien und ihren Inhalten verstetigt und den Medienkonsument_innen die Rolle eines Publikums zuweist, auch wenn diese Rolle vielfältig und aktiv ausgedeutet werden kann. Allerdings gibt es für die Auswahl der Inhalte, wie bereits Walter Lippmann 1922 feststellte, keine objektiven Standards: „Every newspaper when it reaches the reader is the result of a whole series of selections (. . .). There are no objective standards here. There are conventions.“ (Lippmann [1922] 1997, S. 223) Blondheim und Liebes argumentieren, dass die ritualisierte Form der Herstellung und des Konsums von TV-Nachrichten im 20. Jahrhundert vor allem dazu dient, einen Rahmen zu schaffen, in dem das Unerwartete und Neue in Bekanntes und Tradiertes eingepasst werden kann. Statt der einordnenden Zusammenstellung ‚aller Nachrichten des Tages‘, die für ein Publikum durch Journalisten selektiert werden, selektiert das Publikum nun aber auch selbst nach individuellem Gusto. Was im 20. Jahrhundert als Grundlage des Journalismus galt, eben jene Nachrichten sorgfältig zu selektieren und aufzubereiten, verliert online seine Notwendigkeit: „The constant breath-taking bombardment of news fragments that do not cohere and make no sense represents a breakdown of the illusion of a safe and manageable world outside.“ (Blondheim und Liebes 2009, S. 193). Man kann diese Diagnose natürlich auch in Frage stellen, denn auch Journalismus muss ja mit Annahmen über sein Publikum und die Relevanz von Nachrichten operieren, die möglichst marktfähig sind. Es kommt hier aber zum Ausdruck, dass die spezifisch moderne Form der journalistischen Öffentlichkeit, die in diesem kurzen Überblick skizziert ist, ein bemerkenswert konsistentes Schema aufweist. Über die Verbreitung von Inhalten mit öffentlicher Relevanz oder öffentlichem Interesse wird eine Marktmacht aufgebaut, die vor allem durch Werbung und ritualisierten Konsum zu einer Verstetigung von Kommunikationsbeziehungen unter Fremden in der individualistischen, amerikanischen Gesellschaft beiträgt. Man kann die zentrale Rolle journalistischer Institutionen und ihrer Medien hier schon in den Rang eines Paradigmas der Öffentlichkeit stellen. Es wird aber auch deutlich, dass sich dieses Paradigma in weiten Teilen überholt hat. Dabei geht es weniger darum, die Möglichkeiten digitaler Medien und Netzwerke für eine Art Journalismus 2.0 auszunutzen, sondern kritisch zu fragen, ob Journalismus als Repräsentant der Öffentlichkeit in der Demokratie noch unabdingbar ist. Die Aufrechterhaltung

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marktorientierter Verbreitung von Inhalten, die Orientierung an einer news agenda und deren in Teilen wenigstens öffentlichkeitsrelevante Funktion scheint den Erfordernissen der tatsächlichen Teilhabe an einer pluralen Demokratie kaum noch gerecht zu werden. So argumentieren Peters und Witschge: „There may indeed be much to be gained from retiring the concept of democracy for understanding contemporary journalistic practice (. . .)“ (2014, S. 30). Zunehmend verwenden öffentliche Institutionen, der amerikanische Präsident, und Mitglieder der Gesellschaft dieselben digitalen Plattformen, die auch Bürger_innen und Medienproduzent_innen zur Verfügung stehen, um Inhalte aber auch Positionen direkt in die Öffentlichkeit zu tragen und untereinander zu teilen. Die spezifische Vermittlungsleistung und Repräsentativität von journalistischer Kommunikation für Öffentlichkeit, die sich im 19. Jahrhundert etablierte und im 20. Jahrhundert institutionalisierte, wird damit untergraben und muss neu verhandelt werden (Schudson 2018). Wie aber können aus der Krise des Journalismus neue Potenziale einer digitalen Öffentlichkeit erwachsen, die durch eine radikale Pluralität gekennzeichnet wären, also die Vielzahl von Öffentlichkeiten ernst nähmen in denen sich Bürger_innen heute bewegen und beteiligen?

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Die digitale Öffentlichkeit: Von der Krise zur (un)angenehmen Pluralität

Seit Anfang der 2000er-Jahre wird das oben skizzierte Paradigma der national orientierten, journalistischen Öffentlichkeit zunehmend in Frage gestellt. Dabei gesellt sich zur Diagnose einer manifesten wirtschaftlichen Krise des Journalismus die Befürchtung, dass auch die demokratischen Werte und Vorstellungen dieser Öffentlichkeit auf der Strecke bleiben könnten. Die Krise des amerikanischen Journalismus beruht dabei vor allem auf seiner sehr marktbezogenen Verbreitung und der starken Abhängigkeit von Werbeeinnahmen, vor allem im Zeitungsjournalismus. Öffentlich-rechtlicher Journalismus wie in Frankreich oder Deutschland existiert in den USA nicht. Hinzu kommen die drastisch gewandelten Konsumgewohnheiten des Publikums, in denen Journalismus keine exklusive Rolle der gesellschaftlichen Sinnstiftung mehr einnimmt (Siles und Boczkowski 2012). Auch die Arbeitsroutinen im Journalismus unterliegen dabei einem drastischen Wandel. Die Orientierung auf die Präferenzen des Publikums und dessen Konsumverhalten steuern online maßgeblich wie lange und worüber berichtet wird: „horizontal circulation of news acts back quickly on the consciousness of the journalists and helps to shape what they choose to cover“ (Schudson 2011, S. 70). Angesichts dieser tief greifenden Veränderungen ist bereits von einem „post-industrial journalism“ (Anderson et al. 2012) die Rede. Es werden Forderungen nach einer „reconstruction“ der Prinzipien des unabhängigen Journalismus laut (Schudson und Downie 2009), die vor allem seine Marktorientierung in Frage stellen und zu vielfältigen Experimenten mit neuen Formaten, Verbreitungswegen und kollaborativen Rechercheformen auffordern (Deuze und Witschge 2018).

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Steht nun mit der Krise des Journalismus in der digitalen Kommunikationswelt der sozialen Medien und des Internet auch das Ideal der Öffentlichkeit selbst in Frage? Tragen die zunehmend polarisierten, (semi-)öffentlichen Debatten in Onlineforen und vernetzten Plattformen (Klinger 2018) wie auch die gezielte Meinungsmache und -manipulation in sozialen Netzwerken dazu bei, dass die amerikanische Öffentlichkeit in ein „post-truth“ Zeitalter eingetreten ist (Benkler et al. 2018) und die Grenzen von fake und echten news verwischen (Tandoc et al. 2017)? Noch dazu wird es immer schwerer nachzuvollziehen, auf welchen Wegen sich Nachrichten z. B. durch Messengerdienste in kleinen, nicht öffentlichen Gruppen verbreiten, dem so genannten dark social (Swart et al. 2018). In Anlehnung an Kreide (2016, S. 482) hilft es vielleicht, die gegenwärtige Pathologie der digitalen Öffentlichkeit durch diese drei Punkte zu charakterisieren: I) Die Abhängigkeit von Expert_innen für den politischen Entscheidungsprozess ignoriert oder marginalisiert vielfach öffentliche Willensbildung oder Deliberation. Normativ gesehen ist also Deliberation sehr voraussetzungsvoll und damit nicht uneingeschränkt zugänglich. Der Prozess politischer Entscheidungsfindung erfordert darüber hinaus neue Kommunikationsebenen zwischen Gesellschaft und Politik die auf Beteiligung abzielen und die durch Formate des klassischen Nachrichtenjournalismus bislang nicht bereit gestellt werden können. II) Die Ökonomisierung öffentlicher Kommunikation führt dazu, dass rein statistisch begründete Ähnlichkeiten im Verhalten von Nutzer_innen als Indikator für gesellschaftliche Relevanz genommen werden. Dabei zielen die Strategien sozialer Netzwerke wie auch journalistischer Institutionen auf die möglichst lange Aufrechterhaltung von Aufmerksamkeit für populäre Inhalte und die Erhöhung der Verweildauer zur Verbreitung von Werbung (siehe auch Seaver 2018). Dies führt zu einer Verstärkung gleicher oder ähnlicher Botschaften, die dem grundsätzlich konflikthaften Charakter öffentlicher Kommunikation widersprechen. Wer sich nicht mehr bemühen muss, gegenteilige Positionen überhaupt wahrzunehmen, stellt über lange Zeit auch deren Legitimität an sich in Frage, wie an rechtsextremen und rassistischen Netzwerken wie auch den alternativen Medien von Verschwörungstheoretikern deutlich wird. III) Diese Strukturmechanismen schaffen Netzwerkeffekte der Verstärkung zur Verbreitung von Einzelkommunikationen und werden zunehmend (und oft sehr effektiv) von anti-demokratischen Akteuren benutzt, um gezielt die Legitimität journalistischer Kommunikation (als fake news) wie auch jene der politischen Gegenseiten zu unterminieren. Öffentlichkeit nicht als das Forum der Deliberation zu sehen, sondern als Bühne der eigenen Weltwahrnehmung zu instrumentalisieren birgt die Gefahr der langfristigen Entwertung demokratischer Willensbildung zugunsten einer populistischen Meinungsmache, die insbesondere durch soziale Netzwerke verstärkt wird und damit dem demokratischen Ideal individueller Teilhabe an Gesellschaft infrastrukturell entgegen steht.

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Diese Entwicklungen stehen im Konflikt mit der scheinbaren Neutralität, mit der soziale Medien sich allein als Plattformen individueller und kollektiver Kommunikation darstellen. Im Gegensatz zu öffentlich-rechtlichen oder auch kommerziellen Anbietern journalistischer Inhalte, stellen sich soziale Medien wie Facebook oder Twitter gern als neutral agierende Plattformen dar, die nur als technische Vermittler von Usern und Inhalten agieren, die aber für die Erstellung und Kontrolle der Inhalte wenig oder gar nicht verantwortet sind. Sie leben von der Analyse nutzergenerierter Inhalte (user generated content, UGC) und den Daten über Interaktionen zwischen Nutzer_innen um diese Inhalte herum. Diese Daten erlauben wiederum das Nutzungsverhalten und die Konsumgewohnheiten von Millionen von Nutzer_innen systematisch auszuwerten und für Werbung nutzbar zu machen. Tarleton Gillespie kritisiert, dass sowohl die internen Hierarchien, Algorithmen und Einflussmöglichkeiten auf die Gestaltung und Verbreitung von Inhalten obskur bleiben, aber auch, dass es eine ausgeprägte Aversion gegen staatliche Reglementierung in den USA gäbe: „platform suggests an impartial between-ness that policymakers in the U.S. are eager to preserve – unlike European policymakers, where there is more political will to push responsibility onto platforms“ (Gillespie 2017). Andere sprechen schon von einem Wandel hin zur „platform society“ (van Dijck et al. 2018). Auf diesen Plattformen verschwimmen nicht nur die Grenzen zwischen persönlicher und öffentlicher Kommunikation (Marwick und boyd 2011; Vitak 2012), es entstehen auch globale Infrastrukturen für gesellschaftliche Kommunikation, die kaum staatlicher Kontrolle unterliegen und letztlich vorwiegend das Ziel haben, ein Ökosystem von Nutzungsdaten zu generieren, in dem Partner, Werbekunden und Softwareentwickler neue Vertriebswege und Services anbieten können, wie Helmond et al. es am Beispiel von Facebook nachzeichnen (2019). Es hat durchaus Berechtigung hier von Infrastrukturen der digitalen Öffentlichkeit zu sprechen, denn diese Dienste sind auf transnationaler Ebene unverzichtbar geworden für die individualisierte und vernetzte Kommunikation, oft jenseits des Einflusses nationaler Rechtsordnungen (Easterling 2016). Sie tragen aber auch zur gleichzeitigen Vermengung von Sprecher- und Publikumsrollen bei, die zu einer immer flüchtigeren Aufmerksamkeit für öffentliche Belange führt. Auch dies ist ein Ergebnis jener utopischen „kalifornischen Ideologie“, die sich als „bizarre fusion of the cultural bohemianism of San Francisco with the hi-tech industries of Silicon Valley“ Ende der 1990er-Jahre formierte (Barbrook und Cameron 1996; siehe auch Streeter 2017). Mit dem Anspruch, Öffentlichkeit zu ermöglichen, individuelle Artikulation und Vernetzung zu fördern und Wissensressourcen frei verfügbar zu machen, werden ganze Industriezweige und Institutionen der Öffentlichkeit und Gesellschaft disruptiv, wie es so schön heißt, in Frage gestellt oder überflüssig gemacht. Journalismus und Bildungsinstitutionen zählen zu den ersten Opfern dieses disruptiven Ansatzes, gefolgt von Transport-, Tourismus- und Einzelhandelsindustrien. Der Fokus auf soziale Medien und ihre infrastrukturelle Funktion für die digitale Öffentlichkeit sollte allerdings nicht übersehen, dass die Vorstellung einer Öffentlichkeit als Netzwerk einzelner Akteure viel dazu beiträgt, die Pluralität und Widersprüchlichkeit gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse zu verstehen und sichtbar zu machen (Varnelis 2008; boyd 2011). So haben sich zum Beispiel soziale Bewe-

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gungen bereits grundsätzlich in ihrem Charakter geändert, wie Occupy Wallstreet oder die #metoo Kampagne eindrucksvoll zeigen. Der Zugang zu und die Mobilisierung in solchen Bewegungen wird durch digitale Plattformen erheblich erleichtert, auch wenn sich ihre Verstetigung oft als schwierig erweist (Milan 2013). Gleichzeitig gibt es im sogenannten civic tech Sektor eine Vielzahl von Initiativen, die aktiv versuchen öffentliche Teilhabe durch verschiedene Plattformen, Workshopangebote und Netzwerke zu fördern, zumeist mit Hilfe von Fördergeldern oder Spenden (Mahony und Stephansen 2016; Balestrini 2017; Gordon und Mihailidis 2016; Sabl 2002). Viele dieser Initiativen entwerfen ein Bild der digitalen Öffentlichkeit, in der nicht Journalismus zentraler Akteur ist, sondern die Arbeit am Netzwerk, die gegenseitige Unterstützung und Wertschätzung individueller Fähigkeiten und Bedürfnisse. Darin drückt sich auch eine zunehmende Abkehr vom Negativismus journalistischer Berichterstattung aus, die Formen von news avoidance (Auxier und Vitak 2019; Woodstock 2014) digital detox (Syvertsen und Enli 2019) oder media resistance (Syvertsen 2017) annehmen kann. Doch auch die Bedeutung ‚sozialer Infrastrukturen‘ (Klinenberg 2018) wie öffentlicher Orte, Stadtzentren, Bibliotheken oder Nachbarschaftsgärten wächst und bildet im Zusammenspiel mit digitaler Kommunikation neue Räume von Öffentlichkeit aus (Willems 2019). An diesem letzten Beispiel zeigt sich wiederum, dass die digitale Öffentlichkeit viel eher in der Lage ist, die Vielschichtigkeit öffentlicher Aushandlung zu ermöglichen und widerzuspiegeln, als es ein Fokus auf die politische Ebene oder Nachrichtenjournalismus als Repräsentant der Öffentlichkeit vermag.

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Fazit

Digitale Öffentlichkeiten sind vielschichtig, heterogen, widersprüchlich aber auch verfügbar, durchsuchbar, modellierbar. Die Beteiligung an ihnen mag weitaus weniger voraussetzungsvoll sein als die Gründung eines Fernsehsenders oder die Veröffentlichung einer Zeitung. In digitalen Öffentlichkeiten werden kollektive Forderungen an die Gesellschaft artikuliert, und muss sich politische Legitimität in veränderten Beteiligungsformen verschafft werden. Die Ausprägung dieser Öffentlichkeiten, ihre medialen Bedingungen und nationalen Rahmen mögen sich vielfach unterscheiden. Doch selbst dort, wo freie Teilhabe an öffentlichen (und damit stets gemeinsamen) Sinngebungs- und Verständigungsprozessen behindert oder unmöglich gemacht wird, behauptet sich ein Ideal, dessen normative Ansprüche selbst jene ermächtigen, die es ablehnen oder aktiv behindern wollen. Vielleicht liegt im Anspruch dieses „ideologischen Musters“, wie Habermas es nannte, und im Abgleich mit seinen tatsächlichen medialen, politischen und sozialen Ausprägungen genau jene Relevanz begründet, die uns auch unter veränderten Bedingungen globaler Kommunikation stets noch an Öffentlichkeit festhalten und sie einfordern lässt. Wir werden uns daran gewöhnen müssen, dass der Prozess öffentlicher Artikulation, Deliberation und auch Konfrontation komplizierter wird, weil mehr und mehr Akteure an ihm öffentlich teilhaben. Damit wird auch seine wissenschaftliche Auswertung, journalistische Moderation oder gezielte Steuerung weniger an einem Leitbild einer Öffentlichkeit orientiert, sondern zunehmend am Begriff der Stake-

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holder und Zielgruppen, nicht allein in der politischen Kommunikation und im Marketing. Es gibt, abseits des Journalismus, wie bereits jetzt zu sehen ist, weit mehr Akteure, die aktiv an der Verteidigung des Öffentlichkeitsprinzips auf lokaler und globaler Ebene mitwirken. Es formieren sich neue Strukturen zwischen Publika und Akteuren öffentlicher Kommunikation, die sich journalistischer Mittel bedienen, selbst aber nicht den professionellen Standards des Journalismus als Repräsentant von Öffentlichkeit unterliegen (Raetzsch 2015). Das Konvergenzfeld direkter Beteiligung und vernetzter Kommunikation über politische Entscheidungsprozessen markiert den Fluchtpunkt einer Entwicklung von Öffentlichkeit, in der die Dominanz der journalistischen Öffentlichkeit und Massenpresse wohl als teilweise bereits abgeschlossene historische Konstellation anzusehen ist.

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Medien Begegnungsraum oder Echokammern? Curd Knüpfer

Inhalt 1 Einleitung: Die Rolle der Medien im politischen System der USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Fragmentierung oder Homogenisierung? Medien- und Öffentlichkeitswandel in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Professionalisierung oder Kommerzialisierung? Der Einfluss der Marktwirtschaft auf Medieninhalte in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Medienpolitik oder mediatisierte Politik? Das Verhältnis von Staat und Medien in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fazit: Der Trend geht in Richtung Fragmentierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Die Rolle der Medien im politischen System der USA kann nicht mit einer einheitlichen Definition erfasst werden. Die Verfassung fordert lediglich eine Presse, die sich ohne staatlichen Einfluss frei entfalten soll. Durch technologischen, kulturellen und gesellschaftlichen Wandel treten so im Laufe der Zeit unterschiedliche Aspekte verstärkt in den Vordergrund, welche das US Mediensystem maßgeblich prägen. Im Zuge der Digitalisierung und der Umstrukturierung des Medienmarktes vollzog sich zuletzt eine Fragmentierung einstiger gesamtgesellschaftlicher Begegnungsräume, hin zu einer zunehmend politisierten Medienlandschaft. Die Rolle der Medien im politischen System der USA wird hier in Anbetracht derartiger Spannungen und in Hinblick auf drei gesellschaftspolitische Themenfelder untersucht: den US-amerikanischen Pluralismus, den marktwirtschaftlichen Liberalismus und das Verhältnis zwischen Medien und politischem Betrieb. Dabei werden jeweils Wandlungsprozesse und historische Kontexte aufgezeigt und erläutert. C. Knüpfer (*) John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_20

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Schlüsselwörter

Medien · Journalismus · Liberalismus · Pluralistische Öffentlichkeit · Gewaltenteilung

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Einleitung: Die Rolle der Medien im politischen System der USA

Die Vereinigten Staaten von Amerika wurden gewissermaßen durch die Presse ins Leben gerufen – beispielsweise durch die aufklärerischen Flugschriften Thomas Paines oder Thomas Jeffersons Unabhängigkeitserklärung. Derartige Schriftstücke und ihre Rezeption waren eine notwendige Voraussetzung für die Entstehung eines kollektiven nationalen Bewusstseins (McChesney und Nichols 2011, S. 1). Medien vermitteln nicht nur Informationen. Sie fungieren als eine Schmiede gemeinsamer Wahrnehmung, Werte und Vertrauensverhältnisse, gerade dort, wo kein unmittelbarer oder persönlicher Kontakt zwischen einander und zu den politischen Akteuren und der Zivilgesellschaft besteht. Wie der französische Aristokrat Alexis de Tocqueville bereits 1840 anmerkte, dienten die Medien als Gegenmittel zu den fragmentierenden Tendenzen des US-amerikanischen Liberalismus und Individualismus, denn „nur eine Zeitung kann gleichzeitig denselben Gedanken in ungezählte Geister pflanzen. (. . .) Es hieße ihre Bedeutung verkleinern, wollte man glauben, daß sie nur die Freiheit verbürgen helfen; sie erhalten die Kultur“ (de Tocqueville 1962, S. 128). Trotz dieser zentralen Bedeutung der Medien im politischen System der USA ist ihre konkrete Rolle schwer zu definieren. Es ist bereits nicht unbedingt klar, welche Medien (im technischen Sinne des Wortes) gemeint sind, wenn von „den Medien“ oder gar „der Presse“ die Rede ist. Obwohl sämtliche Kommunikationsmittel, vor allem aber auch kulturelle Informationsträger wie Kunst, Film oder Musik als Medien bezeichnet werden und gerade letzteren fraglos eine große gesellschaftspolitische Bedeutung zukommt, konzentriert sich die Politikwissenschaft meist auf diverse Formen des Nachrichtenjournalismus, der über (politische) Ereignisse informiert. Häufig wird dabei der Begriff der „vierten Gewalt“ angeführt, welcher die Medien als einen weiteren Faktor im System der gegenseitigen Kontrolle der Verfassungsorgane, den sogenannten checks and balances, bezeichnet. Die Medien – sofern hier überhaupt von einer homogenen Gesamtheit gesprochen werden kann – verfügen allerdings weder über Entscheidungs- oder Gesetzgebungskompetenzen, noch sind sie an feste Lokalitäten oder Akteure gebunden. Sie bilden daher keine politische Institution im klassischen Sinne. Der zuständige, erste Zusatzartikel der Verfassung fordert lediglich, dass die „Freiheit der Presse“ (neben der Religions-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit) durch kein Bundesgesetz einzuschränken sei (U. S. Constitution, Amendment 1). Anstelle einer verfassungsrechtlichen Definition ist der Begriff der vierten Gewalt also eher als ein Ideal zu begreifen.

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Medien erfüllen zudem ganz grundsätzlich die Funktion, Informationen zwischen diversen Teilen der Bevölkerung, Institutionen und der Öffentlichkeit zu vermitteln. Werden bestimmte Perspektiven systematisch ausgeblendet, während andere überrepräsentiert sind, so spiegeln sich hier Machtverhältnisse wider, die auch auf anderen gesellschaftlichen Ebenen wirken. Insgesamt lässt sich die Medienlandschaft der USA daher am besten als ein eigenes soziales Feld begreifen, welches gesellschaftlichem und technologischem Wandel ausgesetzt ist und als eine Art Bindeglied diverse andere Felder, wie das der Wirtschaft oder der Politik miteinander verknüpft (Bourdieu 2005). So lassen sich Medien grob innerhalb eines Spektrums verorten: Einerseits existiert hier das Ideal eines neutralen kommunikativen Raumes, welcher als zentrale Begegnungsfläche für die Öffentlichkeit dient. Andererseits haben wir es potenziell mit einer zersplitterten und oftmals polarisierten Medienlandschaft zu tun, die von Macht- und Markt- und Partikularinteressen maßgeblich geprägt wird.

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Fragmentierung oder Homogenisierung? Medien- und Öffentlichkeitswandel in den USA

Die Vorstellung eines liberalen Mediensystems ist mit der Annahme verbunden, dass mediale Inhalte die vielfältigen Interessen und Perspektiven der Öffentlichkeit reflektieren können. Ob und wie dies geschieht, muss unter Berücksichtigung gesellschaftlicher und technologischer Wandlungsprozesse ständig neu erörtert werden. Im Verlauf der vergangenen drei Jahrzehnte hat sich die Art und Weise, in der Nachrichten vermittelt werden, rasant verändert. Die Digitalisierung von Informationen resultierte in einem geradezu exponentiellen Anwuchs medialer Inhalte, was wiederum einen enormen Zuwachs an Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Bevölkerung mit sich brachte. Als sich der Fernsehnachrichtensprecher Walter Cronkite in den 1960er-Jahren von seinem Publikum verabschiedete, tat er das noch mit der Floskel: „And that’s the way it is“ (Watkins 2009). Diese Autorität eines Nachrichtensprechers, welche ihn mit Gewissheit behaupten ließ, „so ist es“, wenn er „der“ Öffentlichkeit „die“ Nachrichten präsentierte, kann durchaus als Ausdruck des damaligen Einflusses und des Selbstverständnisses von Rundfunk- und Fernsehanstalten gedeutet werden. In der Phase zwischen den 1920er- und 1980er-Jahren bildeten drei große Networks ein Oligopol. Man bezeichnet dementsprechend auch die National Broadcasting Company (NBC), das Columbia Broadcasting System (CBS), die American Broadcasting Company (ABC) als die Big Three. Es handelt sich dabei um Zusammenschlüsse (Netzwerke) lokaler Sender, affiliates genannt, die jeweils von einem gemeinsamen, zentralen Dachverband mit Inhalten beliefert werden. Den Geltungsanspruch der Big Three konstituierte also vorrangig deren mächtige Marktposition. Doch der Geltungsanspruch der durch sie präsentierten Nachrichten ergab sich außerdem aus der weithin verbreiteten Annahme journalistischer Objektivität. Moderner amerikanischer Journalismus setzt sich dadurch zum Ziel, „nur die Fakten“ zu präsentieren, um ein möglichst akkurates Bild der Realität zu vermitteln. So

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sollten Medien als neutraler Vermittler zwischen diversen Perspektiven wirken, wodurch nicht zuletzt dem Prinzip des Pluralismus auch dort gedient werden sollte, wo einzelne Stimmen womöglich sonst nicht selbst zu Wort kämen. Hierzu trug auch die Notwendigkeit einer staatlichen Aufsicht bei, welche durch die begrenzte Anzahl von Sendefrequenzen bedingt war: Ab 1934 wurde die zeitlich begrenzte Vergabe von Rundfunklizenzen durch die zuständige Behörde (die Federal Communications Commission – FCC) mit der Forderung verbunden, dem öffentlichen Interesse zu dienen, „Fairness“ walten und diverse Stimmen zu Wort kommen zu lassen (Cook 2005, S. 255). Der journalistische Anspruch, eine objektive Realität zu vermitteln, war dabei eng mit der Annahme verbunden, dass so der Nährboden für einen vielfältigen diskursiven Raum entstand. Dies wurde nicht zuletzt auch durch das politische Klima des Kalten Krieges begünstigt. Da die politischen Eliten der beiden Parteien sich in der Regel nur innerhalb eines relativ engen Spektrums voneinander abzugrenzen suchten, waren öffentlich ausgetragene Konflikte um die grundlegende Deutung von Ereignissen, vor allem was den Rundfunk betraf, eher eine Ausnahme. Da auch die Anzahl dieser Informationsquellen und Nachrichtenformate begrenzt war, lag die Schlussfolgerung nahe, dass derartige Massenmedien auch ein relativ homogenes Publikum formten: eine mediale Öffentlichkeit, die insgesamt Zugang zu dem gleichen Nachrichtenmaterial hatte (Williams und Delli Carpini 2011, S. 75). Dass sowohl die Vorstellung einer homogenen Öffentlichkeit als auch die Idee einer objektiven, wahrheitsvermittelnden Nachrichtenzunft stets mehr Mythos denn Fakt war, zeichnete sich spätestens in den gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen der späten 1960er-Jahre ab. Auch heute bildet das Fernsehen für US-Amerikaner noch eine wichtige Informationsquelle. In einer nationalen Umfrage von 2016 gaben 57 % der Befragten das Fernsehen, 38 % das Internet, 25 % das Radio und nur 20 % Printmedien als ein Format an, aus welchem sie häufig Nachrichten beziehen. Diese Trends sind dabei stark altersabhängig und verlagern sich enorm je nach Kohorte: Bei den unter 30-jährigen dominierte bereits das Internet mit 50 %, gefolgt von Fernsehen (27 %) und Radio (14 %), während Print als häufig genutzte Quelle nur noch 5 % der Befragten zutraf (Mitchell et al. 2016). Die klare Machtstellung der Big Three (aus denen 1986 und mit der Fox Broadcasting Company bereits die Big Four geworden waren) scheint somit trotzdem längst gebrochen. Schaltete der durchschnittliche Zuschauer im Jahr 1950 weniger als drei Kanäle pro Woche ein, so war im Jahr 2009 die Zahl der eingeschalteten Sender auf mehr als 16 herangewachsen (Williams und Delli Carpini 2011, S. 78). Mit diesem Anstieg der Konkurrenz um Aufmerksamkeit nahm die Autorität der Nachrichtensprecher ab, die sich im Gegensatz zu Walter Cronkite nicht mehr sicher sein können, dass „ihre“ Fakten diejenigen sind, die einen Großteil des amerikanischen Volks erreichen. Ob die Medien, trotz vielfältigerer Angebote heute den Idealen des Pluralismus eher gerecht werden, ist allerdings fragwürdig. Beispielsweise finden sich zwar durchaus Medien und auch Massenmedien, die ein explizit afro-amerikanisches Publikum ansprechen, wie etwa traditionsreiche Zeitungen wie The Afro oder der

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Kabelfernsehsender Black Entertainment Television (BET). Das ändert jedoch nichts daran, dass Minderheiten in führenden Massenmedien chronisch unterrepräsentiert sind oder überwiegend in stereotypen Rollen auftauchen (Monk-Turner et al. 2010). Derartige Unverhältnismäßigkeiten finden sich auch in Bezug auf Geschlechterbilder. Eine Analyse nationaler Nachrichtenprogramme und überregionaler Zeitungen für den Zeitraum der Präsidentschaftswahlen 2012 ergab, dass im Fernsehen 16 %, in führenden Printmedien sogar nur 13 % der zitierten Meinungen zum Wahlkampf von Frauen stammten (The 4th Estate 2012). Eine Studie zum Präsidentschaftswahlkampf 2016 zeigte indessen, dass es innerhalb der Kampagnen und in der Berichterstattung nun bereits einen größeren Anteil von Frauen gab, allerdings waren hierbei klare Unterschiede zwischen den Lagern von Trump und Clinton auszumachen (Dittmar 2016, S. 19–23). Der Bericht betont, wie wichtig die Verteilung von Perspektiven in der medialen Kommentierung sein kann und verweist dabei auf den Diskurs während des Wahlkampfes, in dem durch Trumps frauenfeindliche Aussagen und Clintons historische Nominierung zur Kandidatin der Demokraten, Geschlechterfragen eine zentrale Rolle zukam. Aber wem gehören Medienhäuser und Rundfunklizenzen? Die zuständige Behörde, die Federal Communications Commission, führt hierüber Statistiken wonach sich 2015 nur zwischen 7–8 % der privaten Fernseh- oder Radiosendern im Besitz von Frauen befanden. Ethnische Minderheiten hielten einen Anteil von gerade einmal zwischen 2–3 % (Federal Communications Commission 2017). In Anbetracht solch ernüchternder Zahlen wäre es vollkommen unberechtigt die Gesamtheit der Medien anhand dieser Dimension als einen Spiegel der amerikanischen Gesellschaft begreifen zu wollen. Hier sind also die Interessen einer sehr bestimmten Demographie potenziell dauerhaft überrepräsentiert. Es lässt sich allerdings feststellen, dass homogene Medieninhalte auch dort entstehen, wo keine gemeinsamen Besitzer oder Partikularinteressen klar identifizierbar sind. Dies hängt zum einen mit den Quellen der Nachrichten zusammen, welche oftmals die Öffentlichkeitsbüros politischer Institutionen oder Akteure sind. Zum anderen ist die Bedeutung von nationalen Nachrichtenagenturen wie der Associated Press (AP) nicht zu unterschätzen, die diversen Redaktionen den Zugriff auf einen zentralen, gemeinsamen Datensatz von Informationen ermöglicht. Einen ähnlichen Effekt hat das Geschäftsmodell der Content Syndication, durch welches lokale Redaktionen und Rundfunksender zentral produzierte Kommentare oder Sendungen günstig kaufen und veröffentlichen können. Und auch im ursprünglich als basisdemokratisch gelobten Internet (Barlow 1996) zeichnet sich mittlerweile ab, dass Nachrichten sich nicht so pluralistisch verbreiten, wie ursprünglich erhofft. Die Webportale großer Medienunternehmen ziehen einen Großteil aller Verlinkungen und Klickzahlen an sich. Dies führte zu der Erkenntnis, dass auch im Internet die Freiheit zu sprechen nicht gleichzusetzen ist mit der Wahrscheinlichkeit, tatsächlich auch gehört zu werden (Hindman 2008, S. 16). Zuletzt haben die Debatten rund um Fake News und externe Einflussnahme auf die US-Öffentlichkeit im Kontext der Präsidentschaftswahlen von 2016, welche starke parteipolitische Färbungen und Asymmetrien aufwiesen, derartige Diskussionen weiter befeuert (Benkler et al. 2018). In diesem Kontext konstatieren andere,

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dass die vermeintliche Heterogenität digitaler Diskurse mitunter Öffentlichkeiten schafft, die sich in ihrer potenziellen Handlungsfähigkeit zunehmend gegenseitig blockieren, statt auf Konsensbildung und Kompromiss ausgerichtet zu sein (Bennett und Pfetsch 2018). Gleichzeitig zeichnet sich derzeit auch im US Journalismus eine Rückkehr subjektiver politischer Berichterstattung ab (vgl. Sheppard 2008), die an die Ideologien politischer Lager gekoppelt ist. Häufig werden in diesem Zusammenhang die Kabelfernsehsender Fox News oder MSNBC angeführt, die sich in ihrer Berichterstattung jeweils anhand der Parteilinien von Republikanern und Demokraten orientieren. Durch das Phänomen der Selective Exposure, so eine damit verbundene Gefahr, könnten Teile der Öffentlichkeit nun ausschließlich mit Meinungen in Kontakt kommen, die sie ohnehin schon teilen (Mancini 2013, S. 47). Durch soziale Netzwerke begünstigt, sind ähnliche Entwicklungen längst auch im Internet zu beobachten. Derartige Polarisierungstendenzen lassen sich als Autonomieverlust der Medien deuten, da diese sich enger an bestehende politische Institutionen und Parteien binden. Andererseits ließe sich dieser Prozess und die damit einhergehende Auflösung einer politischen Mitte zwar ebenso als eine Erweiterung des diskursiven Spektrums verstehen. Zeitgleich haben politische Medien jedoch als Institution enorm an Vertrauen innerhalb der Bevölkerung eingebüßt. Festzuhalten bleibt, dass derartige Entwicklungen sich stark asymmetrisch zwischen den politischen Lagern ausprägen. So lässt sich seit den 1990er-Jahren insgesamt ein signifikanter Verfall an Vertrauen in „die Medien“ innerhalb der US Regierung aufzeigen, doch klafft dabei ein zunehmend gewaltiger Unterschied zwischen Demokraten und Republikanern: 2016 gaben 51 % der Ersteren an, Vertrauen in die Medien zu haben, bei Republikanern lag dieser Wert bei gerade mal 14 % (Nier 2016). Ob durch die gegenwärtige Fragmentierung des Mediensystems dem Prinzip des Pluralismus besser Rechnung getragen wird als in der Ära des Rundfunks bleibt angesichts derartiger Entwicklungen durchaus fragwürdig. Einerseits könnte gerade mit den neuen Medien die Hoffnung verbunden werden, dass diese die Vielfalt der amerikanischen Gesellschaft besser widerspiegeln; andererseits geht gleichzeitig die Funktion einer breit geteilten Kommunikationsfläche abhanden, durch welche gesamtgesellschaftliche Wahrheitsfindung stattfinden und politischer Konsens erreicht werden könnte. Anhand dieses komplizierten Wechselspiels zeigt sich also, inwiefern gesellschaftlicher und technologischer Wandel die Rahmenbedingungen des mediatisierten politischen Diskurses prägen können.

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Professionalisierung oder Kommerzialisierung? Der Einfluss der Marktwirtschaft auf Medieninhalte in den USA

In der komparativen Mediensystemforschung werden die USA üblicherweise als „liberales Modell“ klassifiziert, in welchem Prozesse der Nachrichtenproduktion in erster Linie durch einen Primat des Kommerziellen und eine stark eingeschränkte Rolle des Staates geprägt sind (Hallin und Giles 2005, S. 7–9). Die Medienhistoriker Michael Schudson und Susan Tifft fassen die Geschichte der US-amerikanischen

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Medien daher unter den übergeordneten Trendlinien der Professionalisierung und der Kommerzialisierung zusammen – dem Entstehen einer beruflichen Zunft des Journalismus also und der gewinnorientierten Verbreitung von Nachrichten (Schudson und Tifft 2005, S. 18). Die Verbindung zwischen offenen Wirtschaftsstrukturen und einem freien Austausch von Informationen ist tief verwurzelt im liberalen Demokratieverständnis der USA. Schon Thomas Jefferson soll Informationen beispielsweise als „die Währung der Demokratie“ bezeichnet haben. Ähnliche Assoziationen bietet die Vorstellung eines „Marktplatz der Ideen“ – einer Metapher mit langer Tradition in der liberalen Philosophie. Im US-amerikanischen Kontext wird sie in erster Linie mit dem Obersten Verfassungsrichter Oliver Wendell Holmes Jr. in Verbindung gebracht, der in seiner abweichenden Meinung im Fall Abrams v. United States 1919 einen „freien Handel der Ideen“ forderte und erklärte, dass die beste Prüfung für den Wahrheitsgehalt eines Gedankens sei, sich in der Konkurrenz dieses Marktes durchsetzen zu können (Schmuhl und Picard 2005, S. 114). Nichtsdestotrotz besteht ein offensichtliches Konfliktpotenzial zwischen den Interessen von Marktwirtschaft und dem Streben nach finanziellem Ertrag auf der einen Seite und denen des Journalismus und der Präsentation qualitativ hochwertiger Inhalte auf der anderen. Kosteneffiziente Nachrichtenproduktion kann durch hohe Anzeigen- und Werbeeinnahmen entstehen – oder durch das Einsparen von Arbeitskräften und -material. Die Grundlogik der Gewinnmaximierung sorgte in USamerikanischen Redaktionen spätestens seit den 1980er-Jahren für Sparmaßnahmen in großem Stil. Die Folgen lassen sich anhand einiger eindrucksvoller Statistiken ablesen. Laut Daten des US Bureau of Labor Statistics lag die Quote der Berufstätigen in den Public Relations (PR) zu denen im Journalismus im Jahr 1960 noch bei 0,75 zu 1. Ab 2011 hatte sich das Verhältnis von PR-Industrie Angestellten zu Reportern auf knapp 4 zu 1 erhöht (McChesney und Nichols 2011, S. xiii) und verschob sich ab 2013 nochmals auf 4,6 zu 1 (Williams 2014). Dass sich derartige Entwicklungen auch auf Nachrichteninhalte auswirken können, zeigt exemplarisch eine Studie aus dem Jahr 2010, die sich zum Ziel nahm, das gesamte Nachrichtenangebot der Stadt Baltimore für eine Woche zu untersuchen. Sie ergab, dass 83 % aller Meldungen im Wesentlichen aus einer Wiedergabe vorgefertigter Informationen statt dem Berichten neuer Ereignisse oder dem Erläutern von Zusammenhängen bestanden (Pew Research Center Project for Excellence in Journalism 2010, S. 3). Ein Faktor, der hierzu maßgeblich beitragen könnte, ist das Phänomen der Medienkonsolidierung. Seit den 1980er-Jahren wurde die Regulierung des Medienmarkts durch die zuständige Aufsichtsbehörde, die Federal Communications Commission (FCC), zunehmend gelockert. Dies hatte zum einen technische, zum anderen politische Gründe, die maßgeblich in einem neoliberalen Umschwung in Bezug auf die Auslegung der Kompetenzen der Behörde begründet waren. Im Bruch mit der bis dahin betriebenen Politik definierte 1985 der damalige Chef der Behörde, Mark Fowler, ein Fernsehgerät als einen „Toaster mit Bildern“ und die Interessen der Öffentlichkeit als „das, wofür die Öffentlichkeit sich interessiert“ (Hamilton 2004, S. 1. Übers. d. Verf.). 1987 verabschiedete sich die Behörde von der bis dahin geltenden „Fairness Doktrin“, was den politischen Diskurs tatsächlich

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öffnete und beispielsweise den Aufstieg des politischen Talk Radio zur Folge hatte. Radiomoderatoren wie der rechts-konservative Rush Limbaugh nutzten seither erfolgreich die entstandenen Sendemöglichkeiten für ihre politisch gefärbten Kommentierungen tagespolitischer Ereignisse. Statt auf Marktregulierung legte die FCC in den Folgejahren ihren Fokus eher auf die Kontrolle von Medieninhalten, vor allem in Bezug auf als „obszön“ geltende Begriffe und vermeintlich unanständige Darstellung von Sexualität. Durch den neuen Kurs der FCC sowie durch Gesetzesvorlagen im Kongress wurden außerdem die Regeln bezüglich des Cross-Media Ownership gelockert. Ab 1984 wurde eine Vorschrift, die den Besitz von mehr als sieben Fernseh- und Radiosendern untersagte, mehrfach aufgeweicht. Die Zahl der in einer Hand geduldeten Sender wurde zunächst auf zwölf erhöht, 1993 dann auf 18, 1994 gar auf 20 (Klinenberg 2007, S. 26–27). Eine weitere Lockerung erfolgte durch den Telecommunications Act aus dem Jahr 1996, der die Trennung zwischen den Telekommunikations- und Rundfunkmärkten aufhob. Dies ermöglichte den Zusammenschluss großer Firmen aus den jeweiligen Branchen und führte zu spektakulären Marktfusionen wie der Übernahme des Medienunternehmens Time Warner durch den Internetprovider AOL im Jahr 2000. Als weiteres Beispiel sei hier die durch den australischen Medienmogul Rupert Murdoch gegründete Firma News Corporation genannt, die ab Ende der 1990er-Jahre ihren Marktanteil innerhalb der USA maßgeblich ausbauen konnte. 1996 ging etwa ihr Kabelsender The Fox News Channel auf Sendung; 2003 kaufte sie sich in den Satellitenfernsehmarkt ein; 2005 übernahm sie das soziale Netzwerk Myspace und 2007 das Wall Street Journal, die auflagenstärkste Tageszeitung der USA. Derartige Übernahmen bedeuten oft auch eine Änderung der inhaltlichen Ausrichtung und resultieren häufig in einer Zentralisierung und damit verbundenen Kürzungen in journalistischen Redaktionen. Gerade in den lokalen Medienangeboten machen sich derartige Entwicklungen schnell bemerkbar und so entstehen teilweise ganze Landstriche, welche von keinerlei Lokaljournalismus mehr bedient werden (Bucay et al. 2017). In den 1990er-und frühen 2000er-Jahren waren massive Konsolidierungsschübe besonders im Print- und Radiosektor zu beobachten, wo lokale Medienangebote zunehmend von national operierenden Konglomeraten aufgekauft und umstrukturiert wurden (Doctor 2019). Was Konglomerate wie die News Corporation, die mittlerweile selbst in 21 Century Fox aufgenommen wurde, gemeinsam mit Viacom, Comcast, AT&T, Disney und CBS (Rapp und Jenkins 2018) für die Telekommunikations- und Unterhaltungsindustrie sind, sind Firmen wie Amazon, Apple, Facebook, Google und Microsoft mittlerweile für die Schnittstellen zwischen Hardware und Internet. Auch hier existiert längst ein marktübergreifendes Oligopol (Hindman 2018). Die Annahme, dass eine derartige Konzentration der Reichhaltigkeit der Medienlandschaft und der Nachrichtenvielfalt abträglich sein könnte, liegt vor allem dort nahe, wo sich die Interessen der großen Firmen überschneiden. Dies zeigte sich bereits in der Berichterstattung zum Telecommunications Act selbst, dem in den Nachrichtenformaten von ABC, NBC und CBS insgesamt nur 19 Minuten Sendezeit gewidmet wurden (Schudson und Tifft 2005, S. 38). Brisant ist dies vor allem, da

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man den Eigentümern dieser Sender ein direktes Interesse in der Verabschiedung des Gesetzes unterstellen konnte. Trotz eines scheinbar zunehmend vielfältigen Medienangebots ist daher die Sorge berechtigt, dass letztendlich die Interessen ein paar weniger Unternehmen die Rahmenbedingungen und potenziell sogar die dargestellten Inhalte des gesellschaftlichen und politischen Diskurses mitbestimmen könnten. Dies zeigt eine Studie zu den Effekten, die die Übernahme durch eines der größten dieser Konglomerate, Sinclair Broadcasting, auf lokale Fernsehsender hat. Hier wird nicht nur aufgedeckt, dass der Anteil lokaler Berichterstattung stark zurückgeht und das Publikum sich verkleinert, sondern dass die politischen Inhalte zunehmend ideologisch und pro-Republikanisch geprägt waren (Martin und McCrain 2018). Es wird also eine politische Ideologie unterstützt, welche sich den Interessen der Konsolidierung bislang nicht in den Weg zu stellen drohte. Neben der kostengünstigen Produktion von Meldungen ist das Etablieren, Erhalten und Ausweiten eines Anzeigenmarkts und dessen Konkurrenzfähigkeit oft der wichtigste Teil des Geschäftskonzepts von Medienunternehmen. Die Leser, beziehungsweise das Publikum, werden in diesem Kontext als Konsumenten statt als Teil einer demokratischen Öffentlichkeit gesehen – eine Perspektive, die zu Formen der Berichterstattung führen kann, die mehr Wert auf Unterhaltung legt als auf das Berichten von Ereignissen und sozialer und politischer Zusammenhänge. Ein Anreiz, gleichzeitig auch in die Produktion von Nachrichteninhalten zu investieren, ist jedoch hierdurch nicht zwangsläufig gegeben. Im Gegenteil: als Geschäftsmodell mag es sich für die einzelnen Sender rentieren, Nachrichteninhalte möglichst kostengünstig zu erwerben und dann mehrfach zu verwenden. So ist ein weiterer Effekt des 24/7 Nachrichten-Zyklus im Kabelfernsehen der wachsende Bedarf an sogenannten Talking Heads. Diese kommen regelmäßig als Meinungsmacher und Experten zu diversen Themenfeldern zu Wort und befinden sich oft in festen Vertragsverhältnissen mit den Nachrichtenprogrammen. So werden frühere Politiker beschäftigt, gerne aber auch Mitglieder ideologischer Think Tanks oder Parteistrategen. Dem Publikum wird dabei oft nicht mitgeteilt, ob die unbefangenen Meinungen neutraler Experten präsentiert werden, oder aber die individuellen oder institutionellen Interessen einzelner Akteure. Mit diesem Verschwimmen professioneller Rollenbilder und Identitäten, verschwimmen in einer fragmentierten Medienlandschaft also auch die Grenzen zwischen PR und Journalismus, Nachrichten und Unterhaltung, sowie „realen“ Fakten und medial dargestellten Fiktionen. Politischem Diskurs werden klare Referenzpunkte entzogen, wodurch zu befürchten ist, dass die kollektive Willensbildung und Interessensartikulation erschwert und somit der demokratische Entscheidungsprozess gehemmt werden könnte (Mancini 2013, S. 54–57). Zuletzt konnte Donald Trump als Republikanischer Präsidentschaftskandidat von derlei Grenzverwischungen profitieren, indem seine als Reality-Fernsehstar kultivierte Marke zwar vom Publikum erkannt wurde, dieses ihn aber offenbar nicht als ein Teil des politischen Establishments wahrnahm. Doch eine Vermengung einstmals klar getrennter Rollen und Formate mag auch Vorteile mit sich bringen: Denn nur weil ein Format damit wirbt, Hard News zu präsentieren, muss dies inhaltlich keineswegs der Fall sein. Auch Soft News können selbstverständlich wichtige gesellschaftspolitische Funktionen erfüllen. Beispiels-

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weise kann Berichterstattung zu internationalen Ereignissen über diesen Umweg einen Teil der Bevölkerung erreichen, der sonst nur selten mit außenpolitischen Themen in Kontakt gerät (Baum 2003). Bereits während der Präsidentschaft von George W. Bush wurden zudem die Satiresendungen The Daily Show und The Colbert Report populär. Zwar waren diese eigentlich als Unterhaltungsformate konzipiert, dennoch sind sie inhaltlich auf die Kommentierung tagespolitischer Ereignisse ausgelegt. Umfragen ergaben damals, dass das Publikum dieser Sendungen nicht nur überproportional jung, sondern oftmals auch besser über politische Ereignisse informiert war als das anderer Nachrichtenformate (Pew Research Center for the People and the Press 2012, S. 15, 43). Mittlerweile hat dieses Format Schule gemacht: So arbeiten derzeit diverse Angebote auf humoristische Art und Weise das politische Tagesgeschehen in den USA auf. Oftmals wird hierbei nicht nur journalistisch recherchiert, sondern in Sendungen wie „Last Week Tonight“ oder „Full Frontal“ auch direkt zu politischem Aktivismus seitens der Zuschauer aufgerufen. Im liberalen Mediensystem der USA ist die Möglichkeit professionell und unabhängig zu agieren, eng mit wirtschaftlichen Bedingungen verbunden, die dies letztendlich ermöglichen. Aus diesem grundsätzlichen Spannungsverhältnis entstehen Konsequenzen für den Produktionsablauf, das Vermitteln und den Inhalt politischer Informationen. Auf dem eingangs erwähnten, metaphorischen Marktplatz können „die Ideen“ bisweilen in den Hintergrund rücken. Je nach Medium können marktwirtschaftliche Interessen mal stärker, mal schwächer darüber mitentscheiden, welche Themenfelder kategorisch als uninteressant gelten und somit möglicherweise aus dem (medialen) öffentlichen Diskurs ausgeschlossen werden. Doch auch eine starke Bindung an den Markt bedeutet indessen keinesfalls, dass die Medien dadurch vollkommen frei und unabhängig vom Staat und dem politischen Betrieb existieren, wie im Folgenden weiter erörtert wird.

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Medienpolitik oder mediatisierte Politik? Das Verhältnis von Staat und Medien in den USA

Im Vergleich mit anderen nationalen Mediensystemen scheint die Rolle des Staats in den USA auf den ersten Blick deutlich begrenzt. Der Stellenwert des öffentlichrechtlichen Mediensektors wirkt gemessen an Ländern wie Großbritannien oder Deutschland geradezu unbedeutend. Die Gebührenmodelle, die den gewaltigen Budgets der traditionsreichen British Broadcasting Corporation (3,8 Milliarden Euro im Jahr 2018) oder der ARD und des ZDF (laut Jahresbreicht 2017 im Jahr 2017 rund 8 Milliarden Euro) zugrunde liegen, wären in den USA unvorstellbar. Die Corporation for Public Broadcasting, welcher diverse Rundfunkanstalten wie der Public Broadcast Service (PBS), National Public Radio (NPR) oder Public Radio International (PRI) untergeordnet sind, verfügte 2018 über einen Haushalt von gerade einmal 444 Millionen Dollar (Corporation for Public Broadcasting 2017). Vor allem konservative und libertäre Politiker stellen nichtsdestotrotz regelmäßig die Notwendigkeit, Rechtfertigung und die grundsätzliche Legitimität staatlich (mit-) finanzierter Medien in Frage. Zudem unterstellen sie dem tendenziell eher progressiv

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ausgelegten Journalismus der öffentlichen Sender eine links-liberale Agenda und somit eine Form der politischen Berichterstattung, die weder einem neutralen Vermittlungsauftrag gerecht wird noch aus Steuermitteln finanziert werden sollte. Durch das journalistische Selbstverständnis, Machtstrukturen zu hinterfragen und das öffentliche Interesse zu vertreten, treten zwangsläufig immer wieder Konfliktlinien zwischen Regierungen und Medien auf. Als historisches Beispiel für die Funktion der Medien als vierte Gewalt werden oftmals die frühen 1970er-Jahre herangezogen: 1971 veröffentlichten die New York Times und die Washington Post die sogenannten Pentagon Papers; geheime Dokumente aus dem Verteidigungsministerium, die aufzeigten, in welchem Maße das amerikanische Volk bezüglich des Vietnamkriegs hinters Licht geführt worden war. Kurz darauf folgte die öffentliche Skandalisierung der Watergate-Affäre. Der hier praktizierte investigative Journalismus wird dabei oft als eine der Begründungen dafür angeführt, warum Präsident Richard Nixon schließlich in Unwürden aus dem Amt scheiden musste. Dennoch resultierte der Watergate-Skandal keineswegs in der Lähmung des Staatswesens an sich. Im Gegenteil – es waren die Ermittlungen der Bundespolizei, Anhörungen im Kongress und Urteile des Obersten Gerichtshofs, die dem Wachhund letztendlich Zähne verpassten. Die Frage, wie weit diese gesellschaftliche Verantwortung der Medien reicht und ab wann Öffentlichkeit und Transparenz angeblich politische Abläufe lähmen, bietet dennoch stets Stoff für politische Auseinandersetzungen. Gegenteiligen Wahlkampfversprechen zum Trotz ging die Regierung unter Barack Obama mit großem Eifer gegen die Veröffentlichung vertraulicher Informationen vor. Unter dem umstrittenen Espionage Act, einem Gesetzestext, der aus der Zeit des Ersten Weltkriegs stammt, erhob die Obama-Administration häufiger Anklage gegen Einzelpersonen als es unter sämtlichen Präsidenten zuvor geschehen war. Mehrfach drohte das Justizministerium unter Obama auch Journalisten, was laut Kritikern zu einem generellen Klima der Einschüchterung beitrug (Downie und Rafsky 2013). Unter Trump hat sich diese Spannung zwischen dem Weißen Haus und den Medien trotzdem noch einmal deutlich verschärft: hierzu zählt der Gebrauch des Begriffs „Fake News“ gegenüber Medienorganisationen, die kritisch über die Regierung berichten, persönliche Anfeindungen gegenüber einzelnen Journalistinnen, das gezielte Vermeiden von Pressekonferenzen, oder auch der Gebrauch von direkten Kommunikationskanälen, wie Twitter, in denen er nicht dem Format der direkten Rückfrage unmittelbar ausgesetzt wäre. Schockierenderweise kam es auch schon zu mehr oder minder verhüllten Aufrufen zu Gewalt gegenüber der Presse.1 Mit Trump erhält dieses Verhältnis also ein neues Maß an Schärfe. Doch die Interessen von Medien auf der einen Seite und politischen Akteuren auf der anderen müssen einander nicht zwangsläufig im Wege stehen. Ebenso lässt sich heute feststellen, dass die Trump Administration mit einigen Medien, wie etwa Fox News oder einzelnen rechten Webseiten, ein sehr inniges Verhältnis führt und diese

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Die Organisation Media Matters (2017) führt auf ihrer Webseite akribisch Protokoll über derartige Ereignisse: https://www.mediamatters.org/trumps-war-on-the-press.

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Kommunikationskanäle sehr bewusst nutzt, um selektiv die eigene Anhängerschaft ohne die vermeintliche Filterfunktion (oder Prüfung des Wahrheitsgehalts) anderer journalistischer Gatekeeper zu erreichen (Savillo und Power 2017). Die Politik hat in den USA stets Einfluss auf die Medien genommen, indem sie mediale Infrastrukturen unterstützte, den Zugang zu Informationen erleichterte, oder Massenmedien als Kommunikationsmittel und für die Zwecke der Propaganda nutzte. In diesem Prozess haben sich jedoch auch Politiker dem medialen Betrieb angepasst – mit Konsequenzen für den demokratischen Diskurs. Da Rundfunk und Fernsehen beispielsweise häufig einzelne Sound Bites, also isolierte Originaltöne, aneinanderreihen, deren durchschnittliche Länge sich während der Präsidentschaftswahlkämpfe von 1968 bis 1988 von 43 auf nur 9 Sekunden reduzierte, lässt sich beispielsweise beobachten, dass politische Akteure ihre Kommunikationsstrategien entsprechend anpassen und zunehmend auf Floskeln und Punchlines zurückgreifen (Hallin 1992). Wahlkampagnen verfolgen währenddessen zwangsläufig die Strategie, durch mehr oder weniger inszenierte Ereignisse in den Fokus des Publikums zu gelangen. Hier entstehen oftmals Symbiose-Effekte zwischen Medien und Wahlkampagnen, da den Redaktionen recherchefrei Bild, Ton- und Textmaterial geliefert wird. Derart unwiderstehliche win-win Situationen für Politik und Medien mögen erklären, dass Wahlkämpfe in den USA mediale Großereignisse sind und dies oftmals schon lange vor der tatsächlichen Abstimmung. Neue Medien ermöglichen zugleich ein nie dagewesenes Potenzial zur Datenerfassung und somit vollkommen neue Möglichkeiten für die strategische Platzierung von Wahlkampfwerbung, -organisation und Fundraising. Dank Klickzahlerfassungen, Suchanfragen und digitaler, sozialer Netzwerke lassen sich neue Wählerpotenziale und Geldgeber nicht nur identifizieren, sondern auch gezielt ansprechen. 2013 gaben bereits 72 % aller amerikanischen Internetnutzer an, in einem sozialen Netzwerk angemeldet zu sein (Brenner 2013). In den Wahlkämpfen 2008 und 2012 war es vor allem die Obama-Kampagne, die Webplattformen im großen Stil nutzte: Obamas Wahlkampfteam war hierzu 2012 auf insgesamt neun verschiedenen Online-Plattformen aktiv (Pew Research Center Project for Excellence in Journalism 2012, S. 5). Während des Wahlkampfes 2016 waren soziale Medien bereits für 62 % der wahlberechtigten Amerikaner zu einer der Hauptnachrichtenquellen herangewachsen, wie Allcott und Gentzkow (2017, S. 212) in ihrer Studie zur Zirkulation von Fake News in diesem Zeitraum berichten. Benkler et al. (2018, S. 223) merken hierzu an, dass mit dem Wachstum dieses vernetzten Publikums auch die Möglichkeiten für Datengetriebenes Micro-Targeting von einzelnen Wählerinnen enorm zugenommen hätten, während die Unübersichtlichkeit zur Verbreitung sogenannter Dark Ads, deren Inhalte und Ursprünge sich oftmals kaum nachvollziehen lassen, gleichsam rasant zugenommen habe. Durch das Urteil des Obersten Gerichtshofs im Fall Citizens United v. Federal Election Commission im Jahr 2010 wurden die zuvor bereits relativ laxen Wahlkampffinanzierungsregularien weiter gelockert. Im Wahljahr 2016 konnten laut der Wahlkampf Watchdog-Organisation OpenSecrets.org deshalb insgesamt 6,5 Milliarden US Dollar für die Wahlkämpfe auf Bundesebene ausgegeben werden (In-

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graham 2017). Dabei ist wichtig zu berücksichtigen, dass ein großer Anteil dieser Summen letztendlich in Form von bestellten Werbespots direkt Nachrichtenmedien zu Gute kommt. Trotz der zunehmenden Bedeutung neuer Medien ist der Hauptnutznießer dabei nach wie vor das Fernsehen, das auch noch im Jahr 2015 87 % der wahlberechtigten US-Amerikaner erreicht (Nielsen 2015, S. 8). Man dürfte also gerade den Fernsehanstalten und ihren lokalen Ablegern, sowie zunehmend auch den Plattformbetreibern, bei denen Werbespots und Anzeigen geschaltet und vergütet werden, getrost ein direktes finanzielles Interesse an langen und erbittert geführten Wahlkämpfen unterstellen. Eines der Hauptdistinktionsmerkmale des Mediensystems der USA ist eine scheinbar deutliche Trennung von Staat und Mediensystem. Doch trotz eines relativ begrenzten öffentlich-rechtlichen Mediensektors ist die historische Entwicklung US-amerikanischer Medien tief mit politischer Gestaltung und der Vergabe staatlicher Fördermitteln verzahnt. Zudem lässt sich stets eine Wechselwirkung zwischen politischem Betrieb und medialen Inhalten beobachten, die keineswegs eindeutig in die eine oder andere Richtung verläuft: Medien können starken politischen Akteuren dazu verhelfen, sich vorteilhaft in Szene zu setzen; gleichzeitig müssen Politiker sich ebenfalls den Regeln der Medien beugen und anpassen. Der politische Betrieb ist also auf die Medien in ihrer Funktion als vermittelndes Organ angewiesen. Auch hierdurch lässt sich erklären, dass in den USA Kommunikationsstrukturen aufgebaut und erhalten wurden, durch die (zumindest potenziell) auch immer die Rolle der vierten Gewalt erfüllt werden kann.

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Fazit: Der Trend geht in Richtung Fragmentierung

Die Rolle der Medien im politischen System der USA wird innerhalb mehrerer Spannungsverhältnisse geformt. Medien können die Vielfalt der US-amerikanischen Gesellschaft reflektieren, dienen jedoch ebenfalls als gemeinsame Kommunikationsfläche, auf welcher politische Diskurse zwangsläufig fokussiert und abgrenzt werden. Die liberale Marktwirtschaft verhalf Journalistinnen und Journalisten historisch zwar zu einem gewissen Maß an Professionalität und Autonomie, zwang medialen Inhalten dafür jedoch stets eine eigene Logik des Vertriebs auf. In Bezug auf den politischen Betrieb lässt sich beobachten, dass Medien zum einen von der Politik genutzt und geformt werden, zum anderen aber auch die Politik selbst beeinflussen – indem sie beispielsweise als vierte Gewalt agieren oder diskursive Strukturen und Rahmenbedingungen verändern. Wie viel Heterogenität verträgt das Mediensystem? Wie frei darf sich der Markt entfalten, bevor er die Pressefreiheit gefährdet? Wie abhängig ist die Politik von den Medien und umgekehrt? Um diese Fragen zu beantworten, muss eine bestimmte normative Vorstellung der Rolle und Funktion der Medien festgelegt werden. Wie aufgezeigt, stellt eben dies in Hinblick auf eine amerikanische „Presse“, die sich frei entfalten soll, aber eine gewisse Schwierigkeit dar. Ob man es mit Tocqueville hält und die Fähigkeit der amerikanischen Medien lobt, Gedanken zu verbreiten, um ‚die Kultur‘ zu erhalten oder ob man eben dies als einengend und bedrohlich erachtet –

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letztendlich mag dies mehr über den jeweils eingenommenen Standpunkt gegenüber der amerikanischen Gesellschaft und dem politischen Betrieb denn über die Rolle der Medien an sich aussagen. Festzustellen ist dennoch, dass das Mediensystem der USA spätestens seit der Verbreitung des Internets einen rasanten Wandel durchläuft. Trendlinien, die sich seit den frühen 2000er-Jahren aufweisen lassen, wie etwa die zunehmende Fragmentierung der Öffentlichkeit, Marktkonsolidierung und eine zunehmend politisierte Form von Nachrichtenproduktion, haben sich dabei ebenso verschärft wie die Krise des professionellen Journalismus und der Druck den wirtschaftliche und politische Interessen auf Nachrichteninhalte ausüben. Der Wahlkampf und die Amtszeit Donald Trumps haben derartige Krisen eindrücklich aufgezeigt und ins kollektive Bewusstsein gerufen. In der gegenwärtigen Situation erscheint es daher eher fragwürdig, ob sich in der näheren Zukunft Räume für kollektive, inklusive und offenen Deliberationsprozesse bilden. Eine wahrscheinlichere Entwicklung scheint derzeit eine zunehmende Enklavenbildung, geprägt von diversen Identitäten, Interessen und Parteilichkeit. Gesamtgesellschaftlich ist davon auszugehen, dass hierdurch politische Dissonanzen, Polarisierungstendenzen und eine Fragmentierung der Gesellschaft zunächst eher zu als abnehmen werden.

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Demokratie, Partizipation und Ungleichheit in den Vereinigten Staaten Christian Lammert und Boris Vormann

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Eine besonders egalitäre Gesellschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Inklusion und Bürgerrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Historische Defizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 New Deal und Great Society: Wendepunkte in der Sozialpolitik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Die neuen Ungleichheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Die Kluft wächst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Dieses Kapitel erläutert die Entwicklung sozialer, politischer und ökonomischer Ungleichheiten in den Vereinigten Staaten von Amerika im Laufe des 20. und 21. Jahrhunderts. Er leistet einen Überblick über die empirischen Details und die entscheidenden Faktoren und Dynamiken wachsender sozio-ökonomischer Ungleichheiten und bespricht deren Auswirkungen auf politische Prozesse. Wir argumentieren, dass die neuen Ungleichheiten nur erklärt werden können, wenn jüngere neoliberale Entwicklungstendenzen zusammengedacht werden mit ungelösten strukturellen Problemen des demokratischen Systems in den Vereinigten Staaten.

C. Lammert (*) John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] B. Vormann Bard College Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_36

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C. Lammert und B. Vormann

Schlüsselwӧrter

Sozio-ökonomische Ungleichheiten · US-amerikanische Demokratie · Formelle Gleichheit · Responsivität · Politische Ungleichheit

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Einleitung

Washington, DC. hat seit jeher keinen guten Ruf. Zu sehr widerspricht die politische Hauptstadt als Zentrum der Macht den nationalen Mythen einer dezentralisierten, vom Volk regierten Republik. Angesichts steigender Ungleichheiten in den letzten Jahrzehnten und insbesondere seit der Finanzkrise von 2008 sind kritische Stimmen aber immer lauter geworden, denn die wachsenden Klassenunterschiede scheinen auch den politischen Prozess immer stärker zu beeinflussen. Ungleichheit bedroht die Demokratie – und Washington, DC. ist zum Symbol dieser Schieflage geworden. Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von 1776 verspricht allen U.S.-amerikanischen Staatsbürgern gleiche politische Rechte – ein Ideal, das formal jedoch erst im Verlauf des späten 19. und bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts auch auf Minderheiten und Frauen ausgeweitet wurde. Heute befürchten nicht wenige die Aushöhlung dieser gesellschaftlichen Errungenschaften und der U.S.amerikanischen Demokratie durch neue gesellschaftliche Ungleichheiten. Ob und inwiefern jenes Ideal jedoch jemals die gesellschaftliche Realität bestimmt hat, muss an sich schon infrage gestellt werden. Dass in den USA seit mehreren Jahrzehnten eine Politik verfolgt wird, die vor allem Wohlhabenden dient, bestätigte auch das einflussreiche Buch Winner Take-All Politics von Jacob S. Hacker und Paul Pierson (Hacker und Pierson 2010). Ihre These: Die Politik hat Reiche reicher gemacht und die Mittelklasse im Stich gelassen. Die US-Bevölkerung scheint die Auffassung der beiden US-Politikwissenschaftler zu teilen. Vor der letzten Präsidentschaftswahl stimmten gut Zwei-Drittel der Befragten der Aussage zu, dass die Regierung nur für die Interessen weniger da sei, nur noch 19 % glaubten daran, dass die Regierung zum Nutzen aller agiere. In den 1960erJahren sah das Bild noch deutlich anders aus. An eine das Gemeinwohl fördernde Politik glaubten noch 64 % der Befragten, während nur 29 % die sogenannten special interest groups als Antreiber hinter den Politikern in Washington, DC. sahen (Pew Research Center 2015, S. 35). Heute hingegen herrscht der Eindruck, die politischen Eliten hätten den Kontakt zur Bevölkerung verloren (77 %) und kümmerten sich nicht mehr um den Durchschnittsbürger (74 %) – ihre Einzelinteressen stünden über denen der nationalen Gemeinschaft (Pew Research Center 2015, S. 40). Da mag es als Paradox erscheinen, dass gerade Donald J. Trump, ein Multimillionär aus der berüchtigten Immobilienwirtschaft New Yorks, zum Präsident gewählt wurde. Aber sein Reichtum gereichte ihm nicht zum Nachteil. Er war sogar ein Trumpf. Denn er konnte zumindest seiner Wählerschaft ausreichend glaubhaft vermitteln, er sei unabhängig von Geld und Lobby, er selbst sei ja ohnehin schon reich genug. Er konnte sich als authentischer Outsider inszenieren, der mit den Eliten nicht paktieren müsse, um seine Politik für das amerikanische Volk durchzusetzen. Was seine Wahl zeigt, ist wie

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wichtig es offensichtlich einem mehrheitsfähigen Teil der Gesellschaft war und ist, die Einflüsse der Wirtschaft auf die Politik unter Kontrolle zu bringen – oder, um Trumps Slogan zu verwenden: den Sumpf in Washington, DC. trocken zu legen. Ohne Zweifel: Ungleichheit ist ein immanenter Bestandteil jedweder gesellschaftlichen Ordnung. Aber mit dem New Deal und der Great Society, die in der Forschung oftmals als Gründungsmomente des US-amerikanischen Sozial- und Interventionsstaats1 skizziert werden, hoffte man, Mechanismen etabliert zu haben, um diese Ungleichheiten zu begrenzen. Und tatsächlich sind nach den 1930er-Jahren die Ungleichheiten bei Einkommen und Wohlstand kontinuierlich zurück gegangen. Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich seither Exklusionsmechanismen und ungleiche Partizipationsmöglichkeiten hartnäckig gehalten, beziehungsweise in neuen Formen institutionalisiert haben. Daher muss gefragt werden, inwieweit diese historischen Fehlentwicklungen und institutionellen Defizite in der Entwicklung des Sozial- und Interventionsstaates die heutige Entwicklung hin zu neuen Ungleichheiten erklären können.

2

Eine besonders egalitäre Gesellschaft?

Die USA gelten weitläufig immer noch als Beispiel einer liberal-demokratischen Gesellschaft, geprägt durch eine Regierung, die die Interessen der Bevölkerung vertreten und die gleiche Rechte aller Staatsbürger respektieren soll. Nach der Ansicht vieler Autoren bestimmten demokratische und republikanische Prinzipien die politische Entwicklung des Landes, illiberale Tendenzen und undemokratische Ideen scheinen historisch marginal und unbedeutend. Sozialwissenschaftler und Autoren wie Hector St. John Crevecoeur im 18. Jahrhundert, Lord Bryce im 19. Jahrhundert sowie Gunnar Myrdal (1944) und Louis Hartz (1955) im 20. Jahrhundert verfestigten und stärkten dieses Narrativ über die Zeit hinweg. Auch führende Sozialwissenschaftler aus der Gegenwart wie z. B. Samuel P. Huntington (1981) und Ira Katznelson (1981) argumentieren stark in der Traditionslinie, die bereits Tocqueville mit seinem Klassiker ‚Democracy in America‘ etabliert hat. Und in der Tat unterstreicht Tocquevilles These einige wichtige Elemente zum Verständnis des US-amerikanischen Liberalismus, allem voran Freiheit, Gleichheit und Individualismus. Allerdings verstellt eine solch verengte Interpretation den Blick auf nichtegalitäre Ideologien und Bedingungen, die ebenso ein wichtiger Bestandteil der politischen Entwicklung in den USA sind (Smith 1997). So wurden in den USA über einen langen Zeitraum hinweg bestimmten Bevölkerungsgruppen aufgrund von Ethnie und Geschlecht elementare staatsbürgerliche Rechte verwehrt. Tocquevilles Charakterisierung der Freiheitsrechte entwickelte er anhand eines relativ kleinen Kreises 1

Gemeinhin spricht man in der einschlägigen US-amerikanischen Fachliteratur vom Wohlfahrtsstaat (welfare state) oder ausschließlich von Sozialpolitik. Wir verwenden bewusst den Begriff des Sozial- und Interventionsstaats, um auch nicht primär sozialpolitische Interventionsformen wie zum Beispiel Arbeitsmarkt-, Bildungspolitik oder auch die Regulierung der Finanzmärkte in den Blick zu nehmen.

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von US-Bürgern (zumeist weiße Männer nordeuropäischer Herkunft), die er mit Kategorien beurteilte, welche er aus den stark hierarchisierten politischen und ökonomischen Statusmodellen Europas ableitete. Aus einer solchen Perspektive ist es nicht verwunderlich, dass die USA als ‚neue‘ Nation (Lipset 1979) insbesondere durch das Fehlen solcher traditionellen Hierarchien beschrieben werden und im Vergleich zu Europa weit egalitärer erscheinen (siehe Vormann 2012). Neben diesen egalitären Tendenzen haben sich auch sozio-kulturelle Systeme erhalten, die Ungleichheiten verstärken: die Dominanz von Männern gegenüber Frauen sowie Unterschiede zwischen „Race“ und Religionszugehörigkeiten müssen hier an erster Stelle genannt werden. Diese Ungleichheitssysteme können dabei nicht nur als emotionale Vorurteile oder Einstellungen betrachtet werden. Über die Zeit haben sich in der sozialwissenschaftlichen Forschung und auch unter politischen Eliten in den USA unterschiedliche Rechtfertigungsmuster für diese askriptiven Systeme herausgebildet, so z. B. der wissenschaftliche Rassismus der ‚American School‘ im 19. Jahrhundert, rassistische und sexistische darwinistische Ansätze und der romantische Kult um das ‚Anglo-Saxonism‘ in der amerikanischen Historiografie. All diese unterschiedlichen Diskurse vereint im Kern eine Vorstellung des ‚Amerikanischen‘ als spezifische Form kultureller, religiöser, ethnischer und geschlechtlicher Hierarchien (Smith 1993, S. 550). Es sind also nicht nur die etablierten Vorstellungen eines allumfassenden Liberalismus (Hartz 1955), die den ‚American Exceptionalism‘ erklären. Die USA wurden auch konstituiert durch Ideologien und Praktiken, die die Beziehungen zwischen einer weißen, männlichen Minderheit mit untergeordneten sozialen Gruppen und dieser Gruppen untereinander bestimmen. Rückt man diese Elemente mit in die Betrachtung, so relativiert sich Tocquevilles Vorstellung von Egalitarismus. Und auch wenn die genannten Ungleichheitssysteme vielleicht in manchen Kreisen an Wirkungskraft verlieren, so dürfen diese Traditionen und zum Teil noch konkreten Manifestationen von Ungleichheit in ihrer Bedeutung für die hier analysierten neuen Ungleichheiten nicht vernachlässigt werden.

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Inklusion und Bürgerrechte

Die Überlegungen des britischen Soziologen T.H. Marshall zum Zusammenhang von Staatsbürgerschaft und sozialen Klassen ist ein guter Analyserahmen ([1949] 1992), um die Entwicklungsdynamik von Integration und Demokratie zu verstehen. Nach Marshall impliziert der Bürgerstatus gleichermaßen bürgerliche, politische und soziale Rechte, die sich historisch herausgebildet haben und gegenseitig bedingen. Marshall diskutiert diese drei Dimensionen des Bürgerstatus sowohl hinsichtlich des Zusammenhanges zur Demokratisierung und sozialer Sicherung als auch der Frage, ob und wieweit diese Rechte ausgebaut werden können, ohne dabei in Widerspruch zu ökonomischen Freiheitsrechten zu geraten. Bürgerliche Rechte sind laut Marshall notwendig, um die individuelle Freiheit zu sichern. Dazu gehören u. a. die Freiheit der Person, Redefreiheit, Gedanken- und Glaubensfreiheit, Freiheit des Eigentums und das Recht auf ein Gerichtsverfahren.

Demokratie, Partizipation und Ungleichheit in den Vereinigten Staaten

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Das letzte Recht ist auf einer anderen Ebene angesiedelt, da es die vorher genannten Rechte auf der Grundlage von Gleichheit und einem rechtsstaatlichen Verfahren garantieren soll. Mit der politischen Dimension beschreibt Marshall das Recht auf politische Teilhabe, entweder als Mitglied einer politischen Körperschaft oder als Wähler. Mit der sozialen Dimension bezeichnet Marshall letztendlich eine ganze Reihe von Rechten, die vom Recht auf ein Mindestmaß an wirtschaftlicher Wohlfahrt und Sicherheit bis zum Recht auf ein Leben als zivilisiertes Mitglied der Gesellschaft reicht. Alle drei Rechtsdimensionen, die den Bürgerstatus ausmachen, beschreiben Inklusionsmechanismen, die, so das gängige Argument, über die Zeit hinweg graduell aber stetig ausgebaut werden. Diese immanente Entwicklungslogik von bürgerlichen über politische bis zu sozialen Rechten kann allerdings nur idealtypisch verstanden werden, denn in der Realität sind diese Entwicklungen keinesfalls abgeschlossen. Als idealtypischer Prozess einer progressiven Entwicklung treffen diese drei Dimensionen sicherlich auch im Fall der Vereinigten Staaten zu. Auf der anderen Seite zeigt sich jedoch auch, dass ein Defekt in früheren Entwicklungsstufen sich auch auf spätere auswirkt und das gemachte Fortschritte auch durchaus umkehrbar sind.

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Historische Defizite

Die Sklaverei, die nur stufenweise Ausweitung politischer Partizipationsrechte und auch die unvollständige Herausbildung moderner öffentlicher sozialpolitischer Strukturen verdeutlichen die Komplexität und die Probleme, die mit der Realisierung dieser verschiedenen Rechtsdimensionen einhergehen. Zum Beispiel wurde Afro-Amerikanern lange Zeit das Eigentumsrecht verwehrt. Nach dem fünften Verfassungszusatz wurden Sklaven als sächlicher Besitz definiert. Erst mit dem Ende des Bürgerkrieges (1861–1865), in der sogenannten Ära des Wiederaufbaus (reconstruction era), wurden den befreiten Sklaven gewisse Bürgerrechte verliehen. Mit dem 13. Verfassungszusatz von 1865 verbot der US Kongress endgültig die Sklavenhaltung auf dem gesamten Staatsgebiet. Der 14. Zusatzartikel (1868) führte die Gleichbehandlungsklausel (equal protection clause) und das Recht auf ein ordentliches Gerichtsverfahren in allen Bundesstaaten ein (due process clause). Darüber hinaus wurde allen in den USA geborenen Personen unabhängig von „Rasse, Hautfarbe und früherer Knechtschaft“ die Staatsbürgerschaft mit entsprechenden Grundrechten zugesprochen (privilege clause). Mit der Verabschiedung des 15. Verfassungszusatz 1870 gewährte die Bundesregierung auch den ehemaligen Sklaven männlichen Geschlechts das volle Wahlrecht. Trotz dieser formalen Emanzipation, wurden insbesondere in den Südstaaten, basierend auf einer Ideologie der weißen Herrschaft (white supremacy), die Bürgerrechte nicht umgesetzt oder wieder beschnitten. Die Jim-Crow-Gesetze des späten 19. Jahrhunderts verschärften die Segregation von weißen und schwarzen Bevölkerungsgruppen. Gleichzeitig wurden die Hürden zur politischen Partizipation dadurch erhöht, dass die Wahlberechtigung an spezifische Bedingungen gekoppelt wurde (z. B. Wahlsteuern und Rechtschreib-

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und Lesetests), die systematisch die schwarze Bevölkerung von den Wahlen ausschlossen (Perman 2001). Diese Emanzipationsbarrieren wurden im Zuge des 20. Jahrhunderts Schritt für Schritt abgebaut, sowohl mit Blick auf Eigentums- und politische Rechte (Voting Rights Act 1965) als auch im sozialpolitischen Bereich mit dem New Deal und dem War on Poverty der Lyndon B. Johnson Administration. Als wegweisend erwies sich der Civil Rights Act von 1964, der nicht nur die Behörden und öffentlich finanzierte Einrichtungen der Einzelstaaten zur Einhaltung des Diskriminierungsverbots verpflichtete, sondern sich gezielt auch an Unternehmen und Gewerkschaften richtete. Das Gesetz eröffnete auch eine neue Phase in der Geschichte der USA, die manche als second reconstruction bezeichnet haben (Foner 2006). Mit Abschn. 7 untersagte der US Kongress erstmals auch in der Wirtschafts- und Arbeitswelt eine direkte Benachteiligung aufgrund von Hautfarbe, Religion, nationaler Herkunft oder Geschlecht (siehe Grell und Lammert 2013, Abschn. 5.3). Zum Ende des Jahrhunderts lässt sich also, wenn nicht die vollständige Umsetzung sozialer Bürgerrechte, so doch eine deutliche Verbesserung der sozioökonomischen Lage afroamerikanischer Bürgerinnen und Bürger in den USA konstatieren (Katz et al. 2005). Ähnliche Entwicklungslinien lassen sich in groben Zügen auch bei der Ausweitung von Rechten für Frauen nachzeichnen. Auch ihnen blieb der Zugang zu elementaren Bürgerrechten lange verwehrt. Resultierend aus der britischen Common Law Tradition verlor die Frau in den USA bei der Eheschließung jede eigene Rechtsstellung; hier insbesondere ihr Recht auf ein eigenes Vermögen, aber auch ihre Rechts- und Geschäftsfähigkeit. Diese Bestimmungen blieben trotz gewisser Beschränkungen (Married Women’s Property Act von 1839) in einigen Einzelstaaten sogar bis in die 1960er-Jahre (!) wirksam (Carls und Kramer 2013). Erst fünfzig Jahre nach der Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts erhielten auch Frauen 1920 mit dem 19. Verfassungszusatz dieses politische Partizipationsrecht. Auch wenn die Herausbildung des US-amerikanischen Wohlfahrtsstaates in weiten Teilen als eine Expansion sozialer Rechte verstanden werden kann, nicht zuletzt weil er auch zahlreiche soziale Sicherungsprogramme insbesondere für Frauen einführte, lassen sich mit Blick auf die Struktur der implementierten Sozialprogramme die Widersprüche und die Unvollständigkeit der eingeräumten Rechte für alle Bürgerinnen und Bürger aufzeigen. So wird aus feministischer Perspektive die Entstehung eines „gendered two-channel welfare state“ kritisiert (Nelson 1990). Gemeint sind hier großzügige Versicherungsleistungen (social security) für die meist männliche Industriearbeiterschaft auf der einen und Sozialhilfe (welfare) in erster Linie für Frauen auf der anderen Seite (Fraser und Gordon 1992). Mit der erwerbszentrierten Struktur des Wohlfahrtssystems auf der Grundlage des männlichen Ernährermodells sei der rechtliche und gesellschaftliche Status von Frauen und ethnischen Minderheiten nachhaltig geschwächt worden (Skocpol 1992; Fraser 1993).

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New Deal und Great Society: Wendepunkte in der Sozialpolitik?

Dass nicht alle gleichermaßen vom New Deal profitierten, zeigte sich spätestens in den 1960er-Jahren, als Berichte über „das andere Amerika“ (Harrington 1962) oder über den „Zusammenbruch afroamerikanischer Familien“ (Moynihan 1965) die Schärfe weiterhin bestehender materieller und gesellschaftlicher Ungleichheiten mitten in der Überflussgesellschaft (affluent society; Galbraith 1958) sichtbar machten. Weitgehend ausgeschlossen vom Wohlstand blieben neben den Bewohnern infrastrukturschwacher ländlicher Regionen insbesondere die Nachfahren der Sklaven, die entweder konzentriert in Innenstadtghettos im Nordosten des Landes lebten oder weiterhin unter der rassistischen Segregation in den Südstaaten litten. Als zentrales Instrument zur Verbesserung der Lebensbedingungen in den Slums der Innenstädte galt der 1964 verabschiedete Economic Opportunity Act. Dieser setzte nicht länger auf finanzielle Hilfen zur Bekämpfung von Armut, sondern auf eine verbesserte soziale Infrastruktur, mehr Aus- und Weiterbildungsangebote sowie die Bekämpfung von rassistischer Diskriminierung. Bis heute erhalten geblieben sind beispielsweise die Bundesprogramme Head Start und Job Corps, die die Bildungschancen für Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Familien verbessern helfen, sowie das Department of Housing and Urban Development, das gegründet wurde, um sich der Wohnungssituation von ärmeren Bevölkerungsgruppen anzunehmen. Auch die aktive Gleichstellungspolitik (affirmative action) ist eine Konsequenz der mit der Great Society ins Leben gerufenen Sozialprogramme. So unterhält heute fast jede größere Behörde eine Abteilung, die mit Gleichstellungs- und Bürgerrechtsfragen befasst ist. Die beiden wichtigsten nationalen Kontrollinstanzen sind neben der Civil Rights Division des Bundesjustizministeriums die unabhängige Equal Employment Opportunity Commission und das Office of Federal Contract Compliance Program des Bundesministerium für Arbeit. In gewisser Weise könnte man die Great Society Gesetzgebung insgesamt als historischen Kulminationspunkt in der von Marshall beschriebenen Entwicklung unterschiedlicher Rechtsdimensionen verstehen. Die graduelle Ausweitung von Bürgerrechten, sozialen Sicherungs- und Gleichstellungsprogrammen schlugen sich nieder in der Entwicklung der Armutsraten und sozialen Ungleichheiten. Dies gilt für weite Teile der Gesellschaft und insbesondere für ältere Menschen. Deren Armutsrate lag bis in die 1960er-Jahre noch deutlich über dem nationalen Durchschnitt, konnte jedoch durch die etablierten sozialen Sicherungsprogramme für Ältere deutlich reduziert werden und liegt seit dem Beginn der 1980er-Jahre sogar unter ihm (Gabe 2013). Auch marginalisierte und historisch benachteiligte Personengruppen haben vom Umbau des Sozialsystems profitiert, allerdings ohne dabei bestehende Ungleichheitsmuster zu überkommen. Die Armutsrate bei von Frauen geführten Haushalten fiel von 62 % 1940 auf 37,4 % 1970 (im Vergleich zu respektive 37,7 % und 9,5 % bei Männern). Armutsraten bei afroamerikanischen Frauen, die konsequent zwanzig Prozent über den Armutsraten des Durchschnitts aller ethnischen Gruppen liegen, sind in demselben Zeitraum von 83,6 % auf 56,3 % gefallen. Auch in den mehr-

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heitlich von ethnischen Minderheiten bewohnten Innenstädten sanken die Armutsraten innerhalb von vierzig Jahren im Zuge des sich konsolidierenden Sozialsystems von 30,0 % im Jahre 1940 auf 16,7 % im Jahr 1970; verglichen mit 28,7 % und 7,5 % in den überproportional von weißen Bevölkerungsgruppen bewohnten suburbanen Gebieten (siehe Katz und Stern 2001, S. 35–38). Trotz dieser Defizite kann insgesamt dennoch, auch aufgrund veränderter Umverteilungssysteme, von einer gesellschaftlichen Annäherung der unterschiedlichen Einkommensgruppen sowie von einer inklusiveren Gesellschaft gesprochen werden, die in den 1960er-Jahren begann, sich auch für traditionell ausgeschlossene Bevölkerungsgruppen zu öffnen. Paul Krugman spricht angesichts dieser neuen gesellschaftlichen Gleichheit in Anlehnung an Claudia Goldin und Robert Margo (1992) von einer great compression. Diese bis in die 1970er-Jahre andauernde Entwicklung zu mehr Gleichheit in der Einkommensverteilung führt Krugman zurück auf eine insbesondere während des Weltkriegs stark erhöhte progressive Einkommensteuer und die im Zuge des New Deal gestärkten Kollektivverhandlungen der Gewerkschaften. Darüber hinaus zogen Lohn- und Preiskontrollen des National War Labor Board eine Angleichung der Einkommen nach sich (Krugman 2007). Angesichts dieser Kombination eines ausgebauten Umverteilungssystems, ökonomischen Wachstums in der Nachkriegsära und spezifischer staatlicher Regulations- und Interventionssysteme haben manche rückblickend von einem goldenen Zeitalter der Gleichheit gesprochen, in dem Demokratie und Kapitalismus vereinbar, ja komplementär schienen (Reich 2007).

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Die neuen Ungleichheiten

Das vermeintliche goldene Zeitalter der Gleichheit fand in den späten 1970er-Jahren ein jähes Ende. Die seither drastisch gestiegene Ungleichheit ist allem voran Konsequenz divergierender Einkommensentwicklungen. In dem von Paul Krugman als great divergence bezeichneten Zeitraum von 1980 bis 2008 sind Einkommensungleichheiten der arbeitenden Bevölkerung um 25 % angestiegen. 1980 lag das Durchschnittseinkommen der Top 10 % noch bei dem Zehnfachen zu jenem der untersten zehn Prozent. Bis 2008 stieg dieses Verhältnis auf fünfzehn zu eins an. Damit gehörten die USA im OECD Raum nach Chile, Mexiko und der Türkei zu den Ländern mit den höchsten Einkommensungleichheiten. Die reichsten US Bürger haben seit den 1980er-Jahre den Großteil der Einkommenszuwächse zu verzeichnen (OECD 2011). In der Nachkriegszeit verteilten sich Produktivitätszuwächse und Profite noch relativ gleichmäßig in der gesamten Gesellschaft: die Einkommen der unteren 90 % wuchsen dabei prozentual sogar stärker als jene der Top 1 %. Dieser Trend hat sich grundsätzlich und nachhaltig umgekehrt. Seit den späten 1970er-Jahren stagnierten die Einkommen der unteren 90 %, wohingegen jene der Topverdiener extrem anstiegen. Die unteren 90 % verdienen sogar im Durchschnitt (vor Steuern) 900 US-Dollar (USD) weniger als 1979, während die reichsten 1 % im Durschnitt

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700.000 USD mehr verdienen (Stone et al. 2018). Auch infolge der Finanzkrise hat sich die ungleiche Verteilung der Einkommen noch verstärkt (Saez 2013). Noch problematischer ist diese Entwicklung, wenn man sich vor Augen führt, dass die soziale Mobilität in den USA weit geringer ist als oftmals konstatiert. Wer es in den Vereinigten Staaten einmal unter die Topverdiener geschafft hat, bleibt auch meistens dort. Nur jeder Vierte fällt aus dieser Einkommenskategorie heraus, während dies beispielsweise in Australien und Norwegen auf fast jeden zweiten zutrifft (OECD 2018). Die soziale Mobilität ist auch auf der anderen Seite des Einkommensspektrums äußerst eingeschränkt: 43 % der US-Amerikaner, die in einem armen Haushalt (unterste 20 % der Einkommensverteilung) geboren sind, schaffen in ihrem Leben keinen sozialen Aufstieg. Insgesamt bleibt sogar 70 % der Bevölkerung der Aufstieg in die mittlere Einkommensklasse verwehrt (PEW Charitable Trusts 2013). In der Einkommensentwicklung lassen sich darüber hinaus noch weitere Dimensionen der Ungleichheit feststellen, die entlang der eingangs thematisierten, historischen Ungleichheiten zwischen den ethnischen Gruppen und Geschlechtern verlaufen. So sind die Einkommensunterschiede zwischen Weißen, Afroamerikanern und Hispanics seit dem Civil Rights Act nahezu unverändert (Fontenot et al. 2017, S. 5). Gleiches gilt für die Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen, auch wenn sich seit Ende der 1970er-Jahre die Einkommensschere ein wenig schließt (Fontenot et al. 2017, S. 9). Wodurch erklärt sich diese great divergence? Um wachsende Ungleichheiten in den USA erklärbar zu machen, müssen sozio-ökonomische Veränderungen in den Blick genommen werden und wie diese durch die Politik verarbeitet und teils begünstigt wurden. Als größere Dynamiken müssen genannt werden das sich ändernde Verhältnis zwischen Staat und Markt (Globalisierung, Privatisierung, etc.), sich wandelnde Sozialstrukturen (Familie, Demografie, etc.) und technologischer Wandel (Automatisierung, Internationalisierung, etc.). In diesen Prozessen wird oftmals die Rolle des Staats unterschätzt und angesichts scheinbar übermächtiger, alternativloser Globalisierungsprozesse eher als reaktiv bewertet. Im sich ändernden Verhältnis zwischen Staat und Markt muss die aktive Rolle von Politik stärker thematisiert werden. Der Handlungsspielraum von Politik bewegt sich hierbei zwischen historisch etablierten Institutionen, Interessen und Ideen (Blyth 2011). Nur scheinbar externe Globalisierungsströme werden innerhalb des Nationalstaats artikuliert und dort erst ermöglicht, auch wenn hierbei natürlich die Entstehung neuer supranationaler und teils privatwirtschaftlicher Entitäten (emergent institutional forms) auf die staatlichen Handlungsmöglichkeiten rückwirken (Sassen 2007). Folge dieser Entwicklungsdynamiken ist auch eine Verschiebung der Machtressourcen innerhalb des politischen Systems und der Gesellschaft. Ließ sich in den unmittelbaren Nachkriegsjahrzehnten noch von einem fordistischen Kompromiss zwischen dem Staat, den großen Unternehmen (wie Ford und General Motors) und den Gewerkschaften sprechen, kam es nach den Krisen der 1970er-Jahre zu einem Niedergang gewerkschaftlicher Organisation (deunionization) und deren politischen Einfluss. Im Zeitraum von 1973 bis 2007 ist der Organisationsgrad der Gewerkschaften im Privatsektor bei Männern von 34 % auf 8 % und bei Frauen von 16 % auf 6 % zurückgegangen, was signifikanten Einfluss auf die gewachsene Lohnun-

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gleichheit genommen hat (Western und Rosenfeld 2011). Diese Entwicklung hat sich nach jüngsten Daten des Bureau of Labor Statstics (2019) auch unter Obama und Trump fortgesetzt. Insbesondere der von der Realwirtschaft zunehmend entkoppelte und staatlich wenig regulierte Finanzsektor mit seiner extremen Lohnentwicklung (Bonussystem) komplementiert die zunehmend ungleiche Verteilung von Einkommen (Lewis 2010). Der Machtverlust der Gewerkschaften und der damit einhergehende Machtzuwachs von Wirtschaftsinteressen und nunmehr international agierenden Unternehmen wird verstärkt durch eine aktive staatliche Politik, die durch sozial- und steuerpolitische Reformen ökonomische Ressourcen so umverteilt, dass die Gewinner der Globalisierung zusätzlich profitieren (Hacker und Pierson 2010). Während die Topeinkommen weiter steigen, werden soziale Sicherungssysteme zunehmend im Interesse des Privatsektors umgestaltet (workfare state; Peck 2001; Weaver 2000), was zur Entstehung eines flexiblen und eines nicht gewerkschaftlich organisierten Niedriglohnsektors geführt hat, der zur Bedingung einen konstanten Zustrom geringqualifizierter Einwanderer hat. Dabei werden historisch existierende Konfliktlinien entlang von Gender und Race perpetuiert. Dass diese Entwicklung durchaus wohlverdient erscheint und in der Bevölkerung trotz aller gesellschaftlichen Verwerfungen noch auf Akzeptanz zu stoßen scheint, hängt auch mit der besonderen politischen Kultur der Vereinigten Staaten zusammen: Die Ungleichheit wird verstanden nicht als Resultat staatlicher Politik, sondern zum einen als Konsequenz eigenverantwortlichen, individuellen Handelns und zum anderen als Folge von Marktmechanismen, die den eigenen ökonomischen Aufstieg ermöglichen können (Bartels 2005). Der Glaube an die Meritokratie und die Furcht vor dem großen Staat (big government) haben die Formulierung kollektiver Interessen unterlaufen. Primäre Aufgabe des Staates ist daher die Ermöglichung fairer Ausgangsbedingungen für Individuen (equality of opportunity) und nicht eine nachträgliche Nivellierung von Ungleichheiten (equality of outcome). Dass es sich jedoch bei der Chancengleichheit tatsächlich nur um ein Ideal handelt, lässt sich allein schon daran erkennen, dass angesichts massiv angestiegener Studiengebühren in den letzten Jahrzehnten Bildung als Mobilitätsfaktor selbst schon von ökonomischen Ressourcen und Möglichkeiten abhängt.

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Die Kluft wächst

Die neuen Ungleichheiten wirken sich negativ auf die politischen Partizipations- und Einflussmöglichkeiten der US-Bürger aus (Jacobs und Skocpol 2005). Dies könnte die diagnostizierte Abwärtsspirale noch verstärken. Das politische System ist immer weniger responsiv gegenüber den Interessen sozial und ökonomisch benachteiligter Bevölkerungsgruppen; primär gehört wird die politische Stimme derer, die mittels ihrer ökonomischen Ressourcen politischen Einfluss ausüben können (Gilens 2014). Das politische System der Vereinigten Staaten ist hierfür besonders empfänglich, weil die etablierten Mechanismen von checks and balances zahlreiche Interventionspunkte für partikulare Interessen bieten (Lobbyismus, Interessengruppen, Medien). Je mehr sich also die Schere zwischen arm und reich spreizt, desto ungleicher

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auch die Zugangschancen zum politischen System – und damit die Möglichkeit kollektive Interessen zu formulieren und die Dynamik der Abwärtsspirale umzukehren. Wenn die Regierung nur noch auf Vertreter oberer Einkommensschichten hört, wird auch nur eine Politik implementiert, die deren Interessen entspricht. Ökonomische Ungleichheit übersetzt sich dann in ungleiche politische Partizipationschancen. Politik läuft damit Gefahr, zirkulär zu werden, da sie ökonomische Ungleichheiten weiter verstärkt – und somit auch wiederum den ungleichen Einfluss auf die Politik. Die Korrekturmechanismen einer Demokratie – Wahlen – werden unter diesen Voraussetzungen außer Kraft gesetzt. Ein Aufbrechen dieses Zirkels erscheint nur noch durch eine politische Revolution möglich, wie sie Bernie Sanders in seinem Wahlkampf 2016 forderte, oder indem dieser Sumpf aus Politik und Wirtschaft trockengelegt wird – Trumps Kampfansage. Blickt man aus einer solchen Perspektive zurück, wird klar, dass die Politik der USA in den letzten 40 Jahren – das Zurechtstutzen des Wohlfahrtsstaates, die Deregulierung der Märkte und massive Steuersenkungen für die oberen und obersten Einkommensperzentile – eben keine alternativlose Politik war. Sie wurde im Interesse der Superreichen und der mächtigen Interessengruppen umgesetzt, die es vermocht haben, sich erfolgreich Gehör im politischen System zu verschaffen. Dies auf Kosten der Mittelklasse und der unteren Einkommensgruppen, die sukzessive an Einfluss verloren haben und sich diesen nun über Wahlentscheidungen, auch für radikale politische Kräfte, zurückholen möchten – oder sich apathisch gleich ganz vom politischen Prozess abwenden. Diese Schieflage manifestiert sich insbesondere an den historischen gesellschaftlichen Bruchstellen, die ja selbst im vermeintlich goldenen Zeitalter der Gleichheit nie ganz überwunden, sondern eben nur zeitweise gekittet worden waren. Die neuen Ungleichheiten können somit nicht ausschließlich als Phänomen einer neoliberalen Politik charakterisiert werden. Sie spiegeln ebenso tief in den politischen Institutionen verwurzelte Ursachen gesellschaftlicher Ungleichheiten wider. Erst mit den skizzierten sozio-ökonomischen Veränderungen und den spezifischen Handlungsund Reaktionsmustern der US-amerikanischen Politik sind jene Verwerfungen jedoch wieder offen zu Tage getreten. Die schrittweise Ausweitung ökonomischer, politischer und sozialer Rechte, wie sie von T. H. Marshall beschrieben wurde, ist also keineswegs linear und notwendig. Nicht nur hat sich diese idealtypische Entwicklungslogik nie, selbst in der unmittelbaren Nachkriegszeit, jemals voll ausgeprägt, noch sind deren gesellschaftliche Fortschritte unumkehrbar. Der letzte Schritt einer bedingungslosen Gewährung sozialer Rechte ist in den USA, insbesondere im Vergleich mit europäischen Wohlfahrtssystemen, nie konsequent vollzogen worden. Selbst die im Zuge der Bürgerrechtsbewegungen erlangten politischen Rechte sind durch die Einschränkung rudimentärer sozialer Rechte wieder bedroht. Formen politischer Partizipation sind immer stärker vom sozioökonomischen Status abhängig. Das gilt für die Teilnahme an Wahlen, aber noch deutlicher für andere Arten der politischen Teilhabe – Wahlspenden, Kontakt mit politischen Entscheidungsträgern, ja selbst die Möglichkeit zu demonstrieren (Schloz-

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man et al. 2005, S. 35) –, die ein hohes Maß an Ressourcen erfordern, um auf die Gestaltung von Politik Einfluss zu nehmen.

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Fazit

Angesichts der seit den späten 1970er-Jahren drastisch gestiegenen ökonomischen Ungleichheiten kann durchaus von einer Krise der US-amerikanischen Gesellschaft gesprochen werden. Auf den ersten Blick zeigt sich diese Krise vor allem in einer wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich. Bei näherer Betrachtung hingegen wird deutlich, dass darüber hinaus historische Ungleichheiten, die in der Nachkriegszeit fast gebannt schienen, nämlich Rassen- und Frauendiskriminierung, in neuer Form sichtbar werden. Aufgrund des weitverbreiteten Ideals der Meritokratie und der vermeintlichen Neutralität des Marktmechanismus wird soziale Deprivation als Konsequenz individueller Verantwortung gewertet. Auch die Politik wurde lange Zeit in Anbetracht der neuen Ungleichheiten nicht in die Verantwortung genommen, da ihr im Zuge von Globalisierungsprozessen alle Gestaltungsmöglichkeit abgesprochen und sie ohnehin im US-amerikanischen Kontext als Bedrohung individueller Freiheit wahrgenommen wurde. Dabei spielt der Staat mit seinen sozial- und steuerpolitischen Instrumenten eine wichtige Rolle bei der Verteilung und Umverteilung ökonomischer und gesellschaftlicher Ressourcen. Er ist der entscheidende, wenn auch weithin verschwiegene Hauptakteur des von Marshall vorgedachten Entwicklungsmodells von der Ausweitung staatsbürgerschaftlicher Rechte. Es stellt sich also die Frage nach der Legitimität politischer Akteure. Ferner bedarf es zu einer Umkehrung der gesellschaftlichen Abwärtsspirale – bei der sich ökonomische Ressourcen und politische Teilhabechancen im Tandem verschlechtern – der Formulierung kollektiver Interessen. Diese Möglichkeit scheint aber wegen eines fragmentierten politischen Systems, eines Mangels an gegenseitigem Vertrauen und dem Fortbestehen diskriminierender Tendenzen in naher Zukunft eher unwahrscheinlich. Selbst die jüngste globale Finanzkrise, die als Krise des neoliberalen Entwicklungsmodells hätte interpretiert werden können, hat trotz gewisser Gegentendenzen (z. B. Occupy Wall Street) nicht dazu geführt, das System der neuen Ungleichheiten grundsätzlich in Frage zu stellen. Eine wachsende Ungleichheit in der Einkommensverteilung und bei den Chancen auf dem Arbeitsmarkt, gekoppelt mit dem wachsenden Einfluss des Geldes auf die Politik, bildeten stattdessen das Fundament der erfolgreichen rechtspopulistischen Mobilisierung von Donald Trump. Er griff die Unzufriedenheit vieler US-Bürger – und hier insbesondere der weißen Arbeiterklasse – mit ihren ökonomischen Aussichten und ihrer Kritik an den politischen Eliten erfolgreich auf und versprach den großen Wandel. Er hat angekündigt, den vermeintlichen Sumpf der Korruption und Einflussnahme des großen Geldes in Washington, DC. trockenzulegen und die Arbeitsplätze wieder in die USA zurückzuholen. Bislang sieht es allerdings nicht so aus, als würde er eine solche Politik wirklich umsetzen, ganz im Gegenteil.

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Soziale Bewegungen Zwischen kommunitärer Solidarität und Gleichheitsversprechen Margit Mayer

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die Bürgerrechtsbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Die Sixties Movements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Globalisierungskritische Bewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Reaktionäre Bewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Occupy Wall Street . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Die Trump Resistance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Fazit: Muster US-amerikanischer Bewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Das Kapitel präsentiert die Eigenheiten US-amerikanischer Konflikttraditionen und sozialer Bewegungen im Kontext der spezifischen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungsbedingungen der USA. Es fokussiert auf fünf zentrale Bewegungskomplexe, um an Hand einzelner beispielhafter Mobilisierungen die typischen Merkmale US-amerikanischer Protestbewegungen – ihre Akzeptanz als selbstverständlicher Teil der politischen Kultur, ihre Prägung durch das liberale Gleichheitsversprechen, sowie ihre Verankerung in Traditionen kommunitärer Solidarität – zu verdeutlichen. Schlüsselwörter

Bürgerrechtsbewegung · Neue soziale Bewegungen · Tea Party · Occupy Wall Street · Anti-Trump-Bewegungen

M. Mayer (*) John-F.-Kennedy Institut für Nordamerikastudien, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_19

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Einleitung

Während in Europa mit dem Begriff soziale Bewegungen über Jahrhunderte hinweg primär die Arbeiterbewegung oder ähnliche auf fundamentale gesellschaftliche Umwälzung gerichtete Mobilisierungen gemeint waren, steht der Begriff in den USA nicht erst seit den sogenannten neuen sozialen Bewegungen der 1960er- und 70er-Jahre für eine enorme Vielfalt von Protest- und Reformbewegungen. Er umfasst religiöse Sekten, nationalistische Bewegungen, ethnische Minderheitsbewegungen, und organisierte Bürger(rechts)- und Klassenbewegungen genauso wie Aufstände, populistische sowie militante, Gewalt einsetzende – rechte wie linke – Bewegungen. Diese aus europäischer Sicht diffus erscheinende Definition reflektiert Eigenheiten der US-amerikanischen Geschichte, in der Klassenbeziehungen für gesellschaftliche Konflikte zwar nicht unbedeutend waren, aber stets von demografischen, ethnischen, politischen, und soziokulturellen Variablen überlagert wurden. Diese enorme Vielfalt von unterschiedlichsten Bewegungen wurde durch spezifische Merkmale, z. B. die Durchlässigkeit und Offenheit der gesellschaftlichen und politischen Strukturen der USA, noch befördert, die mit dazu beitrugen, dass kaum je eine antagonistische Polarisierung zwischen sozialen Bewegungen einerseits und politischem Establishment andererseits, vergleichbar der zwischen europäischer Arbeiterbewegung und jeweiligem Staat, entstanden ist. Soziale Bewegungen, selbst rebellische, galten also keineswegs, wie bspw. sozialistische oder kommunistische (Arbeiter)Bewegungen in europäischen Ländern, als systemische Herausforderung. Ganz im Gegenteil: die Meinung Thomas Jeffersons, dass „eine kleine Rebellion ab und an eine gute Sache (ist), und in der politischen Welt genauso notwendig wie Stürme in der physischen Welt“ (Jefferson 1787, Übersetzung MM), prägte die politische Kultur des Landes, wo Protestbewegungen und Aufstände als selbstverständliche und weit verbreitete Bestandteile des politischen Lebens wahrgenommen werden. Dieser Spezifik der Konflikttradition liegt die Erfahrung der ‚offenen Grenze‘, in der die weiße Siedlergesellschaft sich nach Westen ausdehnte, zugrunde. Die auf der Vertreibung indigener Bevölkerungen basierende westward expansion ermöglichte den weißen Siedlern sowohl materiellen Wohlstand als auch individuelle Freiheiten und Rechte, ohne dadurch eine liberale Gesellschaftsordnung zu gefährden. Dieser ‚amerikanische Exzeptionalismus‘ erlaubte die Abfederung des Klassenantagonismus, die Aufschiebung des Widerspruchs zwischen sklavenhaltendem Süden und ‚freiem‘ Norden, und die Marginalisierung radikaler Herausforderungen, denn alle (weißen, männlichen) Bürger profitierten vom Recht an Privateigentum und seit der Jackson Ära selbst die besitzlosen und ungebildeten unter diesen auch vom Wahlrecht. Die Voraussetzung dieser beispiellosen liberalen Gesellschaft war allerdings die gewaltsame Enteignung und Ausrottung indigener Bevölkerungen sowie die militärische Eroberung Mexikos. Von diesem konkreten brutalen Prozess abstrahierend wurde die Grenze spätestens mit Frederik Jackson Turners ‚frontier thesis‘ umgedeutet zu dem Ort bzw. Prozess, wo das freiheitliche (weiße) Siedlertum das Wilde und die Natur zivilisiere. Dieser – von Gewalt und Rassismus gereinigte – Gründungsmythos der USA (der sich seit dem Spanisch-Amerikanischen Krieg in

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immer neuen imperialen Kriegen und globalen Markterweiterungen wieder und wieder erneuerte) bot die Grundlage für die spezifische Ausprägung der USamerikanischen Gesellschaft und Politik – sowie ihrer Bewegungslandschaft. Drei zentrale Charakteristika prägen Entstehung und Verlauf der amerikanischen Bewegungen (vgl. Mayer 1991): • Die enorme Heterogenität der sozio-ökonomischen Bedingungen einer Gesellschaft, in der liberale demokratische Wertvorstellungen mit ausgrenzenden Ideologien koexistieren, befördert die Ausbildung ethnischer, kultureller und religiöser Identitäten, die sich in einer kommunitären (statt klassenmässigen) Segmentierung der Gesellschaft manifestieren. Im Gegensatz zu Europa florieren hier eher dezentrale, sog. single issue-Bewegungen. • Die dezentrale, zerklüftete politische Struktur der USA fördert ebenfalls themenbezogene, fragmentierte Mobilisierungen. Die durchlässigen und offenen Strukturen des politischen Institutionengefüges erleichtern das unkomplizierte Entstehen und schnelle Erstarken von Bewegungen. Gleichzeitig bewirken sie, dass die Bewegungen in ihrer Wirkmächtigkeit eher gebremst werden, denn ihre Fragmentierung führt zu disparaten Entwicklungen und das politische System absorbiert oder torpediert Forderungen und Akteure von Bewegungen auf vielfältige Weisen. • Auch die libertär-individualistische politische Kultur wirkt sich positiv auf die Entstehung solcherart disparater Bewegungen aus – während sie gleichzeitig hinderlich ist für die Ausbildung einer klassenbewussten Arbeiterbewegung oder anderer, an gesellschaftlichen Strukturkonflikten ansetzenden transformativen Bewegungen. Sie bietet unterschiedlichsten benachteiligten Gruppen Anknüpfungspunkte, ihre Forderungen nach Gleichberechtigung innerhalb des vorherrschenden liberalen Paradigmas zu begründen. Obwohl die USA über mehr als zwei Jahrhunderte eine höchst beschränkte und ungleichzeitige Demokratie blieben, denn bis zur Bürgerrechtsgesetzgebung waren vor allem AfroamerikanerInnen von politischen und den meisten Bürgerrechten ausgeschlossen, wurden im Lauf dieser Zeit vielfältige Reformbewegungen immer wieder in die dominante amerikanische Ideologie einbezogen: Welle um Welle von neuen Einwanderern, Frauen, ethnische und andere diskriminierte Gruppen wurden – vermittelt über soziale Kämpfe und pressure group politics – in das offene, aber auch fragmentierte politische System der USA integriert. Das politische System reagierte den Bewegungen von weißen Bürgern gegenüber zumeist nicht abweisend oder ausschließend, sondern aufgrund seiner föderalen, fragmentierten, aber durchlässigen Struktur häufig (wenn auch selektiv) mit Konzessionen und Inkorporierungsangeboten. Dies Muster trug dazu bei, dass viele der US-amerikanischen Bewegungen bis heute eher unternehmerisch und kompetitiv sowie unideologisch ausgerichtet sind. Das Kapitel illustriert dieses Muster exemplarisch an einigen Fällen, beginnend mit der Bürgerrechtsbewegung und den Sixties Movements. Die Wandlungen des Bewegungssektors durch die Neoliberalisierung von Gesellschaft und Politik bis hin zu dem durch die Finanzkrise 2008 angestoße-

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nen Zyklus (auf progressiver wie konservativer Seite: Occupy und Tea Party) und schließlich in der Ära Trump offenbaren vielfältige neue Konfliktlinien, aber bleiben geprägt von den strukturellen Eigenheiten der US-amerikanischen Politik. Gleichwohl deuten sich mit Trumps Abkehr von der Globalisierung und seinem Projekt des Mauerbaus (also der Schließung der Grenze) auch im Bewegungssektor Neuerungen an, die eine Abkehr von den Versprechungen des ‚Amerikanischen Traums‘ verkünden.

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Die Bürgerrechtsbewegung

Das nach dem 2. Weltkrieg (dank neuer Produktionstechnologien und internationaler Vorherrschaft des Dollars) einsetzende ‚Goldene Zeitalter des Fordismus‘ generierte eine für breitgestreute Prosperität sorgende Wachstumsphase, von der allerdings AfroamerikanerInnen immer noch ausgeschlossen blieben. Denn nicht nur hatten die Zugeständnisse der Nordstaaten an die Jim Crow-Südstaaten im Kongress dafür gesorgt, dass in der New Deal-Gesetzgebung von 1935 schwarzen BürgerInnen die neuen sozialen Rechte vorenthalten blieben. Auch der Zuschnitt der Sozial- und Wohnungspolitik der Bundesregierung benachteiligte AfroamerikanerInnen: sie konnten weder in gleichem Maß von den Förderprogrammen für Eigenheimbesitz profitieren wie Weiße, noch waren sie frei in der Wahl ihrer Wohngegend. Erst der Bürgerrechtsbewegung gelang es, über die Beendigung der legalen Ungleichbehandlung 1965 einige Verbesserungen in der Situation von AfroamerikanerInnen herbei zu führen.1 Die sich über zwei Jahrzehnte entfaltende Bürgerrechtsbewegung setzte Maßstäbe, auf die sich folgende Bewegungen immer wieder bezogen. Die Aufhebung der Segregation war durch die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs (1954) im Süden noch lange keine Realität. Mit Hilfe von Ressourcen der schwarzen Kirchen und ihrer charismatischen Führer begannen afroamerikanische Communities zunächst, sich gegen den weißen Terror zu organisieren. So schufen sie die notwendige Massenbasis für die Busboykotts (Baton Rouge 1953; Montgomery 1955/1956), zahllose Aktionen des zivilen Ungehorsams, und die studentischen Sit-ins (1960), die infolge der Freedom Rides (1961) und des Marsch auf Washington (1963) zu einer breiten nationalen Bewegung wuchsen. Involviert war dabei eine Bandbreite unterschiedlicher Akteursgruppen, die parallel auf juristischem Weg (Interessengruppen und Advocacy-Organisationen wie die National Association for the Advancement of Colored People, NAACP), mit Kampagnen der direkten Aktion (z. B. Lunch Counter Sit-ins), mittels Wählerregistrierung sowie Massenmobilisierung hinreichend öffentlichen Druck erzeugen konnten, um schließlich die politische 1

Trotz offizieller Gleichberechtigung wirkt die jahrhundertelange Ausbeutung, Entrechtung und Diskriminierung nach, die Disparitäten bei Einkommen und Ausbildung sind in den letzten 35 Jahren sogar noch gewachsen (Schermerhorn 2019). Eine Gesetzesvorlage zu Reparationszahlungen für die Opfer von Sklaverei und Rassismus wurde erstmals 1989 in den Kongress eingebracht, aber erst seit 2017 ernsthaft debattiert (Pilkington 2019).

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Gleichheit durchzusetzen (Verabschiedung 1964 des Bürgerrechts- und 1965 des Wahlrechtsgesetzes). Angesichts der weiter anhaltenden Gewalt gegen Bürgerrechtler wuchs unter der jüngeren Generation die Sympathie für Black Power und Malcolm X’s BlackMuslim-Bewegung. Nachdem Malcolm X 1965 ermordet wurde, schwor das Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC) 1966 dem gewaltlosen Widerstand Martin Luther Kings ab, wohingegen die NAACP sich von beiden Strömungen distanzierte. Auch die Black Panther Partei gründete sich 1966, um – auf das konstitutionell garantierte Recht auf Selbstverteidigung pochend – bewaffneten Widerstand gegen die fortdauernde Unterdrückung der Schwarzen zu leisten. Während die vereinte Bürgerrechtsbewegung so zerfiel, brachen jährlich – von 1964 bis 1967 – tagelange ghetto riots in Städten des Nordens aus, bei denen jeweils Dutzende von Menschen ums Leben kamen, weit über Tausend verletzt wurden, und enormer Sachschaden entstand. Hintergrund der zunehmenden Konzentration sozialer Probleme in den (Innen) Städten war der mit der Deindustrialisierung einhergehende Arbeitsplatzabbau, der vor allem die aus den Südstaaten in die expandierenden Fertigungsanlagen des Nordens und Westens gewanderten AfroamerikanerInnen bzw. ihre Nachkommen traf. Arbeitslos und durch diverse Stadterneuerungsprogramme aus ihren angestammten Vierteln vertrieben, von rassistischer Wohnungspolitik und Polizeigewalt schikaniert, sahen sie kaum andere Möglichkeiten, um die Öffentlichkeit auf ihre Benachteiligung aufmerksam zu machen (Feagin und Hahn 1973).

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Die Sixties Movements

Der Black Power Bewegung folgten alsbald Mobilisierungswellen weiterer ethnischer und indigener Gruppen, die sämtlich auf politische Inklusion zielten. Die verschiedenen Varianten ethnischer und nationaler Bewegungen werden mit dem Begriff der Sixties Movements mit weiteren während dieser Dekade explodierenden Bewegungen zusammen gebracht: der Anti-Vietnam-Kriegs- und Studentenbewegung, der Stadtteil- bzw. Community-Bewegung, der Frauenbewegung, und der neu entstehenden Umwelt- und Anti-Atomkraft-Bewegung. Alle reagierten in gewisser Weise auf Krisenphänomene des fordistischen Wachstumsmodells, und beeinflussten und politisierten sich gegenseitig: während die Frauen gegen ihre Rolle im „goldenen Käfig“ des suburbanen Eigenheims rebellierten (Friedan 1963), wehrten sich die (häufig ethnischen ‚Minoritäten‘ angehörenden) InnenstadtbewohnerInnen gegen Stadterneuerungsprogramme (die als Vertreibungsprogramme wahrgenommen wurden) und forderten Selbstbestimmung über ihre Communities (Fainstein und Fainstein 1974). Der für gewerkschaftliches wie nachbarschaftliches Organizing berühmt gewordene Saul Alinsky (2011) betrieb seit den frühen 1960er-Jahren solche Mobilisierungsarbeit nicht nur in Fabriken, sondern auch innerstädtischen Communities, wo er eine nachhaltige Tradition pragmatischer Stadtteilarbeit begründete, die – mit Ausbildungsinstitutionen und standardisierten Organisierungsmodellen – bis heute die städtischen Bewegungen prägt (Castells 1983).

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Dem Schutz und der Bewahrung der Natur verpflichtete Organisationen existierten in den USA bereits seit langem, wie z. B. seit 1892 der Sierra Club. Angesichts der durch das fordistische Wachstumsmodell vorangetriebenen Umweltzerstörung drang in den 1960er-Jahren eine neue Generation von AktivistInnen in diese bestehenden Organisationen und gründete neue Umwelt- und Ökologiegruppen. Sie erzielten schnelle Erfolge: Bereits 1969 verabschiedete die Bundesregierung ein Umweltschutzgesetz, 1970 setzte Präsident Nixon die Environmental Protection Agency ein. Radikalere Umweltorganisationen wie Earth First! oder Earth Liberation Front entstanden erst 1980 beziehungsweise 1992, um gegen den „Ausverkauf“ der mainstream Umweltbewegung ein Zeichen zu setzen. Weit mehr Zulauf haben professionelle Kampagnen-Organisationen wie Greenpeace, die durchaus auch zur Methode gewaltfreier direkter Aktion greifen. Eng verbunden mit der Ökologiebewegung entstand in den 1970er-Jahren die Anti-AKW-Bewegung: 1974 fand das erste bundesweite Treffen der Citizens Movement to Stop Nuclear Power (organisiert von der Nader-Gruppe, eine der wichtigsten Verbraucherorganisationen) statt. Auch diese Bewegung erzielte schnelle Reformen, v. a. nach dem Fast-GAU in Harrisburg (1979) wurde der öffentliche Druck so stark, dass die Regierung ein Moratorium des Kernenergieausbaus beschloss. Allerdings hat sich im AKW-Bereich genauso wie in anderen ökologisch problematischen Industrien ein regelrechter industrieller Komplex für Kontrollsysteme herausgebildet, der aus genau den Konzernen besteht, die die jeweiligen Risiken und Schäden verursachen. Wie in der Umweltbewegung dominierte auch in der Frauenbewegung die liberale Strömung gegenüber einem radikalen Flügel. Angesichts der für die Belange der Frauen relativ offenen Demokratischen Partei und Staatsapparate machte sich der Feminismus die Gleichheitspostulate des klassischen Liberalismus zu eigen, um insbesondere gleiche Rechte (auf Ausbildung und Arbeitsplätze) sowie gleichen Schutz als Personen (vor Gewalt und Misshandlung) einzufordern. Nach dem Vorbild der Bürgerrechtsbewegung ging es der Frauenbewegung zentral um equal opportunity. Da in der Folge der Bürgerrechtsbewegung separate but equal jede Legitimität verloren hatte, impliziert das Gleichheitspostulat in der Tat radikal ‚gleiche Behandlung‘ – ob am Arbeitsplatz oder im Militär. Die Bewegung der radikalen Feministinnen (die eine Hoch-Zeit zwischen 1968 und 1973 erlebte) scheute sich dagegen nicht, Unterschiede zwischen Frauen und Männern zu betonen. Dieser Flügel wähnt Frauen bisweilen als naturnäher und pazifistischer, und überschneidet sich teilweise mit Bewegungen ethnisch minoritärer Frauen. Letztere haben nicht nur den Kampf gegen den Sexismus (auch den schwarzer Männer), sondern auch den gegen Rassismus (auch den weißer Feministinnen) zu führen. Viele BeobachterInnen sehen arme Frauen und Arbeiterinnen, ob farbig oder weiß, sowie women of color der Mittelschicht in den 1970er- bis 1990erJahren als eher marginalisierte Teile der Frauenbewegung (z. B. Levin 1990), aber Afroamerikanerinnen sowie Gewerkschafterinnen waren durchaus präsent, sie waren u. a. auch an der Gründung von NOW beteiligt (vgl. Roth 2004; Fonow 2003).

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Die Frauenbewegung hat, wo sie materielle Benachteiligungen von Frauen und geschlechtsspezifische Auswirkungen des defizitären amerikanischen Sozialstaats aufgriff, im internationalen Vergleich wenig erreicht: der Feminisierung von Armut konnte sie weder in Bezug auf staatliche Unterstützungsleistungen für untere Einkommensschichten und Welfare-Empfängerinnen entgegenwirken, noch den stagnierenden Löhnen vor allem in schlecht bezahlten Arbeitsplätzen. Im Maß wie sie Mutterschaft als individual choice definiert, hat sie auch keine protektionistischen Maßnahmen für Frauen als Mütter durchsetzen können. Andererseits hat die amerikanische Frauenbewegung früher als anderswo Themen, die kennzeichnend für die neue Frauenbewegung wurden, auf die politische Agenda gesetzt, wie Gewalt in der Ehe, Abtreibung, sexuelle Selbstbestimmung, und sexuelle Belästigung, und so das Fundament für die enorme Resonanz der #Me Too-Bewegung gelegt, die sich nach 2017 rasant ausbreitete. Insgesamt entwickelten sich die neuen sog. „post-materiellen“ sozialen Bewegungen (Frauen, Antiatomkraft, Umwelt) in den USA früher als in Europa (konnten sie doch an Traditionen vorgängiger, ähnlicher Bewegungen anknüpfen), aber selbst während dieser fordistischen Phase verschwanden an materieller Not ansetzende Bewegungen keineswegs. Es entstanden sogar neue Armutsbewegungen von Betroffenen sowie von advocacy-Organisationen (Piven und Cloward 1977). So gründete sich bspw. 1970 die Community for Creative Non-Violence (CCNV), um die Rechte von Obdachlosen zu stärken; mit Wurzeln im Catholic Workers Movement verbindet sie bis heute christliche Tradition mit Gewaltfreiheit und zivilem Ungehorsam. Eine Vielzahl solcher, meist lokal orientierter Bewegungsgruppen versucht, gleichzeitig politisch zu mobilisieren und das löchrige soziale Netz des US-Wohlfahrtsstaats auszugleichen. Der Grund für die andauernde Präsenz solcher Bewegungen liegt zum einen darin, dass das Sozialhilfeprogramm nie als Kompensation für fehlende Arbeitsmarktpartizipation (sondern primär für Alleinerziehende) konzipiert war, zum andern darin, dass rassistisch diskriminierte Gruppen vom fordistischen Modell ausgeschlossen blieben.

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Globalisierungskritische Bewegungen

Den radikalen Strömungen der sog. postmateriellen Bewegungen ist gemein, dass sie weitere neue Taktiken in die Praxis der sozialen Bewegungen einführten (die sie sowohl aus der Tradition der Quaker als auch der Bürgerrechtsbewegung übernommen haben): direct action, consensus-decision-making, affinity groups und spokes councils wurden wichtige Elemente des bis dato von Demonstrationen, Teach-ins und Sit-ins dominierten Handlungsrepertoires. Während sich diese Bewegungen im Lauf der 1970er- und 80er-Jahre teils verbreiteten, teils ausdifferenzierten und fragmentierten, und vielfach in mehr oder weniger kooptierte – NGOisierte oder kommerzialisierte – Formen von Interessenpolitik transformierten, fanden sich Teile dieser Bewegungen im globalisierungskritischen Social Justice Movement wieder, das 1999 in Seattle die politische Bühne betrat, und entlang neuer, mit zunehmender Globalisierung und Neoliberalisierung auftretender Verwerfungen mobilisierte.

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Fähig, Protest gegen die neoliberale Globalisierung zu artikulieren, waren zunächst Akteure, die sich in einer global-lokal ausgerichteten progressiven Bewegung gegen supranationale Organisationen wie WTO, IWF und Weltbank, sowie gegen Gipfeltreffen der G8 neu formierten. In diesem global justice movement konvergierten schon existierende mit neuen Bewegungen bei Gipfeltreffen (1999 gegen WTO in Seattle, 2000, 2007, 2009, 2010 gegen IWF und Weltbank in Washington, 2003 gegen FTAA in Miami, 2009 gegen den G20 Gipfel in Pittsburgh), um pluralen Widerstand gegen die Politik der neoliberalen Globalisierung zum Ausdruck zu bringen. In langen Vorbereitungen und während der Tage des Protests entwickelten sich Koalitionen und Netzwerke aus lokalen, regionalen, nationalen und globalen Organisationen, die bei Demonstrationen, Blockaden, Versammlungen, Workshops und Kulturveranstaltungen kooperierten. Neben einigen transnationalen Netzwerkorganisationen (wie People’s Global Action, Grassroots Global Justice) sind in den USA vor allem lokale Gruppen aktiv, in Seattle waren das neben alten linken und anarchistischen Gruppierungen und neuen Umwelt-, Frauen- und religiös-orientierten Gruppen auch die Hafenarbeiter, Teamster und Gewerkschaftsgruppen, die bereits die lokalen Streiks von 1919 und 1934 getragen hatten (Levi und Olson 2000). Die global justice-Bewegung richtete sich also nicht nur auf (gegen-) hegemoniale Globalisierung, sondern machte auch vor Ort die negativen Auswirkungen des globalen neoliberalen Projekts deutlich, sie sorgte für massive Störungen der Treffen und es gelang ihnen, die dort verhandelten Themen zu politisieren. Im Gegensatz zu anderen globalisierungskritischen Bewegungen erlitt die US-amerikanische Variante durch 9/11 einen massiven Rückschlag. Im Kontext des amerikanischen War on Terror änderte sich die politische Gelegenheitsstruktur für soziale Bewegungen dramatisch, der öffentliche Diskurs wurde nun weitgehend vom Thema der bedrohten Homeland Security beherrscht. Während sich in anderen Ländern globalisierungskritische Bewegungen im Gefolge des ersten Weltsozialforums 2001 in Porto Alegre auch regional und lokal in Sozialforen organisierten, fand hier keine vergleichbare Internalisierung des Sozialforumsprozesses statt. Als schließlich 2007 und 2010 Sozialforen in Atlanta und Detroit abgehalten wurden, unterschieden sich diese von europäischen, lateinamerikanischen und afrikanischen Foren: Statt transnationaler Themen standen vielfältige innenpolitische single issues im Vordergrund, die obendrein kaum miteinander in Verbindung gebracht wurden. Dennoch bot diese Phase sich intensivierender Neoliberalisierung auch eine Grundlage für diverse Bewegungen, sich zu vernetzen und zu verbünden: zunehmend bildeten sich in den 1990er- und 2000er-Jahren neue Allianzen, von grün-blauen (Umwelt- und ArbeiterInnen-Gruppen, vgl. Mayer et al. 2010) über Allianzen zwischen Friedens- und Global Justice-Bewegungen (Beamish und Luebbers 2009) bis hin zu Koalitionen zwischen Frauen- und Gewerkschaftsbewegungen (Roth 2003).

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Reaktionäre Bewegungen

Neben den dargestellten v. a. progressiven Bewegungen mobilisierten in jeder Phase der amerikanischen Geschichte auch konservative, rechte und reaktionäre Bewegungen. Mit dem Ku Klux Klan in den 1920ern, der John Birch-Gesellschaft in den

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1950ern, oder der Goldwater-Bewegung Mitte der 1960er-Jahre reagierten auch rechte, xenophobe und rassistische Gruppen auf Veränderungen, die sie als bedrohlich für ihren gesellschaftlichen Status wahrnahmen. Auch sie reflektieren das verbreitete Muster von Ein-Punkt-Bewegungen, die ihre Forderungen zumeist innerhalb der Ideologie des American Dream artikulieren, zum Beispiel mit dem Motto „Take back America!“ Während der 60er-Jahre, als die Flucht der weißen Mittelklassen in die Vorstädte einsetzte, etablierte die (staatlich subventionierte) Expansion der suburbs neue Formen sozialräumlicher Segregation. Die – zumeist weißen – Bewohner der Vororte entwickelten gewissermaßen ein Recht auf ethnisch homogene MittelklasseViertel, geprägt von niedrigen Steuern und effizienten Dienstleistungen. Dieser rassistisch gefärbte Anspruch war Bestandteil des politischen Bewusstseins der fordistischen weißen Arbeiter, die ihre wirtschaftlichen Interessen und ihre kollektive Verantwortung aus der Perspektive des Individualismus des weißen Eigenheimbesitzers wahrnehmen. Bei vielen Angehörigen der weißen Arbeiterklasse brachten die mit der Deindustrialisierung einhergehenden Arbeitsplatzverluste und die Austeritätspolitik unter Reagan sozialen Abstieg oder zumindest die Furcht davor. Diese Abstiegsängste bereiteten den Boden für antistaatliche Steuerrevolten, so dass in mehr und mehr Einzelstaaten Referenden, v. a. gegen die property tax, durchgesetzt werden konnten, bei denen konservative (suburbane) Eigenheimbesitzer oft Allianzen mit religiösen Fundamentalisten eingingen (Lo 1990/1995). Auch breiteten sich in den 1990er-Jahren sowohl die Christliche Rechte als auch rechtsradikale Militias aus, die an Traditionen früherer rechter populistischer Bewegungen anknüpften – beides Bewegungen, die den Unmut über Enteignungen und Entrechtung weg von verantwortlichen wirtschaftlichen und politischen Eliten in Richtung xenophober, rassistischer und konspirativer Anschauungen kanalisierten. Als die Bankenkrise von 2007/2008 schließlich fast drei Millionen Arbeitsplätze vernichtete und Zwangsräumungen und Obdachlosigkeitsraten in die Höhe schnellen ließ, wurden die Programme, mit denen die Obama-Administration auf den Bankenkollaps reagierte (insbesondere das Stimulus-Paket und der Homeowner Affordability and Stability Plan), von vielen als unverdiente Unterstützung für die Verlierer der Rezession wahrgenommen. Sie provozierten als erstes Proteste von rechts. Konservative Medien mobilisierten für bundesweit stattfindende Anti-Tax-Day Tea Party-Kundgebungen am 15. April 2009, die mehr als 300.000 Menschen in 346 Städten auf die Beine brachten und breite Medienresonanz erzielten. Der Name weckte Assoziationen mit dem anti-kolonialen Kampf gegen die Britische Krone: So wie die Amerikaner damals direkte Aktion gegen ungerechte Besteuerung einsetzten, sollten sie sich nun gegen ‚big government‘, hohe Steuern, und generöse Sozialprogramme wehren. Hunderte von lokalen Chapters der Tea Party mobilisierten ihre Anhänger mit dem Mantra „Take back America“ – von einem nicht-weißen Präsidenten (Obama) und mächtigen Interessen, die angeblich die bis dato für selbstverständlich gehaltene homogene, heterosexuelle, christliche, patriarchalische, weiße Mittelklasse-Gesellschaft, und insbesondere ihren privilegierten Status in dieser Gesellschaft bedrohten (Good 2011).

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Für die Erfolge dieser grassroots-Bewegung war nicht nur die Rolle rechter Medien (allen voran Fox News) zentral, sondern auch die äußerst vermögender Interessenorganisationen wie Americans for Prosperity und Freedom Works, die die Bewegung finanzierten und organisierten (Skocpol und Williamson 2013; Parker und Barreto 2013). Diese ultrarechten, milliardenschweren Organisationen (ihrerseits finanziert u. a. von den Koch Brüdern) zielten damit nicht nur auf die Stärkung der Republikanischen Partei im Wahlkampf, sondern vor allem darauf, sie in eine radikalere Partei zu transformieren – was ihnen, unter anderem durch die Wahlerfolge der Tea Party, auch tatsächlich gelang. Wenig später versprach der Kandidat der Republikaner, Donald Trump, den von der Globalisierung verunsicherten und von den Washingtoner Eliten als „deplorables“ in die Ecke gestellten Menschen (vor allem in den ehemaligen Industriegebieten des Rust Belt sowie den ländlichen Gebieten des Bible Belt im Süden und Teilen des Mittleren Westen), dass er ihre Sorgen adressieren und das „gute, alte Amerika“ wiederherstellen würde. Der Einzug Trumps ins Weiße Haus gab nationalistischen, fremdenfeindlichen und rassistischen Bewegungen neuen Auftrieb, und löste auch Wellen von Amokläufern und Hassverbrechen aus. Schon in den 10 Tagen nach Trumps Wahl hatte das Southern Poverty Law Center 900 Vorfälle von Aggression und Gewalt gegen Migranten, Latinos, Afroamerikaner, Frauen, LGTBQ-Menschen, Moslems, und Juden registriert. Die Gewaltbereitschaft vor allem weißer Neonazis sowie die Zusammenarbeit zwischen diesen und den Sicherheitskräften wurden bei der sog. Unite the Right Rally am 11./12. August 2017 in Charlottesville (Virginia) besonders dramatisch sichtbar, bei der eine Gegendemonstrantin getötet und viele schwer verletzt wurden. Während Trump angesichts der rassistischen Gewaltexzesse der Rechtsextremen von „Hass, Fanatismus und Gewalt auf vielen Seiten“ sprach, sagten die Geistlichen und Pastoren, die sich wie andere Gegendemonstranten den weißen Suprematisten entgegenstellten: „Antifa saved our lives“ (Jenkins 2017). Aufmärsche rechtsextremer Gruppen, Attacken aus ihren Reihen auf antirassistische Aktivisten, sowie Hinweise auf kollaborierende weiße Polizisten sind keineswegs neu, aber sie haben sich deutlich intensiviert seit die Alt-Right-Bewegung einen Fuß in der Trump-Regierung hat. Inzwischen benennt sogar das Department of Homeland Security den rassistisch-basierten gewalttätigen Extremismus, insbesondere ‚violent white supremacy‘, als eine der gefährlichsten Bedrohungen der USA (Kanno-Youngs 2019).

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Occupy Wall Street

Weil im Vorlauf der Finanzkrise 2007 viele wirtschaftlich schwache Wohnviertel mit ruinösen Darlehen enteignet worden waren, begannen hier die StadtteilOrganisationen, gegen die Praktiken der Banken zu mobilisieren und von Zwangsräumungen bedrohte Familien zu unterstützen. Solche Aktionen wurden, wie auch entsprechende Demonstrationen, selbst wenn sie Zehntausende auf die Beine brachten (wie mehrfach 2010 und 2011, v. a. in Washington D.C.), kaum in der (Medien)

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Öffentlichkeit wahrgenommen. Erst die Besetzung des Capitols in Madison/Wisconsin durch 150.000 Menschen, die im Februar 2011 gegen die Austeritätspolitik des Republikanischen Gouverneurs protestierten, durchbrach die Schallmauer (Wright und Peschanski 2011). Mit spektakulären Platzbesetzungen und anhaltenden encampments formierte sich schließlich eine neue progressive Massenbewegung, die in Anlehnung an die Besetzung des Zuccotti-Park (am 17.09.2011) in der Nähe der Wall Street Occupy Wall Street (OWS) getauft wurde, aber bald im ganzen Land Nachahmung fand. Hier konnten sich unterschiedliche progressive Gruppen ebenso wie bislang nicht organisierte vor allem Jugendliche „ohne Zukunft“ unter dem Dach der Platzbesetzer in ihrem Protest gegen wirtschaftliche und soziale Ungerechtigkeit zusammen finden. Die direkt-demokratischen, gewaltlosen Aktionsformen, die horizontalen Beteiligungsstrukturen sowie der breite Einsatz sozialer Medien sicherten OWS schnell wachsende Sympathien. In der täglichen gemeinsamen politischen Praxis, den direkt-demokratischen Assemblies, den gemeinsamen Aktionen politischen Ungehorsams und der kollektiven Organisation des Alltags bildeten sich solidarische Strukturen nach innen, aber der Bewegung gelang es auch, das Thema der wachsenden Ungleichheit auf die politische Agenda zu setzen und den Reichtum und die Macht der 1 % zu skandalisieren. OWS knüpfte an den Positionen und Handlungsrepertoires der globalisierungskritischen Bewegung der 90er-Jahre an, griff Taktiken der Bürgerrechtsbewegung und der Studentenbewegung auf, und ihre general assemblies erinnerten sogar an die town meetings der neuenglischen Siedler. Im Gegensatz zur in den USA sonst vorherrschenden Form von professionalisierten Bewegungsunternehmen kamen die neuen Aktivisten ohne Stiftungsgelder und ohne bezahlte Organizer daher und konnten dennoch, dank individueller Spenden und zusammengelegter Ressourcen, ihre Aktivitäten effektiv organisieren und so politisieren. Im Maß wie sich OWS im Lauf des Herbsts und Winters 2011/12 (auf mehr als 400 Städte) ausbreitete, hat sich die Bewegung gleichzeitig diversifiziert und konsolidiert, und dabei wieder an die traditionellen US-amerikanischen Bewegungsmuster angepasst: Indem sie Kämpfe von Stadtteilgruppen und Mietern, von Gewerkschaften und Gruppen gegen Polizeigewalt und Gefängnispolitik konkret unterstützte, entstanden neue Kooperationen und Koalitionen – mit lokalen Gewerkschaften, Studierenden, arbeitslosen Graduierten, und vor allem mit CommunityOrganisationen, die – seit Jahren in Latino/a, afroamerikanischen und anderen armen Vierteln aktiv – dadurch in den Bann einer umfassenderen sozialen Bewegung gerieten. Mit der Diffusion des Aktivismus in verschiedene Konfliktzonen wurde in gewisser Weise das klassische Muster von single issue-Bewegungen wieder vorherrschend: beispielsweise entstand ein landesweites Netzwerk Occupy Our Homes gegen Zwangsvollstreckungen und Räumungen. In manchen Städten konnten Räumungsmoratorien durchgesetzt, Schulden von der Kommune übernommen oder mit den Kreditinstitutionen neu verhandelt werden. Wo umweltbedrohliche Projekte durchgesetzt werden sollten, fanden sich OWS-Aktivisten bei Blockaden von Fracking-Bohrlöchern (v. a. in Pennsylvanien), von Kohletagebau-Minen (in West Virginia), oder von Keystone XL Öl-Pipelines (von Montana bis Texas), wo sie

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gemeinsam mit Ökologie-Gruppen und indigenen Organisationen Widerstand leist (et)en (vgl. Natural Resources Defense Council o. J.). Die Summe der von OWS thematisierten Issues – soziale Ungleichheit, die Macht der Großkonzerne, der Einfluss von Geld in der Politik, Umweltzerstörung und Klimawandel, Datenschutz und (digitale) Überwachung, Kriege und Militarisierung –, unterschied die OWS-Bewegung von früheren. Indem sie einen Zusammenhang zwischen verschiedenen Formen von Entrechtung und Enteignung thematisierte, stellte sie eine für die USA untypische Bewegung dar, die den Raubbau an Natur und Mensch mit den Interessen wirtschaftlicher und politischer Eliten assoziierte. Der OWS-Impuls beflügelte auch Arbeitskämpfe, insbesondere den erfolgreichen Streik der LehrerInnen in Chicago (Uetricht 2014), aber auch neue Kampagnen von NiedriglohnarbeiterInnen der Fastfoodketten für existenzsichernde Löhne, die 2013–2014 vielfach Erfolge erzielen konnten. Selbst in den Südstaaten formierte sich mit der Moral Monday-Bewegung ein neuer Protest in Größenordnungen wie zuletzt beim Bürgerrechtsmarsch 1965 von Selma nach Alabama.

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Die Trump Resistance

Im Gefolge dieser Bewegungen erscheint das Land zunehmend gespalten – was sich auch im Wahlverhalten ausdrückte. 2016 standen den 25,5 % der Wahlberechtigten, die für Trump stimmten, 25,6 % gegenüber, die für Hilary Clinton stimmten, und 46,9 %, die nicht wählten. Folglich evozierte die Wahl Trumps und viele Maßnahmen der neuen Regierung heftige und massive Protestbewegungen. Die ‚Trump Resistance‘, die sich schon während des Wahlkampfs formierte, verstärkte sich nach seinem Wahlsieg am 08.11.2016, und eskalierte mit Störaktionen (DisruptJ20) der Amtseinführungs-Feierlichkeiten, wobei sich Gruppen aus dem gesamten Bewegungsspektrum, von Antifa und Black Lives Matter bis zu Standing Rock Reservation und Klimawandel-AktivistInnen beteiligten. Diese ‚Resistance‘ kulminierte im größten Protestereignis, das die USA bis dato erlebt haben, am Tag danach mit dem sog. Women’s March, bei dem sich landesweit über 4 Millionen Menschen an mehr als 600 Orten an Protestveranstaltungen beteiligten. Sie setzte sich während seiner Präsidentschaft in zunehmend institutionalisierter Form fort. Hinsichtlich Umfang, Themenspektrum, und geographischer Verteilung übertrafen die Mobilisierungen in den ersten Jahren der Trump-Regierung alle vorherigen (Meyer und Tarrow 2018; Fisher 2019). Jenseits großer Aufmärsche richtete sich die Protest-Energie bald auf den Aufbau nachhaltiger organisatorischer Strukturen und alternativer (Demokratischer) Kandidaturen für politische Ämter auf allen Ebenen. Mit Hilfe politischer Komitees, profitorientierter Technologiefirmen, und politischer Großspender entstand eine eigene Infrastruktur, innerhalb der Indivisible zu einer zentralen Organisation wurde. Deren 6000 lokale, autonome Gruppen (geografisch breit verteilt, so dass in jedem der 435 Kongressdistrikte mindestens eine Gruppe existiert) sind über ein koordinierendes Washingtoner Büro miteinander verlinkt (Vogel 2017). Sie kopierte das Erfolgsmodell der Tea Party, die ebenfalls durch Mobilisierung lokalen Drucks auf

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ihre Repräsentanten im Kongress deren Stimmverhalten beeinflussen konnte. In diesen durch die Präsidentschaftswahl ausgelösten grassroots-Bewegungen engagieren sich vor allem Frauen mittleren Alters mit hohen Bildungsabschlüssen (Gose und Skocpol 2019). Sobald Trump begann, seine Versprechen umzusetzen – am 24.01. mit Erlassen zum Weiterbau der Keystone Pipeline und der Dakota Access Pipeline (DAPL); am 25.01. mit der Anordnung, papierlose MigrantInnen, die sich Bagatelldelikte zuschulden gemacht haben, abzuschieben; am 27.01. mit dem Einreiseverbot für Staatsangehörige aus sieben mehrheitlich muslimischen Staaten, usw. – kam es zu immer neuen spontanen Protestaktionen, Blockaden und Demonstrationen, die unterschiedlichste Gruppen auf Strassen, an Flughäfen, oder Grossbaustellen zusammen brachten (s. Crowd Counting Consortium 2019). Im Maß wie die Trump-Regierung die Abweisung von Flüchtlingen und MigrantInnen v. a. an der Südgrenze weiter verschärfte, intensivierten und vervielfältigten sich auch hier die Proteste. Einerseits rufen Zusammenschlüsse aus nationalen Organisationen (wie der American Civil Liberties Union, der National Domestic Workers Alliance, Organisationen der Katholischen Kirche u. a.) zum Protest gegen die Trennung von Kindern „illegal eingereister“ Familien von ihren Eltern sowie gegen ihre Lager-Internierung durch ICE, der bspw. am 30. Juni 2018 mit Aktionen in mehr als 750 Städten manifestiert wurde. Auch 2019 riefen nationale Organisationen (MoveOn, United We Dream, American Friends Service Committee, Families belong together) zu Protesten auf gegen die unmenschlichen Bedingungen in den Abschiebezentren sowie gegen Familientrennungen, und zwar am 2. Juli vor den heimischen Büros der Kongressmitglieder, da diese wegen des Unabhängigkeitstags vor Ort sind (Frazin 2019). Andererseits initiieren diverse unabhängige lokale Gruppen, dezentral an vielen Orten, direkte Aktionen gegen dort jeweils geplante Internierungsmaßnahmen. Gleichzeitig engagieren sich unterschiedliche humanitäre Organisationen wie z. B. No More Deaths2 nicht nur für eine Reform des Einwanderungsgesetzes nach Prinzipien, die die Würde und Rechte der MigrantInnen achten, sondern sie helfen auch praktisch, indem sie Wasserflaschen in der Wüstenregion Arizonas verteilen, um Flüchtende vor dem Verdursten zu retten, obwohl sie damit erhebliche Gefängnisstrafen riskieren. Ebenfalls eskaliert sind Proteste gegen die aggressiven Policies, die Öl- und Gasförderung auch noch in die letzten Natur- und Indigenen-Reservate ausdehnen, und so die Rechte Indigener verletzen und das Artensterben, die Umweltzerstörung und die Erderwärmung vorantreiben. Dabei sind in letzter Zeit Jugendliche in den Vordergrund getreten und erzielen erstaunliche Erfolge. Viele von ihnen scheuen sich auch nicht, PolitikerInnen der Demokratischen Partei unter Druck zu setzen, um so auf stärkere Unterstützung des Green New Deal hin zu wirken. Jugendliche zwischen 11 und 24 Jahren, die dem Sunrise Movement, Youth vs. Apocalypse, oder den Bay Area Earth Guardians angehören, besuchten die Senatorin Diane Feinstein in ihrem Büro und überzeugten sie, ihre eigene (bescheidenere) Resolution zum

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http://forms.nomoredeaths.org/about-no-more-deaths/.

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Klimawandel zurück zu ziehen (Chavez und Grim 2019). Diese Gruppen unternehmen sowohl landesweite Days of Action, wo sie zeitgleich mit Büro-Besuchen und -Besetzungen VertreterInnen beider Parteien drängen, den Green New Deal zu unterstützen, als auch gezielte Protestaktionen bei PolitikerInnen, die noch nicht unterzeichnet haben. Neben neuen Bewegungen wie den Schüler- und Jugendlichen Bewegungen (Youth Climate Strike, Fridays for Future) oder auch den auf zivilen Ungehorsam setzenden Extinction Rebellion Aktivisten mobilisieren nach wie vor schon länger aktive Umwelt- und Ökologiegruppen wie 350.org, und genießen nun wachsende Aufmerksamkeit und Unterstützung. Viele der heutigen Klimastreik-AktivistInnen hatten bereits an der (Schüler-) Bewegung gegen Waffengewalt teilgenommen (US National School Walkout against gun violence am 14.03.2018, March for Our Lives am 24.03. und 20.04.2018). Letztere hatte sich nach dem Amoklauf am Valentinstag 2018 an einer High School in Parkland spontan gebildet und wie ein Wildfeuer ausgebreitet, und es sah so aus, als würden nach diesem Gewaltakt (nach ähnlich blutigen Anschlägen in Columbine 1999 und Sandy Hook 2012) und der enormen landesweiten Mobilisierung die Waffengesetze in den USA endlich verschärft werden (Witt 2018). Die eindrucksvolle Art, wie SchülerInnen Trauermärsche zu Protestmärschen machten, v. a. ihr ‚March for our Lives‘ nach Washington (an dem 800.000 Menschen teilnahmen!), und wie sie die Zusammenarbeit von Waffenlobby und PolitikerInnen skandalisierten, stellte die NRA in der Öffentlichkeit an den Pranger. Mit ihrer Bustour Road to Change mobilisierten die Parkland-SchülerInnen Millionen Jungwähler (Cullen 2019). Bislang konnten sich auf Bundesebene keine Reformen durchsetzen, aber immerhin 26 Einzelstaaten haben strengere Waffengesetze erlassen. Gegen die zunehmende rassistische (Polizei-)Gewalt hatte sich bereits seit 2013 eine neue Bewegung formiert, nachdem mehrere Afroamerikaner von Polizisten ermordet worden waren. #Black Lives Matter erzielte landesweite Aufmerksamkeit, als sie nach den Polizeimorden an Michael Brown in Ferguson und an Eric Garner in New York 2014 mit massiven Demonstrationen gegen unablässige rassistische Drangsalierung, Racial Profiling, und brutale, häufig tödliche, Behandlung im Polizeigewahrsam protestierten. In den folgenden Jahren haben sich lokale BLM-Gruppen bundesweit vernetzt (Ruffin II 2015). Wieder und wieder, wenn People of Color oder transsexuelle Menschen durch Polizeigewalt ums Leben kamen, organisierte die BLM-Bewegung Mahnwachen, Märsche, Protestaktionen oder zivilen Ungehorsam, um ein Ende der polizeilichen Gewalt zu fordern und vermochte so, das Thema racial (in)justice in der amerikanischen Öffentlichkeit stärker sichtbar zu machen. Auch der durch den Streik der Chicago Teachers Union 2012 eingeläutete Zyklus von ArbeiterInnenbewegungen erlebt unter Trump weitere Höhenflüge. Nicht nur konnte der (ebenfalls 2012 begonnene) Fight for 15 (Kampf um Erhöhung des Mindestlohns auf mindestens 15 US-Dollar) im Lauf der letzten Jahre auf einzelstaatlicher und lokaler Ebene viele Erfolge einfahren, sondern auch die LehrerInnen, die – 2018 in konservativen Südstaaten zuerst in W. Virginia, dann in Oklahoma und schließlich in Arizona – sich längst überfällige Lohnerhöhungen erstreiken konnten,

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zeigen, dass Arbeitskämpfe wieder auf der Agenda stehen. Ihre Forderungen nach angemessenen Löhnen und Arbeitsbedingungen waren in solche für besser ausgestattete Schulen und besser versorgte Communities eingebettet, also am Gemeinwohl ausgerichteten Forderungen: Seither ist Standard, dass der Kampf um die Qualität der öffentlichen Infrastrukturen unter Austeritätsbedingungen mit Mobilisierungen jenseits des Arbeitsplatzes einher gehen muss (Greenhouse 2019; Blanc 2019).

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Fazit: Muster US-amerikanischer Bewegungen

Die Erschöpfung des neoliberalen Wachstumsmodells, das selbst mit neusten Formen von Finanzialisierung keine Lösungen für wachsende soziale Probleme anzubieten hat, die auch nur annähernd vergleichbar wären mit den Versprechen des Gründungsmythos der USA oder jenen des Traums immerwährender Prosperität des amerikanischen Fordismus, hat die USA in eine Ära katapultiert, in der die zentralen Widersprüche dieser kapitalistischen Gesellschaft nicht länger externalisiert oder vertagt werden können. Die Möglichkeiten der Expansion nach Westen, die der amerikanischen Gesellschaft ein Ventil zur Lösung ihrer regionalen und KlassenWidersprüche geboten hatten, sind schon lange dahin. Die danach folgende Geschichte der Expansion via Kriege und Märkte, die den Frontier-Mythos lange wirksam hielt, hat die Welt an den Rand des ökologischen Kollaps und in die Klimakrise geführt. Damit ist die bewährte amerikanische Methode, gesellschaftliche Konflikte (durch Expansion und Wachstum) zu befrieden, an ihre Grenze gestoßen. Trumps Regierung reagiert auf das Ende des grenzenlosen Wachstums und die Klimaerwärmung mit dem Bau der „großen Mauer“ und der offenen Beanspruchung der weißen Vorherrschaft (Grandin 2019). Durch sämtliche bisherigen Phasen der amerikanischen Geschichte blieben die die sozialen Bewegungen prägenden Parameter konstant: zentrale Konflikte wie die um die Vertreibung und Enteignung der indigenen Bevölkerung sowie die um die Versklavung und Entrechtung der afroamerikanischen Bevölkerung blieben genauso verdeckt und unsichtbar wie der zwischen ArbeiterInnen und Unternehmen, aufgrund der Prämisse, dass Probleme wie Rassismus und Ausbeutung mit wachsendem Reichtum der Gesellschaft überflüssig würden. Rechte für Gewerkschaften, Frauen sowie die Bürgerrechte für AfroamerikanerInnen konnten jeweils nur aufgrund von und während expansionistischen Momenten erstritten werden. Innerhalb dieses Rahmens waren die meisten sozialen Bewegungen von der widersprüchlichen Spannung der US-amerikanischen Ideologie geprägt, der Spannung zwischen liberaler Befürwortung von Marktfreiheit und von kommunitären Solidarordnungen, wie sie sich unter zahllosen Communities von ‚Freien und Gleichen‘ entfalten konnten. In praktisch jedem Bewegungszyklus tauchten kommunitäre Experimente auf, die mit präfigurativen Praxen und alternativen Projekten Gegenentwürfe lebten: angefangen bei den Communities der Shaker und Mennoniten über die utopisch-sozialistischen Communities der 60er-Jahre (Boal et al. 2012) bis hin zu den Occupy-Encampments und den Indivisible Ortsgruppen.

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Voraussetzung für die Möglichkeit der jeweiligen kommunitären Orientierungen ist die starke Segmentierung des Landes in viele verschiedene „Inseln der Gleichheit und Happiness“ (Wagner 1977). Dies Grundmuster impliziert eine ausgesprochen ungleichzeitige und disparate gesellschaftliche Entwicklung, in der Verteilungskämpfe nie von der politischen Agenda verschwunden sind. Selbst die „post-materialistisch“ ausgerichteten sozialen Bewegungen der 60er-Jahre tauchten in den USA stets im Bündnis mit klassenmäßig oder rassistisch diskriminierten Gruppen auf, weil vor allem die working poor und ethnische Minderheiten von den scharfen ökonomischen Disparitäten betroffen sind. Selbst in Phasen der Prosperität wurde wirtschaftliche und soziale Ungleichheit kaum abgefedert, weil der Wohlfahrtsstaat extrem rudimentär blieb. In Krisenphasen und seit Austerität zur Normalität geworden ist, gelangen die Nöte der Unterschichten – Prekarität, Verschuldung, Obdachlosigkeit, Lohnraub – , sowie zunehmend die Nöte der ihrer Zukunft beraubten Jugendlichen allerdings massiv auf die Agenda. Weil in den USA die Ideologie des Locke’schen Besitzindividualismus stark verankert ist und Vorbehalte gegenüber staatlichen Interventionen weit verbreitet sind, hatten es soziale Bewegungen – bis OWS – schwer, die Verteilungsungerechtigkeit in der US-amerikanischen Gesellschaft zu attackieren. Erst mit der Identifizierung der „1 %“ gelangte die Skandalisierung von Ungleichheit und die Forderung nach social justice auf die politischen Tagesordnung, und haben damit auch sozialistische Bewegungen zunehmend Zulauf bekommen. Offenbar hat das „S-Wort“ seine abschreckende Wirkung in den USA verloren: einer Gallup-Umfrage vom Mai 2019 zufolge schätzen inzwischen vier von zehn AmerikanerInnen Sozialismus als positiv für ihr Land ein – bei den 18 bis 24-Jährigen sind es weitaus mehr (Salmon 2019). Die längste Zeit jedoch florierten in den USA vor allem solche Bewegungen, deren gemäßigte Forderungen auf soziale Chancengleichheit, politische Fairness, Integration in die dominanten Institutionen, oder die partielle Autonomisierung von Subkulturen abzielen. Bewegungen, die redistributive Forderungen artikulieren oder gesamtgesellschaftliche Veränderungen verlangen, waren dagegen weit seltener und erfahren, wo sie auftauchen, schärfere Repression. Durch sämtliche Phasen hindurch und bei ganz unterschiedlichen progressiven Bewegungen finden wir deshalb eine starke Betonung ethnischer Gleichheitspostulate beziehungsweise ein Bemühen, antirassistische Arbeit in den Vordergrund zu stellen. Soziale Bewegungen bewirkten in den USA bislang nie einen strukturellen Wandel und erzielten selten – so wie die Bürgerrechtsbewegung – substanzielle Erfolge. Selbst wenn Reformgesetze verabschiedet wurden, konnten sie im fragmentierten politischen System oft nicht implementiert werden. Effektive Wirkungen beschränken sich zumeist auf Verfahrensänderungen, z. B. in der Form, dass vormals Ausgegrenzte an Entscheidungsprozessen beteiligt werden – ohne dass dabei die Herrschaftsstrukturen als solche angetastet werden. Deshalb sind bislang vor allem solche Bewegungen (prozedural) erfolgreich, die gemäßigte Forderungen vertreten, die innerhalb des liberalen Konsens Legitimität genießen. Weiter gehende Forderungen haben nur in Krisenzeiten Aussicht auf Erfolg, wenn die gesellschaftliche Kohäsion gefährdet erscheint, wie in der Weltwirtschaftskrise, während der 1960erJahre -und möglicherweise nun angesichts von ökologischer und Klima-Krise.

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Polarisierung Ursachen und Konsequenzen David Sirakov

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Political Gridlock. Die Folge der politischen Polarisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Polarized Congress and Polarized America? Die parteipolitische Polarisierung im US-Kongress und ihre Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 America’s Political Crisis? Eine Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Polarisierung gehört seit über zwanzig Jahren zu den am meisten diskutierten politischen Phänomenen in den USA. Doch was zeichnet Polarisierung aus und wo liegen deren Ursachen? Dieser Artikel entwickelt eine Definition von Polarisierung und sieht deren Ursachen in einer Vielzahl von Faktoren, u. a. in der programmatischen Entwicklung der beiden großen Parteien und dem Aufstieg des Populismus, den ideologischen Positionen in Teilen der Gesellschaft, dem Zuschnitt der Wahlkreise und den Regeln und Verhaltensweisen im US-Kongress. Die möglichen Folgen für das politische System der USA werden abschließend erörtert. Schlüsselwörter

Polarisierung · Kongress · Realignment · Gerrymandering · Redistricting

D. Sirakov (*) Atlantische Akademie Rheinland-Pfalz e.V., Kaiserslautern, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_37

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D. Sirakov

Einleitung

Die vergangenen fünf Kongresse (110. bis 115. Kongress) befinden sich in den Top 10 der unproduktivsten der vergangenen 70 Jahre, die Zustimmungsraten zur Legislative sind auf Tiefstwerte gesunken und übersteigen kaum die 20 Prozentmarke. Scheinbar unversöhnlich stehen sich die beiden Parteifraktionen der Demokraten und der Republikaner gegenüber, Koalitionsbildungen über Parteigrenzen finden kaum mehr statt, die Krise des politischen Systems der USA droht sich weiter zu verschärfen, so zumindest das Urteil in der öffentlichen Debatte. Die Polarisierung zwischen den beiden politischen Parteien im Kongress erschwert die politische Kompromissfindung und der politische Entscheidungsprozesses ist immer häufiger blockiert. Denn was in parlamentarischen Regierungssystemen zu einer ideologischen und mitunter programmatischen Schärfung der Parteien gereicht und aufgrund sicherer parlamentarischer Mehrheiten den Entscheidungsprozess kaum beeinträchtigt, kann im präsidentiellen Regierungssystem der USA, in welchem die Exekutive auf politische Mehrheiten in der Legislative angewiesen ist, zu Politikstillstand führen. Besonders ausgeprägt ist dies, wenn zumindest eine der beiden Kammern des Kongresses von einer anderen Partei kontrolliert wird als das Weiße Haus. Mag eine Polarisierung unter den Bedingungen eines unified government eventuell die Politikformulierung erleichtern, so droht die Dysfunktionalität des gesamten Systems unter den Bedingungen eines divided government. Die zentrale Funktion von Politik, für soziale, ökonomische und ökologische Herausforderungen Lösungen zu finden, steht in den Vereinigten Staaten schon geraume Zeit auf dem Spiel. Barack Obama – der noch 2004 proklamierte, es gäbe kein liberales und konservatives Amerika, sondern lediglich die Vereinigten Staaten von Amerika – musste in seiner Amtszeit feststellen, wie schwierig dieses Unterfangen letztlich ist. Angesichts der Haushaltsverhandlungen zur Erhöhung der Schuldenobergrenze 2011 erklärte er in einer Fernsehansprache, dass in Washington (DC) der Kompromiss zu einem „dirty word“ (White House 2011) verkommen sei. Das für die Demokraten bereits bekannte Problem der Polarisierung rückte nach dem Wahlerfolg 2016 bei den Republikanern deutlich stärker ins Bewusstsein. Obwohl der Einzug Donald J. Trumps ins Weiße Haus und die Dominanz der Republikaner in beiden Kammern des Kongresses ein unified government zur Folge hatte, gelang es der konservativen Mehrheit nur selten, ihre politische Agenda in Gesetzesform zu gießen. Der knappe Stimmenvorsprung im Senat (51 zu 49) machte das Erreichen der häufig notwendigen Supermehrheit von 60 Stimmen nahezu unmöglich. Angesichts der verhärteten Fronten appellierten nunmehr Republikanische Senatoren an ihre Kollegen. Mit John McCain (R-AZ) ließ sich eine der Ikonen der Republikanischen Partei zu einer Grundsatzrede hinreißen: „Let’s trust each other. Let’s return to regular order. We have been spinning our wheels on too many important issues because we keep trying to find a way to win without help from across the aisle. [. . .] We are getting nothing done, my friends. We are getting nothing done“ (Congressional Record 2017, S. 4168).

Polarisierung

367

Neben dem Niederschlag in der Rhetorik werden die Folgen der parteipolitischen Polarisierung insbesondere in zentralen politischen Entscheidungen und Abstimmungen deutlich. Zeigten sich die Auswirkungen der politischen Polarisierung in der Präsidentschaft Barack Obamas exemplarisch an den Haushaltsverhandlungen 2013, die durch die Schließung von Regierungsinstitutionen (Government Shutdown) begleitet wurde oder der Debatte um die notwendige Anhebung der Schuldenobergrenze, so hatte Donald Trump in seinen ersten zwei Amtsjahren ganz ähnliche Schwierigkeiten. Weder der Versuch, mit eigenen Mehrheiten die als Obamacare bekanntgewordene Gesundheitsreform seines Vorgängers rückgängig zu machen, noch die Finanzierung des Baus einer Mauer zu Mexiko, welche ein zentrales Wahlkampfversprechen Trumps darstellte, waren erfolgreich. Hatte es Barack Obama mit einem politischen Gegner zu tun, dessen erklärtes Ziel es war, aus ihm einen „one-term president“ zu machen, verhält sich dies mit Donald Trump und seinem Verhältnis zu den Demokraten nicht anders. Bei Letzterem kommt allerdings noch hinzu, dass seine populistische Überzeugung die Spaltung in Politik und Gesellschaft noch verstärkte (Lammert 2020; Sirakov 2020). Im ersten Teil dieses Artikels wird nach der spezifischen Ausprägung der politischen Polarisierung gefragt. Daran anschließend soll der Frage nach den Gründen für die zu beobachtende parteipolitische Polarisierung im US-Kongress nachgegangen werden. Im Gegensatz zu den Polarisierungsbefunden ist die Ursachensuche zum Teil heftig umstritten. Sie konzentriert sich dabei grob auf zwei „Orte“: Den Gesellschaftlichen, also einer Polarisierung innerhalb der Wählerschaft, die als Ursache der Polarisierung im Politischen genannt wird und die sich dann auch in der Polarisierung der Eliten widerspiegelt, und dem Politischen, in dem in erster Linie eine Polarisierung politischer Eliten in Washington (DC) attestiert wird. Abschließend soll in diesem Beitrag die Frage diskutiert werden, ob die diagnostizierten Tendenzen und Probleme in der Tat als ein Indiz für eine tiefergreifende Krise des politischen Systems der USA gelten können.

2

Political Gridlock. Die Folge der politischen Polarisierung

Die Bearbeitung und Lösung sozialer und ökonomischer Probleme stehen im Zentrum von Politik, weshalb Entscheidungen in Form von Gesetzen als das zentrale Ziel politischen Handelns genannt werden können (Patzelt 2003, S. 23). Mit Blick auf die Politik in den USA erwachsen aber zunehmend Zweifel, ob diese Lösungsund Regelungskompetenz durch den Kongress noch wahrgenommen und gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen zeitnah und adäquat begegnet werden kann. Dies verdeutlicht bereits ein Blick auf die Produktivität innerhalb des Gesetzgebungsprozesses. In den Kongressen 112, 113 und 114 (2011–2017) wurden lediglich 284, 296 sowie 329 Gesetze verabschiedet, womit sie deutlich unter dem von Harry Truman als „do-nothing Republican Congress“ (zitiert nach Genovese 2010, S. 485) geschmähten 80. Kongress (1947–1949) liegen. Mit 906 wiest dieser immerhin so

368

D. Sirakov

viele verabschiedete Gesetze wie in den vorgenannten Kongressen zusammen auf. Doch auch der Blick in die vorangegangenen Kongresse seit Ende des 20. Jahrhunderts zeigt den Abwärtstrend in der legislativen Produktivität. Während im 106. Kongress (1999–2001) noch 604 Gesetze die Zustimmung des Repräsentantenhauses und des Senats fanden, waren dies im 108. Kongress (2003–2005) 504 und im 110. Kongress (2009–2011) lediglich noch 460. Die rückläufigen Zahlen können besser verstanden werden, betrachtet man die Entwicklung der parteiübergreifenden Zusammenarbeit, dem so genannten bipartisanship. In einem politischen System, in dem das Wahlsystem zumeist knappe Mehrheiten produziert, die zudem alles andere als verlässlich sind, da sich die direkt gewählten Abgeordneten und Senatoren deutlich stärker ihrer Wählerschaft, denn programmatischen oder taktischen Überlegungen ihrer jeweiligen Partei verpflichtet fühlen, sind erfolgreiche Gesetzesvorhaben nur mit parteiübergreifenden Koalitionen realisierbar. Und das hat in den USA seit dem Zweiten Weltkrieg auch weitgehend erfolgreich funktioniert. Annähernd die Hälfte der Entscheidungen im Kongress wurde durch ein solches bipartisanship getroffen. Der zunehmende Antagonismus der Parteien im Kongress erschwert diese überparteiliche Kooperation allerdings massiv. Der Tiefpunkt im Senat wurde im 111. Kongress (2009–2011) erreicht, als lediglich ein Viertel der Abstimmungen mit einer überparteilichen Mehrheit verabschiedet wurden. Zwar erholte sich dieser Wert auf durchschnittlich 37 Prozent wieder etwas, konnte aber nicht an die zuvor üblichen über 42 Prozent anknüpfen. Ähnlich verhält es sich im Repräsentantenhaus. Dort wurden zwischen 1979 und 2010 durchschnittlich 48 Prozent der erfolgreichen Entscheidungen im bipartisanship verabschiedet. Seit 2011 ist der Schnitt auf etwa 28 Prozent gesunken. Immer häufiger stimmen die Parteifraktionen als weitgehend geschlossene Blöcke ab. Dies ist in erster Linie bei Parteifraktionen in parlamentarischen Regierungssystemen zu beobachten; aufgrund der stärkeren Bindung der Kongressmitglieder an ihre Wählerschaft in den Wahlkreisen im legislativen Prozess der USA bislang nicht. Gleichwohl stieg im Zeitraum von 1991 bis 2018 diese Geschlossenheit von etwa 83 % im Repräsentantenhaus und Senat auf 94 % respektive 93 %. Unter solchen Bedingungen und insbesondere in Zeiten eines divided government ist die für den legislativen Prozess der USA zentrale Bedeutung überparteilicher Koalitionsbildungen bei substanziellen Politikentscheidungen so gut wie ausgeschlossen.

3

Polarized Congress and Polarized America? Die parteipolitische Polarisierung im US-Kongress und ihre Ursachen

Die Frage nach der Ursache von Polarisierung, lässt zunächst die Suche nach einer Definition dieses Phänomens in den Vordergrund rücken. Ein Blick in die politikwissenschaftliche Literatur zeigt recht schnell, dass sich dort kaum ein Konsens finden lässt. Während beispielsweise Alan Abramowitz (2018) Polarisierung bereits dann sieht, wenn die ideologischen Positionen der Parteien bzw. der Wähler sich aus der ideologischen Mitte entfernen und immer weiter auseinanderdriften, gehen Morris P. Fiorina und Samuel J. Abrams (2008, S. 566) davon aus, dass von

Polarisierung

369

Position 1

Position 2

Abb. 1 Polarisierung (In Anlehnung an Fiorina et al. 2006, S. 13)

Polarisierung erst gesprochen werden kann, wenn sich die durchschnittlichen Positionen an den jeweiligen ideologischen Extrempunkten befinden. Kein Wunder also, dass bei einer fehlenden gemeinsamen Definition auch kaum Einigung über die reale Ausprägung der Polarisierung im politischen System zu erzielen ist. Um sich dem Problem allerdings zu nähern, ist es nicht notwendig, sich der einen oder der anderen Lesart anzuschließen. Es ist vielmehr wichtig, nach Indikatoren zu Fragen, anhand derer sich solche Polarisierungstendenzen im Kongress oder auch der Wählerschaft deutlich machen lassen. Hierzu bieten DiMaggio, Evans und Bryson (1996, S. 692 f.) einen möglichen Zugang. Sie betrachten die ideologische Verortung der Wähler bzw. Kongressabgeordneten etwas näher. Ordnen sich die ideologischen Position bimodal, dann kann von einer Polarisierungstendenz gesprochen werden, sei es im Kongress oder allgemeiner innerhalb der Wählerschaft. In einer solchen Verteilung fehlen die moderaten Positionen in der ideologischen Mitte, die Kompromisse erleichtern. Damit versinnbildlicht die U-Kurve in Abb. 1 idealtypisch eine tiefe Polarisierung einer Gesellschaft, Gruppe oder bspw. dem Kongress.

3.1

Polarized Congress. Polarisierungstendenzen im US-Kongress

Um Polarisierungstendenzen im US-Kongress messbar und damit empirisch fassbar zu machen, findet zumeist der auf der Forschung von Keith Poole und Howard Rosenthal (Poole und Rosenthal 1984, 1997) basierende Common Space DWNOMINATE Score Verwendung, der die ideologischen Positionen der Abgeordneten und Senatoren anhand ihres Abstimmungsverhaltens auf einer ideologischen LinksRechts-Achse verortet, die von 1 (extrem liberal) bis 1 (extrem konservativ) reicht.1

1

Die hier verwendeten Daten sind hinsichtlich des 115. Kongress aktualisiert und auf der Website http://www.voteview.com verfügbar (Lewis et al. 2019). Eine Beschreibung des verwendeten Algorithmus findet sich in Poole und Rosenthal (1997).

Anzahl der Abgeordneten

0

2

4

6

8

10

12

14

0

10

20

30

40

50

60

Republikaner Repub u likaner

Demokraten

Republikaner Repub u likaner

-1 bis -0,9 bis -0,8 bis -0,7 bis -0,6 bis -0,5 bis -0,4 bis -0,3 bis -0,2 bis -0,1 bis 0,0 bis 0,1 bis 0,2 bis 0,3 bis 0,4 bis 0,5 bis 0,6 bis 0,7 bis 0,8 bis 0,9 bis -0,7 0,4 0,5 0,6 0,7 0,8 0,9 1 -0,9 -0,8 -0,6 -0,5 -0,4 -0,3 -0,2 -0,1 0,0 0,1 0,2 0,3

Senat 85. Kongress

Demokraten

-1 bis -0,9 bis -0,8 bis -0,7 bis -0,6 bis -0,5 bis -0,4 bis -0,3 bis -0,2 bis -0,1 bis 0,0 bis 0,1 bis 0,2 bis 0,3 bis 0,4 bis 0,5 bis 0,6 bis 0,7 bis 0,8 bis 0,9 bis -0,9 -0,7 -0,6 -0,5 -0,4 -0,3 -0,1 0,0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 0,6 0,7 0,8 1 -0,8 -0,2 0,9

Repräsentantenhaus 85. Kongress

0

2

4

6

8

10

12

14

16

18

20

0

10

20

30

40

50

60

70

Abb. 2 DW-Nominate Score im 85. (1957–2059) und 115. (2017–2019) Kongress

Anzahl der Abgeordneten

Anzahl der Abgeordneten Anzahl der Abgeordneten

70

Republikaner Repub u likaner

Demokraten Demokrat en

Republikaner Repub u likaner

-1 bis -0,9 bis -0,8 bis -0,7 bis -0,6 bis -0,5 bis -0,4 bis -0,3 bis -0,2 bis -0,1 bis 0,0 bis 0,1 bis 0,2 bis 0,3 bis 0,4 bis 0,5 bis 0,6 bis 0,7 bis 0,8 bis 0,9 bis -0,8 -0,7 -0,6 -0,5 -0,4 -0,3 -0,2 -0,1 0,0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 0,6 0,7 0,8 0,9 1 -0,9

Senat 115. Kongress

Demokraten

-1 bis -0,9 bis -0,8 bis -0,7 bis -0,6 bis -0,5 bis -0,4 bis -0,3 bis -0,2 bis -0,1 bis 0,0 bis 0,1 bis 0,2 bis 0,3 bis 0,4 bis 0,5 bis 0,6 bis 0,7 bis 0,8 bis 0,9 bis -0,9 -0,8 -0,7 -0,6 -0,5 -0,4 -0,3 -0,2 -0,1 0,0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 0,6 0,7 0,8 0,9 1

Repräsentantenhaus 115. Kongress

370 D. Sirakov

Polarisierung

371

In Abb. 2 sind die ideologischen Positionen der Abgeordneten und Senatoren des US-Kongresses abgebildet, und es zeigt sich hier ein klarer Trend in Richtung einer zunehmenden Polarisierung der ideologischen Positionen. Während im 85. Kongress (1957–59) in Repräsentantenhaus wie Senat weite Überlappungen zwischen Demokraten und Republikanern im mittleren (moderaten) Bereich des Liberal-KonservativSpektrums vorhanden waren, sind diese im 115. Kongress (2017–2019) gänzlich verschwunden. Der liberalste Republikaner ist konservativer als der konservativste Demokrat. Aber nicht nur das Verschwinden der politischen Mitte allein muss hier thematisiert werden. Auch der Abstand der ideologischen Positionen der beiden Parteien gibt uns Auskunft über das Ausmaß der zu beobachtenden Polarisierung. Wie in Abb. 3 ersichtlich, driften beide Parteien seit 1957 zusehends auseinander. In erster Linie zeigt sich diese Entwicklung bei den Republikanern, die sich in den letzten 62 Jahren deutlich von der politischen Mitte entfernt haben. Folglich sind die Parteien in der US-Legislative heute ideologisch weiter voneinander entfernt denn je. Unterstützt wird dieser Befund durch die ideologische Geschlossenheit der Parteien im Kongress (Abb. 4). Anhand der Daten wird deutlich, dass die Demokraten als Reaktion auf den klaren ideologischen Rechtsruck der Republikaner, ideologisch enger zusammengerückt sind. Bei den Republikanern ist eine solche Tendenz nicht zu erkennen. Im Gegenteil: Infolge des politischen Rechtsruckes findet sich eine größere ideologische Vielfalt innerhalb dieser konservativen Fraktion.

1.00

0.80

0.60

0.40

0.20

0.00 Repräsentantenhaus

Senat

Abb. 3 Abstand der durchschnittlichen ideologischen Position von Demokraten und Republikaner im US-Kongress 1957–2019

372

D. Sirakov

0.5 0.45 0.4 0.35 0.3 0.25 0.2 0.15 0.1 0.05 0

Demokraten

Republikaner

Kongress

Abb. 4 Ideologische Streuung im US-Kongress 1957–2019

Der hier skizzierte Trend in Richtung einer stärkeren politischen Polarisierung im Kongress wird inzwischen in der politikwissenschaftlichen Forschung nicht mehr in Frage gestellt und lässt sich auch anhand anderer Indikatoren wie dem Abstimmungsverhalten (Roll Call Votes) (Rohde 1991; Coleman 1997), der Einschätzungen durch Interessengruppen (Poole und Rosenthal 1997 (Kap. 8); Stonecash et al. 2003) sowie dem DW-NOMINATE Score (Poole und Rosenthal 1984; Theriault 2008) belegen. Bei der Suche nach den Ursachen für diese politische Polarisierung hingegen gehen die Meinungen weit auseinander.

3.2

Ursachen der politischen Polarisierung in der US-Gesellschaft

Im Zentrum der Auseinandersetzung steht hier die Frage, ob die auf politischer Ebene zu beobachtende Polarisierung als Folge einer breiten in der Gesellschaft vorhandenen Polarisierung interpretiert werden muss oder vielmehr auf eine Entwicklung innerhalb der politischen Eliten selbst zurückzuführen ist. In einem demokratischen System wie den USA liegt die Vermutung nahe, dass eine polarisierte Gesellschaft mittels Wahlen einen polarisierten Kongress hervorbringt. In einer solchen geteilten Gesellschaft trifft das rote (Republikanische) Amerika, wie es James Davison Hunter (1991) formuliert, auf das blaue (Demokratische), was zu „Culture Wars“ führe. Die sich darin manifestierenden Konflikte verlaufen entlang religiöser, kultureller und ideologischer Linien. Empirisch lässt sich eine derart geteilte Gesellschaft aber kaum eindeutig nachweisen (u. a. DiMaggio et al. 1996; Evans 2003). Andere Konfliktlinien sind deutlicher zu erkennen, wie

Polarisierung

373

solche entlang des Einkommens (McCarty et al. 2006) sowie anderer „bread-andbutter economic issues“ wie Steuern, Gemeinwohl, Arbeitslosigkeit oder Wirtschaftswachstum (Ansolabehere et al. 2006, S. 9). Andere Untersuchungen wiederum zeigen, dass durchaus Polarisierungstendenzen in Verbindung mit der religiösen und ethnischen Zugehörigkeit in Teilen der Gesellschaft zu verzeichnen sind (Abramowitz und Saunders 2008, S. 549 f.; Abramowitz 2018). Und auch das Bild vom roten und blauen Amerika insgesamt wurde teilweise in Frage gestellt. Darstellungen früherer Wahlergebnisse in den USA, in denen geringe Abstände zwischen den beiden Parteien als Mischung zwischen rot und blau kenntlich gemacht werden, zeichnen eher das Bild eines „Purple America“ (Ansolabehere et al. 2006; Teixeira 2008). Gleichwohl zeigen die Ergebnisse gerade der Präsidentschaftswahl 2016 den Trend, dass die Abstände zwischen Demokraten und Republikanern in den einzelnen Wahlkreisen deutlich ansteigen und mithin das blaue und rote Amerika gegenüber dem Violetten überwiegt (Wasserman 2017). Zumindest mit Blick auf die US-Gesellschaft stützen die Daten der American National Election Study (ANES) die Skepsis gegenüber einer tiefen ideologischen Spaltung. Gefragt nach einer Selbsteinschätzung auf einer 7-gliedrigen Ideologieskala, die von extrem liberal über moderat bis extrem konservativ reicht, zeigt sich trotz Veränderungen in den vergangenen Jahrzehnten weiterhin eine Glockenkurve als Ausdruck einer mehrheitlich moderaten Gesellschaft (Abb. 5). Nimmt man allerdings die Selbsteinschätzung derjenigen in den Blick (Abb. 6), die sich eindeutig mit der Demokratischen oder der Republikanischen Partei identifizieren, verändert sich das Bild: Liberale US-Amerikaner ordnen sich heute eher der Demokratischen Partei, konservative US-Amerikaner den Republikanern zu. 0.4 0.35 0.3 0.25 0.2 0.15 0.1 0.05 0

extrem liberal

liberal

schwach liberal

moderat, "middle of the schwach road" konservativ 1972

konservativ

extrem konservativ

2016

Abb. 5 Ideologische Selbsteinschätzung, 1972 und 2016. (Quelle: 1972 und 2016 American National Election Study)

374

D. Sirakov

1972 0.25 0.2 0.15 0.1 0.05 0 extrem liberal

liberal

schwach liberal

moderat, "middle schwach of the road" konservativ

Demokraten

konservativ

extrem konservativ

konservativ

extrem konservativ

Republikaner

2016 0.25

0.2

0.15

0.1

0.05

0 extrem liberal

liberal

schwach moderat, "middle schwach liberal of the road" konservativ Demokraten Republikaner

Abb. 6 Ideologische Selbsteinschätzung nach Parteiidentifikation, 1972 und 2016

Zurückzuführen ist diese Entwicklung auf eine ideologische „Schärfung“ des jeweiligen parteipolitischen Profils und dem daraus resultierenden Realignment innerhalb der Wählerschaft, das in den 1960er- und 1970er-Jahren seine Anfänge nahm. Die konservative weiße Wählerschaft im Süden, die traditionell eng mit den Southern Democrats verbunden war, distanzierte sich aufgrund der Bürgerrechtsgesetzgebung von der Demokratischen Partei und votierten für konservative Republikaner. Dies führte zu einer Stärkung der konservativen Bewegung in den USA, die in der Präsidentschaftskandidatur Barry Goldwaters für die Republikaner 1964 erstmals sichtbar wurde. Im Gegenzug dazu wählten die afroamerikanischen, aber auch die liberalen weißen Wähler aus dem Nordosten stärker Demokratisch (Carmines und Stimson 1989 (Kap. 2); Rohde 1991, S. 58–59). Die Folgen dieses über Jahrzehnte währenden Prozesses sind heute daran zu erkennen, dass sich die ideologische

Polarisierung

375

Selbsteinschätzung deutlich stärker mit der jeweiligen Parteiidentifikation deckt. Ideologische Polarisierung übersetzt sich so zugleich in eine parteipolitische (partisan) Polarisierung. Fiorina und Levendusky (2006, S. 52–55) bezeichnen diesen Effekt als Sorting und unterscheiden ihn von Polarisierung. Sorting zeichnet sich dadurch aus, dass es zwar zu Veränderungen der ideologischen Zusammensetzung der Wählerschaften beider großer Parteien in den USA kommt, die prozentuale Verteilung auf der Ideologieachse jedoch gleichbleibt. Während dieser Befund einen gewissen Zeitraum durchaus treffend beschrieb, zeigen sich jüngst Entwicklungen, die sich nicht allein mit dem Konzept des Sorting erklären lassen. 1972 verorteten sich noch 25,8 Prozent im liberalen Bereich (von extrem bis schwach liberal), 37,4 Prozent als moderat und 36,8 Prozent im konservativen Bereich (schwach bis extrem konservativ). Vierundvierzig Jahre später bezeichnen sich 32,7 Prozent als liberal, lediglich 27,6 Prozent als moderat und 39,8 Prozent als konservativ. Damit kann nicht nur von einer veränderten ideologischen Zusammensetzung der Parteien gesprochen werden, sondern es zeigt sich auch insgesamt eine ideologische Polarisierung. Sie drückt sich auch in den Gefühlen gegenüber der eigenen und der jeweilig anderen Partei aus. In den ANES-Daten lassen sich die Sympathiewerte entlang eines von 0 bis 100 Grad reichenden „feeling thermometer“ ablesen. Während die Sicht auf die eigene Partei von 71 (1978) auf etwa 69 Grad (2016) leicht absank, verlor das Ansehen der Gegenseite deutlich stärker an Boden. Schätzten die Befragten die gegnerische Partei 1978 noch mit 48 Grad ein, fand sich der Wert 2016 bei lediglich 26 Grad wieder. Der Abstand zwischen den Werten verdeutlicht das als negative partisanship (Abramowitz 2018) oder affective polarization (Levendusky 2017) bezeichnete Phänomen. Über den 38jährigen Zeitraum der Befragung hat sich Die Distanz von 23 auf knapp 41 Grad fast verdoppelt (Abb. 7). Der Polarisierungstrend verstärkt sich noch, wenn man nicht die gesamte Bevölkerung in den Blick nimmt, sondern nur die Wählerschaft. Analog zum Auseinanderdriften der ideologischen Positionen zwischen den Parteifraktionen im Kongress, lässt sich auch bei den Wählern ein solcher Prozess erkennen (siehe Abb. 8). Im Gegensatz zum Kongress haben allerdings sowohl die liberalen als auch die konservativen Wähler einen nahezu gleichen Anteil daran (Abb. 8). Die spezifischen Charakteristiken des US-Wahlsystems verstärken diesen Effekt abermals. Hier werden die Kandidaten der beiden Parteien in sogenannten primaries bestimmt. In diesen Vorwahlen (offen oder geschlossen), beteiligen sich meist nur die aktiven Parteianhänger (activists), was die ohnehin niedrige Wahlbeteiligung in den USA bei diesen Vorauswahlen noch verringert (Abramowitz und Saunders 2008, S. 546–548). Da die activists wie gezeigt in der Regel stärker ideologisch polarisiert sind als die allgemeine Wählerschaft, werden in diesen Vorwahlen Kandidaten für die allgemeinen Wahlen bestimmt, die der ideologischen Positionierung dieser activists näher kommen (mit Blick auf allen Wählern offenen Vorwahlen siehe Kaufmann et al. 2003; siehe zu einer Gegenposition Nielson und Visalvanich 2013, S. 21–23).

376

D. Sirakov

80

70

60

50

40

30

20

1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2004 2008 2012 2016 Eigene Partei

Gegenerische Partei

Abb. 7 Einschätzungen zur eigenen und gegnerischen Partei 1978 bis 2016 (Die verwendeten Rohdaten stammen von der American National Election Study.)

Der Einfluss der politischen Aktivisten auf die politische Polarisierung wird auch in einem anderen Zusammenhang diskutiert. Alle 10 Jahre kommt es in Folge des letzten Zensus zur Neueinteilung der Wahlkreise, um so eine möglichst faire Repräsentation zu garantieren. Veränderungen in der Bevölkerungszahl aufgrund von Migrationsbewegungen über die Wahlkreisgrenzen hinweg wirken sich also direkt auf die neuen Grenzverläufe aus. Verantwortlich sind dafür die Legislativen, Kommissionen oder andere Institutionen in den Einzelstaaten, welche von den politischen Parteien allzu gerne dazu genutzt werden, den eigenen Kandidaten die (Wieder-) Wahl zum Repräsentantenhaus so sicher wie möglich zu machen. Diese als Gerrymandering bezeichnete Manipulation von Wahlkreisen ist immer wieder der Grund für Auseinandersetzungen zwischen Demokraten und Republikanern. Einige Forscher und politische Beobachter konstatieren einen klaren Zusammenhang zwischen dieser durch die Parteien dominierten Praxis der Neuziehung von Wahlkreisgrenzen und der steigenden Polarisierung im Repräsentantenhaus (Carson et al. 2007). Im Kern der Argumentation steht der Zusammenhang zwischen Gerrymandering, geringem Parteienwettbewerb und politischer Polarisierung. Dabei führe der parteibezogene Zuschnitt zu einer homogeneren Zusammensetzung der dortigen Wählerschaft und mithin zu politisch weniger umkämpften Wahlkreisen. Der fehlende Wettbewerb wiederum habe zur Folge, dass die sicheren Kandidaten ihrer politischen Auffassung entgegenstehende Forderungen aus dem Wahlkreis kaum oder überhaupt nicht in die eigene Entscheidungsfindung einfließen ließen. Aufgrund der Homogenität des Elektorats entschieden letztlich nicht mehr die Wähler bei den Wahlen zum Repräsentantenhaus, sondern die politischen Aktivisten, auf die die Kandidatenkür im Zuge der Primaries zurückgehe. Ideologische Ausreißer im Abstimmungsverhalten würden so kaum zu einer Gefährdung der Wiederwahlchan-

Polarisierung

377

0.5 0.4

liberal-moderate-conservative

0.3 0.2 0.1 0 -0.1 -0.2 -0.3 -0.4 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2008 2012 2016

0.8

0.7

0.6

Abstand

0.5

0.4

0.3

0.2

0.1

0 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2008 2012 2016

Republikaner

Demokraten

Abb. 8 Ideologische Mittelwerte und Abstand der Wählerschaft für das Repräsentantenhaus, 1972 bis 2016 (Erläuterung: Die y-Achse stellt die umkodierte Ideologieskala dar und reicht von 1 (extrem liberal) über 0 (moderat) bis zu 1 (extrem konservativ). Die verwendeten Rohdaten stammen von der American National Election Study.) Tab. 1 Umkämpfte Wahlkreise in den Wahlen zum Repräsentantenhaus, 1972–2016 55–45 52–48

1972 150 67

1982 171 79

1992 146 58

2002 111 38

2008 105 39

2012 87 28

2014 81 28

2016 81 33

Quelle: McDonald (2006, S. 92) sowie mit gekennzeichnete eigene Ergänzung entlang der normalized presidential vote

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cen führen. Ganz im Gegenteil, es werde von den eigenen Parteianhängern honoriert und erhöhe die Wiederwahlchancen (u. a. Mann 2006, S. 266–267). Betrachtet man die Entwicklung des Wettbewerbes in den Wahlkreisen, so ist seit den frühen 1980er-Jahren eine stetige Abnahme der kompetitiven Distrikte zu verzeichnen (siehe Tab. 1). Mit 81 kompetitiven und 28 hoch-kompetitiven Wahlkreisen wurden in den Zwischenwahlen 2014 in beiden Bereichen Tiefstwerte erreicht. In den Wahlen 2016 stieg die Anzahl der hoch-kompetitiven Wahlkreise zwar leicht an, die der kompetitiven blieb hingegen gleich. Zugleich erreichten die als sicher anzusehende Distrikte in den Jahren 2014 und 2016 mit 354 einen Höchstwert. Die Vermutung, dies habe mit den zuvor vorgenommenen Neuziehungen der Wahlkreise zu tun, klingt zunächst plausibel (McDonald 2006). Doch gibt es auch Zweifel an dieser These, da auch ohne Gerrymandering die Anzahl der (hoch-)kompetitiven Wahlkreise sank, wie die Jahre 2008 und 2014 veranschaulichen. So scheint zum sinkenden Wettbewerb eine als geographical sorting bezeichnete Homogenisierung der Wahlkreise aufgrund der Mobilität der Bevölkerung hinzuzukommen (Stonecash et al. 2003). „Americans are increasingly living in communities and neighborhoods whose residents share their values and they are increasingly voting for candidates who reflect those values“ (Abramowitz et al. 2006). Oder wie es Sean Theriault (2008, S. 79) mit einem Augenzwickern ausdrückt: „Pop culture suggests that Democrats choose to live near their local Starbucks for a convenient cup of joe and Republicans move to be closer to their favorite mega-church for a regular drink from the cup of salvation.“ Als alleiniger Erklärungsfaktor für die zu beobachtende zunehmende Polarisierung kann dieser fehlende parteipolitische Wettbewerb in den Wahlkreisen allerdings auch nicht gelten. Untersuchungen zeigen zwar, dass Abgeordnete aus kompetitiven Wahlkreisen in ihrem Abstimmungsverhalten ideologisch moderater agieren. Zugleich stimmen Demokraten aus sicheren Distrikten tendenziell liberaler und Republikaner tendenziell konservativer ab. Doch weisen Kongressmitglieder ohne jede Konkurrenz im Wahlkreis durchaus auch die gesamte Breite (moderat bis extrem) in ihrem Abstimmungsverhalten auf (Mann 2006, S. 274–280, insbesondere Figure 276–274 und 276–276). Und nicht zuletzt schmälert die zweite Kammer des Kongresses die Erklärungsreichweite des Gerrymandering. Obwohl der Senat keine Wahlkreisveränderungen erfährt, ist in ihm ebenfalls eine – wenngleich nicht ganz so starke – Polarisierung zu beobachten. Insgesamt kommt eine Vielzahl von Untersuchungen zu dem Schluss, dass Gerrymandering nur geringen Einfluss auf die Polarisierung hat (Abramowitz et al. 2006; McCarty et al. 2009; Masket et al. 2012; Adorf 2018).

3.3

Ursachen der politischen Polarisierung im US-Kongress

Auf der Suche nach den Ursachen der fortschreitenden Polarisierung im US-Kongress widmet sich eine Vielzahl von Forschern der legislativen Institution selbst. Dabei werden ganz unterschiedliche mögliche Erklärungsfaktoren genannt. So führten veränderte Regeln und Prozeduren im Kongress zu einer gestärkten Rolle der

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Parteiführungen im Allgemeinen und der Mehrheitsführerschaft im Besonderen. Aber es werden auch stärker strategische denn ideologische Überlegungen ebenso thematisiert, wie ein etwaiger Wandel in den Normen- und Wertorientierungen der Kongressmitglieder selbst. In seiner nunmehr 231 Jahre währenden Geschichte hat der US-Kongress einige Reformen erlebt, doch insbesondere die Veränderungen von Regeln und Prozeduren in den vergangenen 60 Jahren sind nach Meinung mancher Beobachter für einen die Polarisierung begünstigenden institutionellen Wandel verantwortlich zu machen (ausführlich auch Theriault 2008, S. 82–88; Sinclair 2012 [2006]). Angetrieben von der Überzeugung der Parteiführungen, am Ende eines Gesetzgebungsprozess möglichst sicher das für die Partei beste Ergebnis erreichen zu müssen, kam es zu Machtverschiebung hin zu den Spitzen der Parteien, was die Schwächung eines durch Ausschüsse (Committees) und ihre Arbeit dominierten Kongress nach sich zog (Shepsle 1989). Vorangetrieben wurde dies vor allem in den 1990er-Jahren durch die von Newt Gingrich (R-GA) (1995–1999) geführten Republikaner, die nach ihrem Wahlsieg 1994 das Repräsentantenhaus sowie den Senat kontrollierten und die Demokraten als auch den Demokratischen Präsidenten Bill Clinton (1993–2001) effektiv unter Druck setzen wollten. Es sind nunmehr die Führungen der Parteien und dabei vor allem die Mehrheitsführung, die mittels gewachsener institutioneller Macht die Agenda im Gesetzgebungsprozess setzen (Rohde 1991; Cox und McCubbins 2005). Dies zeigt sich beispielsweise in der Besetzung von Ausschusspositionen, die nicht mehr entlang des Senioritätsprinzips von erfahrenen Kongressmitgliedern besetzt werden, sondern vielmehr Ausdruck der Loyalität gegenüber der Parteiführung sind (Theriault 2006, S. 12). Die einfachen Abgeordneten sehen sich einem zunehmenden Druck durch die eigene Parteiführung ausgesetzt bei gleichzeitig steigenden Aufstiegsmöglichkeiten in den Ausschüssen. Die Konsequenz ist ein stärker an der Position der Parteiführung orientiertes Abstimmungsverhalten. Ein weiteres Beispiel für die Macht der Mehrheitsführung ist die nach dem 59. Sprecher des Repräsentantenhauses, Dennis Hastert (R-IL) (1999–2007), benannte Hastert-Rule. Sie folgt dem Credo „Thou shall not aid bills that will split thy party“ (Cox und McCubbins 2005, S. 24). Gesetzesentwürfe, die nicht die Mehrheit der Mehrheitspartei erreichen, so die Konsequenz, werden in der Regel erst gar nicht in den Gesetzgebungsprozess eingebracht. Trotz einer ähnlich gestiegenen Polarisierung wurden im Senat keine institutionellen Änderungen in vergleichbarer Weise vollzogen. Aus Sicht mancher Beobachter schwächt dies die Erklärungskraft institutionellen Wandels als Triebfeder politischer Polarisierung (McCarty et al. 2006, S. 53). Allerdings veränderte sich die Verwendung bereits bestehender Regelungen und Prozeduren. Dabei spielt der als den Kompromiss über die Parteilinien hinweg befördernder Minderheitenschutz vorgesehene Filibuster eine zentrale Rolle. Diese Regelung ermöglicht es einer Minderheit von 41 Senatoren im 100 Mitglieder umfassenden Senat, die Debatte über einen Gesetzentwurf zu verzögern und mittels Dauerredens, zusätzlicher Gesetzeszusätze oder Abstimmungen den gesamten Senat in seiner Arbeitsfähigkeit erheblich einzuschränken. Die Beendigung eines solchen Dauerredens kann ledig-

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lich durch die Zustimmung einer Supermehrheit von mindestens 60 Senatoren zu einer Cloture Motion erfolgen. Für die Mehrheitsvertreter bietet Letztere die Möglichkeit, die Opposition als Blockierer zu brandmarken. Für Senatoren der Minderheitspartei wiederum eignen sich solche prozeduralen, also nicht direkt zu einem Gesetz führenden Abstimmungen besonders für Loyalitätsbeweise an die Parteiführung (Sirakov 2018, S. 307). Nicht zuletzt die geringere öffentliche Aufmerksamkeit von prozeduralen Abstimmungen öffnet rhetorische Spielräume: „For members who want to stay ‚on the team‘ the solution is clear: Criticize your party’s extremists, pay lip service to bipartisanship and vote for the eventual compromise when the leadership decides to bring it to the floor. But do not force the leader’s hand or undermine his position“ (Karol 2013, Hervorhebung im Original).

Der ursprüngliche Kompromisscharakter des Filibuster wurde in den vergangenen Jahren auch formell schrittweise ausgehöhlt. Angesichts der Blockadehaltung der Republikaner bei der Bestätigung wichtiger politischer Positionen und von Richtern der Bundesgerichte schränkte die Demokratische Mehrheit das Erfordernis einer Supermehrheit im 113. Kongress (2013–2015) deutlich ein. Lediglich die Bestätigung von Richtern für den Supreme Court konnte seitdem durch den Filibuster aufgehalten werden. Die Republikaner ihrerseits nahmen die als Nuclear Option bezeichnete Einschränkung des Filibuster im 115. Kongress (2017–2019) in Angriff, nachdem sie in den Wahlen 2016 nicht nur die Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses stellten, sondern mit Donald Trump auch das Weiße Haus gewannen. Im Zuge der Berufung des sehr konservativen Richters Neil Gorsuch kam es aufgrund einer fehlenden 60-Stimmenmehrheit zur Senkung der notwendigen Mehrheit bei der Bestätigung von Supreme Court-Richtern auf 51 Stimmen. Ein weiterer die Polarisierung im Senat antreibender Aspekt betrifft die politische Sozialisation von Senatoren. Im Mittelpunkt stehen dabei ehemalige Republikanische Abgeordnete, die unter der Führung Newt Gingrichs in den 1990er-Jahren in das Repräsentantenhaus gewählt wurden und sich bereits zu jener Zeit durch eine sehr konservative Haltung auszeichneten. Viele dieser Abgeordnete vertreten inzwischen als Senatoren ihren Bundesstaat und tragen aufgrund ihrer im Vergleich zu ihren Republikanischen Kollegen deutlich konservativeren Haltung zur Polarisierung im Senat entscheidend bei. Sean Theriault (gemeinsam mit Theriault und Rohde 2011; Theriault 2013) nennt die 33 Senatoren mit Blick auf ihren Werdegang „Gingrich Senators“. Ein noch stärker an strategischen Gesichtspunkten orientiertes und den gesamten Kongress betreffendes Argument wird von Frances Lee (2009) vorgebracht, die den anwachsenden ideologischen Abstand der Parteien im Kongress nicht ausschließlich auf primär ideologische Unterschiede zurückführt. Das rationale Interesse von Parteien, die Kontrolle über wichtige Institutionen zu erringen, auszubauen und zu verteidigen, stelle eine plausiblere Erklärung dar (Lee 2009, S. 18). Um diesen Machtgewinn zu erreichen, braucht es einer offensichtlichen Unterscheidbarkeit der Parteien. Den daraus erwachsenden Effekt bezeichnet Lee als Teamsmanship, eine engere Zusammenarbeit von Parteikollegen und der Bildung einer Schicksalsgemeinschaft von Amt und Partei, welche nicht nur zur Vertiefung der ideologischen Gräben

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in dafür anfälligen Themen führt, sondern sich auch bei Entscheidungen auswirkt, die traditionell als nicht ideologisch aufgeladen gelten wie beispielsweise die Erhöhung der Schuldenobergrenze (Lee 2009, S. 154). Dies führt letztlich zu einer Verstärkung der Polarisierung, die zum Teil auf ideologieferne Überlegungen in den Parteien zurückgeht. In ihrem aktuellen Buch führt Lee (2016) diese Überlegungen weiter und zeigt anschaulich, dass sich historisch betrachtet das Streben nach bipartisanship für die Republikaner – insbesondere im Repräsentantenhaus – nicht in Wahlsiegen auszahlte. Vielmehr war es das Verkörpern einer Fundamentalopposition, das sich in Wahlsiege 1995 (unter Führung Newt Gingrichs) und 2010 (mit John Boehner (OH) an der Spitze) übersetzen ließ. Der nächste Wahlkampf bestimmt demnach deutlich stärker die politische Praxis im Kongress als ideologische Überlegungen. Im Kern ähnlich ideologiefern ist eine letzte hier zu erwähnende Polarisierungsursache innerhalb des Kongresses. Wie eingangs beschrieben, ist der Entscheidungsbildungsprozess in den USA aufgrund der strukturellen Eigenschaften auf Kompromisse und mithin auf parteiübergreifende Initiativen angewiesen. Sie sind zumeist nur erreichbar, wenn die Abgeordneten und Senatoren über genügend Möglichkeiten und Zeit verfügen, an demselben Ort zu sein: nämlich in Washington (DC). So profan dies klingen mag, so wichtig ist es für den notwendigen Austausch zwischen den Kongressmitgliedern, insbesondere über die Parteilinien hinweg. Doch die Zeit hierfür sank seit den 1980er-Jahren zusehends (dazu ausführlich Mann und Ornstein 2006, S. 169–179).

4

America’s Political Crisis? Eine Schlussbetrachtung

Während die parteipolitische Polarisierung im US-Kongress weitgehend unumstritten ist, zeigt die Darstellung der Ursachen hierfür eine kaum überschaubare Vielfalt an sich zum Teil widerstreitenden Erklärungsmustern mit ganz unterschiedlicher Erklärungsreichweite. Da sich dabei allerdings nicht die eine alles erklärende Variable identifizieren lässt, wird die Multidimensionalität des Problems für das politische System der USA augenscheinlich. Faktoren auf gesellschaftlicher wie politischinstitutioneller Ebene tragen in einem komplexen Wechselspiel dazu bei, dass die Funktionalität des Entscheidungsprozesses in den USA empfindlich gestört ist. Dabei war die stärkere Unterscheidbarkeit der beiden politischen Parteien über lange Zeit ein vornehmlicher Wunsch der US-amerikanischen Politikwissenschaft. In einem Bericht der American Political Science Association (APSA) aus dem Jahr 1950 wurde die programmatische und ideologische Nähe der Republikaner und Demokraten kritisiert und darauf hingewiesen, dass in den USA politische Parteien „with a proper range of choice between alternatives of action“ (APSA 1950, S. 1) fehlen würden. Hierzu wurde ein stärkeres Gegeneinander beider Parteien empfohlen, um der Öffentlichkeit mögliche Politikalternativen deutlicher zu machen. 63 Jahre später leitet die APSA ihren Report „Negotiating Agreement in Politics“ mit einem Plädoyer für mehr Konsens ein: „The United States used to be viewed as a land of broad consensus and pragmatic politics in which sharp ideological differences were largely absent; yet today politics is dominated by

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intense party polarization and limited agreement among representatives on policy problems and solutions“ (Mansbridge und Martin 2013, S. vi).

Dies illustriert das Dilemma, mit welchem das politische System in den USA zu kämpfen hat. Einerseits ist die Unterscheidbarkeit der Parteien für den politischen Ideenwettbewerb und mithin den Wähler von zentraler Bedeutung. Andererseits erfordert die bestehende institutionelle Struktur der sich gegenseitig kontrollierenden Gewalten (checks and balances) Kompromisse und Koalitionen über Parteigrenzen hinweg, um notwendige politische Entscheidungen herbeizuführen. Zu einer Krise für das politische System kommt es dann, wenn die Unterscheidbarkeit zu Lasten der Kompromissfähigkeit geht. Das ideologische Auseinanderdriften von Demokraten und Republikanern im amerikanischen Kongress macht dies überaus deutlich. Ferner besteht die Gefahr der Zementierung dieser in den 1960er-Jahren begonnenen und sich insbesondere seit den 1990er-Jahren verstärkenden Entwicklung, wenn sich die politischen Polarisierungstendenzen nicht nur weiter im Abstimmungsverhalten der Kongressmitglieder niederschlagen, sondern eben auch in den institutionellen Regeln und Prozeduren sowie vor allem in den Einstellungsmustern der Wählerschaft. Die Umkehr dessen wird wahrscheinlich ähnlich viel Zeit in Anspruch nehmen. Das Aufkommen des Rechtspopulismus in Person des 45. Präsidenten der USA, Donald Trump, trägt seinerseits ebenfalls zur Polarisierung bei. Seine polarisierende, den politischen Gegner de-legitimierende Rhetorik, gepaart mit hohen Zustimmungsraten bei der Republikanischen Wählerschaft und einer ähnlich breiten Unterstützung bei den Republikanern im Repräsentantenhaus und Senat vertieft die Gräben in der amerikanischen Politik und Gesellschaft (Sirakov 2020). Doch wie kann der parteipolitischen Polarisierung begegnet werden? Für einen Wandel innerhalb der Parteien und hier vor allem der Republikaner bedarf es eines deutlich größeren Anteils an moderaten Wählern und letztlich dem Aufbrechen der heute zu beobachtenden engeren Verbindung zwischen Parteiidentifikation und ideologischer Position. Allerdings zeigen die Wiederwahlerfolge der besonders konservativen Abgeordneten und Senatoren in den Kongresswahlen 2014 und 2018 die weiterhin vorhandene konservative und eine polarisierende Politik mitunter befürwortende Wählerbasis. Und nicht zuletzt der Wahlsieg Donald Trumps 2016 macht diesen Umstand augenscheinlich. Vor diesem Hintergrund sind schnell wirksame Lösungen kaum zu erwarten. Die kommenden Wahlen und Kongresse werden zeigen, ob und in welchem Maße sich die parteipolitische Polarisierungstendenzen verstärken und es zu einer fortschreitenden Dysfunktionalität des amerikanischen politischen Systems kommt. Der von Hunter (1991) beschriebene „Culture War“ ist hingegen noch nicht zu beobachten. Verglichen mit den Zeiten höchster Polarisierung in den USA, nämlich dem Bürgerkrieg (1861–1865), wirken die demokratischen Regelungsmechanismen im Austragen von politischen und ideologischen Konflikten weitgehend. Noch – ist man angesichts der Attacken Donald Trumps auf die demokratischen Institutionen versucht zu sagen. Zu großem Optimismus gibt es angesichts der Entwicklungen der vergangenen Jahre daher keinen Anlass.

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Parteien Mehr als nur Wahlkampfmaschinen Maik Bohne und Torben Lütjen

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Zur historischen Entwicklung des US-amerikanischen Parteiensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Das Drei-Sphären-Modell amerikanischer Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

US-amerikanische Parteien gelten immer noch als die große Ausnahme im Vergleich mit ihren europäischen Pendants: Demokraten und Republikaner sind keine organisationsstarken Mitgliederparteien, sie agieren primär als Wahlkampfvehikel und gewinnen ihr Selbstbewusstsein nicht aus intensiv erarbeiteten Parteiprogrammen. Gleichzeitig jedoch zeigt sich ein anderes Bild: Das Parteiensystem ist stark polarisiert, die ideologischen Unterschiede zwischen Demokraten und Republikanern treten so deutlich wie nie in der jüngeren Geschichte des Landes hervor. Und schließlich sind beide Parteiorganisationen heute finanziell sehr gut ausgestattet und in ein dichtes Netzwerk von Beratern, Wahlkampfinitiativen und Interessengruppen eingewoben. Dieses Netzwerk ermöglicht es ihnen aktuell, eine neue organisatorische Stärke zu entwickeln und eine tiefere gesellschaftliche Verankerung als noch vor wenigen Jahrzehnten zu erreichen.

M. Bohne (*) Policy Fellow, Das Progressive Zentrum, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] T. Lütjen Institut für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung, Heinriche-Heine Universität Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_17

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M. Bohne und T. Lütjen

Schlüsselwörter

Parteien · Polarisierung · Ideologie · Parteiorganisation · Party Spaces

1

Einleitung

Kandidaten stehen im Mittelpunkt US-amerikanischer Politik, nicht Parteien. So hat es den Anschein, wenn Beobachter aus Europa auf den derzeitigen Zustand des politischen Systems in den USA blicken. Die mediale Berichterstattung, das Auf und Ab der politischen Auseinandersetzung, der beginnende Präsidentschaftswahlkampf: alles deutet daraufhin, dass es Personen sind, die den Takt des politischen Geschehens vorgeben, nicht Parteien – allen voran der medial überpräsente und populistisch agierende US-Präsident Donald Trump (vgl. u. a. Kivisto 2017). Gleichzeitig sind Demokraten und Republikaner wichtige Bestandteile von zwei sich diametral gegenüberstehenden politischen Lagern – hier die konservative Bewegung, dort die links-liberale Aktivistenbasis. Auch die Parteidisziplin scheint in beiden Parteien so hoch wie selten zuvor, finanziell strotzen die Parteiorganisationen im Bund und in den Einzelstaaten vor Kraft. Es erscheint deshalb sinnvoll, den Einstieg in das Thema mit den zentralen Fragen zu verknüpfen, die Europäern in den Sinn kommen, wenn sie – zum Teil verwundert und perplex – auf dieses Phänomen schauen: Warum sind politische Parteien in den USA so schwer zu greifen? Was macht sie so einzigartig? Zunächst hilft hier ein Blick in die Geschichte. In der Tat war es lange ein Gemeinplatz, dass Parteien in den USA mit ihren europäischen Pendants nur schwer zu vergleichen sind. Und es ist ja wahr: Die europäische Stufenfolge – von der Honoratioren- zur Massen- und von da zur Catch-all-party – haben US-amerikanischen Parteien in dieser Art nie gekannt. Man könnte auch sagen: Sie sind über die erste Entwicklungsstufe, jene der locker organisierten Honoratioren- oder Elitenpartei, nie wirklich hinausgekommen. Bekanntermaßen kennen die US-amerikanischen Parteien nicht das Prinzip des beitragszahlenden, ordentlichen Parteimitgliedes, sie sind daher keine Mitgliederparteien. Schon den Klassikern der Parteiensoziologie galten die USA daher als die große Ausnahme (vgl. Duverger 1959). Es ist dabei nicht allein die Abwesenheit eines bestimmten Organisationstypus, der lange Zeit prägend war und die USA zum Sonderfall zu machen schien. Vielleicht noch entscheidender war, dass die Parteien jenseits des Atlantiks nicht in gleicher Weise die Träger geschlossener Weltanschauungen waren und die ideologische Spannbreite des US-amerikanischen Parteiensystems weitaus geringer erschien. Es gibt einen reichen Vorrat an durchaus verächtlich gemeinten Zitaten über die prinzipielle Prinzipienlosigkeit der US-amerikanischen Parteien. Auch hier lässt sich mit Tocqueville beginnen, der schon in den 1830er-Jahren seine ganz eigene parteienkritische These formulierte: „The political parties that I style great are those which cling to principles more than to their consequences; to general and not to especial cases; to ideas and not to men . . .. Americas has had great parties, but has them no longer“ (Tocqueville 1836, S. 223). Der zweite große europäische Amerika-Interpret, James Bryce, legte fast fünf

Parteien

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Jahrzehnte später nach: „Neither party has anything definite to say on issues; neither party has any principles, any distinctive tenets“ (Bryce 1888, S. 344). Den Höhepunkt erreichte diese Sichtweise weltanschaulicher Minimaldifferenz in den zwei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. 1950 schon erschien der Zustand des Parteienwettbewerbs der Zunft der US-amerikanischen Politologen gar so besorgniserregend, dass die American Political Science Association (APSA) in einem Report anmahnte, das Land brauche dringend Parteien, die den Wählern markantere Alternativen anböten (vgl. Rae 2007). An diesen Aufruf ist in den letzten Jahren oft erinnert worden, scheint er doch ein gutes Beispiel für die Mahnung zu sein, man solle vorsichtig mit den eigenen Wünschen umgehen – sie könnten schließlich wahr werden. Denn heute, angesichts der krassen Polarisierung zwischen Demokraten und Republikanern in Washington und anderswo im Land, würde wohl kaum jemand ein „Mehr“ an programmatischem Gegensatz einfordern. In den 1950er-Jahren glaubten in der Tat gerade einmal die Hälfte der Amerikaner, es gäbe zwischen den Parteien „wichtige Unterschiede“; 2016 waren nach den Zahlen der American National Election Study annährend 83 Prozent dieser Auffassung (NES 2016a). So hat sich auch die Schlagrichtung der Kritik am USamerikanischen Parteienwesen längst verlagert: vom Vorwurf der Beliebigkeit und mangelnder Kohärenz ist man nun zum Vorwurf – insbesondere gegenüber den Republikanern – des starren Dogmatismus gewechselt (vgl. Mann und Ornstein 2012).

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Zur historischen Entwicklung des US-amerikanischen Parteiensystems

Waren Amerikas Parteien in ihrer Geschichte wirklich so beliebig und prinzipienlos wie in solchen und anderen populär gewordenen Verallgemeinerungen dargestellt? Wie so oft hängt alles von der Perspektive ab (vgl. Verlan 2019). Nicht zuletzt John Gerring hat bereits in den 1990er-Jahren recht überzeugend argumentiert, dass das Bild prinzipieller Prinzipienlosigkeit kaum aufrecht zu erhalten ist und die US-amerikanische Politikgeschichte fast durchweg von einem dualistisch strukturierten weltanschaulichen Antagonismus durchzogen gewesen ist, in dem die Konflikte jeweils von einer der beiden großen Parteien aufgenommen wurden (vgl. Gerring 1998). Und in der Tat: Schon die Auseinandersetzungen in der Gründerzeit der USA zwischen Federalists und AntiFederalists um die Rolle der Washingtoner Zentralregierung besaßen alle Zutaten für einen weltanschaulichen Grunddissens, ausgefochten von auch sozialstrukturell klar unterscheidbaren sozialen Gruppen: auf der einen Seite die Vertreter transatlantischer Handelsinteressen um Alexander Hamilton, auf der anderen Seite die Repräsentanten agrarischer Interessen im Süden der USA um Thomas Jefferson. Die Federalists vertraten die politische Elite des Landes und suchten die weitere enge Anbindung an das Vereinigte Königreich; die Anti-Federalists, die bald als Democratic-Republican Party firmierten, sympathisierten stärker mit den egalitären Ideen der Französischen Revolution und forderten daher eine stärkere Anlehnung an Frankreich. Freilich: Um Parteien im eigentliche Sinne handelte es sich dabei zunächst kaum, sondern um Zusammenschlüsse einzelner Parlamentarier, und das Abstimmungsverhalten im

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amerikanischen Kongress orientierte sich schon damals nicht an zwei festen politischen Blöcken (vgl. Aldrich 1995); allerdings gilt die Kampagne zur Wahl Jeffersons zum Präsidenten im Jahre 1800 mit ihrer Etablierung von local chapters in den Einzelstaaten als Vorbild der späteren Parteiorganisationsentwicklung. In der Folge bewegten sich die USA auf eine Art Ein-Parteien-Monopol zu, da die schrittweise Ausweitung des Wahlrechts die Democratic-Republicans gegenüber den elitären Federalists stark bevorzugte. Von Parteienwettbewerb konnte daher im eigentlichen Sinne erst wieder die Rede sein, als sich in den 1820er- und 1830er-Jahren die Democratic-Republican Party spaltete. Die Anhänger Andrew Jacksons, des siebten Präsidenten der USA, gründeten die Democratic Party, seine innerparteilichen Gegner firmierten erst als National Republicans, dann schließlich als Whigs Party, aus der 1854 dann die Republican Party hervorging. Jedenfalls: Mit der Jacksonian Democracy der 1830er-Jahre beginnt in gewisser Weise die Blütezeit des US-amerikanischen Parteiensystems. Als nationalstaatliche Organisationen mochten sie weiter amorph sein, doch auf lokaler Ebene gelang es ihnen durch ungehemmte Patronage die öffentlichen Verwaltungen zu durchsetzen. Parteien schwangen sich dort zu den zentralen Katalysatoren der militaristic campaign auf, die ihre Wähler mit Paraden, Fackelzügen, Veranstaltungen und eigener Parteipresse an den Graswurzeln der Gesellschaft mobilisierten. Angetrieben von knappen Wahlausgängen und einer hohen Parteidisziplin im Kongress entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das, was Arthur Schlesinger als cult of parties bezeichnete (vgl. Epstein 1986, S. 5). Parteien durchdrangen die US-amerikanische Gesellschaft, sie dominierten die politische Kultur mit ihrem auf Massenmobilisierung ausgerichteten Wahlkampfstil. Nur wenige Kandidaten konnten sich in dieser Phase eine eigene Machtbasis abseits der Parteien aufbauen. Sie waren angewiesen auf die Ressourcen und Strukturen der Parteiorganisationen, ganz im Sinne des Parteivisionärs Martin Van Buren, dessen Überzeugung es war, dass „the party was to be ‚above‘ the men in it“ (Aldrich 1995, S. 266). In diese Zeit fiel auch die Entstehung der Parteimaschinen in den größeren Städten des Nordostens, der Mid-Atlantic-Region und des Mittleren Westens, die als effiziente Machtvehikel fungierten. Ihr Schmiermittel war ein ausgeklügeltes System der Patronage, das auf materiellen Anreizen für die eigenen Anhänger und Wähler basierte. Über diese materiellen Ressourcen konnte man jedoch nur verfügen, wenn man die wichtigen Regierungsämter auf lokaler und einzelstaatlicher Ebene besetzte. So entstanden sich selbst ernährende, äußerst effizient aufgebaute Parteimaschinen. Zahlreiche Autoren bewunderten die Parteimaschinen in dieser „Goldenen Ära“ für ihre organisatorische Stärke. Dominiert wurden diese party machines von ihren legendären Bossen, die in rauchgeschwängerten Hinterzimmern alle wesentlichen Entscheidungen trafen und dabei primär auf die Versorgung der eigenen Klientel achteten. Dieses System ist zu Recht von Zeitgenossen am Ende des 19. Jahrhundert als Ausdruck politischer Verfilzung und Verkrustung kritisiert worden, aber in den letzten Jahrzehnten haben Historiker auch die integrative Kraft der Patronageparteien des 19. Jahrhunderts betont, durch die Migranten effektiv in das politische System eingebunden wurden.

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Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann sich das Zeitalter der USamerikanischen Patronageparteien dem Ende zuzuneigen. Den Reformern der Progressive Era war der Parteienklüngel ein Dorn im Auge. Ihr wichtigster Reformbeitrag zur Brechung der Macht der Parteimaschinen war das Instrument der Primary – ergänzt durch die Etablierung von Meritensystemen in Behörden und die Einführung von non-partisan elections in den Kommunen: In innerparteilichen Vorwahlen sollten fortan die Kandidaten für politische Ämter ausgewählt werden. Damit war den Parteien das Monopol auf die Kandidatenauswahl entzogen, es unterminierte auch jede Form von Parteidisziplin, da es den Einfluss der Parteibosse auf die Mandatsträger untergrub. Freilich war das ein langsamer und gradueller Prozess: Die Einführung und Ausweitung des Primary-System erfolgte schrittweise und graduell und gerade in US-amerikanischen Großstädten mit hohem Emigrantenanteil erodierte die Macht der Parteimaschinen nur langsam, während sie anderswo früh gebrochen wurde (vgl. etwa Buell 2004). Allerdings soll es uns primär auch hier um die Frage gehen, inwiefern Democrats und Whigs (später: Republicans) die Heimstätten verschiedener Ideologien waren. In der herrschenden Meinung galten besonders die Parteimaschinen als besonderer Hort ideologischer Indifferenz, deren Organisationsmacht sich scheinbar umgekehrt proportional zu ihrer Programmfunktion verhielt. Zwar gab es weiterhin große, den Parteienwettbewerb strukturierende Linien: Republikaner befürworteten die industrielle Revolution, Demokraten beäugten sie mit Skepsis; Republikaner waren Merkantilisten, Demokraten Anhänger des Laissez-Faire; die Demokraten verteidigten die Sklaverei, die die Republikaner abschaffen wollten; die Demokraten standen Einwanderung aus Europa positiv gegenüber, die Republikaner beäugten den Zuzug vor allem katholischer Migranten äußerst skeptisch. Von beiden politischen Parteien wurde eine bemerkenswerte Akkumulation gesellschaftlicher Interessen geleistet. Weltanschauungsparteien im europäischen Sinne, die bemüht gewesen wären, abstrakte Ideen in einem politischen Programm mit dem Ziel gesellschaftlicher Transformation zu konkretisieren, waren sie deswegen natürlich trotzdem nicht. Das war natürlich auch der bekannten Abwesenheit einer wirklich erfolgreichen sozialistischen Bewegung oder Partei zu verdanken (vgl. Lipset und Marks 2001). Allerdings: In wirtschafts- und sozialpolitischer Hinsicht hatten die 1920er- und 1930er-Jahre dann durchaus eine klärende Wirkung. In der Auseinandersetzung um die Ursachen und die Bekämpfung der Weltwirtschaftskrise positionierten sich Demokraten und Republikaner eindeutig konträr: die Demokraten initiierten unter Franklin D. Roosevelts New Deal eine antizyklische, keynesianische Wirtschaftspolitik zur Überwindung der Depression und bauten den zuvor nur rudimentären US-amerikanischen Wohlfahrtsstaat aus. Die Republikaner hingegen fanden in der Auseinandersetzung mit den Politikern des New Deal allmählich zu einer wirtschaftsliberalen Position. Bereits damals formierte sich der entschlossen Widerstand gegen das big government der dann seit den 1960er-Jahren bis in die Gegenwart bisweilen schrille Züge entwickelte (vgl. Phillips-Fein 2009). In anderer Hinsicht jedoch blieben die Parteien fragile Koalitionen und an keiner Stelle wird das deutlicher als beim Betrachten der berühmten New Deal-Koalition, die in der Ära liberaler Vorherrschaft (1932–1968) die Demokraten zur dominanten

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Partei machte. Sozioökonomisch, doch mehr noch bei der entscheidenden Frage nach der Interventionsmacht des Staates, mochte es bedeutende Schnittmengen geben zwischen konservativen Farmern im US-amerikanischen Süden und Industriearbeiten im Nordosten oder zwischen Afroamerikanern und Katholiken. Kulturell jedoch – etwa in Fragen der Einhaltung traditioneller Moralvorstellungen und der Bedeutung der Religion für das öffentliche Leben, der Toleranz gegenüber anderen Ethnien usw. – trennten sie Welten. Nur solange solche eher kulturell bedingten Cleavages nicht politisiert wurden bzw. im politischen Diskurs sozioökonomischen Themen klar nachgeordnet waren, war die New Deal-Koalition stabil. Doch diese Konflikte brachen offen aus, als der liberale Flügel der Partei sich Anfang der 1960er-Jahre nach anfänglichem Zögern für die Anliegen des Civil Rights Movement zur Überwindung der Segregation in den Südstaaten der USA offen zeigte. Das entfremdete die Partei nach und nach von ihrer bis dato treusten Klientel: weißen Amerikanern im Süden der USA, der bis dahin als Solid South eine Bastion der Demokratischen Partei gewesen war. Im Süden vollzog sich so ein dramatischer Repräsentanzwechsel: Er wurde zur Republikanischen Hochburg, ein Prozess der allgemein mit dem Begriff des Southern Realigment bezeichnet wurde (vgl. Black und Black 2003). Das begann mit der Präsidentschaftswahl 1964, als der – für damalige Verhältnisse – erzkonservative Senator von Arizona, Barry Goldwater, die Nominierung als Kandidat der Republikanischen Partei erkämpfte. Goldwater war vor allem ein erbitterter Gegner des Civil Rights Act – gegen den damals im Kongress auch viele konservative Demokraten gestimmt hatten. Goldwater beendete die Wahl gegen den amtierenden Präsidenten Lyndon B. Johnson mit einer krachenden Niederlage und gewann nur sechs von fünfzig Bundesstaaten. Allerdings: Fast alle dieser Einzelstaaten lagen im Süden der USA. Insgesamt war die strukturelle Neuausrichtung der Wähler im Süden aber ein langsamer Prozess, der auch bei Präsidentschaftswahlen nicht immer geradlinig verlief; 1976 etwa gewann Jimmy Carter noch einmal den Süden für die Demokraten. Bei Wahlen zum Kongress und den state legislatures dauerte dieser Prozess sogar bis in die jüngste Gegenwart an: Bis in die 1990er-Jahre hinein gelang es konservativen Demokraten, hier ihre Position zu halten. Mittlerweile jedoch ist dies Geschichte und das Southern Realignment kann quasi als abgeschlossen gelten. Die Spezies des konservativen Südstaaten-Demokraten ist quasi ausgestorben. Gleiches gilt für den einst einflussreichen liberalen Ostküstenflügel der Republikanischen Partei. Das Machtzentrum der GOP liegt seitdem eindeutig im Süden und Südwesten der USA. Was für die Republikaner das Jahr 1964 war, das war für die Demokraten das Jahr 1972, als es George McGovern vom äußerst linken Parteiflügel gelang, die Nominierung der Partei zu erlangen. Die Geschichte widerholte sich: Auch McGovern ging mit fliegenden Fahnen unter, in diesem Fall gegen Richard Nixon. Aber auch McGoverns Niederlage zeitigte eine späte Dividende, da er die Angehörigen der Protestgeneration, die Babyboomers, und viele ethnische Minderheiten in seine Wählerkoalition integrieren konnte. Damals war das noch nicht mehrheitsfähig, aber langfristig sollte das den Demokraten in demographisch wichtigen Gruppen einen entscheidenden Vorteil verschaffen.

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Damit hatten sich die Fronten geklärt: Die Republikaner wurden nun zu einer konservativ-libertären Partei (eine ideengeschichtliche Verschmelzung, die in Europa in dieser Form nie stattgefunden hat) und die Demokraten zu einer linksliberalen, quasi sozialdemokratischen Partei. Den vorläufigen Endpunkt in der programmatischen Auseinanderentwicklung beider Parteien stellte die Integration evangelikaler Protestanten in die Republikanische Wählerkoalition durch Ronald Reagan 1980 dar. Die konfessionelle Spaltung zwischen Protestanten und Katholiken, die beinahe 200 Jahre den Parteienwettbewerb strukturiert hatte, verlor danach an Bedeutung. Stattdessen kam es nun zu einem Bündnis der konservativen Christen in beiden Konfessionen: jener Konflikt zwischen orthodox-traditionalistisch gegen liberal-progressive Strömungen wie James Davison Hunter ihn in seinem Buch „Culture Wars“ beschrieben hat (vgl. Hunter 1991). Mittlerweile dürfte die Frage der Religiosität die entscheidende Variable des Wahlverhaltens sein, weitaus wichtiger jedenfalls als Einkommen und Schichtzugehörigkeit. Die Ironie war wohl, dass die Politikwissenschaft den Wandel jener Jahre eher als Niedergang der Parteien interpretierte. Party in decline – das war die große These der 1970er- und 1980er-Jahre. Wie wir heute wissen waren diese Jahrzehnte eine Übergangsphase, in der alte Loyalitäten zerbröselten und man sich nicht sicher war, als wie belastbar sich die neuen Allianzen herausstellen würden Die langsame Umorientierung der Wähler mochte den Eindruck mangelnder ideologischer Stabilität erzeugen – war aber in Wahrheit aber nur ein Zwischenspiel auf dem Weg zu einem Parteiensystem und einem Elektorat mit wesentlich markanteren weltanschaulichen Konturen.

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Das Drei-Sphären-Modell amerikanischer Parteien

Gerne beschreiben Autoren Parteien in den USA als three-legged stool, als dreibeinigen Hocker. Dieses Bild prägte vor allem V. O. Key. Er teilte Parteien konzeptionell in die Bereiche party organization (Partei als Organisation in der Gesellschaft), party in government (Partei in öffentlichen Ämtern) und party in the electorate (Partei in der Wählerschaft) auf. Dieser Einteilung wollen wir – wenn auch etwas künstlich und in der Realität ineinander verschwimmend – in unserer Betrachtung folgen, um Parteien in den USA besser fassen und sie analysieren zu können.

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Party in the Electorate

Die Krisendiskussionen der 1970er und 1980er um den Zustand der USamerikanischen Parteien bezogen sich vor allem auf deren nachlassende elektorale Verankerung. In der Tat sank in jenen Jahren die Anzahl der US-Amerikaner mit Parteiidentifikationen spürbar und die Zahl der Independents – der sich keiner der beiden Parteien zuordnenden Wähler – stieg. Gleichzeitig machten immer mehr Amerikaner vom split ticket voting Gebrauch und stimmten bei gleichzeitig stattfin-

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denden Präsidentschafts- und Kongresswahlen für die Kandidaten verschiedener Parteien. So ergab sich in jenen Jahren das Bild einer weitgehenden elektoralen Destabilisierung. Kandidaten und ihre Positionen zu einzelnen Themen schienen den Wählern weitaus entscheidender zu sein als langfristige Parteibindungen oder ideologische Orientierungen. Es gibt durchaus Stimmen, die diesen Prozess des dealignment bis in die Gegenwart zu beobachten meinen (vgl. Dalton 2013). In der Tat ist die Zahl der Independents im Zeitverlauf sehr stabil. Mit aktuell 37 Prozent sind sie, legt man die Zahlen der American Election Study von 2016 zu Grunde (NES 2016a), eine ebenso große Gruppe innerhalb des Elektorats wie die Parteianhänger (partisans). Indes: Auch hier kommt es auf die richtige Einordnung der Zahlen an, und die auch in US-amerikanischen und deutschen Medien dominante These vom wachsenden und wahlentscheidenden Segment der Independents stellt sich bei genauerer Betrachtung als stark übertrieben dar. Denn in der US-amerikanischen Wahlforschung wird allen Befragten stets eine Folgefrage gestellt. Bei denjenigen, die sich als Parteigänger zu erkennen geben, wird gefragt, ob sie sich als strong oder weak partisans empfinden. Und alle Independents bekommen die Folgefrage, ob sie sich einer der beiden Parteien generell stärker verbunden fühlen – was die meisten mit Ja beantworten. Das sind dann – in der Terminologie der Wahlforscher – die Independent Leaners. Und wie Studien gezeigt haben, stimmen diese Independent Leaners mit mindestens ebensolcher Regelmäßigkeit für „ihre“ Partei wie die weak partisans (vgl. Magleby et al. 2011). Nur eine Minderheit präferiert auch auf Nachfrage keine der beiden großen Parteien. Das sind die Pure Independents oder Independent-Independents. Deren Anzahl aber ist seit den 1970er-Jahren tendenziell gesunken und hat sich bei 15 Prozent (NES 2016b) eingependelt. Und entscheidend ist: Es handelt sich bei Ihnen in der Regel gerade nicht um den Typus des aufgeklärten Wählers, der kühl und sachlich die politischen Positionen von Demokraten und Republikanern vergleicht und danach seine Wahlentscheidung trifft. Die Pure Independents sind in der Regel nur unterdurchschnittlich politisch informiert. Zudem sind sie weniger engagiert und neigen deutlich häufiger zur Wahlenthaltung. Nimmt man zu diesen Befunden hinzu, dass in der Gruppe der Parteianhänger wiederum vor allem die Zahl der strong partisans von 30 Prozent im Jahr 1994 auf 37 Prozent im Jahr 2016 messbar angestiegen ist, dann ergibt sich eindeutig das Bild einer verstärkten Bindung der US-amerikanischen Wähler an die beiden großen Parteien. Schließlich untermauen auch andere Befunde die These zunehmender Stabilität des Wahlverhaltens im Zeitalter ideologisch aufgeladener Polarisierung. Abgenommen hat zum Beispiel das bereits erwähnte split ticket voting. In den 1970er-Jahren war diese Praxis der Stimmenvergabe an Kandidaten unterschiedlicher Parteien auf ihrem Höhepunkt, um seitdem relativ stetig abzunehmen (vgl. Stonecash et al. 2003; Skelley 2018). Auch auf bundesstaatlicher Ebene spielt Parteiidentifikation heute eine größere Rolle als in der Vergangenheit. In immer mehr Bundesstaaten ist die Einparteiendominanz, die one party rule, heute wieder zur Regel geworden. Desweiteren korrelieren heute viel stärker als in der Vergangenheit Parteiidentifikation und ideologische Selbsteinordnung. Insbesondere aufgrund des starken regionalen Faktionalismus in beiden Parteien hatten Demokraten wie Republikaner

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als Big Tent-Parteien stets konservative wie liberale Wählergruppen unter ihrem Banner vereint. Das bekannteste Beispiel waren natürlich auch die konservativen Südstaatenwähler, die den Demokraten ihre Stimme gegeben hatten. Im Laufe der letzten Jahrzehnte jedoch sind sowohl konservative Demokraten wie liberale Republikaner zunehmend zur bedrohten Spezies geworden. Heute wählen z. B. knapp 90 Prozent der sich als konservativ etikettierenden US-Amerikaner Republikanisch und ebenso sieht es beim Zusammenhang zwischen liberalen politischen Anschauungen und der Wahl der Demokratischen Partei aus (vgl. Levendusky 2009; Exit Polls 2016). Für die Stabilisierung des Wahlverhaltens spricht außerdem die zunehmende räumliche Konzentration der US-amerikanischen Wähler: immer mehr Regionen des Landes werden von einer Partei quasi hegemonial beherrscht. Dies ist zum einen ablesbar an den Wahlbezirken zur Wahl des Repräsentantenhauses, wo die Zahl der umkämpften Wahlkreise stark gesunken ist: Gerade einmal ein Viertel der Wahlkreise gelten hier noch als competitive. Amtsinhaber haben mithin eine hohe Chance auf eine Wiederwahl, im Rahmen der Kongresswahlen 2018 lag diese Quote bei 92,5 Prozent (OpenSecrets 2018a). In diesem Fall allerdings bleibt zumindest umstritten, ob nicht Praktiken des künstlichen Zuschneidens der Wahlkreise, das sogenannte gerrymandering, für diesen Verlust an politischem Wettbewerb verantwortlich sind. Allerdings zeigt sich dieser elektorale Homogenisierungsprozess auch in geographischen Einheiten, die solchen Manipulationstechniken nicht ausgesetzt sind und deren Grenzen im Zeitverlauf stabil geblieben sind, etwa bei den US-amerikanischen Counties, vergleichbar den deutschen Landkreisen. Hier hat sich die Zahl sogenannter landslide counties bei Präsidentschaftswahlen – counties bei denen der Unterschied zwischen dem Demokratischen und Republikanischen Wettbewerber 20 Prozentpunkte oder mehr beträgt – seit den 1970er-Jahren praktisch verdoppelt. Und wie manche US-amerikanische Sozialwissenschaftler und Publizisten vermuten, ist dieses zum Teil das Resultat bewusster, inneramerikanischer Migrationsprozesse: US-Amerikaner achten bei der Wahl ihres Wohnortes zunehmend darauf, dort mit politisch und kulturell Gleichgesinnten zu leben und zu verkehren (vgl. Bishop 2008; Hawley 2014). Betrachtet man die verlässlichsten Wählergruppen der beiden Parteien nach sozio-strukturellen Merkmalen, so ergibt sich ein durchaus vielschichtiges und komplexes Bild. Am eindeutigsten ist der Zusammenhang zwischen ethnischer Zugehörigkeit und Parteiwahl: Bei praktisch allen Minderheiten besitzen die Demokraten hier einen Vorsprung. Am deutlichsten ist die Nähe der Afro-Amerikaner zu den Demokraten. 2016 erhielt Hillary Clinton 89 Prozent ihrer Stimmen in diesem Wählersegment. Aber auch bei mittel- und lateinamerikanisch und asiatisch stämmigen Wählern genießen Demokraten einen deutlichen Vorsprung. Freilich scheint die Dominanz der Demokraten in den beiden letztgenannten Fällen nicht annährend so zementiert zu sein. George W. Bush war es schließlich 2000 und 2004 noch gelungen, im wachsenden Wählersegment der Hispanics, von denen viele bei gesellschaftspolitischen Themen eher konservative Positionen einnehmen, annährend Parität herzustellen. Im Gegenzug sind die Republikaner mittlerweile zur Mehrheitspartei des Weißen Amerika geworden. Donald Trump gewann im Segment

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der weißen Wählerschaft 57 Prozent der Stimmen, Hillary Clinton kam auf 37 Prozent. Freilich geben sich auch Republikanische Parteistrategen wenig Illusionen hin: Auch weil es sich um eine schrumpfende Gruppe handelt (bis schätzungsweise 2050 wird sie nur noch den Status der größten Minderheit haben), wird das Wachstum hier naturgemäß an seine Grenzen stoßen. Die Grand Old Party (GOP) zeigt sich unter Trump von diesem Trend jedoch unbeeindruckt. Die aktuelle Strategie scheint es zu sein, auf die möglichst umfangreiche Mobilisierung politisch konservativ eingestellter Segmente der weißen Wählerschaft in den USA zu setzen, insbesondere im Mittleren Westen, dem ehemaligen rust belt und in den Südstaaten (vgl. Jacobson 2017). Komplizierter ist es bei der Einkommensverteilung bzw. dem soziökonomischen Status. Grundsätzlich gilt zwar hier, dass mit steigendem Einkommen auch die Wahrscheinlichkeit steigt, Republikanisch zu wählen und die Demokraten einen relativ klaren Vorsprung bei US-amerikanischen Wählern besitzen, die unter 50.000 Dollar im Jahr verdienen. Und doch überschneiden sich gerade hier eine Vielzahl anderer Faktoren. Insbesondere die Arbeiten des Politikwissenschaftlers Andrew Gelman haben sich dabei dem auf den ersten Blick verblüffendem Umstand gewidmet, dass die Demokraten zwar im nationalen Durchschnitt die Stimmen der ärmeren Amerikaner auf sich vereinen – gleichzeitig aber die ärmsten Bundesstaaten Republikanische Hochburgen sind. Wie passt dieses zusammen? Gelman erklärt dieses durch den Umstand, dass ärmere US-Amerikaner in Republikanisch dominierten Regionen oft ihre konservativen Wertvorstelllungen höher gewichten als sozialstaatliche Unterstützung. So scheinen kulturelle und regionale cleavages sehr viel mehr zum Verständnis des US-amerikanischen Wahlverhaltens beizutragen als Fragen der Einkommensverteilung (vgl. Gelman 2010). Insgesamt besteht damit kein Zweifel, dass sich das politische System der USA heute wieder „in an era of vibrant partisanship“ (Bartels 2000, S. 44) – in einer Ära der lebendigen Parteilichkeit – befindet. Ein bipolares politisches Klima ist entstanden, das auch die Vereinigten Staaten, die auf eine lange Tradition des konkurrierenden Zweiparteiensystems zurückblicken können, in dieser Tiefe und Form noch nicht erlebt haben.

3.2

Parties in Government

Als prominente US-amerikanische Politikwissenschaftler wie E. E. Schattschneider in dem bereits erwähnten APSA-Report von 1950 einen weltanschaulich klarer abgegrenzten Parteienwettbewerb forderten, da ging es ihnen nicht um die Programmfunktionen der Parteien als Selbstzweck. Vielmehr sollten Parteien imstande sein, die vorgeschlagenen Programme auch in die politische Realität zu übersetzen. Responsible party government – das war die vorgeschlagene Therapie, um eine stärkere Zurechnung von politischem Programm und Regierungshandeln zu erreichen. Parteien sollten nicht nur die gesellschaftlichen Interessen durch ihre Programme besser und markanter artikulieren, sondern auch für deren stringente Umsetzung sorgen und die Transmissionsriemen eines ansonsten äußerst fragmentierten

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politischen Systems sein – ein Gedanke, der zur Zeit des APSA-Reports aufgrund der Heterogenität der Kongressfraktion unwahrscheinlich erschien. Traditionell konnten Präsidenten bei der Durchsetzung ihrer Agenda kaum auf ihre eigene Partei setzten, denn die party in congress war ideologisch und geographisch keine homogene Einheit. Doch selbst wenn es hier genügend Rückhalt gegeben hätte: Da divided government – also der Umstand, dass Präsident und Kongressmehrheit von unterschiedlichen Parteien gestellt wurden – in den USA zumindest für die Zeit nach 1950 eher die Regel als die Ausnahme war, wäre auch dieses kaum ausreichend gewesen, hinreichende Unterstützung zu erfahren. Im US-amerikanischen Regierungssystem ist Macht bekanntermaßen stets fragmentiert, konnte, jenseits exzeptioneller Krisenzeiten (man denke an Roosevelts atemlosen und rasanten ersten 100 Tage im Amt), nie durchregiert werden, sondern mussten in zähen Aushandlungsprozessen immer neue politische Konstellationen und Koalitionen zur Durchsetzung von politischen Ideen gebildet werden. Dennoch spekulieren heute nicht wenige Politikwissenschaftler, ob nicht die Forderungen nach responsible party government heute beinahe erfüllt sind. Manches mag auf den ersten Blick dafürsprechen: Bei wichtigen Abstimmungen votieren die Mitglieder der republican conference oder des democratic caucus, wie die Fraktionen der Parteien im Kongress genannt werden, heute extrem einheitlich. Die Abstimmung entlang der Parteilinien (party voting) ist heute bei wichtigen Gesetzesvorhaben die Regel (s. Morone und Kersh (2017); Gitelson et al. 2017). Das ist messbar: Die Zahl der Parlamentarier, die mit der Linie ihrer Partei stimmen, ist von ca. 70 Prozent in den 1970er-Jahren auf heute über 90 Prozent gestiegen und erreicht damit Dimensionen von Fraktionsdisziplin, wie wir sie eigentlich nur aus parlamentarischen Regierungssystemen kennen (vgl. McCarty et al. 2006). Der Poole/Rosenthal DW-Nominate, ein gängiger Maßstab für die Bestimmung ideologischer Polarisierung im Kongress, deutet auf ähnliche Tendenzen hin. Lag die durchschnittliche programmatische Abweichung zwischen Demokraten und Republikanern 1973–1974 bei 0,4 (House of Representatives) bzw. 0,5 Standardpunkten (Senate), so liegen die Abgeordneten in beiden Häusern heute mehr als 0,9 Punkte auseinander. Konnte man in der moderaten Grauzone zwischen dem liberalsten Republikaner und dem konservativsten Demokraten vor 35 Jahren noch 252 Repräsentanten und 40 Senatoren zählen, so fehlt diese Mitte heute nahezu komplett (vgl. McCarty et al. 2006, S. 1 ff.; Theriault 2008, S. 499). Auch das Amt des Präsidenten hat sich vor diesem Hintergrund immer stärker in Richtung einer partisan presidency verändert. In einem stark parteipolarisierten Umfeld entfernt sich der Präsident – gewollt oder ungewollt – von seiner ihm zugedachten Funktion der nationalen Integrationsfigur, die politische Kompromisse zum Wohle des Landes schmiedet und als eine Art überparteiliche Galionsfigur über den parteipolitischen Ränkespielen im Kongress schwebt (vgl. Milkis und Rhodes 2012). Insbesondere in den 2000er-Jahren ist diese Funktion ganz bewusst von Präsident George W. Bush geschwächt worden, als er in der Lage war, eigene Parteimehrheiten im Repräsentantenhaus und im Senat ganz gezielt und straff für die Umsetzung Republikanischer Politik zu nutzen (vgl. Sinclair 2006, S. 234–254). Auch Barack Obama bekam die beharrenden Kräfte der Polarisierung in seiner

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Regierungszeit deutlich zu spüren. Angetreten als ein Präsidentschaftskandidat, der nicht für das blaue (demokratische) oder rote (Republikanische) Amerika, sondern ausschließlich für die Vereinigten Staaten von Amerika Politik machen wollte, sah er sich schnell einer geschlossenen Opposition der Republikanischen Abgeordneten im Repräsentantenhaus und im Senat gegenüber, die ihn auf die Unterstützung seines eigenen Lagers zurückwarf (vgl. Thurber 2011). Auf die Spitze hat diese Entwicklung der aktuelle Präsident Donald Trump getrieben. Er scheint seine politische Kraft allein aus den knapp 90-prozentigen Zustimmungswerten bei der eigenen Parteibasis ziehen zu wollen, äußerst selten adressiert er das Bild eines Präsidenten, der über den Parteien steht und auf Kooperation setzt (Gallup 2019). So gesehen spielen Parteien heute gewiss eine wichtigere Rolle als dieses in den meisten Perioden der US-amerikanischen Geschichte der Fall war. Und doch: Um party government im europäischen Sinne handelt es sich natürlich dennoch nicht. Denn Institutionen sind zwar nie immun gegen politische Zeitumstände, aber eben auch nicht beliebig überformbar. Denn all die Polarisierung hat ja an grundsätzlichen Parametern des US-amerikanischen Regierungssystems nichts geändert: Die Gewalten bleiben getrennt und nicht fusioniert wie in europäischen parlamentarischen Systemen, weswegen ein Präsident anders als ein Premierminister oder Kanzler nicht grundsätzlich auf eine eigene Parlamentsmehrheit bauen kann. Doch noch wichtiger: Allen ideologischen Homogenisierungsprozesse zum Trotz bleiben amerikanische Abgeordnete in erster Linie ihrem Wahlkreis verpflichtet, woraus sich potenziell divergierende Loyalitäten ergeben können. Problematisch ist fraglos, dass die Architektur des US-amerikanischen Regierungssystems für die aktuelle Form der Parteipolarisierung denkbar schlecht ausgestattet zu sein scheint. Gerade in Zeiten des divided government scheint politischer Stillstand – sogenannter gridlock – die Folge zu sein. Überdies legen Studien den Schluss nahe, dass in Zeiten der Polarisierung die Partei, die nicht den Präsidenten stellt, in ihrer Opposition grundsätzlich geschlossener agiert als die Präsidentenpartei in ihrer Unterstützung von Gesetzesinitiativen (vgl. Layman et al. 2006). Ein Verlust an Vertrauen in die politischen Institutionen, wenngleich aus ganz anderen Gründen, ist daher auch auf der anderen Seite des Atlantiks sehr präsent: Das starke Obstruktionspotenzial der Opposition führt zu dem Eindruck, dass Washingtons Politiker statt an Problemlösung eher an ideologischen Grabenkämpfen interessiert seien.

3.3

Party Organizations

Die Bedeutung des Terminus Parteiorganisation ist in den USA weiterhin eine substanziell andere als in Europa. Der Verfassungsrahmen und die darin gelebte politische Kultur haben einen originären Parteitypus hervorgebracht, der sich seit über 200 Jahren in einem äußerst spannenden Prozess des party change befindet. Die Folge dieses ständigen Wandels: Für Parteiforscher ist es enorm schwierig, den organisatorischen Charakter von US-amerikanischen Parteien treffend zu beschreiben, denn bis heute treten sie strukturell sehr diffus auf, sind in ihren Zielen oft widersprüchlich und in ihrer Gestalt schwer zu greifen.

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Lange Zeit wurde Parteien in den USA der Charakter von Wahlvereinen zugeschrieben, deren primäres Ziel der Gewinn von elektoralen Mehrheiten war. „A party is to elect“, so hieß es im US-amerikanischen Kontext ganz pragmatisch. Parteien galten als nötiges Vehikel im Kampf um Macht und Wählerstimmen. Diese Definition lässt sich bereits bei E. E. Schattschneider, dem führenden Kopf der frühen Politikwissenschaft in den USA, finden. Er schrieb mit Blick auf US-amerikanische Parteien ganz basal: „A political party is an organized attempt to get power“ (Schattschneider 1942, S. 35). Organisatorisch-strukturell haben Parteien in den Vereinigten Staaten eher den Charakter von lose verkoppelten Sympathisantenkreisen ausgebildet, nicht den von organisatorisch eng verknüpften Gemeinschaften oder Vereinen. In der Tat kennen die beiden Großparteien in den USA keine Mitgliedschaft im europäischen Sinne. Man sympathisiert als Bürger offen mit einer Partei. Man bekennt sich zu ihr, indem man sich als Democrat oder Republican im Wählerverzeichnis registriert. Es gibt aber kein Parteibuch, keine Mitgliedsnummer, keine regelmäßigen Beitragszahlungen, kein deutlich definiertes „Innen“ und „Außen“, keine eingrenzende Vereinsmentalität. Die Konsequenz: Parteiaktivität ist häufig von sehr episodischer Natur. Eine dauerhafte Ortsverbandsstruktur gibt es nur selten. Auch strukturierte Formen innerparteilicher Willensbildung und ein institutionalisierter Mittelbau, der Einfluss auf die Kandidatenselektion und die inhaltliche Ausrichtung der Partei hat, sind amerikanischen Parteien fremd. US-amerikanische Parteienforscher versuchten immer wieder, die organisatorische Diffusität der Parteien zu beschreiben. Erfolgreich ist hier eine neue Richtung der Parteienforschung in den USA gewesen, die auf netzwerktheoretischen Überlegungen basiert. Diese Netzwerkforscher fingen an, den Blick auf das zu öffnen, was Partei in den USA ausmacht. Sie blickten über den organisatorischen Tellerrand der formalen Parteiorganisation hinaus, indem sie ihren Forschungsgegenstand als ein offenes und fluides Beziehungsgeflecht betrachteten – als ein web of relationships –, das sich erst aus dem Zusammenspiel von offizieller Parteiorganisation und inoffiziellen Parteiakteuren in deren Umfeld ergibt. Zu diesen inoffiziellen Akteuren gehören u. a. Wahlkampfberater, etablierte Interessengruppen genauso wie temporäre Wahlkampfvehikel in Form von SuperPACs (s. unten), Geldgeber, Think Tanks, Lobbyisten oder parteinahe Medien. Diese Akteure agieren auf den ersten Blick zwar unabhängig von den festen Parteiorganisationen, neigen in einem polarisierten Umfeld aber dazu, sich parteiäquivalent zu verhalten und Allianzen mit ihr zu bilden. Jonathan Bernstein, einer der konzeptionellen Vordenker der Netzwerkparteitheorie, schreibt: „American political parties are now organizations encompassing a wide variety of partisan elements, only some of which are found within the formal party structure“ (Bernstein 1999, S. 5). Die mittlerweile empirisch belegbare These: Parteien konstituieren sich in den USA als offene Netzwerke kooperierender Akteure, die nicht mehr durch starre Grenzziehungen zwischen „innen“ und „außen“ bestimmt werden, sondern als ein permeabler Organismus mit durchlässigen Außengrenzen agieren, der das temporäre Andocken von Akteuren zulässt, ohne sie zu vereinnahmen. Bezieht man eine solche Betrachtungsweise auf Parteien, dann gelangt man zu einem fundamentalen Perspektivwechsel. Es dominiert nicht mehr

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der starre Blick auf die formelle Organisation, sondern es sind die gemeinsamen Aktivitäten von Akteuren inner- und außerhalb der Parteihierarchie, die definieren, was „Partei“ ist und wie sie agiert. Parteinetzwerke bilden sich mithin durch Zusammenarbeit, durch gemeinsame Strategiefindung und durch die Koordination ihrer Aktivitäten heraus (Bohne 2011). Am Eindringlichsten lassen sich die Parteinetzwerke der Republikaner und Demokraten in den besonders umkämpften Wahlkreisen und Einzelstaaten beobachten. Dort sind die Kandidaten nicht mehr das Zentrum des Wahlkampfes, sondern sie agieren als primus inter pares. Sie setzen zwar die Grundkoordinaten der Kampagne und sind deren Gesicht nach außen, informell sind sie jedoch in einen vitalen Parteiraum eingebettet, unter dessen Dach die unterschiedlichsten Parteiakteure ihren Beitrag zum Wahlgewinn „ihres“ Bewerbers leisten. Dieser Parteiraum lässt sich anhand des Zusammenspiels von Parteizentralen, Mandatsträgern, parteinahen Interessengruppen und Wahlkampfberatern kurz skizzieren. Parteizentralen: Eine zentrale Position im Parteiraum nehmen – eo ipso – die Parteikomitees ein. Sie haben sich heute wieder zu schlagkräftigen und finanzstarken Wahlkampfvehikeln entwickelt. Ein Beispiel: Im Präsidentschaftswahlkampf 2016 sammelten die Bundesparteiorganisationen der Republikaner und Demokraten allein zwischen 900 Millionen und 1,2 Milliarden Dollar an Wahlkampfspenden ein (OpenSecrets 2018a). Zwar besitzen Parteien als Organisationen weiterhin einen offenen Charakter. Eine nachhaltige Mitarbeiterstruktur existiert nicht; Mitarbeiter stellen sich nach dem Prinzip des in and out nur für eine kurze Zeit in den Dienst der Parteiorganisation. Insgesamt sind die Parteizentralen in Washington, D.C. im Wahlkampf aber die tonangebenden Akteure in ihrem jeweiligen Parteiraum, die ihre Kandidaten nicht nur als Service-Stationen begleiten, sondern aktiv steuernd in deren Kampagnen eingreifen – unter anderem mit Hilfe von Independent Expenditures. Unverzichtbar sind die Parteiorganisationen heute auch im Bereich der Wählermobilisierung, die sie straff aus den Parteizentralen heraus steuern, ohne aber den Freiwilligen vor Ort an der Parteibasis den nötigen Freiraum zu nehmen, mit eigenen Aktionen für ihre Kandidaten zu werben. Auf allen Ebenen des politischen Systems kämpfen die revitalisierten Parteiorganisationen buchstäblich um jede Stimme. Dies tun sie nicht nur mit Hilfe der von ihnen professionell gesteuerten Zielgruppenanalyse und -ansprache (targeting), sondern auch mit einer neuen Ausrichtung auf das alt hergebrachte grassroots campaigning (Bohne 2011). Mandatsträger: Eine wichtige Unterstützerrolle für Kandidaten spielen die gewählten Parteivertreter in Exekutive und Legislative, die ihre Ressourcen solidarisch in ihren jeweiligen Parteiraum einbringen, um Mehrheiten zu sichern bzw. zu erobern. Besonders effektiv geschieht dies im Falle der Umverteilung von Spenden, die viele „sichere“ Amtsinhaber (incumbents) in Millionenhöhe bei ihren Unterstützern einsammeln, um sie dann entweder als Direktspenden an bedürftige Kandidaten oder als „Parteisteuern“ an ihre jeweiligen Kongressparteien weiterzuleiten. Dies gilt vor allem für diejenigen Mandatsträger, die einen Sprung auf der Karriereleiter innerhalb der Partei machen wollten – sei es durch die Besetzung eines

Parteien

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Ausschussvorsitzes, eines Parteiamtes oder zur Vorbereitung einer Kandidatur für das Präsidentenamt. Wahlkampfberater: In ihrer täglichen Arbeit sind die political consultants zwar fixiert auf den individuellen Erfolg ihrer jeweiligen Kunden. Da sie sich aber ausschließlich für Klienten im Parteiraum der Demokraten oder der Republikaner engagieren, hat ihre individuelle Arbeit eine übergeordnete Dimension. Sie trägt maßgeblich dazu bei, das gemeinsame Ziel zu erreichen: den Gewinn von politischen Mehrheiten. Wahlkampfberater in den USA begreifen sich heute ohne Zweifel als Teil eines vernetzten Parteiraumes. Sie sind keine unpolitischen PR-Gurus, die ihre Arbeit an den meistbietenden Kunden verkaufen. Nur in besonderen Ausnahmefällen wechseln Berater die Parteiseiten. Wenn sie dies tun, haben sie nicht nur mit der Ächtung ihrer Kollegen zu kämpfen, sondern auch mit erheblichem Misstrauen der Kunden in ihrem neuen Parteiraum (jüngst dazu: Johnson 2017; Laurison 2019). Consultants bewegen sich geradezu wie Spinnen im vernetzten Parteiraum. Sie sind als Medienberater und Meinungsforscher für Kandidaten aktiv, agieren als Mobilisierungs- und Targeting-Experten für die Parteizentralen, sie machen Fundraising für ausgewählte Interessengruppen und produzieren die Wahlwerbung. Diese vernetzte Tätigkeit wird im jeweiligen Parteinetzwerk von circa einem Dutzend großen Wahlkampfberatungen betrieben, die nicht nur enge Beziehungen zu Kandidaten, Parteiführungen und Interessengruppen pflegen, sondern sich auch untereinander gut kennen und informell abstimmen. Genau dieser elitäre Club von Wahlkampfberatern ist es auch, der in beiden Lagern als Hüter des Wahlkampfwissens seiner Partei fungiert. Da die Fluktuation der Mitarbeiter in den Parteizentralen sehr hoch ist und die Wahlkampforganisationen der Kandidaten nach dem Wahltag schnell wieder auseinanderfallen, sind es die Chefs und leitenden Angestellten der Beraterfirmen, die über Jahre hinweg konstantes Wissen über Wahlkämpfe „ihrer“ Partei im ganzen Land akkumuliert haben. Interessengruppen: Mittlerweile hat sich eine Vielzahl von schlagkräftigen Interessengruppen und Wahlkampfinitiativen aus dem links-progressiven und dem konservativen Spektrum in die Parteiräume der Demokraten und der Republikaner integriert, die gemeinsam für den Wahlerfolg von Kandidaten „ihrer“ Parteien kämpfen. Im Wahlkampf dominieren aktuell sogenannte SuperPacs, denen es erlaubt ist, unabhängig von Kandidaten und Parteien Spenden zu sammeln und für Wahlkampfkommunikation einzusetzen – befördert von der komplexen Wahlkampfgesetzgebung in den USA (La Raja 2015). Allein im Präsidentschaftswahlkampf 2016 gründeten sich 2393 SuperPacs, die insgesamt mehr als 1,06 Milliarden Dollar in den Wahlkampf investierten (OpenSecrets 2018b). Während SuperPacs in der Regel nur einen Wahlkampfzyklus als elektorale Schnellboote aktiv sind und nach der Kampagne wieder zerfallen, integrieren sich etablierte Interessengruppen in den USA langfristiger und verlässlicher in einen der beiden ihnen programmatisch nahestehenden Parteiräume. Diese Allianzen zwischen Interessenorganisationen und Parteien sind in den USA allerdings organisatorisch schwer zu greifen, manifestieren sie sich doch äußerst selten in offiziellen Absprachen, Austauschen oder Kontaktroutinen. Aus diesen Gründen hat sich in den Vereinigten Staaten bis heute

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kein klassisches Vorfeld von Parteien herausgebildet, wie man es lange Zeit bei Volksparteien westeuropäischer Prägung beobachten konnte, sondern ein Umfeld von Interessengruppen, das zwar für die Kandidaten einer Partei kämpft, nicht aber für die Partei als Organisation mobilisiert oder mit ihr personell eng verbunden ist.

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Zusammenfassung

Was lässt sich aus alldem schließen und lernen? US-Parteien sind widersprüchliche Geschöpfe. Einerseits agieren sie heute so ideologisch polarisiert und aufgeladen wie nie zuvor in der Geschichte der Vereinigten Staaten. In der Wählerschaft sind die Bindungen zu und die Identifikation mit den Parteien stärker geworden. Auch ihre Anbindung und ihr Einfluss auf den Prozess der politischen Entscheidungsfindung sind heute so groß wie selten zuvor. So gesehen scheinen sie sich tatsächlich „europäisiert“ zu haben. Bedenkt man zudem, dass sich die Parteien in Europa seit längerem weltanschaulich entkernt haben, so scheinen sich die Verhältnisse heute beinahe in ihr Gegenteil verkehrt zu haben (Lütjen 2016). Andererseits: Schlagkräftige und geschlossene Parteimaschinen alter Prägung sind Demokraten und Republikaner nicht geworden und schon gar nicht Massenintegrationsparteien im europäischen Sinne. Parteien existieren weiterhin in Gestalt zweier informell organisierter und vernetzter Parteiräume, in denen nicht die formale Mitgliedschaft in der Partei das strukturierende Element ist, sondern die gelebte politische Leidenschaft, das Ergreifen von „Partei“, das gemeinsame Agieren für die eine oder andere politische Seite – unabhängig von formellen Grenzen und Strukturen. Das gilt umso mehr für den bevorstehenden Präsidentschaftswahlkampf im Jahr 2020. Es ist bereits heute abzusehen, dass er von beiden Lagern in den USA erneut als eine Richtungs- und Schicksalswahl deklariert wird, bei der zwei finanziell hoch gerüstete und organisatorisch flexibel agierende Parteiräume um die Seele der Vereinigten Staaten kämpfen.

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Wahlen Demokratische Teilhabe im Spannungsfeld politischer Machtinteressen Philipp Weinmann

Inhalt 1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Zum Kontext US-amerikanischer Wahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Wahlsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Wahlbeteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Wahlverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Die Vereinigten Staaten sind nicht zuletzt aufgrund ihrer langen Tradition regelmäßiger, kompetitiver Wahlen ein Vorbild für viele junge Demokratien. Zugleich werden Wahlen weitgehend von einzelstaatlichen Gesetzen reguliert, was zahlreiche Möglichkeiten schafft, diese zum eigenen machtpolitischen Vorteil zu beeinflussen. Inwiefern versuchen Politikerinnen ihre Macht durch Veränderung dieser demokratischen Spielregeln auszubauen und wie verfolgen sie ihre Interessen innerhalb dieser Regeln? Um dieser Frage nachzugehen, werden die für die demokratische Teilhabe grundlegenden Regularien des Wahlrechts, des Wahlsystems sowie der Umgang mit ihnen in der politischen Praxis vorgestellt. Dabei werden auch die Erklärungsfaktoren von Wahlbeteiligung und Wahlverhalten sowie die daraus resultierenden Anreizstrukturen behandelt. Schlüsselwörter

Wahlen · Demokratisierung · Gerrymandering · Vorwahlsystem · Realignment P. Weinmann (*) Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Helmut-Schmidt-Universität, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_16

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Einführung

Kein Land der Welt besetzt so viele öffentliche Ämter durch Wahlen und weist eine so hohe Frequenz an Wahlen auf wie die USA (Taylor et al. 2014, S. 130–132). Direkte Wahlen sind so sehr in der US-amerikanischen Kultur verankert, dass sie nicht nur auf allen Ebenen des föderalen Systems zur Bestellung der Exekutive und Legislative, sondern auch zur Besetzung vieler weiterer öffentlicher Ämter eingesetzt werden, beispielsweise für Gerichte, Staatsanwaltschaften, Sheriffs sowie lokale Schulaufsichtsbehörden. Neben der mit zwei Jahren sehr kurzen Legislaturperiode des Repräsentantenhauses wird die Frequenz von Wahlen auch durch eine US-amerikanische Besonderheit deutlich erhöht: die Vorwahlen (primaries), die ältere parteiinterne Nominierungsmethoden weitgehend abgelöst haben. Hinzu kommen schließlich noch direktdemokratische Verfahren auf einzelstaatlicher und kommunaler Ebene. Angesichts dieser umfassenden Partizipationsmöglichkeiten und ihrer langjährigen Tradition könnte man annehmen, die Spielregeln der Demokratie in Form des Wahlrechts und Wahlsystems seien in den USA überparteilich akzeptiert und der politische Kampf um die Macht spiele sich nur noch innerhalb dieses Regelwerks ab. Aus normativer Perspektive wäre dies wünschenswert: „Machtinteressen sollten in einer Demokratie genau dann nicht ins Spiel gelangen, wenn es um die Spielregeln der Machtverteilung selbst geht“ (Behnke 2015, S. 5). Denn ansonsten ist einerseits keine widerspruchsfreie Begründung demokratischer Mehrheitsherrschaft mehr möglich, andererseits dürfte die politische Legitimation erheblich leiden, da die unterlegene Seite ihre Niederlage glaubhaft auf die Geltung sie diskriminierender Regeln schieben kann. Doch entspricht dieses normative Ideal der Realität? „Wahlsystemfragen sind Machtfragen“ (Behnke 2015, S. 4) und werden normalerweise von denselben Akteurinnen entschieden, die auch alltägliche politische Auseinandersetzungen führen. Daher üben Machtinteressen politischer Eliten meist erheblichen Einfluss auf Reformen der demokratischen Spielregeln aus (für wenige abweichende Fälle: Renwick 2010). Welche Schritte unternehmen also Politikerinnen in den USA, um einerseits innerhalb des demokratischen Spiels und andererseits durch die Beeinflussung demokratischer Spielregeln Macht in Form von Ämtern, Mandaten sowie politischem Gestaltungseinfluss zu erlangen? Dieser Frage wird im Folgenden nachgegangen, wobei Politikerinnen als Amts- und Mandatsträgerinnen sowie Kandidierende bei Wahlen verstanden werden. Der Beitrag konzentriert sich dabei auf Wahlen und betrachtet jeweils zuerst die Beeinflussung der Spielregeln selbst und danach das Verhalten innerhalb dieser. Davor werden vier Eigenheiten des politischen Systems thematisiert, die Wahlen entscheidend prägen und daher für ein tieferes Verständnis essenziell sind (Taylor et al. 2014, S. 129–151).

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Zum Kontext US-amerikanischer Wahlen

Zunächst gibt das präsidentielle und bikamerale Regierungssystem einen Rahmen für Wahlen vor, der mit leichten Variationen auch in den Einzelstaaten verwendet wird. Alle vier Jahre wird der Präsident (in Einzelstaaten Gouverneur) gewählt, alle

Wahlen

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zwei Jahre das komplette Repräsentantenhaus sowie ein Drittel der für sechs Jahre amtierenden Senatoren (in den Einzelstaaten die Hälfte der meist für vier Jahre amtierenden Senatoren). Wahltag ist seit 1845 stets der Dienstag nach dem ersten Montag im November in geraden Jahren (fünf Einzelstaaten wählen in ungeraden Jahren), wodurch eine Vielzahl von Wahlen gleichzeitig und auf demselben Stimmzettel stattfindet. Die Kongresswahlen nach der halben Amtszeit des Präsidenten (midterm elections) erfahren meist eine niedrigere Aufmerksamkeit und Wahlbeteiligung (Jacobson und Carson 2016). Für den Präsidenten gilt seit dem 22. Verfassungszusatz von 1951 eine Beschränkung auf zwei Amtszeiten, ebenso wie für die meisten Gouverneure (CSG 2018). Mitglieder von Repräsentantenhaus und Senat unterliegen keinen Beschränkungen der Amtszeit, während 15 Einzelstaaten solche für ihre Abgeordneten in unterschiedlicher Höhe vorsehen (NCSL 2015). Zweitens unterscheidet sich die Struktur US-amerikanischer Parteien erheblich von der europäischer. So existieren etwa keine formale Parteimitgliedschaft und damit weder Mitgliedsbeiträge noch ein Parteiausschlussverfahren als Disziplinierungsinstrument. Die Steuerungsmöglichkeiten der Parteiführungen sind daher deutlich beschränkter, was durch die primaries noch verstärkt wird. Wahlen in den USA sind somit grundsätzlich stärker von Kandidierenden geprägt als in den meisten anderen westlichen Demokratien. Durch das präsidentielle Regierungssystem, die schwachen Parteiorganisationen und den innerparteilichen Wettbewerb in Vorwahlen müssen Kandidierende in den USA wie Unternehmerinnen selbstständig eine schlagkräftige Kampagnenorganisation aufbauen, Personal rekrutieren sowie um finanzielle Unterstützung werben (Epstein 1986, S. 273–275). Drittens hat die stark dezentrale und föderale Prägung der USA ebenfalls einen wesentlichen Einfluss auf amerikanische Wahlen. Zwar regelt Art. 1, Abs. 4 der U.S.-Verfassung, dass der Bund Gesetze erlassen kann, um Kongresswahlen zu regulieren. Von dieser Möglichkeit wurde aber nie umfassend und systematisch Gebrauch gemacht. Daher fallen alle nicht vom Bund standardisierten Bereiche des Wahlrechts immer noch in die Zuständigkeit der Einzelstaaten. Hierzu gehören zahlreiche bedeutsame Aspekte: So gibt es bis heute kein nationales Wählerverzeichnis und keine einheitlichen Regeln über das aktive Wahlrecht von Verbrecherinnen sowie geistig eingeschränkten Personen, das passive Wahlrecht für dritte Parteien, die Neueinteilung der Wahlkreise, die Registrierungspflichten für Wahlberechtigte, die Überprüfung der Identität der Wählenden, Anzahl und Öffnungszeiten der Wahllokale, das Design der Stimmzettel, Vorauswahl und Briefwahl, die Möglichkeit, durch ein Kreuz alle für die verschiedenen Ämter zu vergebenden Stimmen auf die Kandidierenden einer Partei zu vergeben (straight-ticket voting option), die Wahlmethode selbst (diverse Wahlautomaten oder Scanner), die Auszählung uneindeutiger Stimmen sowie nicht zuletzt Anfechtungs- und Klagemöglichkeiten (NCSL 2019a). Selbst offizielle Wahlergebnisse existieren nur auf Ebene der Einzelstaaten. Richard Katz resümiert daher lakonisch, dass die USA keine wirklich nationalen Wahlen hätten (Katz 2007, S. 58). Statt durch systematische nationale Gesetzgebung erfolgt schließlich ein bedeutender Teil der Weiterentwicklung und Implementierung des Wahlrechts und Wahlsystems durch die Rechtsprechung der Gerichte, da immer wieder gegen bestehende Regularien geklagt wird. Dies spielt besonders bei hochumstrittenen Materien wie

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der Wahlkampffinanzierung oder Wahlkreiseinteilung eine wichtige Rolle. Vor dem Hintergrund des mächtigen und entsprechend politisch umkämpften Supreme Courts können machtorientierte politische Akteure also auch dann gegen institutionelle Regelungen vorgehen, wenn sie sich im normalen Gesetzgebungsverfahren nicht durchsetzen konnten.

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Wahlrecht

Die Entwicklung des Wahlrechts illustriert die sukzessive Demokratisierung des politischen Systems, da die Grundsätze allgemeiner, gleicher, geheimer und direkter Wahlen erst in vielen Reformschritten realisiert werden konnten – abgesehen von wenigen Ausnahmen wie der indirekten Präsidentschaftswahl. Dabei werden auch die Machtinteressen politischer Eliten sowie der große, zumindest in diesem Bereich aber abnehmende Regelungsspielraum der Einzelstaaten ersichtlich. Gemäß Art. 1, Abs. 2 der Verfassung entspricht das aktive Wahlrecht für nationale Wahlen jeweils demjenigen für einzelstaatliche Legislativen. Kontrolliert eine Partei also die Gesetzgebung eines Staates, kann sie versuchen, sich elektorale Vorteile zu verschaffen. So kam es zu einer wechselvollen Entwicklung des Wahlrechts, die einerseits von einzelstaatlicher Initiative und deutlicher regionaler Variation, andererseits aber auch von Vereinheitlichungstendenzen geprägt war (Keyssar 2009). Ende des 18. Jahrhunderts waren aufgrund erheblicher Einschränkungen in Form von Sklaverei, damals vorherrschenden Geschlechterrollen sowie Eigentums- und Steuererfordernissen faktisch nur wohlhabende weiße Männer wahlberechtigt. Außerdem stellten die Kandidaten die Wahlzettel selbst bereit, so dass die Wahl im eigentlichen Sinne nicht geheim war. Ende der 1850er-Jahre war für weiße Männer das universelle Wahlrecht weitgehend erreicht. Nach dem US-amerikanischen Bürgerkrieg wurde es 1870 durch den 15. Verfassungszusatz zwar offiziell auf afroamerikanische Männer ausgedehnt. Jedoch errichteten bereits nach Ende der Reconstruction Era 1877 viele, v. a. südliche Staaten zahlreiche prozedurale Hindernisse, die faktisch zu einem Entzug des Wahlrechts von Afroamerikanern führten. Hierzu gehörten erstens Wahlsteuern, von denen arme Weiße teils durch sogenannte grandfather clauses ausgenommen wurden, zweitens Analphabetismustests, über deren Bestehen ein weißer Wahlbeamter entschied, sowie später drittens der Ausschluss von Vorwahlen der Demokratischen Partei (white primaries), welcher aufgrund ihrer Vorherrschaft im Süden eine ähnliche Wirkung hatte wie ein kompletter Ausschluss vom Wahlrecht. Das Progressive Movement zwischen circa 1890 und 1920 hatte mehrere Reformen zur Folge: So wurden in den 1890er-Jahren offizielle Stimmzettel eingeführt (Australian ballot genannt), die die Geheimhaltung der Wahlentscheidung gewährleisteten. Weitere Maßnahmen gegen zuvor übermächtige Parteichefs und ausgeprägten Klientelismus waren die erstmalige Einführung von Vorwahlen und Volksinitiativen, der Direktwahl der Senatoren 1913 (17. Verfassungszusatz) und des Frauenwahlrechts 1920 (19. Verfassungszusatz).

Wahlen

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Ab Mitte des 20. Jahrhunderts begann das System der Segregation zu bröckeln. Mehrere Gerichtsurteile – z. B. das Verbot von white primaries 1944 (Smith v. Allwright) – und die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung führten 1965 zum Verbot von Wahlsteuern sowie der Lese- und Schreibtests durch den 24. Verfassungszusatz und zum Voting Rights Act. Dieser etablierte erstmals eine nationale Aufsicht über Wahlgesetze und -behörden in denjenigen Landesteilen, die Rassendiskriminierung betrieben hatten. Wenn beaufsichtigte Gebiete ihre Wahlprozeduren ändern wollten, mussten sie fortan nachweisen, dass die Änderung keine rassendiskriminierende Wirkung hatte (U.S. Department of Justice 2017). Afroamerikanerinnen konnten dadurch wieder an Wahlen teilnehmen. Die Reform des Voting Rights Acts 1970 schränkte die nötige Mindestwohndauer auf maximal 30 Tage vor der Wahl ein, der 26. Verfassungszusatz senkte 1971 das Mindestwahlalter auf 18 Jahre und ab 1986 erhielten auch sich im Ausland befindende Amerikanerinnen die Möglichkeit, an Wahlen teilzunehmen. Damit war das allgemeine Wahlrecht nach heute vorherrschendem Verständnis praktisch vollständig erreicht. Wenige Ausnahmen bestehen allerdings weiter und führten 2018 dazu, dass 11 Millionen Staatsangehörige nicht wahlberechtigt waren (OSCE 2018, S. 2): Bewohnerinnen des Hauptstadtbezirks District of Columbia haben zwar 1961 das Wahlrecht für Präsidentschaftswahlen erhalten (23. Verfassungszusatz), von den Kongresswahlen sind sie aber weiterhin ausgeschlossen. Dasselbe gilt bei allen Bundeswahlen für die Bevölkerung von Überseegebieten wie Puerto Rico. Fast alle Einzelstaaten entziehen zudem verurteilten Verbrecherinnen das Wahlrecht, teilweise selbst nach Verbüßung aller Strafen (Brennan Center for Justice 2018). Dadurch waren 2016 mehr als 6 Millionen Personen nicht wahlberechtigt, wobei African Americans überproportional betroffen sind (Uggen et al. 2016) und tendenziell die Demokraten politisch benachteiligt werden (Manza und Uggen 2006). In den 2010er-Jahren kam es schließlich zu Gegenbewegungen. So war in Florida 2018 eine Verfassungsinitiative erfolgreich, die das Wahlrecht von 1,4 Millionen Personen wiederherstellte. Von diesen Ausnahmen abgesehen konzentrieren sich Wahlrechtsdebatten in der jüngsten Vergangenheit auf die Wahlorganisation, die allerdings auch entscheidenden Einfluss auf den Ausgang von Wahlen nimmt. Durch die äußerst knappe, von Pannen überschattete Präsidentenwahl 2000 rückten die teils erheblichen Wahlrechtsunterschiede zwischen Einzelstaaten oder sogar counties in den Fokus der Öffentlichkeit. Beispielsweise existierten in Florida keine einheitlichen Vorgaben, wie uneindeutige Stimmzettel auszuzählen sind. Auch variierten die Stimmzettel und Wahlmethoden zwischen den counties, wobei einige Methoden wie die Lochkarten deutlich fehleranfälliger waren (Wand et al. 2001; Voting Technology Project 2001; Wolter et al. 2003). Außerdem wurden Zehntausende, vor allem afroamerikanische Wahlberechtigte vor der Wahl von den Wählerlisten gestrichen, weil ihre Namen denjenigen von nicht wahlberechtigten Kriminellen in groben Zügen ähnelten (U.S. Commission on Civil Rights 2001; The Guardian 2001). Die notwendige Neuauszählung der Stimmen in Florida wurde schließlich bei einem Vorsprung von nur 537 Stimmen durch ein Urteil des Supreme Courts gestoppt, wodurch George W. Bush gewann (Bush v. Gore). Aufgrund des sehr geringen Abstandes

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besaß bereits jeder einzelne der aufgezählten Problemkomplexe eine potenziell wahlentscheidende Größenordnung, so dass das Ergebnis bis heute umstritten ist. Als Reaktion auf diese Probleme wurde 2002 der Help America Vote Act verabschiedet, der einige Minimalstandards etablieren und die aufgetretenen Mängel zukünftig beheben sollte. Die Einzelstaaten wurden verpflichtet, staatenweite Wählerregister zu unterhalten, Standards zur Identitätsprüfung mindestens der erstmalig Wählenden zu erlassen, die provisorische Stimmabgabe für Personen zu ermöglichen, deren Wahlrecht am Wahltag nicht sicher feststeht sowie Beschwerdeverfahren einzurichten (Burris und Fischer 2016). Außerdem wurden Subventionen für den Austausch älterer, fehleranfälliger Hebel- und Lochkartenmaschinen vergeben, so dass diese inzwischen durch elektronische Wahlmaschinen oder Scanmaschinen ersetzt worden sind. Die Implementierung variierte jedoch erneut von Staat zu Staat. Beispielsweise schreiben nur manche Staaten vor, dass Wahlcomputer den Stimmzettel für spätere Nachprüfungen zusätzlich ausdrucken. Auch die Ausgestaltung der Identitätsprüfung ist politisch sehr umstritten. Während die Republikaner diese als Schutz gegen Wahlbetrug sehen, betrachten die Demokraten sie als Mechanismus zur gezielten Ausgrenzung ressourcenschwacher Minderheiten. Restriktive Identitätsüberprüfungen wurden tatsächlich insbesondere von Republikanern in politisch umkämpften Staaten beschlossen (Hicks et al. 2015, 2016). Allerdings lässt sich bislang kein konsistenter Effekt auf die Wahlbeteiligung nachweisen (Grimmer et al. 2018; Highton 2017), was aber auch an der noch geringen Verbreitung der restriktivsten Identitätskontrollen liegen könnte. In diese Reformphase fiel zudem 2013 das Urteil des Supreme Courts Shelby County v. Holder. Demnach sind die Kriterien des Voting Rights Acts zur Auswahl der zu beaufsichtigten Landesteile verfassungswidrig. Dadurch entfällt die nationale Aufsicht solange, bis ein neues Gesetz vom Kongress beschlossen ist – was bislang nicht geschehen ist (Stand: September 2019). Unmittelbar nach der Urteilsverkündung nutzten mehrere zuvor beaufsichtigte Staaten die neue Freiheit und erschwerten den Zugang zu Wahlen z. B. durch verschärfte Identitätsnachweise, die Abschaffung der Registrierung am Wahltag oder der Vorauswahl, die Schließung von Wahllokalen oder die – missbräuchlich einsetzbare – Entfernung von nicht mehr Wahlberechtigten aus den Wählerregistern (U.S. Commission on Civil Rights 2018). So ließ 2018 der Republikanische Gouverneurskandidat in Georgia, der zugleich für die Wahlorganisation zuständig war, mittels fehleranfälliger Verfahren Zehntausende Personen von den Wählerlisten streichen – was überproportional African Americans betraf – (The Guardian 2018; Politifact 2018) und eröffnete zudem zwei Tage vor der Wahl ohne Beweise vorzulegen Ermittlungsverfahren gegen die Demokraten. Die Wahl gewann er knapp. Eine solche Instrumentalisierung der Wahlorganisation kann zumindest in knappen Wahlen einen möglicherweise entscheidenden Einfluss ausüben. So ist z. B. bekannt, dass es merkliche Auswirkungen auf den Anteil registrierter Wahlberechtigter hat, ob die Registrierung noch am Wahltag möglich ist oder spätestens 30 Tage vor der Wahl (Hall 2013). Durch die Schwächung der nationalen Aufsicht verschärfte das Supreme Court-Urteil damit die Politisierung des Wahlrechts weiter, was auch

Wahlen

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von der OSZE-Wahlbeobachtungsmission kritisiert wurde (OSCE 2018). Elf Staaten schränken sogar den Zugang von Mitgliedern der Wahlbeobachtungsmission zu den Wahllokalen ein. Auch über 200 Jahre nach Inkrafttreten der amerikanischen Verfassung ist das Wahlrecht also keineswegs unumstritten, sondern wird weiterhin – wenn auch in deutlich geringerem Ausmaß als früher – zur Gestaltung parteipolitischer Vorteile eingesetzt.

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Wahlsysteme

Auch für das Wahlsystem sind prinzipiell die Einzelstaaten zuständig. Jedoch haben sich inzwischen für fast alle Haupt- und Vorwahlen auf nationaler Ebene verschiedene Mehrheitswahlsysteme durchgesetzt. Die einzige nennenswerte Ausnahme sind die Nominierungsverfahren der Präsidentschaftskandidierenden, für die bei den Demokraten immer und bei den Republikanern in manchen Staaten Verhältniswahl mit einer allerdings sehr hohen Hürde von 15 % angewandt wird. Dennoch verbleiben v. a. durch die Wahlkreiseinteilung Spielräume für Politikerinnen, die eigene Macht abzusichern.

4.1

Kongress

Alle Vor- und Hauptwahlen zum Kongress wenden eine Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen an. Sie lassen sich in fünf Phasen gliedern (Bowler et al. 2005, S. 188–189), wobei die ersten beiden Phasen der Wahlkreiseinteilung sich nur auf Wahlen zum Repräsentantenhaus beziehen und nicht vor jeder Wahl durchzuführen sind. Für Senatswahlen, bei denen jedem Staat zwei gestaffelt zu wählende Senatoren zustehen, fungiert das gesamte Gebiet des jeweiligen Einzelstaates als Wahlkreis. 1. Alle zehn Jahre werden auf der Grundlage des Zensus die 435 Sitze gemäß den Bevölkerungsanteilen proportional auf die Einzelstaaten aufgeteilt (reapportionment) (Kalb 2016). So hatte der Zensus von 2010 unter anderem zur Folge, dass für die Wahlen 2012 bis 2020 Texas 4 Sitze und Florida 2 Sitze hinzugewannen, während New York und Ohio je 2 Sitze verloren (U.S. Census Bureau 2013). Generell gewinnen seit Jahrzehnten die südlichen und westlichen Staaten aufgrund ihres überproportionalen Bevölkerungswachstums Sitze im Repräsentantenhaus hinzu, während Staaten im Nordosten und Mittleren Westen Sitze verlieren. 2. Die Einzelstaaten sind seit 1967 per Bundesgesetz verpflichtet, so viele Wahlkreise einzurichten wie ihnen Sitze zustehen, wodurch Einerwahlkreise entstehen. Nach mehreren wegweisenden Urteilen des Supreme Courts beginnend 1962 mit Baker v. Carr dürfen die Einwohnerzahlen der einzelnen Wahlkreise nur so geringfügig wie möglich voneinander abweichen, gegebenenfalls müssen die Wahlkreise neu eingeteilt werden (redistricting). Die Urteile waren eine Reaktion auf zuvor teils erhebliche Überrepräsentationen ländlicher Gebiete und hatten zur

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Folge, dass ein solches malapportionment seitdem nicht mehr auftritt. Allerdings kommt es in großem Umfang zur politisch motivierten Beeinflussung der Wahlkreisgrenzen, dem sogenannten gerrymandering (Brennan Center for Justice 2010). Dabei gibt es zwei Strategien (Katz 2007): Beim packing werden möglichst viele Parteianhängerinnen in einem Wahlkreis versammelt, meist um Wahlberechtigte der Konkurrenz dadurch aus anderen Wahlkreisen herauszuhalten, gegebenenfalls auch, um den Wahlkreis selbst sicher zu gewinnen. Beim cracking hingegen werden Wählende einer Partei absichtlich über viele Wahlkreise verteilt, damit diese Partei überall in der Minderheit ist. Über die Einteilung entscheiden die meisten Staaten mittels eines einfachen Gesetzesbeschlusses, was bei unified government dazu führt, dass sich die Regierungspartei – mithilfe detaillierter Wahldaten und Computertechnologie – erhebliche Vorteile verschaffen kann. Einige Staaten richten zwar formal unabhängige Kommissionen ein, auf deren Besetzung beide Parteien de facto allerdings meist erheblichen Einfluss haben (NCSL 2019b; McDonald 2008). Dann kommt es häufig zur gegenseitigen Absicherung der Wahlkreise von Amtsinhaberinnen (bipartisan gerrymandering). Unabhängig vom Zustandekommen der Einteilung kann diese danach außerdem angeklagt werden, wodurch letztlich manchmal die Gerichte die Wahlkreiseinteilung festlegen. Nachdem der Supreme Court mangels eindeutiger Kriterien für parteipolitisches gerrymandering bereits lange sehr zurückhaltend war (Levitt 2018), entschied die konservative Mehrheit 2019, dass Bundesgerichte darüber nicht zu richten haben, da es sich um eine politische Angelegenheit handle (Rucho v. Common Cause). 3. In einem nächsten Schritt wird entschieden, welche Parteien zur Hauptwahl Kandidierende aufstellen dürfen, also auf den Stimmzettel gelangen. Dabei legen die Staaten fest, welche Parteien als „major party“ gelten und damit automatisch antreten dürfen und welche Bedingungen für andere Parteien gelten (meistens das Sammeln einer bestimmen Anzahl von Unterschriften). 4. Die antretenden Parteien halten dann in der Mitte des Wahljahres ihre Vorwahlen (primaries) ab. Vorwahlen sind je nach Staat unterschiedlich ausgestaltet (Maisel und Brewer 2019, S. 180–202): In den meisten Staaten wird eine relative Mehrheitswahl ( first past the post-system) angewandt, teilweise ist hingegen ein zweiter Wahlgang nötig, wenn niemand eine absolute Mehrheit erreicht. Um kandidieren zu dürfen, muss man für eine Partei registriert sein und meistens eine bestimmte Anzahl Unterschriften sammeln. Zusätzlich versuchen die Parteien, Einfluss auf die Nominierung zu nehmen. In Delaware, North Dakota und Rhode Island gelangen z. B. die von einem Parteitag gewählten Kandidierenden automatisch auf den Stimmzettel. Beim aktiven Wahlrecht gibt es zwei Grundtypen (NCSL 2019a): An geschlossenen Vorwahlen (closed primaries) können nur Wahlberechtigte teilnehmen, die sich vorher in öffentlich einsehbaren Listen für die jeweilige Partei registriert haben. Unabhängige, nicht-registrierte Wahlberechtigte sind damit ebenso ausgeschlossen wie registrierte Anhängerinnen anderer Parteien. Bei offenen Vorwahlen (open primaries) hingegen entscheiden die Wählenden geheim in der Wahlkabine, für welche Partei sie in der Vorwahl teilnehmen wollen. Die meisten

Wahlen

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Staaten wenden Mischformen an: Häufig können sich Wählende noch am Tag der Vorwahl für eine Partei registrieren, teilweise müssen sie zwar öffentlich erklären, an welcher Vorwahl sie teilnehmen, diese Entscheidung wird aber nicht dokumentiert und mancherorts dürfen zumindest nicht-registrierte Unabhängige teilnehmen. Eine Sonderform ist die top-two primary: Dabei treten alle Kandidierenden aller Parteien auf einem Wahlzettel an. Die beiden mit den meisten Stimmen erreichen die Hauptwahl. Es kann daher vorkommen, dass zwei Kandidierende derselben Partei in der Hauptwahl gegeneinander antreten. Vorwahlen dieser Art werden derzeit in Kalifornien, Washington sowie Louisiana angewandt. In Louisiana gilt dabei zusätzlich, dass wer in der Vorwahl bereits eine absolute Mehrheit erreicht, sofort gewählt ist und die Hauptwahl entfällt. Dies entspricht der absoluten Mehrheitswahl, wie sie bei Präsidentschaftswahlen in vielen Ländern, z. B. in Frankreich, angewandt wird. Die Vorwahlen haben zahlreiche Wirkungen (Hershey 2017; Maisel und Brewer 2019): Amtsinhaberinnen können auch in sicheren Wahlkreisen noch durch parteiinterne Gegenkandidierende besiegt werden, was die Anreize erhöht, keine neuen Themen oder Interessen der Wählenden zu vernachlässigen. Die Wählerschaft ist dabei jedoch eine andere. Einerseits ist die Wahlbeteiligung bei Vorwahlen nur halb so hoch. Andererseits dürfen zumindest bei geschlossenen Vorwahlen nur die eigenen Parteianhängerinnen wählen, wodurch ideologisch extremere Wählerschaften zu umwerben sind. Daher wird diskutiert, ob geschlossene Vorwahlen tendenziell zu einer verstärkten Polarisierung führen, wobei die empirische Evidenz allerdings gering ausfällt (McGhee et al. 2014). Vorwahlen können außerdem den innerparteilichen Konflikt fördern wie z. B. im Vorwahlkampf Barack Obama gegen Hillary Clinton 2008. Vor allem aber büßen die Parteien ihr Nominierungsmonopol ein. Prinzipiell kann jede oder jeder Wahlberechtigte für eine beliebige Partei kandidieren, ohne dass diese das verhindern könnte. Die (relativ) erfolgreichen Kandidaturen von Donald Trump und Bernie Sanders 2016 sind dafür Paradebeispiele. Die Parteien verlieren damit ihre Themen- und Markenhoheit und ein wichtiges Disziplinierungsinstrument. Schließlich verlängern Vorwahlen den Wahlkampf und erhöhen damit den Finanzbedarf, was wiederum abschreckend auf potenziell Kandidaturwillige wirkt, so dass die Parteien für weniger attraktive Ämter teilweise Probleme haben, überhaupt Kandidierende zu finden. 5. Die Hauptwahl findet am Election Day im November statt. Durch die Einteilung in Einerwahlkreise besteht zwangsläufig ein Mehrheitswahlsystem. Außer der absoluten Mehrheitswahl in Louisiana benutzen alle anderen Staaten relative Mehrheitswahl. Es zeigen sich einerseits typische Wirkungen dieses Wahlsystems (Bowler et al. 2005): So konzentriert sich der Wettbewerb in jedem Wahlkreis auf die beiden erfolgversprechendsten Kandidierenden (Cox 1997). Da es im Unterschied zu Kanada oder Indien auch keine regional konzentrierten Drittparteien gibt, sind Stimmen für andere als die beiden großen Parteien nutzlos, weil deren Kandidierenden keine realistische Gewinnchance haben. Die Folge ist eine geradezu idealtypische Konzentration auf zwei Parteien und eine für Mehrheitswahlsysteme ungewöhnlich niedrige Disproportionalität. In seltenen Fällen

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kann es dazu kommen, dass nicht die Partei mit den meisten Stimmen die Mehrheit der Sitze erlangt, sondern die zweitstärkste Partei. Eine solche Mehrheitsumkehrung geschah zuletzt 2012 im Repräsentantenhaus. Die Ursache dafür ist ein als bias bekanntes Phänomen: Die Anhängerinnen der Demokraten sind stärker als die der Republikaner auf wenige Wahlkreise, z. B. Großstädte, konzentriert. Dadurch erlangen sie dort weit mehr als die für einen Sieg benötigte Stimmenanzahl, während sie im Rest des Landes häufig keine Gewinnchancen haben. Im Ergebnis benötigen die Demokraten insgesamt mehr Stimmen als die Republikaner, um dieselbe Sitzanzahl zu gewinnen (Chen und Rodden 2013). Schließlich findet durch die starke Konzentration der Parteianhängerschaften und die gegenseitige Absicherung von Wahlkreisen mittels gerrymandering in vielen Wahlkreisen kein wirklicher Wettbewerb zwischen den Parteien mehr statt. In solchen sicheren Hochburgen stellt die schwächere Partei teilweise gar keine Kandidierenden mehr auf, dann entfällt auch die entsprechende Wahl und die einzige kandidierende Person ist automatisch gewählt.

4.2

Präsident

Sowohl bei der Nominierung als auch der Hauptwahl unterscheiden sich Präsidentschaftswahlen deutlich von Kongresswahlen. Während die Vorwahlen für den Kongress auf einzelstaatlichen Gesetzen beruhen, basieren die Nominierungen der Präsidentschaftskandidierenden auf Regeln der beiden großen Parteien, die für jede Wahl erneut geändert werden können. Die Anzahl der Delegierten, die auf dem Bundesparteitag (national convention) in aufwändiger medialer Inszenierung die Kandidatin oder den Kandidaten der Partei bestimmen, werden nach einem vereinbarten Schlüssel auf die Einzelstaaten und Wahlkreise aufgeteilt, wobei beide Parteien ihren Hochburgen überproportional viele Sitze zuteilen (The Green Papers 2019). Hinzu kommen Amtsträgerinnen der Partei (superdelegates), die etwa bei Obamas Sieg 2008 gegen Clinton entscheidend waren. Bei den Demokraten ist seit 1984 vorgeschrieben, dass zur Auswahl der Delegierten in den Einzelstaaten Verhältniswahl mit einer allerdings sehr hohen Hürde von 15 % angewendet werden muss. Bei den Republikanern wird je nach Staat Verhältnis- oder Mehrheitswahl angewendet. Seit den 1970er-Jahren wenden beide Parteien in den meisten Staaten Vorwahlen an (Kalb 2016). Teilweise gibt es auch noch das traditionelle Nominierungsverfahren durch eine lokale Versammlung der Parteianhängerschaft (caucus). Dabei gruppieren sich die Teilnehmenden je nach präferierten Kandidatinnen sowie Unentschlossenen und es kommt zu Diskussionen und Plädoyers für bevorzugte Kandidierende. Die Abstimmung findet im Unterschied zu Vorwahlen häufig öffentlich statt. Von großer Bedeutung ist der sequenzielle Ablauf der Nominierungen: Traditionell eröffnet der caucus in Iowa die Vorwahlsaison, gefolgt von den primaries in New Hampshire. Den frühen Vorwahlen (bzw. caucuses) wird eine große Bedeutung zugeschrieben, während die Staaten am Ende der Nominierungsperiode kaum noch

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Einfluss haben, da zu diesem Zeitpunkt das Rennen oftmals bereits entschieden ist. Das hat seit den 1980er-Jahren dazu geführt, dass immer mehr Staaten ihre Nominierung nach vorne verlegt haben, was als front-loading bezeichnet wird (Mayer und Busch 2004). Die Parteien reagierten darauf mit bislang eher mäßigem Erfolg, indem sie z. B. Bonusdelegierte an Staaten mit späten Nominierungen vergeben oder Staaten mit frühen Nominierungen Delegierte abziehen (The Green Papers 2019). Neben guten Umfragewerten und umfangreichen Finanzmitteln bereits vor den ersten Nominierungen ist es daher für die Gewinnchancen der Kandidierenden essenziell, die Erwartungen in den zuerst nominierenden Staaten zu übertreffen und dadurch von Wahl zu Wahl eine Eigendynamik (momentum) zu erzeugen (Steger 2013). Auch die Hauptwahl findet indirekt statt: Die Bürgerinnen geben am Wahltag ihre Stimme an Wahlpersonen (electors), die am Montag nach dem zweiten Mittwoch im Dezember ihre Stimmen abgeben und nach Washington senden. Wer die absolute Mehrheit von 270 der 538 Stimmen im Electoral College erhält, wird Präsident. Im unwahrscheinlichen Fall, dass dies niemandem gelingt, wählen gemäß dem 12. Verfassungszusatz die Abgeordneten des Repräsentantenhauses in Gruppen ihrer Einzelstaaten den Präsidenten, wobei jedem Einzelstaat nur eine Stimme zukommt (zuletzt 1824 geschehen); der Vizepräsident wird in diesem Fall durch den Senat gewählt. Jedem Staat stehen so viele Wahlpersonen zu, wie er Abgeordnete und Senatoren zusammen entsendet. Aufgrund der gleichen Repräsentation aller Staaten im Senat sind kleine Staaten dadurch systematisch überrepräsentiert. Die Einzelstaaten entscheiden, wie ihre Wahlpersonen bestimmt werden. Alle Staaten außer Maine und Nebraska wenden dabei die relative Mehrheitswahl auf das gesamte Staatsgebiet an, d. h. die Person mit den meisten Stimmen erhält alle Elektorenstimmen dieses Staates. Da es keine Rolle spielt, wie knapp ein Staat gewonnen wird, werden sichere Staaten wie Kalifornien, Mississippi und Alabama fast komplett vernachlässigt und der Wahlkampf mit Wahlwerbung und Auftritten der Kandidierenden konzentriert sich auf die umkämpften swing states wie Florida und Ohio. Auch sonst zeigen sich die bekannten Folgen eines Mehrheitswahlrechts: Im Electoral College kommt praktisch immer eine Mehrheit zustande, selbst wenn niemand eine (absolute) Mehrheit an Stimmen gewinnt. Der Vorsprung der Siegerin oder des Siegers wird meist deutlich vergrößert und schafft so den Eindruck einer breiten Unterstützung. Andererseits ist es in seltenen Fällen auch möglich, dass nicht die oder der Kandidierende mit den meisten, sondern die- oder derjenige mit den zweitmeisten Stimmen die Mehrheit der Elektorenstimmen gewinnt und somit Präsident wird – so viermal geschehen: 1876, 1888, 2000 und 2016. Insgesamt prägen Wahlsysteme einerseits den politischen Wettbewerb wesentlich, indem sie sowohl die Vorherrschaft der beiden großen Parteien absichern als auch innerparteilichen Wettbewerb über Vorwahlen herbeiführen. Andererseits verbleiben für Wahlen zum Repräsentantenhaus durch gerrymandering noch erhebliche Einflussmöglichkeiten für Politikerinnen, deren gezielte Nutzung zudem schwierig nachzuweisen ist. Die Parteiführungen versuchen zudem, u. a. über die parteiinternen Nominierungsregeln noch einen Einfluss auf die Präsidentschaftswahl auszu-

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üben. Gerade die Erfolge von Trump und Sanders 2016 und den Versuchen diese zu verhindern sowie der Kritik beider Kandidaten an den Verfahrensregeln zeigen allerdings wie begrenzt diese Einflussmöglichkeiten sind. In den nächsten beiden Abschnitten wird untersucht, wie Politikerinnen innerhalb der demokratischen Spielregeln ihre Machtchancen erhöhen, indem sie Wahlberechtigte mobilisieren und Wählerkoalitionen schmieden.

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Wahlbeteiligung

Da es kein Register aller Wahlberechtigten gibt, ist die Wahlbeteiligung in den USA schwierig zu berechnen (McDonald und Popkin 2001). Unabhängig von der Messmethode ist sie verglichen mit anderen etablierten Demokratien niedrig: Bei midterm elections liegt sie deutlich niedriger als bei Präsidentschaftswahlen (Abb. 1). Wie können Kandidierende die Wahlbeteiligung zu ihren Gunsten beeinflussen? Um diese Frage beantworten zu können, müssen zunächst Einflussfaktoren der Partizipation identifiziert werden, wobei die Forschung drei Bündel herausgearbeitet hat (Aldrich et al. 2019; Hershey 2017): individuelle, soziale und konjunkturelle. Als wichtigster individueller Einflussfaktor gilt das Bildungsniveau. Je höher es ist, umso eher nimmt eine Person an der Wahl teil. Ältere beteiligen sich außerdem eher an Wahlen als jüngere. Hispanics und Asian Americans gehen deutlich seltener wählen als Weiße und African Americans, die heutzutage beide ähnlich hohe Beteiligungsraten aufweisen. Auch Einstellungen sind bedeutsam: Wird Wählen 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 Präsident

Midterm

Bundestag (Deutschland)

0

Abb. 1 Wahlbeteiligung im Zeitverlauf (in %). Quellen: McDonald (2018), Bundeswahlleiter (2018). Anmerkung: Für die USA ist die Anzahl abgegebener Stimmen geteilt durch die geschätzte Anzahl der Wahlberechtigten (voting-eligible population) angegeben

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als Bürgerpflicht wahrgenommen, werden die Regierung oder das Regierungssystem positiv bewertet oder identifizieren sich Befragte stärker mit einer Partei, so begünstigt dies tendenziell die Partizipation bei Wahlen. Sozialen Druck aufbauende Faktoren wie die Einbindung in Ehe oder Kirchengemeinden sowie der Kontakt zu politisch informierten Personen erhöhen tendenziell die Wahlbeteiligung. Umgekehrt verringert eine geringe Wohndauer diese. Konjunkturelle Faktoren sind die wahrgenommene Wichtigkeit und Knappheit der Wahl, wobei Präsidentschaftswahlen die höchste Bedeutung beigemessen wird. Knappe Wahlen regen zur Beteiligung an, weil dann der eigenen Stimme ein größeres Gewicht zukommt. Beide letzten Faktoren sorgten 2018 für einen deutlichen Anstieg der Wahlbeteiligung, da Präsident Donald Trump stark polarisierte. Einige dieser Faktoren werden zur Mobilisierung genutzt, die in den USA eine wichtige Rolle spielt (Green und Gerber 2015). Dabei ist die Mobilisierung eigener Anhängerinnen und Anhänger meist auch effektiver als der Versuch, die der Konkurrenz abzuwerben. Dass die Wahlbeteiligung von African Americans inzwischen ähnlich hoch ist wie von Weißen, ist z. B. größtenteils auch das Resultat einer Mobilisierungskampagne der Demokraten. Als effizientestes Mittel – speziell bei erstmalig Wählenden – gilt nicht die Kontaktaufnahme per Post oder Telefon, sondern die persönliche Wahlwerbung (personal canvassing). Durch das Tür-zuTür-Gehen wird der Kontakt mit politisch informierten Mitbürgerinnen gezielt hergestellt und damit die soziale Verpflichtung, wählen zu gehen, gestärkt. Eine Kontaktaufnahme per Post ist hingegen nur dann effektiv, wenn sie unparteilich gestaltet ist und sozialen Druck aufbaut, etwa durch eine Information darüber, wie viele Menschen in der Nachbarschaft schon gewählt haben.

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Wahlverhalten

Um Wahlverhalten zu erklären, geht der sozialpsychologischen Erklärungsansatz (Campbell et al. 1960) davon aus, dass Menschen bereits in jungen Jahren politisch sozialisiert werden und dabei ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer Partei erwerben, das sich im Laufe des Lebens nur selten grundlegend ändert. Das Wahlverhalten sollte weitgehend dieser Parteiidentifikation folgen, auch wenn kurzfristige Abweichungen aufgrund der Beliebtheit der Kandidierenden oder der Parteiprogramme möglich sind. Infolgedessen sind drastische Änderungen kaum zu erwarten und eine Partei müsste den politischen Wettbewerb über mehrere Wahlen hinweg dominieren. Wählerkoalitionen können sich aber auch wandeln, wenn sich gesellschaftliche Gruppen anderen Parteien zuwenden, was als realignment bezeichnet wird (Key 1955, 1959). Realignment kann einerseits durch langfristige Änderungen der Parteiidentifikationen auftreten, andererseits auch abrupt in sogenannten kritischen Wahlen als Konsequenz von kurzfristigen Ereignissen – z. B. außen- und innenpolitischen Konflikten, Wirtschaftskrisen oder der Ausdehnung des Wahlrechts. Als Paradebeispiel einer lange erfolgreichen Wählerkoalition gilt die in der Präsidentschaft Franklin D. Roosevelts geschmiedete New Deal Coalition. Neben der traditionellen Hochburg in den Südstaaten (solid South) konnte er vor allem

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Industriebeschäftigte aus dem Norden sowie katholische Wählende hinter sich bringen; später kamen noch afroamerikanische und jüdische Wählerinnen hinzu (Aldrich et al. 2019, S. 312–315). Die Wählerbasis der Republikaner – vorwiegend bestehend aus White Anglo-Saxon Protestants (WASPs) – war hingegen kaum mehrheitsfähig. Infolgedessen identifizierten sich deutlich mehr Wählende mit den Demokraten als mit den Republikanern und da die meisten auch entsprechend ihrer Parteiidentifikation wählten, waren beide Kongresskammern – von kurzen Unterbrechungen abgesehen – jahrzehntelang in den Händen der Demokraten. Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg begann jedoch der schleichende Zerfall der New Deal Coalition, der mindestens für die Südstaaten ein Lehrbuchbeispiel für langfristiges realignment darstellt (Niemi et al. 2011, S. 320–321). Weiße aus den Südstaaten wandten sich bereits in den 1950er-Jahren von den Demokraten ab und den Republikaner zu, was sich bis in die 2000er-Jahre kontinuierlich fortgesetzt hat. Ausgelöst wurde diese Entwicklung durch mehrere Faktoren (Niemi et al. 2011, S. 319–332): Ab den 1950er-Jahren begannen einkommensstarke Weiße im Süden sich den Republikanern zuzuwenden, einkommensschwache hingegen den Demokraten. Durch diese Politisierung der ökonomischen Verhältnisse passte sich das Wahlverhalten im Süden dem nationalen Muster an. Gleichzeitig änderte die Demokratische Partei ihre Haltung gegenüber der Segregation, die sie zuvor stets unterstützt hatte. Nachdem bereits 1948 der Parteitag sich für die Gewährleistung der Bürgerrechte auch von African Americans ausgesprochen hatte, war der entscheidende Wendepunkt der Civil Rights Act 1964. Seitdem wählen African Americans mit Mehrheiten um die 90 % die Demokraten. Im Gegenzug warben die Republikaner bereits ab 1968 mit ihrer Southern strategy erfolgreich um Weiße im Süden, deren Ansichten teilweise rassistischen Ressentiments zugrunde lagen. Ab den 1980erJahren wurden außerdem moralisch umstrittene und religiös aufgeladene Themen wie Abtreibung oder gleichgeschlechtliche Ehen zunehmend politisiert. Auch hier wandten sich Konservative im Süden immer stärker den Republikanern zu. Diese Prozesse wirken bis heute fort und führten dazu, dass die Republikaner die Demokraten als Mehrheitspartei im Süden abgelöst haben. Umgekehrt festigten aber auch die Demokraten ihre Position an der Westküste und im Nordosten des Landes, so dass die zuvor räumlich heterogenen Anhängerschaften beider Parteien sich über die Jahre hinweg immer stärker regional konzentrierten. Parallel dazu nahm in den 1960er- und 1970er-Jahren die generelle Bindung an Parteien sukzessive ab (dealignment). So ging insbesondere die Stärke der Identifikation mit den Demokraten zurück (s. ANES 2017, Tab. 2A). Durch die realignment- und dealignment-Prozesse hat sich seit den 1990er-Jahren ein Machtgleichgewicht bei Kongresswahlen eingestellt. Seit dieser Zeit hat die Polarisierung zwischen den Parteien wieder erheblich zugenommen (siehe Sirakov in diesem Band). Diese geht einher mit zunehmender Nationalisierung des Wahlverhaltens und Feindlichkeit gegenüber der jeweils anderen Partei sowie konsistenterem Wählen derselben Partei über mehrere Wahlämter und Wahltermine hinweg (Abramowitz und Webster 2016, 2018). Die überraschende Wahl Donald Trumps 2016 stellt daher keine kritische Wahl mit plötzlichem realignment dar, sondern ist vielmehr in zahlreichen Aspekten eine Fortsetzung schon länger andauernder Ent-

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wicklungen. Bereits zuvor hatten sich Liberale weitgehend den Demokraten und Konservative den Republikanern zugewandt und Weiße wählen seit Jahrzehnten eher die Republikaner, während die ethnischen Minderheiten der African Americans, Hispanics und Asian Americans die Demokraten präferieren. Nichtsdestotrotz verschärfte Trump insbesondere die ethnische Polarisierung durch rassistische Ressentiments noch weiter, so dass sich stark über ihre Ethnie definierende Weiße ihn wählten (Major et al. 2018). Dabei spielte auch die emotionale Ansprache eine bedeutende Rolle (Tolbert et al. 2018).

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Zusammenfassung

Ausgangspunkt dieses Beitrags war die Frage, wie Politikerinnen in den USA Macht durch Wahlen erlangen, einerseits durch die Beeinflussung der dafür gültigen demokratischen Spielregeln, andererseits innerhalb dieser Regeln. Zusammenfassend zeigt sich, dass in manchen Bereichen immer noch durchaus erhebliche Möglichkeiten bestehen – und auch genutzt werden – die Regeln des demokratischen Spiels zu den eigenen Gunsten zu verändern. Dies betrifft sogar das Wahlrecht, was wesentlich daran liegt, dass dieses nicht national einheitlich geregelt ist. Über die zahlreichen prozeduralen Hindernisse oder Erleichterungen des Wahlrechts hinaus existieren auch im Bereich des Wahlsystems Einflussmöglichkeiten v. a. durch gerrymandering für Wahlen zum Repräsentantenhaus sowie in begrenztem Maße durch die Anpassung der Nominierungsverfahren für Präsidentschaftswahlen. Zum anderen prägen die Regeln für Wahlen aber auch erheblich das Verhalten der Kandidierenden. So wird die Mobilisierung von Wahlberechtigten in wohl kaum einem anderen Staat so professionell betrieben wie in den USA. Und die Vor- und Hauptwahlen sorgen dafür, dass sich eben jene Kandidierenden durchsetzen, die am wirksamsten bestehende Wählerkoalitionen erweitern und eine Mehrheit hinter sich bringen können.

Literatur Abramowitz, Alan I., und Steven Webster. 2016. The rise of negative partisanship and the nationalization of U.S. elections in the 21st century. Electoral Studies 41:12–22. Abramowitz, Alan I., und Steven Webster. 2018. Negative partisanship: Why Americans dislike parties but behave like rabid partisans. Advances in Political Psychology 39:119–135. Aldrich, John H., Jamie L. Carson, Brad T. Gomez, und David W. Rohde. 2019. Change and continuity in the 2016 elections. Los Angeles: Sage/CQ Press. American National Election Studies (ANES). 2017. The ANES Guide to public opinion and electoral behavior. https://electionstudies.org/resources/anes-guide/. Zugegriffen am 16.10.2019. Behnke, Joachim. 2015. Die Spielregeln der Konstruktion von Spielregeln. Das Beispiel der Wahlrechtsdebatte. Zeitschrift für Politische Theorie 6:3–18. Bowler, Shaun, Todd Donovan, und Jennifer van Heerde. 2005. The United States of America: Perpetual campaigning in the absence of competition. In The politics of electoral systems, Hrsg. Michael Gallagher und Paul Mitchell, 185–205. Oxford/New York: Oxford University Press.

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Lobbyismus und Wahlkampffinanzierung „It’s all about the Money“ Jörg Hebenstreit

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Lobbyismus und Interessengruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Wahlkampffinanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Fazit: Money, The Mother’s Milk of Politics . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

424 424 433 441 442

Zusammenfassung

Die USA gelten nicht nur als Mutterland des Lobbyismus, sondern auch als Land, das über eines der am weitesten deregulierten Wahlkampffinanzierungssysteme verfügt. Wenig verwunderlich ist die daraus resultierende Verflechtung von Geld und Politik permanenter Gegenstand öffentlicher Kritik. In diesem Beitrag werden zum einen die zentralen Akteure, Instrumente sowie Regulierungsversuche beider Einflussnahmepraktiken thematisiert. Zum anderen stehen auch die unmittelbaren politischen Implikationen der in beiden Fällen beachtlichen Geldströme im Zentrum der Analyse. Schlüsselwörter

Geld und Politik · Interessengruppen · Lobbyismus · Wahlkampfspenden · Citizens United · Super PACs · Regulierung · Ungleichheit

J. Hebenstreit (*) Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_41

423

424

1

J. Hebenstreit

Einleitung

Schon seit Gründung der Republik gehen Geld und Politik in den USA eine symbiotische Beziehung, die vom Präsidentschaftshistoriker Gil Troy treffend als „the oldest connection“ (Troy 1997) bezeichnet wurde, ein. Nirgendwo zeigt sich diese Verflechtung deutlicher als beim Lobbyismus und der Wahlkampffinanzierung. So wurden allein im Kalenderjahr 2018 insgesamt 3,42 Mrd. US-Dollar für Lobbyingaktivitäten in der US-Hauptstadt ausgeben. Hinzu addieren sich Wahlkampfgelder in Höhe von 5,73 Mrd. US-Dollar, die im Zuge der bis dato teuersten Midterm Election investiert wurden. Angesichts einer kumulierten Summe von 9,15 Mrd. US-Dollar, die innerhalb nur eines Jahres ausgegeben wurden, mag es wenig verwunderlich erscheinen, dass nicht nur die Verflechtung von Geld und Politik, sondern auch der Unmut der Bürger über eben jene „oldest connection“ so alt wie die Republik selbst ist. Immer wieder haben unzählige Skandale und Fälle von Korruption (Teapot Dome, Watergate, Abramoff Case) sowie nebulöse wie gleichermaßen intransparente Finanzierungspraktiken das Vertrauen der Bevölkerung in die zentralen Institutionen der repräsentativen Demokratie erschüttert. Nicht zuletzt gründet die Unzufriedenheit der Bürger darin, dass Lobbyismus und Wahlkampffinanzierung als zentrale Transmissionsriemen für die Übersetzung ökonomischer in politische Ungleichheit gelten und damit als „Kernprobleme der gegenwärtigen Krise der Demokratie“ (Vormann und Lammert 2018, S. 238) betrachtet werden können. In diesem Beitrag wird die historische Entwicklung beider Einflussnahmeformen in den Blick genommen, zentrale Akteure, Prozesse und Regulierungsversuche näher beleuchtet und letztlich die Auswirkungen auf das politische System evaluiert.

2

Lobbyismus und Interessengruppen

Die USA gelten zurecht als „Mutterland des Lobbyismus“ (u. a. Leif und Speth 2003, S. 30), denn überall wo im stark fragmentierten Gesetzgebungsprozess Regierungsentscheidungen getroffen werden – egal, ob es sich dabei um Umwelt-, Außen-, Gesundheits- oder Rentenpolitik handelt –, sind Lobbygruppen omnipräsent. Präziser handelt es sich bei diesen Lobbygruppen streng genommen um Interessengruppen (auch: Interessenverband), deren Wesen definitorisch wie folgt charakterisiert werden kann: „[An interest group is, d.V.] any non-party organization that engages in political activity“ (Nownes 2013, S. 6). Interessengruppen sind formal betrachtet, erstens, weder Parteien noch ein Bestandteil solcher (non-party). Denn im Gegensatz zu diesen nominieren Interessengruppen keine eigenen Kandidaten für politische Ämter, streben folglich auch keine Regierungsverantwortung an und verfügen darüber hinaus, anders als Parteien, über einen deutlich engeren programmatischen Zuschnitt (vgl. auch Lösche 2013, S. 647). Zweitens handelt es sich bei Interessengruppen um organizations, also um Zusammenschlüsse von Personen (oder mehreren kollektiven Organisationen), die durch eine klare Hierarchie, ein jeweiliges Budget sowie unter Umständen über feste Angestellte und eigene Büros verfügen. Schließlich, und drittens, sind

Lobbyismus und Wahlkampffinanzierung

425

Interessengruppen politisch tätig (political activity), um ihre spezifischen Interessen erfolgreich umzusetzen – anders ausgedrückt: sie betreiben Lobbying. Der Begriff des Lobbyings selbst wurde erstmals in den 1820er-Jahren verwendet und sollte sich innerhalb nur einer Dekade zu einem festen Bestandteil des alltäglichen Sprachgebrauchs entwickeln (Ornstein 1988, S. 281). Inhaltlich rekurriert er auf die politischen Aktivitäten der Interessengruppenvertreter, welche die Abgeordneten vor einer Abstimmung in der Wandelhalle – oder Lobby – des Kongresses, im Verbandssinne zu beeinflussen versuchen. Lobbyisten sind folglich Vertreter von Interessengruppen (oder, wie noch gezeigt wird, Unternehmen), deren primäres Tätigkeitsfeld in der Beeinflussung politischer Entscheidungsträger liegt. Im Laufe der Zeit hat der Begriff des Lobbyings eine stark negative Konnotation erhalten, die allen voran durch überdurchschnittliche Aktivitäten von Wirtschafts- und Unternehmensverbänden verursacht wurde. Dass die Interessengruppenlandschaft indes viel heterogener ist und auch Umweltschutz-, Frauen- und Bürgerrechtsgruppen sowie Verbraucherschutzverbände Lobbying betreiben, wird im folgenden Kapitel ausführlich dargestellt.

2.1

Kartographie und Struktur des Washingtoner Interest Group Universe

Die USA sind nicht nur das Mutterland des Lobbyismus, sondern gleichzeitig auch das Mutterland des Pluralismus. Nirgendwo drückt sich dies deutlicher aus als in der schieren Anzahl, Ausdifferenzierung und thematischen Heterogenität des Interessenverbändeuniversums. Aus Tab. 1 lassen sich die unterschiedlichen Typen von Interessengruppen sowie prominente bzw. beispielhafte Vertreter ablesen. Es mag den Leser eventuell etwas verwundern, dass der Auftakt dabei von Unternehmen gebildet wird, aber mit Blick auf die Definition von Interessengruppen lassen sich zahlreiche Korporationen als exakt solche werten – und zwar genauer gesagt diejenigen, die neben dem non-party- und organization-Kriterium auch dasjenige der political activity erfüllen. Tatsächlich verfügen insbesondere große, börsennotierte Unternehmen über beachtliche public relations-Abteilungen, die ausschließlich mit Lobbying, sprich der Vertretung von unternehmenseigenen Interessen beauftragt sind und die sich, wie reguläre Lobbyisten, unmittelbar an politische Entscheidungsträger wenden. Die Unterscheidung in for-profit und non-profit orientiert sich dabei am Kriterium, ob das Unternehmen überschüssige Renditen gewinnorientiert an Eigentümer und Aktionäre ausschüttet oder diese Mehrerträge wieder gemeinnützig in das Unternehmen reinvistiert. Jedoch werden nicht alle Unternehmen selbstständig politisch aktiv. Stattdessen engagieren einige von ihnen so genannte lobbying firms, deren Geschäftsmodell das dienstleistungsorientierte Auftragslobbying darstellt. Andere wiederum und dies betrifft die Mehrheit der US-Unternehmen, sind Mitglied in einem Wirtschafts- bzw. Unternehmensverband. Die größte trade association, die U.S. Chamber of Commerce (USCC) vertritt dabei sage und schreibe drei Millionen US-Unternehmen aller Größen, Branchen und geographischen Regionen, 2800 auf Bundestaats- und Kommunalebene angesiedelte Handelskammern sowie insgesamt

426

J. Hebenstreit

Tab. 1 Interessengruppen in Washington, DC. TYPUS FOR-PROFIT UNTERNEHMEN NON-PROFIT UNTERNEHMEN WIRTSCHAFTS- BZW. UNTERNEHMENSVERBÄNDE GEWERKSCHAFTEN STANDES- UND BERUFSVERBÄNDE PUBLIC INTEREST GROUPS/ CITIZEN GROUPS STAATLICHE GEBIETSKÖRPERSCHAFTEN THINK TANKS

COALITIONS

POLITICAL ACTION COMMITTEES (PACS) SINGLE-INTEREST GROUPS

KIRCHEN UND KIRCHLICHE ORGANISATIONEN

PROMINENTE BEISPIELE Alphabet, Inc., Boeing, Ford Motor Company, Procter & Gamble, IBM, Amazon.com, Northrup Grumman, Facebook Inc., Comcast Corp Kaiser Foundation Hospitals, New York Presbyterian Hospital, Blue Shield of California, Mayo Clinic, Metropolitan Museum of Art U.S. Chamber of Commerce, National Association of Manufacturers, National Federation of Independent Businesses, Asphalt Institute, CropLife America United Auto Workers, United Brotherhood of Carpenters and Joiners, International Brotherhood of Teamsters, United Mine Workers American Bar Association, American Medical Association, American Institute of Electrical Engineers, American Political Science Association American Association of Retired Persons, American Civil Liberties Union, Common Cause, Greenpeace, Sierra Club, Consumer Federation of America National Conference of State Legislatures, National Governors Association, U.S. Conference of Mayors, NY City Housing Authority, Erie County Water Authority Carnegie Endowment for Internat. Peace, Brookings Institution, CATO Institute, Heritage Foundation, American Enterprise Institute, Center for Am. Progress American Federation of Labor and Congress of Industrial Organizations, Coalition for Patients’ Rights, National League of Cities, Clean Air Coalition National Association of Realtors PAC, National Association of Letter Carriers PAC, New Democrat Coalition, More Conservatives PAC, Equality PAC National Association for the Advancement of Colored People, National Rifle Association, National Right to Life Committee, Mothers Against Drunk Driving Christian Churches Together, American Missionary Associations, American Federation for Polish Jews, Hindu American Federation, American Islamic Congress

ANZAHL 4200

3000

100

2000

3500

900

100

250

4600

2000

(Fortsetzung)

Lobbyismus und Wahlkampffinanzierung

427

Tab. 1 (Fortsetzung) TYPUS WOHLFAHRTSORGANISATIONEN (CHARITIES) SONSTIGE

PROMINENTE BEISPIELE American Red Cross, American Heart Association, American Lung Association, Feeding America, Food for the Poor, HealthWell Foundation, Salvation Army Foreign Governmental Entities, Universitäten und Colleges, Lobbying Firms, etc.

ANZAHL

N: 20.650 Quelle: Eigene grundlegend erweiterte Darstellung in Anlehnung an Nownes 2013, S. 8–16, 29

830 Geschäftsvereinigungen. Ein anderes Bild ergibt sich auf Arbeitnehmerseite, wo Gewerkschaften (labor unions) seit mehr als 40 Jahren sinkende Mitgliederzahlen und Organisationsgrade beklagen. So sank der Prozentsatz gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer von 20,1 % im Jahr 1983 auf lediglich 10,5 % im Jahr 2018, was in absoluten Zahlen 14,7 Millionen Arbeitnehmern entspricht (U.S. Department of Labor 2019). Daneben gelten auch Standes- und Berufsverbände als einflussreiche Lobbygruppen, die stets darum bemüht sind, die Interessen des jeweiligen Berufsstandes bestmöglich zu vertreten. Als beispielhaft hierfür kann der Einfluss der American Medical Association (AMA) im Zuge der Gesundheitsreform 2010 gelten. Eine besondere Stellung im Interessengruppenuniversum wird ferner von den public interest groups eingenommen, welche als „latent“ (Hübner und Münch 2007, S. 59) bezeichnete Interessen wie Bürgerrechte, Umwelt-, Natur- sowie Verbraucherschutz, gleichwohl aber auch Minderheitenrechte und das Recht auf Abtreibung vertreten. Dass mitunter Organe des amerikanischen Regierungssystems selbst als Interessengruppen auftreten, lässt sich am Beispiel der staatlichen Gebietskörperschaften (domestic governmental entities) verdeutlichen. So betreiben hunderte Städte und Gemeinden sowie praktisch jeder (Verwaltungs-)Bezirk und jeder Bundesstaat in der Hauptstadt Lobbying, um im engen Beziehungsgeflecht der unterschiedlichen politischen Ebenen möglichst vorteilhafte Ergebnisse zu erzielen. Als insbesondere in den USA stark vertretener Interessengruppentypus können Think Tanks gelten, welche ihre Interessenvertretung vorwiegend in Form von wissenschaftlichen Berichten und Stellungnahmen vollziehen, um damit Entscheidungsträger von bestimmten politischen Positionen überzeugen zu können. In der Regel lassen sich diese auch als public policy research institutes bezeichneten Denkfabriken ohne Weiteres einem klaren ideologischen Lager zuordnen. Um einen organisationsspezifischen Sonderfall handelt es sich bei den so genannten coalitions, welche einen Zusammenschluss von gleich mehreren Interessengruppen darstellen, um somit strategische Vorteile erzielen zu können. Als prominentestes Beispiel gilt zweifellos die American Federation of Labor and Congress of Industrial Organizations (AFL-CIO), die eine coalition aus mehreren Einzelgewerkschaften darstellt

428

J. Hebenstreit

und somit einem der selten anzutreffenden Dachverbände entspricht. Unzählige der bisher genannten Interessengruppen, darunter auch die AFL-CIO, betreiben für die Wahlkampffinanzierung so genannte Political Action Committees (PACs). Weil Interessengruppen nicht (oder nur eingeschränkt) Wahlkampfspenden tätigen können, gründen einige von ihnen PACs, um somit eine bestimmte Wahlkampagne zu unterstützen. Daneben lassen sich ferner single-interest groups (deren Interessenvertretung auf lediglich ein bestimmtes Thema festgelegt ist), kirchliche und religiöse Interessengruppen sowie die so genannten charity-Interessengrupen, welche arme, kranke und notleidende Menschen wohltätig unterstützen, differenzieren. Wie viele Interessengruppen in den USA heute insgesamt existieren, lässt sich aufgrund eines fehlenden Gesamtverzeichnisses sowie definitorischer Herausforderungen nur schwer bestimmen. Infolgedessen weisen Schätzungen über die genaue Anzahl von Interessengruppen eine nicht unerhebliche Schwankungsbreite auf, wobei die untere Schranke bei etwas mehr als 13.000 (Schlozman 2010, S. 433), die obere hingegen bei ungefähr 24.000 interest groups liegt (Lösche 2008, S. 274). Wie aus Abb. 1, welche die numerische Entwicklung von Interessengruppen illustriert, hervorgeht, kann beginnend in den 1960er-Jahren von einer regelrechten „advocacy explosion“ (Baumgartner et al. 2009, S. 64) gesprochen werden. So hat sich die Anzahl der Lobbygruppen im Vergleich zu 1960 (2500) innerhalb von nur drei Dekaden mehr als vervierfacht (11.500). Zieht man gar das Jahr 2010 als Referenzpunkt heran, hat sich die Anzahl sogar fast um den Faktor sieben erhöht (16.800). Doch weshalb setzte beginnend in den 1960er-Jahren ein derartiger Zuwachs von Interessengruppen ein, der letztlich dazu führen sollte, dass in keinem anderen Land der Welt mehr Lobbygruppen zu beobachten sind als in den USA (Nownes 2013, S. 24)? Zunächst einmal verfügt das politische System der USA für Interessengrup-

Abb. 1 Entwicklung der Interessengruppen (1900–2010). (Quelle: Eigene Darstellung basierend auf Nownes 2013, S. 26)

Lobbyismus und Wahlkampffinanzierung

429

pen über ein vorteilhaftes institutionelles Design: So bieten sowohl der stark fragmentierte Entscheidungsprozess, das stark föderalisierte Mehrebenensystem sowie der bei Abstimmungen vorherrschende geringe Fraktionszwang (Thunert 2003, S. 89) hervorragend geeignete Ansatzpunkte für Lobbyingaktivitäten (siehe auch Abschn. 2.2). Ab den 1960er-Jahren gesellten sich dann zu diesen ohnehin schon vorteilhaften institutionellen Gegebenheiten schließlich noch sozio-ökonomische Faktoren, welche als eigentliche Katalysatoren der advocacy explosion wirkten. Zu ihnen zählen (I.) die Mobilisierung gesellschaftlicher Gruppen, welche den Vietnamkrieg entschieden ablehnten, (II.) der von Inglehart beschriebene Wertewandel und die damit einhergehende Interessenverschiebung hin zu postmateriellen issues wie Bürgerrechte, Gleichstellung, Umweltschutz, gleichgeschlechtlicher Eheschließung, Abtreibungsrechten oder der weiteren Demokratisierung des politischen Systems, (III.) ein beachtliches Bevölkerungswachstum, in dessen Zuge sich auch die ethnische, religiöse und kulturelle Vielfalt der USA weiter ausdifferenzierte, (IV.) das Aufkommen neuer wirtschaftlicher Branchen wie der Kommunikations- und IT-Technologie sowie (V.) ein beachtliches Anwachsen der Regierung und zugehöriger Regierungsbehörden, die neue und effektive Ansatzpunkte für Lobbygruppen boten (Ornstein 1988, S. 282; Schlozman 2010, S. 445; Wasser 2007, S. 329; Sebaldt 2007, S. 95–97). Folglich ist das Universum der Interessengruppen nicht nur größer, sondern auch deutlich heterogener geworden.

Abb. 2 Anzahl der professionellen Lobbyisten und Lobbyingausgaben (1998–2018). (Quelle: Eigene Darstellung basierend auf Daten des Center for Responsive Politics (2019a))

430

2.2

J. Hebenstreit

Ausgabenstruktur und ungleiche Ressourcenverteilung

Nimmt man die Ausgaben der (registrierten) Interessenverbände in den Fokus (vgl. Abb. 2), lässt sich für den Zeitraum von 1998–2010 ein nahezu linearer Kostenanstieg beobachten, der im Jahr 2010 mit 3,5 Mrd. US-Dollar seinen Gipfel erreicht und seither wieder leicht sinkt. Im Vergleich dazu verlief die Kurve der in Washington registrierten Lobbyisten mehr oder weniger stabil und variierte lediglich entlang des Wertes von 12.000 Lobbyisten. Mit Beginn der Präsidentschaft Donald Trumps hat sich aber sowohl die Anzahl der Lobbyisten als auch deren Ausgaben wieder erhöht. Nicht zu vergessen ist darüber hinaus der Umstand, dass Trump 164 ehemaligen Lobbyisten in seine Administration berufen hat (West 2018). Trumps oft beschworenes drain the swamp-Wahlversprechen erscheint daher bislang nicht eingelöst worden zu sein. Stattdessen wurden im Jahr 2018 insgesamt 3,42 Mrd. US-Dollar für Lobbyingzwecke ausgegeben und damit der bisherige Spitzenwert aus dem Jahr 2010 fast wieder erreicht. Anders ausgedrückt werden in Washington, DC. somit jeden Tag 9,37 Mio. US-Dollar für Lobbyingaktivitäten ausgegeben. Wendet man nun den Blick von den Längsschnittdaten auf die Querschnittsdaten (vgl. Abb. 3) und geht der Frage nach, welche Interessengruppen wie viel investieren, wird rasch ein zentrales Problem der Washingtoner Interessengruppenlandschaft

Abb. 3 Differenzierte Ausgabenstruktur nach Wirtschaftssektor (2018). (Quelle: Eigene Darstellung basierend auf Daten des Center for Responsive Politics (2019a))

Lobbyismus und Wahlkampffinanzierung

431

deutlich, das von Kay L. Schlozman als „resource problem“ (Schlozman 2010, S. 429) bezeichnet wird. [It, J.H.] alerts us to the fact that not all potential constituencies are in a position to bear the cost of political organization and advocacy [. . .]. Those who are not economically advantaged – including those with ordinary jobs and middle-class incomes – are underrepresented in pressure politics.“ (Schlozman 2010, S. 429, 434). Dahingegen sind Unternehmensinteressen, insbesondere aus dem Gesundheits-, Finanz-, Versicherungs-, Immobilien-, Kommunikations- und Transportsektor, finanziell überprivilegiert. Wie aus Abb. 3 hervorgeht, kommen diese Wirtschaftsverbände allein für 75–80 % der gesamten Lobbyingausgaben auf. Auf diese ökonomische Schieflage, die in der Forschungsliteratur unisono bestätigt wird, zielt auch der vielzitierte Satz E. E. Schattschneiders ab, wonach „the flaw in the pluralist heaven“ eben jener ist, „that the heavenly chorus sings with a strong upper-class accent“ (Schattschneider 1960, S. 35). Letztlich trägt dieser Umstand, wenig verwunderlich, auch zu dem Eindruck innerhalb der Bevölkerung bei, dass die enormen finanziellen Ressourcen der Wirtschaftslobby, den generellen politischen Einfluss der normalen Bürger unterminiere.

2.3

Praktiken und Adressaten des Lobbyings

Grundsätzlich lassen sich zwei Formen der Einflussnahme unterscheiden: das direkte (inside) sowie das indirekte (outside) Lobbying. Unter der direkten Form wird die klassische und unmittelbare Einflussnahme auf Entscheidungsträger, die dem Begriff Lobbying ursprünglich seinen Namen gab, verstanden. Handelt es sich beim Adressaten der Lobbyingaktivitäten um den Kongress und somit das eigentliche Entscheidungszentrum im vielschichtigen Gesetzgebungsprozess, kommen insbesondere die folgenden Instrumente zur Anwendung: das direkte Kontaktieren (contact) von Abgeordneten (und deren Mitarbeiterstäben), Ausschussmitgliedern sowie -vorsitzenden, um diese mit Informationen zu versorgen, von ihnen im Gegenzug aber ebenso Informationen über geplante Gesetzgebungsverfahren zu erhalten; der Besuch von Parlamentsanhörungen (hearings) sowie die aktive Teilnahme an diesen, bei welchen die Interessengruppen selbst zu bestimmten Sachverhalten befragt werden (testifying); das Assistieren bei der Redaktion von Gesetzesvorlagen (draft bills); der Besuch von town hall meetings und Bürgersprechstunden im Heimatwahlkreis des relevanten Abgeordneten; die Beobachtung (monitoring) von Kandidaten und deren politischen Positionen, um verbündete Abgeordnete identifizieren bzw. oppositionelle oder unentschlossene Abgeordnete von der eigenen Position überzeugen zu können; das Eingehen von strategischen Bündnissen (coalitions/issue networks), um Ressourcenvorteile nutzen zu können sowie letztlich das Organisieren von Fundraisingveranstaltungen bzw. das Tätigen von Wahlkampfspenden (electoral lobbying), um den so wichtigen Zutritt (access) zu den Abgeordneten sicherstellen zu können (Drutman 2015, S. 80; Hrebenar 1997, S. 105–117). Weil heutzutage ein Großteil der Gesetzentwürfe von den Ministerialbürokratien ausgearbeitet werden, setzen Lobbyisten auch zunehmend auf die Exekutive als Adressaten ihrer Bemühungen. Hierbei kommen neben zahlreichen eben schon

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J. Hebenstreit

genannten Instrumenten (Kontaktaufnahme, Informationsbereitstellung, Monitoring, Gesetzesredaktion) auch die Partizipation in exekutiven Beratungsgremien (advisory committees), Versuche der Beeinflussung von Stellenvergaben (bureaucratic appointments) sowie die personelle Durchdringung der Bürokratie durch Interessengruppenmitglieder selbst zur Anwendung (Nownes 2013, S. 102–114; Wasser 2007, S. 337). Dass Interessengruppen darüber hinaus versuchen mit dem Präsidenten in Kontakt zu treten, stellt eher die Ausnahme dar. Dieser Weg steht, wenn überhaupt, nur den CEOs einflussreicher Großkonzerne im Rahmen des chief executive lobbyings zur Verfügung (Vormann und Lammert 2018, S. 243). Schließlich richten sich direkte Lobbyingaktivitäten auch immer häufiger an die Judikative, die aufgrund umfassender juristischer Prüfungs- und Kassationsrechte eine machtvolle Position im Gesetzgebungsprozess einnimmt. Im Zuge des lobbying of the courts greifen die Interessengruppen u. a. zu den folgenden Methoden: die Beeinflussung der Ernennungs- und Bestätigungsprozesse von prospektiven Richtern, was nicht selten mit umfangreichen begleitenden Kampagnen (campaign finance) unterstützt wird; das bewusste Lancieren und Prozessieren (litigating) von juristischen Musterprozessen (test cases), um bestenfalls Urteile zu generieren, die den eigenen Präferenzen entsprechen (vgl. NAACP und das Urteil Brown v. Board of Education) sowie die in Deutschland unüblich Praktik des Einreichens von kurzen Stellungnahmen und Positionspapieren (amicus curiae), die unter bestimmten Umständen auch dann möglich ist, wenn die Interessengruppe gar nicht direkt in den Prozess involviert ist (Nownes 2013, S. 114–18; Wasser 2007, S. 338). Parteien werden aufgrund ihrer schwachen Stellung im amerikanischen Regierungssystem von Lobbyisten kaum beachtet. Dahingegen sind die in Brüssel ansässigen EU-Institutionen in den letzten Jahren immer mehr in den Fokus amerikanischer Interessengruppen, wie der USCC oder der National Association of Manufacturers (NAM), gerückt (Sebaldt 2007, S. 118). Anders als das direkte Lobbying zielt das indirekte Lobbying nicht auf die Einflussnahme von Entscheidungsträgern, sondern der normalen Bürger ab. Dies ist von Interesse, da Bürger im Rahmen von Referenden (ballot measures) nicht nur selbst Entscheidungen treffen, sondern die Entscheidungsträger selbst wählen bzw. während ihrer Amtszeit zu beeinflussen versuchen. Eine Sonderform des indirekten Lobbyings, das grass roots lobbying, versucht in diesem Zusammenhang Bürger zu mobilisieren, sodass sich diese an die Abgeordneten wenden und ihrerseits Einfluss ausüben (Hrebenar 1997, S. 157). Daneben zählen aber auch Journalisten, Medien, sonstige Meinungsführer sowie die Wissenschaft zu den potenziellen Adressaten dieser Lobbyingform. Zu den Instrumenten des indirekten Lobbying zählen u. a.: der unmittelbare Bürgerkontakt mit Hilfe von Gesprächen, Postwurfsendungen, E-Mails oder Telefonaten; breitflächige Medienkampagnen mit Werbeanzeigen im Print- und Rundfunkbereich; öffentliche Auftritte von Verbandsvertretern in den Medien; das Erstellen von öffentlich einsehbaren Übersichten zum Abstimmungsverhalten (voting records) von Abgeordneten sowie das Bereitstellen und Verteilen von Forschungsergebnissen und -berichten durch Think Tanks. In der Summe setzen Lobbyisten aufgrund des fragmentierten Entscheidungsprozesses auf einen institutionenübergreifenden Ansatz, der alle drei Gewalten inklu-

Lobbyismus und Wahlkampffinanzierung

433

sive der Öffentlichkeit in den Blick nimmt. Um sich gegen mögliche Regierungswechsel und die Möglichkeit eines divided governments zu immunisieren, sind Lobbyisten ferner immer darauf bedacht, gute und intensive Kontakte zu Angehörigen beider politischer Lager zu pflegen.

2.4

Regulierung des Lobbying

Um den seit jeher schlechten Ruf des Lobbyismus aufzubessern sowie dem öffentlichen Ruf nach mehr Transparenz gerecht zu werden, kann in den USA eine lang zurückreichende Tradition der Regulierung beobachtet werden. Im internationalen (und deutschen) Vergleich zählen die US-Statute sogar zu den hoch-regulierten Systemen (Chari et al. 2010). Die gesetzlichen Regulierungen beziehen sich dabei in der Regel auf das direkte Lobbying, wohingegen die indirekte Form der Einflussnahme nur schwer zu regulieren ist. Als erstes umfassendes Regulierungsstatut gilt gemeinhin der Foreign Agents Registration Act (1938), der ausländische Interessenvertreter zur Registrierung verpflichtete. Acht Jahre später wurde diese Registrierungspflicht per Federal Regulation of Lobbying Act (1946) auf einheimische Lobbyisten ausgeweitet. Zahlreiche handwerkliche Mängel, Schlupflöcher und fehlende Sanktionsmechanismen machten das Gesetz mehr oder weniger wirkungslos. Es sollte noch ein knappes halbes Jahrhundert dauern, ehe der Kongress mit dem Lobbying Disclosure Act (1995) erstmalig ein umfassendes Regulierungsstatut vorlegte. So wurde genau festgelegt, wer als Lobbyist gilt, inwieweit diese über Klienten, Bezüge und Aktivitäten Auskunft erteilen müssen und wo sich diese zu registrieren haben. 2007 wurde das Gesetz mit dem Honest Leadership and Open Government Act mit Blick auf bestehende Schlupflöcher noch einmal nachgebessert. Ergänzt werden die legislativen Regulierungen durch Ethikkodizes wie dem Ethics in Government (1978) sowie Ethics Reform Act (1989), welche die Annahme von Geschenken, Zusatzeinkünfte sowie die als revolving door bekannte Praktik des Wechsels von Abgeordneten in die advocacy-Szene, nachdem diese aus dem Amt geschieden sind, regulieren.

3

Wahlkampffinanzierung

Wie bereits angedeutet, handelt es sich bei der finanziellen Unterstützung von Kandidaten (und Parteien) durch Interessengruppen, dem so genannten electoral lobbying, um eines der zentralen Instrumente verbandspolitischer Einflussnahme. Technisch betrachtet kann diese sowohl dem direkten als auch indirekten Lobbying zugerechnet werden, weil Kandidaten einerseits mit Hilfe von PAC-Geldern von einer bestimmten Interessengruppe direkt unterstützt werden können und sich Letztere, im Falle einer erfolgreichen Wahl, davon verspricht, unmittelbaren Zugang zum Kandidaten (access) zu erhalten. Andererseits sprechen Interessengruppen mit Hilfe von Wahlwerbung (TV-Werbespots, Postwurfsendungen, E-Mail-Kampagnen) und Wahlaufrufen die Öffentlichkeit auch direkt an, um diese von der Wahl/Abwahl

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eines Kandidaten zu überzeugen, was der Praktik des indirekten Lobbyings entspricht. Gleichzeitig darf nicht übersehen werden, dass sich nicht nur Interessengruppen, sondern sehr häufig auch Privatpersonen an der Finanzierung von Wahlkämpfen beteiligen. Es wäre demnach falsch, bei der Wahlkampffinanzierung von einer exklusiven Tätigkeit von Lobbygruppen zu sprechen. Laut einem Bericht der New York Times waren während der Präsidentschaftsvorwahlen im Jahr 2016 lediglich 158 Familien für die Hälfe aller Wahlkampfspenden verantwortlich (Confessore 2015), was den Stellenwert von individuellen Geldspenden in US-Wahlkämpfen verdeutlicht.

3.1

„Money, like water, always finds an outlet“ oder „Eine kurze Geschichte der Wahlkampffinanzierung“1

Die möglichen Zugänge zur Wahlkampffinanzierungsgeschichte sind nahezu unerschöpflich. Zu viele Akteure, Verfassungsinstitutionen, Gesetze, Gerichtsentscheidungen, Interessengruppen oder Skandale haben das Wahlkampffinanzierungsrecht im Laufe der Zeit geprägt. Weil immer wieder neue und zum Teil kreative Wege gefunden wurden, um bestehende Regularien zu umgehen, lässt sich im Zentrum der Reformbemühungen zumindest eine Konstante ausmachen: Das Stopfen von Schlupflöchern. Denn, wie die ehemaligen Verfassungsrichter Stevens und O’Connor in der Entscheidung McConnell v. FEC (2003) treffend bemerkt hatten, verhält es sich mit Geld wie mit Wasser: „Money, like water, will always find an outlet.“ Ehe die so genannten loopholes aber gesucht und genutzt werden konnten, bedurfte es jedoch zunächst der Errichtung erster Finanzierungsstatute. Der erste Meilenstein auf diesem Gebiet wurde 1907 durch den Tillman Act gesetzt. Vor dem Hintergrund des bis dato teuersten Wahlkampfes von 1896 (McKinley vs. Bryan), der maßgeblich durch Großkonzerne (trusts) und reiche Industrielle (robber barons) finanziert wurde, schob das von Roosevelt unterzeichnete Gesetz Wahlkampfspenden von Unternehmen künftig einen Riegel vor. 1947 wurde dieses Verbot mit Hilfe des TaftHartley Acts auch auf Gewerkschaften ausgeweitet, nachdem diese in den USA mehr und mehr Fuß gefasst hatten. Nachdem sich die Umsetzung beider Gesetze als schwierig erwies, Wahlkämpfe durch die Einführung der Vorwahlen (ab 1960) immer teurer wurden und Gewerkschaften wie Unternehmen Political Action Committees als Kompensationsmechanismen für sich entdeckt hatten, stieg der Druck im Reformkessel immer weiter an. Zur eigentlichen Erschütterung der Finanzierungsstatute sollte dann aber eine ganz andere Entwicklung führen: der WatergateSkandal. Erstmalig hatte sich hier gezeigt, dass Vorbehalte gegenüber großen, im Verborgenen getätigten Wahlkampfspenden, die in einem breit angelegten Netzwerk von Korruption mündeten, keine an den Haaren herbeigezogenen Verschwörungstheorien waren, sondern der Realität entsprachen. Der daraufhin vom Kongress 1

Die im Folgenden angestellten Überlegungen wurden teilweise bereits in den Beiträgen Hebenstreit 2016 sowie Hebenstreit 2018 veröffentlicht.

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mit breiter Mehrheit verabschiedete Federal Election Campaign Act (FECA) von 1974 sollte das erste umfassende Wahlkampffinanzierungsgesetz der USA darstellen. Konkret regelte es die folgenden Fragen: 1. Wieviel darf von wem gespendet werden? (contribution limits), 2. Wieviel darf wer ausgeben (expenditure limits), 3. Wie kann Wahlkampffinanzierung transparent gestaltet werden (disclosure) sowie 4. die Frage danach, ob es sich bei der öffentlichen Wahlkampffinanzierung (public financing) um eine effektive Alternativen zum bestehenden System handelt? Letztlich wurde im Rahmen des FECA-Statuts auch die wahlüberwachende Federal Election Commission ins Leben gerufen. Noch bevor FECA allerdings komplett in Kraft treten konnte, wurden Teile des Gesetzes durch die Entscheidung Buckley v. Valeo (1976) wieder revidiert. Stein des Anstoßes war dabei die Verfassungskonformität der Ausgabenrestriktionen (expenditure limits), die von der richterlichen Mehrheit als Einschnitt in das Recht auf freie Meinungsäußerung ( freedom of speech) unter dem ersten Verfassungszusatz zurückgewiesen wurde. Aufgrund der ansonsten robust arbeitenden FECAStatute sollte sich mit dem soft money jedoch ein weiteres beträchtliches Schlupfloch auftun. Als soft money werden Wahlkampfspenden verstanden, die weder bewilligungs- noch offenlegungspflichtig sind und nur für party-building-Aktivitäten, Wählerinformationen (voter education) und -registrierung Verwendung finden dürfen. Letztlich war der Anstieg dieser Gelder so stark geworden, dass der Kongress mit dem Bipartisan Campaign Reform Act (BCRA) im Jahr 2002 erneut legislativ tätig wurde. BCRA verlangte fortan, dass Wahlwerbung, die einen Kandidaten unterstützt oder ablehnt, ausschließlich aus hard money-Geldern, also Geldern, die direkt an Kandidatenkampagnen gerichtet sind, finanziert werden dürfen. Nachdem mit FECA und BCRA die Stunde der Legislative geschlagen hatte, schob sich spätestens seit Mitte der 2000er-Jahre eine andere staatliche Gewalt in den Vordergrund und entwickelte sich zum neuen gestaltenden Akteur – die Rede ist von der Judikative. Insbesondere unter Vorsitz von Chief Justice John Roberts wurde unter dem Banner des Rechts auf freie Meinungsäußerung (1st Amendment) eine umfassende Deregulierung eingeläutet und die mühsam aufgebauten, stark-regulativen Statute Stück für Stück abgetragen. Kulminieren sollte diese Entwicklung dann im Citizens United-Urteil (2010), das gemeinsam mit der Folgeentscheidung SpeechNow.org v. FEC (2010) die Schleusen für unbegrenzte Wahlkampfspenden von Unternehmen, Banken, Gewerkschaften oder Einzelpersonen öffnen sollte. Mit den in Folge der Entscheidungen aufkommenden Super PACs gewannen fortan auch intransparente, als dark money-Spenden bezeichnete, Wahlkampfgelder an Popularität. Wie stark das Ausmaß an Deregulierung nach der landmark decision Citizens United tatsächlich ist, lässt sich an einem WatergateVergleich des an der Harvard University lehrenden Verfassungsrechtlers Lawrence Lessig ablesen: „We can [now, d.V.] do legally everything Nixon had to do illegaly“ (Lessig 2014). Im Jahr 2014 wurde mit der Entscheidung McCutcheon v. FEC schließlich das aggregierte Spendenlimit von 117.000 US-$ verworfen und damit der Weg zur Unterstützung beliebig vieler auf Bundesebene antretender Kandidaten geebnet.

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Abb. 4 Spendenlimitierungen für Wahlkämpfe auf Bundesebene (2019–2020). (Quelle: Eigene Darstellung nach Bestimmungen der Federal Election Commission (2019))

3.2

Akteure und Spendenlimitierungen

Zu den klassischen Akteuren der Wahlkampffinanzierung wie Einzelpersonen, Kandidaten, Parteien und PACs haben sich nach den umfassenden, durch Citizens United ausgelösten Deregulierungen, neue Akteure gesellt: Dies betrifft zum einen Super PACs, aber auch die rechtlich wieder erstarkten Unternehmen und Gewerkschaften. Aus Abb. 4 geht hervor, wie viel jeder der genannten Akteure an die jeweils anderen Akteure übermitteln darf. Hierbei fällt zunächst auf, dass zahlreiche der unter FECA errichteten Spendenlimitierungen noch immer Gültigkeit besitzen. So darf eine Einzelperson an Kandidaten oder Bundesparteien nach wie vor nicht mehr als 2800 US-$ (pro Wahl) bzw. 35.500 US-$ (pro Jahr) spenden. Zwar werden diese Summen aus inflationsbedingten Gründen fortwährend angehoben, jene Änderung sind aber lediglich marginal. Unternehmen und Gewerkschaften ist es indes auf keinem Weg möglich, Kandidaten, PACs sowie Bundes- oder Bundesstaatsparteien auf direktem Weg zu unterstützen. Warum und in welcher Form hat Citizens United dann die Schleusen für unbegrenzte Wahlkampfspenden geöffnet? Der Ausgangspunkt zur Beantwortung dieser Frage liegt in den klassischen Political Action Committees (PACs). Bei diesen handelt es sich um nichts anderes als von Interessengruppen betriebene Spendensammelmaschinerien, welche für Kandidaten und Parteien finanzielle Wahlkampfunterstützung leisten möchten. Jene PACs fallen allerdings unter die klassischen FECA-Spendenlimits. Weil Unternehmen und Gewerkschaften laut Citizens United

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aber unbegrenzt viel Geld spenden dürfen und das SpeechNow-Folgeurteil festsetzte, dass PAC-Spenden nur dann begrenzt werden dürfen, wenn diese unmittelbar an Kandidaten oder Parteien getätigt werden, bildeten sich die so genannten Super PACs. Solange deren Aktivitäten nicht mit den genannten Akteuren koordiniert sind (was in der Praxis aber aufgrund von Schlupflöchern fast immer der Fall ist), können diese von allen aufgeführten Akteuren unbegrenzte Wahlkampfspenden annehmen. Ähnlich verhält es sich mit den so genannten 501(c)- bzw. 527er-Gruppierungen, die ihren Namen von den entsprechenden Paragraphen des zentralen amerikanischen Steuergesetzes (Internal Revenue Code) erhalten und nicht nur von Steuerzahlungen, sondern auch Transparenzpflichten nahezu völlig befreit sind. Gemeinsam mit Super PACs haben sich diese nach 2010 zu einflussreichen Kräften auf dem Spielfeld der Wahlkampffinanzierung entwickelt.

3.3

Entwicklung der Wahlkampfkosten

Aus Abb. 4 und 5 lassen sich nun die Entwicklungen der Wahlkampfkosten im zeitlichen Verlauf nachvollziehen. Zunächst fällt ins Auge, dass Präsidentschaftswahlzyklen immer teurer werden. Dies liegt bei genauerem Hinsehen aber nicht daran, dass Präsidentschaftswahlen immer teurer werden, sondern die gleichzeitig stattfindenden Kongresswahlen. Anders als in den Medien dargestellt, nahmen die

Abb. 5 Entwicklung der Gesamtwahlkosten (1998–2018). (Quelle: Center for Responsive Politics 2019b)

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Kosten zur Wahl des Staatsoberhauptes seit 2008 kontinuierlich ab – ein Effekt, der sogar noch deutlicher hervortreten würde, wenn man den Faktor der Inflation miteinbeziehen würde. Dahingegen lässt sich der Trend immer teurer werdender Kongresswahlkämpfe für alle midterm elections und auch Präsidentschaftswahlzyklen (mit Ausnahme von 2008) deutlich bestätigen. Diese haben sich ferner innerhalb von nur 20 Jahren mehr als verdreifacht und beliefen sich im Jahr 2018 auf 5,73 Mrd. US-Dollar. Zum Vergleich: die Wahlen zum deutschen Bundestag 2017 kosteten rund 92 Mio. Euro (Süddeutsche Zeitung 2017). Auch wenn Vergleiche dieser Art nur mit Vorsicht gezogen werden dürfen, ist dennoch bemerkenswert, dass Bundestagswahlen damit immer noch billiger sind als die teuersten Senatswahlkämpfe. So beliefen sich die Kosten für den texanischen Senatswahlkampf zwischen Beto O’Rourke und Ted Cruz 2018 auf 125,48 Mio. US-Dollar (Center for Responsive Politics 2019e). Wie stark der nach 2010 einsetzende Citizens United- bzw. generelle Deregulierungseffekt ausfällt, lässt sich aus Abb. 6, welche die Entwicklung der outside spending und dark money-Gelder darstellt, ablesen. Bei outside spendingGeldern handelt es sich um Transaktionen, die nicht direkt an Kandidaten oder Parteien (inside money) gespendet, sondern lediglich von Super PACs (sowie 501 (c)- und 527er-Gruppen) angenommen werden dürfen. Vergleicht man die Wahlzyklen 2008 und 2012 miteinander, wird deutlich, wie stark die Explosion dieser Spendengelder ausgefallen ist – stiegen diese doch

Abb. 6 Entwicklung der Outside Spending- und Dark Money-Gelder (1998–2018). (Quelle: Center for Responsive Politics 2019c, d)

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innerhalb von nur vier Jahren um 597,95 % an. Ein nicht unbeachtlicher Teil dieser neuen Spendengelder stammt dabei aus den Taschen vermögender Privatpersonen. Allein der konservative Großspender Sheldon Adelson hatte 2018 122,25 Mio. US-$ (Center for Responsive Politics 2019f) aus der eigenen Tasche investiert. Ob es sich dabei um die tatsächliche Summe handelt, die Adelson investierte und wie viel Unternehmen, Banken oder Gewerkschaften zum Wahlkampf beitrugen, lässt sich aufgrund fehlender Transparenzpflichten nicht sagen. Denn auch jene als dark money-Gelder bekannten Summen sind seit 2010 drastisch angestiegen.

3.4

Auswirkungen der Wahlkampffinanzierungspraktiken

Welche Folgen ziehen praktisch unbegrenzte, intransparente und aus den unterschiedlichsten Konten stammende Wahlkampfspenden nun aber nach sich? Hierfür ist es ratsam zwischen zwei unterschiedlichen Auswirkungen zu differenzieren: den elektoralen sowie den non-elektoralen Folgen. Erstere interessieren sich dabei ausschließlich für den Wahlkampf selbst und fragen danach, ob sich mit Geld Wahlergebnisse kaufen lassen. Dahingegen interessieren sich non-elektorale Folgen für Auswirkungen auf das generelle politische System, so zum Beispiel Themen wie Partizipation, Gesetzgebung, Responsivität oder das Vertrauen der Bürger.

3.4.1 Elektorale Folgen der US-Wahlkampffinanzierungspraktiken Die These, dass Wahlen in den USA käuflich sind, wird in steter Regelmäßigkeit über diverse Kanäle verbreitet. Dies, so das Argument, ließe sich schon allein daran erkennen, dass in nahezu allen Wahlkämpfen derjenige Kandidat gewinnt, der finanziell besser ausgestattet ist. Und in der Tat verfügen Gewinner von Repräsentantenhauswahlkämpfen in neun von zehn Fällen über eine besser gefüllte Wahlkampfkasse als ihre jeweiligen Kontrahenten. Nun aber von zweifelsohne beachtlichen Korrelationen auf strenge Kausalitätsmuster zu schließen, ist methodisch betrachtet aus gleich mehreren Gründen riskant. Zum einen wird dabei übersehen, dass siegreiche Kandidaten nicht nur Fundraisingsieger, sondern sehr wahrscheinlich auch Amtsinhaber waren – so lag die Wiederwahlquote im Wahlkampf 2016 im Repräsentantenhaus bei 97 % und im Senat bei 93 % (Center for Responsive Politics 2019g). Im Gegensatz zu ihren Herausforderern verfügen incumbents über zahlreiche strategische Vorteile, die – wie die generell höheren Bekanntheitsgrade, um nur einen zu nennen – auch am Wahltag ihre Wirkung entfalten. Zum anderen gilt es als sehr wahrscheinlich, dass Kandidaten aufgrund ihrer als höher empfundenen Qualität (Kompetenzen, Erfahrung, Charisma, etc.) nicht nur mehr Stimmen, sondern gleichzeitig auch mehr Wahlkampfgelder hinter sich vereinen können (Brown 2013). Vieles spricht also dafür, dass es sich bei den eingangs erwähnten Korrelationen um das Problem von Scheinkorrelationen handelt. Aber auch andere Hinweise sprechen gegen die Käuflichkeit von US-Wahlen. Fragt man zunächst danach, was von den mittlerweile in die Milliarden US-Dollar reichenden Wahlkampfspenden gekauft wird, lautet die simple Antwort aufgrund der fungiblen Eigenschaft des Geldes: im Prinzip Alles, angefangen von Büromaterialien über Umfragedaten bis hin zu

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Personalkosten für Anwälte, externe Berater oder die regulären Kampagnenmitarbeiter. Den mit Abstand größten Ausgabeposten bilden indes die Aufwendungen für Wahlwerbung (insb. TV-Werbespots), die nicht selten zwei Drittel aller Kampagnengelder konsumieren. Es zeigt sich jedoch, dass Ausgaben für Wahlwerbung keinen konstanten Nutzen besitzen. Im Falle einer Übersaturierung des Wahlwerbemarktes kann es sogar vorkommen, dass Wahlwerbung überhaupt keine Wirkung mehr entfaltet. Jener threshold effect bezeichnet das Phänomen, dass ein Kandidat x in einer Wahl y einen bestimmten Schwellenwert (threshold amount) z benötigt, um innerhalb der Wählerschaft am Wahltag eine realistische Erfolgschance zu haben. Sobald ein Kandidat diesen Schwellenwert z jedoch überschreitet, nimmt die Effektivität des investierten Geldes ab und nähert sich dem Schwellenwert asymptotisch an (Hebenstreit 2016, S. 103). Geld ist somit eine wahlvoraussetzende, nicht aber zwangsläufig wahlentscheidende Variable. Führt man den Gedanken weiter, lässt sich jedoch dort eine wahlentscheidende Wirkung vermuten, wo der Schwellenwert nicht erreicht wird und ein Werbevorsprung auch einem Bekanntheitsvorsprung entspricht – dies ist vor allem auf niedrigeren politischen Ebenen der Fall.

3.4.2

Non-Elektorale Folgen der US-Wahlkampffinanzierungspraktiken Deutlich spürbarer werden die Folgen unbegrenzter Wahlkampfgelder dahingegen fernab des elektoralen Prozesses oder besser gesagt dort, wo man sie nicht unbedingt erwarten würde. Dies lässt sich u. a. an den folgenden vier Fallbeispielen verdeutlichen: der Zunahme parteipolitischer Polarisierung, dem am Spendeneintreiben orientierten Alltag eines Abgeordneten, der abnehmenden Responsivität sowie einem voranschreitenden Vertrauensverlust. Ausgelöst durch die massive Zunahme der outside spending-Gelder (vgl. Abb. 6), nahm auch der Einfluss ideologisch motivierter Interessengruppen auf die Nominierung von Kandidaten zu. Dies führte nicht selten dazu, dass diejenigen Kandidaten in Vorwahlen die größte finanzielle Unterstützung erhielten, die die ideologisch extremste Position besetzen. Dies resultiert im Umkehrschluss darin, dass die ohnehin schon gravierende ideologische Polarisierung im Kongress sich noch einmal intensiviert hat (LaRaja und Schaffner 2015). Die generell ansteigenden Wahlkampfkosten sowie die potentielle Gefahr einer von Super PACs oder 501(c)-Gruppen finanzierten negative campaign vor Augen habend, widmen immer mehr Abgeordnete einen beträchtlichen Teil ihres Alltages dem unaufhörlichen Einsammeln von Wahlkampfspenden. Neuen Demokratischen Abgeordneten wurde seitens des DCCC sogar empfohlen, jeden Tag mindestens vier Stunden für das Eintreiben von Spendengeldern zu verwenden (Grim und Siddiqui 2013). Mehrere quantitativ und experimentell orientierte Studien konnten darüber hinaus zeigen, dass jene Abhängigkeit von der Großzügigkeit privater Spendengeber zu einer Abnahme der Responsivität führt. Abgeordnete berücksichtigen demzufolge allen voran die politischen Präferenzen der Geldgeber, wohingegen die Forderungen der Bürger, die sie letztlich ins Amt gewählt haben, oftmals unberücksichtigt bleiben (Gilens 2012; Gilens und Page 2014). Neben dem Lobbying zählen folglich auch

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Wahlkampfspenden zu den wesentlichen Transmissionsriemen der Translation von ökonomischer in politische Ungleichheit. In der Summe führen die genannten Entwicklungen neben einer ausgeprägten Unzufriedenheit hinsichtlich der Funktionsweise des Wahlkampffinanzierungssystems, inklusiver wählerlagerübergreifenden Forderungen nach Reformen, zu einer generellen Abnahme des Vertrauens in zentrale politische Institutionen (vgl. American National Election Study 2018). Dies ist für sich genommen schon ein problematischer Umstand, noch folgenreicher wird dieser aber, wenn abnehmendes Vertrauen zu abnehmender Partizipation führt.

4

Fazit: Money, The Mother’s Milk of Politics

Interessengruppen sind im amerikanischen Regierungssystem allgegenwärtig. Überall, wo Gesetzes- und Richtungsentscheidungen getroffen werden – und dies umfasst in den USA alle drei staatlichen Gewalten sowie alle relevanten politischen Ebenen – versuchen diese mit professionellen Lobbyisten und erheblichem finanziellen Aufwand ihre Interessen durchzusetzen. Gleiches gilt für die Akteure der Wahlkampffinanzierung, die neben Präsidentschafts- als auch Kongresswahlkämpfen immer häufiger auf die Besetzung von Richterämtern, die in vielen US-Bundesstaaten per demokratischer Wahl vollzogen wird, Einfluss nehmen. Im Zeitalter des permanent campaignings werden diese Tendenzen durch den Umstand intensiviert, dass heutzutage frisch gewählte Kongressabgeordnete oder gar Präsidenten bereits am ersten Tag im Amt damit beginnen, Geld für ihre Wiederwahl einzuwerben. Die einstmalige klare Trennung von Regierungs- und Wahlkampfphase ist aus Sicht moderner Wahlkampffinanzierungspraktiken damit aufgehoben. Geld spielt im Regierungssystem der USA somit überall und zu jeder Zeit eine dominante Rolle. Aus diesem Grund hat sich neben der Charakterisierung der Verflechtung von Geld und Politik als oldest connection, eine zweite, noch weiterreichende Metapher entwickelt, die „money“ als „the mother’s milk of politics“ (Hrebenar 1997, S. 191) bezeichnet. An dem Umstand, dass Geld im Regierungssystem der USA eine so einflussreiche Rolle zukommt, werden auch Regulierungsversuche nicht viel ändern können, denn wie die Fallbeispiele des Lobbyismus und der Wahlkampffinanzierung verdeutlicht haben, findet Geld – wie Wasser – immer einen Weg. Ganz im Gegenteil: Insbesondere im Bereich der Wahlkampffinanzierung stehen die Zeichen der Geldströme aufgrund der massiven Deregulierung von Spendenlimits in den kommenden Jahren eher auf Intensivierung denn Abnahme. Und auch das unerfüllte drain the swamp-Wahlversprechen Donald Trumps wird zu einer weiteren Perpetuierung des generellen Einflusses des Geldfaktors in der US-Politik beitragen. Es scheint daher sehr unwahrscheinlich, dass sich zentrale Pathologien, die die gegenwärtige Krise der Demokratie in den USA (vgl. den Beitrag von Siewert & Wagemann) kennzeichnen und mit dem Faktor Geld in engem Zusammenhang stehen, sich kurz- bis mittelfristig verbessern werden. Zu stark nimmt der Faktor Geld, der sich allen voran in der Gestalt des Lobbyismus und der Wahlkampffinanzierung zeigt, ebenso auf Aspekte wie das Vertrauen der Bürger, die Partizipation und

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Responsivität sowie nicht zuletzt das Ausmaß an ökonomischer und politischer Ungleichheit Einfluss. Wie sich bereits im Präsidentschaftswahlkampf 2016 andeutete, wird die Verflechtung von Geld und Politik daher in künftigen Debatten zu einem echten Evergreen-Thema avancieren.

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Lobbyismus und Wahlkampffinanzierung

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Teil V Policies Matter: Regieren im 21. Jahrhundert

Bildungspolitik Zwischen Wettbewerb und sozialem Zusammenhalt Michael Dobbins und Tonia Bieber

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Das US-amerikanische Bildungssystem: Ein kurzer historischer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . 3 Die soziale Integrationsfunktion des Bildungswesens unter föderalen, finanziellen, politischen und judiziellen Aspekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Reformbemühungen im 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ausblick: Internationalisierung und politische Polarisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

448 449 451 457 461 463

Zusammenfassung

Seit Jahrzehnten wird das Bildungssystem der USA von zwei Herausforderungen gekennzeichnet, einerseits als zentraler Wirtschafts- und Wohlstandsfaktor zu fungieren und andererseits Chancengleichheit, soziale Integration und gleichen Bildungszugang zu gewährleisten. Die US-Bildungspolitik der letzten Jahrzehnte ist nicht zuletzt deshalb von starkem politischem Aktionismus geprägt, der jedoch – wie von diversen Leistungsvergleichen belegt – nur selten seine Ziele erreichte. Dieser Beitrag gibt einen Überblick über die Strukturen und Steuerungsformen des US-amerikanischen Bildungssystems, seinen hohen Dezentralisierungsgrad und marktorientierten Charakter, sowie die historische Entwicklung von sozialer Segregation zu Integration. Vor dem Hintergrund politischer Steuerung und Finanzierung des heutigen Bildungssystems sowie der Rolle verschiedener politischer Akteure werden die jüngsten bildungspolitischen Reformen zur Steigerung von Qualität und Rechenschaft und zur Kostenreduktion des Hochschulstudiums skizziert. Im Kontext von Internationalisierungsprozessen und M. Dobbins (*) Fachbereich Politik und Verwaltung, Universität Konstanz, Konstanz, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] T. Bieber Bundesministerium für Bildung und Forschung, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_24

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M. Dobbins und T. Bieber

innenpolitischer Polarisierung werden die veränderten Rahmenbedingungen für die Gestaltung von Bildungspolitik aufgezeigt. Schlüsselwörter

Bildungsbenachteiligung · Bildungspolitik · Hochschulen · Internationalisierung · Schulen · Soziale Integration

1

Einleitung

Das Bildungssystem in den USA ist seit Jahrzehnten von einem inhärenten Spannungsfeld gekennzeichnet. Einerseits fungiert das Bildungswesen und vor allem das Hochschul- und Forschungssystem als Magnet für ausländische Talente und leistet damit einen unermesslichen Beitrag zum wirtschaftlichen Wohlstand des Landes. Andererseits weist das Bildungssystem aber auch erhebliche Schwächen auf, wie z. B. bei der Chancengleichheit (Hochschild 2003). Spätestens seit dem Bericht A Nation at Risk aus dem Jahre 1983 ist bekannt, dass breiten gesellschaftlichen Gruppen der Zugang zu erstklassiger Bildung verwehrt bleibt, was wiederum die wirtschaftliche und technologische Wettbewerbsfähigkeit gefährdet. Dabei erreichten die Reformen der letzten Jahrzehnte – wie viele nationale und internationale Leistungsvergleiche belegen (Martens 2010; Bieber et al. 2014) – nur selten ihre gesteckten Ziele. Trotz diverser Bemühungen und durchaus positiver Tendenzen in einigen Bereichen wird das US-Bildungswesen den Herausforderungen der globalen Wissensökonomie nicht immer gerecht und meistert die Integration, Bildung und Ausbildung sozial benachteiligter und lernschwacher Schüler1 nur bedingt. Dieser Beitrag gibt einen umfassenden Überblick über die Institutionen und Steuerungsformen des US-amerikanischen Bildungssystems. Der zweite Teil des Beitrags setzt sich mit der historischen Entwicklung des Systems auseinander. Dabei liegt der Fokus auf den historischen Ursachen für den hohen Dezentralisierungsgrad und die ausgeprägte Wettbewerbs- und Marktorientierung. Im dritten Abschnitt wird detailliert auf die wesentlichen Merkmale des modernen Bildungssystems eingegangen, wie beispielsweise seine politische Steuerung und Finanzierung, die Rolle von Zentralregierung, lokalen Bildungsträgern und Justiz, sowie seine Entwicklung von sozialer Segregation zu Integration. Im vierten Teil werden die jüngeren bildungspolitischen Reformbemühungen erläutert. Dazu gehören vor allem das No Child Left Behind-Gesetz, sowie die Versuche, die steigenden Kosten des Hochschulstudiums in den Griff zu bekommen. Das abschließende Kapitel widmet sich den veränderten Rahmenbedingungen für die Gestaltung der Bildungspolitik im Zeichen der zunehmenden Internationalisierung, aber auch der gewachsenen innenpolitischen Polarisierung des Landes.

1

Im vorliegenden Kapitel wird aus Gründen des Leseflusses durchgehend das generische Maskulinum verwendet. Es umfasst selbstverständlich Menschen jeden Geschlechts gleichermaßen.

Bildungspolitik

2

449

Das US-amerikanische Bildungssystem: Ein kurzer historischer Überblick

Angesichts seines dezentralen und heterogenen Charakters ähnelt das Bildungssystem der USA in seinen wesentlichen Grundzügen der allgemeinen politischen Struktur des Landes. Die ersten Schulen entstanden bereits im 16. Jahrhundert und funktionierten primär als eng geknüpfte soziale Einheiten und als Erweiterungen von Familien und Kirchengemeinschaften (Loveless 1998). Vor diesem Hintergrund etablierte sich schon früh die Tradition der lay governance, d. h. der weitgehenden autonomen Regulierung der Schulstrukturen (Alsbury 2008, S. 126), an denen sich gewählte Interessenten aus dem kirchlichen, sozialen und wirtschaftlichen Umfeld aktiv beteiligten. Bildung wurde damit von Anfang an eine lokale Angelegenheit – eine Tendenz, die durch das Fehlen einer starken zentralen Bürokratie verstärkt wurde (Busemeyer 2007, S. 60). Die territoriale Expansion nach Westen beflügelte diese Entwicklung weiter, indem neue lokale Schuleinrichtungen zu öffentlichen Sammelpunkten für Siedler aus den übrigen Bundesstaaten wurden. Die frühe Demokratisierung der USA ebnete den Weg für die relativ frühe Bildungsexpansion. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts galt Bildung als Mittel zur Demokratisierung und gesellschaftlichen Inklusion. So erkannte bereits 1844 ein Gericht im Bundesstaat Vermont das Bürgerrecht auf den Besuch einer allgemeinen Schule an (Martens 2010, S. 236). Bildung wurde zunehmend einem Sozialisierungsinstrument für die Massen, was wiederum die gesellschaftliche Teilhabe begünstigen sollte. Immer mehr Eltern der wachsenden Mittelschicht wollten ihren Kindern Fertigkeiten vermitteln, die ihnen die Teilhabe an der Industrialisierung ermöglichen sollten (Busemeyer 2007, S. 62). Dieses humankapitalorientierte Verständnis von Bildung führte im Vergleich zu Kontinentaleuropa zum frühen Ausbau des Sekundarbildungswesens, wobei neben rein wirtschaftlichen Interessen mit inklusiver Bildung versucht wurde, die Lage der Arbeiterkinder zu verbessern (Church 1976, S. 60). Im Gegensatz zu vielen europäischen Staaten, in denen das private bzw. von der Kirche getragene Schulwesen langsam zurückgedrängt wurde, ist in den USA die parallele Existenz öffentlicher und privater Schulen weitgehend erhalten geblieben. Während die öffentlichen Schulen vorwiegend der „Amerikanisierung und Sozialisierung“ der Einwanderer dienten (Busemeyer 2007, S. 62), gründeten diverse Einwanderergruppen ihre eigenen Schulen, was die Expansion und Heterogenität des Bildungssystems weiter vorantrieb. Für die Verstaatlichung des Schulwesens war das Common School Movement im 19. Jahrhundert von großer Bedeutung. Diese von Horace Mann inspirierte Bewegung zielte nicht nur darauf ab, Primär- und Sekundarbildung für die breiten Massen – unter Ausschluss der afroamerikanischen Bevölkerung – zugänglich zu machen, sondern auch nach preußischem Vorbild gemeinsame Inhalte für alle Schüler zu verankern. Zwar plädierte Mann für die Zurückdrängung der Kirche aus dem Bildungssystem. Doch in Wirklichkeit orientierten sich die neuen Schulcurricula stark an protestantischen Grundsätzen. Vor diesem Hintergrund gründeten viele Katholiken ihre eigenen Einrichtungen (Busemeyer 2007, S. 62). Im Gegenzug wurden vor allem in den Südstaaten zahlreiche

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M. Dobbins und T. Bieber

protestantische Schulen gegründet, um dem zunehmenden katholischen Einfluss entgegenzuwirken. Neben der Tradition der gesellschaftlichen Teilhabe und der zunehmenden Institutionalisierung von Bildung als Bürgerrecht existierte in den USA eine tief verwurzelte Tradition der Segregation. Auch nach der Abschaffung der Sklaverei wurden die Afroamerikaner weiterhin diskriminiert. Infolge des Plessy vs. Ferguson-Urteils (1896), das die Bereitstellung getrennter Einrichtungen für Schwarze und Weiße nach dem Prinzip separate but equal (getrennt, aber gleichberechtigt) beinhaltet, wurden so genannte black schools gegründet. Danach liefen diverse Bestrebungen ins Leere, die Finanzierungsgrundlage der schwarzen und weißen Schulen vor allem in den Südstaaten gleichzustellen. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg existierte keine zentralstaatliche bildungspolitische Koordinierungsinstanz. Damit zeichnete sich das System nicht nur durch seine beispiellose Heterogenität im Hinblick auf Qualität, Finanzierung und Ausbildung des pädagogischen Personals, sondern auch durch einen auffälligen Widerspruch aus. Einerseits lag dem System die Leitidee zugrunde, dass Schulen zur gesellschaftlichen Integration beitragen sollten. Aufgrund ihres segmentierten Charakters verfestigte das Schulsystem andererseits die soziale Segregation und Spaltung weiter (Hochschild 2003). Der Hochschulsektor kann auf einen ähnlichen Entwicklungspfad zurückblicken wie das Sekundarbildungswesen. Wie auch die Schulen dienten die ersten Universitäten (z. B. Harvard 1636, Yale 1701) vorwiegend der Ausbildung des kirchlichen Nachwuchses. Als weitgehend selbstfinanzierte und selbsttragende studentische und akademische Gemeinschaften waren die Universitäten jener Zeit ihren europäischen Pendants sehr ähnlich. Im Zuge der Industrialisierung wurde höhere Bildung als Schlüssel zur Sicherstellung von Humankapital verstanden, was zur Gründung neuer forschungsorientierter Universitäten führte wie z. B. der American University oder auch der Johns Hopkins University, die sich stark an der Humboldt’schen Leitidee der Einheit von Forschung und Lehre ausrichteten. Ähnlich wie im Schulwesen existierte keine zentrale Bildungsbürokratie, so dass die US-amerikanischen Hochschulen schon früh eine starke Industrie- und Marktorientierung aufwiesen. Aufgrund fehlender staatlicher Finanzierung waren US-amerikanische Universitäten und Colleges2 seit jeher auf privates Kapital angewiesen. Die aktive Finanzierung der Universitäten durch Industrielle (z. B. Dartmouth, Cornell) machte sie zu sehr durchdringbaren Institutionen, deren interne Angelegenheiten (z. B. Studien- und Forschungsinhalte, Personalpolitik) durch externe stakeholder mitgestaltet wurden. Zwar wurden infolge der Morrill Land-Grant-Colleges Acts (1862 und 1890) viele öffentliche Hochschulen gegründet (state universities und state colleges). Der private Charakter der meisten Hochschulen wurde jedoch weitgehend aufrechterhalten, so dass sie sich eher im Einklang mit den regionalen wirtschaftlichen

2

Colleges sind generell Hochschuleinrichtungen, die in Fachabteilungen gegliedert sind und undergraduate-Programme (v. a. Bachelor-Abschlüsse und associate degrees) anbieten. Universities sind im Allgemeinen Hochschulen, die Graduiertenprogramme (d. h. Master-Abschlüsse und Doktorandenprogramme) anbieten.

Bildungspolitik

451

Anforderungen und den akademischen, beruflichen, religiösen und politischen Interessen ihrer studentischen Klientel entwickelten als mit nationalstaatlichen Zielsetzungen. Vor dem Hintergrund des Ziels, äußerst heterogenen gesellschaftlichen Gruppen eine maßgeschneiderte Bildung zu bieten, zeichnet sich die Hochschullandschaft der USA bis heute durch eine extreme Vielfalt aus: neben Elite-Universitäten mit starker Forschungsorientierung existieren religiöse Hochschulen (v. a. katholische, protestantische, baptistische und jüdische), sportorientierte Colleges, berufsvorbereitende Elite- und Massenuniversitäten sowie Hochschulen mit expliziter politischer Orientierung (konservativ, liberal). Aufgrund der dezentralen Steuerung verstehen sich die ca. 7000 amerikanischen postsekundären Bildungseinrichtungen als weitgehend autonome, marktorientierte Institutionen. Dies gilt auch für die öffentlichen Universitäten, die einerseits zwar unter der formellen Kontrolle des Staates stehen und stärker von Steuergeldern abhängig sind, andererseits aber über eine hohe Autonomie hinsichtlich Personal, strategischer Investitionen und der Festlegung von Bildungsinhalten verfügen. Anstelle bürokratischer Steuerung dominieren unternehmerische Managementmethoden. Vor diesem Hintergrund ist die Hochschulausbildung in den USA häufig unmittelbar berufsbezogen, wobei Bildung als Investition betrachtet wird, die Absolventen vermeintlich deutlich bessere Berufsaussichten und Verdienstmöglichkeiten bietet als Nicht-Absolventen.

3

Die soziale Integrationsfunktion des Bildungswesens unter föderalen, finanziellen, politischen und judiziellen Aspekten

Das US-amerikanische Bildungssystem erfüllt bedeutende Funktionen der sozialen Integration. Hierbei spielt insbesondere der Aspekt der föderalen Machtverteilung eine Rolle, insbesondere der – zumindest bis zur Amtsübernahme Trumps – wachsende Einfluss der Zentralregierung im Bildungsbereich. Auch politische und gerichtliche Maßnahmen sowie finanzielle Verteilungsmechanismen des Staates können sich unmittelbar auf die Bildungschancen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen auswirken, wie das Beispiel der sog. affirmative action zeigt. Ein weiterer zentraler Faktor ist die Interessengruppenpolitik, die sich besonders auf die gesellschaftliche Integrationsfähigkeit des Bildungswesens der USA auswirkt.

3.1

Erweiterung zentralstaatlicher Kompetenzen im Bildungsbereich

In der US-Verfassung werden dem Bund keine bildungspolitischen Entscheidungskompetenzen zugeschrieben. Nach dem Zweiten Weltkrieg gewann dieser jedoch an Einfluss, zumindest auf die Finanzierung von Bildung. Mit dem GI-Bill unterstützte die Bunderegierung die Aus- und Weiterbildung der aus dem Krieg zurückgekehrten Soldaten – vor allem mit dem Ziel, eine befürchtete Massenarbeitslosigkeit zu

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M. Dobbins und T. Bieber

verhindern (Mettler 2005). Diese Maßnahmen beförderten die weitere Expansion und Diversifizierung des Bildungssystems. Es kam beispielsweise zu Neugründungen von Hochschulen (z. B. sog. community colleges), die nicht nur die privilegierte Elite bedienten, sondern besonders die gesellschaftlichen Mittel- und Unterschichten. Nachdem die Sowjetunion einen Sputnik-Satelliten ins Weltall geschickt hatte, wuchsen Zweifel an der technologischen Überlegenheit der USA. Versuche, das Bildungssystem grundlegend zu reformieren, gingen erneut mit einem schleichenden Ausbau der Kompetenzen des Zentralstaats einher. Konkret wurden bildungspolitische Fördermittel zum Bestandteil verschiedener federal-aid-Programme, die die Lehrerausbildung verbessern und neue Bildungseinrichtungen finanzieren sollten. Dabei legte man einen stärkeren Fokus auf die naturwissenschaftliche Grund- und Weiterbildung als bisher. Bei gleichzeitiger Aufstockung der Mittel für die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften erhöhte der Zentralstaat die Gelder für die naturwissenschaftlich orientierte National Science Foundation. Parallel wurden zur Unterstützung sozial benachteiligter Personen neue Stipendien vergeben und zusätzliche Ressourcen für allgemeinbildende öffentliche Fernsehsendungen aufgebracht – in der Hoffnung, bislang unentdecktes Potenzial der sozial schwächeren Schichten stärker auszuschöpfen (Dobbins und Martens 2010).

3.2

Das Ende der rassistischen Segregation

In diesem Zeitraum setzte der Oberste Gerichtshof der Zwangssegregation schwarzer und weißer Schulen mit dem Brown vs. Topeka Board of Education-Urteil (1954) ein Ende. Dies untermauerte die Rolle des Zentralstaats in der Bildungspolitik, da die Zulassungspraktiken der lokalen Schulen nunmehr unter ständiger Beobachtung der Bundesregierung standen. In diesem Zusammenhang verstärkte der Bund auch seine Bemühungen, Kindern aus ländlichen Gegenden den Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Besonders nennenswert ist die busing-Praxis. Hier urteilte der Oberste Gerichtshof (Swann vs. Charlotte-Mecklenburg Board of Education, 1971), dass Bundesgerichte befugt sind, Kinder aus ethnisch und sozioökonomisch benachteiligten städtischen Schulbezirken in andere Bezirke mit Bussen zu transportieren, um den Abbau der de facto existierenden Rassentrennung zu fördern. Dies hatte jedoch zur Folge, dass sozial stärkere weiße Familien aus den Großstädten in die Vororte (suburbs) zogen oder ihre Kinder an Privatschulen anmeldeten. Später wurden auf regionaler Ebene Versuche unternommen, sozial schwächere Kinder vorwiegend afroamerikanischer Herkunft aus den Großstädten zu Schulen in die Vorstädte zu bringen, was jedoch nur in Einzelfällen das Problem der ungleichen Bildungschancen lindern konnte (Wells et al. 2005).

3.3

Bildung als „Ersatz-Sozialpolitik“

Im Gegensatz zu den Bildungssystemen der deutschsprachigen Länder verstärken einige strukturelle Eigenschaften des Systems die integrative Funktion von Bildung

Bildungspolitik

453

in den USA. Statt der vertikalen Differenzierung in unterschiedliche Schultypen nach deutschem Modell wurden in den USA die high schools als Gesamtschulen ausgebaut. Mit diesem integrativen Bildungsverständnis wurde versucht, Schulkinder unterschiedlicher Lernbegabung und sozioökonomischen Hintergrunds bis zum Ende der Regelschulzeit gemeinsam zu unterrichten. Im Gegensatz zum deutschen Schulsystem werden Kinder mit besonderem Betreuungsbedarf außerdem nicht an gesonderten Förderschulen betreut, sondern in allgemeinen Schulen (Powell 2009). Ein zusätzlicher nicht zu unterschätzender, integrativer Faktor ist die Tatsache, dass die Schulen generell selbst extracurriculare Aktivitäten (z. B. Sport, Musik, Kunst) kostenlos oder kostengünstig organisieren. Die integrative Funktion des amerikanischen Bildungswesens wird durch einen weiteren wichtigen Umstand untermauert: das Fehlen eines gut ausgebauten sozialen Sicherungsnetzes. Bildung erlangte früh den Status eines Bürgerrechts – zumindest für Weiße – und Mittels zum sozialen Aufstieg (Busemeyer 2007). Die mit der mangelnden politischen und administrativen Kapazität des Zentralstaats verbundenen Schwierigkeiten hatten zur Folge, dass Bildungsinvestitionen sowohl von Seiten des Zentralstaats und der Bundesstaaten als auch von Seiten der privaten Haushalte weitgehend als „Ersatz-Sozialpolitik“ fungierten. Dies manifestiert sich vor allem in den sehr hohen – vorwiegend privaten – Bildungsausgaben und vergleichsweise sehr niedrigen öffentlichen Sozialausgaben (Allmendinger und Nikolai 2010). So hatten Bildung und Bildungsausgaben in den USA schon seit jeher den Charakter einer präventiven Investition, die die individuelle Anpassungsfähigkeit an Marktschwankungen gewährleisten sollte. In diesem Zusammenhang spricht etwa Trow (1997, S. 157) von einer fast religiösen Zuversicht der Amerikaner hinsichtlich der positiven Wirksamkeit der kostspieligen Hochschulausbildung auf ihre Zukunftsmöglichkeiten. Auch Hochschild und Scovronick (2003, S. 9) vertreten die These, dass das staatliche (Sekundar-)Bildungswesen die US-amerikanische Antwort auf den europäischen Wohlfahrtsstaat darstelle. Diese Ersatz-Funktion von Bildung zeigt sich einerseits im öffentlichen und privaten Bildungsausgabenniveau der USA im internationalen Vergleich (siehe Abb. 1) und andererseits in dem hohen Anteil der Bevölkerung, der höhere Bildung erlangt.

3.4

Finanzielle Verteilungsmechanismen im Bildungswesen

Die wichtigsten bildungspolitischen Entscheidungskompetenzen liegen auf einzelstaatlicher und lokaler Ebene. Der 1965 verabschiedete Elementary and Secondary Education Act (ESEA) ermöglichte es jedoch der Bundesregierung, Finanzmittel für Primar- und Sekundarbildung zur Verfügung zu stellen, verbot jedoch explizit die Entwicklung eines nationalen Curriculums. Die vom Zentralstaat gewährten Mittel, die in erster Linie für die professionelle Entwicklung der Lehrkräfte und die Verbesserung der Ressourcenausstattung von Schulen in finanzschwachen Gegenden eingesetzt wurden, sollten vorwiegend zur Gewährleistung gleicher Bildungschancen beitragen. Zwar erweiterte sich mit der Gründung des Department of Education im Jahr 1979 der Wirkungsbereich der Zentralregierung. Allerdings dient die Be-

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Australien

Deutschland

Finnland

Frankreich

Italien

Österreich

Schweden

Vereinigte Königreich

Vereinigte Staaten

1,6

% des Bruttoinlandsprodukts

1,4 1,2 1,0 0,8 0,6 0,4 0,2 0,0 Öffentliche Ausgaben für Tertiärbereich in % des Bruttoinlandsprodukts Private Ausgaben für Tertiärbereich in % des Bruttoinlandsprodukts

Abb. 1 Private vs. öffentliche Ausgaben für Tertiärbildung im internationalen Vergleich

hörde vorwiegend als Informationsplattform für bildungspolitische Angelegenheiten und verfügt somit über nur sehr eingeschränkte „harte“ Entscheidungsbefugnisse (Bieber et al. 2014). Die Grundfinanzierung öffentlicher Schulen wird in den meisten Bundesstaaten sowohl aus deren Haushalt als auch über die lokale Immobiliensteuer (Grundsteuer) bestritten. Schulen in wohlhabenden Kommunen mit vielen Besitzern von (größeren) Häusern profitieren somit direkt vom höheren Immobiliensteueraufkommen, während Schulen in sozial schwachen Gegenden in der Regel finanziell wesentlich schlechter gestellt sind. Dieses Missverhältnis wird durch die hohe Entscheidungsautonomie US-amerikanischer Schulen verstärkt: Im Gegensatz zu den meisten europäischen Ländern, in denen die Einstellung des Lehrpersonals staatlich geregelt ist, verfügen die amerikanischen Schulen über eine hohe Personalautonomie. Infolgedessen können im öffentlichen Schulwesen finanziell besser gestellte Schulen besser ausgebildeten Lehrkräften höhere Gehälter und attraktivere Arbeitsbedingungen bieten, was häufig zu einer ungleichen Verteilung der Lehrerschaft führt. Damit gehören die USA zu den wenigen Ländern, in denen Schulen, die primär sozioökonomisch privilegierte Kinder bedienen, über mehr Ressourcen verfügen als diejenigen, die sozial schlechter gestellte Schülerinnen und Schüler betreuen (Porter 2013). Das soziale Gefälle wird dadurch verstärkt, dass die Wahl des Wohnorts in den USA häufig nach ethnischen Kriterien erfolgt. Wie Uslaner (2012) zeigen konnte, ziehen finanziell gut gestellte Familien vorzugsweise in wohlhabende Vororte, während die Innenstädte generell von sozial schwachen Familien bewohnt werden. Diverse Untersuchungen konnten belegen, dass „weiße“ und „schwarze“ Kinder sehr häufig noch de facto segregierte Schulen besuchen. Beispielsweise besucht der durchschnittliche weiße Schüler eine Schule, in der rund 20 % der Schülerschaft unter der Armutsgrenze lebt, während der durchschnittliche Latino-Schüler eine

Bildungspolitik

455

Schule besucht, in der 44 % der Schülerschaft unter der Armutsgrenze lebt. Diese Tendenz nahm Ende des letzten Jahrhunderts sogar dahingehend zu, dass immer weniger afroamerikanische Schüler eine überwiegend „weiße“ Schule besuchen (Orfield 2001, S. 391). Seit Jahren gibt es allerdings diverse, von Bundesregierung und einzelstaatlichen Regierungen geförderte Maßnahmen, um des Problems der Bildungsungleichheit Herr zu werden. Ein nennenswertes Beispiel ist das 1990 ins Leben gerufene Teach for America-Programm, das besonders aussichtsreiche junge Hochschulabsolventen als Lehrpersonal für einen Zeitraum von zwei Jahren in einkommensschwachen Gegenden platziert. In den Bundesstaaten existieren auch unterschiedliche Mechanismen zum Ausgleich der Finanzierungsbedingungen einzelner Schulbezirke und Schulen. Beispielsweise sind die meisten einzelstaatlichen Regierungen dazu verpflichtet, eine finanzielle Mindestgrundsicherung für sozial schwache Schulbezirke zu gewährleisten. In den letzten Jahren gibt es allerdings insbesondere von rechtskonservativen Gouverneuren Bestrebungen, staatliche Ausgaben für den öffentlichen Bildungsbereich zu verringern, was eine lange Reihe juristischer Klagen nach sich gezogen hat.

3.5

„Affirmative action“ zur Förderung gesellschaftlicher Integration

Ein weiteres sehr umstrittenes Instrument der gesellschaftlichen Integration stellen so genannte affirmative action-Programme dar. Seit den 1970er-Jahren wird versucht durch unterschiedliche bildungspolitische Maßnahmen, z. B. Hochschulstipendien für sozioökonomisch benachteiligte Studierende oder eine Lockerung der Zulassungsbeschränkungen, das sozioökonomische Gefälle wieder auszugleichen. Durch eine Zulassungspolitik, die auch sozioökonomische und ethnische Kriterien berücksichtigt, wird ex post – d. h. erst im Tertiärbildungswesen – eine heterogenere Studentenschaft konstruiert. Diese Praxis ist immer wieder Gegenstand juristischer Streitigkeiten gewesen. Im Falle University of California Regents vs. Bakke (1978) entschied der Oberste Gerichtshof, dass manche affirmative action-Maßnahmen – jedoch nicht rassenbasierte Zulassungsquoten – verfassungskonform seien. Zwei wichtige Nachfolgeentscheidungen – Grutter vs. Bollinger und Gratz vs. Bollinger (beide 2003) – erklärten die Verfahrensweise der University of Michigan Law School, Rassenkriterien im Rahmen einer „holistischen“ Beurteilung der eingegangenen Bewerbungen mit zu berücksichtigen, für verfassungskonform. Allerdings wurde das Punktesystem, welches Angehörigen von „Minderheiten“ automatisch 20 Punkte zuweist, für verfassungswidrig erklärt. Auch bestehen unterschiedliche einzelstaatliche Regelungen, die immer wieder vor Gericht angefochten werden. Beispielsweise hat der Bundesstaat Kalifornien mit der Proposition 209 (1998) die Berücksichtigung rassistischer Merkmale bei der Zulassung zu seinen öffentlichen Hochschulen per Referendum verboten. Im Jahr 2009 entschied ein Bundesgericht im Falle einer weißen Bewerberin an der Universität Texas, die sich aufgrund der vermeintlichen Bevorzugung von Minderheiten diskriminiert fühlte, zugunsten der Universität, die rassistische und

456

M. Dobbins und T. Bieber

sozioökonomische Kriterien bei der Zulassung Studierender mitberücksichtigt. Drei Jahre später entschied der Oberste Gerichtshof jedoch erneut, dass sowohl öffentliche als auch private Hochschulen, deren affirmative action-Maßnahmen eine Form rassistischer Diskriminierung darstellen, ihren Anspruch auf Bundesfinanzmittel verlieren könnten. Letzteres Urteil verdeutlicht sehr klar, wie verflochten die bildungspolitische Arena trotz ihres dezentralen Charakters in Wirklichkeit ist. Generell kann jedoch konstatiert werden, dass derzeit ein Rückgang solcher Maßnahmen zu beobachten ist – eine Entwicklung, die von der TrumpAdministration weiter vorangetrieben wird. Im Jahre 2018 erklärten beispielsweise das Department of Education und Department of Justice nunmehr davon abzusehen, zahlreiche von Obama ausgesprochene Richtlinien, die Hochschulen dazu aufrufen, das Rassenkriterium zwecks Diversifizierung bei der Zulassung von Studierenden zu berücksichtigen, weiterhin umzusetzen (Green et al. 2018). Jenseits der ideologischen Orientierung der Trump-Administration berufen sich die beiden Ministerien auf ambivalente Forschungsergebnisse zu den Wirkungen von affirmative action. Einerseits kann argumentiert werden, dass das Vorhandensein einer größeren kulturellen und sozioökonomischen Vielfalt an Hochschulen eine intellektuelle Horizonterweiterung und bessere Vorbereitung auf eine globalisierte Welt zur Folge hat. Andererseits fallen die Befunde zu den konkreten Effekten von affirmative action auf die Zulassungspolitik und die daraus entstehende Studentenschaft gemischt aus. Beispielsweise zeigen Antonovic und Sander (2013), dass die Teilnahmeraten von Minderheiten an den Studiengängen der University of California seit dem Verbot der Fördermaßnahmen (1998) keineswegs abgenommen haben. Hinrichs (2012) argumentiert dagegen ebenso am Beispiel Kaliforniens, dass das Verbot in der Tat zu einem Rückgang der Teilnahmeraten „unterrepräsentierter“ Studierender geführt hat und Minderheiten zunehmend dazu tendieren, Hochschulen mit einer selektiven Zulassungspolitik zu vermeiden.

3.6

Bildungspolitik als Interessengruppenpolitik

Im Einklang mit der Tradition des Pluralismus ist das Bildungssystem der USA höchst „durchdringbar“ für die Interessen nicht staatlicher Akteure. So zeigen beispielsweise Opfer et al. (2008, S. 197), dass in den letzten 30 Jahren die Ausgaben von Lobbygruppen für bildungspolitische Angelegenheiten enorm angestiegen sind. Im Vordergrund stehen Bestrebungen religiöser Gruppen, den „Kreationismus“ – das Festhalten an einer wörtlichen Auslegung des biblischen Schöpfungsberichts – als Unterrichtsfach zu verankern und die Möglichkeiten für das homeschooling (das Unterrichten von Kindern zuhause) zu erweitern. Zu den wichtigsten ideologisch geprägten Reizthemen gehören zudem die so genannten school vouchers sowie die Eröffnung von charter schools. School vouchers beziehen sich auf staatlich subventionierte Bildungsgutscheine, die es Eltern ermöglichen, die Schule für ihre Kinder frei auszuwählen. Allerdings fanden die Bildungsgutscheine bisher keine so große Anwendung wie von Gegnern befürchtet und beschränken sich noch vorwiegend auf regionale Pilotprogramme (Klitgaard 2008). Die Ernennung der Milliardärin und vehementen Befürworterin von Privatschulen Betsy DeVos zur

Bildungspolitik

457

nationalen Bildungsministerin könnte jedoch der Charter-School- und School-Voucher-Bewegung neuen Auftrieb geben (siehe unten). Ein weiterer wichtiger Faktor in diesem Zusammenhang sind die amerikanischen Lehrerverbände (American Federation of Teachers, National Education Association), die im Gegensatz zu den eher schwach und fragmentierten Arbeitnehmergewerkschaften äußerst einflussreich sind und sich grundsätzlich für die Aufrechterhaltung des öffentlichen Schulsystems und gegen die Einführung weiterer marktorientierter Mechanismen (z. B. leistungsbasierte Bezahlung, Entlassung ineffektiven Lehrpersonals, school vouchers) aussprechen (Moe 2011). Charter schools als formal öffentliche Schulen sind von lokalen und staatlichen Regulierungsmaßnahmen befreit und ermöglichen die direkte Mitwirkung von Eltern, lokalen Führungskräften (community leaders), Unternehmen und anderen Akteuren an bildungspolitischen Entscheidungsprozessen. Dabei steht das Ziel im Vordergrund, Bildungsangebote an den individuellen Bedürfnissen der Schüler auszurichten und die Rechenschaft der Bildungsträger hinsichtlich einer hohen Qualität unter verantwortungsvoller Verwendung der (zum Teil privaten) Finanzmittel zu gewährleisten. Dagegen wird jedoch eingewendet, dass die finanzielle Grundlage öffentlicher Schulen und damit die integrative Funktion von Bildung wieder unterminiert werden könnte.

4

Reformbemühungen im 21. Jahrhundert

Das US-amerikanische Bildungswesen durchlief zunächst eine lange Expansionsphase, vorangetrieben durch die Bürgerrechtsbewegung und die Bemühungen, den Bildungsbedürfnissen einer heterogenen Gesellschaft gerecht zu werden. Seit ca. 20 Jahren richtet sich das Augenmerk der zentral- und einzelstaatlichen Reformbemühungen vor allem auf die Optimierung der Qualität und der Leistungen und weiterhin auf den Abbau der Bildungsbenachteiligung. In diesem Abschnitt besprechen wir die bildungspolitischen Reformbemühungen unter Bush II, Obama und Trump.

4.1

Gegenwärtige Reformbemühungen im Sekundarbildungswesen

Seit Mitte der 1990er-Jahre kommt es vermehrt zu Kompetenzverschiebungen auf dezentraler Ebene. Nennenswert in diesem Zusammenhang ist die administrative Entmachtung der school boards (d. h. der lokalen Schulverwaltungsgremien) in einer Reihe von Großstädten. Aufgrund akuter Leistungsdefizite, Managementprobleme und einer Politisierung schulischer Angelegenheiten haben fast schon fünfzig Bürgermeister die Verantwortung für das lokale Schulsystem übernommen, indem sie die school boards mit eigenem, nicht gewähltem Personal besetzt haben, das mit der Schulmodernisierung beauftragt wurde. Trotz dieser weit verbreiteten Praxis existieren bisher keine Belege dafür, dass sich die schulischen Leistungen verbessert haben (Alsbury 2008).

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Als relativ neue Reformmaßnahme lancierte Präsident Barack Obama 2010 eine der weltweit ambitioniertesten Bildungsreformen. Das föderal finanzierte Programm Race to the top bildet deren Eckpfeiler und ermutigt die Bundesstaaten, internationale Standards und Prüfungen zu entwickeln, die den Erfolg der Studierenden im College und am Arbeitsplatz fördern sollen. Zudem soll die Effektivität der Lehrerund Schulleiterschaft durch entsprechendes Personalmanagement gesteigert werden. Die einzelnen Staaten sollen Datensysteme aufbauen, die den Erfolg Schüler messen und die Lehrer- und Schulleiterschaft darüber informieren, wie sie ihre Praktiken verbessern können. Als prominenteste Reform im Sekundarbereich kann jedoch das No Child Left Behind-Programm (NCLB) gelten, dessen Entstehung und Umsetzung die Art der Politikgestaltung besonders gut widerspiegeln. Das Fehlen einer zentralisierten Bildungsbürokratie und die pluralistischen politischen Strukturen erschweren übergreifende zentralstaatliche, top-down organisierte Politikmaßnahmen (Kern 2000). Dies hat zur Folge, dass die Politikgestaltung häufig dem bottom-up-Prinzip folgt: die Zentralregierung wird sich einer vermeintlich erfolgreichen einzelstaatlichen Politik bewusst und versucht sie zu ihrer eigenen Politik zu machen. Die auf zentraler Ebene beschlossenen Reformen werden aber dezentral umgesetzt. Die NCLB-Initiative folgte im Wesentlichen diesem Politikgestaltungsmuster. Mitte der 1990er-Jahre wurde die Zentralregierung auf die Initiative einiger Gouverneure aufmerksam, die darauf abzielte, mehr Rechenschaft und Qualität von Bildungsanbietern bei gleichzeitiger Aufstockung der Finanzmittel und Erweiterung der Wahlmöglichkeiten zu verlangen. Diese Verknüpfung von Rechenschaft mit erhöhten, anreizbezogenen Bildungsausgaben des Zentralstaats ermöglichte eine breite, aus Demokraten und Republikanern bestehende Reformkoalition. Das 2002 beschlossene Reformpaket baute auf einer Reihe bereits bestehender Maßnahmen auf, die einen stärkeren Fokus auf den messbaren Ertrag pädagogischer Anstrengungen legen. So sollte die Festlegung höherer Standards und messbarer Bildungsziele zu besseren Einzelleistungen führen. Um das Ziel einer erhöhten Rechenschaft und Qualität in der Produktion von Bildungsleistungen seitens der Bundesstaaten, Schulbezirke und Einzelschulen zu erreichen, wurden die Bildungsausgaben der Zentralregierung erhöht. Allerdings sah das NCLB-Gesetz auch vor, dass Bundesstaaten, die Finanzmittel aus Washington erhalten möchten, Mechanismen für die Evaluation des Aneignungserfolgs von Grundfertigkeiten entwickeln. Es wurden also im Einklang mit der dezentralisierten amerikanischen Bildungstradition keine nationalen Bildungsstandards festgelegt (Hartong 2014). Die Schulen mussten eigene Maßstäbe für die Messung von Bildungserfolgen entwickeln, die dann auf einzelstaatlicher Ebene festgelegt und auf zentralstaatlicher Ebene überwacht werden (Dobbins und Martens 2010). Damit entstanden jedoch Anreize für die Einzelstaaten, bewusst niedrige Standards festzulegen, um dann in Leistungsvergleichen künstlich bessere Ergebnisse zu erzielen (Duncombe et al. 2008). Gleichzeitig kam das Gesetz den Forderungen rechtskonservativer Gruppen insofern entgegen, als Eltern mehr Flexibilität bei der Schulwahl eingeräumt wurde. Beispielsweise dürfen Kinder, deren Schulen als unsicher bezüglich der Leistungserreichung eingestuft

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werden, alternative Schulen besuchen oder staatliche Mittel für Nachhilfe und Zusatzunterricht in Anspruch nehmen (McGuinn 2006). Nach weitverbreiteter Kritik an den redundanten Testverfahren und der zentralstaatlichen Einmischung in die Bildungspolitik der einzelnen Bundesstaaten wurden die bis dahin wachsenden Zentralisierungstendenzen in der US-amerikanischen Bildungspolitik 2016 gestoppt. Mit der Verabschiedung des Every Student Succeeds Act wurden zwar wesentliche Komponenten des NCLB-Gesetzes, insbesondere die standardisierten Testverfahren, aufrechterhalten. Allerdings erhalten die Bundesstaaten und Schulbezirke wesentlich größere Freiräume bei der Standardsetzung. Außerdem werden die Rechenschaftspflichten für die Schulen und Schulbezirke, die bisher auf zentralstaatlicher Ebene überprüft wurden, an die Bundestaaten übertragen. Dennoch müssen die einzelnen Bundesstaaten dem Department of Education ihre Ziele und Standards erläutern und Maßnahmenkataloge zu deren Erreichung einreichen. Ferner müssen die Schulen die Bildungsziele- und -leistungen nach wie vor evaluieren, erhalten jedoch eine größere Flexibilität hinsichtlich der Häufigkeit und inhaltlichen Schwerpunkte der standardisierten Tests. Die neue Gesetzgebung geht einen Mittelweg, was die Standardisierung von Schulcurricula anbelangt. Mit der so genannten Common Core-Bewegung versuchte eine Reihe von Bundesstaaten in den 1990er- und 2000er-Jahren gemeinsame Schulcurricula für die gesamte Schullaufbahn über bundesstaatliche Grenzen hinaus festzulegen. Trotz erheblicher Kritik vor allem aus konservativen Kreisen nahm eine Mehrheit der Bundesstaaten zumindest teilweise an der Initiative teil. Der neue Every Student Succeeds Act verbietet jedoch ausdrücklich die Festlegung gemeinsamer Standards durch das Department of Education sowie jegliche Versuche vonseiten der Zentralregierung, die Bundesstaaten dazu anzureizen, solche schulbezogenen Standards zu übernehmen. Dennoch gibt die neue Gesetzgebung den Bundestaaten die Möglichkeit, solche Standards auf Eigeninitiative gemeinsam zu entwickeln. Die kontroverse Ernennung der Milliardärin Betsy DeVos zur nationalen Bildungsministerin im Jahre 2017 kann womöglich als weiterer Wendepunkt betrachtet werden. Als Verfechterin einer neoliberalen Bildungspolitik und vehemente Befürworterin von Privatschulen versuchte DeVos bereits im ersten Amtsjahr die Stoßrichtung der amerikanischen Bildungspolitik nachhaltig zu prägen. Die bereits unter Obama in Gang gesetzte Zurückdrängung der bildungspolitischen Rolle der Zentralregierung wurde unter DeVos mit der Abschaffung von zentralstaatlichen Vorgaben im Umgang mit leistungsschwachen Schulen weiter vorangetrieben. Unter dem Stichwort „maximale Flexibilität“ wurden die noch existierenden zentralstaatlichen Vorgaben zur Messung von Bildungsleistungen abgeschafft und den Bundesstaaten überlassen (Rose und Goelzhauser 2018). Darüber hinaus kündigte DeVos an, die Privatschulbewegung mittels zentralstaatlicher Gelder von Washington aus forcieren zu wollen. Dafür sollten die Mittel für das Department of Education massiv reduziert und Bundesmittel für Gutscheine massiv erhöht werden (Kaplan und Owings 2018). Dabei sollten auch hohe Summen für Schulgutscheine für sozioökonomisch benachteiligte Kinder zur Verfügung gestellt werden. DeVos scheiterte jedoch am massiven Widerstand sowohl von

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Demokraten, die die Reformvorschläge als Angriff auf das öffentliche Schulwesen interpretierten, als auch von Republikanern, die die Kontrolle von Privatschulen auf bundestaatlicher Ebene durch die Zentralregierung befürchteten. Es bleibt also abzuwarten, inwieweit die Privatschul- und Charter School-Bewegungen in den USA mit DeVos als Bildungsministerin an neuem Schwung gewinnen können. Die Kombination aus Privatisierung bei gleichzeitiger Rücknahme zentralstaatlicher und bundestaatlicher Kontrollmechanismen stößt derzeit auf Befürchtungen, dass Privatschulen ihre Gewinne maximieren können, ohne ihren Bildungsauftrag ausreichend zu erfüllen.

4.2

Gegenwärtige Reformbemühungen im Hochschulbildungswesen

Seit Anfang der 2000er-Jahre kann man auch im Hochschulbereich von einer hohen Reformdynamik sprechen. Dabei ist das Hochschulwesen mit unterschiedlichen Problemkonstellationen konfrontiert: Zum einen kämpft das System mit den Exzessen des Markts, wie etwa den enormen Ausgaben für Managementpersonal und Sporteinrichtungen. Zum anderen steigen die Studiengebühren immens an, während sich gleichzeitig die Arbeitsmarktchancen der Hochschulabsolventen nicht unbedingt verbessern. Obwohl dem Bundesstaat kaum und den Einzelstaaten nur wenige Instrumente zur Verfügung stehen, das Problem der Kostensteigerung in den Griff zu bekommen, wurden in den letzten Jahren verschiedene Reformanstrengungen unternommen. So versuchte die Obama-Administration das nationale Darlehenssystem zu reformieren (Simkovic 2013). Im Zuge der Aktualisierung des Higher Education Opportunity Act von 1965 wurden im Jahr 2008 größere Verbesserungen für Nachlässe bei Studiendarlehen behinderter Personen vorgenommen: Während diese zuvor kein Einkommen haben durften, wenn sie Nachlässe erhalten wollten, wurde dies zu einem Test der Erwerbstätigkeit geändert. Das Gesetz nötigte erstmalig zu höherer Kostentransparenz, indem es von den postsekundären Institutionen, die föderale Finanzbeihilfen erhalten, Nettopreisrechner auf ihren Webseiten verlangte. Auf diese Weise soll künftigen und derzeitigen Studierenden und ihren Familien geholfen werden, die Kosten eines Hochschulstudiums besser abzuschätzen. Zudem wurden Bundesmittel (sog. Pell Grants) für Studierende aus sozioökonomisch benachteiligtem Elternhaus bzw. aus Arbeiterfamilien massiv aufgestockt, was zu einer spürbaren Zunahme der Beteiligung an tertiärer Bildung führte (Weindling 2017). Außerdem bewirkte die Obama-Administration Veränderungen im Akkreditierungssystem. Im Gegensatz zu den meisten europäischen Staaten, die nationale Akkreditierungsbehörden oder vom Staat akkreditierte lokale oder teilprivate Akkreditierungsbehörden betreiben, sind die Akkreditierungsbehörden für Hochschulen in den USA generell private, gewinnorientierte Einrichtungen, die der Zentralregierung und den Bundesstaaten entscheidende Informationen für die Gewährung von Studiendarlehen zur Verfügung stellen. Nach der Pleite von zahlreichen größeren Hochschulen und den daraus hervorgehenden hohen Schulden der Studierenden

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wurden die Rahmenbedingungen für das Hochschulakkreditierungssystem verschärft. So wurden diejenigen Akkreditierungsbehörden geschwächt, die ein Monopol über die Bestimmung der Anspruchsberechtigung auf föderale Finanzbeihilfe haben und über den Zugang zu Pell Grants und Studiendarlehen entscheiden (Carey 2013). Zudem werden Informationen über die einzelnen Akkreditierungsbehörden, die akademischen Leistungen von Absolventen sowie die Absolventenquoten der einzelnen Hochschulen nunmehr vom Department of Education zentral gesammelt und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Trotz einer ambitionierten Agenda in anderen Politikbereichen hat die TrumpAdministration bisher keine nennenswerten Reformen im Hochschulbereich verabschiedet. Ausgehend von der Überzeugung, dass Hochschulen Bastionen „linker Indoktrination“ seien, erregte Trump lediglich mit einem eher symbolpolitischen Exekutivdekret zur Förderung der freien Meinungsäußerung an Hochschulen Aufmerksamkeit. Nach den Zwischenwahlen im November 2018 formulierte Trump eine hochschulpolitische Agenda, deren Erfolg aufgrund der neuen Mehrheitskonstellationen im Kongress unklar bleibt. Zusammen mit dem von Betsy DeVos geleiteten Bildungsministerium möchte Trump die von Obama durchgesetzten strengeren Regeln und Akkreditierungsstandards für gewinnorientierte Hochschulen wieder auflockern. Damit hätten private Investoren wieder freie Hand bei der Gründung von Hochschulen und Durchführung von Studienprogrammen. Ferner schlägt Trump eine Art Schuldenbremse für Studiendarlehen sowie Erleichterungen für Absolventen bei der Rückzahlung ihrer Schulden vor. Im Gegensatz zu den Demokraten, die automatische Nachlässe für hochverschuldete Absolventen verlangen, möchte Trump Obergrenzen für Kreditaufnahmen zwecks Hochschulstudium durchsetzen. Ferner schlägt er eine Tilgungsobergrenze in Höhe von 12,5 % des jährlichen Einkommens für verschuldete Absolventen sowie einen automatischen Schuldennachlass für alle Absolventen vor, die bereits 15 Jahre lang ihre Schulden fürs Hochschulstudium getilgt haben (Camera 2019).

5

Ausblick: Internationalisierung und politische Polarisierung

In den letzten Jahrzehnten haben sich die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen für die Gestaltung von Bildungspolitik in den USA nur bedingt zu ihren Gunsten verändert. Dies äußert sich zum einen in der zunehmenden bildungspolitischen Internationalisierung mit den damit einhergehenden Bildungsstudien, an denen sich die USA beteiligt. Zum anderen liegt die derzeitige Herausforderung für das Bildungswesen in der starken politischen Spaltung des Landes, sowie auch im Abbau finanzieller Grundlagen vor allem durch die Republikanische Partei auf einzelstaatlicher Ebene (Nelson 2012). Die USA nimmt an zahlreichen international vergleichenden Bildungsstudien teil, so auch an der von der OECD durchgeführten Studie PISA (Programme for International Student Assessment). Trotz der oben besprochenen Reformbemühungen der letzten Jahrzehnte befinden sich die Ergebnisse der USA kontinu-

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ierlich im oder unter dem OECD-Durchschnitt (Martens 2010; OECD 2016). Dabei ist die Verteilung der Performanz innerhalb der USA recht breit gestreut. Die Bildungsbenachteiligung von manchen Gruppen wird auch durch das „PISA für Erwachsene“ belegt, das Programme for the International Assessment of Adult Competencies der OECD von 2013. Ihr zufolge haben die USA – gefolgt von Deutschland – die größte Abhängigkeit der Leistungen vom Bildungsstand der Eltern in den Kompetenzbereichen Lesefähigkeit und Mathematik (Kemper 2013). Trotz des zunehmenden Problembewusstseins hinsichtlich des Leistungsniveaus und der andauernd hohen Bildungsungleichheit wurden die Reformen der letzten Jahre eher von ideologischen Streitigkeiten über die Rolle der Zentralregierung und der Bundestaaten sowie die Rolle von Markt und Staat geprägt. Hinzu kommen erhebliche politische Konflikte hinsichtlich der Finanzierung von Bildung. Bis in die 1990er hinein galt Bildungspolitik in den USA als Bereich, in dem ein vergleichsweise großer überparteilicher Konsens hinsichtlich der Notwendigkeit hoher öffentlicher Investitionen bestand. Seit etwa zwei Jahrzehnten ist die politische Landschaft der USA allerdings zusehends durch eine extreme Polarisierung geprägt. Während die Republikanische Partei früher bereit war, höhere Bildungsausgaben im Sinne einer präventiven Sozialpolitik mitzutragen, kann man spätestens seit der Amtsübernahme Präsident Obamas von einer Radikalisierung des rechten politischen Spektrums sprechen (Mann und Ornstein 2012). Diese Neuausrichtung der Republikaner geht mit einer starken anti-etatistischen Obstruktionspolitik auf zentralstaatlicher Ebene einher, die es dem Kongress nahezu unmöglich macht, Gesetze zu verabschieden, die zu einer Erweiterung staatlicher Handlungsmöglichkeiten führen könnten. Zu dieser Konfrontationspolitik gehört auch die erhöhte Bereitschaft, den Staatsapparat lahm zu legen, um finanz- und haushaltspolitische Forderungen durchzusetzen, darunter massive Kürzungen im Bildungs- und Sozialbereich. Die äußerst eingeschränkte zentralstaatliche Handlungskapazität hat zur Folge, dass Bildungspolitik zunehmend wieder auf die Ebene der Bundesstaaten verlagert wird. Doch auch auf einzelstaatlicher Ebene kann man – trotz der Sorgen um die globale Wettbewerbsfähigkeit amerikanischer Unternehmen und Arbeitskräfte – eher von einem „Bildungsabbau“ sprechen. Insbesondere in Republikanisch regierten Bundessstaaten ist der Bildungsbereich von der Austeritätspolitik stark betroffen (Center for Budget and Policy Priorities 2013). Dies hat einerseits zur Folge, dass Schulen weniger Mittel zur Verfügung haben, um ihre integrative und berufsqualifizierende Funktion zu erfüllen. Andererseits begrenzen die Haushaltskürzungen die Kapazitäten der Bundesstaaten und Schulen, die erforderlich sind, um die Verbesserung der Lehrerausbildung, die Überwindung von Leistungsdefiziten benachteiligter Schulkinder sowie die Steigerung der Performanz leistungsschwacher Schulen zu bewirken. Vor diesem Hintergrund kehrt die gegenwärtige Bildungspolitik der USA derzeit wieder zusehends zu ihrer ursprünglichen historischen Tradition zurück, nämlich zu einer Politik, in der die einzelnen Schulen und Gemeinden weitgehend auf sich allein gestellt sind und ihren Auftrag der Integration, Qualifikation, Sozialisation und Erzie-

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hung der Schüler ohne gesicherte staatliche Unterstützung erfüllen müssen. Ob und auf welche Weise sich diese Tendenz im Kontext der in diesem Beitrag vorgestellten Reform- und Internationalisierungsprozesse verstärkt, bleibt abzuwarten.

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Gesundheitspolitik Zwischen Staat und Markt Betsy Leimbigler und Christian Lammert

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Historische Entwicklung des Gesundheitssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Auf dem Weg zu Obamacare: Gesundheitspolitische Strukturen und Programme . . . . . . . . 4 Zugang zum U.S. Gesundheitssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Das US-amerikanische Gesundheitssystem gehört zu den teuersten und komplexesten der Welt. Gleichzeitig liegt der Abdeckungsgrad der Gesundheitsversorgung in den USA deutlich unter dem anderer entwickelter Wohlfahrtsregime. In diesem Artikel werden in einem ersten Schritt die zentralen Akteure und historischen Entwicklungen der US-amerikanischen Gesundheitspolitik skizziert. Anschließend werden die Zugangschancen zum Gesundheitssektor kritisch analysiert, um so die Defizite der Gesundheitspolitik herauszuarbeiten. Schlüsselwörter

Gesundheitspolitik · Medicare · Medicaid · Krankenversicherung · Affordable Care Act

B. Leimbigler (*) · C. Lammert John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_43

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Einleitung

Die Gesundheitspolitik gehört zu den komplexesten Politikfeldern in den USA und wird auf allen politischen Ebenen seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert. Eine umfassende Darstellung des Gesundheitssektors würde ganze Bände füllen, weshalb sich dieser Beitrag in erster Linie auf vier Aspekte konzentriert. Erstens wird ein Überblick über die historische Entwicklung und die zentralen Elemente des Gesundheitssystems bis zur Verabschiedung des Affordable Care Act (ACA) unter Präsident Obama geboten. Dabei fokussiert sich der Beitrag insbesondere auf jene Elemente, die in den Reformdiskussionen immer wieder an erster Stelle genannt werden: den Abdeckungsgrad der unterschiedlichen Gesundheitsprogramme und die Kostenentwicklung im Gesundheitssektor insgesamt, aber auch für den einzelnen Bürger. Daran anschließend wird zweitens Obamas Gesundheitsreform skizziert und untersucht, inwieweit die Reform die zentralen Schwachstellen im Gesundheitssektor adressieren konnte. Ungleichheit ist momentan eines der zentralen Themen im öffentlichen Diskurs der USA. Deshalb soll in einem dritten Schritt danach gefragt werden, inwieweit wir auch im Gesundheitssystem von Ungleichheiten sprechen können, sowohl im Zugang zu medizinischen Leistungen aber auch bei der Frage inwieweit bestimmte Gruppen besondere Gesundheitsrisiken tragen, bedingt durch strukturelle sozioökonomische Ungleichheiten oder Umwelteinflüssen. An vierter Stelle wird kritisch diskutiert, wie der Zugang zum Gesundheitssystem organisiert bzw. gedacht ist: als Bürgerrecht oder eher als Privileg. Oder anders ausgedrückt: öffentlich oder privat organisiert. Aus einer solchen Perspektive kann Gesundheitspolitik im Zusammenhang mit Gender, Race und den sozio-ökonomischen Status gebracht werden. Zum anderen spiegelt sich in diesen Aspekten auch die aktuelle gesundheitspolitische Reformdebatte in den USA wider.

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Historische Entwicklung des Gesundheitssystems

Im Bereich der öffentlichen Gesundheitspolitik können die USA im internationalen Vergleich als Nachzügler und als exzeptionell charakterisiert werden. Während in anderen westlichen Industrienationen die Forderung nach einer Absicherung der Risiken von Arbeitsunfällen und Krankheiten in ersten staatlichen Sozialversicherungsprogrammen mündete, hat sich in den USA bis heute kein System einer umfassenden gesetzlichen Krankenversicherung herausbilden können. Dabei mangelte es nicht an Debatten und Versuchen, frühzeitig eine solche einzurichten. Bereits in der Progressive Era (1890–1914) kämpften zahlreiche Organisationen wie das National Child Labor Committee, die National Consumer League, die Women’s Trade Union League oder die American Association for Labor Legislation (AALL) für eine fortschrittliche Sozialgesetzgebung im Gesundheitsbereich. (vgl. Gee 2012). Nach 1914 gelang es der AALL in mehreren Bundesstaaten, Gesetzesinitiativen auf den Weg zu bringen, die eine kostenlose medizinische Versorgung für alle Beschäftigten vorsahen. Diese Vorstöße scheiterten jedoch

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überall am gut organisierten Widerstand der einflussreichen Ärzteschaft und konservativer politischer Kräfte. Erschwerend kam hinzu, dass die Arbeiterbewegung in der Frage einer öffentlichen Krankenversicherung gespalten war. Die Bundesorganisation der American Federation of Labor (AFL) verbündete sich mit der National Civic Federation, einer Organisation der Wirtschaftsführer, gegen die AALLGesetzesinitiativen, während einige der AFL angegliederte Organisationen wie die United Mine Workers diese unterstützten (Quadagno 2005, S. 21). So blieb es Anfang des 20. Jahrhunderts bei begrenzten und häufig erfolglosen einzelstaatlichen Initiativen, ein öffentliches Sozial- und Gesundheitssystem aufzubauen. Die politische Kultur und Konfiguration des US-Wohlfahrtsstaates der damaligen Zeit war maßgeblich bestimmt durch die Macht und den Einfluss wichtiger Interessengruppen, die sich erfolgreich gegen eine universelle und staatlich organisierte Gesundheitsversorgung sperrten (Hoffman 2001, S. 113), nicht zuletzt auch deswegen, weil insbesondere Krankenhäuser und Ärzte ihre Kontrolle und Privilegien nicht verlieren wollten (Chasse 1994). Es war insbesondere der Mobilisierung und dem massiven Einfluss der American Medical Association (AMA) zu verdanken, dass eine öffentliche Gesundheitsversorgung die auffälligste sozialpolitische Lücke des New Deals und des modernen amerikanischen Wohlfahrtsstaats blieb (Starr 1982, S. 269). Die Stärke der AMA basierte zu dieser Zeit auf ihrer umfangreichen Mitgliederzahl, ihren erheblichen Ressourcen, aber vor allem auf der äußerst privilegierten Position, die Ärzte im US-amerikanischen Gesundheitswesen, in der Gesellschaft und im politischen System traditionell innehaben. Da sie im ganzen Land gut organisiert waren, konnten sie sowohl auf der Bundesebene als auch in allen relevanten Kongressbezirken aktiv werden. Von Bedeutung war auch ihr Einfluss auf die Patienten und damit auf die öffentliche Meinung insgesamt. Ärzte waren und sind bis heute angesehene soziale Akteure mit engen Verbindungen in die Politik. Aus den Auseinandersetzungen um die New-Deal-Gesetzgebung ging die AMA dann mit einer Aura der politischen Unbesiegbarkeit und einer enorm angewachsenen Anhängerschaft hervor. Dies begründete bis heute ihren Anspruch, im Gesundheitssektor einer der zentralen Akteure zu sein (Starr 1982, S. 273). Die Nachkriegsjahrzehnte waren dann bestimmt durch den massiven Ausbau eines privaten Versicherungswesens sowie vereinzelte Versuche, das öffentliche Element im Gesundheitssektor zu stärken. Bis in die 1940er-Jahre hinein gab es nur wenige Firmen, zu deren Sozialleistungen eine Krankenversicherung zählte. Als dann während des Zweiten Weltkrieges ein Arbeitskräftemangel drohte und die Bundesregierung deswegen zwischenzeitlich sogar die Löhne einfror, änderten viele Unternehmen diesbezüglich ihre Haltung und umwarben die Mitarbeiter zunehmend mit dem Angebot, die Kosten für ihre Gesundheitsversorgung zu übernehmen (Starr 1982, S. 311). Der Bund beschloss daraufhin, zunächst nur als temporäre Maßnahme gedacht, Ausgaben hierfür steuerlich zu fördern. Aber auch die politischen Initiativen für mehr Verantwortung des Staates bei der Gesundheitsversorgung wurden weiter vorangetrieben. So stellte der Demokrat Harry S. Truman das Versprechen, eine gesetzliche Krankenversicherung einzuführen, gar ins Zentrum seines erfolgreichen Präsidentschaftswahlkampfes von

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1948. Allerdings konnte er eine entsprechende Gesetzesinitiative im Kongress später aufgrund einer breiten Opposition aus Republikanern und Südstaaten-Demokraten nicht durchsetzen (Poen 1979, S. 164 f.). In der Folgezeit konzentrierte sich die Bundesregierung dann eher auf den Ausbau der medizinischen Infrastruktur. In den 1950er-Jahren setzten sich diejenigen politischen und wirtschaftlichen Kräfte und Interessengruppen durch, die eine staatliche Bezuschussung von privaten Krankenversicherungen über das Steuersystem favorisierten, um somit den Unternehmern mehr Anreize zu bieten, ihren Arbeitern und Angestellten einen entsprechenden Versicherungsschutz anzubieten (Campion 1984). Auch die Gewerkschaften unterstützten eine solche Entwicklung, weil sie im System der betrieblichen Krankenversicherung und deren Verankerung in den Tarifverhandlungen eine Stärkung ihrer Machtposition sahen (Quadagno 2005, S. 52 ff.). Unter dem Republikanischen Präsidenten Dwight D. Eisenhower (1953–1961) wurden dann die Fundamente des betrieblichen Krankenversicherungssystems in den USA gefestigt und ausgebaut. Im Jahr 1959 brachte Eisenhower das Federal Employee Health Benefits Program auf den Weg, welches Angestellten des Bundes erlaubte, zu bevorzugten Konditionen eine private Krankenversicherung abzuschließen. Mit der Einführung dieses größten „voluntary employee group insurance program in the world“ (Law 1974, S. 50) schien die Debatte um die Notwendigkeit eines gesetzlichen Krankenversicherungssystems in den USA vorerst beendet. Zu den Gruppen, die von diesem System der Gesundheitsversorgung ausgeschlossen blieben und in der Regel keinerlei Versicherungsschutz im Krankheitsfall hatten, zählten schon damals vor allem Einkommensschwache, Familien mit nur einem Elternteil, Teilzeitbeschäftigte sowie Personen mit chronischen Krankheiten und Behinderungen. Und auch der Abdeckungsgrad bei Rentnern war mit 38 % eher gering. Die damals eingeführte Praxis der privaten Versicherungsunternehmen, ihre Prämien an den geschätzten individuellen Krankheitsrisiken auszurichten, verschärfte das Problem der Unterversicherung nur noch weiter (Cunningham 1997, S. 100). Die private Versicherungsindustrie bemühte sich Anfang der 1960er-Jahre um eine Lösung dieses offensichtlichen Problems der weitreichenden Exklusion, nicht zuletzt mit der Absicht, einen befürchteten Legitimitäts- und Imageverlust ihrer Branche abzuwenden. Allerdings hielt man die Kosten, die mit der medizinischen Behandlung und Versorgung insbesondere von älteren und chronisch kranken Menschen verbunden waren, für zu hoch. Die politischen Auseinandersetzungen zogen sich ohne Ergebnisse bis zur Amtsübernahme von Lyndon B. Johnson (1963–1969) hin, als sich mit einer erneuten deutlichen Mehrheit der Demokraten im USKongress ein entsprechendes Reformfenster öffnete. Immer mehr wurde die Einführung einer öffentlichen Krankenversicherung für Ältere und Behinderte zu einer „legislative certainty“ (Marmor 2000, S. 59). Zunächst sah der Vorschlag der Demokraten lediglich eine staatlich organisierte Versicherung für Senioren vor, die eine Krankenhausbehandlung einbezog, aber nicht eine ärztliche und ambulante Versorgung. Später einigte man sich auf ein beitragsfinanziertes Sozialversicherungssystem zur Abdeckung der Kosten einer medizinischen Grundversorgung für alle Rentner (über 65 Jahre) und auf ein Notprogramm für Arme. Hier kristallisierte sich die Grundstruktur des Gesundheitswe-

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sens in den USA heraus, das noch heute Gültigkeit hat: ein steuerlich begünstigter privater Krankenversicherungsmarkt für die Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter, eine öffentliche, vom Bund verwaltete Krankenversicherung für Alte und Behinderte (Medicare) und ein aus Steuermitteln finanziertes Beihilfeprogramm für Bedürftige (Medicaid), bei dem die Einzelstaaten über Zugangsbedingungen und Leistungsangebot bestimmen. In den 1970er-Jahren verabschiedete der Kongress unter dem Eindruck einer ersten größeren Kostenkrise des Gesundheitswesens den National Health Planning Act. Mit dem Gesetz sollte der Zugang zu einer qualitativ-hochwertigen Gesundheitsversorgung erleichtert und zugleich ein stärkeres Element der Kostenkontrolle implementiert werden. Mit dem Health Maintenance Organisations Act von 1973 unterstützte der Bund ferner die Einrichtung einer Sonderform privater Krankenversicherungen, mit denen eine bessere Steuerung der Kostenentwicklung im Gesundheitssektor einhergehen sollte: Health Maintenance Organisations (HMOs). Dies sind Organisationen, bei denen Versicherte durch Einschreibung ein definiertes Leistungspaket an medizinischer Versorgung mit Basis- und ergänzenden Behandlungsangeboten sowie einen Versicherungsschutz erhalten. Auf die Kostenexplosion im Gesundheitswesen und das wachsende Problem der Unter- und Nichtversicherten reagierte viele Jahre später auch die ClintonRegierung. Allerdings scheiterte auch sie – trotz anfänglich positiver Umfragewerte – an einer Reform des Gesundheitswesens, obwohl der 1994 eingereichte Plan erhebliche Konzessionen an dessen historisch gewachsene Struktur, das heißt den spezifischen Public-Private-Mix, gemacht hatte (Hacker 1997). Die Einführung einer nationalen, auf Beiträgen basierenden Pflichtversicherung für alle US-Bürger stand nie auf der Agenda. Man setzte in erster Linie auf eine Ausweitung des privaten Versicherungsschutzes über den Arbeitgeber und auf das sogenannte Managed-Care-Prinzip, das sich in den Dekaden zuvor in den USA herausgebildet hatte. Mit der Reform sollten Unternehmen und Institutionen gesetzlich dazu angehalten werden, ihren Angestellten eine Krankenversicherung anzubieten. Wie allgemein bekannt ist, scheiterte auch dieser Vorstoß in Richtung Ausweitung des Versicherungsschutzes an der geschlossen Opposition von konservativen und libertär gesinnten Kongressabgeordneten, an der weiterhin mächtigen AMA und einflussreichen Interessengruppen der Pharma- und Versicherungsindustrie. Und auch die Demokraten standen nicht geschlossen hinter Clintons Reformvorschlag. Seine Gesetzesinitiative kam im US-Kongress nicht mal zu einer Abstimmung, sondern wurde frühzeitig im Ausschusssystem abgewiesen (Hacker 1997).

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Auf dem Weg zu Obamacare: Gesundheitspolitische Strukturen und Programme

Lange Zeit wurde der Ausnahmecharakter des US-amerikanischen Wohlfahrtsstaates mit dem Fehlen eines universellen öffentlichen Krankenversicherungssystems begründet (Béland und Hacker 2004; Quadagno 2004). Bis zur Verabschiedung des Patient Protection and Affordable Care Acts von 2010 gab es nur einen einge-

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schränkten Schutz gegen das Risiko Krankheit. Das etablierte US-amerikanische System teilte sich in einen staatlich organisierten Bereich, der für eine Grundversorgung von meist mittellosen Bevölkerungsgruppen (Medicaid) sowie Behinderten und Rentner (Medicare) aufkam, und in einen weitreichenden und wenig regulierten privaten Versicherungsmarkt für den Rest der Bevölkerung. Dieser private Versicherungsbereich ist überwiegend über den Arbeitsplatz organisiert. Das heißt, wer einen Job hat, hatte im Regelfall auch einen Krankenversicherungsschutz. Das Ausmaß des Schutzes war abhängig vom Versicherungsprogramm, das der Arbeitgeber angeboten hat. Nach Daten der Zensusbehörde hatten kurz vor der Obama Reform rund 56,1 % der US-Bürger eine Krankenversicherung über den Arbeitgeber abgeschlossen und etwa 30 % qualifizierten sich für ein öffentliches Gesundheitsprogramm (Blank 2010). Die Probleme im Gesundheitssektor, die dann schließlich auch zur Reform unter der Obama-Administration führten, lassen sich mit zwei Worten umreißen: Kostenentwicklung und Nicht-Versicherte. Obwohl der Staat in den USA einen Großteil der medizinischen Versorgung und Absicherung dem privaten Markt überlässt, sind in kaum einem anderen Land die öffentlichen Gesundheitsausgaben in den letzten Jahren derart explodiert wie hier. Betrug ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) 1980 noch 3,7 %, so waren es 2010 bereits 7,9 %. Und auch Obamas Gesundheitsreform konnte den Trend der Kostensteigerungen im Gesundheitssektor nicht stoppen. Im Jahr 2018 lagen die öffentlichen Ausgaben bei 14,3 % des BIP (OECD Stat 2019). Damit ist das US-System das teuerste Gesundheitssystem aller entwickelten OECD-Staaten. So gaben die US-Bürger 2010 pro Kopf 8402 US-Dollar (USD) für ihre Gesundheitsversorgung aus, doppelt so viel wie beispielsweise die Bürger in Deutschland. Kurz vor Obamas Reform verschlang das Gesundheitssystem – rechnet man private und öffentliche Ausgaben zusammen – fast 20 % des BIP (Center for Medicare und Medicaid 2010). Neben der Kostenentwicklung zählt das hohe Ausmaß an Nicht- bzw. Unter-Versicherten zu den zentralen Problemen. 2010 hatten 17,8 %, das sind annähernd 50 Millionen Menschen in den USA, keine Krankenversicherung. Obamas Reformansatz wollte den Abdeckungsgrad im Gesundheitssektor erhöhen und die Daten zeigen, dass dieses Ziel erreicht wurde. 2014 war der Anteil der Nicht-Versicherten auf 13,5 % und im Jahr 2016 sogar auf 10 % zurückgegangen (Kaiser Family Foundation 2018b). Dies wurde insbesondere durch die Ausweitung von Medicaid und durch die Schaffung neuer Versicherungsmärkte für Geringverdiener (health exchanges) erreicht. Aber selbst bei vielen Haushalten und Individuen, die über eine Versicherung verfügen, stellt ein Unfall oder eine Erkrankung ein erhebliches finanzielles Risiko dar, weil sie als unterversichert gelten und die Versicherungspolicen extreme Eigenbeteiligungen bei medizinischen Behandlungen, Operationen und Krankenhausaufenthalten verlangen. Zwei-Drittel aller privaten Haushaltsinsolvenzen gehen in den USA auf Krankheiten, bzw. die dafür notwendigen Behandlungskosten zurück (Himmelstein et al. 2009). Allerdings ist es nicht so, dass Nicht-Versicherte und undokumentierte Migranten – wie häufig kolportiert – vollständig von jedweder Gesundheitsversorgung ausgeschlossen sind. Seit dem Emergency Medical Treatment and Labor Act von 1986 sind die meisten

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Krankenhäuser gesetzlich verpflichtet, eine Notfallbehandlung vorzunehmen, auch wenn keine Krankenversicherung vorliegt. Wie sehen nun die einzelnen Programmstrukturen und -leistungen im Gesundheitsbereich der USA aus? Wie bereits erwähnt, ist der Großteil der US-Bevölkerung über eine betriebliche Gruppenversicherung abgesichert. Zwischen 70 % und 85 % der anfallenden Prämien übernimmt dabei in der Regel der Arbeitgeber, der auch die Verträge mit den privaten Versicherungsunternehmen aushandelt. Im Schnitt lag die jährliche Versicherungsprämie 2018 bei 19.616 USD für eine Familie mit zwei Kindern, wovon der Arbeitgeber rund 14.069 USD übernahm und der Arbeitnehmer die restlichen 5547 USD zahlen musste (Kaiser Family Foundation 2018c, S. 1). Für beide Seiten sind diese Kosten steuerlich absetzbar. Durch die Koppelung des Versicherungsschutzes an den Arbeitsplatz ergeben sich allerdings grundlegende Probleme: Wer die Firma verlässt oder entlassen wird, verliert in der Regel zumindest kurzfristig seinen Versicherungsschutz. Wer erwerbslos ist, kann sich für gewöhnlich keinen privaten Versicherungsschutz leisten. Zudem ist der Abdeckungsgrad in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich rückläufig, d. h. immer weniger Firmen bieten eine Krankenversicherung am Arbeitsplatz an. Im Jahr 2001 war dies noch bei 68 % der Firmen der Fall, 2017 boten dann nur noch 53 % der Firmen eine Krankenversicherung für ihre Mitarbeiter an. (Kaiser Family Foundation 2018a, S. 6). Als Hauptgrund dieses Rückgangs müssen an erster Stelle die gestiegenen Versicherungsprämien genannt werden. Nach Angaben des National Compensation Surveys mussten die Arbeitgeber 2009 bereits 2 USD pro Arbeitsstunde für die Krankenversicherungen ausgeben (Yi 2010). Die privaten Krankenversicherungen lassen sich danach unterscheiden, wie das Verhältnis zwischen Patienten, Versicherungen und medizinischen Dienstleistern (Ärzte, Krankenhäuser) geregelt ist. Bei dem traditionellen Versicherungstyp bezahlt der Patient die Behandlungskosten aus eigener Tasche und lässt sich diese dann durch die Versicherung zurückerstatten. Viel verbreiteter sind inzwischen allerdings Versicherungssysteme, die auf einem festen Pool medizinischer Dienstleister basieren und zu festgelegten Konditionen bestimmte medizinische Versorgungsleistungen abdecken. Generell werden solche Netzwerke von Versicherungs- und Leistungsanbietern unter dem Begriff managed care gefasst. Hauptmotiv ist hier vor allem die Kostenkontrolle, ohne dabei die Qualität der medizinischen Leistungen zu reduzieren. Als Pionier in diesem Bereich gelten die HMOs. Seit den 1970er-Jahren haben diese und ähnliche Organisationen einen festen Platz im privaten Gesundheitsbereich der USA. Sie sind vertraglich verpflichtet, ihre freiwilligen Mitglieder mit ambulanten, stationären und zum Teil auch zahnärztlichen Leistungen zu versorgen und hierfür den Versicherungsschutz zu übernehmen. Der monatliche Beitrag ist fix und unabhängig von der Inanspruchnahme der Leistungen. Für alle Personen über 65 Jahren und diejenigen, die aufgrund einer Erkrankung oder Behinderung langfristig erwerbslos sind, existiert seit 1965 das nationale, vom Bund verwaltete Sozialversicherungsprogramm Medicare. Finanziert wird es über Beiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, aber auch über allgemeine Steuermittel. Seit den 1960er-Jahren sind die Kosten für Medicare kontinuierlich angestiegen, sowohl in absoluten Zahlen als auch in Relation zum BIP. 2010 kostete Medicare den US-Staat

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„688 Milliarden und macht damit rund 15 % aller vom Bund finanzierten Sozialleistungen aus“ (Kaiser Family Foundation 2019a, S. 5). Das ebenfalls 1965 eingeführte Programm Medicaid sorgt für eine medizinische Grundversorgung für Personen und Kinder in Haushalten, die unter eine bestimmte Einkommensgrenze fallen. Die Leistungen werden weitgehend anteilig aus Steuermitteln des Bundes und der Einzelstaaten finanziert, aber auf der subnationalen Ebene verwaltet. In den meisten Einzelstaaten darf das Haushaltseinkommen nicht 133 % der Armutsgrenze überschreiten, um Ansprüche geltend zu machen. Darüber hinaus müssen weitere Voraussetzungen erfüllt sein, wie z. B. eine körperliche Behinderung, eine Schwangerschaft oder Erziehungspflichten gegenüber minderjährigen Kindern. Rund 80 Millionen US-Bürger qualifizieren sich derzeit für Leistungen aus Medicaid, annähernd die Hälfte davon ist minderjährig, rund ein Viertel sind Rentner und Menschen mit Behinderung (Kaiser Family Foundation 2019b). Für Kinder existiert in allen Staaten seit 1997 darüber hinaus das State Children’s Health Insurance Program (SCHIP). Anspruchsberechtigt sind hier Minderjährige, deren Eltern ein Einkommen haben, das für Medicaid zu hoch ist, aber zu niedrig, um eine private Krankenversicherung abzuschließen. Unter Medicaid und SCHIP wird eine breite Palette von Leistungen angeboten. Zusätzlich zu einer medizinischen Notversorgung können auch Kosten für Langzeitbehandlungen übernommen werden, die von Medicare oder von privaten Versicherungen überhaupt nicht oder nur zum Teil abgedeckt sind. Obwohl der offizielle Leistungskatalog recht vielfältig ist, ist der Zugang vielerorts de facto eher eingeschränkt. Das hängt damit zusammen, dass aufgrund der reduzierten Vergütung nur wenige Ärzte Anreize haben, Medicaid-Patienten zu behandeln. Mit dem 2010 mit knapper Mehrheit verabschiedeten Patient Protection and Affordable Care Act war das Ziel verbunden, in allen Einzelstaaten neue Versicherungsmärkte (health exchanges) zu schaffen, die private Versicherungspolicen zu moderaten Preisen und nach gesetzlich geregelten Kriterien anbieten sollten. Hiermit sollen alle US-Bürger mit einem Einkommen von bis zu 400 % der Armutsgrenze, die über keine betriebliche Krankenversicherung verfügen und keinen Anspruch auf staatliche Leistungen haben, eine erschwingliche Krankenversicherung erwerben können. Die Grundstruktur, dass eine Krankenversicherung vorrangig an den Arbeitsplatz gekoppelt und wichtiger Teil der unternehmerischen Sozialpolitik ist, bleibt erhalten. Allerdings wurde der Schutz der Individuen gegenüber den Versicherungsunternehmen gestärkt. Diese dürfen beispielsweise nicht mehr aufgrund von Vorerkrankungen (preexisting conditions) einen Versicherungsschutz verweigern. Zudem können die Vertragsbedingungen nicht mehr einseitig aufgekündigt oder abgewandelt werden, falls sich die Gesundheitssituation des Versicherungsnehmers verändert hat. Der stärkeren Regulierung der Versicherungsbranche steht die Einführung einer allgemeinen Versicherungspflicht gegenüber, was in der Geschichte der USA einmalig ist und die dem privaten Versicherungsmarkt nach Schätzungen rund 30 Millionen neue ‚Kunden‘ bringen wird. Ab 2014 muss jeder Bürger und auch Unternehmen mit mehr als 50 Beschäftigten, die ihren Angestellten keine Gruppenversicherung anbieten, eine Strafe zahlen. Auch wenn die duale Struktur des Gesundheitssektors mit ihrem Schwerpunkt auf den privaten Versicherungsmarkt weiter fortgeschrieben wird, kann Obamas Gesundheitsreform von 2010 als

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weitreichendste Sozialreform seit der Ära der Great Society in den 1960er-Jahren betrachtet werden. Zahlreiche Defizite im privaten System wurden entschärft und die Rechte der Versicherten wurden gestärkt. Donald Trump hatte im Wahlkampf angekündigt, er würde Obamacare rückgängig machen. Auch wenn ihm das bislang nicht gelungen ist, so konnte er doch erfolgreich einige zentrale Stellschrauben der Reform zurückdrehen. So hat Trump beispielsweise mit seinem Steuerreformgesetz das individual mandate praktisch abgeschafft, in dem er die Strafgebühr (Obama tax) für Bürger, die keine Krankenversicherung abschließen, gestrichen hat. Damit fehlt nun der zentrale individuelle Anreiz, sich eine Krankenversicherung zu kaufen. Nach Schätzungen des CBO werden so etwa 13 Millionen Bürger bis 2027 keine Krankenversicherung abschließen, bzw. ihre Police wieder kündigen (CBO 2017). Zudem hat die TrumpAdministration zahlreiche öffentliche Unterstützungen für die Krankenversicherungen gestrichen, die eigentlich Menschen mit geringen Einkommen zu Gute kommen könnten. Andere Regulierungen im privaten Versicherungsbereich wurden aufgehoben und die Trump-Administration erlaubt es den Einzelstaaten nun work requirements für den Bezug von Medicaid einzusetzen. 2018 hat Trump den American Patients First Plan vorgelegt, mit dem in erster Linie die Medikamentenpreise gesenkt werden sollen. Bislang war aber aufgrund der politischen Blockade im Kongress keine legislative Initiative der Trump-Administration erfolgreich.

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Zugang zum U.S. Gesundheitssystem

Das Gesundheitswesen in den USA setzte sich aus unterschiedlichen Programmen zusammen, die bestimmte Bevölkerungsgruppen ansprechen und unterschiedlich finanziert werden (öffentlich oder privat). Die aktuelle Reformdebatte fokussiert sich dabei zumeist auf die Kostenentwicklung und die Leistungen, die in den Programmen generiert werden. Mit Obamacare kam aber auch die Frage nach den Zugangschancen zur Krankenversicherung verstärkt in den Blick. Es war ein vorrangiges Ziel des ACA, möglichst viele Menschen in die öffentlichen und die privaten Versicherungsprogramme zu integrieren, schließlich sind die USA das einzige entwickelte Industrieland der Welt ohne ein universelles Krankenversicherungssystem. Die Ausweitung von Medicaid war ein zentraler Schritt in diese Richtung. Allerdings müssen noch andere strukturelle Probleme im Gesundheitssektor der USA gelöst werden, soll das Ziel eines universellen Gesundheitssystems erreicht werden. Wenn Ärzten zum Beispiel keine Anreize geboten werden, Patienten unter Medicaid zu behandeln (was Ärzten niedrige Erstattungssätze bietet), und wenn die Probleme der starken Disparitäten in der Gesundheitsversorgung nicht angemessen angegangen werden, dann kann dieses Ziel kaum erreicht werden. Momentan werden Lösungen wie Medicare for All im Vorwahlkampf der Demokraten diskutiert, aber die Erfolgsaussichten einer solch radikalen Reform in der Gesundheitspolitik sind doch eher begrenzt. Momentan rücken aber andere wichtige Faktoren ins Zentrum der Reformdebatte, die zuerst im Kontext globaler Gesundheitspolitik diskutiert wurden: die Frage nach den sozialen Determinanten von Gesundheit. Hier werden verschiedene Bestimmungsfaktoren für die Gesundheit des Einzelnen aber

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auch der Gesellschaft insgesamt betrachtet, wobei die Krankenversicherung nur einer von mehreren wichtigen Faktoren ist. Daneben muss der Zugang zu frischen Lebensmitteln, die körperliche Sicherheit, die Bildung und auch die Armutsquote in den Blick genommen werden, haben doch all diese Faktoren Einfluss auf die Gesundheit (Healthy People 2020 2018). „The social determinants of health are the conditions in which people are born, grow, live, work and age. These circumstances are shaped by the distribution of money, power and re-sources at global, national and local levels. The social determinants of health are mostly responsible for health inequities – the unfair and avoidable differences in health status seen within and between countries“ (World Health Organization 2018).

Diese Definition der Weltgesundheitsorganisation betont die Zusammenhänge zwischen individueller Gesundheit und sozialen Faktoren, wobei der Fokus insbesondere auf der Erklärung gesundheitlicher Unterschiede liegt. Kurz gesagt: Gesundheit ist weitgehend sozial bestimmt! Damit wird zwar die Relevanz von Krankenversicherungen nicht bestritten, ein umfassender Ansatz in der Gesundheitspolitik muss darüber hinaus aber andere Faktoren wie das Arbeitsumfeld, die ökonomische Situation und auch Umwelteinflüsse auf die Menschen in den Blick nehmen. Da diese Faktoren nicht angeboren oder genetisch bedingt sind, werden sie als „sozial“ bestimmt bezeichnet. In den USA zeigen sich erhebliche Differenzen bei der Gesundheitsversorgung und auch deren Folgen. Deutlich wird dies zum Beispiel mit Blick auf die unterschiedlichen Sterblichkeitsraten verschiedener Bevölkerungsgruppen, aber auch darin, welche Gruppen in der Gesellschaft einen leichteren Zugang zur Gesundheitsversorgung haben. Die Müttersterblichkeit ist in den USA beispielsweise viel höher als in anderen Industrieländern, wobei die Müttersterblichkeitsrate bei afroamerikanischen Frauen höher ist als bei anderen Gruppen (Macdorman et al. 2017). Race und Gender sind hier zentrale Faktoren. In Abb. 1 wird deutlich, welchen Einfluss diese beiden Faktoren auf den Versicherungsschutz haben. Insgesamt zeigt sich ein massives Gefälle zwischen weißen Amerikanern und afroamerikanischen / hispanischen Amerikanern, wobei ein signifikant höherer Prozentsatz von weißen Amerikanern Zugang zu privaten Krankenversicherungen haben. Der Anteil der afro-amerikanischen und hispanischen Bevölkerung ist hier viel geringer. Demgegenüber ist der Anteil der Afro-Amerikaner und Hispanics im öffentlichen Medicaid Programm deutlicher höher als bei Weißen. Insgesamt zeigt sich in diesen Daten, dass Afro-Amerikaner und Hispanics erstens häufiger gar keinen Versicherungsschutz im Krankheitsfall haben und das sie zweitens, sofern sie einen Versicherungsschutz haben, dies durch das öffentliche Programm Medicaid geschieht. Dies ist insofern von Bedeutung, als der Versicherungstyp (öffentlich oder privat) auch Informationen über die Beschäftigungssituation (un-/befristet, Teilzeit, arbeitslos) bietet und damit über unterschiedliche Einkommensniveaus, die wiederum eng mit dem Zugang zum Gesundheitssystem verbunden sind. Die empirische Studie von Wang et al. (2004) zeigt wie relevant diese Unterschiede sind. Gefragt, ob Ärzte Personen für eine bestimmte Operation akzeptieren würden, sagte alle Ärzte

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100% 80% 60% 40% 20% 0% White Male

White Female Private

Black Male Medicaid

Black Female

Hispanic Male

Hispanic Female

Other or Uninsured

Quelle: Summary Health Statistics: National Health Interview Survey 2014. Abb. 1 Unterschiede beim Versicherungsstatus nach Geschlecht und Race

„ja“, sofern der Patient privat versichert sei. Wären die Patienten allerdings über Medi-Cal, so der Name des Medicaid Programms in Kalifornien, versichert, sank die Bereitschaft der Ärzte signifikant. Grund hierfür sind in erster Linie die niedrigeren Erstattungsraten unter Medi-Cal, aber auch der hohe bürokratische Aufwand bei den öffentlichen Programmen. Hier zeigt sich, wie durch das einfache Vorhandensein einer Versicherungskarte die Zugangsbarrieren keinesfalls komplett beseitigt werden und wie die Art der Versicherung einer Person seine Zugangschancen zu medizinischen Dienstleitungen bestimmt. Die von der Weltgesundheitsorganisation angestoßene Diskussion zu den sozialen Determinanten von Gesundheit ist inzwischen auch in der US-amerikanischen Reformdebatte angekommen und verdeutlicht, dass Gesundheitspolitik breiter gedacht werden muss, als dies bislang der Fall ist. Gesundheit lässt sich nicht nur aus individuellen Prädispositionen denken, sondern muss als sozial bestimmt verstanden werden. Nur wenn dies berücksichtigt wird, kann Gesundheitspolitik die zentralen Probleme in den USA lösen, die im Kern aus unterschiedlich verteilten Zugangschancen zum Gesundheitssektor bestehen. Bestimmte Gesellschaftsgruppen, hier insbesondere Afro-Amerikaner und Hispanics haben schlechtere Zugangschancen zu bestimmten Bereichen des Gesundheitssektors. Unterschiede bei Sterblichkeitsraten sind nicht nur primär auf den Versicherungsstatus zurückzuführen, sondern von anderen Faktoren wie Bildung, Einkommen und Wohnort abhängig. Dieser Ansatz ermöglicht ein gründlicheres Verständnis der Komplexität jenseits der Krankenversicherung. Die etablierte und historisch gewachsene Struktur des Gesundheitssektors in den USA macht es extrem schwierig, umfassende Reformen in diesem Politikbereich durchzusetzen. Zu groß ist der Einfluss bestimmter Interessengruppen, die durch erfolgreiches Lobbying Reformen blockieren können. Aber auch die Bevölkerung insgesamt zeigt sich extrem reformscheu, wie unterschiedliche Umfragen belegen (Gallup 2019;

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CBSNEWS 2010). Im Kern der politischen Auseinandersetzung steht dabei zumeist die Frage, ob der Zugang zu medizinischen Dienstleistungen als ein Bürger- bzw. sogar Menschenrecht gesehen werden soll, oder ob es eine private Ware ist, die auf dem Markt eingekauft werden soll. Die momentane Struktur des Gesundheitssektors gibt hier keine klare Antwort. In weiten Teilen dominiert das Marktprinzip und nur für bestimmte Gruppierungen wird ein Rechtsanspruch auf medizinische Leistungen garantiert: für bedürftige und alte Menschen, die Anspruch auf Leistungen öffentlicher Programme haben, die entweder über Beiträge (Medicare) oder Steuermitteln (Medicaid) finanziert sind. In der aktuellen Debatte zeigen sich die unterschiedlichen Positionen sehr konturiert. Insbesondere die Republikaner setzen weiterhin auf ein primär marktwirtschaftliches und damit privat organisiertes Gesundheitssystem. Auf Seiten der Demokraten zeigen sich dagegen unterschiedliche Reformvorstellungen. Der eher moderate Flügel setzt weiter auf die von Obama initiierten Reformen und will eher inkrementell Änderungen durchsetzen, aber die Gesamtstruktur in der Gesundheitspolitik nicht verändern. Der progressive Flügel, für die die Namen Bernie Sanders, Elizabeth Warren und auch Alexandria Ocasio-Cortez stehen, setzt sich demgegenüber für ein universelles Krankenversicherungssysteme ein. Sie wollen Medicare auf die gesamte Bevölkerung ausweiten und damit die privaten, über die Beschäftigung organisierten Versicherungsprogramme gänzlich abschaffen. Noch bis in die 1960er-Jahre, also vor der Implementierung von Medicare und Medicaid im Jahr 1965, bestanden keinerlei Rechtsanspruch auf die möglicherweise katastrophalen finanziellen Belastungen durch medizinische Versorgung (Stevens 1996, S. 12). Mit den beiden öffentlichen Gesundheitsprogrammen hatten wenigstens bestimmte Bevölkerungsgruppen einen Rechtsanspruch auf die Finanzierung medizinischer Leistungen. Hier spiegelt sich aber die Idee wider, dass nur bestimmte schützenswerte (deserving) Gruppen Anspruch auf solche Leistungen haben. Und die Frage, wer nun schützenswert ist, wird in den USA ständig kontrovers diskutiert. Solche Überlegungen grenzen sich natürlich deutlich von einer Vorstellung ab, man habe qua Staatsbürgerschaft ein Recht auf Gesundheitsversorgung oder noch radikaler gedacht: Gesundheitsversorgung ist ein Menschenrecht, das allen zusteht, auch nicht-dokumentierten Einwanderern.

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Zusammenfassung

Die zentrale Rolle der Gesundheitsversorgung im Gesamtkonzept des Sozialstaats betont Maioni, wenn er sagt: „Health insurance represents a central pillar of the modern welfare state, both because it can be seen as a social right of citizenship and because it is the largest social policy expenditure for most countries“ (Maioni 1998, S. 3). In den USA hat sich historisch bedingt ein sehr fragmentiertes Gesundheitssystem etabliert, seit den späten 1960er-Jahren dann auch als eine Mixtur privater und öffentlicher Gesundheitsprogramme. Gerade in einer vergleichenden Perspektive muss das US-Gesundheitssystem als ineffizient betrachtet werden, deckt es doch weniger Menschen bei insgesamt höheren Kosten ab. Grundlegende Reformen sind aufgrund der fest etablierten Interessenkoalitionen in der Gesundheitspolitik kaum

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durchsetzbar. Selbst nach Obamacare dominiert das Prinzip der privaten Gesundheitsversorgung, lediglich für bestimmte Personengruppen wurden öffentliche Programme implementiert. Zwar setzt sich die Idee der Gesundheitsversorgung als Bürgerrecht langsam auch in den USA stärker durch (Almgren 2017), ob diese Idee aber schon wirkmächtig genug ist, um in einer grundlegenden Reform des Gesundheitssektors zu resultieren, bleibt momentan noch fraglich. Natürlich hat Obamas Gesundheitsreform viele der Probleme im Gesundheitssektor der USA erfolgreich bearbeitet. Deutlich mehr Menschen haben nun einen Versicherungsschutz im Krankheitsfall. Damit steigt auch die Zufriedenheit der Bürger mit dem Gesundheitssystem. Zentrale Elemente von Obamacare erfreuen sich großer öffentlicher Beliebtheit. Der Ansatz der sozialen Determinanten der Gesundheitspolitik zeigt uns aber, wie ungleich der Zugang zur Gesundheitsversorgung noch gestaltet ist. Bestimmte Gruppen werden systematisch von bestimmten Programmen ausgeschlossen. Das führt insgesamt zu einer geringeren Legitimation von einigen Gesundheitsprogrammen. Und auch wenn mit Obamas Gesundheitsreform die drastischen Kostensteigerungen im Gesundheitssektor gebremst werden konnten, steigen noch immer die Kosten insgesamt und auch die Versicherungsprämien der einzelnen Bürger. Trumps Versuche einer Demontage von Obamacare wird mittelfristig dazu führen, dass wieder weniger Menschen sich eine Krankenversicherung kaufen können. Auch wenn es momentan noch unwahrscheinlich erscheint, dass sich das Gesundheitssystem in den USA radikal wandelt, die Debatte über Gesundheitspolitik hat sich in den letzten Jahren doch deutlich in die Richtung eines öffentlichen und universellen Gesundheitssystems gewandelt. Welche Partei bei den nächsten Wahlen erfolgreich ist, wird darüber mitbestimmen, ob Gesundheit in den USA weiterhin ein privates Gut ist oder ob sich der Gedanke des Rechtsanspruches stärker durchsetzt. Bei den Republikanern dominiert noch überwiegend die erste Vorstellung: Der Markt soll das Regeln. Aber der Vorwahlkampf der Demokraten hat gezeigt, wie wirkungsmächtig inzwischen die Idee einer universellen öffentlichen Krankenversicherung ist. „Medicare for All“, unter diesem Schlachtruf versammelten sich gleich mehrere Kandidaten der Demokraten. Konnte dies noch vor einigen Jahren als gefährlicher Sozialismus diskreditiert werden, akzeptieren immer mehr Bürger eine stärkere öffentliche Rolle in der Gesundheitspolitik.

Literatur Almgren, Gunnar. 2017. Health care as a right of citizenship: The continuing evolution of reform. New York: Columbia University Press. Béland, Daniel, und Jacob Hacker. 2004. Ideas, private institutions and American welfare state „Exceptionalism“: The case of health and old-age insurance, 1915–1965. International Journal of Social Welfare 13:42–54. Blank, Rebecca. 2010. The New American model of work-conditioned public support. In United in diversity? Comparing social models in Europe and in America, Hrsg. Jens Alber und Neil Gilbert, 176–181. Oxford: Oxford University Press.

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Sozialpolitik Zwischen Eigenverantwortung und Solidarität Christian Lammert

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 US-amerikanische Sozialpolitik in Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Der US-amerikanische Wohlfahrtsstaat in Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Historische Entwicklungslinien und zentrale sozialpolitische Bereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Social Security – Third Rail of American Politics . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Armutsbekämpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Zusammenfassung: Sozialpolitik in der Krise? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Der Beitrag bietet eine problemorientierte Skizze der Sozialpolitik in den USA. Aus einer vergleichenden Perspektive werden dabei sowohl konzeptionelle als auch empirische Besonderheiten des US-amerikanischen Wohlfahrtsregimes diskutiert. Anhand der Bereiche Alterssicherung und Sozialhilfe werden die Kernmerkmale von US-Sozialpolitik herausgearbeitet, die sich insbesondere im Bereich der privaten Absicherung und der staatlichen Subventionierung von Sozialpolitik über das Steuersystem zeigen. Schlüsselwörter

Sozialpolitik · Wohlfahrtsstaat · Social Security · Sozialhilfe · Gesundheitspolitik

C. Lammert (*) John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_23

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Einleitung

Die USA gelten als das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, hier – so ein gängiges Klischee – kann man es vom Tellerwäscher zum Milliardär schaffen. Auf der Liste der reichsten Menschen der Welt, die das Forbes Magazin regelmäßig publiziert, stehen dann auch regelmäßig US-Bürger ganz weit oben. Allerdings gibt es auch das andere, das arme Amerika: Obdachlose, die sich im Winter unter den Zubringern der Highways in den Randgebieten der Großstädte an brennenden Öltonnen die Finger wärmen, Suppenküchen und extrem hohe Kriminalitätsraten. Die USA, ein Land der großen Widersprüche: extremem Reichtum steht extreme Armut gegenüber. Im Jahr 2017 lebten 39,7 Millionen US-Bürger unter der Armutsgrenze, das sind 12,3 % der Gesamtbevölkerung (DeNavas-Walt et al. 2018). In Folge der positiven wirtschaftlichen Entwicklung seit 2010 ist die Armutsrate damit leicht gesunken. Kurz nach der Rezession von 2008 lebten ca. 46 Millionen Menschen in Armut, also ca. 15 % der Bevölkerung. Mit der Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2008, die immer wieder mit der Großen Depression in den 1930er-Jahren verglichen wird, hatte sich die soziale Lage in den USA noch drastisch zugespitzt: Millionen von Familien haben im Zuge der geplatzten Immobilienblase ihre Wohnungen und Häuser verloren. Langzeitarbeitslosigkeit und ein mangelhaftes Krankenversicherungssystem haben die Anzahl privater Insolvenzen in die Höhe getrieben, die ehemals breiten und selbstbewussten Mittelschichten, die für das Selbstverständnis der US-Gesellschaft so entscheidend sind, scheinen wegzubrechen oder zumindest schwer angeschlagen zu sein. Eine weitreichende Verarmung und Verelendung bei gleichzeitiger Konzentration des Reichtums in den Händen einiger weniger, wie sie die USA seit dem Ende des 19. Jahrhundert nicht mehr erlebt haben, wirft Fragen nach den sozialen Sicherungssystemen in den USA auf. Mit diesem Artikel sollen die Grundstrukturen, die ideologische Einbettung und die historische Entwicklung der sozialen Sicherungssysteme in den USA skizziert werden, um so den spezifischen Charakter des US-amerikanischen Wohlfahrtsstaates besser erfassen zu können.

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US-amerikanische Sozialpolitik in Perspektive

Um die spezifischen Muster sozialer Absicherung in den USA besser zu konturieren, ist ein konzeptioneller und vergleichender Blick auf Sozialpolitik notwendig. Insbesondere in vergleichenden Perspektive haben sich zwei Interpretationen innerhalb der Sozialwissenschaften zur wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung in den USA etabliert: Zum einen sei der US-amerikanische Wohlfahrtsstaat im internationalen Vergleich ungewöhnlich schwach ausgeprägt und zum anderen aus einer historischen Perspektive ein Nachzügler (vgl. Garfinkel et al. 2010). Solche Einschätzungen und Deutungen erfordern ein genaues Verständnis dessen, was man unter einem Wohlfahrtsstaat versteht und welche Funktionen Sozialpolitik überhaupt zugeschrieben werden. Die Vertreter der beiden genannten Interpretationen verweisen zumeist auf das Ausgabenniveau, das die Staaten für Soziales aufwenden und den Zeitpunkt,

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an dem die umfassenden öffentlichen sozialen Sicherungssysteme etabliert worden sind. Und in der Tat kann der US-Wohlfahrtsstaat aus einem solchen Blickwinkel als rückständig, fragmentiert und unvollständig charakterisiert werden. Von den großen Sozialversicherungsprogrammen war vor 1935 lediglich eine Unfallversicherung für Arbeiter (workmen’s compensation) implementiert worden. Die gesetzliche Rentenund Arbeitslosenversicherung folgte in den 1930er-Jahren im Zuge der New Deal Gesetzgebung, und erst in den 1960er-Jahren wurde eine erste öffentliche Krankenversicherung für Senioren eingeführt. Das hier erkennbare dominante Prinzip der sozialen Sicherheit, das zu einem Leitbild wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung geworden ist, kann allerdings nicht als einzige Ziel- und Werteidee gesetzt werden. Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität sind alternative Ideale und Orientierungen, die genannt werden können. Solche unterschiedlichen Leitbilder und Vorstellungen der primären Aufgaben und Zielsetzungen von Sozialpolitik sind nicht überall gleich ausgeprägt und auch nicht statisch über die Zeit, sondern unterliegen bestimmten ideologischen Denk- und Wertetraditionen und müssen in den entsprechenden Gesellschaften immer wieder neu ausgehandelt werden. Dabei können insbesondere drei Sektoren genannten werden, die im modernen Gesellschaften Wohlfahrt produzieren, bzw. Solidarität stiften können: der Markt, der Staat und die Familie (Esping-Andersen 2002). Die USA unterscheiden sich von den meisten anderen westlichen Sozialstaaten darin, wie und welche Aufgaben und Relevanz sie diesen verschiedenen Sektoren zuschreiben. In der US-amerikanischen Gesellschaft mit ihrer starken liberalen Tradition und der damit verbundenen Betonung von Individualismus und Eigenverantwortung spielt der Markt eine zentrale Rolle bei der Verteilung von Lebenschancen und der Versorgung der Bürger. Dem Staat wird hier weit weniger Vertrauen entgegengebracht. Er soll in erster Linie die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen, damit der Markt ausreichend Reichtum und Wohlfahrt produzieren kann. Dieser Aspekt ist zum Verständnis der US-Sozialpolitik ganz elementar und wird sowohl in der aktuellen politischen Debatte aber auch in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung nicht ausreichend thematisiert. Dies ist umso erstaunlicher, weil bereits in den 1970er-Jahren der britische Soziologe Richard Titmuss die analytischen Konzepte erarbeitet hat, die diese Differenzen berücksichtigen. Titmuss (1976) unterscheidet idealtypisch drei Modelle, abhängig davon, welche Rolle dem Staat im Verhältnis zu anderen Wohlfahrtsproduzenten zugewiesen wird: Im ersten Modell dominieren der Markt und die Familie als Wohlfahrtsproduzenten. Staatliche Institutionen springen erst ein, wenn die beiden ersten Instanzen versagen. Beim zweiten Modell besteht die Funktion staatlicher Sozialpolitik nicht vornehmlich darin, Lückenbüßer zu sein, sondern vielmehr darin, den im Zuge von Industrialisierung und Modernisierung erreichten sozialen Status der Bürger abzusichern. Sozialversicherungsprogramme sind hierfür das zentrale Instrument. Dem dritten Modell liegt dann das umfassendste Verständnis von staatlicher Sozialpolitik zugrunde. Der Staat stellt dem Bürger hier Leistungen zur Verfügung, unabhängig von sozialen Statusunterschieden und ihrer Position auf dem Arbeitsmarkt. Die Leistungen sind universell und leiten sich aus dem Status als Staatsbürger ab. Laut der gängigen Interpretation kommen die USA dem ersten, also dem residualen

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Modell am nächsten: staatliche Instanzen greifen erst, wenn die anderen Instanzen versagen; zudem ist die staatliche Unterstützung mit strikten Anspruchskriterien, Auflagen und Kontrollen verknüpft. Natürlich finden sich diese Idealtypen nicht in Reinform in der Wirklichkeit, alle Wohlfahrtssysteme sind ein spezifischer Mix aus den drei verschiedenen Modellen. Mit Blick auf die USA können beispielsweise die Sozialversicherungsprogramme genannt werden, die zeigen, dass es auch im Wohlfahrtsregime der USA durchaus statuserhaltende Elemente gibt. Auch bei der notwendigen Feineinstellung in dieser Frage können wir auf Titmuss zurückgreifen, der nicht nur die Institutionen der Wohlfahrtsproduktion, sondern auch die Art der Leistungen unterscheidet, die durch diese generiert werden. Soziale Wohlfahrtsleistungen sind bei Titmuss angelehnt an etablierte Definitionen innerhalb der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung: öffentliche Sozialversicherungsprogramme, Gesundheitsprogramme und Sozialhilfe. In Abgrenzung dazu hebt er die Bedeutung von beschäftigungsbezogenen und fiskalen Wohlfahrtsleistungen hervor. Erstere umfassen soziale Transfer- und Vorsorgeprogramme, die über den Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt werden und somit in erster Linie privat organisiert sind. Im Bereich der fiskalen Wohlfahrt kommen dann aber Markt und Staat stärker zusammen: private bzw. beschäftigungsbezogene Sozial- und Versicherungsleistungen werden vom Staat über das Steuersystem subventioniert. Sozialpolitik kann also nicht reduziert werden auf öffentlich verwaltete und finanzierte direkte Transferprogramm; private und über das Steuersystem indirekt subventionierte Sozialleistungen müssen mitberücksichtigt werden, um die spezifische Ausprägung eines Wohlfahrtssystems zu erfassen. Aus einer solchen breiten Perspektive zeigt sich ein weit komplexeres Bild von Sozialpolitik in den USA. So finden sich hier im Prinzip die gleichen Strukturelemente und Merkmale wie in allen anderen entwickelten Demokratien. Die These vom American Exceptionalism in der Sozialpolitik muss also relativiert werden. Allerdings setzt sich der ‚Baukasten Sozialpolitik‘ in den USA doch deutlich anders zusammen als in Europa, und dies lässt sich primär aus der Geschichte, den dort dominanten Wertetraditionen, spezifischen politischen Konfliktlinien und Entscheidungsstrukturen sowie der Bevölkerungszusammensetzung ableiten. Hier ist nicht der Raum, um die spezifischen Voraussetzungen zu erarbeiten. Dies kann an andere Stelle nachgelesen werden (Grell und Lammert 2013, insb. Kap. 3 und 4).1 Im Folgenden wird vielmehr die spezifische institutionelle Ausprägung der US-Sozialpolitik analysiert.

3

Der US-amerikanische Wohlfahrtsstaat in Zahlen

Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass eine Fokussierung auf öffentliche Sozialausgaben nur ein unvollständiges Bild von Sozialpolitik in den USA skizziert. Gängige Interpretationen und Kritiken US-amerikanischer Sozialpolitik konzentrier1

Für eine detaillierte Betrachtung der Thematik siehe auch Grell und Lammert 2013.

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Abb. 1 Öffentliche Sozialausgaben (in % des BIP), 1980–2017. (Quelle: OECD (2019), Social Expenditure Database)

ten sich auf diese Ausgabenart und wie Abb. 1 deutlich zeigt, liegen die USA bei den öffentlichen Sozialausgaben auch klar unter den Ausgabenniveaus europäischer Länder. Gemessen wird der öffentliche Aufwand für Soziales in Relation zur Wirtschaftsleistung (% des BIP). Aus diesen Daten lässt sich leicht die gängige Einordnung des US-amerikanischen Wohlfahrtsstaates als rückständig und unterentwickelt ablesen. Von den fünf hier berücksichtigten Ländern geben die USA deutlich am wenigsten für Soziales aus. Der Trend zeigt zwar seit den 1980er-Jahren leicht nach oben, aber das gilt auch für die Vergleichsstaaten. Im Jahr 2018 gaben die USA 18,7 % ihrer Wirtschaftskraft für Soziales aus und lagen damit unter dem OECD Durchschnitt von 20,2 % des BIP. Deutlich darüber lagen noch Deutschland mit 25,1 % des BIP und Schweden mit 26,1 % des BIP. Hinzu kommen Essens- und Wohnbeihilfen für die Bedürftigsten. Sozialleistungen variieren in ihrer umverteilenden Wirkung und beziehen sich auf unterschiedliche Segmente der Bevölkerung. Zudem bestehen für alle sozialen Programme unterschiedliche Zugangs- und Leistungskriterien, die weiter unten für die zentralen Transferprogramme skizziert werden. Hier sollen lediglich die Aspekte hervorgehoben werden, die die Besonderheit des US-amerikanischen Wohlfahrtsregimes ausmachen. Und dazu gehört an erster Stelle die Relevanz privater Ausgaben für soziale Absicherung. In dieser Rubrik nehmen die USA eine absolute Spitzenposition im internationalen Vergleich ein (vgl. Abb. 2). Die freiwilligen und obligatorischen privaten Sozialausgaben lagen 2015 in den USA bei 12,5 % des BIP. Deutschland (3,5 %), Kanada (4,7 %) und Schweden (3,6 %) gaben hier beispielweise deutlich weniger aus. So lässt sich als erstes Zwischenfazit festhalten, dass die USA im internationalen Vergleich bei den öffentlichen Sozialausgaben durchaus als rückständig charakterisiert werden können, dafür aber im Bereich der privaten sozialen Absicherung international führend sind.

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2015 35.0 30.0 25.0 20.0 15.0 10.0 5.0 0.0

Abb. 2 Öffentliche und private Sozialausgaben (in % des BIP), 2015. (Quelle: OECD Social Expenditure Database (SOCX) über www.oecd.org/els/social/expenditure)

Kommen wir in einem nächsten Schritt zur fiskalen Wohlfahrtsleistung des US-amerikanischen Wohlfahrtsregimes im internationalen Vergleich. Hierzu gehören jene sozialpolitischen Leistungen, die über das Steuersystem generiert werden, entweder als direkte Transferprogramme oder als Subventionierung privater sozialer Absicherung der Bürger. Die oben dargestellten öffentlichen Sozialausgaben werden in jüngsten Studien der OECD auch als Bruttosozialausgaben bezeichnet, eben weil insbesondere die Wirkung der Steuersysteme auf die Sozialleistungen noch nicht berücksichtigt worden ist. Aus diesem Grund berechnet die OECD jetzt auch immer die sogenannten Nettosozialausgaben. Dahinter steht die Überlegung, dass es nicht entscheidend ist, wieviel der Staat für Soziales ausgibt, sondern wieviel davon auch wirklich bei den Haushalten ankommt. Schweden ist in dieser Hinsicht ein gern zitiertes negatives Beispiel: Zwar sind die Leistungen aus der schwedischen Rentenversicherung im internationalen Vergleich relativ großzügig, was gleichzeitig heißt, dass viele öffentliche Gelder in das Programm fließen. Allerdings müssen diese Rentenleistungen versteuert werden. Ein Teil des Geldes holt sich der Staat also über die Steuern gleich wieder zurück, was den realen Wert der Rentenleistungen erheblich verringert. Andere Länder wie beispielsweise die USA besteuern die öffentlichen Renten nicht. In vier Schritten berechnen sich die Nettosozialausgaben. Zuerst wird die öffentliche Nettosozialleistungsquote berechnet. Dafür werden von den Bruttosoziausgaben die vom Staat einbehaltenen direkten Steuern und Sozialabgaben abgezogen. In einem zweiten Schritt müssen dann auch die indirekten Steuern auf den Konsum abgezogen

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Nettosozialausgaben (↘)

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Abb. 3 Sozialausgaben, Länderranking von höchsten Ausgaben zu den niedrigsten, 2007. (Quelle: OECD (2010))

werden, weil auch hier der Staat einen Teil der Einnahmen über den Verbrauch wieder einnimmt. In einem dritten Schritt werden dann die sozialen Transfers und Subventionen über das Steuersystem hinzuaddiert, um in einem letzten Schritt die obligatorischen und freiwilligen Sozialausgaben hinzu zu addieren. Mit Blick auf diese unterschiedlichen Ausgabenkategorien lassen sich einige interessante Ergebnisse aufzeigen. Während in zahlreichen europäischen Wohlfahrtsregimes die Bruttosozialausgaben über dem Niveau der Nettosozialausgaben liegen, ist dies in den USA genau umgekehrt: das Ausgabenniveau der Nettosozialausgaben liegt über dem der Bruttosozialausgaben. Insgesamt lässt sich hier eine deutliche Konvergenz in den Ausgabenniveaus feststellen, erstellt man ein Länderranking (Abb. 3), dann klettern die USA von Platz 23 bei den Bruttosozialausgaben auf Platz 5 bei den Nettosozialausgaben, der mit Abstand größte Sprung im OECD Ländersample. Die festgestellten Unterschiede in den Ausgabeniveaus lassen aber nur begrenzte Aussagen über die Wirkung von Sozialpolitik zu. Ein Mehr an Ausgaben setzt sich nicht unbedingt in weniger Armut oder weniger Einkommensungleichheit um. Die Umverteilungswirkungen von Sozialprogrammen sind unterschiedlich. Eine einfache Methode, um die Effektivität der Sozialsysteme z. B. bei der Verminderung von Einkommensungleichheit zu messen, ist ein Vergleich der Ungleichheit bei den Markteinkommen und der Einkommensungleichheit bei den verfügbaren Haushaltseinkommen, also nachdem das Steuer- und die Transfersysteme gewirkt haben. Daraus lässt sich dann berechnen, inwieweit Steuer- und Transfersysteme zu einer

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Reduzierung der Ungleichheit durch Transfers

Abb. 4 Ungleichheitsreduzierung durch Steuern und Transfers, 2005. (Quelle: OECD (2010))

Reduzierung von Einkommensungleichheit beitragen. In Abb. 4 wird deutlich, dass die sozialen Transfersysteme im Vergleich zu Deutschland, Schweden und auch Kanada nur zu einem weitaus geringeren Ausmaß die Ungleichheit bei den Einkommen reduzieren können. Allerdings wird anhand der Daten ein weiteres Charakteristikum des US-amerikanischen Wohlfahrtssystems deutlich: Umverteilung wird hier viel stärker über das Steuersystem generiert und weniger über die sozialen Transferprogramme. Das erklärt zum Teil auch die erheblichen Differenzen, die sich bei den Redistributionseffekten im internationalen Vergleich zeigen. Wird in erster Linie über die Steuersysteme umverteilt, so bleiben die Bevölkerungsgruppen außen vor, die kein Erwerbs- oder sonstiges Einkommen haben, das besteuert werden kann. Genau diese Gruppen sind auf soziale Transfersysteme angewiesen, deren umverteilende Wirkung in den USA im Vergleich aber nur schwach ausgeprägt ist. Die präsentierten Daten verweisen auf die Problematik, die Generosität und Effizienz von Wohlfahrtsregimes zu bestimmen. Zu unterschiedlich sind die Wirkungsmechanismen einzelner Leistungen und Programme, die jeweiligen Wechselwirkungen zwischen sozialpolitischen und anderen Maßnahmen wie auch der jeweilige gesellschaftliche und demographische Kontext. Trotzdem lassen sich für die USA einige Spezifika festhalten. Dazu gehört an erster Stelle der besondere Mix bei den Sozialausgaben. Hier ist beachtlich, wie hoch der Anteil der öffentlichen Aufwendungen für Rentner und Kranke ist. Kein anderes Land gibt soviel zur Absicherung der sozialen Risiken Alter und Krankheit aus. Das heißt auf der anderen Seite, dass andere Sozialleistungen wie z. B. die Arbeitslosenunterstützung oder monetäre Hilfen für erwerbsfähige Erwachsene im Vergleich relativ gering ausfallen und restriktiv gehandhabt werden. Des Weiteren ist der Anteil der privaten Sozialausgaben deutlich höher als in anderen entwickelten Sozialstaaten. Zudem subventioniert der Staat in den USA unterschiedlichste Formen der privaten sozialen Absicherung direkt und indirekt über das Steuersystem, wie das insbesondere die europäischen Wohlfahrtssysteme bislang nicht tun.

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Historische Entwicklungslinien und zentrale sozialpolitische Bereiche

In der Forschung zum US-amerikanischen Wohlfahrtsstaat dominierte lange Zeit die Auffassung von den beiden außergewöhnlichen sozialpolitischen Big Bangs (Leman 1977). Demnach war der New Deal in den 1930er-Jahren eine Art verspäteter Urknall, der die rechtlichen und strukturellen Grundlagen für zentrale Sozialleistungen legte. Diese wurden dann in den 1960er-Jahren im Zuge des ‚War on Poverty‘ und der ‚Great Society‘ ergänzt. Spätestens seit den 1990er-Jahren wird diese Interpretation der nicht linearen Herausbildung des Wohlfahrtsregimes in den USA immer häufiger in Frage gestellt und relativiert (vgl. z. B. Weir et al. 1988; Skocpol 1992; Amenta 1998; Thelen 1999). So konnten Studien zeigen, dass bereits vor der New Deal Gesetzgebung in vielen Bundesstaaten wichtige Vorläufer nationaler Sozialprogramme existierten, die der stark föderalen Staatsform entsprachen und zum Teil weit mehr Personen umfassten, als die europäischen Äquivalentprogramme (Orloff 1993, S. 36). Zum anderen rückte auch die private und steuerbasierte Sozialpolitik stärker in den Fokus der sozialwissenschaftlichen Forschung, die einem komplett anderen Entwicklungsmuster als die öffentlichen Wohlfahrtsprogramme folgte. Letztere Bereiche des Wohlfahrtsregimes versuchte man in der Forschung mit unterschiedlichen Begriffen zu fassen: der ‚franchise state‘ (Wolfe 1975), der ‚shadow state‘ (Wolch 1990), der ‚hidden welfare state‘ (Howard 1997) oder der ‚submerged welfare state‘ (Mettler 2011). Bislang fehlt in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung noch eine systematische Abbildung des besonderen ‚welfare mix‘, der das Wohlfahrtsregime in den USA von seinem europäischen Gegenpart so deutlich unterscheidet. In Abb. 5 wird das Wohlfahrtsregime in drei Säulen dargestellt, die nicht nur den öffentlichen Teil umfassen, sondern auch die private und steuerbasierte Sozialpolitik in den Blick nehmen, die den spezifischen ‚welfare mix‘ in den USA ausmachen. Im Folgenden soll an den Bereichen Alters- und Gesundheitspolitik sowie dem Sozialhilfebereich dieses spezifische Mischungsverhältnis sowie der fragmentierte Charakter der US-Sozialpolitik exemplarisch skizziert werden. Einige andere wichtige sozialpolitische Bereiche (Arbeitsmarkt-, Familien-, Bildungs- und Wohnungspolitik) müssen dabei aus Platzgründen außen vor gelassen werden (vgl. zu diesen Bereichen Grell und Lammert 2013).

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Social Security – Third Rail of American Politics

Die Alterssicherung gehört traditionell zu den Kernbereichen staatlicher Sozialpolitik und auch in den USA steht sie seit jeher im Zentrum sozialpolitischer Aktivitäten und Auseinandersetzungen. Wie im Gesundheitssektor hat sich auch hier ein komplexes System öffentlicher aber auch privater Leistungen herausgebildet, die sich zum Teil gegenseitig bedingen und ergänzen. Die erste und staatlich organisierte Säule besteht aus der gesetzlichen Renten- und Invalidenversicherung (Old Age and Survivors Insurance and Disability Insurance,OASID), umgangssprachlich einfach

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Öffentliche Sozialprogramme

Private Sozialprogramme

Steuerliche Sozialprogramme

•Sozialversicherungen •Rentenversicherung •Arbeitslosenversicherung •Medicare

•Krankenversicherung über den Arbeitgeber •Rentenversicherung über den Arbeitgeber •’Health Exchanges‘

•steuerbasiert •Earned Income Tax Credit •Child Tax Credit

•Sozialhilfeprogramme •TANF •Medicaid •Food Stamps •Supplemental Income Security •Housing

•steuersubventioniert •Tax Expenditures for Medicare Benefits •Tax Expenditires for Social Security benefits •Tax Expenditures for Employer Pensions •Tax Expenditures for Home Mortgage Interest •Tax Expenditure for Capital Gains on Home Sales and Employer Health Insurances •Tax Expenditures for Individual Retirement Accounts

Abb. 5 Struktur des US-amerikanischen Wohlfahrtsregimes. (Quelle: Eigene Darstellung)

‚Social Security‘ genannt. Sie gilt als das Herzstück des Social Security Acts von 1935 und wurde in den Nachkriegsjahren kontinuierlich ausgebaut. Die zweite Säule bildet der Bereich der betrieblichen oder berufsbezogenen Rentensysteme, die sich zurzeit in einem Umbruch befinden und immer mehr mit der dritten Säule, der rein individuellen Altersversorgung, die vorrangig über die Kapital- und Versicherungsmärkte organisiert wird, verschmilzt. Beide Formen der privaten Absicherung werden mit erheblichen Steuerbegünstigungen staatlich gefördert. Zur Erfolgsbilanz von Social Security zählt, dass sich mit ihrer Einführung und Expansion das Problem der Altersarmut erheblich verringert hat. In Kombination mit Medicare hat sich die Rentenversicherung im Laufe der Jahrzehnte zu einem der erfolgreichsten sozialstaatlichen Programme entwickelt. Lag die Armutsrate im Alter in den 1960er-Jahren noch mit rund 35 % doppelt so hoch wie beim Rest der Bevölkerung, ist sie bis 2017 auf 9,2 % gesunken und liegt damit deutlich unter dem Durchschnittswert bei der Bevölkerung. (DeNavas et al. 2018, S. 15). Kein Wunder also, dass die gesetzliche Rente zusammen mit Medicare in der Bevölkerung auf eine sehr breite Unterstützung stößt und sich mit der AARP (vormals American Association of Retired People) eine äußerst einflussreiche Lobbygruppierung herausgebildet hat, die bislang verschiedene Reforminitiativen abwenden konnte. Social Security ist ein beitragsfinanziertes Sozialversicherungssystem, in das fast alle US-Bürger während ihres Arbeitslebens einzahlen, um so Ansprüche auf Lohnersatzleistungen im Alter zu erhalten. Das offizielle Renteneintrittsalter liegt derzeit bei 65,5 Jahren und wird bis 2020 graduell auf 67 Jahre angehoben. Die gesetzliche Rentenversicherung kann annährend als universell charakterisiert werden, da inzwischen rund 96 % der Arbeiter und Angestellte beitragspflichtig sind und somit in das

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System einbezogen sind. Derzeit beträgt der Arbeitnehmerbeitrag (Payroll tax) 6,2 % des monatlichen Gehalts bis zu einem Jahreseinkommen von 132.900 USD im Jahr 2019. Der Arbeitgeber zahlt den gleichen Betrag in die Versicherungskasse. Organisiert ist das System nach dem Pay-as-you-go Prinzip: Die gegenwärtigen Rentenzahlungen werden aus den Beiträgen der heutigen Arbeitnehmer finanziert. Die Höhe der Rentenleistung orientiert sich am Durchschnittsverdienst der letzten 35 Jahre. 2018 erhielt ein Rentner im Schnitt monatlich 1347 USD als Rente aus dem Programm (Congressional Research Service 2019). Mit Blick auf den privaten Altersvorsorgebereich haben die USA den weltweit größten Rentenmarkt, dessen Anlagevermögen 2016 auf 8,6 Billionen USD geschätzt wurde (US Department of Labor 2018). Insgesamt lässt sich seit Ende der 1970er-Jahre eine erhebliche Ausdifferenzierung und Individualisierung der privaten Altersversorgung konstatieren. Etwas mehr als die Hälfte der Beschäftigten arbeitet in Unternehmen, die ihnen zusätzlich zur gesetzlichen Rente eine private Altersabsicherung anbieten; im öffentlichen Dienst sind dies gar 80 % (Copeland 2014). Diese Werte sind seit den 1970er-Jahren weitgehend konstant geblieben, während sich die Art der Vorsorgepläne und -leistungen stark gewandelt hat und der Anteil der Beschäftigten, der tatsächlich in ein Betriebsrentensystem eingebunden ist, abgenommen hat (Munnell und Quinby 2009, S. 2). Von staatlicher Seite werden die finanziellen Aufwendungen für die betriebliche Altersvorsorge seit 1913 relativ großzügig durch Steuerfreibeträge begünstigt. Die betrieblichen Pensionsund Vorsorgepläne unterliegen zudem einigen gesetzlichen Mindestanforderungen (Employee Retirement Income Security Act), die eine gewisse Aufsicht, Kontrolle und Transparenz für die Arbeitnehmer garantieren sollen. Ein wichtiges Unterscheidungskriterium für die verschiedenen betrieblichen Vorsorgesysteme ist die Art und Weise, wie die Chancen und Risiken verteilt sind. Generell unterscheidet man zwischen Verträgen, die dem Arbeitnehmer im Voraus festgelegte Leistungen zusichern (defined benefit plans), und solchen Plänen, bei denen die später Pensionshöhe durch marktabhängige Verzinsung des Rentenguthabens bestimmt wird (defined contribution plans). Zusätzlich existieren noch Individual Retirement Accounts (IRAs). Als diese Anlageform 1974 mit dem Employer Retirement Income Security Act (ERISA) eingeführt wurde, richtete sie sich ausschließlich an diejenigen Beschäftigten ohne einen Zugang zu employer-sponsored pensions, wie z. B. Mitarbeiter kleinen Firmen oder Selbstständige. Das Alterssicherungssystem gehört sicherlich zu den erfolgreichsten Bereichen im Wohlfahrtssystem und genießt innerhalb der Bevölkerung große Unterstützung. Allerdings erweist sich auch ein solch populäres Programm nicht sakrosankt gegenüber der horrenden Staatsverschuldung in den USA. Zwar betonte Obama bei seinem Amtsantritt, dass seine Administration keine Privatisierung von Social Security anstreben werde, allerdings hat Obama eine Kommission eingesetzt, die Maßnahmen zur Reduzierung des Haushaltsdefizites erarbeiten sollte und dabei wurden auch konkrete Vorschläge erarbeitet, die aus dem Ausbau der privaten Säule der Versorgung Einsparungen im öffentlichen Haushalt generieren sollten (Nichols 2011). Umgesetzt worden ist davon allerdings nichts. Präsident Trump hatte im Wahlkampf 2016 noch angekündigt, unter ihm werde es keine Reformen oder

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Kürzungen im Bereich der Altersversorgung kommen. Aufgrund der Blockadesituation im Kongress sind die Aussichten auf eine Reform von Social Security auch sehr gering. Allerdings hat die Trump-Administration mit ihrem Haushaltsentwurf 2020 auch Kürzungen im Bereich von Social Security um 25 Milliarden USD in den kommenden 10 Jahren festgeschrieben (Golshan 2019).

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Armutsbekämpfung

Das Altersvorsorgesystem in den USA wird dominiert durch das Prinzip der Sozialversicherung und wird maßgeblich mitbestimmt durch einen privaten Bereich der sozialen Absicherung, der wiederum über das Steuersystem vom Staat subventioniert wird. Einer ganz anderen Logik folgt hier der Sozialhilfe-, bzw. Fürsorgebereich. Diese Art von öffentlicher Unterstützung wird aus allgemeinen Steuermitteln bestritten und das nicht nur in monetärer Form (cash assistance), sondern häufig auch als Sach- und Dienstleitung (in-kind assistance). Voraussetzung für den Leistungsbezug ist in der Regel der Nachweis einer besonderen Notlage oder Bedürftigkeit, die zumeist anhand von bestimmten Einkommens- und Vermögensgrenzen gemessen wird. Zu den wichtigsten Einkommensbeihilfe-Programmen gehören gegenwärtig: die Familienfürsorge für Eltern mit minderjährigen Kindern, seit 1997 Temporary Assistance for Needy Families (TANF) genannt, Ernährungsbeihilfen, Wohngeld, Einkommensbeihilfen für bedürftige Senioren und körperlich Behinderte, verschiedene steuerbasierte Sozialleistungen wie der Earned Income Tax Credit (EITC) sowie kleinere einzelstaatliche Sozialhilfeprogramme, die unter der Rubrik General Assistance zusammengefasst werden. Seit 2008 sind diese Ausgaben für Einkommensbeihilfen (ohne Gesundheitsversorgung) von 302 auf 409 Milliarden USD angestiegen (Falk et al. 2018). Sozialhilfeleistungen gehören traditionell zu den umstrittensten sozialpolitischen Instrumenten, obwohl die Ausgaben für diese monetären Hilfen gemessen am BIP und an der Kostenentwicklung im Bereich Gesundheit und Altersvorsorge in den USA immer eher bescheiden ausfallen. Dies hat mit der Wirkmächtigkeit des dominanten kulturellen Leitbildes der Eigenverantwortung zu tun. Dem entspricht eine starke Erwerbsorientierung des Individuums sowie eine gesellschaftliche Stigmatisierung aller Personengruppen und Lebensweisen, die mit schlechter, das heißt selbstverschuldeter psychologischer, ökonomischer und sozialer Abhängigkeit in Verbindung gebracht werden. Abhängigkeit kann man daher als einen ideologischen Schlüsselbegriff in der US-amerikanischen Politik (Fraser und Gordon 1997, S. 180) betrachten, insbesondere mit Blick auf die Entwicklung und Ausrichtung von Sozialhilfeleistungen. Der Streit darum, wer wirklich bedürftig ist und wie diesen legitimen Bedürftigen – den deserving poor – geholfen werden kann, ohne sie von staatlicher Unterstützung abhängig zu machen, durchzieht die gesamte Entwicklung der US-amerikanischen Armutspolitik. Auch deshalb hat sich ein relativ schwaches, fragmentiertes und dezentralisiertes soziales Auffangnetz etabliert, in dessen Mittelpunkt die Familienbeihilfe Temporary Assistance for Needy Families (TANF) steht. Dieses Programm ging 1997

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aus dem bereits in der New Deal Gesetzgebung implementierten Sozialhilfeprogramms Aid to Families with Dependent Children (AFDC) hervor. Zielgruppe dieses Programms waren mittellose alleinerziehende Mütter und deren minderjährige Kinder. Auch wenn die Leistungen aus diesem Programm oftmals nicht ausreichten, um die Leistungsempfänger über die Armutsgrenze zu heben (Albert 2000, S. 04), bot das AFDC-Programm den Einzelstaaten und Kommunen die Option, zumindest einen Teil der Armutsbevölkerung vom Arbeitszwang zu befreien und deren Einkommen mithilfe von Bundes- und Landesmitteln zu alimentieren. Angesichts drastisch steigender Bezugszahlen (US House of Representatives 2012, Tab. 7–9) geriet die Familiensozialhilfe immer mehr unter die Kritik konservativer Politiker, die Kostenargumente mit dem Vorwurf verbanden, mit dem Programm würde über eine zu große Permissivität in der Sozialpolitik traditionelle US-amerikanische Normen und Werte wie individuelles Leistungsstreben, ökonomische Selbstständigkeit und der Familienzusammenhalt unterminiert (Weaver 2000). Es war dann schließlich der demokratische Präsident Bill Clinton, der 1996 den Personal Responsibility and Work Opportunity Act (PRWORA) unterzeichnete. Als wichtigste Neuerungen müssen sicherlich die Abschaffung des Rechtsanspruchs auf staatliche Unterhaltszahlungen, eine zeitliche Befristung der Sozialhilfeleistungen des Bundes auf maximal fünf Jahre sowie die Ausgrenzung von neu zugewanderten Migranten und ihren Familien aus der sozialpolitischen Verantwortung genannt werden. Zu den wenigen bundesweiten Sozialhilfeprogrammen, die sich als krisentauglich erwiesen und auf die in den letzten Jahren immer mehr Haushalte zurückgegriffen haben, zählen die Ernährungsbeihilfen. Insgesamt existieren in den USA momentan 15 Food-Aid Programme, von denen das bekannteste das Food-StampProgramm ist, im Jahr 2008 in Supplemental Nutrition Assistance Programm (SNAP) umbenannt. Im Jahr 2017 bezogen 42,1 Millionen US-Amerikaner, das heißt annährend jeder sechste Bürger, Ernährungsbeihilfen. In Folge der Finanzkrise 2008 und den damit einhergehenden hohen Zahlen an Arbeitslosen hatte sich die Anzahl der SNAP-Empfänger für einen kurzen Zeitraum fast verdoppelt. Seit 2013 gehen die Zahlen wieder leicht zurück, liegen aber 2018 noch deutlicher über den Zahlen von 2006, also vor der Finanzkrise (Center on Budget and Policy Priorities 2019). Bei schätzungsweise sechs Millionen Personen stellen Food Stamps das einzige Einkommen dar (Eslami et al. 2011). Daneben existiert in den USA seit den 1970er-Jahren eine neue sozialpolitische Einkommensbeihilfe, der viel zitierte Earned Income Tax Credit (EITC). Dieses Programm ist zwar keine Sozialhilfe im klassischen Sinne, muss aber in diesem Kontext genannt werden, weil er sich spätestens seit den 1990er-Jahren zu einem der wichtigsten Instrumente zur Reduzierung der Armutsraten entwickelt hat. 1978 wurde der anfangs nur als eine temporäre Krisenmaßnahme gedachte EITC von der Carter-Administration auf eine dauerhafte Basis gestellt. In den 1980er-Jahren entwickelte er sich dann zu einem zentralen Element der Doppelstrategie der Bundesregierung, bestehend aus Welfare to Work und Making Work Pay, die für Sozialhilfeempfänger und andere Erwerbslose verschiedene Anreize zur Arbeitsaufnahme schaffen wollte und darauf bedacht war, dass Erwerbstätige im Niedriglohnsektor

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dazu in der Lage sein würden, eine Familie zu ernähren (Peter 2005). Seitdem hat sich der EITC zum Anti-Armuts-Programm in den USA mit der breitesten politischen Unterstützung und der höchsten Steigerungsrate entwickelt. Allein zwischen 1990 und 1994 wuchs die Zahl der Begünstigten um 50 Prozent. Bereits 1996 ließ der EITC die Sozialhilfe TANF in Bezug auf Finanzvolumen und Empfängerzahlen hinter sich (Center on Budget und Policy Priorities 2012).

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Zusammenfassung: Sozialpolitik in der Krise?

Am Ende dieses Überblicks über die unterschiedlichen Muster und Entwicklungen der US-amerikanischen Sozialpolitik und ihre institutionellen Ausprägungen sollen einige zentrale Besonderheiten des Wohlfahrtsregimes in den USA hervorgehoben werden. An erster Stelle muss hier der komplexe und weitgehend unkoordinierte Charakter der Sozialpolitik genannt werden. Ein übergeordnetes sozialpolitisches Prinzip ist nicht zu erkennen, die Programme unterscheiden sich sowohl in ihren Funktionslogiken als auch hinsichtlich der Zielgruppen, die von ihnen profitieren. Der Ausbau vollzog sich weitgehend inkrementell und basierte auf einer Vielzahl unterschiedlicher, auf nationaler und subnationaler Ebene angesiedelten öffentlichen und privaten Politiken. Generell ist der Sozialstaat für Rentner relativ gut ausgebaut, während Menschen im erwerbsfähigen Alter in Notlagen und bei Unterstützungsbedarf einem sehr fragmentierten, lückenhaften und unübersichtlichen System sozialer Sicherung gegenüber stehen. Darüber hinaus muss die Bedeutung privater sozialer Absicherung gerade aus einer international vergleichenden Perspektive betont werden. Diese privaten Systeme und Versicherungen haben sich teilweise ergänzend, teilweise als Äquivalent zur lückenhaften öffentlichen Absicherung herausgebildet. Nur selten gesetzlich vorgeschrieben beruhen sie zumeist auf der Grundlage von Freiwilligkeit. Private Absicherung heißt aber nicht, dass der Staat hier überhaupt keine Rolle spielt. Über rechtliche und institutionelle Regulierung sowie über das Steuersystem greift er in einem erheblichen Maße in die Verteilung und Umverteilung von Ressourcen zugunsten bestimmter Bevölkerungsgruppen ein. Gerade steuerliche Subventionierung von privaten Aufwendungen für die Kindererziehung, die soziale Absicherung oder die Altersversorgung sind in den USA seit den 1970er-Jahren massiv ausgebaut worden. Zugleich werden hiermit viele traditionelle sozialpolitische Ansprüche der Umverteilung unterlaufen und im Ergebnis entsprechende Leistungen auch deutlich zurückgefahren. Insgesamt wird aufgrund dieser eher verborgenen Strukturen von Sozialstaatlichkeit die allgemeine Unterstützung in der Bevölkerung für den Wohlfahrtsstaat als relativ schwach eingeschätzt.

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Arbeitsmarktpolitik Im Zeichen des technologischen Wandels Julia Püschel

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Der flexible US-amerikanische Arbeitsmarkt: Eine neue Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Aktive und passive Arbeitsmarktpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Im liberalen Wohlfahrtsregime der USA kommt dem Arbeitsmarkt eine besonders maßgebliche Rolle für die Lebensstandards der Menschen zu. In der gegenwärtigen Zeit rapider und allumfassender Veränderungen und Umstrukturierungen im Zuge von Globalisierung und Digitalisierung, ist eine besondere Anpassungsfähigkeit an immer neue Bedingungen ausschlaggebend für eine erfolgreiche Teilnahme am Arbeitsmarkt. Auch in den USA greift der Staat über vielfältige Maßnahmen in den Arbeitsmarkt ein und insbesondere die job training Komponente der Arbeitsmarktpolitik im engeren Sinn könnte ein geeignetes Instrument bieten, um den Herausforderungen ständigen Wandels erfolgreich zu begegnen. Leider sind die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen in den USA mit einem international vergleichsweise geringen Gesamtbudget ausgestattet, besonders stark fragmentiert, und oftmals auch nicht sehr effektiv. Hier hat auch Donald Trumps Wahlkampagnenfokus auf Arbeiter im ehemaligen Rust Belt wenig geändert.

J. Püschel (*) John-F.-Kennedy Institut, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_28

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Schlüsselwörter

Arbeitsmarktpolitik in den USA · Jobpolarisierung · Außenwirtschaft · Trade · Adjustment Assistance

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Einleitung

Der Arbeitsmarkt ist ausschlaggebend für die Lebensstandards und -perspektiven der meisten Menschen. Die aktive Teilnahme am Arbeitsmarkt ist nicht nur maßgeblich für die Sicherung materieller Wohlfahrt, sondern auch für den sozialen Status, den Gesundheitszustand sowie eine Teilhabe am politischen Prozess. In den USA, deren wohlfahrtsstaatliches System gemeinhin als „liberal“ bezeichnet wird (Esping-Anderson 1990), nimmt der Arbeitsmarkt in dieser Hinsicht eine besonders zentrale Stellung ein, da eine Verschlechterung der Lebensverhältnisse durch Arbeitsplatzverlust oder Einkommensrückgang sozial weniger abgefedert ist als in „sozialdemokratischen“ Wohlfahrtsstaaten (Grell und Lammert 2013, S. 108–130). Die neuen Charakteristika der wirtschaftlichen Globalisierung in Kombination mit immer weitreichenderen technologischen Innovationen stellen den US-amerikanischen Arbeitsmarkt vor vielfältige neue Herausforderungen. Während bis Mitte der 1990er-Jahre vor allem Geringqualifizierte in der produzierenden Industrie einen Verlust ihrer Arbeitsplätze oder einen Einkommensrückgang befürchten mussten, sind zunehmend auch Beschäftigungsverhältnisse der traditionellen Mittelklasse und im Dienstleistungssektor sowie Höherqualifizierte betroffen. Durch den momentan besonders schnell voranschreitenden Strukturwandel ist Veränderung über die verschiedensten Ausbildungsniveaus hinweg die allgegenwärtige Norm. Nationale Arbeitsmärkte sind dem ökonomischen Strukturwandel jedoch nicht willkürlich ausgesetzt. Generell lassen sich drei Dimensionen unterscheiden, entlang derer der Staat Einfluss auf die Arbeitsmärkte und die daraus resultierenden Lebensverhältnisse nehmen kann: indirekt über makroökonomische Maßnahmen wie die Fiskal- und Geldpolitik, über die Arbeitsmarktregulierung (Arbeitszeit- und Lohnpolitik) und über die Arbeitsmarktpolitik im engeren Sinn. Letztere interveniert am direktesten (auf der Mikroebene) im Arbeitsmarkt – entweder passiv durch die Unterstützung von Arbeitslosen oder aktiv durch die gezielte Förderung der Beschäftigungsfähigkeit bestimmter Gruppen. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, inwiefern US-arbeitsmarktpolitische Maßnahmen in ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung den strukturellen Herausforderungen auf dem einheimischen Arbeitsmarkt erfolgreich begegnen können. Dafür wird zunächst ein Überblick über die Besonderheiten des US-amerikanischen Arbeitsmarktes gegeben, wobei insbesondere auf längerfristige Restrukturierungsprozesse, die neue Normalität des ständigen Wandels und die daraus resultierenden Herausforderungen für den US-amerikanischen Arbeitsmarkts eingegangen wird. Danach werden die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen im engeren Sinn beschrieben. Im Fokus der Betrachtung steht, inwiefern diese Maßnahmen an die gegenwärtigen und zukünftig

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absehbaren Herausforderungen angepasst sind. Insbesondere die Weiterbildungs- und Umschulungskomponente bietet Potenziale, die Anpassung an die wandelnde Arbeitswelt mitzugestalten. Zieht man insgesamt Bilanz, so haben allerdings politische Reaktionen auf die zugrunde liegenden tiefgreifenden strukturellen Veränderungen nur unzureichend und mit großer zeitlicher Verzögerung Eingang in konkrete arbeitsmarktpolitische Maßnahmen gefunden. Auch Donald Trump hat bisher versäumt, seine Wahlversprechen zur Unterstützung von Arbeitern im ehemaligen Rust Belt durch eine Reform der Arbeitsmarktpolitik umzusetzen.

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Der flexible US-amerikanische Arbeitsmarkt: Eine neue Dynamik

In den USA dominiert immer noch ein neoklassisches Verständnis der Arbeitsmärkte und eine generelle Skepsis gegenüber staatlichen Eingriffen in den Arbeitsmarkt. Die existierenden Regulierungen des Arbeitsmarkts weisen aufgrund der geringen Verbreitung bundesweiter Regelungen ein besonders hohes Maß an Heterogenität auf. Auf Bundesebene werden die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern lediglich in einigen wenigen Bereichen geschützt. Durch den Fair Labor Standards Act von 1938 wurde ein Verbot von Kinderarbeit eingeführt, ein bundesweiter Mindestlohn etabliert und die Bezahlung von Überstunden geregelt. Gesundheitliche Aspekte werden durch den Occupational Health and Safety Act aus dem Jahr 1970, Eltern- und Pflegezeiten durch den Family and Medical Leave Act aus dem Jahr 1993 geregelt. Zudem existiert in den USA seit Mitte der 1960er-Jahre ein bundesweites Diskriminierungsverbot aufgrund persönlicher Merkmale wie Hautfarbe, Geschlecht und Religion (Grell und Lammert 2013, S. 112). Neben diesen vier allgemeinen Regelungen gibt es im Vergleich zu Kontinentaleuropa in den USA jedoch kein spezielles Arbeitsrecht. Über 80 % aller Arbeitsverhältnisse basieren in den USA auf Privatverträgen und auf dem „at will-“ Prinzip des amerikanischen Common Law. Es gibt weder verbindliche Kündigungsfristen noch Abfindungsregelungen und auch die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist nicht gesetzlich geregelt. Zudem besteht keine allgemeine gesetzliche Verpflichtung zum Abschluss einer Krankenversicherung (Jahn 2004). Zur Eigenheit des US-amerikanischen Arbeitsmarktes trägt auch bei, dass aufgrund des geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrads Lohnverhandlungen hauptsächlich dezentral auf Unternehmensebene ausgehandelt werden (Werner 1999, S. 64–66). Die Gewerkschaftsmacht hat seit den 1980er-Jahren in den USA besonders stark abgenommen (Milberg und Winkler 2011). Waren im Jahr 1983 noch mehr als 20 % aller Beschäftigten Gewerkschaftsmitglieder, so fiel dieser Anteil im Jahr 2018 auf 10,5 %. Berücksichtigt man ausschließlich Beschäftigte in der Privatwirtschaft, so fällt dieser Anteil mit knapp 6,4 % noch geringer aus, und Beschäftigte im expandierenden unternehmensbezogenen Dienstleistungssektor sind kaum gewerkschaftlich organisiert und im Jahr 2018 waren dort nur 2,6 % aller Beschäftigten Gewerkschaftsmitglieder (Bureau of Labor Statistics 2019c).

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Aufgrund dieser vergleichsweise geringen bundeseinheitlichen Regulierungen und dem geringen Grad gewerkschaftlicher Organisation gilt der US-amerikanische Arbeitsmarkt als besonders flexibel. Diese Flexibilität wurde lange von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und dem Internationalen Währungsfond (IWF) als Grund für die hohen und seit der Nachkriegszeit nahezu stetig gestiegenen Erwerbsquoten in den USA gepriesen (OECD 1994). In der Tat lag die Erwerbstätigenquote zwischen 1980 und 2000 10 Prozentpunkte über dem Durchschnitt in den EU-Staaten (Grisse et al. 2011). Jene positive Einschätzung von flexiblen Arbeitsmärkten erscheint jedoch überholt. Empirisch lässt sich laut der OECD (1999) kein kausaler Zusammenhang zwischen der Höhe der Arbeitslosigkeit und der Regulierung des Arbeitsmarktes feststellen. Der US-amerikanische Arbeitsmarkt litt schwer unter den Auswirkungen der Wirtschaftskrise. 2010 fiel die Erwerbstätigenquote fiel auf ihren Tiefpunkt von 58,5 % und die Arbeitslosenquote stieg auf 9,6 %. Seitdem hat sich der US-Arbeitsmarkt erholt. Die Arbeitslosenquote fiel seit 2010 stetig und lag 2019 bei rund 3,7 % (Bureau of Labor Statistics 2019a). Allerdings hat der konjunkturelle Anstieg der Arbeitslosigkeit längerfristige Trends im US-amerikanischen Arbeitsmarkt verstärkt, die sich in unterschiedlichen Beschäftigungschancen und damit unter Anderem in Einkommensungleichheiten manifestieren. Der Anteil der Langzeitarbeitslosen ist stark gestiegen und lag 2019 mit über 20,6 % aller Arbeitslosen immer noch extrem hoch. Zudem ist die Erwerbsquote 2019 auf lediglich 63,2 % gesunken. Nach 40 Jahren des Anstiegs ist die US-Erwerbsquote damit seit dem Jahr 2000 stetig gesunken (Bureau of Labor Statistics 2019a). Neu ist auch, dass das Risiko des Arbeitsplatzverlustes zunehmend auch die Mittelklasse und Höherqualifizierte betrifft. Deren traditionelle Tätigkeiten können mittlerweile auch automatisiert oder ins Ausland verlagert werden. Die rapide und allumfassende Dynamik des Wandels ist mittlerweile die Norm und schlägt sich in gravierenden strukturellen Ungleichheiten nieder. Einhergehend mit der Tertiarisierung galten lange die Beschäftigungen geringqualifizierter Industriearbeiter als besonders gefährdet. Während in den USA im Jahr 1960 65 % der Beschäftigten außerhalb des Primärsektors im Dienstleistungssektor beschäftigt waren, so ist dieser Anteil im Jahr 2018 auf 80,2 % angestiegen. Insbesondere die Beschäftigung in unternehmensbezogenen Dienstleistungen (business services) hat starke Wachstumsraten verzeichnet (Bureau of Labor Statistics 2019b). Wegen des Eintritts der hochausgebildeten Baby Boom Generation in den Arbeitsmarkt während der 1970er-Jahre hat sich dieser Rückgang in den Beschäftigungsmöglichkeiten jedoch erst seit den 1980er-Jahren auch in niedrigeren Erwerbseinkommen für Geringqualifizierte niedergeschlagen und damit zu einem Anstieg der Lohndisparitäten geführt. Während die ersten drei Jahrzehnte der Nachkriegszeit lediglich durch einen leichten Anstieg der Lohnungleichheiten in den USA gekennzeichnet waren, kam es in den frühen 1980er-Jahren zu einer Trendwende (Levy und Murnane 1992). Und obwohl sich die Erwerbseinkommen in nahezu allen OECD Ländern auseinander entwickelt haben, so ist die Lohndisparität in den USA besonders stark ausgeprägt. Verschärft wird das Problem in den USA durch eine seit den 1970er-Jahren gestiegene Armutsrate. Laut dem US-Census lebten 2018 11,8 % der

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US-amerikanischen Bevölkerung unterhalb der offiziellen Armutsgrenze (U.S. Census Bureau 2019). Seit Mitte der 1990er-Jahre ist auch die Mittelklasse zunehmend schmerzhaften Anpassungsprozessen ausgesetzt. Die sogenannte „Job-Polarisation“ (Goos und Manning 2007) ist durch einen relativen Rückgang in Erwerbseinkommen und Beschäftigungsmöglichkeiten für die Mittelschicht gekennzeichnet. Während die Nachfrage nach Hoch- und Niedrigqualifizierten gestiegen ist, wurden zunehmend weniger Positionen mit einem mittleren Bildungsniveau und Einkommen angeboten. Für diese Arbeitsmarktpolarisierung sehen Ökonomen neben dem fortschreitenden technologischen Wandel und der damit einhergehenden Automatisierung bestimmter Tätigkeiten auch die aktuellen Charakteristika des Außenhandels als ursächlich an (Autor 2010).1 Besonders traditionelle Mittelklasseberufe sind durch routinisierte Tätigkeitsprofile charakterisiert, die leicht durch computergesteuerte Programme ersetzt oder ins Ausland verlagert werden können (Autor 2010). Die resultierende geringere Nachfrage nach Tätigkeiten mit einem mittleren Qualifikationsniveau schlägt sich auch in einer starken Abnahme der Erwerbsquote von ‚prime-age‘ Männern nieder (Tüzemen 2018). Seit den 2000er-Jahren sind zudem auch Höherqualifizierte zunehmend unter Druck. Technologische Entwicklungen im Bereich von mobiler Robotik und Intelligenten Maschinen ermöglichen zunehmend die Automatisierung auch von komplexen, nicht-routine Tätigkeiten. Und Personen mit einem Collegeabschluss übernehmen in der Folge Jobs aus denen sie Geringerqualifizierte verdrängen (Beaudry et al. 2016). Diese neuen Dynamiken des US-Arbeitsmarkts, welche sich bis in die 1980erJahre zurückverfolgen lassen, stellen den US-amerikanischen Arbeitsmarkt damit vor neue Herausforderungen. Während ursprünglich vor allem Geringqualifizierte in der Industrie die negativen Konsequenzen des ökonomischen Strukturwandels tragen mussten, sind seit Mitte der 1990er-Jahre zunehmend auch die Mittelschicht, Höherqualifizierte und bestimmte Beschäftigungen im Dienstleistungssektor schmerzhaften Anpassungsprozessen ausgesetzt. Dem Wandel des Arbeitsmarkts und den neuen Herausforderungen der ökonomischen Umstrukturierung hat man sich jedoch in der Politik bisher nur mit mäßigem Erfolg angenommen.

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Aktive und passive Arbeitsmarktpolitik

In den USA werden insgesamt vergleichsweise geringe Gesamtmittel für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zur Verfügung gestellt. Im Jahr 2016 haben die OECD Mitgliedsländer im Durchschnitt 1,27 % ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) für aktive und passive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen ausgegeben. Innerhalb dieser 1

Der Anteil des Zwischenprodukthandels am gesamten Handel hat stark zugenommen. Zudem hat sich die gehandelte Produktpalette erweitert und insbesondere der Dienstleistungshandel verzeichnet seit Mitte der 1990er-Jahre starke Zuwachsraten (OECD 2017, S. 105–148).

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Ländergruppe haben die USA mit 0,26 % des BIP unterdurchschnittlich wenig für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen aufgewendet (OECD 2019). Diese im internationalen Vergleich geringe Bedeutung der Arbeitsmarktpolitik im engeren Sinn lässt sich auf ein in den USA vorherrschendes, neoklassisches Verständnis der Arbeitsmärkte zurückführen. Staatliche Eingriffe in den Arbeitsmarkt werden weitestgehend als unerwünscht betrachtet, da sie das reibungslose Funktionieren der unsichtbaren Hand (invisible hand) und damit das Erreichen optimaler Allokationsergebnisse beeinträchtigen (Knapp 2004). Trotz dieser generellen Skepsis gegenüber staatlichen Eingriffen in den Arbeitsmarkt und dem vergleichsweise geringen Gesamtbudget, gibt es auch in den USA vielfältige arbeitsmarktpolitische Maßnahmen. Zielt passive Arbeitsmarktpolitik vor allem auf die (finanzielle) Unterstützung von Erwerbslosen ab, verfolgt die aktive Arbeitsmarktpolitik einen eher präventiven Ansatz mit dem Zweck, die Beschäftigungsfähigkeit und die Erwerbsbeteiligung bestimmter Gruppen zu erhöhen. Eine bundesweite Arbeitslosenversicherung – und damit der historische Ausgangspunkt passiver arbeitsmarktpolitischer Instrumente – wurde in den USA im internationalen Vergleich relativ spät mit dem Social Security Act von 1935 eingeführt. Erst in Folge der Great Depression kam es in den USA zu dem dafür benötigten Konsens zwischen Gewerkschaften, Regierungsparteien und Unternehmern (Münnich 2010, S. 248). Während seither auf Bundesebene durch den Social Security Act (Abschnitt III, IX und XII) und den Federal Unemployment Tax Act lediglich administrative Zuständigkeiten geregelt werden, entscheiden die Bundesstaaten über die Finanzierung, die Zugangsbedingungen sowie die Leistungsbemessung bei der Arbeitslosenversicherung. Überblicksweise lassen sich die Details der passiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, die in den USA heute Anwendung finden, wie folgt zusammenfassen. Die Finanzierung der Arbeitslosenversicherung erfolgt in den meisten Bundesstaaten über die Arbeitgeber, nur in drei Staaten sind auch die Arbeitnehmer verpflichtet einen Teil ihres Lohns einzuzahlen (Shaw und Stone 2011). In den meisten Bundesstaaten können Erwerbslose bis zu 26 Wochen Arbeitslosengeld (regular state benefits) beziehen. Die Höhe der Transferleistungen unterscheidet sich erheblich über die Bundesstaaten. Nach der Förderdauer von 26 Wochen werden in Zeiten besonders hoher Arbeitslosigkeit oftmals „extended benefits“ gewährt. Beispielsweise konnten im Zuge des bundesweiten Emergency Unemployment Compensation Programms von 2008 bis zu 14 zusätzliche Wochen Arbeitslosengeld bezogen werden (Shaw und Stone 2011).2 Inwiefern ist diese passive Form der Arbeitsmarktpolitik geeignet, den strukturellen Herausforderungen auf dem US-amerikanischen Arbeitsmarkt zu begegnen? Der ökonomische Strukturwandel als Folge zunehmender internationaler wirtschaftlicher Verflechtungen und technologischen Wandels ist dadurch gekennzeichnet,

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Dieses Programm wurde mehrmals modifiziert und lief schließlich am 1. Januar 2014 aus (U.S. Department of Labor 2015).

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dass bestimmte Kenntnisse, Fähig- und Fertigkeiten weniger stark auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt werden, während die Nachfrage nach anderen Qualifikationen steigt. In diesem Zusammenhang ist die im internationalen Vergleich geringe Lohnersatzquote in den USA problematisch. Eine vergleichsweise geringe Orientierung am vorherigen Erwerbseinkommen führt dazu, dass Erwerbslose eher gewillt sind, neue Beschäftigungen aufzunehmen – auch wenn diese nicht optimal zu ihren Kenntnissen und Fähigkeiten passen. Dies ist insbesondere problematisch, weil es einen Zusammenhang zwischen solch einem „skill switching“ und den potenziellen Einbußen bei Aufnahme einer neuen Beschäftigung zu geben scheint. Die USA zeichnen sich im OECD Vergleich entsprechend durch besonders hohe Lohneinbußen bei einer Neubeschäftigung aus (OECD 2013, S. 204–231). Insbesondere im Kontext der neueren Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt findet oftmals ein sogenanntes „skill downgrading“ statt: Personen mit einem mittleren oder höheren formalen Bildungsabschluss verlieren ihren Job und nehmen danach eine Beschäftigung auf, welche ein geringeres formales Bildungsniveau erfordert. Diese Problematik ist insbesondere bei Männern stark ausgeprägt (Autor 2010; Beaudry et al. 2016). Generell zielt die passive Arbeitsmarktpolitik jedoch nicht darauf ab, längerfristig die Ursachen struktureller Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Sie ist lediglich darauf ausgerichtet, die negativen Konsequenzen von Arbeitslosigkeit abzufedern. Im Rahmen des Strukturwandels in den OECD-Staaten, kam es daher seit den 1990erJahren zu einer stärkeren Betonung der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Statt die negativen Konsequenzen durch eine zeitweise – im speziellen Fall der USA ohnehin unzureichende – Kompensation abzufedern, ist das Ziel solcher aktiven Maßnahmen, längerfristig das Arbeitsangebot den veränderten Nachfragebedingungen anzupassen. Diese Form der Arbeitsmarktpolitik zielt darauf ab, Arbeitslosigkeit zu vermeiden oder aber die Dauer der Arbeitslosigkeit zu verkürzen, indem Einfluss auf die Anpassungsprozesse auf dem Arbeitsmarkt genommen wird. Durch Lohnkostenzuschüsse und öffentliche Beschäftigungsprogramme ( job creation), berufliche Weiterbildungs- und Umschulungsmaßnahmen ( job training) oder durch Beratungsangebote über offene Stellen und Bewerbungstrainings ( job matching) wird ein reibungsloserer Ausgleich von Arbeitsmarktangebot und -nachfrage angestrebt (Janoski 1990, S. 7). In den meisten OECD Ländern hat insbesondere der Anstieg der Arbeitslosigkeit seit den 1980er-Jahren zu einer Neugewichtung arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen geführt – wobei die USA diesem Trend, den oben beschriebenen neoklassischen Vorstellungen entsprechend, nur begrenzt gefolgt ist. Mit der OECD Jobs Strategy (OECD 1994) und den EU Employment Guidelines (1997) wurde die Rolle der aktiven Arbeitsmarktpolitik im Vergleich zu passiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen aufgewertet. Als Resultat haben die OECD Mitgliedsstaaten im Durchschnitt ihre Ausgaben für solche aktiven Maßnahmen von 0,72 % des BIP im Jahr 1985 auf 0,80 % im Jahr 2000 erhöht. Mit einem Ausgabenanteil von 0,11 % im Jahr 2015 und damit einem sinkenden Anteil am BIP, wurden die USA auch im Bereich der aktiven Maßnahmen innerhalb der OECD nur noch von Mexiko untertroffen (OECD 2019).

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Nichtsdestotrotz lässt sich auch in den USA eine Geschichte der aktiven Arbeitsmarktpolitik nachzeichnen. Vergleichbar zur Arbeitslosenversicherung haben aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen in den USA ihren Ursprung in Programmen zur Überbrückung von wirtschaftlichen Krisen (O’Leary und Eberts 2009). Öffentliche Beschäftigungsprogramme ( job creation) erzielten erstmals nationale Bedeutung in der Zeit des New Deals. So waren zwischen 1935 und 1943 mehr als acht Millionen Menschen in öffentlichen Beschäftigungsprogrammen angestellt (Janoski 1990, S. 68–73). Weiterbildungs- und Umschulungsmaßnahmen ( job training) wurden erst im War on Poverty bundesweit relevant. Im Gegensatz zu öffentlichen Beschäftigungsprogrammen waren diese Maßnahmen auf bestimmte Zielgruppen ausgerichtet, die als auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt angesehen wurden und zielten darauf ab, die Beschäftigungsfähigkeit und Vermittelbarkeit dieser Zielgruppen zu erhöhen. Der Manpower Development and Training Act (MDTA) aus dem Jahr 1962 bot beispielsweise als Antwort auf die wirtschaftliche Stagnation der 1950er-Jahre öffentliche Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen für Geringverdiener und Sozialhilfeempfänger an. Die Idee war, die Kenntnisse und Fähigkeiten dieser Gruppe an die veränderte Arbeitsnachfrage insbesondere aufgrund zunehmender Automatisierung von niedrigqualifizierten Tätigkeiten anzupassen und damit die Abhängigkeit von Sozialhilfeleistungen zu verringern. In dieser ersten Phase der US-amerikanischen Trainingsprogramme wurde ein sehr zentraler Organisationsansatz verfolgt. Verwaltung, Finanzierung und auch die Umsetzung erfolgten auf Bundesebene (LaLonde 1995; O’Leary und Eberts 2009). Der Comprehensive Employment and Training Act (CETA) von 1973 bündelte dann die zwei Stränge der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Im CETA waren sowohl Bundesmittel für öffentliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ( job creation) als auch für Weiterbildungsmaßnahmen ( job training) vorgesehen. Durch die Zuweisung einer Kommune oder Stadt als verantwortlicher Instanz für die Ausgestaltung, die Umsetzung und die Evaluierung der einzelnen Maßnahmen läutete der CETA die Dezentralisierung der aktiven Arbeitsmarktpolitik in den USA ein (O’Leary et al. 2004, S. 8). 1982 wurde der CETA durch den Job Training and Partnership Act (JTPA) ersetzt, welcher stark von konservativen Idealen geprägt war und eine Kehrtwende in der aktiven Arbeitsmarktpolitik der USA darstellte. Öffentliche Beschäftigungsprogramme ( job creation) wurden bis auf die Ausnahme von Job Corps – einer im Rahmen des MDTAs eingeführten Beratung, Ausbildung und Krankenversicherungsunterstützung für junge Personen zwischen 16 und 24 Jahren – vollständig von der Agenda gestrichen (LaLonde 1995). Sowohl Republikaner als auch Demokraten kritisierten zudem zunehmend die allgemeinere und überfachliche Trainingskomponente der bisherigen Programme und betonten die Relevanz praktischer, tätigkeitsspezifischer Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen. Die Beteiligung privater Akteure in regionalen Gremien sollte zu einer stärkeren Ausrichtung der vermittelten Qualifikationen und Kompetenzen am „Kunden“ – also den Arbeitgebern – führen und finanzielle Unterstützung wurde dementsprechend nur noch für bestimmte Maßnahmen gewährleistet (O’Leary und Eberts 2009). Der von Bundesstaat zu Bundesstaat variierende Konsens in solchen lokalen Gremien zwischen

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Repräsentanten der Arbeitnehmer, der Arbeitgeber und Politikern sorgte für eine geringe Standardisierung des Inhalts selbst überfachlicher Umschulungs- und Weiterbildungsinhalte (Heckman et al. 1999, S. 1872–1875). Als Antwort auf den Strukturwandel und die Abnahme von Beschäftigungsmöglichkeiten im Industriesektor wurde zudem der bezugsberechtigte Personenkreis von Geringverdienern auf Entlassene im Allgemeinen ausgeweitet. Darüber hinaus wurden im Rahmen des JTPA sogenannte „performance standards“ eingeführt, die eine regelmäßige Evaluierung der Maßnahmen aufgrund von Wiederbeschäftigungsraten und Löhnen vorsehen (O’Leary et al. 2004, S. 9–11). Im Zuge der Wohlfahrtsreform, des Personal Responsibility and Work Opportunity Reconciliation Act (1996), wurde der Workforce Investment Act (WIA; 1998) verabschiedet, welcher den JTPA ersetzte und dessen arbeitgeberorientierte Logik fortsetzte. Der WIA verstärkte die Dezentralisierung des Weiterbildungssystems und rückte zudem das „work-first-“ Prinzip ins Zentrum der Maßnahmen. Danach werden die Wiederaufnahme einer Beschäftigung als oberste Priorität und Trainingsund Weiterbildungsmaßnahmen als ein letzter Ausweg („service of last resort“) angesehen (King 2004, S. 88–90; O’Leary und Eberts 2009, S. 15). Unter der Obama Administration rückte die berufliche Umschulung hingegen wieder stärker in den Fokus. In den Worten von Barack Obama soll die „Zukunft gewonnen“ (win the future) werden, indem verstärkt in Ausbildung und Training investiert wird, um neben einer Verbesserung der individuellen Arbeitsmarktchancen auch die strukturelle Beschäftigungsentwicklung positiv zu beeinflussen (Schmitt 2011). Und mit dem American Recovery and Reinvestment Act im Jahr 2009 wurde das bundesweite Budget für berufliche Qualifizierungsmaßnahmen im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt (O’Leary und Eberts 2009). 2014 wurde der WIA durch den Workforce Innovation and Opportunity Act (WIOA) ersetzt, welcher im Allgemeinen gleiche Maßnahmen bietet aber auf eine verbesserte Koordination der verschiedenen Maßnahmen zielt. Beispielsweise wurde mit den American Job Centern ein „onestop“ System für anspruchsberechtigte Personen eingeführt (U.S. Council of Economic Advisors 2019). Insgesamt sind die Ausgaben für Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen seit Auslaufen des American Recovery and Reinvestment Act gesunken und lagen 2018 bei nur noch 0,088 % des US BIP (U.S. Council of Economic Advisors 2019). Beim WIOA ist – wie schon im Rahmen des JTPA und des WIA – die Leistungskopplung der Bundesfinanzierung problematisch. Es ist vor allem fraglich, ob die Kriterien zur Leistungsbewertung tatsächlich als Erfolgsmaße geeignet sind. Ein generelles Problem besteht darin, dass es keine Kontrollgruppe gibt, um überhaupt beurteilen zu können, ob die Wiederbeschäftigung beziehungsweise der erzielte Lohn tatsächlich auf die Teilnahme an einer bestimmten arbeitsmarktpolitischen Maßnahme zurückzuführen ist. Studien zeigen zudem, dass die Evaluierungen und die darauf basierenden finanziellen Anreize zu einer Selektion besonders fähiger Teilnehmer geführt haben, um die Bewertung positiv zu beeinflussen. Beispielsweise wurden Erwerbslose, die auch ohne die Teilnahme an bestimmten Maßnahmen eine besonders hohe Aussicht auf eine Neueinstellung hatten, verstärkt als Teilnehmer ausgewählt („participant creaming“) (Barnow und Smith 2004, S. 30–40).

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Aufgrund der starken Dezentralisierung und der geringen Standardisierung sowohl der Inhalte als auch des anspruchsberechtigten Personenkreises über die verschiedenen Bundesstaaten ist eine abschließende Beurteilung der Wirksamkeit aktiver arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen in den USA besonders schwer. Die vielfältigen, eigenständigen Programme bieten basierend auf jeweils heterogenen Anspruchsvoraussetzungen verschiedene potentielle Unterstützungen an. Die meisten Studien finden keine nachweislichen Auswirkungen generischer, überfachlicher Trainingsmaßnahmen, wohingegen sich praktische Weiterbildungsmaßnahmen gering positiv sowohl auf die Wahrscheinlichkeit einer Neueinstellung als auch auf die Höhe zukünftiger Erwerbseinkommen auszuüben scheinen. (Jacobsen et al. 2005; Heckman et al. 1999, S. 1868). Präsident Trump treibt die arbeitgeberorientierte Logik erneut verstärkt voran. 2018 etablierte er beispielsweise den National Council for the American Worker, der die Ausweitung von Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen im privaten Sektor vorantreiben soll. Allgemeinere Maßnahmen benötigen tendenziell längere Zeit, um sich in messbaren Erfolgen, wie höheren Erwerbseinkommen niederzuschlagen (OECD 1999, S. 145). Die wenigen Studien, die einen längeren Untersuchungszeitraum aufweisen, zeigen dementsprechend, dass Teilnehmende stärker von längerfristigen, allgemeineren Maßnahmen und Inhalten profitieren (Jacobsen et al. 2005). Darüber hinaus betonen Ökonomen, dass sich ein oftmals übersehener Grund für den Anstieg der Lohn- und Beschäftigungsdisparitäten in den seit den 1970er-Jahren stetig gesunkenen Wachstumsraten des Anteils der Bevölkerung mit einem höheren Bildungsabschluss findet, wobei dieses Problem insbesondere für die männliche US-amerikanische Bevölkerung gilt (z. B. Autor 2010). Ein höherer formaler Bildungsabschluss reduziert zudem die Wahrscheinlichkeit eines Arbeitsplatzverlustes – und Personen mit einem höheren Qualifikationsniveau finden im Falle einer Entlassung schneller eine Neuanstellung und müssen geringere und weniger lang andauernde Lohneinbußen in Kauf nehmen (OECD 2013, S. 192). Während also über die Wirksamkeit von tätigkeitsspezifischen Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen wenig gesicherte Erkenntnisse existieren, bestätigen Studien wiederholt die positiven Effekte von vergleichsweise generellem Humankapital, welches seine Besitzer vor einem Abstieg im Arbeitsmarkt abzusichern scheint und ihre Flexibilität im Allgemeinen erhöht (Sesselmeier und Somaggio 2009). Außerdem sind generische Kompetenzen eine notwendige Voraussetzung, um das sich ständig wandelnde technologische und tätigkeitsspezifische Wissen zu bewältigen. Und zwar unabhängig davon, wie dieses Wissen in der Zukunft ganz genau aussieht (OECD 2017). Mit Blick auf die Arbeitsmarkteffekte des Außenhandels heben sich die USA mit einer besonderen arbeitsmarktpolitischen Strategie von anderen OECD Ländern ab. Seit 1962 existiert mit der Trade Adjustment Assistance (TAA), welche mit dem Trade Expansion Act auf Bundesebene eingeführt wurde, ein bundesweites Programm, das speziell darauf abzielt, die Verlierer einer zunehmenden außenwirtschaftlichen Verflechtung in den USA zu kompensieren und die Anpassungen an die ökonomischen Restrukturierungsprozesse zu erleichtern (OECD 2005, S. 56–59). Die Existenz spezieller arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen für Arbeitende, deren Beschäftigungen von ausländischer Konkurrenz bedroht sind, wird im Allgemeinen

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dadurch gerechtfertigt, dass diese Personengruppe sich in bestimmten Charakteristika von der allgemeineren Gruppe der Erwerbslosen unterscheidet. Arbeitende, die ihre Beschäftigung aufgrund von internationaler Konkurrenz verlieren, sind durchschnittlich älter, schlechter ausgebildet und verfügen über höhere Erwerbseinkommen vor der Entlassung als die Gruppe der Erwerbslosen im Allgemeinen (Rosen 2011). Zudem wird ein tendenziell höherer Anteil dieser Arbeitenden aufgrund von Unternehmensschließungen entlassen, sodass die Wahrscheinlichkeit für eine Wiederaufnahme ihrer vorherigen Tätigkeiten geringer ist. Dies kann erklären, warum diese Gruppe von Erwerbslosen im Durchschnitt längere Arbeitslosenzeiten und höhere Lohneinbußen bei einer Neueinstellung in Kauf nehmen muss (Baicker und Rehavi 2004; Kletzer 2001). Seit seiner Einführung durchlief das TAA Programm zahlreiche Reformen. Der Trade Act von 1974 lockerte in Voraussicht auf die Tokyo Runde der Verhandlungen zum Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen die Anspruchskriterien und führte zudem eine Umschulungs- und Weiterbildungskomponente ein. Im Jahr 1980 beliefen sich die Kosten des Programms auf 1,6 Milliarden USD. Nachdem 1981 unter Präsident Reagan die finanzielle Unterstützung reduziert wurde, kam es im Jahr 2002 mit dem Trade Adjustment Assistance Reform Act zum bisher umfangreichsten Reformpaket. Die Verwaltung des TAA Programms auf Bundesebene erfolgt durch die Employment and Training Administration des U.S. Department of Labor (Park 2012). Mit über 90 % des Jahresbudgets von 2010 zielt der Hauptteil des Programms auf die Unterstützung von Arbeitenden, die entweder als Folge gestiegener Importe oder aber aufgrund von Produktionsverlagerungen ihren Arbeitsplatz verloren haben (Rosen 2011). Im Zuge des American Recovery and Reinvestment Act (ARRA) kam es im Jahr 2009 zur Verabschiedung des Trade and Globalization Adjustment Assistance Act, der die im Rahmen der TAA gewährten Unterstützungsmaßnahmen in verschiedener Hinsicht zunächst bis zum 31. Dezember 2013 ausweitete, bevor sie durch den Trade Adjustment Assistance Extension Act im Oktober 2011 dauerhaft implementiert wurden. Beispielsweise können Arbeitende bereits an Qualifikationsmaßnahmen teilnehmen, wenn sie ihren Arbeitsplatz als bedroht empfinden und nicht erst nach dem Verlust des Arbeitsplatzes. Zudem wurde der bezugsberechtigte Personenkreis erweitert. Produktionsverlagerungen mussten nicht auf Länder beschränkt sein, mit denen die USA ein Handelsabkommen unterhalten und auch Beschäftigte im Dienstleistungssektor erhielten Anspruch auf Leistungen (U.S. Department of Labor 2012). Die bis dahin geltende Interpretation des U.S. Department of Labor, dass Dienstleistungstätigkeiten nicht in Konkurrenz mit Importen stehen – und Arbeitnehmer in diesem Sektor daher auch kein Anrecht auf Unterstützung haben – stand im starken Widerspruch zu der zunehmenden Ausweitung des Dienstleistungshandels seit Mitte der 1990er-Jahre (Rosen 2008). Bezüglich der Wirksamkeit der Maßnahmen sind die existierenden Evaluationsstudien grundsätzlich von denselben Problemen geplagt, wie die Studien über allgemeine arbeitsmarktpolitische Maßnahmen. Eine im Jahr 2004 vom U.S. Department of Labor in Auftrag gegebene Studie fand in einem Beobachtungszeitraum von vier Jahren keine signifikanten Einkommens- oder Beschäftigungsvorteile für TeilnehmerInnen des TAA Programms (Mathematica Policy Research and

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Social Policy Research Associations 2012). David Autor und Kollegen fanden, dass Personen, die aufgrund chinesischer Konkurrenz ihre Stellen verloren, statt auf Ressourcen aus der TAA eher auf Sozialversicherungsleistungen und Invalidenrente zugegriffen haben (Autor et al. 2016). Ein Problem der arbeitgeberorientierten Umschulungsmaßnahmen wird zudem im Rahmen der TAA besonders deutlich. Das gegenwärtige Wissen über zukünftig verstärkt nachgefragte Tätigkeiten ist sehr gering. Von den Personen, die nach ihrer Teilnahme an einer durch die TAA geförderte Umschulung zwischen 2004 und 2007 eine neue Beschäftigung gefunden haben, fanden lediglich 37,53 % eine neue Position, die ihrer Umschulung entsprach (Park 2012).

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Fazit

Wie in den anderen OECD-Staaten hat auch in den USA im Zuge des zunehmenden Strukturwandels der 1980er-Jahre eine Aufwertung der aktiven Arbeitsmarkpolitik stattgefunden. Diese aktiven Maßnahmen sollen zur Feinsteuerung auf dem Arbeitsmarkt beitragen, indem das Zusammenspiel zwischen Arbeitsnachfrage und -angebot verbessert wird. Eine besondere Rolle kommt dabei den Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen zu, welche das Arbeitskräfteangebot langfristig an die veränderte Nachfragestruktur anpassen sollen (Schmitt 2011). Welche Tätigkeiten zukünftig verstärkt nachgefragt werden, ist allerdings unklar. Eindeutig scheint, dass Beschäftigungen in der produzierenden Industrie als klassische Säule der US-amerikanischen Mittelklasse der Vergangenheit angehören. Die hoch-automatisierte Revitalisierung der US-Industrie illustriert, dass auch ein Wiedererstarken der US-Industrie nicht dazu führen wird, Donald Trumps Wahlversprechen einzulösen und Arbeitsplätze in der produzierenden Industrie zu schaffen. Zudem zeigt die zunehmende Automatisierung und internationale Verlagerung bestimmter Dienstleistungstätigkeiten, dass das Wissen über die genauen Profile zukünftig verstärkt nachgefragter Tätigkeiten sehr gering und aufgrund des raschen und fortschreitenden Wandels auch nur von kurzer Dauer ist. Während in den 1980er-Jahren eine generelle Tendenz zu einer erhöhten Nachfrage nach Hochqualifizierten verzeichnet wurde, so ist seit Mitte der 1990er-Jahre mit dem Aufkommen der Arbeitsmarktpolarisierung keine derartig eindeutige Tendenz mehr erkennbar. Und aktualisierte Curricula von Umschulungs- und Trainingsmaßnahmen sind oftmals schon wieder veraltet, wenn sie zur Anwendung kommen. Der seit dem Job Training and Partnership Act (1982) verstärkte Fokus auf nachfrageorientierte Weiter- und Umschulungsmaßnahmen könnte als eine Möglichkeit angesehen werden, dieser Herausforderung durch eine stärkere Dezentralisierung und Einbindung lokaler Arbeitgeber zu begegnen. Unter Präsident Trump erfährt diese arbeitsgeberorientierte Ausrichtung der Maßnahmen eine neue Aufwertung in Form der Auslagerung in den privaten Sektor. Allerdings ist die langfristige Wirksamkeit solcher arbeitgeberorientierten Maßnahmen aufgrund des meist sehr kurzen Untersuchungszeitraums und der fehlenden Kontrollgruppe existierender Studien fraglich. Zudem scheint die starke Orientierung darauf auch auf institutio-

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nelle Evaluationsmechanismen zurückzuführen zu sein, welche Maßnahmen mit kurz- bis mittelfristigen Ergebnissen bevorzugen. Diese Aspekte in Kombination mit der rapiden Geschwindigkeit, in der technologisches und tätigkeitsspezifisches Wissen momentan veraltet, weisen auf die Grenzen der stark praktischen Orientierung der US-amerikanischen Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen hin und unterstreichen die Notwendigkeit eines grundständigen Bildungsangebots. Die Unübersichtlichkeit des Wandels auf dem Arbeitsmarkt wird in den USA insbesondere durch die starke Fragmentierung der US-arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen verstärkt. Grundsätzlich sollten sich arbeitsmarktpolitische Strategien in den USA weniger stark an kurzfristigen Marktbedürfnissen orientieren, sondern eher auf längerfristig erfolgreiche Maßnahmen, wie die Vermittlung von generellen Qualifikationen, zurückgreifen.

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Wirtschaftspolitik Checks and Balances unter Druck Stormy-Annika Mildner

Inhalt 1 Einleitung: Checks and Balances in der Wirtschaftspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die wirtschaftliche Lage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Deregulierungspolitik: Getting Rid of Red Tape . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Haushaltspolitik: Zankapfel zwischen Präsident und Kongress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Finanzmarktpolitik: Für die nächste Krise gewappnet? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Handelspolitik: America First . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Der 45. Präsident der Vereinigten Staaten – Donald Trump – hatte Glück: Während sein Vorgänger Barack Obama Anfang 2009 das Amt angetreten hatte, als die USA noch tief in der schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise seit der Großen Depression der 1930er steckten, erbte Präsident Trump eine Wirtschaft, die sich durch hohe Wachstumsraten und eine historisch niedrige Arbeitslosigkeit auszeichnete. Viele strukturelle Probleme sind allerdings nach wie vor nicht überwunden: Die Verschuldung der USA ist hoch – Tendenz steigend; die USA haben gravierende Defizite in der Infrastruktur und im Bildungssystem. Das größte Risiko geht allerdings von Washington selbst aus. Präsident Trump hat viele Reformen der Obama-Administration rückgängig gemacht – allen voran Regulierungen der Finanzmärkte sowie zum Schutz der Umwelt. In der Handelspolitik hat er einen Paradigmenwechsel zu seinen Vorgängern vollzogen. Zudem stellt er das System der Checks und Balances massiv auf die Probe. Der Streit über Haushaltsfragen hat zum längsten Government Shutdown in der Geschichte der USA geführt. S.-A. Mildner (*) Department of External Economic Policy, Federation of German Industries, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_27

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Schlüsselwörter

USA · Wirtschaft · Deregulierung · Fiskalpolitik · Handelspolitik · Nationalismus · Trump

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Einleitung: Checks and Balances in der Wirtschaftspolitik

„Making America great again“– der 45. Präsident der Vereinigten Staaten, Donald Trump, hat sich viel vorgenommen in der Wirtschaftspolitik. In den ersten zwei Jahren seiner Präsidentschaft hat Trump nicht nur eine massive Steuerreform vollzogen und umfangreiche Deregulierungen vorgenommen, sondern auch einen Paradigmenwandel in der Handelspolitik eingeleitet. Wie die Wirtschaftspolitik letztlich ausfällt, hängt jedoch keinesfalls nur von den Vorstellungen des Präsidenten und seiner Berater ab. Vielmehr ist Wirtschaftspolitik das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels zahlreicher interner und externer Faktoren: der verfassungsrechtlichen Aufgabenverteilung zwischen der Exekutive und der Legislative, der Mehrheitsverhältnisse im Kongress, der Kooperationsbereitschaft der Regierungsorgane, dem Einfluss von Interessengruppen und der öffentlichen Meinung sowie nicht zuletzt der wirtschaftlichen Lage selbst. So ist es zwar einigen Präsidenten gelungen, wirtschaftspolitische Paradigmenwechsel zu vollziehen. Man denke allein an die Politik Ronald Reagans in den 1980er-Jahren, genannt Reaganomics, die mit umfassenden Deregulierungen und dem Abbau staatlicher Leistungen gerade im Sozialbereich deutlich mit der Wirtschaftspolitik der 1970er-Jahren brach. Zumeist trägt die Wirtschaftspolitik jedoch weit mehr als die Handschrift des Präsidenten. Dies gilt für Reaganomics genauso wie für die Wirtschaftspolitiken anderer Präsidenten – auch die von Präsident Trump. Die institutionelle Aufgabenverteilung in der Wirtschaftspolitik spiegelt ein komplexes System von checks and balances wider, das der uralten US-amerikanischen Angst vor übermäßiger Machtkonzentration Rechnung trägt. Der US-amerikanische Präsident ist in der Wirtschaftspolitik mit weit geringeren Vollmachten ausgestattet als beispielsweise in der Außen- und Sicherheitspolitik. The President proposes, Congress disposes – der Präsident schlägt vor, der Kongress ordnet an. In fast allen wirtschaftspolitischen Fragen muss der Präsident zunächst entweder den Kongress – was unter anderem Fiskalpolitik sowie (teilweise) Handel betrifft – oder die Notenbank (Federal Reserve, Fed) – in Bezug auf die Geldpolitik – von seinen Zielen überzeugen. Innerhalb der Exekutive stehen ihm eine Reihe von Ministerien und Behörden zur Seite. Zum White House Office gehören das Haushaltsbüro (Office of Management and Budget, OMB), das Büro des Handelsbeauftragten (United States Trade Representative, USTR) und der Wirtschaftsrat (Council of Economic Advisers, CEA). Die wichtigsten wirtschaftspolitischen Ministerien sind das Finanzministerium (Department of the Treasury), das Wirtschaftsministerium (Department of Commerce), das

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Energieministerium (Department of Energy) und das Landwirtschaftsministerium (Department of Agriculture). Im Kongress sind zahlreiche Ausschüsse des Repräsentantenhauses und des Senats mit wirtschaftspolitischen Aspekten betraut. Zu den bedeutendsten unter ihnen gehören für Haushaltfragen die Bewilligungsausschüsse (Committees on Appropriations), die Haushaltsausschüsse (Committees on Budget) und die Finanzausschüsse (das Committee on Ways and Means des Repräsentantenhauses und das Senate Finance Committee des Senats). Letztere sind auch für Handelsfragen zuständig. Daneben haben zahlreiche Regierungsbehörden Einfluss auf die Wirtschaftspolitik. Die wohl mächtigste – und unabhängige – Behörde ist das Federal Reserve System, die Zentralbank der USA. Die Export Import Bank ist für die Exportförderung zuständig. Die Umweltbehörde (Environmental Protection Agency, EPA) hat als nationale Behörde den Auftrag, den Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt (Wasser, Land, Luft) sicherzustellen. Trump stellt dieses System der Checks and Balances massiv auf die Probe. Die Polarisierung, die bereits unter Präsident Obama die legislativen Prozesse in Washington lähmte, hat noch einmal deutlich zugenommen. Der Präsident nutzt daher Dekrete (Executive Orders) und Memoranden, um Politik zu machen. Executive Orders haben einen gesetzesähnlichen Charakter; Memoranden sind als Arbeitsanweisung an Ministerien oder Bundesbehörden zu verstehen. Über diese Instrumente kann ein Präsident zwar keine Gesetze ändern, jedoch für die Dauer seiner Amtszeit relativ weitreichende politische Entscheidungen fixieren. Der Vorteil aus Sicht des Präsidenten ist, dass hierfür kein Gesetzgebungsverfahren und keine Zustimmung im Kongress notwendig sind. Sie können jedoch von einem Nachfolger ebenso einfach wieder außer Kraft gesetzt werden. Zudem ist die Verbindlichkeit von Dekreten rechtlich umstritten. Zahlreiche Dekrete von Präsident Trump werden zurzeit vor Gericht angefochten oder wurden bereits für ungültig erklärt. Das Resultat ist eine erhebliche Rechts- und Planungsunsicherheit.

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Die wirtschaftliche Lage

Präsident Trump hatte Glück: Während sein Vorgänger Barack Obama Anfang 2009 das Amt angetreten hatte, als die USA noch tief in der schwersten Finanzund Wirtschaftskrise seit der Großen Depression der 1930er steckten, erbte Trump eine Wirtschaft, die sich durch hohe Wachstumsraten und eine historisch niedrige Arbeitslosigkeit auszeichnete – wie Abb. 1 zeigt. Insbesondere die Steuerreform verschaffte der US-Wirtschaft einen deutlichen Wachstumsschub. 2018 wuchs die US-Wirtschaft mit einer Rate von 2,9 % (BEA 2019). Von 2017 bis 2018 entstanden in den USA 4,8 Millionen neue Arbeitsplätze (BLS 2019).

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Abb. 1 Reales Wachstum des BIP in Prozent in Preisen von 2018, 1980 bis 2018: Quartalswerte. (Quelle: U.S. Bureau of Economic Analysis (BEA), National Income and Product Account Tables, Table 1.5.1, February 2019, via https://apps.bea.gov/iTable/iTable.cfm?reqid=19&step=2#reqid=19&step=2&isuri=1& 1921=survey. Zugegriffen am 04.04.2019)

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Das wirtschaftliche Potenzial der USA ist immens. Die USA verfügen nicht nur über einen riesigen Binnenmarkt, sondern auch über ein gewaltiges Arbeitskräftepotenzial. Im Jahr 2018 betrug die Erwerbsbevölkerung rund 165 Millionen Personen (The World Bank 2018); bis 2060 wird ein Anstieg auf 186 Millionen erwartet (Toossi 2016). Die USA zeichnen sich zudem durch ihre enorme Innovationskraft aus. Viele der weltweit innovativsten Unternehmen haben ihren Ursprung in dem Land. Zudem haben die USA massiv von der Schiefergas- und Schieferölrevolution profitiert. Bedingt durch das starke Wirtschaftswachstum ist der US-Arbeitsmarkt nahe der Vollbeschäftigung. Im Februar 2019 betrug die Arbeitslosenquote 3,8 %. Die gute wirtschaftliche Lage sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, vor welchen massiven Herausforderungen die USA stehen: Die Schere zwischen Reichen und Armen klafft immer weiter auseinander (U.S. Census Bureau 2018; DeNavas-Walt und Proctor 2015, S. 40, 43). Hinzu kommt, dass die Zahl armer Menschen seit den 1970er-Jahren deutlich gestiegen ist. 39,7 Millionen US-Amerikaner (12 % der Bevölkerung) lebten im Jahr 2017 unterhalb der Armutsgrenze (Fontenot et al. 2018, S. 11). Auch die private Verschuldung und die niedrige Sparquote sind nach wie vor ein Problem – wenn auch weniger als zu Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise. Der private Konsum gilt mit einem Anteil von rund 70 % am BIP als Motor der US-Wirtschaft. Wichtige Determinanten für das langfristige Wirtschaftswachstum sind Bildung und Infrastruktur. Während die USA über zahlreiche Spitzenuniversitäten verfügen, beklagt gerade die Industrie einen Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften. Und auch in der Infrastruktur des Landes gibt es Defizite. So schätzt die American Society of Civil Engineers (ASCE), dass bis 2025 Investitionen in Höhe von 4,6 Billionen US-Dollar in die Infrastruktur des Landes nötig sein werden (ASCE 2017). Um die Defizite im Bildungssystem und der Infrastruktur zu beseitigen, ist eine aktive Wirtschaftspolitik notwendig. Doch der finanzpolitische Handlungsspielraum ist eingeschränkt wie Abb. 2 zum Schuldenstand und dem Haushaltsüberschuss bzw. -defizit zeigt. Nach Prognosen des zum Weißen Haus gehörenden Office of Management and Budget (OMB) werden die Staatsschulden (gross federal debt) für das Haushaltsjahr 2019 rund 22,8 Billionen US-Dollar erreichen. Die Staatsschuldenquote für 2019 würde dann 107 % des BIP entsprechen. Die hohe Verschuldung ist teilweise eine Altlast der Finanz- und Wirtschaftskreise, doch tragen auch die Steuersenkung der Trump-Administration von 2018 sowie die mit dem Bipartisan Budget Act 2018 und dem Consolidated Appropriations Act 2018 (Omnibus) verbundenen Mehrausgaben zum wachsenden Schuldenberg bei. Der Schuldendienst als Anteil an den Gesamtausgaben lag im Jahr 2018 bei rund 7,9 %; bis 2024 könnte dieser auf rund 14 % der Gesamtausgaben ansteigen. (Executive Office of the President Council of Economic Advisers, Economic Report of the President 2019, U.S. Government Publishing Office 2019). Ab 2020 ist von einer Abschwächung der Konjunktur auszugehen, da der Effekt der Steuerreform langsam verpufft (CBO 2019). Zudem hat sich das Geschäftsklima aufgrund der Handelspolitik von Trump deutlich verschlechtert. Um die Wirtschaft zu entlasten, setzt der Präsident auf umfassende Deregulierungsmaßnahmen.

Abb. 2 Haushaltsüberschuss/-defizit und Verschuldung. (Quelle: Office of Management and Budget, Historical Tables: Table 1.2 und 7.1, via https://www. whitehouse.gov/omb/historical-tables/, 2019)

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Deregulierungspolitik: Getting Rid of Red Tape

In der (De)-regulierungspolitik hat der Präsident erheblichen exekutiven Spielraum. Gesetze werden zwar vom Kongress gemacht – die Durchführungsbestimmungen werden hingegen von exekutiven Behörden ausgearbeitet. Bei einem Fototermin im Weißen Hauses Ende 2017 durchschnitt Präsident Trump ein rotes Band, das zwei Papierstapel miteinander verband – einen großen, der die Vorschriften von 1960 repräsentieren, und einen kleinerer, der die heutigen Regulierungen darstellen sollte. „Wir schneiden ein Band durch, weil wir wieder unter das Niveau von 1960 kommen,“ betonte der Präsident (Korte 2017, Übers. d. Verf.). Deregulierung ist eine zentrale Säule der Trump’schen Wirtschaftspolitik. Diese weist vier Aspekte auf: 1. Weniger neue Bundesvorschriften, 2. Zusammenarbeit mit dem Kongress bei der Aufhebung bestehender Vorschriften, 3. Anwendung der Exekutivgewalt, um den Umfang ausgewählter bestehender Vorschriften einzuschränken, und 4. Besetzung von Leitungspositionen wichtiger Behörden mit Regulierungskritikern. Wenige Tage nach Amtsübernahme, Ende Januar 2017, erließ der Präsident Dekret 13771 „Reducing Regulation and Controlling Regulatory Costs“. Dieses verpflichtet jedes Ministerium und jede Behörde, die eine neue Verordnung plant, mindestens zwei Verordnungen vorzuschlagen, die aufgehoben werden. So soll sichergestellt werden, dass keine neuen Kosten für die Wirtschaft entstehen. Gleich zu Beginn seiner Amtszeit machte Präsident Trump zahlreiche Dekrete von Präsident Obama rückgängig, darunter viele Umwelt- und Finanzmarktregulierungen. Zudem verhinderte der Republikanisch dominierte Kongress die Umsetzung von mehr als einem Dutzend Verordnungen der Obama-Administration. Grundlage dafür war der Congressional Review Act (CRA) von 1996. Das Gesetz ermächtigt den Kongress nicht nur, durch ein beschleunigtes Gesetzgebungsverfahren neue Regulierungen zu überprüfen; er kann diese durch eine Entschließung aufheben. Wenn eine Verordnung auf diese Weise aufgehoben wird, untersagt das Gesetzt, dass sie ein weiteres Mal in derselben Form erlassen wird. Der Kongress hat ein Zeitfenster von 60 Legislaturtagen (d. h. Tagen, an denen der Kongress tatsächlich arbeitet) nach Erlass der Verordnung, um diese mit einfacher Mehrheit aufzuheben. Andernfalls tritt sie am Ende der Frist in Kraft. Bis 2017 wurde der CRA nur ein einziges Mal zu Zeiten der Bush-Administration genutzt, um eine Verordnung der ClintonAdministration aufzuheben (Carey und Davis 2020). Das Amt für Information und Regulierung (Office of Information and Regulatory Affairs, OIRA) veröffentlicht jährlich einen Bericht über die (De-)Regulierungsmaßnahmen der Regierung und ihre Kosten für die Wirtschaft. Das Anfang der 1980er-Jahre als Teil des OMB geschaffene Amt ist für die Überprüfung von Verordnungen der Exekutive verantwortlich. Im Fiskaljahr 2018 (1. Oktober 2017 bis 30. September 2018) nahm die Regierung 176 Deregulierungsmaßnahmen vor, während sie nur 14 „signifikante“ neue Regulierungen erließ. 57 der Deregulierungsmaßnahmen wurden als „signifikant“ eingestuft. Nach Angabe des OIRA gingen die meisten Deregulierungsmaßnahmen 2018 vom Gesundheitsministerium (Depart-

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ment of Health and Human Services) (Maßnahmen), gefolgt vom Bildungsministerium (Department of Education) (Maßnahmen) und dem Transportministerium (Department of Transportation) (Maßnahmen) aus. Die Gesamteinsparungen für das Fiskaljahr 2018 sollen nach diesen offiziellen Angaben 23 Milliarden US-Dollar betragen haben (Office of Information and Regulatory Affairs 2019). OIRA plant weitere Einsparungen durch Deregulierungsmaßnahmen unter anderem durch eine Reform der Safer Affordable Fuel Efficient Vehicles Rule, welche neue Abgasstandards für Kraftfahrzeuge ab 2021 bis 2026 setzen würde. Die US-Wirtschaft ist mit der Deregulierungspolitik zufrieden. Beispielsweise stellte der Verband der Maschinenbauer und Elektroindustrie in seiner vierteljährlichen Umfrage zum Geschäftsklima im Maschinenbausektor vom Dezember 2018 fest, dass der Optimismus in der Branche deutlich gestiegen ist (NAM 2018). Trumps Deregulierungsagenda weht allerdings auch Gegenwind entgegen. Anfang 2019 verklagten die Bundesstaaten Kalifornien, Oregon und Minnesota den Präsidenten und mehrere hochrangige Kabinettsbeamte vor dem US-Bezirksgericht, District of Columbia, wegen Dekret 13771. Die Klage kritisiert unter anderem, dass Bundesbehörden die Kosten einer neuen Regelung durch die Streichung bestehender kompensieren müssen, ohne die Auswirkungen dessen zu berücksichtigen. Mittlerweile wurden zahlreiche Maßnahmen der Trump-Administration vor Gericht erfolgreich angefochten. Laut dem Institute for Policy Integrity wurden mehr als 90 % der Deregulierungsbemühungen der Trump-Regierung gerichtlich blockiert oder nach einer Klage zurückgezogen. Die niedrige Erfolgsrate ist ungewöhnlich – normalerweise gewinnt die amtierende Administration in knapp 70 % der Fälle, in denen Verordnungen vor Gericht angefochten werden (Higgins 2019).

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Haushaltspolitik: Zankapfel zwischen Präsident und Kongress

Der Kongress hat die „Power of the Purse“. Anders als in der Regulierungspolitik ist hier der exekutive Spielraum deutlich eingeschränkter. Während Präsident Trump bei der Steuerreform auf die Republikaner in den beiden zu diesem Zeitpunkt mehrheitlich Republikanisch besetzten Kammern zählen konnte, versucht er beim Thema Grenzmauerfinanzierung den Kongress zu umgehen. Der US-Bundeshaushalt besteht aus drei Arten von Ausgaben: Ungefähr 65 % der Ausgaben fließen in die sogenannten Pflichtausgaben (mandatory spending), welche in bestehenden Gesetzen mehrjährig festgeschrieben sind. Rund 30 Prozent sind Ermessensausgaben (discretionary spending); sie müssen jährlich neu genehmigt werden. Sieben Prozent fließen in den Schuldendienst. Zu Beginn jeden Jahres erarbeitet das zur Administration gehörende Office of Management and Budget (OMB) in enger Absprache mit dem Präsidenten einen Entwurf des Haushalts. Dieser Vorschlag ist weder ein Gesetzesvorschlag noch in anderer Weise verbindlich, setzt aber wichtige Rahmendaten für die Entscheidungsfindung im Kongress.

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Daraufhin beginnt die zweite Phase des Budgetprozesses: Die Haushaltsausschüsse der beiden Kongresskammern entwickeln jeweils eine Gegenvorlage zum Entwurf des Präsidenten, die Haushaltsresolution (budget resolution). Unterstützung erhalten sie dabei vom Congressional Budget Office (CBO). Die Vorlagen der zwei Kammern werden in einem Vermittlungsausschuss angeglichen. Wie der Haushaltsentwurf des Präsidenten besitzt auch die budget resolution keinerlei legislative Autorität, sondern dient vielmehr als Rahmen für die konkreten Einnahmen- und Ausgabengesetze. Im dritten Schritt wird über die konkreten Ausgaben verhandelt. Über die Ermessensausgaben entscheidet der Kongress jährlich, zumeist in zwei Schritten: Zuerst werden in der authorization der Inhalt eines Ausgabenprogramms festgelegt und Aussagen zur notwendigen Finanzierungshöhe getroffen. Dann wird den Programmen ein Geldbetrag zugewiesen (appropriation). Die zwölf appropriation bills werden zunächst vom Repräsentantenhaus vorgelegt und dann an den Senat weitergeleitet, der eigene Vorschläge entwickelt. Eine Angleichung findet daraufhin im Conference Committee statt. Wie jedes andere Gesetz durchlaufen die appropriation bills den gesamten legislativen Prozess, müssen also auch vom Präsidenten einzeln unterzeichnet werden. Der Präsident hat die Möglichkeit, die Gesetze mit einem Veto zu belegen; einzelne Abschnitte blockieren (line item veto) kann er nicht. Die gesetzlich festgelegten Pflichtausgaben (darunter die Rentenversicherung, Social Security, und die Gesundheitsprogramme Medicare und Medicaid) werden in sogenannten permanent laws (auch authorization legislation genannt) geregelt; über sie wird nicht jedes Jahr neu entschieden. Beinhaltet die budget resolution jedoch eine reconciliation directive, also eine Anweisung zur Abstimmung, müssen entsprechend Pflichtprogramme (Ausgaben- und Einnahmen) von den zuständigen Ausschüssen modifiziert werden. Seit Jahren ist es dem Kongress nicht mehr gelungen, einen Haushalt rechtzeitig zu verabschieden. Das letzte Mal, dass der komplette Haushaltsprozess pünktlich abgeschlossen wurde, war im Haushaltsjahr 1997. Dass sich Demokraten und Republikaner über das Budget streiten, ist nicht überraschend. Denn über den Haushalt wird Wirtschaftspolitik gemacht, so auch unter der Obama-Administration. Damals ging es darum, wie das Haushaltsdefizit abgebaut werden soll: Während die Demokraten das Defizit größtenteils durch Steuererhöhungen abbauen und Kürzungen im Sozialbereich begrenzen wollten, lehnten die Republikaner höhere Steuern kategorisch ab und setzten auf konsequentes Sparen. Am 1. Oktober 2013 musste die Regierungstätigkeit temporär eingestellt werden, da sich Demokraten und Republikaner weder auf einen Haushalt für das Haushaltsjahr 2014 noch auf einen Übergangshaushalt einigen konnte. Denn laut der Verfassung der Vereinigten Staaten darf der Staatskasse (des Bundes) Geld „nur aufgrund gesetzlicher Bewilligungen entnommen werden“ (Art. I, Abs. 9). Die Situation 2013 war besonders brenzlig, da den USA gleichzeitig die Zahlungsunfähigkeit drohte. Denn die Regierung hatte die gesetzlich festgeschriebene Schuldenobergrenze bereits überschritten. 1917 hatte der Kongress erstmals mit dem Second Liberty Bond Act eine gesetzliche Schuldengrenze für die einzelnen Schuldenkategorien der USA eingeführt. Seit 1939 gilt ein Limit für die Gesamtschulden der USA. Die Schuldengrenze wurde

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zwar bereits mehrmals überschritten. Bislang konnte das Limit jedoch stets rechtzeitig angehoben werden, bevor die Regierung tatsächlich zahlungsunfähig wurde. So auch im Jahr 2013. Ein vorläufiger Haushaltskompromiss beendete den government shutdown am 16. Oktober 2013. Zudem wurde die gesetzliche Schuldenobergrenze vom 17. Oktober 2013 bis zum 7. Februar 2014 ausgesetzt. Auch unter Präsident Trump ist der Konflikt zwischen Demokraten und Republikaner nicht beigelegt; allerdings hat sich die Gefechtslage geändert. Konfliktpunkt war die Finanzierung der von Trump geforderten Grenzmauer zu Mexiko – einem zentralen Wahlkampfversprechen des Präsidenten. Trump hatte bereits im März 2018 nur sehr widerwillig ein Haushaltsgesetz unterzeichnet, das nicht die von ihm gewünschten Mittel für den Bau der Grenzmauer enthielt. Am 21. September 2018 unterzeichnete Trump zunächst nur ein Ausgabengesetz für Veteranen, Bauprojekte im Militärbereich sowie Energie- und Wasserprojekte und drohte mit einem government shutdown. Am 28. September unterzeichnete der Präsident schließlich doch ein weiteres Gesetz zur temporären Finanzierung der Regierung bis zum 7. Dezember, das ebenfalls keine Mittel für den Bau einer Grenzmauer vorsah. Somit war die Finanzierung der Regierungsgeschäfte zunächst über die Kongresswahlen Anfang November 2018 hinaus sichergestellt. Am 22. Dezember 2018 kam es dann zum government shutdown. Er dauerte bis zum 25. Januar 2019 und war damit der längste in der Geschichte der USA. 380.000 Staatsbediensteten wurden in den Zwangsurlaub geschickt; 420.000 mussten unbezahlt weiterarbeiten. Trump und der Kongress einigten sich schließlich am 25. Januar 2019 auf eine Bewilligung der Haushaltsmittel durch den Further Additional Continuing Appropriations Act bis zum 15. Februar 2019. Am 15. Februar stimmte der Kongress einem Haushaltskompromiss zu. Ein weiterer shutdown wurde somit abgewendet. Der Präsident war allerdings nicht zufrieden, da im neuen Haushalt nur knapp 1,4 Milliarden US-Dollar für die Grenzsicherung vorgesehen waren – der Präsident hatte vom Kongress fast sechs Milliarden US-Dollar gefordert. Trump rief daraufhin den Nationalen Notstand aus: Die Situation an der Grenze zwischen den USA und Mexiko sei eine Sicherheits- und humanitäre Krise, so der Präsident. Die Notstandserklärung stattet den US-Präsidenten mit bestimmten Vollmachten aus, darunter den Zugriff auf finanzielle Mittel ohne die Zustimmung des Kongresses (beispielsweise aus dem Verteidigungs- oder auch Finanzministerium). Ende Februar 2019 stimmte das Repräsentantenhaus, Mitte März der Senat gegen den Nationalen Notstand. Der Präsident legte daraufhin sein Veto ein – das erste seiner Amtszeit. Um dieses zu überstimmen, wäre in beiden Kongresskammern eine Zweidrittelmehrheit notwendig – eine solche Mehrheit zeichnet sich bisher allerdings nicht ab. Der government shutdown hat Trump viel Kritik eingebracht. Auch Trumps Haushaltsentwurf für 2020, den er Mitte März 2019 vorlegte, war umstritten. Der Entwurf sah höhere Ausgaben für Rüstung vor; bei Umwelt und Gesundheit sollte gespart werden. Im Zuge der letzten Finanz- und Wirtschaftskrise hatten sich die USA im Budget Control Act 2011 auf Ausgabendeckelungen verständigt (sogenanntes Sequestration). Diese waren in der Folge immer wieder ausgesetzt worden. Nun wollte sich Präsident Trump an die Limits von 2011 halten – dies würde massive Kürzungen bedeuten, auch bei den Verteidigungsausgaben. Daher wollte sich die

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Trump-Administration eines Tricks bedienen: den Gang über die Kriegskasse (Overseas Contingency Operations, OCO), die keiner Obergrenze unterliegt. Trump beantragte beim Kongress 576 Milliarden Dollar für den regulären Verteidigungsetat und blieb damit unterhalb der Ausgabenobergrenzen. Gleichzeitig forderte er aber 165 Milliarden Dollar für OCO und weitere 9 Milliarden Dollar für andere Notfälle.

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Finanzmarktpolitik: Für die nächste Krise gewappnet?

Die Reform der Finanzmarktregulierung und -aufsicht war neben der Gesundheitsreform eine der großen Erfolge der Obama-Administration. Präsident Trump hat sich hingegen zum Ziel gesetzt, viele der Obama-Reformen wieder rückgängig zu machen. Auch hier konnte der Präsident auf die Unterstützung der Republikaner im Kongress zählen und die Spielräume in der (De)-Regulierungspolitik ausnutzen. Die Finanz- und Wirtschaftskrise war dramatisch – Ende 2008 drohte nicht nur die US-Wirtschaft zu kollabieren, sondern die Weltwirtschaft in einer tiefen Depression zu stürzen. Die Frage nach den Ursachen der Krise wird sich wohl nie ganz abschließend beantworten lassen. Klar ist jedoch: die Krise war sowohl einem Markt- als auch Staatsversagen geschuldet. Zu ihren Ursachen gehören eine zu laxe Geldpolitik und hohe Kapitalzuflüsse in die USA genauso wie eine ungenügende Regulierung und Aufsicht der Finanzmärkte. Die Krise deckte zahlreiche Mängel in der Finanzmarktregulierung (Regeln) und -aufsicht (Aufsichtsarchitektur und Behörden) der USA auf: Erstens war die Aufsicht stark fragmentiert, es mangelte ihr an einer zentralen Regulierungsinstanz mit überspannender Verantwortung zur Identifizierung und Beseitigung systemischer Risiken. Banken, Wertpapierhäuser und Versicherungen unterlagen (und tun es auch heute noch) verschiedenen Aufsichtsbehörden auf nationaler und einzelstaatlicher Ebene. Zweitens konzentrierte sich die Regulierung auf die Mikroebene (micro-prudential regulation), also die Kontrolle einzelner Banken in dem Glauben, dass dadurch auch die Stabilität des gesamten Finanzsystems gewährt wäre. Drittens kam hinzu, dass wichtige Finanzmarktakteure (darunter auch Ratingagenturen) und -instrumente (allen voran mit Hypotheken hinterlegte Wertpapiere und Derivate) nicht ausreichend, mitunter überhaupt nicht, reguliert wurden. Dass weder die Fed noch die US-Finanzaufsicht frühzeitig korrigierend in die Märkte eingriffen, lag unter anderem am unerschütterlichen Glauben an die Selbstregulierung und die Selbstheilungskräfte der Märkte. Viertens fehlte es an Instrumenten für das Krisenmanagement, insbesondere um das Too Big To FailProblem (TBTF) in den Griff zu bekommen, also große, systemisch relevante Finanzinstitute ohne verheerende Auswirkungen auf die Finanzmärkte geordnet abzuwickeln. Schließlich spielte auch Finanzbetrug eine zentrale Rolle sowohl im Vorfeld als auch im Verlauf der Krise. Damit Finanzmärkte effektiv funktionieren, benötigen sie klare Regeln. Nach mühsamen Verhandlungen und zahllosen Kompromissen verabschiedete der Kongress 2010 schließlich den Dodd-Frank Wall Street Reform and Consumer Protection Act (kurz: Dodd-Frank Act) und leitete damit die umfassendste Finanzmarktreform in den

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USA seit den 1930er-Jahren ein, als unter anderem mit dem Glass-Steagall Act von 1933 eine Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken für mehr Stabilität im Bankensystem sorgen sollte. Der Dodd-Frank Act konzentriert sich auf vier Bereiche: 1. die Reform des institutionellen Regulierungs- und Aufsichtsrahmens, 2. die Regulierung von Banken und anderen Finanzinstitutionen, 3. Regelungen zum Verbraucherschutz und 4. die TBTF-Problematik. Durch eine strengere Aufsicht sollten nicht nur die Markttransparenz verbessert und Marktexzesse verhindert werden, überdies sollten die Anleger und Verbraucher auch vor unlauteren Geschäftspraktiken geschützt werden. Unter anderem wurde eine Reihe neuer Institutionen ins Leben gerufen: das Consumer Financial Protection Bureau (CFPB, Verbraucherschutzbehörde), der übergeordnete Financial Stability and Oversight Council (FSOC, Rat zur Überwachung der Finanzstabilität), das im Finanzministerium angesiedelte Federal Insurance Office (FIO, Büro für Versicherungswesen) und das ebenfalls zum Finanzministerium gehörende Office of Financial Research (OFR, Büro für Finanzanalyse). Der FSOC ist sowohl mit der makro- als auch mikroprudenziellen Aufsicht betraut. Seine Aufgabe ist somit zum einen, das gesamte Finanzsystem auf systemische Risiken hin zu überwachen. Zum anderen soll er einzelne systemrelevante Finanzinstitute, deren Schieflage die Stabilität des gesamten Systems zu gefährden droht, besonders ins Visier nehmen. Im Extremfall kann der Rat Großbanken abwickeln. Die neue Verbraucherschutzbehörde, das CFPB, ist für Kreditkarten, Hypotheken und andere Finanzprodukte und deren sachgerechte Handhabung zuständig. Zudem weitete der Dodd-Frank Act die Kompetenzen der Federal Reserve aus: Neben Preisstabilität und Vollbeschäftigung sollte sie fortan stärker auch die Finanzmarktstabilität gewährleisten. Die Fed erhielt die Verantwortung für die Überwachung und Regulierung von systemisch wichtigen Unternehmen (Banken, Sparkassen, Bankenholdinggesellschaften und Finanzakteure, die keine Banken sind; SIFI). Neben den institutionellen Reformen ging der Dodd-Frank Act zahlreiche Lücken in der Regulierung der Finanzmärkte (besonders die außerbörslichen Derivategeschäfte und Hedgefonds) sowie Anreizstrukturen (Bonuszahlungen, Corporate Governance, Rating-Agenturen) an. Das Gesetz etablierte eine umfassende Regulierung für die Derivatemärkte. Eine weitere Neuerung war die strengere Kontrolle von Hedgefonds und Private-Equity-Gesellschaften. Das Gesetz stellte überdies höhere Anforderungen an Eigenkapital, Verschuldung und Risikostandards: Banken sollten fortan mehr und qualitativ besseres Eigenkapital aufweisen, um für den Krisenfall besser gewappnet zu sein. Alle Banken mit einem Vermögen von mehr als 50 Milliarden Dollar sollten jährliche Stresstests machen. Die nach dem ehemaligen US-Notenbankchef Paul Volcker benannte Volcker-Regel schränkte den Eigenhandel der Banken massig ein. So sollten riskante Spekulationen mit Kundengeldern verhindert werden. Präsident Trump vollzog einen deutlichen Richtungswechsel zu seinem Vorgänger. Er erließ nicht nur eine Vielzahl an Dekreten, er besetzte zudem wichtige Posten mit Regulierungskritikern. Beispielsweise ernannte er den ehemaligen GoldmanSachs Manger Steven Mnuchin zum Finanzminister. Mnuchin ist ein starker Befürworter von Steuer- und Bürokratieabbau.

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Gleich zu Beginn seiner Amtszeit (am 3. Februar 2017) ordnete Trump per Dekret (Executive Order 13772) eine umfassende Untersuchung der Finanzmarktregulierung an. Der Erlass nannte zudem Kernprinzipien, nach denen sich die Finanzmarktregulierung richten sollte. Unter anderem sollen Regulierungen effizient, effektiv und maßgeschneidert sein, die Folgekosten von Regulierungen stärker in den Blick genommen sowie die öffentliche Rechenschaftspflicht der Finanzaufsichtsbehörden des Bundes wieder hergestellt werden. Zusätzlich ordnete Trump im April 2017 per Memorandum die Untersuchung des FSOC und des „Mechanismus Orderly Liquidation Authority“ (OLA) an. Trump kritisierte, dass der OLA übermäßige Risikofreudigkeit von Finanzakteuren fördern könnte (Memorandum on Orderly Liquidation Authority). Im Juni und Oktober 2017 veröffentlichte das Finanzministerium zwei umfassende Berichte mit hunderten von detaillierten Vorschlägen zur Deregulierung des Finanzsektors (Department of the Treasury 2017). Der Bericht „A Financial System that Creates Economic Opportunities for Banks and Credit Unions“ kam zu dem Ergebnis, dass die komplexe Aufsichtsstruktur mit Aufsichtsbehörden, deren Mandate sich überschnitten, die Compliance-Kosten insbesondere für mittelständische und kommunale Finanzinstitute deutlich erhöht hätte. Dies habe die Kreditvergabe gehemmt und die Liquidität am Markt verringert. Es folgten weitere Berichte zur Innovation auf den Finanzmärkten, Nicht-Banken und Fin-Tech (Juli 2017), zur Regulierung der Kapitalmärkte (Oktober 2017), zum Asset Management und Versicherungswesen (Oktober 2017), zum FSOC (November 2017) und zur OLA (Februar 2018). Gemein ist diesen Berichten die Kritik an einer Überregulierung der Finanzmärkte, die sich negativ auf das Wirtschaftswachstum auswirke. Anders als viele befürchtet hatten, wurde der Dodd-Fank Act nicht komplett abgewickelt. Trump hat auch keine Aufsichtsbehörden abgeschafft. Allerdings scheinen diese laxer zu regulieren als unter der Obama-Administration. Studien deuten beispielsweise darauf hin, dass die SEC unter Trump weniger Durchsetzungsmaßnahmen einleitet und geringere Bußgelder für Fehlverhalten verhängt hat als unter der Obama-Administration (Tebor 2018). Der Präsident fand zudem im mehrheitlich Republikanisch besetzten Kongress einen starken Verbündeten. Am 24. Mai 2018 unterzeichnete Trump den Economic Growth, Regulatory Relief, and Consumer Protection Act (EGRRCPA). Das Gesetz ist umstritten. Trump hingegen lobte: „Das Gesetz, das ich heute unterzeichne, schafft Dodd-Frank-Regeln ab, unter deren erdrückender Last Genossenschaftsbanken und Sparkassen überall im Land leiden. Das hat die Banken in solche Schwierigkeiten gebracht“ (Ganslmeier 2018). EGRRCPA setzt viele der Vorschläge des Finanzministeriums um und fährt eine Reihe von Regulierungen des Dodd-Frank Act zurück. Die Änderungen am Dodd-Frank Gesetz können in fünf Kategorien unterteilt werden: 1. Regulatorische Erleichterungen für Gemeinschaftsbanken (community banks; Genossenschaftsbanken und Sparkassen), 2. Erleichterungen für große Banken, 3. Erleichterungen für Hypothekendarlehen, 4. regulatorische Befreiung für die Kapitalbildung, und 5. Verbraucherschutz. Unter anderem hebt EGRRCPA den bisherigen Dodd-Frank Schwellenwert für strengere Standards und Aufsicht (enhanced regulation) an. Dieser lag bisher bei

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Gesamtaktiva in der Höhe von 50 Milliarden US-Dollar. SIFI und Banken mit einem Vermögen von mehr als 250 Milliarden US-Dollar unterliegen nach wie vor automatisch einer strengeren Regulierung. Banken mit Vermögenswerten zwischen 100 und 250 Milliarden US-Dollar müssen zwar Stresstests durchführen, doch liegt es nun im Ermessen der Federal Reserve, welche aufsichtsrechtlichen Bestimmungen auf diese Banken angewendet werden. Banken mit einem Vermögen zwischen 50 und 100 Milliarden US-Dollar unterliegen keiner erweiterten Regulierung. Den Aufsichtsbehörden wird zudem ein größerer Ermessensspielraum eingeräumt, die Zahl der in Stresstests verwendeten Szenarien zu reduzieren (Perkins et al. 2018).

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Handelspolitik: America First

Handel spielte eine ungewöhnlich wichtige Rolle im Präsidentschaftswahlkampf 2016, sowohl in der Kampagne von Donald Trump als auch von Hillary Clinton. Trumps Agenda war dabei besonders protektionistisch. Für den Präsidenten scheint Handel ein Nullsummenspiel zu sein: Exporte sind gut, Importe sind schlecht; Investitionen im Inland sind gut, Investitionen im Ausland sind schlecht – und das große Handelsbilanzdefizit der USA ist ein Zeichen dafür, dass andere Länder unfair handeln (Abb. 3). Er setzt dabei auf das Prinzip der strikten Reziprozität und vergleicht dabei Land mit Land, Sektor mit Sektor und Produkt mit Produkt. Handel sei nur dann fair, wenn Exporte und Importe in einzelnen Sektoren ausgeglichen sind. Als Maßstab gelten bilaterale Handelsbilanzen. Mit seiner „America-First“Handelspolitik will er die industrielle Basis in den USA stärken, Produktion in die USA zurückholen und Millionen neuer Arbeitsplätze schaffen (USTR 2019). Seine Handelspolitik kann somit als merkantilistisch bezeichnet werden. Was kann der Präsident in der Handelspolitik? Die Kompetenz über die Handelspolitik liegt nach Artikel I, Abschnitt 8 der Verfassung eindeutig beim Kongress: „Der Kongress hat das Recht: Steuern, Zölle, Abgaben und Akzisen aufzuerlegen und einzuziehen [und] den Handel mit fremden Ländern, zwischen den Einzelstaaten und mit den Indianerstämmen zu regeln“. Abkommen müssen vom Kongress – beiden Kammern, dem Repräsentantenhaus und dem Senat – ratifiziert werden. Der Kongress hat somit die Möglichkeit, Verträge zu verändern oder, im Extremfall, ganz abzulehnen. Der Kongress kann jedoch einen Teil seiner Handelskompetenz an den Präsidenten delegieren. Er tat dies erstmals 1934 mit dem Reciprocal Trade Agreement Act (RTAA). 1974 wurde der RTAA durch die Fast Track Authority abgelöst. Im Jahr 2002 erfolgte eine erneute Modifikation des Handelsmandats durch die Trade Promotion Authority (TPA). Mit der TPA verpflichtete sich der Kongress, Gesetzesentwürfe zur Ratifizierung von Handelsübereinkünften beschleunigt anzunehmen oder abzulehnen, ohne einzelne Passagen abzuändern. Auch ohne die Ermächtigung des Kongresses ist der Präsident befugt, mit anderen Staaten bilaterale, regionale oder multilaterale Handelsverträge zu verhandeln und zu unterzeichnen. Für die Ratifizierung gerade großer und umstrittener Abkommen ist die Trade Promotion Authority jedoch unabkömmlich. Der US-Kongress erteilte Präsident Obama 2015 die aktuelle TPA (Bipartisan Congressional Trade Priorities and

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Leistungsbilanz

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2003

2004

Handelsbilanz (Waren)

2002

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Handelsbilanz (Dienstleistungen)

2006

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Abb. 3 Die Leistungsbilanz der USA und ihre Komponenten zum BIP in Prozent, 1990 bis 2018

-7%

-6%

-5%

-4%

-3%

-2%

-1%

0%

1%

2%

2012

2013

2014 Saldo Primäreinkommen

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2015

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Accountability Act of 2015). Sie war zunächst bis 2018 gültig und galt auch für Donald Trump. Mitte 2018 verlängerte sich die TPA automatisch für drei Jahre. Die TPA ist nicht die einziges Weise, wie der Kongress die Kompetenzen der Exekutive ausgedehnt hat. Der Trade Expansion Act of 1962 erlaubt beispielsweise dem Präsidenten, Zölle oder Quoten einzuführen, wenn Importe die nationale Sicherheit bedrohen. Das Handelsgesetz von 1974 mit seinem Abschnitt 301 ermöglicht dem Präsidenten, vergeltende Maßnahmen, einschließlich Zölle und Quoten einzusetzen, wenn ein Land den USA Rechte unter einem Freihandelsabkommen verweigert oder Maßnahmen ergreift, die unberechtigt, unangemessen oder diskriminierend sind. Abschnitt 122 des Trade Act of 1974 gibt dem Präsidenten das Recht, Zölle von bis zu 15 % und/oder quantitative Importbeschränkungen für bis zu 150 Tage einzuführen, wenn ein signifikantes Defizit in der US-Zahlungsbilanz mit einem Land besteht. Präsident Trump nutzt diesen exekutiven Spielraum, um seine handelspolitische Agenda umzusetzen und bricht damit deutlich mit der Handelspolitik seiner Vorgänger. Erstens müsse laut Trump die Handelspolitik die nationalen, auch sicherheitspolitischen Interessen der USA stärker in den Vordergrund stellen. Mit dem Argument der nationalen Sicherheit begründet seine Administration beispielsweise auch die 232-Zölle auf Stahl und Aluminium. Und mit diesem Argument droht Trump mit Importzöllen auf Autos und Autoteile. Zweitens möchte die Trump-Administration fairere Handelsabkommen verhandeln. Als eine seiner ersten Amtshandlungen vollzog der Präsident im Januar 2017 den Austritt aus der Transpazifischen Partnerschaft. Auch die Verhandlungen über die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft liegen seit dem Amtsantritt von Präsident Trump auf Eis. Eine Top-Priorität der Trump-Administration war die Neuverhandlung von NAFTA. Trump kritisierte das Abkommen als „Schlechtesten Deal aller Zeiten“. Am 30. September 2018 einigten sich die Regierungen der USA, Mexikos und Kanadas auf die Modernisierung ihres trilateralen Handelsabkommens NAFTA. „U.S.-Mexico-Canada Agreement“ (USMCA) gleicht in großen Teilen NAFTA, weicht allerdings in einigen zentralen Punkten von diesem ab, beispielsweise enthält es deutlich strengere Ursprungsregeln. Eine Ratifizierung in den USA steht noch aus. Zu den Prioritäten der Trump-Administration gehört drittens eine rigorose Anwendung der nationalen Handelsgesetze. Dazu gehören nicht nur die 232-Zölle auf Stahl und Aluminium. US-Präsident Trump will einen besseren „Deal“ für die USA mit China. Anfang Juli 2018 verhängten die USA erste 301-Einfuhrzölle in Höhe von 25 Prozent auf Importe chinesischer Waren im Wert von 34 Milliarden US-Dollar. Diese wurden sukzessive auf Importwaren in einem Wert von rund 500 Milliarden US-Dollar ausgeweitet – fast die gesamten US-Importe aus China. Ob es den USA und China gelingen wird, sich auf ein Abkommen über Marktzugang, ernstzunehmende strukturelle Reformen in China und einen Durchsetzungsmechanismus verständigen, ist mehr als ungewiss. Viertens sieht die Trump-Administration die WTO kritisch. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es die USA, die das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT) 1947 auf den Weg brachten. Und auch die WTO wäre 1995 ohne die

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Unterstützung der USA nicht gegründet worden. Nun hat Trump wiederholt mit dem Austritt der USA aus der WTO gedroht. Die USA kritisieren, dass sich viele Länder nicht an die Regeln der WTO halten und für Entwicklungsländer vielfache und teilweise weitreichende Ausnahmen in der WTO gelten. Überdies kritisiert Trump, dass das Streitbeilegungssystem der WTO sein Mandat überschritten und in Bereiche eingegriffen habe, für welche die WTO-Mitglieder selbst verantwortlich seien. Als Reaktion blockiert die Trump-Administration die Nachbenennung von Mitgliedern des Berufungsgremiums und gefährdet damit die Funktionsfähigkeit der gesamten Organisation. Meinungsumfragen zeigen, dass nicht jeder mit Trumps Handelspolitik zufrieden ist. Laut einer Gallup-Umfrage aus dem Jahr 2018 zur ersten Runde der Sonderzölle zwischen den Vereinigten Staaten und China im Juli 2018 waren 45 % der Befragten der Meinung, dass die Zölle langfristig nachteilige Auswirkungen auf die Wirtschaft haben würden; 31 % der Befragten gaben an, mit positiven Auswirkungen zu rechnen. Während Demokraten traditionell skeptischer gegenüber Freihandel eingestellt waren als Republikaner, zeigen die jüngsten Umfragen mittlerweile höhere Zustimmungsraten bei den Demokraten als bei den Republikanern. Dies ist zum Teil auf die Polarisierung in Politik und Gesellschaft zurückzuführen. Die Business Community steht den Trump-Zöllen äußerst kritisch gegenüber. Insbesondere die Landwirte, die durch die Vergeltungsmaßnahmen Chinas große Verluste erlitten haben, fordern die Abschaffung der neuen Handelsbarrieren. Die Gewerkschaften sehen die Handelspolitik von Trump positiver, fordern aber, dass die Lasten der Zölle fairer verteilt werden. Das Repräsentantenhaus und der Senat sind zunehmend frustriert über die aggressive Zollpolitik von Trump. Der von Mike Gallagher (R-WI) und Senator Pat Toomey (R-PA) eingebrachte Gesetzesentwurf „Bicameral Congressional Trade Authority Act“ zielt beispielsweise darauf ab, die Befugnisse des Präsidenten unter Abschnitt 232 einzuschränken. Gleichwohl unterstützt die Mehrheit des Kongresses Trumps China-Politik. Bestrebungen, den exekutiven Spielraum bei Abschnitt 301 einzuschränken, gibt es nicht. Ob der Kongress den Präsidenten in seine handelspolitischen Schranken verweisen wird, bleibt abzuwarten. Die Republikaner werden sich kaum im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen im Jahr 2020 gegen den Präsidenten stellen können. Für die Demokraten wird es schwierig sein, stärker für Freihandel einzutreten, da einer ihrer wichtigsten Stakeholder, die Gewerkschaften, dem Freihandel skeptisch gegenüber steht.

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Fazit und Ausblick

Trumps Wirtschaftspolitik lässt oftmals keine klare Linie erkennen. Seine Steuerreform und Deregulierungspolitik erinnern an die Reaganomics der 1980er-Jahre. Auf der anderen Seite scheut sich Trump jedoch auch nicht, mit starker Hand in die Wirtschaft einzugreifen. In der Handelspolitik verfolgt der Präsident einen neomerkantilistischen Ansatz.

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Präsident Trump hat viele Reformen der Obama-Administration rückgängig gemacht (insbesondere in der Finanzmarkt- sowie Klima-, Energie und Umweltpolitik), teilweise mit Hilfe eines bis Ende 2018 mehrheitlich besetzten Kongresses, teilweise am Kongress vorbei. Dabei stellt er das System der Checks und Balances massiv auf die Probe. Ob Präsident Trump mit dieser Politik weiterhin Erfolg haben wird, bleibt abzuwarten. Die Polarisierung, die bereits unter Präsident Obama die legislativen Prozesse in Washington lähmte, hat noch einmal deutlich zugenommen. Mit der Mehrheit der Demokraten im Abgeordnetenhaus ist es für den Präsidenten deutlich schwieriger geworden, Gesetzesvorhaben durchzubringen. Auch in den eigenen Reihen zeigt sich Widerstand wie beispielsweise in der Handelspolitik. Seine Deregulierungspolitik steht in einer Vielzahl an Gerichtsverfahren auf dem Prüfstand. Mit größeren Reformen, die Gesetzgebungen verlangen – beispielsweise einem umfassenden Infrastrukturpaket – ist bis zu den Präsidentschaftswahlen 2020 zumindest nicht mehr zu rechnen. Damit werden jedoch auch die großen strukturellen Defizite in der US-Wirtschaft nicht angegangen.

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Wirtschaftspolitik

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Einwanderungspolitik Zwischen Integration und Ausgrenzung Henriette Rytz

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Einwanderungsland USA: Demographische und politische Verschiebungen . . . . . . . . . . . . . . 3 Die Genese der Einwanderungspolitik: Die nation of immigrants als Referenzrahmen und Reibungspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Die aktuelle Einwanderungspolitik und ihr Reformbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Der politische Umgang mit dem Thema Immigration steht in den USA in einem Spannungsverhältnis zwischen dem Selbstverständnis als Einwanderernation, wirtschaftlichen Interessen und xenophobischen Tendenzen. So wurde zwar die Einwanderung prinzipiell gefördert, andererseits dabei immer wieder einzelne Gruppen diskriminiert. Die Attraktivität der USA als beliebtestes Auswanderungsziel weltweit ist dennoch ungebrochen. Mit zunehmendem politischem Gewicht der migrantischen Bevölkerung erwächst langfristig die Chance auf eine umfassende Reform der Einwanderungspolitik. Unter dem immigrationsfeindlichen Präsidenten Donald Trump wird dies aber nicht realisierbar sein. Schlüsselwörter

Migration · Außenpolitisches Selbstverständnis · Latinos · Hispanics · Demografie · Populismus · Geschichte der USA

H. Rytz (*) Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_26

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Einleitung

Das Bekenntnis, eine Einwanderungsnation zu sein, ist im Selbstverständnis der Vereinigten Staaten von Amerika fest verankert. Das Motto E Pluribus Unum (Aus vielen eines) findet sich auf jedem Ein-Dollarschein und zahlreichen Münzen. Wie kein anderes Land stehen die USA für den Traum eines neuen, eines besseren Lebens durch Immigration. Die Vereinigten Staaten sind das Land, das mit Abstand die meisten Einwandernden weltweit empfängt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts reicht der Umfang der Einwanderung an die Hochzeit der Immigration hundert Jahre früher heran. Machten zwischen 1890 und 1920 Zuwandernde fast 15 % der Bevölkerung der USA aus, sind es 2018 fast 14 % (López et al. 2018). Der American Dream verheißt auch heute noch den sozialen Aufstieg, den Weg zu Wohlstand und persönlichem Wohlbefinden. Er motiviert jedes Jahr Millionen dazu, einen Neuanfang in den USA zu suchen; sei es durch Teilnahme an der Greencard-Lotterie, bei der ein Gewinn eine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung verspricht, sei es durch ein Studium oder Arbeitsvisum. Auch ein undokumentierter Aufenthalt führt viele ins Land, entweder über die grüne Grenze aus Mexiko oder durch Verbleib in den USA nach Ablauf eines Visums (Wasem 2012, S. 1). In den Vereinigten Staaten steht die Öffentlichkeit der Immigration grundsätzlich positiv gegenüber – auch wenn der amtierende Präsident Donald Trump für die gegenteilige Politik steht. Wer sich mit der Einbürgerung zur Verfassung der USA bekennt, wird auch in der öffentlichen Wahrnehmung zum US-Amerikaner oder US-Amerikanerin. 2017 waren in einer Umfrage fast zwei Drittel der Befragten der Meinung, Einwanderung stärke die USA durch die „harte Arbeit und die Talente“ der Neuankömmlinge. Wie die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten demonstriert, ist die amerikanische Gesellschaft allerdings tief gespalten bei diesem Thema. So fand diese Haltung bei Demokraten deutlich mehr Zustimmung als unter Republikanern (Pew Research Center 2017). Die Polarisierung beim Thema Einwanderung ist kein neues Phänomen. Sie ist vielmehr Teil der Geschichte der USA und hat immer wieder zu widersprüchlichen politischen Maßnahmen geführt. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Gesetzgebung wiederholt angepasst, mal um die Einwanderung zu erhöhen, mal um sie zu dämmen; mal wurden Gruppen bestimmter nationaler Herkunft direkt angeworben, mal gezielt ausgegrenzt. Die letzte weitreichende Reform der Einwanderungspolitik fand Anfang der 1990er-Jahre statt. Seitdem haben sich Größe, Zusammensetzung und soziale Situation der Einwanderergruppen, aber auch der Arbeitsmarkt derart verändert, dass viele Expertinnen und Politiker eine neue Reform fordern. Aufgrund der starken Polarisierung zwischen den politischen Lagern und den daraus resultierenden Blockaden im US-Kongress wurden entsprechende Gesetzesvorhaben jedoch bislang immer gestoppt. Auch wenn mit wachsendem politischen Gewicht der migrantischen Bevölkerung der Druck auf die Reformgegner langfristig steigen wird, stehen unter Präsidenten Donald Trump die Chancen auf eine Reform äußerst schlecht.

Einwanderungspolitik

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Einwanderungsland USA: Demographische und politische Verschiebungen

Die meisten Einwandernden in den USA stammen aus Lateinamerika (2018 stellten sie etwa 18,1 % der Bevölkerung; Asian-Americans: 5,8 %; Census 2018). Gut ein Viertel – und damit die Mehrheit – aller Immigranten kommen aus Mexiko (Stand: 2016; López et al. 2018). Mittlerweile ist der Zuzug aus Asien größer als der aus Lateinamerika. 2055 könnten einer Studie des Pew Reseach Center zufolge erstmals mehr Asian-Americans als Latinos in den USA leben (López et al. 2018). Gleichzeitig würden USAmerikaner europäischer Abstammung dann in der Minderheit sein. Die wachsende Diversität der amerikanischen Gesellschaft hat ihren Ursprung auch darin, dass Einwandernde für einen großen Teil des Bevölkerungswachstums der USA verantwortlich sind. Obwohl nur jeder siebte, der oder die in den USA lebt, nicht dort geboren wurde, tragen Immigrantinnen knapp ein Fünftel aller Geburten aus (Camarota et al. 2018). Diese demografischen Verschiebungen nehmen Einfluss auf politische Prozesse. Zuwandernde werden zu Wählern, wenn sie die Staatsbürgerschaft der USA erlangen. Die Einbürgerung ist in den USA mit weniger rechtlichen Hürden und kürzeren Wartezeiten verbunden als in Deutschland. 61 % der Zuwanderer, die die rechtlichen Anforderungen dafür erfüllen, lassen sich jährlich einbürgern (Lee 2011, S. 2). Der Nachweis ausreichender Englischkenntnisse und hohe Verwaltungsgebühren verzögern aber häufig diesen Schritt. Nicht zuletzt ist er undokumentierten Einwandernden gänzlich versperrt. Auch wenn längst nicht alle Einwandernden an Wahlen teilnehmen können, manche auch nicht wollen (ihre Wahlbeteiligung liegt leicht unter ihrem Anteil an der Wahlbevölkerung), nimmt ihr politisches Gewicht mit steigenden Einbürgerungsraten doch stetig zu. Im Jahr 2016 waren bereits 11,7 % aller Stimmberechtigten lateinamerikanischer Abstammung (U.S. Census 2016); bei den Präsidentschaftswahlen entfielen auf diese Gruppe 9,2 % aller abgegebenen Stimmen (U.S. Census 2017). Auch vom passiven Wahlrecht machen sie immer mehr Gebrauch. Im US-Kongress der Wahlperiode 2019/2020 sind 9 % aller Abgeordneten Hispanics (Bernal 2019).

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Die Genese der Einwanderungspolitik: Die nation of immigrants als Referenzrahmen und Reibungspunkt

Die Gründung der USA als Einwanderungsnation, als nation of immigrants, ist zu einer Metapher des nationalen Selbstverständnisses geworden. Der Verweis auf den Ursprung der Nation als eine Kolonie von Emigranten, die sich per Unabhängigkeitserklärung und Krieg ihres repressiven Mutterlandes entledigten, durchzieht auch heute noch die amerikanische Gesellschaft, Kultur und Politik. Das Nation-Building als eine freie unabhängige Gemeinschaft von Menschen aus verschiedenen Teilen der Erde bildet auch die Grundlage dafür, wie sich die USA in der Welt definieren. Der darauf begründete Exzeptionalismus, die Treibkraft einer

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Außenpolitik, die je nach weltpolitischer und innenpolitischer Lage eher isolationistische oder interventionistische Elemente aufweist, stößt jedoch international immer wieder auf Argwohn, bis hin zu radikaler Ablehnung. Die Ambivalenz der internationalen Gemeinschaft – einerseits Skepsis gegenüber der amerikanischen Dominanz in ihrer Mitte, andererseits der Wunsch nach einem wohlwollenden Hegemon, der sich dann international engagiert, wenn andere nicht wollen oder können – spiegelt sich in einer Ambivalenz der USA gegenüber den Neuankömmlingen im Land. Die in der Kultur der USA allgegenwärtige Metapher Immigration bricht sich mit einem weniger klaren politischen Bekenntnis zur Einwanderung als steter Selbsterneuerungsquelle der Nation. Damit bleibt auch das politische Herangehen an das Thema Immigration zwiegespalten. Es verwundert somit wenig, dass das rechtliche System zur Steuerung der Einwanderung so komplex wie kompliziert ist. Die Zuständigkeit für die entsprechende Gesetzgebung liegt auf Bundesebene; jedoch versuchen einzelne Bundesstaaten immer wieder durch eigene politische Initiativen die Einwanderungspolitik gemäß ihren Vorstellungen zu modifizieren. Ein Beispiel dafür ist der äußerst umstrittene Support Our Law Enforcement and Safe Neighborhoods Act (SB 1070) aus dem Jahr 2010, der es Polizeibeamten im Bundesstaat Arizona erlaubt, den Aufenthaltsstatus einer Person aus einem nicht näher begründeten Verdacht heraus zu überprüfen (American Civil Liberties Union 2014). Das rechtliche Fundament der aktuellen nationalen Einwanderungspolitik der Immigration and Naturalization Act aus dem Jahre 1952. Maximal 675.000 Personen können darunter pro Jahr legal in die USA einwandern. Hinzu kommt eine bestimmte Zahl von Geflüchteten, deren Höhe der Präsident festlegt (American Immigration Council 2016). Drei Prinzipien bilden die Grundlage der Einwanderungspolitik: die Familienzusammenführung, die Anwerbung von Einwandernden mit einem Mehrwert für die Volkswirtschaft der USA und der Schutz von Geflüchteten. Die aktuelle Rechtslage erfüllt diese Prinzipien jedoch nur unzureichend. Insbesondere der Umgang mit den 10,5 Millionen undokumentierten Einwandernden (Stand: 2017) stellt das aktuelle System vor bislang ungelöste Herausforderungen (Krogstad et al. 2019). Die Gründe für diese hohe Zahl sind vielfältig. Einer Theorie zufolge hat die Verschärfung des Grenzschutzes in den 1990er-Jahren zu einem „Käfigeffekt“ (caging effect) geführt. Waren mexikanische Saisonarbeiter bis dahin zwischen ihrem Heimatland und den USA gependelt, sahen sich nun viele veranlasst zu bleiben. Denn das Pendeln ist nun mit hohen Kosten und Risiken verbunden. Einer anderen Theorie zufolge übersteigt das Angebot an Visa (und damit die Möglichkeit eines regulären Aufenthalts) die Nachfrage bei weitem (Wasem 2012, S. 14–15). Während das Ob und Wie der Legalisierung undokumentierter Immigranten äußerst umstritten ist, ist die Rechtslage bei der Anerkennung Neugeborener eindeutig: Jede Person, die auf dem Territorium der USA geboren wird, erhält automatisch die Staatsbürgerschaft (ius soli). Dies führt zu der paradoxen Situation, dass Kinder undokumentierter Einwanderer sich vollkommen legal im Land aufhalten und sogar den besonderen Schutz als Staatsbürger genießen können, während ihren Eltern jederzeit die Abschiebung droht.

Einwanderungspolitik

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Die Ambivalenz der Einwanderungspolitik der USA zieht sich seit der Staatsgründung durch die Geschichte des Landes. Die kulturelle Selbstreferenz als Einwanderernation wurde bereits beim Entwerfen der Verfassung auf bestimmte Gruppen und Formen der Immigration eingegrenzt. Die Gründungsväter der USA waren allesamt europäischer Abstammung. Für sie war Einwanderung gleichzusetzen mit Einwanderung aus Europa. Zwar betrachteten sie eine radikale Abkehr vom kolonialen Mutterland als notwendig, um den neugegründeten Staat effektiv gestalten und regieren zu können. So legten sie in der Verfassung sogar fest, dass nur jemand Präsident der USA werden könne, der auch im Land geboren ist (Gabaccia 2012, S. 52–53). Jedoch akzeptierten sie auch nur Einwanderer europäischer Herkunft als legitime Mitglieder der Gesellschaft des jungen Landes. Dies zeigt sich in der zutiefst rassistischen und inhumanen Zwangsimmigration aus Afrika durch Versklavung. Von der Gründung der Republik bis zum Ende des Bürgerkriegs war dies eine verfassungskonforme Form der Migration. Die Sklaven besaßen keinerlei Bürgerrechte und wurden von der weißen Mehrheitsbevölkerung nicht als Teil der amerikanischen Gesellschaft betrachtet. Mitte des 19. Jahrhunderts gab es die ersten legislativen Versuche, die Einreise bestimmter Gruppen einzuschränken oder ganz zu verhindern. So schürte beispielsweise die Aufnahme katholischer Europäer in der vorwiegend protestantisch geprägten amerikanischen Gesellschaft Ressentiments. Die rassistisch motivierte Know-Nothing-Party (Weißnichts-Partei) scheiterte jedoch in den 1850er-Jahren mit ihren legislativen Versuchen, deren Zuwanderung zu stoppen (Martin 2011, S. 96–100). Ende des 19. Jahrhunderts wurde die reguläre Zuwanderung erstmals gesetzlich beschränkt. Der Immigration Act of 1882 knüpfte eine Einreise an medizinische Kriterien; der Chinese Exclusion Act aus demselben Jahr stoppte die Zuwanderung aus China. Für den Bau der transkontinentalen Eisenbahn zwischen der Ost- und Westküste der USA waren viele Gastarbeiter aus China angeworben worden. Als der Eisenbahnbau vollendet war, blieben viele davon im Land und stellten dort plötzlich eine Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt dar, da die 1870er-Jahre von hoher Arbeitslosigkeit geprägt waren (Martin 2011, S. 93–96). Auch im 20. Jahrhundert sorgte die Einwanderungsgesetzgebung immer wieder für die Ausgrenzung bestimmter Gruppen. Die Immigration Acts der 1920er-Jahre bevorzugten Einwandernde aus Nordwesteuropa gegenüber Einwandernden aus Südeuropa, Ungarn und Russland. Dies geschah durch eine Deckelung der Einwandererzahlen sowie durch präferenzielle Herkunftsquoten, die sich an der Größe der jeweiligen Community in den USA orientierten. Gemeinsam mit den Effekten der Weltwirtschaftskrise und des Zweiten Weltkriegs drückten diese Gesetze die Immigration. Erst 1965 kam es durch eine Gesetzesreform wieder zum Anstieg der Einwanderungszahlen – von knapp 2,5 Millionen Einwanderern in den 1950er-Jahren auf 6,2 Millionen in den 1980er-Jahren (Wasem 2013a, S. 3). Die Immigration Amendments waren ein Produkt der Bürgerrechtsbewegung und ersetzten die diskriminierenden Gruppenkontingente mit Länderquoten. Stammten 1960 noch 75 % der

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dokumentierten Einwandernden aus Europa, kamen 2014 bereits 82 % aus Lateinamerika und Asien (Kandel und Wasem 2016, S. 4). Ausgangspunkt für diesen Trend zur Liberalisierung einerseits (hinsichtlich der Herkunft der Immigranten) und zur stärkeren Regulierung andererseits (der Höhe und Art der Migrationsströme) war das bracero-Gastarbeiterprogramm. Mit ihm wurden zwischen 1942 und 1964 Hunderttausende Mexikaner in der Landwirtschaft der USA eingesetzt. Darunter waren auch ehemals illegal Eingewanderte, deren Aufenthalt zu diesem Zweck legalisiert wurde.1 Das bracero-Programm führte dazu, dass billige mexikanische Arbeitskräfte eine Grundlage der Landwirtschaft der USA wurden (Martin 2011, S. 167–174). Die hohe undokumentierte Einwanderung blieb jedoch bestehen. Der einzige umfassende politische Versuch, dieser Herausforderung zu begegnen, erfolgte im Jahr 1986. Mithilfe von Interessengruppen der Industrie, Gewerkschaften und Kongressabgeordneten lateinamerikanischer und afrikanischer Herkunft beschloss Präsident Ronald Reagan eine umfassende Amnestie für undokumentierte Immigranten (LeMay 2006, S. 175). Der Immigration Reform and Control Act (IRCA) verhalf fast 2,7 Millionen zu einer Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung und ebnete ihnen den Weg zum Erlangen der Staatsbürgerschaft. Die Zahl der undokumentierten Zuwandernden fiel in der Folge zwischen 1986 und 1988 von 3,2 auf 1,9 Millionen (Wasem 2012, S. 1–2). Da das Gesetz jedoch eine einmalige Amnestieaktion darstellte, wuchs die Zahl der illegalen Einwanderer schnell wieder an und erreichte 2007 den Höchststand von 12,4 Millionen (Wasem 2012, S. 3–4). Die Push- und PullFaktoren der Immigration ließ IRCA unangetastet.

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Die aktuelle Einwanderungspolitik und ihr Reformbedarf

Die letzte größere Reform der Einwanderungsgesetzgebung fand 1990 statt. Ziel des Immigration Act of 1990 war es, hoch qualifizierte Personen anzuwerben, mit der Hoffnung auf positive Effekte für die Volkswirtschaft der USA. Gleichzeitig verbesserte das Gesetz die Möglichkeiten, langfristig die Staatsbürgerschaft zu erlangen (Wasem 2013a, S. 2; Martin 2011, S. 217–219). Als Anfang der 1990er-Jahre die illegale Zuwanderung wieder deutlich zunahm, trübte dies die einwanderungsfreundliche politische Stimmung, die zur Verabschiedung des Gesetzes geführt hatte. Besonders drastisch brachten die Bürger des Bundesstaats Kalifornien ihre Ablehnung zum Ausdruck. 1994 sprachen sie sich in einem Volksentscheid dafür aus, illegalen Einwandernden den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen wie Bildung und medizinischer Versorgung zu versperren. Zwar hatte der Oberste Gerichtshof der USA geurteilt, dass alle im Land lebenden Kinder ein Recht auf Schulbildung haben. Das politische Signal, das Kalifornien nach Washington sendete, war jedoch eindeutig (Martin 2011, S. 253–254). 1

Tatsächlich stellten 1950 die 200.000 registrierten braceros nur ein Fünftel aller landwirtschaftlichen Arbeiter mit Migrationshintergrund dar. Der Rest hielt sich illegal im Land auf.

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Die Strategie, die undokumentierte Einwanderung vor allem durch Sanktionen von Arbeitgebern einzudämmen, hatte sich als wenig erfolgreich erwiesen. Denn die für eine legale Beschäftigung erforderlichen Dokumente ließen sich relativ einfach fälschen. Der Kongress setzte daher Mitte der 1990er-Jahre eine Expertenkommission ein, die Vorschläge für eine Reform der Einwanderungspolitik formulieren sollte. Die Empfehlungen der U.S. Commission on Immigration Reform zur illegalen Einwanderung (wie die Einführung eines elektronischen Systems zur Identifikation legal registrierter Arbeitnehmer) wurden durch die Exekutive weitgehend umgesetzt; die Empfehlungen zur legalen Einwanderung (wie die Legalisierung bereits im Land befindlicher Immigranten) fanden keine Anwendung (Martin 2011, S. 255–257, 263–264). Stattdessen verabschiedete der Kongress 1996 mehrere Gesetze, welche die Situation von Immigranten mit legalem Aufenthaltsstatus verschlechterten. Gleichzeitig bewilligte er aber auch mehrere Gastarbeiterprogramme, um die steigende Nachfrage der rasch wachsenden Volkswirtschaft der USA zu bedienen (Martin 2011, S. 266–267; LeMay 2006, S. 195–196). Einwandernde wurden also immer noch als Teil der volkswirtschaftlichen Wertschöpfungskette willkommen geheißen, aber weniger als Mitglieder der US-amerikanischen Gesellschaft. Noch vor dem Kampf gegen den Drogenhandel war die Eindämmung der illegalen Einwanderung stets die wichtigste Aufgabe des Grenzschutzes gewesen. In den 1990er-Jahren wurde das Personal an der Grenze weiter verstärkt (Rosenblum et al. 2013, S. 3) und die Zahl der Abschiebungen erhöht – sie wuchsen allein zwischen 1996 und 1997 um 60 % (U.S. Department of Homeland Security 2010). Mit den Terroranschlägen am 11. September 2001 rückte der Schutz des Staatsgebiets vor Terroristen in den Vordergrund. Unter Präsident George W. Bush wurde die Einwanderungspolitik durch weitreichende prozedurale und institutionelle Veränderungen darauf fokussiert, ausländische Terroristen an einem Betreten der USA zu hindern. Beispielsweise wurde durch den USA Patriot Act (2001) ein Interview als Teil des Visaprozesses eingeführt und der rechtliche Spielraum für Abschiebungen erweitert. Die neuen Regelungen diskriminierten insbesondere Personen arabischer Herkunft und/oder muslimischen Glaubens (Martin 2011, S. 271–277; Gabaccia 2012, S. 197). Der Homeland Security Act von 2002 begründete hingegen eine umfassende institutionelle Umstrukturierung. Die Zuständigkeit für Immigrationsfragen wurde vom Justizministerium größtenteils an das neugeschaffene Department of Homeland Security (DHS), das Heimatschutzministerium, übertragen, das im März 2003 seine Arbeit aufnahm. Damit erhielt der Schutz vor Terroristen politischen und administrativen Vorrang vor Einwanderungsfragen (LeMay 2006, S. 10). In seiner zweiten Amtszeit machte Präsident Bush eine umfassende inhaltliche Reform der Einwanderungspolitik zu seiner Priorität. Als ehemaliger Gouverneur des Bundesstaat Texas an der Grenze zu Mexiko war er sich des Reformbedarfs ebenso wie der Bedeutung der Latinos als Wählerblock bewusst (Trende 2013). Zudem konnte er mit einem großen innenpolitischen Projekt von seiner zunehmend in die Kritik geratenen Außen- und Sicherheitspolitik ablenken. Bush wollte insbesondere die illegale Einwanderung in den Griff bekommen. Einerseits wollte er den

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Grenzschutz weiter verstärken; andererseits wollte er das Visasystem für Gastarbeiter reformieren und die legale Einwanderung ausweiten (Wasem 2013b, S. 1). Unterstützung erhielt er durch seinen Parteikollegen John McCain, Senator des an Mexiko angrenzenden Bundesstaats Arizona. Ein gemeinsamer Gesetzentwurf mit seinem Demokratischen Senatskollegen Ted Kennedy – der ein neues umfassendes Gastarbeiterprogramm, mehr Visa für hoch qualifizierte Personen sowie einen Weg zur Legalisierung für undokumentierte Einwanderer vorsah – scheiterte aber 2007 (Gabaccia 2012, S. 208). Die Einwanderungspolitik von Präsident Barack Obama war ebenfalls ambivalent. Sie zeichnete sich einerseits durch eine neue Härte, andererseits aber auch durch ein klares Bekenntnis zur Einwanderung als Grundprinzip der US-amerikanischen Gesellschaft aus. In seinen Wahlkämpfen 2008 und 2012 warb Obama für eine umfassende Reform der Einwanderungspolitik. Er wollte vor allem undokumentierten Einwandernden einen Weg zur Staatsbürgerschaft, zumindest aber einen legalen Aufenthaltsstatus, ermöglichen. Auch er machte die Einwanderungspolitik zu einer Priorität seiner zweiten Amtszeit. Mit dieser Agenda konnte Obama die Latino-Wähler für sich gewinnen. 67 % gaben ihm 2008 ihre Stimme, 2012 waren es sogar 71 % (Lopez und Taylor 2012, S. 4). Diese Wählergruppe sprach ihm bei ihrem laut Umfragen wichtigsten Thema, der Wirtschaft, mehr Kompetenz und soziale Gesinnung zu als seinem Herausforderer Mitt Romney. Auch bei ihrem zweitwichtigsten Thema, der Bildung, gleichzusetzen mit der Chance auf soziale Mobilität, sahen sie Obama als kompetenter an (Rytz 2012, S. 5–6). Sorge bereitete vielen Latino-Wählern allerdings, dass die Zahl der Abschiebungen unter Obama deutlich anstieg. 2013 zeigten sich in einer Umfrage des Pew Research Center über die Hälfte der befragten Latinos besorgt, ein Familienmitglied oder enger Freund könne abgeschoben werden (Lopez und Brown 2014). Obama reagierte und reduzierte den Kreis derjenigen, die abgeschoben werden können, vor allem auf kriminell gewordene Einwanderer (Wasem 2013a, S. 17). Die wichtigste einwanderungsrechtliche Maßnahme unter Präsident Obama war jedoch die Ausnahmeregelung für die sogenannten Dreamers, junge undokumentierte Immigranten, die ihre Schulbildung oft komplett in den USA erhalten, viele sogar ein College besucht haben. Sie sind also nicht nur fest im Land verwurzelt, sondern der Staat hat auch bereits viel Geld in sie investiert. Jahrelang wurde ein Gesetz namens DREAM Act (Development, Relief, and Education for Alien Minors), das dieser Gruppe eine Amnestie ermöglicht hätte, immer wieder in den Kongress eingebracht und schließlich verworfen. 2012 gewährte Präsident Obama den Dreamers daher eigenhändig Amnestie. Diese war auf zwei Jahre beschränkt, erlaubte es aber den Betroffenen, in dieser Zeit aus dem Schatten der Illegalität zu treten und beispielsweise einen Führerschein (und damit ein Ausweisdokument) zu erwerben oder ein Bankkonto zu eröffnen (Singer und Svajlenka 2013). Die Dreamers-Regelung steht exemplarisch für den Kontrast zwischen der Einwanderungspolitik von Präsident Barack Obama und Präsident Donald Trump. Hatte Obama diese Regelung als Überbrückungsmaßnahme konzipiert, bis der Kongress

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eine umfassende Reform der Einwanderungspolitik beschließt, setzte Trump September 2017 die Regelung außer Kraft, ohne dass der Kongress gehandelt hätte. Stattdessen verfolgt Trump eine äußerst restriktive Einwanderungspolitik, die undokumentierte Einwandernde weder mit der humanitären Brille noch als Wirtschaftsfaktor für die USA betrachtet. Sein wichtigstes Projekt in der Einwanderungspolitik ist der Bau einer Mauer an der Grenze zu Mexiko. Der Beweggrund ist rein populistisch, denn er will damit eines seiner größten Wahlversprechen einlösen. Dass sich dieses Projekt politisch hingegen nur schwer rechtfertigen lässt, fehlt ihm doch ein inhaltliches Fundament, zeigt der langanhaltende Streit um den Haushalt am Anfang des Jahres 2019. Trump hatte die Verabschiedung eines neuen Haushalts blockiert, um vom Kongress Geld für den Mauerbau zu erhalten, konnte sich damit jedoch nicht durchsetzen. Denn mit den Kongresswahlen 2018 ist es zu einem „divided government“, zu unterschiedlichen Mehrheiten in den zwei Kammern des Kongresses, und damit zu einer Machteinhegung des Präsidenten gekommen. Hinter Trumps Entscheidungen stehen keine politischen Aushandlungsprozesse, keine verantwortungsvolle Führung seines Landes. Denn eine Reform der Einwanderungspolitik wäre durchaus im nationalen Interesse der USA. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass eine Legalisierung der undokumentierten Einwanderer und ein Ausbau der legalen Einwanderung positive Effekte für die Volkswirtschaft der USA hätten. Das Bruttoinlandsprodukt würde zwischen 0,3 % und 0,8 % pro Jahr wachsen, das Steueraufkommen steigen und die wirtschaftlichen Aktivitäten der Immigranten zunehmen (Enchautegui et al. 2013, S. 2). Auch die hohen Kosten des Einwanderungsprozesses, welche die Betroffenen selbst, aber auch Behörden und Arbeitgeber belasten, ließen sich durch eine Reform deutlich reduzieren (Greenstone et al. 2012, S. 3). Kritiker fürchten hingegen erhöhte Sozialausgaben. Zwar liegen bereits jetzt die Steuereinnahmen durch Einwandernde über den entstehenden Kosten für Schulbesuche und medizinische Versorgung, doch sind Staaten mit einem besonders hohen migrantischen Anteil tatsächlich überproportional stark belastet. Die Brookings Institution fordert daher einen Lastenausgleich zwischen den Bundesstaaten (Greenstone et al. 2012, S. 5–6).

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Fazit und Ausblick

Die humanitär und volkswirtschaftlich dringend notwendige Reform des Einwanderungsrechts der USA wird unter Präsident Trump nicht realisierbar sein. Selbst wenn der Kongress dafür eine Mehrheit finden würde, würde Trump seine Vetomacht nutzen, um seine Wählerbasis zu bedienen. Erst ein Wechsel im Weißen Haus wird eine umfassende Reform möglich machen. Mittel- und langfristig werden die demografischen Verschiebungen den Druck erhöhen, sich dieser politischen Herausforderung zu stellen. Denn die Republikaner müssen ihre Stimmanteile beim wachsenden Wählerblock der Latinos deutlich verbessern, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Dies gilt insbesondere für künftige Republikanische Präsidentschaftskandidierende. Bereits bei den Kongress- und Prä-

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sidentschaftswahlen 2020 werden einer Prognose des Pew Research Center zufolge Latinos 13 % aller Wählerinnen und Wähler stellen und damit der größte Wählerblock unter den Minderheiten sein (Cilluffo und Fry 2019). Eine von den Republikanern mit getragene humanitär und volkswirtschaftlich begründete Reform der Einwanderungspolitik könnte den Zuspruch bei dieser Wählergruppe deutlich erhöhen. Selbst nach einer Reform werden die Debatten um die Einwanderungspolitik in den USA aber kaum verstummen. Zu groß ist das Spannungsverhältnis zwischen nationalem Selbstverständnis, wirtschaftlichen Interessen und der sogenannten Angst vor „Überfremdung“.

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Umwelt- und Klimapolitik Simone M. Müller

Inhalt 1 2 3 4 5 6

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akteure der U.S.-amerikanischen Umweltpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte der Umweltgesetzgebung in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Big-Bang der 1960er-Jahre in der U.S.-amerikanischen Umweltpolitik . . . . . . . . . . . . . . Föderale Deregulierung und die ‚Anti-Umweltpolitik‘ von Reagan bis Bush Senior . . . . . Innenpolitischer Stillstand und Internationalisierung der amerikanischen Umweltpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Herausforderungen und gegenwärtige politische Zusammenhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Umweltpolitik in den USA ist ein spannendes wie auch spannungsgeladenes Politikfeld, das nach Jahren stiefmütterlicher Betrachtung, in jüngster Vergangenheit verstärkt ins Blickfeld geriet. Im Umgang mit Debatten zu Klimawandel und Artensterben wurde es zum Inbild des stetig zunehmenden gesellschaftlichen Auseinanderdriftens der Vereinigten Staaten von Amerika, sowie eines neuen außenpolitischen Isolationismus unter der Überschrift America First. Gleichzeitig war Umweltpolitik jeher eines der innovativsten Politikfelder in den USA. Als Antwort auf ein divided government setzten sich sowohl Ansätze des Neuen Pragmatismus als auch des Neuen Föderalismus durch. Schlüsselwörter

Umweltpolitik · Umweltgeschichte · Klimapolitik · Umweltbewegung · Klimawandel · Artensterben · Umweltgesetzgebung · Umweltstandards S. M. Müller (*) Rachel Carson Center for Environment and Society, Ludwigs-Maximilians-Universität München, München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_29

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Einleitung

Umwelt und Umweltschutz kamen erst relativ spät auf die Agenda der nationalen Politik in den USA. Seit den 1960er-Jahren und Diskussionen um den Einsatz von Pestiziden und nuklearen Ausfällen brodelte es in der amerikanischen Gesellschaft (Carson 1962; Commoner 1963). Der Durchbruch erfolgte 1970 als U.S.-Präsident Richard Nixon das ‚Jahrzehnt der Umwelt‘ ausrief und Millionen von Amerikanern den ‚Tag der Erde‘ mit friedlichen Massendemonstrationen und teach-ins begingen (Rome 2013). Umweltschutz avancierte zum überparteilichen In-Thema und wurde salonfähig für die breite Gesellschaft. Die damals stattfindenden politischen Umwälzungen prägen die amerikanische Umweltpolitik bis heute. Es entstanden zentrale Institutionen wie die Environmental Protection Agency (EPA) oder das Council on Environmental Quality (CEQ), grundlegende Gesetze wie der Clean Air Act und der Clean Water Act wurden verabschiedet und wichtige umweltpolitische Grundsätze wie der citizens suit festgelegt. Das Grundgerüst amerikanischer Umweltpolitik war konstituiert. Nach den großen Errungenschaften der 1970er-Jahre folgte eine Politik der kleinen Schritte, welche nicht zuletzt dem Republican Reversal zuzurechnen ist. Unter Reagan rückte die Republikanische Partei von ihrer Tradition des Umweltschutzes ab und überlies das Feld weitgehend den Demokraten (Turner und Isenberg 2018). Eine finanziell schlecht gestellte EPA sah sich immer neuen Herausforderungen wie Biodiversität, Giftmüll, Artensterben, Klimawandel, Ökoterrorismus sowie einem zunehmend maroden umweltpolitischen System gegenüber. Umweltschutz und Wirtschaftswachstum schienen unvereinbar, gar antagonistisch. Gerade unter Ronald Reagan in den 1980er-Jahren wurden Konfliktlinien geschaffen, die bis heute ihre Gültigkeit haben. Die Umweltpolitik der USA ist ein spannendes wie spannungsgeladenes Betrachtungsfeld. Das Fehlen eines ‚richtigen‘ Umweltministeriums, die Unübersichtlichkeit der politischen Prozesse und Zuständigkeiten, seine relativ kurze politische Geschichte, wie auch die zurückhaltende oder gar antagonistische Position der USA bei globalen Umweltfragen führten bei Gesamtbetrachtungen oft zu einer stiefmütterlichen Behandlung der Thematik Umwelt. Gleichzeitig ist es eines der innovativsten Politikfelder auf dem sich der Neue Pragmatismus als Antwort auf parteipolitischer Blockaden, sowie der Neue Föderalismus in der amerikanischen Politik nachzeichnen lassen. In Zeiten von divided government und eines damit einhergehenden Reformstaus auf nationaler Ebene werden auf lokaler und bundesstaatlicher Ebene wegweisende Lösungen für Umweltprobleme gesucht und gefunden. Gleichzeitig verdeutlicht dieses Auseinanderdriften bundesstaatlicher und nationaler Umweltpolitik auch die gesamtpolitische Problematik in den USA mit den klassischen Konfliktlinien über Zuständigkeiten und Finanzierung politischer Programme zwischen Bundesstaaten und Zentralstaat (Below 2013). Im Rahmen von internationalen Debatten über Klimawandel und Artensterben rückte die amerikanische Umweltpolitik verstärkt in den Vordergrund. Gerade unter Präsident Trump wurde sie zum Inbild des stetig zunehmenden gesellschaftlichen Auseinanderdriftens der Vereinigten Staaten von Amerika, sowie eines neuen außenpolitischen Isolationismus unter der Überschrift America First.

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Akteure der U.S.-amerikanischen Umweltpolitik

Die U.S.-amerikanischen Prinzipien der horizontalen und vertikalen Gewaltenteilung manifestieren sich deutlich auf dem Feld der Umweltpolitik. Ohne eigenständiges Umweltministerium sind eine Vielzahl an Ministerien, Behörden, Gremien und Gerichten – und damit Akteure aus den Bereichen der Exekutive, Legislative wie auch Judikative – am Prozess der Umweltgesetzgebung beteiligt. Auf föderaler Ebene sind die beiden zentralen Organe das Ministerium des Inneren und die Environmental Protection Agency (EPA). Daneben gibt es das Council on Environmental Quality (CEQ) innerhalb des präsidentiellen Verwaltungsapparats (seit Präsident Clinton White House Office of Environmental Policy), sowie die diversen amerikanischen Gerichte. Da Umweltgesetze meist ungenau formuliert sind, findet bei der Umsetzung derselben ein komplexer Aushandlungsprozess statt, bei dem eine Vielzahl an Behörden beteiligt ist. Neben der föderalen ist auch die bundesstaatliche und lokale Ebene in die Umsetzung umweltpolitischer Programme und Gesetze eingebunden. Basierend auf dem Prinzip des cooperative federalism arbeiten Lokalregierungen, Bundesstaaten und Nationalregierung eng an der Lösung umweltpolitischer Probleme zusammen, wobei dies, wie die Geschichte der Umweltgesetzgebung zeigt, keine spannungsfreie Beziehung darstellt. Einer der ältesten Akteure der Umweltpolitik ist das Innenministerium, welches bereits Ende des 19. Jahrhunderts mit Umweltschutzmaßnahmen betreut wurde. Seine Zuständigkeit lag zunächst bei Aspekten von Land und Ressourcen – wobei seine Entscheidungsgewalt auch die Gebiete der indigenen Bevölkerung in den USA betraf. Die Schaffung und Verwaltung der amerikanischen Nationalparks, sowie Regularien zum Umgang mit natürlichen Ressourcen zählen damit zu den ältesten Umweltaufgaben des Innenministeriums. Mit der Zeit wurden die Zuständigkeiten des Ministeriums im Umweltbereich immer vielfältiger. Heute sammeln sich eine Reihe an Behörden, wie das Bureau of Land Management, das Bureau of Mines, der Minerals Management Service, der National Park Service, der U.S. Geological Survey oder der Fish and Wildlife Service unter dem Dach des Innenministeriums (Switzer 1994, S. 56–8). Die EPA, gegründet 1970, ist eine unabhängige Behörde innerhalb der Exekutive. Sie ist kein eigenständiges Ministerium. Obwohl der Leiter der Behörde gewöhnlich als Kabinettsmitglied geführt wird, untersteht die EPA direkt dem Präsidenten. Geführt wird die EPA durch einen Hauptverwaltungsleiter und zehn Vize-Verwaltungsleitern, die den jeweiligen Regionalbüros vorstehen. Sie alle werden vom Präsidenten ernannt und durch den Senat bestätigt. Zielsetzung der EPA ist die effektive Koordination umweltpolitischer Maßnahmen auf nationaler Ebene, sowie deren Verzahnung mit bundesstaatlichen und lokalen Initiativen. Zu den Aufgaben der EPA gehören Entwicklung, Ausarbeitung und Überwachung von Umweltstandards, sowie die Durchsetzung der Umweltgesetze. Dies geschieht oft in Absprache und Koordination mit anderen Bundesbehörden, wie dem Ministerium des Inneren, der Consumer Product Safety Commission, der Food and Drug Administration (FDA) oder bei Fragen des Atommülls des Energieministeriums. Im Wesentlichen ähnelt die EPA einem Ordnungsamt, welches Lizenzen ausgibt, Standards definiert,

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und die Einhaltung von Umweltgesetzen auf amerikanischem Boden überwacht. Ihre Arbeitsfelder umfassen Luft- und Wasserverschmutzung, Trinkwasser, Müllentsorgung, Pestizide, radioaktive Strahlung, Giftstoffe, Export toxischer Substanzen und Wildtiere. Darüber hinaus betreibt die EPA auch eigenständige Forschung (Switzer 1994, S. 56–8; Collin 2006, S. 1–2). Seit ihrer Gründung sah sich die EPA oft harscher Kritik ausgesetzt. Diese rangierte von inhaltlicher Ziellosigkeit ob ihres thematisch breiten Zuständigkeitsbereichs (von Wildtieren, Emissionsstandards bis zu Giftmüll) bis hin zum Vorwurf der Kollaboration mit eben jener Industrie, welche durch die EPA reguliert werden sollte. 1983 musste Leiterin Anne Gorsuch und eine Reihe ihrer Mitarbeiter wegen Vorwürfen des finanziellen Missmanagements des Superfund Programms, auch genannt Sewergate, ihre Posten räumen. Im Nachklang des 11. Septembers 2001 löste die Handhabung potenzieller Gesundheitsrisiken im Rahmen der Aufräumarbeiten an Ground Zero eine heftige Kontroverse aus. EPA Leiterin, Christine Todd Whitman hatte die Belastungen durch Asbest, Blei und anderer Partikeln als gesundheitlich unbedenklich eingestuft. Verschiedene Wissenschaftler, darunter auch EPA Mitarbeiter, widersprachen ihr vehement. Auch für ihre lasche Durchsetzung von Umweltstandards zugunsten der großen Industriesektoren fand sich die EPA regelmäßig in der Kritik. 2005 verklagten 14 Bundesstaaten die EPA. Die Behörde hindere die Einzelstaaten daran, strengere Kraftstoffstandards durchzusetzen und eine eigenständige Klimaschutzpolitik zu verfolgen. (Campbell 2008, S. 1978). Als Behörde ist neben der EPA auch das CEQ für Fragen der Umweltpolitik zuständig. Seine Mitglieder beraten den Präsidenten und geben jährlich den President’s Annual Report on Environmental Quality heraus. Zudem überwacht das CEQ die Durchsetzung der Umweltfolgeberichte der einzelnen Bundesbehörden und vermittelt bei Unstimmigkeiten zwischen diesen. Unter Clinton wurde das CEQ umstrukturiert als White House Office of Environmental Policy. Trotz der damit verbundenen Aufwertung innerhalb der Hierarchie des Weißen Hauses, blieb seine Funktion rein beratend (Switzer 1994, S. 52). Vor den 1970er-Jahren befassten sich amerikanische Präsidenten eher stiefmütterlich mit Fragen der Umweltpolitik und des Umweltschutzes. Die große Ausnahme waren drei Republikaner: Ulysses S. Grant und Benjamin Harrison im 19. Jahrhundert, die für die ersten Nationalparks und Staatsforste verantwortlich waren, und prominent zu Beginn des 20. Jahrhunderts Theodore Roosevelt, der den Naturschutz zu einer republikanischen Tugend erhob (Turner und Isenberg 2018, 5). Mit Präsident Richard Nixon, erneut ein Republikaner, erlangte die Umweltpolitik schließlich eine höhere Priorität im Weißen Haus (Switzer 1994, S. 56). Bis heute übernimmt der Präsident die Aufgabe der Ernennung der Leitung von Innenministerium, EPA und CEQ. Er schlägt Haushalt und Budget seiner Behörden und Programme vor, stellt präsidentielle Verfügungen aus und leitet die Regulationsvorgänge. Akzente setzten die amerikanischen Präsidenten vor allem über ihre Personalpolitik. Wen sie als Leiter der EPA, beispielsweise, ernannten, verdeutlichte symbolisch ihr Zu- bzw. Abwendung von umweltschutzpolitischen Maßnahmen. Obwohl Bill Clintons Umweltpolitik weit hinter den an sie gestellten Erwartungen zurückblieb, war die Ernennung von Al Gore als Vizepräsidenten ausweisend für seine pro-umweltpolitische

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Haltung. Ähnlich zeigte Präsident George W. Bush durch seine Personalpolitik, dass ihn Umweltschutzmaßnahmen und globaler Klimawandel wenig interessierten. 2001 berief er Philip Cooney, einen ehemaligen Lobbyisten der Ölindustrie als Leiter des CEQ. Über Jahre manipulierte Cooney wissenschaftliche Berichte zur Lage von Klimawandel und Erderwärmung um Zweifel an beiden Phänomenen zu betonen (Revkin June 8, 2005). Ähnlich zu Bush ernannte 2017 Donald Trump Scott Pruitt, einen Lobbyisten der Kohleindustrie und langjährigen Gegner der EPA, als Leiter der EPA. (Szasz 1994, S. 128–9; Kraft 2013, S. 112–3; Friedman, November 21, 2018). Zentral ist die Rolle des amerikanischen Kongresses in der Umweltpolitik. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs hatten sich sowohl im Senat wie auch im House stehende Komitees (standing committee) herausgebildet, deren Vorsitzende große Autonomie von den Vorgaben der Partei genossen. Die amerikanische Wasserschutzpolitik in den zwei Jahrzehnten nach Kriegsende, beispielsweise der Water Pollution Control Act von 1956 oder der Clean Water Act von 1972, wurde wesentlich gelenkt durch Initiative aus dem amerikanischen Kongress (Milazzo 2006). Gerichte spielen eine wichtige Rolle in der Ausgestaltung und Durchsetzung amerikanischer Umweltpolitik. Richter übernehmen die Aufgabe, die oft ungenau formulierten Gesetze auszulegen. Sie fungieren als zentrale Entscheidungsinstanzen bei Sach- und Streitfragen, etwa in der Aushandlung von Machtverhältnissen und Zuständigkeit zwischen den föderalen Ebenen im Konstrukt des cooperative federalism (Scheberle 2005, S. 68). Über den citizens suit, dem seit 1970 geltenden Recht eines jeden U.S. Bürgers gerichtlich die Durchsetzung eines bestimmten Umweltgesetzes zu erstreiten oder seine Verletzung anzuprangern, versuchen Umweltorganisationen, zum Teil äußerst erfolgreich, Umweltpolitik mit zu steuern. Der Kläger kann dabei eine weitere Privatperson, ein Unternehmen oder eine Bundesbehörde der Verletzung bestimmter Regularien, Statuten oder Gesetzen verklagen (O’Leary 2013, S. 145; Gerrard und Foster 2008; EPA 2002). Mit der Einrichtung dieses Gesetzeszusatzes hat der Kongress ein wichtiges Instrument für Umweltaktivisten geschaffen. Schließlich wird der Umsetzungsprozess der Umweltpolitik durch die Beteiligung diverser Interessensvertretungen ergänzt. Lobbygruppen der Industrie auf der einen Seite, wie etwa die Global Climate Coalitation und Umweltaktivisten auf der anderen Seite prägen den öffentlichen Diskurs. Zu den wichtigsten überregional aktiven Umweltinteressensgruppen, der sogenannten Group of Ten, gehören der Sierra Club, die National Audubon Society, die Wildernes Society, die National Wildlife Federation, der Environmental Defense Fund und Greenpeace. Sie alle haben unterschiedliche thematische Schwerpunkte, folgen in ihrer Strategie jedoch meist einem kombinierten Ansatz aus Umwelterziehung, Protestaktionen, Reformpolitik und Gerichtsverfahren. Der Sierra Club, beispielsweise, der bereits 1892 gegründet wurde und mit mehr als 1,3 Millionen Mitgliedern eine der größten Organisationen ist, und die National Parks and Conservation Association setzen vor allem auf den Schutz und Erhalt öffentlichen Lands für kommende Generationen. Die National Wildlife Federation oder die Izaak Walton League, mit ihrem hohen Mitgliederanteil von Sportlern und Jägern, hingegen, engagieren sich eher für den Erhalt von Lebensraum für Wildtiere. Gruppen wie der Environmental Defense

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Fund oder das Natural Resources Defense Council nutzen vor allem den juristischen Rahmen, um Umweltpolitik zu gestalten. Neben diesen großen Interessensgruppen, welche alle ein relativ weites thematisches Spektrum abdecken, existieren zahlreiche kleinere Organisationen mit engerem regionalen oder thematischen Fokus, beispielsweise die Bat Conservation International oder die Mountain Lion Preservation Foundation (Switzer 1994, S. 26–7; Schreurs 2004, S. 66). Die großen amerikanische Umweltorganisationen sind wegen ihres latenten Rassismus nicht unumstritten. Mitglieder der Group of Ten kommen größtenteils aus der weißen Mittel- und Oberschicht. Umweltrassismus, das heißt, die Intersektion von umweltpolitischer, wirtschaftlicher und sozialer Benachteiligung basierend auf Herkunft oder Hautfarbe, spielt bis heute eine große Rolle. Sei es eine Umweltkatastrophe wie die Überflutung New Orleans nach Kathrina, die Ölkatastrophe im Golf von Mexico 2010, eine Kontroverse um die Entsorgung giftiger Abfallstoffe wie bei Love Canal oder ein Atomunfall wie 1979 bei Three Mile Island, den größten Schaden hatten oft die zu tragen, die auch arm und Teil einer ethnischen Minderheit waren (Bullard 1994, 2018). In den 1980er-Jahren entstand das Environmental Justice Movement. Dieses widmet sich, in den Worten der EPA, einer ‚fairen‘ Verteilung von Umweltproblemen und -risiken sowie einer fairen Beteiligung Aller ungeachtet von Rasse, Klasse oder Geschlecht. Getragen wird diese Bewegung auch von einer Reihe von grassroot Umweltorganisationen, welche sich in ihrer Zielsetzung und Mitgliederstruktur klar von den überregionalen Umweltorganisationen der Group of Ten absetzen. Während sich die Group of Ten eher um den Erhalt unberührter Natur bemühen, fokussieren sich diese grassroot Organisationen auf den Schutz lokaler Gemeinden vor Umweltverschmutzung und Umweltgiften, etwa in Form von Giftmüll. Ihre Mitglieder kommen oftmals aus der Arbeiterklasse, gehören ethnischen Minderheitengruppen an oder sind Frauen. Eine der bekanntesten dieser Gruppen ist die Love Canal Homeowners’ Association (Switzer 1994, S. 30; Rhodes 2005; Cable und Cable 1994, S. 105–6). Unter den Minderheitengruppen in den USA nehmen die indigenen Gruppen eine Sonderrolle ein. Dies ergibt sich aus der rechtlichen Sonderstellung der Reservatsgebiete. Im Rahmen der indigenen Selbstbestimmung werden die Reservate in der Umweltpolitik und den diversen Programmen der EPA als selbstständige lokale Entitäten neben den Bundesstaaten behandelt. Spätestens seit des 1984 verabschiedeten Indian Program der EPA sind die Reservatsverwaltungen eigenständig für die Umsetzung von Umweltschutzmaßnahmen, sowie die Entwicklung und Durchsetzung von Umweltstandards zuständig. Bundesstaatliche Umweltstandards und -programme gelten nicht automatisch für die Reservate und die EPA verhandelt mit den Reservatsleitungen auf einer government-to-government Basis. (Allen 1989; Grijalva 2005–2006). In der Praxis hat diese Sonderstellung leider auch dazu geführt, dass die Reservationen attraktive Orte für die Entsorgung problematischer Stoffe, etwa Atommüll, wurden (Voyles 2015).

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Geschichte der Umweltgesetzgebung in den USA

Die Geschichte der modernen Umweltgesetzgebung in den USA folgt keiner teleologischen Entwicklungslinie einer steten Verbesserung der natürlichen Umwelt durch staatliche Maßnahmen. Vielmehr ist sie von zahlreichen Diskontinuitäten und Auseinandersetzungen über die Deutungshoheit und Ausgestaltung der Umweltgesetzgebung geprägt (Kraft und Vig 2013, S. 11). Machtverschiebungen und Uneinigkeiten zwischen Präsident und Kongress, zwischen Republikanern und Demokraten, sowie zwischen Aktivisten und Industrie lösten dieses politische Wechselspiel aus. Seit den 1990er-Jahren charakterisiert die Weiterentwicklung des green state in den USA auf der nationalen Ebene ein reformpolitischen Stillstand während zugleich die internationale Dimension immer wichtiger wird. Trotz dieses steten politischen Wandels lassen sich drei Hauptperioden der modernen Umweltpolitik seit den 1960er-Jahren unterscheiden. (1) Sie begann zunächst mit einer Phase der gezielten Umweltgesetzgebung in den 1960er- und 1970er-Jahren. Diese war getragen durch einen starken parteiübergreifenden Konsens. In rapider Abfolge verabschiedeten Präsident, Kongress und Bundesstaaten eine große Anzahl Gesetze und Regulierungen. (2) Abgelöst wurden diese Jahrzehnte durch eine Phase der realpolitischen Ernüchterung in den 1980ern und frühen 1990ern. Vor allem unter Ronald Reagan, einem ausgesprochenen ‚Anti-Umweltpräsidenten‘, wurden Ausgaben und Personal drastisch zu Gunsten einer industrieorientierten Politik heruntergefahren. In einer Zeit der ‚grünen Kriege‘ blockierten sich Vertreter der umweltpolitischen Rechten und Linken. (3) Die dritte Phase der amerikanischen Umweltpolitik beginnt mit den frühen 1990ern, dem ‚Tag der Erde‘ von 1990 sowie der Rio-Konferenz 1992. Auch wenn sich bis heute die Aushandlungsprozesse über die in den 1970er-Jahren verabschiedeten Umweltgesetze auf nationaler Ebene fortsetzen, fand mit der zunehmenden Ausrichtung auf die internationale Ebene ein Paradigmenwechsel statt. National wie auch bundesstaatlich sehen Politiker, Industrie und Aktivisten Themen der Umweltverschmutzung und des Naturschutzes zunehmend als globale Herausforderungen. Unter der Überschrift des ‚Neuen Pragmatismus‘ oder auch der ‚Next Generation‘ Initiative versuchen Umweltschutzbefürworter und -gegner sich einander anzunähern und den legislativen Stillstand zu beenden.

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Der Big-Bang der 1960er-Jahre in der U.S.-amerikanischen Umweltpolitik

Bis in die 1960er-Jahre bedeutete Umweltpolitik im wesentlichen Naturschutz im Sinne eines schonenden Umgangs mit natürlichen Ressourcen, wie etwa Nutzholz und Wildtieren, sowie der Übereignung öffentlichen Lands als Natur- oder Wildtierschutzgebiete. Vor allem unter Präsident Theodore Roosevelt wurden zu Beginn

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des 20. Jahrhunderts Grundsatzentscheidungen mit der Gründung des U.S. Forrest Service und diverser Nationalparks getroffen. Auch die Gründung des Sierra Clubs, bis heute eine der einflussreichsten Umweltschutzorganisationen in den USA, fällt in diese Frühphase (Merchant 2002, S. 174–5). Bis heute ist der Naturschutzes eine der tragenden Säulen des amerikanischen green state. In den 1960er-Jahren vollzog sich ein Paradigmenwechsel. Das Primat des Naturschutzes wurde abgelöst von Aspekten der Umweltverschmutzung und der Wechselbeziehung zwischen Natur und Mensch. Auch die Umweltbewegung und ihre Interessensvertretungen veränderte sich. Ihre Themen und Inhalte galten nicht mehr allein der Interessensvertretung der älteren und wohlhabenden Generation, der Jäger und Fischer. Umweltschutz wurde salonfähig für die breite Masse. Die Mitgliederzahlen etablierter Organisationen stiegen rasant und eine Reihe neuer Aktivistengruppen, wie etwa der Environmental Defense Fund, entstanden. (Kirkpatrick 1993, S. 14). Bis 1970 hatte die Regierung auf Bundesebene nur eine marginale Rolle in der Umweltpolitik gespielt. Fragen von Wasser- oder Luftverschmutzung, obwohl teilweise bereits in den 1880er-Jahren geregelt, waren bislang als bundesstaatliche oder lokale Angelegenheit erachtet worden, welche vor Ort und nicht von Washington aus geregelt werden sollten. Ausnahmen bildeten der Water Pollution Control Act von 1948 mit dem die Zentralregierung lokale Regierungen finanziell beim Bau von Kläranlagen unterstützte, und der Clean Air Act von 1963 mit dem Washington die Bundesstaaten verpflichtete, regionale Entsorgungsstandards zu formulieren, welche auf föderalen Richtlinien beruhten (Kraft und Vig 2013, S. 12; Kraft 2000, S. 22). In den 1970er-Jahren änderte sich dieses föderale laissez-faire fundamental. Nixon proklamierte die 1970er-Jahre als ‚Jahrzehnt der Umwelt‘ und unterzeichnete den National Environmental Policy Act (NEPA), die ‚Magna Charta‘ der amerikanischen Umweltgesetzgebung. NEPA versprach eine Politik der „Harmonie zwischen Mensch und Natur“ (National Environmental Policy Act 1969). Die U.S. Regierung forderte von all ihren Einrichtungen die Erklärung nationaler Umweltziele und politischer Richtlinien, sie etablierte Vorschriften, welche die Umsetzung eben jener Ziele und Richtlinien forcierten und gründete das CEQ innerhalb des Weißen Hauses, welches den Präsidenten in seiner Umweltpolitik beraten sollte (Kraft und Vig 2013, S. 13). In seltenem überparteilichen Konsensus reagierten Demokraten und Republikaner auf diesen neuen ökologischen Trend. Trotz unterschiedlicher Mehrheiten in den beiden Kongresskammern wurden zwischen 1969 und 1979 27 Umweltschutzgesetze, sowie hunderte von Verordnungen zum Umweltschutz und zur Regulierung von Umweltverschmutzung verabschiedet. (Klyza und Sousa 2008, S. 13). Zusätzlich wurden neue Institution gegründet, die wichtigste unter ihnen die EPA (Hird 1994). In ihrer Struktur war die erste Generation der modernen Umweltgesetzgebung vor allem national geprägt. Die Zentralregierung weitete ihr Befugnisse in der Regulierung von Luft, Wasser und Land aus und ersetzte eine weithin als ineffektiv angesehene einzelstaatliche Regulierung. Dieser neue Stil der föderalen ‚command-and-control regulation‘ war besonders deutlich in den Clean Air Act Amendments von 1970 und dem Clean Water Act von 1972. Beide entsprachen der

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zu dieser Zeit vorherrschenden Meinung, dass Umweltverschmutzung vor allem durch gewissenlose und profitorientierte Unternehmen verursacht würde. Architekten der frühen Umweltgesetzgebung waren überzeugt, dass dies nur durch eine starke bundesstaatliche Gesetzgebung mit entsprechenden Sanktionsmaßnahmen geändert werden konnte. Den Einzelstaaten mit ihrer starken Rückbindung an regionale und lokale Interessen sprachen sie die dafür notwendige Unabhängigkeit ab. Aus dieser Zeit stammen die bis heute tragenden Grundsätze eines cooperative federalism. Diese sahen vor, dass zunächst die Zentralregierung Gesetze verabschiedete, welche nationale Richtlinien und Standards vorgab. Danach würden die einzelnen Bundesstaaten das Management der Programme übernehmen und hätten die Freiheit, eigene Gesetze und Standards zu erlassen, sofern diese mindestens so strikt waren wie die nationalen Vorgaben. Über die Jahre hinweg und vor allem im Zuge der föderalen Deregulierungspolitik der 1980er-Jahre wurde so die tägliche Administration von Umweltprogrammen zunehmend an die Bundesstaaten ausgelagert. Zeigten sich die Bundesstaaten 1993 noch für 41 % der Programme verantwortlich, waren es 2000 bereits 75 % (Kamieniecki und Kraft 2013a, b, S. 4–7; Scheberle 2005, S. 71–2).

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Föderale Deregulierung und die ‚Anti-Umweltpolitik‘ von Reagan bis Bush Senior

Gegen Ende der Präsidentschaft von Jimmy Carter wurde deutlich, dass die ideale Vorstellung der Umweltpolitik der 1970er-Jahre der Realität nicht standhielt. Die Umsetzung der Programme und Gesetze erwies sich oft als schwieriger, und langwieriger, als angenommen. Der Kongress hatte unterschätzt, wie schnell neue Technologien den Markt eroberten und welche Kosten und Probleme die Regulierung und Erstellung von Standards für hunderte von wichtigen Industriesektoren verursachte. Zudem bekriegten sich Industrielobbyisten und Umweltorganisationen über die Umsetzung der einmal getroffenen Standards. Die von beiden Seiten angestrebten Gerichtsverfahren verlangsamten den Prozess der Gesetzgebung beträchtlich. Personelle und finanzielle Knappheit verschiedener Programme, sowie die Komplexität der ständigen Abstimmung zwischen diversen Behörden des Bundes und der Einzelstaaten zogen den Prozess der Umsetzung zusätzlich in die Länge. Nicht einmal zehn Jahre nach dem enthusiastischen Aufbruch in ein Jahrzehnt der Umwelt unter dem Dach überparteilichen Konsenses, standen der Umweltpolitik dringende Reformen ins Haus (Kraft 2000, S. 28). Die sogenannte Goldene Ära der Umweltpolitik endete mit dem Sieg des konservativen Republikaners Ronald Reagans bei den Präsidentschaftswahlen 1980. Während er als Gouverneur von Kalifornien noch Umweltschutzmaßnahmen unterstützt hatte, etablierte sich Reagan im Amt als ausgesprochener Umweltgegner. Reagan leitete den Republican Reversal, die Abwendung der Republikanischen Partei von ihren ideellen Wurzeln des Umweltschutzes ein, welcher sich bis Präsident Donald Trump fortsetzt (Turner und Isenberg 2018).

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Reagan sah in der Umweltgesetzgebung der 1960er- und 1970er-Jahre den Inbegriff eines zu starken Zentralstaats, der notwendiges Wirtschaftswachstum hindere. Hatte Carter noch Solarpanels auf das Dach des Weißen Hauses anbringen lassen und versucht, höhere Energiekosten durchzusetzen, sah Reagan den Schlüssel zur Beendigung der Energie- und Wirtschaftskrise in der Entfesselung des amerikanischen Prometheus (Turner und Isenberg 2018) 1981 verabschiedete der Kongress den Economic Recovery Act. Das Gesetz senkte die Einkommenssteuer um fast 25 % und reduzierte die Ausgaben für Umwelt- und Sozialprogramme der Regierung. In die Leitung des Innenministeriums sowie der EPA, welches zudem eine 30-prozentige Reduzierung ihres Budgets zu verkraften hatte, berief Reagan Personen, welche offen gegen eine strikte Umweltgesetzgebung standen. Sowohl Innenminister James Watt wie auch EPA Leiterin Anne Gorsuch traten für eine industriefreundliche Umweltpolitik ein. Das dem Weißen Haus zugeordnete CEQ suchte Reagan zunächst aufzulösen. Als dies aufgrund fehlender Zustimmung des Kongresses misslang, verringerte er die Mitarbeiteranzahl und ignorierte fortan seine Empfehlungen (Vig 2013b, S. 88–9). Während Reagans Präsidentschaft wurden sämtliche Umweltgesetzgebungen der 1970er auf den Prüfstand gestellt und im Rahmen einer Kosten-Nutzen Analyse neu bewertet. Reagan wollte das Ausmaß der föderalen Regulierung verringern und den Bundesstaaten und dem privaten Sektor mehr Verantwortung übereignen. Der zunächst von den Demokraten dominierte Kongress arbeitete anfänglich mit dem Präsidenten zusammen, vor allem in der Bewilligung von Sparmaßnahmen. Gerade der Haushalt der EPA wurde in dieser Zeit radikal gekürzt (Kraft und Vig 2013, S. 17). Schon bald jedoch versuchten die Demokraten die bestehende Umweltgesetzgebung vor einem zu starken Rückbau zu schützen. Die Präsidentschaft Reagans bildete das Ende eines überparteilichen Konsenses in Sachen Umweltschutz (Klyza und Sousa 2008, S. 23; Turner und Isenberg 2018). Es wäre allerdings kurzsichtig, die amerikanische Umweltpolitik der 1980erJahre rein auf Reagans Anti-Umweltpräsidentschaft zu reduzieren. Auch unter seiner Amtszeit wurden wichtige Umweltgesetze verabschiedet; darunter der Resource Conservation and Recovery Act (1984) (Kraft und Vig 2013, S. 15). Wichtiger noch, ist die wachsende Selbstständigkeit der Bundesstaaten und Lokalregierungen in punkto Umweltpolitik. Von der Bundesregierung alleingelassen, machten sie ihre eigene Politik. Bereits 1984 beispielsweise verabschiedete North Carolina sein richtungsweisendes Pollution Prevention Programm (Lester 1990). Auch die Umweltbewegung erfuhr – gerade wegen Reagans Anti-Umwelthaltung – neuen Aufschwung. Neue Vereine gründeten sich und die Mitgliederzahlen stiegen landesweit erneut stark an (Kraft und Vig 2013, S. 15). Obgleich George H. W. Busch, Reagans Vizepräsident, sich im Wahlkampf mit dem Demokratischen Gouverneur von Massachusetts, Michael Dukakis, ein umweltpolitisches Rennen lieferte, blieb er in seiner Präsidentschaft weit hinter den geweckten Erwartungen zurück. Allein die neuen Zusatzparagrafen des Clean Air Acts von 1990, welche unter anderem striktere Emissionsstandards umfasste, sowie der Energy Policy Act von 1992, welcher ein Umdenken in der Energiepolitik der USA wie z. B. die Erforschung alternativer Energien symbolisierte, stellten wichtige Umweltgesetze der Bush-Ära dar (Rosenbaum 2011, S. 11).

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Innenpolitischer Stillstand und Internationalisierung der amerikanischen Umweltpolitik

Mit W. H. Bushs Präsidentschaft lässt sich der Übergang zur dritten Periode der amerikanischen Umweltpolitik verorten. Diese prägt ein anhaltender innenpolitischer Reformstillstand, trotz des ausgesprochenen umweltfreundlichen Präsidenten Bill Clintons, wie eine zunehmende Internationalisierung. Der Tag der Erde 1990 und der UN Umweltgipfel in Rio 1992 manifestierten medienwirksam die globale Dimension moderner Umweltprobleme: Erderwärmung, grenzüberschreitende Verschmutzung, Klimaflüchtlinge, Biodiversität und Artensterben. Würden die Industrienationen für Umweltschutz in Entwicklungsregionen zahlen? Oder stand diesen Ländern nicht zunächst ein Recht auf Verschmutzung zu, bis sie einen bestimmten wirtschaftlichen Standard erreicht hatten? (Switzer 1994, S. 18; Martinez-Alier 2016). Mit der Wahl des Demokraten Bill Clinton zum Präsidenten nahmen Umweltthemen wieder eine zentralere Rolle ein. Clinton revidierte viele der Maßnahmen von Reagan und Bush senior. Er ernannte Al Gore, Autor des Buches Earth in the Balance, als Vizepräsident und strukturierte das CEQ in das White House Office of Environmental Policy um, was eine deutliche Aufwertung bedeutete. Erfolglos unterstützte er den Antrag die EPA in den Kabinettsrang zu erheben und sie zu einem regulären Umweltministerium umzugestalten (Switzer 1994, S. 19, 55). Am Ende scheiterten viele Bestrebungen Clintons um höhere Ausgaben für Umweltprogramme, alternative Energien oder Naturschutz an einem von den Republikanern dominierten Kongress. Die Auswirkungen seiner Politik blieben eher symbolisch. (Kraft und Vig 2013, S. 16; Rosenbaum 2011, S. 12). Kosteneffizienz wurde in den 1990er-Jahren und in Zeiten der Rezension zum Schlüsselbegriff. Überparteilich kritisierten Abgeordnete jedoch nicht nur die Kosten der Umweltprogramme, sondern auch, dass diese stärker von öffentlicher Meinung und Panik – beispielsweise bezüglich der Entsorgung von Giftmüll, Radon, oder Asbest, als wissenschaftlicher Forschung vorangetrieben seien (Switzer 1994). Ereignisse wie der atomare Super-GAU von Tschernobyl 1986, der Austritt von Giftgas in Bhopal, Indien 1984 oder die Ölkatastrophe der Exxon Valdez vor der Küste Alaskas 1989 führten der amerikanischen Öffentlichkeit den grenzüberschreitenden Charakter von Industrieunfällen und den damit verbundenen Umweltkatastrophen vor Augen. Die Dürre von 1988, sowie die Großbrände im Yellowstone Nationalpark nährten Theorien eines global wirksamen Treibhauseffekts. Neben Debatten um internationalen Giftmüllhandel erhielt vor allem das Thema Klimawandel zunehmende Aufmerksamkeit (Caldwell 1990, S. 303; Müller 2019). Als 1989 das Time Magazine die Erde zum ‚Planeten des Jahres‘ wählte, entsprach die Zeitschrift einer generellen Tendenz in den USA: Die Umwelt war in der öffentlichen und politischen Wahrnehmung zunehmend in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt (Time, Januar 1989). Politisch übersetzte sich diese Wahrnehmung einer zunehmend kritischen Situation nicht notwendigerweise in entsprechende Umweltgesetzgebung. Gerade das Thema Klimawandel und Klimaschutzmaßnahmen war vehement umstritten zwischen Demokraten und Republikanern und führten zu einem steten flip-flopping

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zwischen internationalem Führungsanspruch und Rückzug. Die Frage ob es den Klimawandel wirklich gibt, ob er sich wissenschaftlich belegen lässt, und wenn es ihn gibt, welche Auswirkung er auf die amerikanische Politik und Industrie haben sollte, zeichnet die politische Diskussion in den USA bis heute aus (Below 2013; Daniels et al. 2013). Unter Präsident Clinton übernahmen die USA zunächst eine internationale Führungsrolle in der Klimapolitik. 1992 unterzeichneten die Vereinigten Staaten die UN Framework Convention on Climate Change, einen Vorläufer des Kyoto-Protokolls. Vizepräsident Al Gore etablierte sich als wichtige Triebkraft der Weiterentwicklung des Kyoto-Protokolls, welches 1997 durch Clinton unterzeichnet, allerdings nicht vom Republikanisch dominierten Senat ratifiziert wurde. Mit George W. Bush im Amt vollendeten die USA ihre Abwendung von internationalen Umweltabkommen und zogen sich vom Kyoto-Protokoll zurück, nur um sich unter Obama wieder prominent auf der internationalen Bühne zurückzumelden. Bush hatte argumentiert, dass der Klimawandel wissenschaftlich umstritten sei, die internationale Umweltschutzpolitik disproportionale Belastungen für die amerikanische Wirtschaft bedeute, sowie eine Verteilungsungleichheit zwischen Industriestaaten und Staaten des globalen Südens existiere. Als eine seiner letzten Aktionen im Amt, im Gegenzug, unterzeichnete im Oktober 2016 U.S.-Präsident Barack Obama das Pariser Klimaabkommen. Am 1. Juni 2017 kündigte sein Nachfolger im Amt, Donald Trump, das Pariser Klimaabkommen wieder auf. Es war nur eine der Maßnahmen einer aggressiven Strategie zentralstaatlicher umweltpolitischer Demontage (Schniering 2008, S. 23; Greshko et al. 2019, March 15). Auch wenn Präsident Barack Obama eine eher blasse Performance attestiert wird, hat seine Administration einen wichtigen neuen Impuls gesetzt: Ökoterrorismus. Bereits in den 1990er-Jahren diskutierten Experten vereinzelt über den Zusammenhang zwischen Umwelt- und Ressourcenpolitik und nationaler Sicherheit. Damals warnte Journalist Robert Kaplan vor der Sprengkraft, die sich aus einer Kombination aus Umweltproblemen, instabilen politischen Systemen, wachsender urbaner Bevölkerung, steigender Armut und günstigen Waffen ergeben könnte (Kaplan 1994, S. 61). Ähnlich betonte 1996 Außenminister Warren Christopher die sicherheitspolitische Dringlichkeit, welche sich aus dieser ecoviolence ergäbe (Gleick 2000, 2001; Homer-Dixon 1998, 1999; Christopher in Matthew 2000, S. 107). Obama sah den Konnex aus Umwelt und nationaler Sicherheit als eine Säule seiner Umweltpolitik – auch um amerikanische Im- und Exporte aus Entwicklungsregionen abzusichern. Er wollte die USA unabhängiger von ausländischen Energielieferanten und Atomenergie sicherer machen und zugleich nachhaltigere Energieformen fördern (Matthew 2013, S. 358–9). Obamas Clean Power Plan von 2015 spiegelt diese Energiepolitik wider.

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Herausforderungen und gegenwärtige politische Zusammenhänge

Die amerikanische Umweltpolitik steht heute vor einer Reihe an Herausforderungen. Diese rangieren von einer Systematisierung und Vereinfachung der umweltpolitischen Maßnahmen, der Umstrukturierung der EPA und Fragen einer nachhaltigen

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Energiepolitik bis hin zur Positionierung gegenüber globaler Herausforderungen wie Klimawandel, CO2 Emissionen, Desertifikation, Ressourcenknappheit oder Ökoterrorismus. Unter Präsident Trump ist sie wie nie zuvor im Zentrum politischer Kontroverse. Sie ist Spiegelbild eines zunehmend aggressiv ausgetragenen, gesellschaftlichen Auseinanderdriftens der Vereinigten Staaten von Amerika wie auch einer konfrontativ ausgetragenen amerikanischen Außenpolitik des Amerika First. Eine Permanente in der amerikanischen Umweltpolitik ist eine Vereinfachung derselben. Das ursprüngliche Gerüst der 1970er-Jahre wurde je nach Problemlage stetig erweitert. Die Anzahl an Behörden und Einrichtungen wuchs, wobei Zuständigkeiten selten gebündelt oder Prozesse vereinfacht wurden. Heute basiert die Umweltpolitik auf einem dichten Netz intergouvernementaler Verbindungen, welches sich – ganz nach dem Prinzip der Gewaltenteilung – aus Institutionen aus dem legislativen, judikativen und exekutiven Bereich zusammensetzt. Zusätzlich wandelten sich in diesem Geflecht des cooperative federalism je nach politischer Großwetterlage auch die Zuständigkeiten auf lokaler und bundesstaatlicher Ebene. Als Resultat stehen heute teilweise Regularien auf den unterschiedlichen föderalen Ebenen in Widerspruch zueinander oder gehen weit über nationale Gesetze und Verordnungen hinaus, wie etwa im Fall der Umweltschutzprogramme Kaliforniens oder der Nordoststaaten. Auch die Gesetzgebung wurde zunehmend komplexer. Umfasste der Clean Air Act von 1970 noch 68 Seiten, so waren es bei den Gesetzeszusätzen von 1990 bereits 788 Seiten; die dazugehörigen Regularien zur Umsetzung umfassten um die 10.000 Seiten. Amerikanische Umweltpolitik erscheint als undurchsichtiges Gewirr von Institutionen und Verordnungen mit teilweise unklaren Zuständigkeiten (Rosenbaum 2011, S. 15). Ein Ansatz zur Vereinfachung ist die seit den 1980er-Jahren immer wieder aufkommende Bestrebung, die EPA in den Rang eines Ministeriums zu erheben – jedoch erfolglos. (New York Times 2005). Neben der Vereinfachung steht auch die Frage nach der Finanzierung und Finanzierbarkeit im Raum. Wichtiger Bestandteil der Verschlankung des politischen Apparats wäre zunächst eine Umstrukturierung der chronisch unterfinanzierten EPA. Obwohl die Aufgaben der EPA seit ihrer Gründung 1970 stark erweitert wurden, ist ihr Budget nicht mitgewachsen. Die dauerhafte Unterfinanzierung der EPA macht die Behörde langsam und behäbig. Beispielsweise schaffte es die EPA bis 1990 nur 31 der mehr als 20.000 Pestizide zu bewerten – eine Aufgabe, die zuerst 1972 und dann erneut 1988 vom Kongress angeordnet worden war. Trotz einer Deadline bis 1997, war auch 2007 die Aufgabe noch nicht vollständig erfüllt (Rosenbaum 2011, S. 16). Gleichzeitig explodierten die Kosten bestimmter Einzelprogramme, wie das Superfund Projekt von 1980 zum Aufräumen der zahlreichen Giftmülllagerstätten. 1980 mit einem Budget von 1,6 Milliarden Dollar ausgestattet, musste der Kongress bereits Mitte der 1980er-Jahre nachsteuern und das Programm auf 15,2 Milliarden Dollar aufstocken. Vermehrt führt diese Kostenexplosion zu neuen Strategien in der Umweltgesetzgebung. Umweltaktivisten kollaborieren mit Unternehmen und Industrien. Wirtschaftlichkeit, Umweltschutz und Umweltverschmutzung werden stärker zusammendenkt. Statt Verschmutzung generell zu verhindern, soll der menschliche Kontakt mit Verschmutzung und damit verbundenen Gesundheitsrisiken möglichst gering gehalten werden. Auch marktorientierte Lösungen, wie etwa der Handel mit Emissionsstandards, sind Teil dieses neuen Ansatzes (Rosenbaum 2011, S. 17–19).

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Die aggressive Anti-Umweltpolitik Donald Trumps, schließlich, stellt die amerikanische Umweltpolitik vor Herausforderungen ungekannten Ausmaßes. Ähnlich Ronald Reagans in den 1980er-Jahren, sieht Präsident Trump in gesamtstaatlichen Initiativen das Inbild des überregulierenden Staates (overreach) und die EPA als Antagonisten nationalen Wirtschaftswachstums innerhalb einer Strategie des America First. Erfolgreich verfolgt er eine radikale Wende, inklusiver der Rückkehr zu Kohle und anderer fossiler Brennstoffe, den unbedingten Schutz unternehmerischer Aktivität, die Abkehr aus dem Pariser Klimaabkommen, sowie die Aufhebung von Naturschutzmaßnahmen. Mit Scott Pruitt und Andrew Wheeler ernannte er zwei ehemalige Lobbyisten der Kohleindustrie als Leiter der EPA. Das Onlinemagazin Politico spricht vom ‚aggressivsten Roll-back von Umweltvorschriften seit Jahrzehnten‘ (Politico; Baer 2017). Die zentralen Konfliktfelder in Trumps Umweltpolitik kreisen um die Themen Klimaschutz und Energie und sind eng mit den Feldern der amerikanischen Wirtschafts-, Energie- und Außenpolitik verbunden. Trumps Austritt aus dem Pariser Klimaabkommen sehen viele Experten als ein Desaster für die amerikanische Außenpolitik (Baer 2017). Eine Gruppe von Demokraten versucht Donald Trumps aggressiver Anti-Umweltpolitik ihren Green New Deal entgegenzusetzen. Ähnlich Franklin D. Roosevelts Antwort auf die Große Depression der 1930er-Jahre, soll mit dem Green New Deal den sozialen, wirtschaftlichen und umweltpolitischen Herausforderungen des Klimawandels und seiner Folgen begegnet werden. Erneuerbare Energien und Rohstoffeffizienz sollen zwei der tragenden Säulen bilden und belegen, dass Klimaschutz und Wirtschaftswachstum komplementär sein können. Neben den politischen Maßnahmen Donald Trumps, ist es gerade der Widerstand eines großen Teils der amerikanischen Bevölkerung, darunter viele amerikanische Bundesbeamten gegen die Umweltpolitik ihres Präsidenten, der bemerkenswert ist. Am 20. Januar 2017, dem Tag der präsidentiellen Inauguration twitterte der amerikanische Parkservice ein Foto der Inauguration Trumps im Vergleich einer Luftbildaufnahme Barack Obamas 2009. War das Bild zunächst Gegenstand einer Kontroverse um die Popularität des amerikanischen Präsidenten, wurde es schnell zum Gründungsmythos einer Widerstandsbewegung amerikanischer Beamter gegen die Klima- und Umweltpolitik der neuen Regierung, aus der auch der March for Science erwuchs. Weltweit demonstrierten am Tag der Erde, zum ersten Mal 2017, mehr als eine Million Wissenschaftler gegen die Fehldarstellung der Trump Regierung bezüglich der Validität wissenschaftlicher Methoden und Daten. Diese Form des zivilen Widerstands begleitet die Trump Regierung bis heute und ist Ausdruck des generellen gesellschaftlichen Auseinanderdriftens.

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Energiepolitik unter neuen Vorzeichen Stormy-Annika Mildner, Sonja Thielges und Kirsten Westphal

Inhalt 1 Einleitung: Das energiepolitische Zieldreieck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die US-Energiewirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Die US-amerikanische Energie-Innenpolitik: Von Obama zu Trump . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Die Außendimension der Energiepolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fazit und Ausblick: Herausforderungen für die US-Energiepolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Seit mehr als einer Dekade profitieren die USA von der Förderung von Schiefergas und nichtkonventionellem Erdöl. Unter Donald Trump erleben die fossilen Energieträger auch politisch eine Renaissance, denn anders als sein Vorgänger Obama nimmt er Abstand von Regulierungen wie Emissionsstandards sowie dem Klimaschutzabkommen von Paris 2015. Im Rahmen der Paradigmen „America First“ und „Energiedominanz“ unterstützt Trump die Öl-, Gas- und Kohleförderung. Der heimischen Wirtschaft kommt der Öl- und Gasboom zugute; der außenpolitische Spielraum hat sich vergrößert. Allerdings treiben verschiedene Bundesstaaten und große Städte Energieeffizienz, den Ausbau von erneuerbaren Energien und den Klimaschutz voran, so dass sich ein sehr heterogenes Bild US-amerikanischer Energiepolitik ergibt. S.-A. Mildner Department of External Economic Policy, Federation of German Industries, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Thielges Institute for Advanced Sustainability Studies e.V., Potsdam, Deutschland E-Mail: [email protected] K. Westphal (*) Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_30

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Schlüsselwörter

Energieboom · Fracking · Klimapolitik · Umweltregulierung · Energieversorgungssicherheit

1

Einleitung: Das energiepolitische Zieldreieck

„Energie ist ein wesentlicher Bestandteil des amerikanischen Lebens und Basis der Weltwirtschaft. Die Trump-Administration setzt sich für eine Energiepolitik ein, welche die Kosten für hart arbeitende Amerikaner senkt und die Nutzung amerikanischer Ressourcen maximiert, wodurch wir von der Abhängigkeit von ausländischem Öl befreit werden“, so Präsident Donald Trump in seinem „America First Energy Plan“.1 Grundsätzlich bewegt sich die US-amerikanische Energiepolitik immer im Spannungsfeld des energiepolitischen Zieldreiecks aus Energiesicherheit, Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit. Energiepolitik ist demnach Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, Klima- und Umweltpolitik zugleich – dies gilt für die Energiepolitik der Trump-Administration ebenso wie die ihrer Vorgänger, wenngleich es deutliche Unterschiede in der Gewichtung der drei energiepolitischen Ziele gibt. Während sich Trump zum Ziel gesetzt hat, die Wirtschaft zu beleben und die USA unabhängig von Energieimporten zu machen, legte sein Vorgänger Barack Obama einen Schwerpunkt auf Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit. Präsident Obama scheute sich dabei nicht vor Eingriffen in die Märkte: er erließ nicht nur eine Vielzahl an Verordnungen, sondern stärkte auch die Umweltbehörde (Environmental Protection Agency, EPA). Präsident Trump macht hingegen nicht nur viele der Verordnungen von Obama wieder rückgängig. Anders als sein Vorgänger setzt er verstärkt auf fossile Energieträger und erklärte den Rückzug der USA aus dem Pariser Klimaschutzabkommen. Der vorliegende Beitrag beleuchtet in einem ersten Schritt die energiewirtschaftlichen Rahmendaten der USA und deren Veränderung in den vergangenen Jahren. Im Anschluss erfolgt eine Analyse der Energiepolitik unter Präsident Obama und Präsident Trump sowie der Prioritätensetzung im energiepolitischen Zieldreieck.

2

Die US-Energiewirtschaft

2.1

Energiekonsum, Energiemix und Energieproduktion

Die USA sind nach China der weltweit größte Energieverbraucher. Im Jahr 2017 verbrauchten sie 2234,9 Mio. Tonnen Öleinheiten (Mtoe). Zum Vergleich: Der deutsche Energieverbrauch belief sich im Jahr 2017 auf 335,1 Mtoe. Der Großteil Der Beitrag wurde im Juni 2019 finalisiert. Spätere Entwicklungen wurden in der Analyse nicht mehr berücksichtigt.

1

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Abb. 1 Primärenergieverbrauch der USA nach Energiequellen 1949–2018. (Quelle: Energy Information Agency. 2019. Primary Energy Overview. Table 1,3, https://www.eia.gov/totalenergy/data/ browser/?tbl=T01.03)

des US-amerikanischen Energiekonsums wird aus fossilen Energiequellen gedeckt, allen voran Öl (EIA 2018c) (vgl. Abb. 1). Der Anteil erneuerbarer Energien an der Deckung des Primärenergieverbrauchs der USA belief sich 2017 auf 11 % – Tendenz steigend. Erdgas hat an Bedeutung gewonnen, während der Anteil von Kohle am Gesamtenergiekonsum deutlich rückläufig ist. Die US-amerikanische Energy Information Administration (EIA) erwartet nach ihrem Referenzszenario des Annual Energy Outlook 2019, dass der Gesamtenergieverbrauch der USA zwischen 2018 und 2050 auf Grund von Effizienzsteigerungen in allen Sektoren relativ stabil bleiben wird. Bei einigen Energieträgern werde die Nachfrage wachsen: So werde der Verbrauch von Erdgas und Biomasse jährlich leicht steigen. Die übrigen erneuerbaren Energien (ohne Wasserkraft) werden mit 2,7 % den größten Zuwachs erfahren. Bei anderen Energieträgern, allen voran der Kohle, ist ein sinkender Konsum zu erwarten (EIA 2019b). Der Energieverbrauch in den USA ist zwar vergleichsweise hoch, der Energieverbrauch pro erwirtschafteten Dollar des BIP sank jedoch in den letzten Jahren kontinuierlich. Die EIA erwartet bis 2050, dass in allen Sektoren Energie effizienter genutzt wird, insbesondere im Transportsektor, wo ein Rückgang von 32 % bis 2050 erwartet wird. Dies basiert allerdings unter anderem auf der Annahme, dass die Trump-Administration keinen Erfolg bei ihrem aktuellen Vorhaben hat, die Effizienzvorgaben für PKW und kleine Nutzfahrzeuge, die sogenannten Corporate Average Fuel Economy (CAFE), Standards aufzuweichen (EIA 2019a). Die USA sind nicht nur der größte Energieverbraucher weltweit, sie nehmen auch eine herausragende Stellung als Energieproduzent ein (vgl. Abb. 2). Bei den drei wichtigsten Primärenergieträgern (Öl, Erdgas und Kohle) gehören sie zu den drei größten Produzenten. Die Importabhängigkeit der USA ist im Vergleich zu anderen Staaten der OECD daher relativ gering (Department of Energy 2019a).

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Abb. 2 US-Primärenergieverbrauch, Produktion, Importe und Exporte, 1949–2017, in Quadrillion Btu. (Quelle: Energy Information Administration, Primary Energy Overview, Table 1.1, https:// www.eia.gov/totalenergy/data/browser/?tbl=T01.01#/?f=M)

2.2

Die einzelnen Sektoren: Status Quo und Entwicklungstrends

Der Ölsektor: Renaissance der Förderung Die USA erlebten im vergangenen Jahrzehnt eine Renaissance der fossilen Energieträger (vgl. Abb. 3). Dies ist auf den technologischen Fortschritt bei der Förderung sogenannter unkonventioneller Kohlenwasserstoffe wie tight oil oder Schiefergas durch hydraulic fracturing (Fracking) zurückzuführen. Betrug die Rohölproduktion 2008 noch 5 Mio. Barrel Rohöl pro Tag, produzierten die USA Ende 2018 bereits rund 11,9 Mio. Barrel pro Tag – Tendenz steigend. Hauptproduzenten von Rohöl in den USA sind derzeit Texas, North Dakota, Kalifornien, Alaska und Oklahoma, sowie offshore im Golf von Mexiko (EIA 2018c). Damit haben die USA den rückläufigen Trend heimischer Produktion umgekehrt. Seit 1953 waren sie Nettoimporteur; 2020 werden sie zum Nettoexporteur (EIA 2019a, S. 14). 2017 entfielen auf die USA 20,2 % des weltweiten Konsums von Erdöl. Zugleich sind die USA seit 2014 der größte Produzent der Welt von Rohöl und Liquiden mit einem Anteil von 16,6 % (BP 2019, S. 16). Die USA verfügen über die höchsten installierten Raffinerie-Kapazitäten weltweit (BP 2019, S. 27). Nimmt man Rohöl und Ölprodukte zusammen, importierten die USA 2018 noch 9,9 Mio. Barrel pro Tag, davon nur noch 1,6 Barrel pro Tag vom Persischen Golf und 2,9 Mio. Barrel pro Tag von der OPEC. Da aber die US-Exporte mittlerweile 7,6 Mio. Barrel am Tag betragen, wurden netto nur noch 2,3 Mio. Barrel pro Tag importiert (EIA 2019i). Der Erdgassektor: Boom beim unkonventionellen Gas Das Fracking hat auch zu einem Förderboom von unkonventionellem Gas in den USA geführt. Hierzu zählen Schiefergas (Gas aus Sand-, Tonstein und Karbonatreservoiren) sowie tight gas (Gas aus dichten Gesteinen) und Kohleflözgas. Schiefergas macht mittlerweile zwei Drittel der gesamten US-Produktion aus (IEA 2018,

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Abb. 3 Energieproduktion der USA nach Energieträgern 1949–2017. (Quelle: Energy Information Administration, 2019, Primary Energy Overview, Table 1.2 https://www.eia.gov/totalenergy/data/ browser/?tbl=T01.02#/?f=M)

S. 71). Laut BP verfügen die USA nur über 6,0 % der weltweiten Erdgasreserven (BP 2019, S. 30). Allerdings beheimaten die USA laut Schätzungen der EIA mit 18,8 Billionen Kubikmetern die viertgrößten technisch nutzbaren Schiefergasreserven der Welt (EIA 2013, S. 10). Die geäußerten Zweifel an der Förderbarkeit wurden von der Realität bisher widerlegt. Auch die Folgen für die Umwelt (Flächen- und Wasserverbrauch, Anzahl der Bohrungen und Methanschlupf) sind momentan in den Hintergrund getreten. Erdgas hat im Strommix wegen seiner niedrigen Preise gegenüber der Kohle in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Die USA profitieren von dem im internationalen Vergleich niedrigen Gaspreis auch in energieintensiven Branchen, wo die Kosten der Herstellung von Aluminium und anderen Nichteisenmetallen, Stahl, Baustoffen, Kunststoffen oder Papier gemindert werden. Gleiches gilt für die chemische Industrie, wo Erdgas als Rohmaterial in der Herstellung vieler Chemikalien, Kunststoffe und Dünger verwendet wird. Ein Großteil der Erdgasexporte geht über Pipelines ins benachbarte Ausland nach Mexiko und Kanada (67,6 Mrd. Kubikmeter in 2018); vor allem aus Kanada wird auch weiterhin Erdgas importiert (77,3 Mrd. Kubikmeter) (ibid.). Für das positive Handelssaldo der USA beim Erdgas sind also LNG-Exporte verantwortlich, die sich 2018 bereits auf 28,5 Mrd. Kubikmeter beliefen. Davon wurde über die Hälfte nach Asien geliefert, 28 % in die Amerikas und nur 14 % gingen nach Europa (BP 2019, S. 40). Die US-LNG-Exportkapazität wird sich bis 2023 um mindestens weitere 80 Mrd. Kubikmeter erhöhen, womit das Land bis dahin für 50 % des weltweiten Zuwachses stehen wird (IEA 2018, S. 113). Kohlesektor: Niedergang eines Energieträgers? Die USA verfügen nach jüngsten Zahlen mit einem Anteil von 22 % über die weltweit größten erwiesenen Kohlereserven (EIA 2019c) und landen mit knapp 9,3 % hinter China (46,7 %) auf Platz zwei der weltweiten Kohleproduzenten (BP 2019, S. 44). Seit dem Beginn des Schiefergasbooms ist der Anteil von Kohle

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sowohl an der Energieerzeugung als auch am Energieverbrauch jedoch deutlich gesunken. Die Kohleförderung fiel zwischen 2012 und 2016 um knapp 30 %, verzeichnete 2017 allerdings erstmals wieder einen leichten Produktionsanstieg. Die EIA erwartet nichtsdestotrotz im Referenzfall – also unter der Annahme, dass keine großen energiepolitischen Neuerungen eintreten –, dass die Kohleproduktion in den USA bis 2035 weiter sinkt (EIA 2019a, S. 110). Die USA gehören zu den weltweit größten Kohleexporteuren. Kohle war über Jahrzehnte die wichtigste Quelle für die Stromerzeugung der USA. Entfielen 2007 noch 50 % der Nettostromerzeugung des Landes auf Kohle, betrug ihr Anteil 2018 nur noch 28 %. Die EIA erwartet, dass dieser bis 2050 auf 17 % sinken wird (EIA 2019a, S. 22). Die Schließung von Kraftwerken ist zum einen auf den scharfen Wettbewerb durch Erdgas und erneuerbare Energien als auch auf gestiegene Emissionsstandards zurückzuführen, die es besonders alten Kraftwerken erschweren, wettbewerbsfähig zu bleiben (The Economist Intelligence Unit 2018). Erneuerbare Energien: Stetig wachsender Anteil am Strommix Der Anteil der erneuerbaren Energien am Primärenergiemix der USA ist mit knapp 13 % im Jahr 2017 in den letzten Jahren kaum gestiegen (EIA 2019h). Ihr Anteil an der Stromerzeugung ist jedoch stetig gewachsen. Im Jahr 2018 basierten knapp 18 % der Stromerzeugung auf dem Einsatz erneuerbarer Energien. Den größten Anteil bei den erneuerbaren Energien hatte Wasserkraft (41 %), inzwischen dicht gefolgt von Windkraft (38,2 %), die in den letzten Jahren rasant ausgebaut wurde. Es folgen Solarenergie (9,7 %), Biomasse (8,8 %) und Erdwärme (2,3 %) (EIA 2019e, S. 125). Die EIA erwartet, dass die Stromerzeugung durch erneuerbare Energien bis 2050 auf 31 % anwachsen wird, wobei insbesondere die Solarenergie ausgebaut wird. Für die Produktion von Wasserkraft wird kein Anstieg erwartet; ihr Anteil wird, so die EIA, dementsprechend 2050 bei lediglich 18 % der erneuerbaren Stromerzeugung liegen (EIA 2019a, S. 22). Kernenergie: Stabilität trotz Schließung von Kraftwerken Mit etwa 19 % im Jahr 2018 kommt der Kernenergie eine bedeutende Rolle im US-Strommix zu, auch wenn ihr Anteil am gesamten Energiemix seit den 1990erJahren stagniert. Bei der installierten Kapazität von Kernenergie (2016: 100 Gigawatt) waren die USA auch 2016 noch weltweit an der Spitze (EIA 2019f). Momentan verfügen die USA über 98 betriebsfähige Reaktoren und 60 Kernkraftwerke (EIA 2019d). Waren nach dem Unfall von Three Mile Island 1979 für über 30 Jahre keine neuen Anlagen genehmigt worden, erlaubte 2012 die Nuclear Regulatory Commission (NRDC) den Bau und Betrieb zweier neuer Reaktoren im US-Bundesstaat Georgia. Mit dem Kernkraftwerk Watts Bar 2 ging 2016 seit Jahren der erste neue Reaktor im Staat Tennessee ans Netz. Der Reaktor ist damit der erste, der seit der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima eröffnet wurde. Die NRDC hatte in Folge der Katastrophe strengere Vorschriften für den Bau von Atomkraftwerken erlassen (EIA 2016, 2012). Sieben Kraftwerke wurden USA-weit seit 2013 stillgelegt. Zwei weitere gehen 2019 vom Netz. Für die nächsten Jahre sind weitere Stilllegungen vorgesehen. Da die Erzeugungskapazität der bestehenden Atomkraftwerke gesteigert

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wurde, hat sich die Schließung von Reaktoren bisher nicht in der Gesamtkapazität niedergeschlagen. Nichtsdestotrotz rechnet die EIA insgesamt in den nächsten Jahrzehnten aufgrund weiterer Schließungen mit abnehmender Produktion (EIA 2019g).

3

Die US-amerikanische Energie-Innenpolitik: Von Obama zu Trump

3.1

Barack Obamas „Greening the Economy“

„Es gibt keine Uneinigkeit darüber, ob unsere Abhängigkeit von ausländischem Öl unsere Sicherheit gefährdet; wir wissen es. Es gibt keine Debatte mehr darüber, ob Treibhausgasemissionen unseren Planeten gefährden; es passiert bereits. Und es ist keine Frage mehr, dass die Arbeitsplätze und Industrien des 21. Jahrhunderts um saubere, erneuerbare Energien herum entstehen werden,“ betonte Präsident Obama im Sommer 2009 (The White House 2009). Unter dem Stichwort greening the economy wollte Präsident Obama den Klimaschutz deutlich aufwerten und die Wirtschaft umstrukturieren. Bereits im Wahlkampf hatte er eine energie- und klimapolitische Wende angekündigt. Diese ist zwar ausgeblieben, da trotz wiederholter Versuche der Demokraten alle größeren energiepolitischen Gesetzesentwürfe im Kongress scheiterten. Langfristig bindende Gesetze blieben damit aus. Dennoch brachte Obama den Klimaschutz durch Dekrete und Memoranden deutlich voran. Im Zentrum von Obamas Energiepolitik standen saubere Energien (clean energy). Durch die Förderung erneuerbarer Energien, Energieeffizienz und vergleichsweise emissionsarmem Erdgas wollte Obama die Nachhaltigkeit fördern und gleichzeitig die Wirtschaft ankurbeln (Thielges 2017a). Die EPA und das Transportministerium waren dabei seine wichtigsten Verbündeten. Beide können durch ihre Regulierungen einen erheblichen Einfluss auf den Energiekonsum ausüben. Dass beide unter der Obama-Administration eine aktivere Rolle spielen konnten als unter vorherigen Präsidenten, lag vor allem daran, dass der oberste Gerichtshof in seinem Urteil „Massachusetts vs. EPA“ 2007 entschied, dass die EPA Treibhausgase regulieren müsse, wenn diese gesundheitsgefährdend seien. Die EPA stufte daraufhin Ende 2009 Treibhausgase (CO2 und fünf weitere Gase) als gefährlich für die Gesundheit und das Wohlergehen der Bevölkerung ein. Zudem erklärte sie, dass Treibhausgase aus Kfz-Motoren Mitverursacher von Luftverschmutzung sind und somit ein Gesundheitsrisiko darstellen. In der Folge konnte die Administration auf Basis des Clean Air Act von 1970 stärker regulierend tätig werden. Obamas Klimaschutzplan (Climate Action Plan) von 2013 skizzierte 75 Ziele in drei Bereichen: Reduzierung der Kohlenstoffbelastung in den Vereinigten Staaten, Vorbereitung der USA auf die Auswirkungen des Klimawandels und Führung internationaler Bemühungen zur Bekämpfung des Klimawandels. Zu den Regulierungen, welche die Obama-Administration vornahm, gehörte auch die Verschärfung der Kraftstoffverbrauchsnormen CAFE für neue Pkw und kleine Lkw. Anfang

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August 2015 stellte Präsident Obama zudem den Clean Power Plan vor. Mit ihm wollte Obama erstmals für die USA landesweit verbindliche Ziele für die Reduzierung von Treibhausgasen im Stromsektor vorschreiben. Im Vergleich zum Jahr 2005 sollte der Kohlendioxidausstoß von Kraftwerken bis 2030 um 32 % gesenkt werden. Allerdings fochten knapp 30 Bundesstaaten den Plan juristisch an, der schließlich nie umgesetzt wurde. Dennoch ergriffen zahlreiche Einzelstaaten während der Obama-Administration umfassende klimapolitische Maßnahmen. Schließlich waren die USA unter Präsident Obama ein wichtiger Treiber internationaler Klimaschutzbemühungen. Obama unterzeichnete das Pariser Klimaschutzabkommen, und die USA wurden zu einer großen Gebernation in der internationalen Klimafinanzierung (Thielges 2017b).

3.2

Trumps „America First“-Energiepolitik

Präsident Trump nutzt seinen exekutiven Spielraum, um einen deutlich anderen Schwerpunkt im energiepolitischen Dreieck zu setzen. Am Tag seiner Amtsübernahme stellte er seinen America First Energy Plan vor. Mit einer besseren Energiepolitik wollte der Präsident „die Wirtschaft ankurbeln, unsere Sicherheit gewährleisten und unsere Gesundheit schützen“ und damit „eine bessere Zukunft“ schaffen. Trump unterstrich dabei die Bedeutung fossiler Energieträger und kündigte an, die großen ungenutzten Shale Gas- und Öl-Reserven besser nutzen zu wollen. Auch die Kohleindustrie soll wiederbelebt werden – nicht zuletzt, um Arbeitsplätze zu schaffen. Ziel ist dabei nicht nur, Energiekosten für die Bevölkerung zu senken, sondern auch die Abhängigkeit von ausländischem Öl zu mindern. Zudem will Trump so auch den außenpolitischen Einfluss des Landes steigern (energy dominance). Er kritisierte zudem überbordende Regulierungen und schaffte viele Maßnahmen des Klimaschutzplans von Obama ab. Die EPA sollte dabei auf ihr ursprüngliches Mandat refokussiert werden, nämlich den Schutz von Wasser und Luft (The White House 2017a). Erneuerbare Energien spielen in seinem Energieplan kaum eine Rolle. An den vom Menschen verursachen Klimawandel scheint die Trump-Administration nicht zu glauben. Zu dem von US-Behörden Ende November 2018 vorgelegten Klimabericht (NCA 2018), der zu dem Ergebnis gekommen ist, dass der Klimawandel Hunderte Mrd. Dollar kosten könnte, sagte der Präsident: „Das glaube ich nicht“ (Tagesspiegel 2018). Zudem besetzte Trump wichtige Posten mit Kritikern der Klimaforschung und leitete den Austritt der USA aus dem Pariser Klimaschutzabkommen ein (CNBC 2017). Trump spricht mit seiner Energiepolitik seine Kernwählerschaft im „Rust Belt“ des Mittleren Westens an, wo die klassischen Industrien wie Automobile, Stahl und Kohle angesiedelt sind. Der Niedergang der Schwerindustrie und Kohleförderung begann dort vor Jahrzehnten, bedingt durch Automatisierungsprozesse, Arbeitsplatzverlagerungen und die Abwanderung von Industrien in Niedriglohnländer. Die Sicherung von Arbeitsplätzen sowie Ängste vor einem erodierenden Lebensstandard bewegen Trumps Wähler. Sie sehen sich oftmals als Verlierer der Globalisierung und des technologischen Fortschritts. So gaben in einer Umfrage, die das

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Pew Research Center im Mai und Juni 2016 durchführte, 69 % der in ländlichen Gegenden lebenden weißen Befragten an, dass neue Jobs schwer zu finden seien. Aufgrund des dürftigen öffentlichen Transportsystems gerade in ländlichen Regionen und der niedrigen Bevölkerungsdichte ist der Großteil der US-Amerikaner auf ein eigenes Auto angewiesen. Hohe Benzin- und Energiepreise wirken sich sofort auf ärmere Haushalte aus. Energiearmut – die Schwierigkeit von ärmeren Haushalten, die Energiekosten zu bezahlen – ist ein ernstes Problem in den USA. Laut einer Studie der EIA hat fast ein Drittel der US-Haushalte Mühe, ihre Stromrechnungen zu bezahlen. Vor diesem Hintergrund spielt die Kohleindustrie eine wichtige Rolle in Trumps Politik. So versprach er etwa, Arbeitsplätze in der Kohleindustrie zurück in die USA zu holen und die Strompreise zu senken. Die Politik Obamas – von vielen Konservativen als „Krieg gegen Kohle“ (war against coal) bezeichnet – wolle er beenden. Ende März 2017 unterzeichnete er ein Dekret, das mehrere Klimaschutzbestimmungen seines Amtsvorgängers rückgängig machte, aussetzte oder zur Überprüfung anwies. Zudem verfügte der Präsident, dass die Kohleindustrie wieder öffentliches Land für die Kohleproduktion pachten kann (The White House 2017b), denn mehr als 40 % der US-Kohle wird auf öffentlichem Land gewonnen. Die ObamaAdministration hatte 2016 ein Moratorium für die Verpachtung von öffentlichem Land für die Kohleförderung verhängt. Ende August 2018 schlug die EPA als Ersatz für den Clean Power Plan schließlich die Affordable Clean Energy (ACE)-Regel vor. Sie legt anders als dieser keine Emissionsminderungsstandards oder -ziele für die Bundesstaaten fest, sondern stellt den Bundesstaaten anheim, welche und ob sie Leistungsstandards festlegen möchten (EPA 2018). Ein weiterer Baustein in Trumps Energiepolitik ist die Verbesserung der Transportnetze in den USA. Dabei geht es vor allem um die Pipeline-Projekte Keystone XL und Dakota Access. Die Keystone-XL-Pipeline soll die Ölsande der kanadischen Provinz Alberta und die tight oil-Vorkommen in den US-Bundesstaaten North Dakota und Montana mit den texanischen Raffinerien am Golf von Mexiko verbinden. Da es sich bei Keystone XL um eine grenzüberschreitende Pipeline handelt, erfordern der Bau und der Betrieb eine präsidentielle Genehmigung durch das Außenministerium. Der nördliche Abschnitt der Keystone-XL-Pipeline ist seit Jahren umkämpft. Anfang November 2015 hatte Präsident Obama den Pipelineabschnitt nach erneuter Überprüfung abgelehnt. Trump versucht hingegen seit Beginn seiner Amtszeit, dies rückgängig zu machen und die Pipeline Projekte Keystone XL und Dakota Access voranzutreiben (The White House 2017c). An verschiedenen Stellen scheiterte er damit bisher zwar vor Gericht. Anfang April 2019 unterzeichnete er jedoch zwei Dekrete, die den Bau von Pipelines und anderen Projekten beschleunigen sollen, um die Förderung und den Transport von Öl und Erdgas zwischen Bundesstaaten und über internationale Grenzen hinweg zu verbessern. So wies er die EPA an, Vorschriften zu überprüfen und zu verschärfen, um es den Bundesstaaten zu erschweren, Pipelines abzulehnen, indem sie sich auf Bestimmungen des Clean Water Acts berufen (The White House 2019). Der Ausgang des Tauziehens um die Pipelines bleibt damit ungewiss. Mit dem erklärten Ziel, die Energiesicherheit der USA zu erhöhen und die Position des Landes als globaler Energieführer zu stärken, soll mehr Öl und Gas

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offshore gefördert werden (The White House 2017d). Vor den Küsten der USA liegen lukrative Öl- und Gasreserven. Exploration und Extraktion natürlicher Ressourcen in Meeresgewässern werden durch eine Reihe einzel- und bundesstaatlicher Gesetze geregelt. Außerhalb einer Zone von drei Seemeilen hinter der Küstenlinie besitzt die Bundesregierung das alleinige Verfügungsrecht über die Ressourcen bis zur Grenze der Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ), maximal 200 Seemeilen hinter der Küstenlinie. Seit der Ölkatastrophe im Santa-Barbara-Kanal vor der Küste Kaliforniens im Jahr 1969 schränkte die Bundesregierung wiederholt die Fördertätigkeit ein und etablierte maritime Schutzgebiete, in denen Forschungs- und Abbautätigkeiten verboten wurden. 1981 verhängte der Kongress erstmals ein Moratorium für die Vergabe von Pachtlizenzen zur Öl- und Gasförderung im sogenannten Outer Continental Shelf der USA; offshore-Förderung war damit in 85 % der territorialen Gewässer der USA untersagt. Diese Politik endete jedoch mit Trump. Im Januar 2018 kündigte das Innenministerium an, Bohrungen in nahezu allen US-Gewässern zuzulassen. Gegenwind erfuhr Präsident Trumps Vorhaben allerdings von 15 Gouverneuren aus den betroffenen Bundesstaaten, insbesondere aus Florida und Kalifornien. Zudem erklärte eine Bundesrichterin in Alaska Ende März 2019 das entsprechende Dekret des Weißen Hauses als „rechtswidrig und ungültig“. Innenminister David Bernhardt kündigte daraufhin an, die Trump-Regierung werde die Pläne vorerst nicht weiter vorantreiben. Der Präsident versucht allerdings auf anderem Weg, die Offshore-Förderung zu erleichtern. Bereits 2017 hatte das dem Innenministerium unterstellte Bureau of Safety and Environmental Enforcement (BSEE) Vorschläge vorgelegt, um die Anforderungen an Sicherheit und Umweltschutz bei Ölbohrungen im Meer zu lockern. Im Mai 2019 legte die Aufsichtsbehörde dann mehrere neue Regeln vor, welche die Anforderungen deutlich senken (BSEE 2019). Schließlich hat sich Präsident Trump vorgenommen, die Effizienz-Standards für PKWs und leichte Nutzfahrzeuge zu lockern, die sein Vorgänger deutlich angezogen hatte. Anders als Obama sieht er den hohen Ölkonsum im Transportsektor nicht als Problem für die Energiesicherheit der USA an. Im August 2018 stellten die EPA und die National Highway Traffic Safety Administration die Safer Affordable FuelEfficient (SAFE) Vehicles Regulierung vor (EPA 2018). Die neue Vorschrift sieht vor, den bestehenden Kraftstoffverbrauchsstandard beizubehalten, der bis 2020 auf 37 miles per gallon (mpg) ansteigt, und ihn danach auf diesem Niveau einzufrieren. Dies hätte Auswirkungen auf die Effizienz von Fahrzeugen: Neue Autos, die den Standard der Obama-Administration erfüllen, wären bis 2025 etwa 25 % sparsamer als jene nach der neuen Vorschrift. Allerdings schlägt dem Präsidenten auch hier Widerstand entgegen. Kalifornien und 16 weitere Bundesstaaten legten Klage gegen die beabsichtigte Lockerung der Regeln ein. Auch die Autoindustrie ist unzufrieden mit der Politik Trumps, da es aufgrund des Rechtstreits zwischen Washington und den Bundesstaaten auf dem US-Automarkt zu unterschiedlichen Standards kommen könnte – was wiederum erhebliche Kosten für die Industrie nach sich ziehen würde. Ob die SAFE-Regulierung daher tatsächlich umgesetzt wird, ist ungewiss.

Energiepolitik unter neuen Vorzeichen

3.3

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Renaissance der Energiepolitik im Kongress?

Bereits während der Obama-Administration waren im Kongress zahlreiche Gesetzesentwürfe gescheitert, die dem Land eine ‚saubere‘ Energieversorgung mit geringerer Abhängigkeit von fossilen Energieträgern ermöglichen sollten. Der Kongress verlängerte allerdings in dieser Zeit mehrfach Steuervergünstigungen für die Produktion von erneuerbaren Energien, den sogenannten Production Tax Credit (PTC). Auch der 115. Kongress (2017–2018) brachte zu Beginn der Amtszeit Trumps vor allem eine Vielzahl erfolgloser Gesetzesinitiativen im Energiebereich hervor. Darunter befanden sich Initiativen, die erneuerbare Energien und Energieeffizienz fördern sollten, wie beispielsweise der 100 by 50 Act für 100 % Erneuerbare Energien in der Stromversorgung oder auch der American Renewable Energy and Energy Efficiency Act, der neben Erneuerbaren auch Verbesserungen im Bereich Energieeffizienz erreichen wollte. Immer wieder gab es auch Gesetzesvorschläge, um die Regulierungsmacht der EPA im Energiebereich zu beschränken. Den einzigen energiepolitischen Erfolg im 115. Kongress hatte die Atomkraft zu verzeichnen. Dies ist überraschend angesichts des oben beschrieben Trends, mehr und mehr Atomkraftwerke vom Netz zu nehmen. Und auch in der Energiepolitik der Trump-Administration spielte Atomkraft bisher kaum eine Rolle. Allerdings genießt die Atomkraft parteiübergreifend Zustimmung und nukleare Technologien bergen in den Augen der Trump-Administration Exportpotenzial. 2018 verabschiedete der Kongress zwei Gesetze, welche die Stellung der Atomkraft in der Stromversorgung stärken sollen. Der Nuclear Energy Innovation and Modernization Act soll die Regulierung im Bereich Nuklearenergie durch die NRC so anpassen, dass Innovationen in der Reaktortechnologie unterstützt werden und finanziellen Ressourcen der Industrie verbessert werden. Der Nuclear Energy Innovation Capabilities Act stellt Mittel für Forschung und Entwicklung im Bereich nukleare Technologien bereit, um so die Entwicklung neuer Reaktortechnologien zu fördern. Dass diese Gesetze von beiden Parteien unterstützt und von Präsident Trump unterzeichnet wurden, mag auch daran liegen, dass sie keinen Bezug zum Klimaschutz herstellen. Saubere Energien, zu denen dem US-Verständnis nach erneuerbare Energien, Energieeffizienz-Maßnahmen sowie Atomkraft – teilweise auch Erdgas – zählen, haben im US-Kongress nach wie vor einen schweren Stand. Zwar ist im 116. Kongress (2019–2020) mit der neuen Demokratischen Mehrheit im Repräsentantenhaus die Zahl der Klimaskeptiker etwas gesunken. Schätzungen zu Folge sind jedoch weiterhin 60 % der Republikaner im Kongress und damit knapp ein Viertel der Kongressabgeordneten dem klimaskeptischen Lager zuzuordnen (Center for American Progress Action Fund 2019). Nichtsdestotrotz haben es saubere Energien in der zweiten Hälfte von Trumps erster Amtszeit mit mehr Vehemenz auf die Agenda des Kongresses geschafft. So zeichnen sich womöglich die Anfänge eines neuen energiepolitischen Denkens im 116. Kongress ab, wo erstmals seit fast einem Jahrzehnt wieder Anhörungen zum Thema Klimawandel in Ausschüssen stattfinden (Niiler 2019).

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Zu verdanken ist die neue energiepolitische Debatte nicht zuletzt auch einer Initiative der Demokratischen Kongressmitglieder Ed Markey und Alexandria Ocasio-Cortez. Ihr neu entwickeltes Konzept des Green New Deal sieht saubere Energien nicht nur als Antwort auf den Klimawandel, sondern betont vor allem auch deren Potenzial für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes, die Gesundheit der Bevölkerung und den Schutz der Umwelt. Das Konzept nimmt Bezug auf den New Deal der 1930er-Jahre. Dieser habe, so kritisieren die Demokraten, zwar erfolgreich eine Mittelschicht in den USA hervorgebracht, jedoch benachteiligten Gruppen in der Bevölkerung keine wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Chancen geboten. Der Green New Deal solle nun Chancen für die gesamte Bevölkerung schaffen. Das als Resolution im Repräsentantenhaus eingebrachte Konzept sieht unter anderem vor, über einen Zeitraum von zehn Jahren in die Erneuerung und den Aufbau von nachhaltiger, klimaresilienter Infrastruktur zu investieren, Treibhausgasemissionen zu eliminieren, den Strombedarf vollständig durch saubere Energie zu decken, die Landwirtschaft nachhaltig umzugestalten, Gebäude energieeffizient zu sanieren und den Transportsektor auf nachhaltige Verkehrsmittel umzustellen. Der Green New Deal hat auch auf Seite der Republikaner eine Reaktion hervorgerufen. Eine Gruppe von Abgeordneten hat bereits mit einer eigenen marktbasierten Strategie reagiert, um den Klimawandel zu bekämpfen und Arbeitsplätze zu schaffen. Die führenden Republikaner im Energieausschuss des Repräsentantenhauses wollen Mechanismen stärken, die Innovationen und Investitionen im Bereich sauberer Energietechnologien unterstützten. Dazu zählen beispielsweise Batterietechnologien und CO2-Abscheidung und Speicherung (Carbon Capture and Storage, CCS). Durch ihre Technologieführerschaft könnten die USA, so die Republikaner, auch den Rest der Welt bei der Minderung von Emissionen unterstützen (Walden et al. 2019). Sowohl auf Demokratischer als auch auf Republikanischer Seite geht es nun vor allem darum, parteiübergreifende Lösungen zu finden, um Mehrheiten für Gesetzesentwürfe zu organisieren. Angesichts der starken Polarisierung muss bereits als Erfolg verzeichnet werden, dass es Klimawandel und saubere Energien überhaupt wieder auf die Agenda des US-Kongresses geschafft haben.

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Die Außendimension der Energiepolitik

Energie ist seit jeher ein wesentlicher Bestandteil der Außenpolitik der USA. Der Förderboom bei Öl und Gas führt dazu, dass die USA ihre außenpolitischen Interessen neu formulieren. Tom Donilon, der nationale Sicherheitsberater von Präsident Obama, führte bereits im April 2013 aus: „Unter der Führung von Präsident Obama verlagern wir unsere Position im Bereich Energie weg von der Passiv- hin zur Aktivseite, welche unser Land stärkt und unsere internationale Führungsrolle untermauert“ (The White House 2013). Unter Obama verstärkten sich Trends, die bereits in der Außenpolitik angelegt waren. Sein Motto lautete nation building at home – zunächst sollten die eigenen Probleme gelöst werden. Gleichzeitig setzte Obama auf multilaterale Abkommen zur Wahrung und dem Schutz globaler Güter. Beispielsweise forderte er den Kongress auf, die United Nations Convention of the Law of the Sea (UNCLOS) zu

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ratifizieren, um potenzielle Spannungen im Süd- und Ost-Chinesischen Meer sowie in der Arktis einzuhegen. Ein weiteres Merkmal von Obamas Außenpolitik war der pivot to Asia, die Neuorientierung in Richtung Asien, um insbesondere ein Gleichgewicht zu Chinas wachsender ökonomischer und politischer Macht in der Region herzustellen. Mit dem America-first Ansatz und der damit eng verknüpften Energiedominanzstrategie, die Präsident Trump auch in seiner nationalen Sicherheitsstrategie von 2017 verankerte, wandelt sich die Energie-Außenpolitik erneut. Trump setzt auf einen unilateralen Kurs, der die Souveränität und Sicherheit der USA im Fokus hat. Multilateralen, völkerrechtlich-bindenden Abkommen steht der Präsident kritisch gegenüber. Im Handelskonflikt und angesichts der Großmachtrivalität mit China möchte Trump zudem mit Energieinvestitionen und -exporten in Entwicklungs- und Schwellenländer Partnerländern eine Alternative zum chinesischen Einfluss anbieten. Auch die Entwicklungspolitik spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Mit der Eröffnung der neuen Entwicklungsfinanzierungsbehörde U.S. Development Finance Corporation (DFC) im Oktober 2019 werden beispielsweise mehr Mittel als zuvor in Investitionen im Energiesektor fließen. Trumps Energieaußenpolitik zielt auch auf die Unterstützung von Öl- und Gasexporten aus den USA. Rohölexporte waren bis 2015 bis auf Ausnahmen grundsätzlich verboten (BIS 2013, S. 2–3). Im Zuge des Fracking-Booms wurde jedoch so viel gefördert, dass Engpässe bei der Verarbeitung und dem Transport entstanden. Exporte waren deswegen wichtig, um die Förderung aufrechtzuerhalten und auszuweiten. Präsident Obama hob daher 2015 das Exportverbot auf. Gasexporte waren nicht verboten, benötigten aber laut dem Natural Gas Act of 1938 eine Lizenz vom DOE. War der Empfänger der Gasexporte ein Land, mit dem die USA ein Freihandelsabkommen ( free trade agreement, FTA) unterzeichnet hatten, wurde die Lizenz „ohne Änderungen oder Verzögerung gewährt“ (DOE 2013). Ging es allerdings um Exporte in ein Land, welches kein FTA-Partnerland war, so musste das DOE zunächst entscheiden, ob die Exporte im nationalen Interesse waren (Ratner et al. 2013, S. 18). Der Bau und die Erweiterung von LNG-Exportterminals müssen traditionell vom DOE autorisiert werden. Präsident Obama genehmigte 2011 erstmalig Lizenzen für den Bau von LNG-Exportterminals, um den Erdgas Förderboom aufrechtzuerhalten. Diese erlaubten es den USA, ihre Rolle als Gasexporteur rasant auszubauen. Mit der Fertigstellung des ersten Terminals 2016 begannen erstmals großangelegte Exporte von LNG. Ende 2018 waren denn auch drei Terminals mit einer Verflüssigungskapazität von rund 28 Mrd. Kubikmetern jährlich in Betrieb. Bis 2023 werden voraussichtlich mindestens 80 Mrd. Kubikmeter jährlich hinzukommen. Im August 2018 setzte der Präsident Trump per Dekret zudem die Beschränkungen für kleinere LNG-Exporte an nicht-FTA Länder herab, um diese anzukurbeln (Department of Energy 2018). Mit den sinkenden Hemmnissen für Exporte drängen seit 2017 steigende Mengen an Erdgas, Rohöl und Ölprodukten aus den USA auf die internationalen Märkte und konkurrieren um Marktanteile. So haben die USA mit der Fracking-Revolution die Öl- und Gasmärkte rasant verändert. Während traditionelle Produzenten an (Markt) Macht verloren haben, wachsen das Gewicht und die Gestaltungsmöglichkeiten der

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USA. Die Tatsache, dass die USA Zugang zu günstiger und sicherer Energie aus dem eigenen Land haben (‚self-sufficiency‘), lässt die USA in der Außenpolitik zunehmend unabhängig und unilateral agieren. Dies verstärkt geopolitische Konflikte etwa mit Russland aber auch dem Iran. Infolge der neu ausgerichteten Energiepolitik haben sich die USA zu einem disruptiven Akteur auf den Energiemärkten entwickelt, wodurch die Marktmacht der OPEC gebrochen wurde. Darüber hinaus eröffnet die Unabhängigkeit den USA die Möglichkeit, gegen Russland und Venezuela unilateral Strafmaßnahmen zu verhängen und das Atomabkommen mit dem Iran 2018 aufzukündigen. Diese Sanktionen entfalten auch extraterritoriale Wirkungen unter anderem gegenüber den Europäern, was wiederum eine Politisierung der Öl- und Gasmärkte befördert (Lohmann und Westphal 2019). Im Kontext der Ukraine-Krise und den von Russland vorangetriebenen Bau der Nord Stream 2 Pipeline durch die Ostsee nach Deutschland treibt die Trump-Administration aktiv den Bau von LNG-Anlandeterminals in Europa für den Import von ‚freedom gas‘ aus den USA mit der Maßgabe voran, die Europäer aus der Abhängigkeit von Russland herauszulösen. Der neue Energiereichtum der USA wirkt sich auf das transatlantische Verhältnis aus. Zum einen verlieren die Europäer ihren traditionellen Partner unter den großen Verbraucherländern, zum anderen sind die EU von den unilateralen Sanktionen der USA im Energiebereich zunehmend in ihrer eigenen Handlungsfähigkeit eingeschränkt (Lohmann und Westphal 2019). Ferner ist geoökonomisch von Bedeutung, dass sich die Kluft zwischen den Energiepreisen in den USA und in der EU verfestigt. Auch im Handelsstreit zwischen den USA und China wurden als chinesische Gegenmaßnahme die US-LNG Importe mit einem Zoll in Höhe von 10 % belegt und eine weitere Erhöhung auf 25 % angedroht (Reuters 2019). Besonders im Fokus US-amerikanischer Außen- und Energiepolitik war seit jeher der Nahe und Mittlere Osten. Hier haben die USA de facto ihr erklärtes Ziel erreicht, sich weitgehend unabhängig von der instabilen Region zu machen. Der gestiegene Handlungsspielraum in der Region führt zu einer Neu-Justierung der Politik. Zwar behält die Region am Golf mit der Kündigung des Atomabkommens mit dem Iran, dem Krieg in Syrien, Israel, Irak und Afghanistan weiterhin Priorität. Aber die USA agieren nicht mehr als Garant der regionalen Ordnung. Die Trump-Administration suchte vielmehr einen engen Schulterschluss mit Saudi-Arabien, mit zunehmend negativen Auswirkungen auf die regionale Stabilität. In Zukunft ist ungewiss, dass die USA wie in der Vergangenheit die freie Schiffspassage vor allem von Öl- und LNG-Tankern durch die Straße von Hormus, den Suezkanal in Ägypten sowie Bab al-Mandab garantieren werden. Da das Gros der Mengen nach China und Indien geht, könnte sich an der Kontrolle über Handelsrouten ein weiterer Brennpunkt im Großmachtkonflikt zwischen China und den USA entwickeln.

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Fazit und Ausblick: Herausforderungen für die US-Energiepolitik

Unter Präsident Donald Trump erleben die fossilen Energieträger politisch eine Renaissance, denn anders als sein Vorgänger Präsident Obama nimmt er Abstand von Regulierungen wie Emissionsstandards sowie dem Klimaschutzabkommen von

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Paris 2015. Im Rahmen der Politik des America First, Affordable Energy und Energy Dominance unterstützt die Trump-Administration den Öl-, Gas- und Kohlesektor. Um diese Ziele zu erreichen, setzt das Weiße Haus, wie auch unter Obama, auf präsidentielle Dekrete, Memoranden und Regulierungen der Bundesbehörden wie der EPA. Der heimischen Wirtschaft kommt der Öl- und Gasboom zugute. Außenpolitisch ist der Spielraum durch die komfortable Versorgungssituation mit eigenen Energieträgern enorm gewachsen. Allerdings weht Trump auch Gegenwind entgegen: Mehrere Bundesstaaten und Umweltbehörden fechten seine Dekrete vor Gericht an; einige wurden bereits für ungültig erklärt. Der Kongress hat mit dem Green New Deal eine klimapolitische Debatte begonnen, die sich auch im anlaufenden Präsidentschaftswahlkampf wiederspiegelt. Zudem treiben verschiedene Bundesstaaten und große Städte Energieeffizienz, den Ausbau von erneuerbaren Energien und den Klimaschutz voran, sodass sich ein sehr heterogenes Bild US-amerikanischer Energiepolitik ergibt. Wie sich diese Entwicklungen langfristig auf die Energiepolitik der USA und die Prioritätensetzung im energiepolitischen Zieldreieck der Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit auswirken werden, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht eindeutig absehbar. Klar ist jedoch, dass es unter den gegebenen Umständen in den USA schwierig ist, das Ziel der Nachhaltigkeit erfolgreich umzusetzen. Angesichts der Vorkommen billiger fossiler Energieträger, der Aussicht auf Unabhängigkeit von Importen aus politisch instabilen Regionen und der Abwesenheit von landesweiten Klimazielen findet keine grundlegende Energietransformation statt, auch wenn erneuerbare Energien eine saubere und günstige Alternative darstellen und die USA auch in diesem Bereich Technologieführer sind. In der Folge könnte der Boom bei den fossilen Energieträgern zu einer Perpetuierung des fossilen Nutzungspfades führen, anstatt als Brücke zu einem nachhaltigeren Energiesystem genutzt zu werden.

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Sicherheitspolitik Terrorismusbekämpfung zwischen Einhegung und Eskalation Lars Berger

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Präsidentielle Problemdefinitionen und Schwerpunktsetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Kontinuität und Wandel in den Bedrohungswahrnehmungen in der US-Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Institutionelle Anpassungen in der Terrorismusbekämpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Die Bedrohung durch terroristische Gewalt war in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts von zentraler Bedeutung für die USA. Die katastrophalen Anschläge des 11. September 2001 zwangen die politischen Eliten zu der Erkenntnis, dass althergebrachte Strukturen und Strategien nur bedingt eine Antwort auf die sich seit dem Ende des Ost-West-Konflikts verändernden Herausforderungen an die nationale Sicherheit der USA lieferten. Dies hatte auf institutioneller Ebene eine Reihe von Reformen zur Folge, deren Ziel es war, die Aufgabenstellung bestehender Institutionen neu zu justieren, besser zu koordinieren oder wie im Falle des Heimatschutzministeriums und des Director for National Intelligence gänzlich neu zu schaffen. In der Formulierung konkreter Strategien zur Bekämpfung des Terrorismus mussten Entscheidungsträger immer wieder die Antwort auf die Frage nach dem Grad der Bedrohung und den damit verbundenen Gegenmaßnahmen neu justieren. Unter den Präsidenten Obama und Trump trat dann zunehmend die Frage in den Vordergrund, inwieweit die

L. Berger (*) Fachbereich Nachrichtendienste, Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_33

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Verknüpfung der Terrorismusbekämpfung mit anderen Feldern der Innen- und Außenpolitik (wie beispielsweise der Migrationspolitik oder der weiteren Nah-/ Mittelostpolitik) notwendig oder gar hinderlich ist und ob die Fokussierung auf den islamistischen Terrorismus der Al-Qaida und des Islamischen Staates angesichts des (Wieder-)Aufkommens eines rechtsextremistischen Terrorismus angebracht ist. Schlüsselwörter

Homeland Security · Öffentliche Meinung · Nachrichtendienste · Nationale Sicherheit · War on Terror

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Einleitung

In den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts stellte die Frage nach dem Schutz vor terroristischen Anschlägen und der Verminderung der Kapazitäten transnational operierender Terrororganisationen ein zentrales Motiv der innen- und außenpolitischen Debatte in den USA dar. Die willkürliche Verletzung oder Tötung von Zivilisten berührt das Sicherheitsempfinden eines jeden US-Bürgers und damit auch die zentrale Aufgabe staatlicher Strukturen, die innere und äußere Sicherheit zu gewähren. Dabei ergibt sich die besondere Aufmerksamkeit aus dem spezifischen Charakter des Terrorismus. Als medienträchtige Kommunikationsstrategie erreicht er weite Teile der US-amerikanischen Öffentlichkeit. Der dadurch erzeugte Handlungsdruck kann von politischen Entscheidungsträgern nur schwer ignoriert werden. Die terroristische Gefahr steht daher in einem engen Wechselverhältnis mit den innenpolitischen Strukturen und Entscheidungsprozessen. So bestimmen natürlich die innenpolitische Debatte und institutionelle Gegebenheiten, auf welche Weise Terrorismus bekämpft wird (Crenshaw 2001). Auf der anderen Seite hat der Terrorismus auch deutlichen Einfluss auf die Innenpolitik und die Wahlchancen von Politikern (Indridason 2008). Hier kommt erschwerend hinzu, dass sich der Terrorismus und damit die Anstrengungen hinsichtlich seiner Bekämpfung durch eine gewisse Episodenhaftigkeit auszeichnen. Lange Phasen der vermeintlich reduzierten Relevanz wechseln sich dabei ab mit Momenten eines enormen öffentlichen Interesses und des damit verbundenen politischen Handlungsdrucks. Unabhängig von der weiterhin umstrittenen Antwort auf die Frage nach der tatsächlichen Gefahr, welche vom Terrorismus für den Einzelnen oder gar für Staat und Gesellschaft als Ganzes ausgeht, muss daher jeder Politiker die Wahlbevölkerung von der eigenen Kompetenz im Bereich der Terrorismusbekämpfung überzeugen. Ein Vergleich der Administrationen George W. Bushs, Barack Obamas und Donald Trumps offenbart dabei unbestreitbare Unterschiede in der Problemdefinition und der daraus resultierenden Politik. Die kritische Analyse der sich in diesem Spannungsfeld ergebenden Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der institutionellen Untermauerung und konkreten politischen Ausformung US-amerikanischer Terrorismusbekämpfung ist das Ziel des folgenden Überblicks.

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Präsidentielle Problemdefinitionen und Schwerpunktsetzungen

Die Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Diskurs US-amerikanischer Präsidenten hilft uns, den Kontext und das Kalkül hinter den Verschiebungen im Institutionengeflecht und in konkreter Terrorismusbekämpfungspolitik zu verstehen. Wie die Epoche seit dem Aufkommen des internationalen Terrorismus in den 1960er-Jahren im Allgemeinen und des transnationalen islamistischen Terrorismus seit den 1990erJahren im Speziellen gezeigt hat, ist die Einordnung der terroristischen Bedrohung einem stetigen Wandel unterworfen. Im Zuge des sich erweiternden Sicherheitsbegriffs begannen politische Eliten, nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes neue Bedrohungen nationaler Sicherheit ins Auge zu fassen, die in ihrem Charakter grundsätzlich transnational waren. Dazu gehörten neben den Fragen der Nachhaltigkeit und der Stabilität des globalen Wirtschaftskreislaufs auch sicherheitspolitische Herausforderungen im engeren Sinne wie die organisierte Kriminalität und eine scheinbar neue Art des Terrorismus, der sich in Organisation und Aktion nicht an staatliche Grenzen hielt. Die Frage nach der territorialen Verwurzelung diesen neuen Terrorismus lies dann auch die Frage aufkommen, inwiefern dieser mit dem Aufkommen schwacher oder gar unregierbarer Staaten zusammenhängt (Dorff 2005). So hatte beispielsweise das vom Bürgerkrieg geplagte Afghanistan unter dem Minimalregime der Taliban, die keinerlei Interesse am Aufbau effizienter Strukturen hatten, al-Qaida unter Osama Bin Laden ein Rückzugs- und Trainingsgebiet geboten. In der jüngeren Vergangenheit profitierte der sogenannte Islamische Staat von labilen staatlichen Strukturen im Irak, Syrien und Libyen (Byman 2016). Kritiker einer verengten Sichtweise auf die sogenannten failed states verwiesen jedoch darauf, dass Staatsversagen oder Räume verringerten staatlichen Einflusses auch innerhalb der vermeintlich stabilen staatlichen Strukturen westlicher Industrieländer existieren (Simons und Tucker 2007). Zudem verdeutlicht die Fähigkeit der Al-Qaida und des Islamischen Staates, in autoritären arabischen Diktaturen zu rekrutieren, dass das Problem insbesondere im Bereich des Mangels legitimer Herrschaft liegt, welches nicht nur Failed States betrifft, sondern auch vermeintliche Partner der USA (Berger 2007; Milton 2017). Eng verknüpft mit der geografischen Verortung der terroristischen Gefahr ist auch die Frage nach der angemessenen Art seiner Bekämpfung. Je deutlicher die Bedrohung geografisch verankert ist, umso stärker werden Forderungen nach dem Einsatz militärischer Mittel. Entgegen dem weitverbreiteten journalistischen und akademischen Diskurs hatte nicht die Bush-Administration die Verwendung des Kriegsbegriffs für die Auseinandersetzung mit dem transnationalen islamistischen Terrorismus eingeführt. Führende Repräsentanten der Clinton-Administration wie Außenministerin Albright und Verteidigungsminister Cohen hatten bereits Osama Bin Ladens Kriegserklärung von Anfang 1998 und die darauf folgenden Anschläge auf US-Botschaften in Kenia und Tansania als Kriegsakt eingestuft und dementsprechend die Führung der Al-Qaida zum legitimen militärischen Ziel erklärt (Berger 2007).

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Für die Bush-Administration war die Entscheidung, den Begriff „Krieg“ auf die Reaktion der USA auf die Anschläge des 11. September anzuwenden, in zweierlei Hinsicht von Bedeutung. Erstens suggerierte der Begriff des „Krieges“ die Möglichkeit eines entscheidenden, gegen eine Taktik wie den Terrorismus eigentlich unmöglichen, militärischen Sieges. Seine Nutzung erlaubte der Bush-Administration jedoch, den für den Aufstieg und die Bekämpfung des islamistischen Terrorismus absolut irrelevanten Irak rhetorisch im war on terror zu verankern (Berger 2007). Als Präsident Bush in seiner Rede zur Lage der Nation am 29. Januar 2002 den Irak in eine „Achse des Bösen“ einreihte, konnte er an bereits bestehende Topoi anknüpfen, seien es Ronald Reagans „Konföderation terroristischer Staaten“ in Bezug auf den Iran und Nordkorea oder Bill Clintons Liste sogenannte Backlash States wie Kuba und Libyen (Ebd., S. 77–78). Zweitens erlaubte die Einordnung des Kampfes gegen den Terrorismus als Krieg, wie in Krisenzeiten üblich, weitere Macht im Weißen Haus zu zentralisieren. Für Vizepräsident Dick Cheney war dies eine Herzensangelegenheit: „In 14 years, I have repeatedly seen an erosion of the powers and the ability of the president of the United States to do his job. (. . .) I feel an obligation (. . .) to pass on our offices in better shape than we found them to our successors.“ (zitiert in Savage 2006).

Präsident Obamas Bestreben, sich von Präsident Bush durch rhetorische Deeskalation abzusetzen, zeigte sich in seiner Executive Order 13492, mit der er als erste Amtshandlung die Schließung des Gefangenenlagers in Guantanamo Bay anordnete. Fehlende Unterstützung durch den Kongress, der die Schließung durch das ausdrückliche Verbot entsprechender finanzieller Zuwendungen verhinderte, zeigt, inwiefern der Kongress, so es seine Mehrheiten denn wollen, über die power of the purse Einfluss auf die Terrorismusbekämpfungsstrategien nehmen kann. Für Obama ging es neben einer normativen Einhegung der Abwehrmaßnahmen auch darum, die terroristische Gefahr wieder auf eine der „tatsächlichen“ Bedrohung entsprechende Ebene herunterzustufen (McCrisken 2011). Dies zeigt sich am deutlichsten in seiner Rede an der National Defense University in Fort McNair: „In the 1980s, we lost Americans to terrorism at our Embassy in Beirut; at our Marine Barracks in Lebanon; on a cruise ship at sea; at a disco in Berlin; and on a Pan Am flight – Flight 103 – over Lockerbie. In the 1990s, we lost Americans to terrorism at the World Trade Center; at our military facilities in Saudi Arabia; and at our Embassy in Kenya. These attacks were all brutal; they were all deadly; and we learned that left unchecked, these threats can grow. But if dealt with smartly and proportionally, these threats need not rise to the level that we saw on the eve of 9/11.“ (Obama 2013)

Für Obama bedeutete Proportionalität im Umgang mit dem islamistischen Terrorismus einerseits klare Signale der Kooperation mit und des Respekts vor der muslimischen Welt und seinen Menschen (siehe seine Rede in Kairo im Juni 2009) und die Verringerung der militärischen Präsenz im scheinbar irrelevanten Kriegsschauplatz Irak sowie andererseits die Eskalation gezielter Militärschläge gegen Mitglieder der Al-Qaida, wie in der erfolgreichen Operation gegen Osama Bin Laden im Mai 2011. Die dramatische Zunahme der Drohnenschläge in Afghanistan (Bush: 48, Obama: 353) und dem Jemen (Bush: 1, Obama: 184) entsprach durchaus den Präferenzen der

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US-Öffentlichkeit, die dem Einsatz von Bodentruppen gegen Terroristen (54 % Befürwortung, nach 82 % im Jahr 2002) skeptischer gegenüber standen als Luftschlägen (71 %) und der gezielten Tötung vermeintlicher Terroristen (70 %) (Smeltz 2012). Unter Präsident Trump kam es dann zu einer abrupten Kehrtwende hinsichtlich der strategischen Einordnung und spezifischen Definition der terroristischen Bedrohung. Dies zeigt sich bereits im Vergleich der im Goldwater-Nichols Act vom Kongress vorgeschriebenen und vom Weißen Haus vorgelegten National Security Strategien. In den Jahren 2002 und 2006 erwähnte die Bush-Administration in diesen Dokumenten den Terrorismus 94 beziehungsweise 124 Mal. Unter Obama sanken die Werte auf 57 Mal innerhalb eines sehr spezifischen Fokus auf Al-Qaida im Jahr 2010 und gar nur 37 Mal innerhalb einer meist allgemeinen Diskussion zu transnationalen Fragen wie Nonproliferation oder Klimawandel. Mit ihrer 82-fachen Erwähnung des Terrorismus reicht Präsident Trumps NSS fast an die Frühphase der Bush-Administration heran. Interessant sind auch die Ähnlichkeiten in der Sprachwahl: die Beschwörung, in der Einleitung der NSS, einer „außergewöhnlich gefährlichen Welt“, in der „Schurkenregime“ und islamistische Terroristen ungestraft regionale und globaler Sicherheit bedrohen (White House 2017b, S. I), ähnelt sehr Präsident George W. Bushs Begriff der „Achse des Bösen“. In seiner Rede zur Amtseinführung hatte Präsident Trump, ebenfalls ähnlich den ersten Verlautbarungen der US-Regierung nach dem 11. September, bereits die vollständige Eliminierung des „radikalen islamischen Terrorismus“ versprochen (White House 2017a). Dies ist von Bedeutung, als dass Trump sich hier deutlich von der Sprachkonvention der Obama-Administration abgrenzt. Obama hatte, wie erwähnt, ganz pragmatisch von der Eindämmung auf tolerierbarem Niveau statt der vollständigen Eliminierung der Gefahr gesprochen und bewusst den „islamischen“ Charakter transnationaler Terrororganisationen wie der al-Qaida in Frage gestellt beziehungsweise weniger Gewicht gegeben. Für Obama brachte der Fokus auf den „islamischen Charakter“ der al-Qaida die Gefahr mit sich, die nur bei einer kleinen radikalen Minderheit auf Anklang stoßende Ideologie der Al-Qaida (Berger 2014) als repräsentativ für die muslimische Allgemeinheit darzustellen. Trump lässt, hingegen, in seinen Verlautbarungen offen, ob der Terrorismus der Al-Qaida und des Islamischen Staates essenziell „islamisch“ sind. Eine solche Wortwahl birgt natürlich die Gefahr, dass aus Sicht der Nicht-Muslime die Grenze verwischt zwischen der überwältigenden Mehrheit der Gewalt ablehnenden Muslime und einer kleinen radikalen Minderheit. Diese Ungenauigkeiten zeigen sich auch in Trumps erster Amtshandlung als neu gewähltem Präsidenten. Wie Barack Obama zuvor wählte Trump seine erste Durchführungsbestimmung (Executive Order 13769) für einen Akt symbolischer Politik. So untersagte er am 27. Januar 2017 den Bürgern des Iraks, Syriens, Sudans, Irans, Somalias, Libyens und des Jemens die Einreise in die USA. Hier ging es natürlich wie bei Obama zuvor darum, öffentlichkeitswirksam mit der Umsetzung der im Wahlkampf versprochenen Richtungsänderung zu beginnen. So hatte Trump bereits Ende 2015 einen kompletten Einreisestopp für alle Muslime in die USA gefordert und im Anschluss an den blutigen Anschlag auf einen Nachtklub im Juni 2016 in Florida auf Twitter mit seiner vermeintlichen Expertise geprahlt („Appreciate the congrats for being right on radical Islamic terrorism.“) (Trump 2016). Mit seiner Executive Order konnte Trump nun die Ernsthaftigkeit der terroristischen Gefahr kommunizieren und ganz dezidiert einen Zusammenhang zu der unter seinen

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Anhängern besonders wichtigen Einwanderungsproblematik herstellen. Die empirischen Fakten zeichnen ein viel komplexeres Bild als von Trump suggeriert. Zum einen gibt es Belege, dass Einwanderung aus bestimmten Krisengebieten tatsächlich zu einer erhöhten Terrorgefahr führt (Bove und Böhmelt 2016). Gleichzeitig ist klar, dass sich die Bedrohung nicht nur auf Krisengebiete beschränkt, sondern auch autoritäre Regime betrifft, die vor allem unter der Trump-Administration wieder eng mit den USA kooperieren. Nimmt man die Anzahl von IS-Kämpfern an der Gesamtbevölkerung als Maßstab, so stellten Tunesien, Marokko, Ägypten, SaudiArabien, die Türkei und selbst europäische Länder wie Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Belgien und Dänemark ein größeres Gefährdungspotenzial dar als die in Trumps Durchführungsbeschluss genannten Länder (Milton 2017). Die Verschiebungen in der Schwerpunktsetzung zeigen sich auch in dem größeren Gewicht, das die Trump-Administration dem militärischen Aspekt der Terrorismusbekämpfung einräumt. Bereits während des Wahlkampfs 2016 hatte Trump mit markigem Wortlaut („I would bomb the hell out of ISIS.“) versucht, sich von der Obama-Administration abzugrenzen (Reuters 2015). Auf der einen Seite bot der Islamische Staat in seiner vorübergehenden territorialen Verfasstheit auch adäquate militärische Ziele. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass die Auseinandersetzung mit den strukturellen Ursachen der zyklischen Wiederkehr des islamistischen Terrorismus vernachlässigt wird. Für Barry Posen (2018, S. 26) stand daher mit Blick auf die Trump-Administration fest, „under the guise of counterterrorism, it intends to remain deeply involved militarily in the internal affairs of other countries; and it is dropping too many bombs, in too many places, on too many people.“

Gleichzeitig stand dieser Tendenz zur Militarisierung der Terrorismusbekämpfung der oft thematisierte isolationistische Reflex der Trump-Administration gegenüber. Diese zeigte sich im Versuch des Weißen Hauses, das Ende des IS„Kalifats“ in seiner territorialen Dimension zum Anlass zu nehmen, den militärischen Rückzug aus Syrien zu erklären. Das demokratische und Republikanische Establishment übte scharfe Kritik angesichts des zu erwartenden Einflussgewinns für die Türkei und Russland in der Region und der Gefahr, dass der IS auch nach dem Tod von Abu Bakr al-Baghdadi entstehende Freiräume für eine Neuformierung nutzen könnte (Kube et al. 2018). Hier zeigt sich einmal mehr, wie sehr Terrorismusbekämpfung von anderen außenpolitischen Erwägungen beeinflusst wird und die andauernde Relevanz der Frage, inwiefern die militärische Präsenz der USA in der Krisenregion Nah-/Mittelost kontraproduktiv oder notwendig ist.

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Kontinuität und Wandel in den Bedrohungswahrnehmungen in der US-Öffentlichkeit

In vielerlei Hinsicht ist die Trump-Administration ein Paradebeispiel für die eingangs erwähnte Wechselwirkung zwischen innenpolitischen Gegebenheiten und der terroristischen Herausforderung. Während die Trump-Administration der Terroris-

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musbekämpfung einerseits eine gerade im Vergleich zu Präsident Obama deutlich andere Richtung gegeben hat, so ist Trumps Wahlerfolg für Malley und Finer gerade auch ein Produkt der für den „War on Terror“ vermeintlich exzessiven Fokussierung auf den Terrorismus sowie einer „emotionalen und manchmal auch irrationalen Angst“ vor diesem geschuldet: „The question is not whether fighting terrorists ought to be a key U.S. foreign policy objective – of course it should. But the pendulum has swung too far at the expense of other interests and of a more rational conversation about terrorism and how to fight it.“ (Malley und Finer 2018, S. 59).

Die Frage nach einer möglicherweise „irrationalen“ Angst vor dem Terrorismus lässt sich am ehesten mit einem Blick auf die öffentliche Meinung beantworten. Einerseits stellt die emotionale Reaktion der Öffentlichkeit eine wichtige Ressource für Terroristen im Versuch dar, Druck auf Politiker ausüben (Nacos 2003). Auf der anderen Seite hilft öffentlicher Druck jedem Präsidenten im Versuch, Kongress und die weitere Bürokratie auf Linie zu bringen. Von Bedeutung ist hier, dass die tatsächliche Fähigkeit des Terrorismus, massiven gesamtgesellschaftlichen Schaden anzurichten, begrenzt ist oder zumindest stark von der staatlichen Reaktion auf die terroristische Provokation abhängt, und nicht im Einklang stehen muss mit dem individuellen Sicherheitsempfinden. So ging in den ersten fünf Jahren nach dem 11. September 2001 die Zahl derjenigen, die sich Sorgen darüber machten, selbst Opfer eines Terroranschlages zu werden, von 53 % unmittelbar nach den Anschlägen nur unwesentlich auf 44 % im Jahr 2006 zurück (Bloch-Elkon 2011). Gleichzeitig sank jedoch die Zahl derjenigen, die den Terrorismus als wichtigstes Problem für das Land benannten, von 46 % auf 3 % im Jahr 2008 (Boch-Elkon 2011). In der Außenpolitik blieben die Zahlen etwas höher. So sahen auch zu Beginn der zweiten Amtszeit Obamas immerhin noch 67 % (nach 91 % im Jahr 2001) der Amerikaner den internationalen Terrorismus als eine „entscheidende“ Bedrohung für die außenpolitischen Interessen der USA. Dies entsprach in etwa dem Stand (69 % im Jahr 1994) vor der Eskalation der islamistischen Gewaltkampagnen seit den Anschlägen auf die US-Botschaften in Ostafrika im Jahr 1998, in deren Folge 84 % der Befragten den internationalen Terrorismus als „entscheidende“ Bedrohung angesehen hatten (Smeltz 2012). Die Rückkehr des islamistischen Terrorismus auf US-amerikanisches Territorium in Boston, Fort Hood und Orlando sowie das Aufkommen des Islamischen Staates lies dann über das gesamte politische Spektrum hinweg die Sorge vor dem internationalen Terrorismus neu entflammen. Die größere Bereitschaft der Republikaner, militärische Mittel einzusetzen, um den Islamischen Staat zu bekämpfen (69 % versus 54 %), ist nicht überraschend und spiegelt auch generelle Präferenzen dieser Wählergruppierung hinsichtlich der Rolle militärischer Gewalt in der US-Außenpolitik wider. Was in seiner Deutlichkeit jedoch stärker zum Vorschein kommt, sind, erstens, Unterschiede in der Sorge vor dem islamischen Fundamentalismus als entscheidende Bedrohung US-amerikanischer Interessen (siehe Abb. 1). Unter Republikanern übertrafen die Werte (75 %) sogar die nach dem 11. September gemessenen (70 %), während sie unter Demokraten (von 59 % auf 49 %) niedriger

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Islamischer Fundamentalismus 2002

Islamischer Fundamentalismus 2016

Demokraten

Migration 2002

Migration 2016

Republikaner

Abb. 1 Entscheidende Bedrohung vitaler US-Interessen; nach Smetz et al. 2016

lagen (Smeltz et al. 2016). Zum zweiten, und hier zeigt sich deutlich die Verbindung von Innen- und Außenpolitik, waren mehr Republikanische Wähler bereit, Einwanderung als entscheidende Bedrohung (67 % im Jahr 2016 versus 58 % in 2002) zu sehen, während unter Demokraten eine dramatische Gegenbewegung zu verzeichnen war (27 % im Jahr 2016 gegenüber 62 % in 2002) (Ebd.; siehe auch Abb. 1). Die geschickte innenpolitische Instrumentalisierung dieser zunehmenden Divergenz in den Einstellungen stellt ein Markenzeichen der Trumpschen Terrorismusbekämpfungsstrategie dar. Vor dem Hintergrund der explizit ausländerfeindlichen Ausrichtung einer Reihe tödlicher Anschläge wie dem von El Paso im August 2019 und der offensichtlichen Ähnlichkeit in der Rhetorik der Attentäter und Trumps kam daher die Frage auf, inwieweit die Äußerungen des Präsidenten möglicherweise eine Ursache für das Aufkommen dieser Form der politischen Gewalt sein könnte (Drake und Kiley 2019; Fisher et al. 2019).

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Institutionelle Anpassungen in der Terrorismusbekämpfung

4.1

Nachrichtendienste

Die zentrale Rolle, welche die Nachrichtendienste in der Terrorismusbekämpfung spielen, erklärt auch die besonderen Reformanstrengungen nach dem scheinbaren Versagen am 11. September 2001. Der Intelligence Reform and Terrorism Prevention Act von 2004 sollte den Diensten helfen, eine Antwort auf die Vorwürfe der 9/

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11-Kommission zu finden, nach denen es ihnen an „Vorstellungskraft, Fähigkeiten, und Management“ mangeln würde (Harknett und Stever 2011). Die durch dieses Gesetz neu geschaffene Position des Director of National Intelligence war jedoch nicht in der Lage, die Effizienz und Effektivität der Kooperation unter den insgesamt 16 involvierten Nachrichtendiensten zu erhöhen, was vor allem an der dem neuen Posten fehlenden Budgethoheit lag (Harknett und Stever 2011). Gleichwohl genießt die Position eine nicht zu unterschätzende politische Strahlkraft, die sich aus der Rolle als „Stimme“ des nachrichtendienstlichen Konsensus ergibt. Die politische Bedeutung dieser Position zeigt sich zuletzt in den Spannungen zwischen Präsident Trump und dem in Deutschland angesehenen Dan Coats hinsichtlich ihrer sehr unterschiedlichen Auffassungen zum Ausmaß der Bedrohung durch russische Cyberangriffe oder auch das nordkoreanische Atomprogramm (Zegart 2019). Ebenso unvollendet blieb der Versuch, die Fähigkeit des Kongresses zu verbessern, seine Kontrollfunktion gegenüber den Nachrichtendiensten auszuüben. Die Ausschussvorsitzenden und ranghöchsten Mitglieder der jeweiligen Oppositionspartei gehören zur sogenannten „Gang of Four“, die seit dem National Security Act von 1947 und den Reformen der 1970er-Jahre über verdeckte Operationen in Kenntnis gesetzt werden muss. In bestimmten Fällen wird der Kreis auf die „Gang of Eight“ ausgeweitet, die zusätzlich noch die beiden Parteiführer der Demokraten und Republikaner in beiden Kammern umfasst. Da die Mitglieder beider Gruppen jedoch der Geheimniswahrung verpflichtet sind, steht ihnen die Möglichkeit, bei noch laufenden Aktionen öffentlichen Druck auf die Exekutive auszuüben, nicht zur Verfügung. Tatsächlich erweist sich damit dieses vermeintliche Instrument der Kontrolle eher als Instrument der Kooptation der Legislative durch die Exekutive. Aufmerksamkeit erregende Untersuchungen zum Iran-Contra-Skandal in den 1980er-Jahren oder zum Irakkrieg (keine Massenvernichtungswaffen, Folter in Abu Ghraib) belegen so die Grenzen effektiver parlamentarischer Kontrolle der US-Nachrichtendienste (Johnson 2016). Diese ergibt sich auf Seiten der Nachrichtendienste aus einer geringen Bereitschaft, Informationen preiszugeben und unter Parlamentariern aus der oft ebenso geringen Bereitschaft, kritische Fragen zu stellen. Für Zegart (2011) wird die Kontrollfunktion des Kongresses durch begrenzte Expertise und einen geringen Einfluss auf die Haushalte der einzelnen Nachrichtendienste weiter unterminiert. Das übergeordnete Interesse an der eigenen Wiederwahl (einschließlich der parteiinternen Vorwahl) lässt zudem parteipolitisches Gegeneinander lohnender erscheinen als überparteiliche Kooperation in der Kontrolle der Exekutive (Ebd.). Dies zeigte sich zuletzt an der gegen die damalige Außenministerin Hillary Clinton gerichteten Untersuchung zum Anschlag auf die US-Botschaft im libyschen Bengasi und der auf Donald Trump abzielenden Untersuchung möglicher russischer Einflussnahme im Wahlkampf 2016.

4.2

Heimatschutzministerium

Der direkte Angriff auf US-amerikanisches Territorium am 11. September 2001 machte Politikern in den USA auch klar, dass der Terrorismus und dessen Bekämp-

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fung nicht mehr als vorrangig außenpolitisches Problem betrachtet werden kann. Bis dahin war die Wahrnehmung des Terrorismus als Gegenstand internationaler Politik durchaus nachvollziehbar, ereigneten sich doch zwischen 1970 and 2004 99 % aller Terroranschläge auf US-amerikanische Ziele nicht auf US-Territorium (LaFree et al. 2009). Für Kritiker wie Douglas Stuart (2003) hätten die Erfahrungen mit dem National Security Act von 1947, mit dem die Grundlage für die den Konflikt mit der Sowjetunion prägende Sicherheitsarchitektur geschaffen wurden, gezeigt, dass fundamentale Veränderungen in zentralen Bedrohungsszenarien auch fundamentale Veränderungen in der entsprechenden nationalen Sicherheitsbürokratie erforderten. Im Zuge des Aufkommens des transnationalen Terrorismus bedeutete dies vor allem die Befreiung des Heimatschutzes aus seiner „institutionellen Obdachlosigkeit“ (Carter 2001, S. 2). Dieser Einsicht entsprach Präsident Bush, als er nur neun Tage nach den Anschlägen Tom Ridge zum Direktor des neu geschaffenen Büros für Heimatschutz im Weißen Haus ernannte. Schnell wurde jedoch klar, dass Ridge nicht ausreichend Einfluss über die für Heimatschutz zuständigen Behörden hatte, um seine Aufgabe effektiv zu erfüllen. Dem trug Präsident Bush Rechnung, als er im Juni 2002 den Vorschlag des Demokratischen Senators Joe Liebermann aufgreifend die Schaffung eines Ministeriums für Heimatschutz initiierte. Welche monumentale Aufgabe die Zusammenführung der ehemals eigenständigen Küstenwache, des Secret Service, der Bundesagentur für Katastrophenschutz (FEMA), des Immigration und Naturalization Service, des Zolls, und der Transportsicherheitsbehörde (TSA) darstellte, lies sich daran ablesen, dass das Ministerium 169.000 Mitarbeiter beschäftigte und sein Aufgabenbereich vor der Zusammenführung unter die Kontrolle von 88 unterschiedlichen Kongressausschüssen und Unterausschüssen fiel (Jablonsky 2002, S. 16). Wie bereits bei der Schaffung des Office for Combatting Terrorism im Jahr 1976 in Reaktion auf das Aufkommen internationaler Flugzeugentführungen als Terrortaktik und die desaströse Antwort deutscher Behörden auf das Attentat palästinensischer Gruppierungen auf die Olympischen Spiele von München so wird also auch hier wieder deutlich, inwiefern Antiterrorismuspolitik eine Reaktion auf „terrorist spectaculars“ ist (Sloan 2008). Dies birgt natürlich die Gefahr, dass die relevanten Behörden immer „die letzte Schlacht“ kämpfen. Diese Frage stellt sich insbesondere auch vor dem Hintergrund des (Wieder-) Aufkommens der rechtsradikalen Terrorgefahr. Während die Anschläge vom 11. September 2001 deutlich machten, dass nationale Grenzen nicht vor transnationalen Bedrohungen schützen, zeigt die Zunahme rechtsterroristischer Anschläge in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts, dass terroristische Gefahr nicht nur von „außen“, sondern auch von „innen“ kommen kann. Hier entbrannte nun eine neue Diskussion um mögliche qualitative und quantitative Unterschiede der vom islamistischen und rechtsradikalen Terrorismus ausgehenden Gefahr. So ergab eine Erhebung der Gefahrenperzeption in den Polizeidiensten aller 50 Bundesstaaten (Freilich et al. 2009), dass islamistische Extremisten durchschnittlich als größere Gefahr für die Sicherheit angesehen wurden, obwohl Extremisten mit rechtsradikalem Hintergrund stärker in kriminelle Aktivitäten involviert waren. Befürworter des Fokus auf den islamistischen Terrorismus konnten lange Zeit darauf verweisen, dass eine größere

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140 120 100 80 60 40 20 0 Anschläge Islamistisch

Todesopfer Rechtsextremistisch

Abb. 2 Terroranschläge in den USA (2002–2017); eigene Berechnung auf Basis der Global Terrorism Database

Zahl von kriminellen Aktivitäten im Allgemeinen nicht unbedingt auch eine qualitativ höhere terroristische Gefahr darstellen muss. Die Global Terrorism Database (GTD) verzeichnet für die Jahre 2002 bis 2017 21 eindeutig terroristische Anschläge mit Todesfolge aus dem weiteren rechtsextremen Milieu (55 Tote) und 25 solcher Anschläge mit islamistischem Hintergrund (124 Tote). Der Unterschied in der scheinbar höheren Opferzahl pro Anschlag verschwindet jedoch, wenn, wie in der GTD vorgeschlagen, die Massenschiesserei in Las Vegas mit seinen 59 Todesopfern ebenfalls als rechtsextremistischer Anschlag bewertet wird. Die Rückkehr des rechtsextremen Terrorismus zu einem zuletzt in den frühen 1990er-Jahren nachweisbaren Tempo (ADL 2017) lässt die Frage aufkommen, inwiefern die Trump-Administration bereit ist, diese Gefahr anzugehen. Grundlegende Entscheidungen weisen in eine andere Richtung: so wurde das Programm des Heimatschutzministeriums „Countering Violent Extremism“ unbenannt in „Countering Radical Islamic Extremism“ (Fisher et al. 2019), um klarzustellen, dass andere Formen terroristischer Gewalt nicht von Bedeutung sind. Ähnlich kontrovers war die Entscheidung der US-Administration, dem START Center an der University of Maryland die Finanzierung zur Fortführung der oben erwähnten Terrorismusdatenbank (GTD) zu entziehen, deren Daten zuletzt von den Kritikern des exklusiven Fokus auf den islamistischen Terrorismus genutzt wurden (Atkin 2019) (Abb. 2).

5

Fazit

Die Ereignisse des 11. September 2001 und der von der Bush-Administration popularisierte Krieg gegen den Terrorismus hatten einen durchaus prägenden Einfluss auf politische Kultur und Institutionen in den USA, wie sich am Heimatschutzministerium und den versuchten Reformen der Nachrichtendienste zeigt oder auch,

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wie von einigen argumentiert, im politischen Aufstieg Donald Trumps. Der Vergleich der Strategien der Präsidenten Bush, Obama und Trump offenbart klare Unterschiede in der Bereitschaft, dem Terrorismus einen prominenten Platz in der Rangordnung nationaler Sicherheitsinteressen einzuräumen, militärische Gegenmaßnahmen auszuweiten oder zu begrenzen oder bestimmten ideologischen Ausprägungen größere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Der besondere Charakter des Terrorismus (in seiner nationalen und transnationalen, rechtsradikalen und islamistischen Ausprägung) wird der Frage nach dem adäquaten Umgang auch auf Dauer einen prominenten Platz auf der politischen Tagesordnung sichern. Der genaue Rang wird besonders von der spezifischen Quantität und Qualität, der niemals zu 100 Prozent verhinderbaren Anschläge in den nächsten Jahren abhängen. Letztendlich wird es darum gehen, ob die Gefahr aus dem rechtsextremistischen Milieu, wie im Anschlag von El Paso im August 2019 angedeutet, weiter zunehmen wird oder ob Verfehlungen in der Politik gegenüber dem Nahen und Mittleren Osten, der Al-Qaida, dem Islamischen Staat oder einer möglichen Nachfolgerorganisation genug Freiraum für einer erneute Gewaltkampagne gegen westliche Ziele lassen. Die Vorgehensweise der Trump-Administration lässt die Sorge wachsen, dass Verschiebungen in der terroristischen Gefahr zu spät wahrgenommen werden. Wie der 11. September 2001 und die rechtsextremistischen Anschläge der jüngeren Vergangenheit auf dramatische Weise gezeigt haben, ist der Preis des Versagens im Politikfeld Terrorismusbekämpfung meist unerträglich hoch.

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Außenpolitik Leitlinien und Traditionen Stefan Fröhlich

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die Debatte um die Zukunft der US-amerikanischen Supermacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Zum traditionellen Selbstverständnis US-amerikanischer Außenpolitik: Grundprinzipien und Charakteristika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Ordnung gestalten als Ausfluss von Macht – einige theoretische Überlegungen zur einzigartigen Stellung der USA in der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Die besondere Rolle der militärischen Machtasymmetrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Perspektiven der zukünftigen US-Außenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Zum Selbstverständnis der USA gehört auch am Anfang des 21. Jahrhunderts, dass US-amerikanische Präsidenten, gleichgültig ob Republikaner oder Demokrat, zugleich die „Führer der freien Welt“ sind. Erst unter Präsident Trump scheint diese Grundprämisse erstmals zumindest insofern in Frage gestellt, als für viele Beobachter diese „freie Welt“ ohne US-amerikanische Führung aufgehört hat zu existieren. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass sich die USA auch unter Trump unverändert in der Rolle des Garanten internationaler Stabilität und als unentbehrliche Ordnungsmacht sehen. Damit unterscheidet sich seine Agenda trotz unbestrittener Abkehr von den Grundprinzipien des liberalen Internationalismus zumindest in einem Punkt gar nicht so erheblich von der seines Amtsvorgängers, da sich auch unter dem neuen Präsidenten der Trend einer größeren Zurückhaltung in Bezug auf Amerikas globales Engagement fortsetzt bzw. sogar seinen vorläufigen Höhepunkt erfährt. Nach wie vor aber S. Fröhlich (*) Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_31

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spiegelt Trumps „America first“ nicht nur den Willen wider, künftig amerikanische und nicht globale Interessen in den Mittelpunkt zu stellen, sondern unverändert auch den unerschütterlichen Glauben an den Führungs- und Gestaltungswille der USA in einer multipolaren Welt. Schlüsselwörter

US-amerikanische Außenpolitik · Liberaler Internationalismus · „America first“ · Unilateralismus · Multilateralismus

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Einleitung

Mit Donald Trump stellt erstmals ein US-amerikanischer Präsident seit Ende des Zweiten Weltkriegs die liberale internationale Ordnung mit den USA als ihren Garanten in Frage. Rund 60 Millionen Bürgerinnen und Bürger in den USA haben dies im Wahlkampf 2016 billigend in Kauf genommen. Und die Entwicklungen der letzten Jahre zeigen, dass sich auch nach Trump das Rad so schnell nicht zurückdrehen lassen wird. Zu stark ist die US-amerikanische Gesellschaft nach dem Scheitern des Aufbaus einer stabilen globalen Ordnung über die künftige Rolle der USA in dieser Welt gespalten, zu ausgeprägt ist die Dynamik der Veränderungen außerhalb des Landes (dazu ausführlicher Mandelbaum 2017; Jarvis et al. 2018; Cohen 2019). Ob damit gleichzeitig der Niedergang der USA verbunden ist, will der folgende Beitrag erläutern. Grundsätzlich sahen viele Beobachter die USA bereits bei Amtsübernahme von Präsident Obama politisch, ökonomisch, aber auch moralisch im Begriff, ihre globale Führungsrolle zu verspielen. Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 und 2009, die Last des enormen Haushaltsdefizits, zwei Kriege im Irak und Afghanistan, vor allem aber der weltweite Imageverlust in Folge der Anti-TerrorPolitik George W. Bushs führten zumindest zu einem graduellen Rückzug des Landes aus der weltpolitischen Verantwortung. Hinzu kam, dass neue Machtzentren wie v. a. China, Russland, Brasilien und Indien, oder auch Regionalblöcke wie die EU, an politischem und wirtschaftlichem Einfluss hinzugewannen und so die Führungsposition bzw. „Sonderrolle“ der Supermacht USA in Frage stellten (Robel et al. 2012, S. 116–151). Entsprechend groß waren damals die Hoffnungen, dass mit dem Amtsantritt Obamas die Rückkehr zu den traditionellen Leitlinien des liberalen Internationalismus in der US-amerikanischen Außenpolitik gelingen und Amerika seinem globalen Führungsanspruch gerecht werden würde.

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Die Debatte um die Zukunft der US-amerikanischen Supermacht

Zumindest in der ersten Amtsperiode Obamas schienen diese Erwartungen in Teilen erfüllt zu werden. Obama gelang es nicht nur, die Massen zu begeistern, sowie Hoffnungen auf Aussöhnung und ein postrassistisches Zeitalter im eigenen Land zu

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wecken, sondern auch das Ansehen der Supermacht und damit verbunden die Akzeptanz seiner globalen Führungsrolle wiederherzustellen. Am Ende der zweiten Amtszeit stellten kritische Stimmen in Washington jedoch mehrheitlich fest, dass der erwartete große Wandel ausgeblieben war und der Präsident das Land gespalten wie zu keinem Zeitpunkt seit 1989/90 zurückgelassen hatte. Noch immer ignorierte man im politischen Washington ungeachtet der Warnungen, die auf das Ende des unipolaren Moments (Krauthammer 1990) aufgrund massiver Machtverschiebungen in den internationalen Beziehungen verwiesen, den rasanten Aufstieg Chinas nicht nur als ökonomische Supermacht, sondern auch als führende Regionalmacht im Asiatisch-Pazifischen Raum mit globalen Ansprüchen. Daran änderte auch die unter Obama vollzogene Hinwendung Richtung Asien (pivot to Asia) nichts (Clinton 2011). Gleichzeitig schien sich auch unter Obama der seit 25 Jahren anhaltende Trend einer allmählichen Abwendung der USA vom europäischen Kontinent fortzusetzen. Sichtbarer Ausdruck dafür war etwa die Reaktion Washingtons nach der Annexion der Krim auf dem Höhepunkt der Ukrainekrise, als die ObamaAdministration Europa bzw. Deutschland die politische Führungsrolle zuwies und Russland als „Regionalmacht“ (Obama 2014) von eher zweitrangiger strategischer Bedeutung herabstufte. Schließlich bewirkten der sukzessive Rückzug der USA aus dem Nahen Osten und die gleichzeitige Rückkehr Russlands sowie anderer globaler wie regionaler Akteure in die Region (u. a. in den Konflikten in Syrien oder Jemen) einen erheblichen Machtverlust des Landes. All diese Entwicklungen ließen Beobachter im eigenen Land die Welt auf ein – mit Ausnahme der militärischen Dimension – postamerikanisches Zeitalter zusteuern sehen, in dem sich der politische, finanzielle, soziale wie kulturelle Einfluss auf verschiedene Zentren und Akteure verteile (Zakaria 2008, S. 18–43). Künftig, so die nicht wirklich neue Beobachtung, würde es eben drei Supermächte oder Imperien geben – neben den schwächer werdenden USA, das unaufhaltsam aufsteigende China und, man höre und staune, die EU. Demnach sei allenfalls in einem gleichberechtigten Konzert mit Europa und Japan die künftige Stärke und Weltrolle der USA gegenüber den aufstrebenden BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China) garantiert (Gat 2007, S. 59–69; Ikenberry und Wright 2007; Khanna 2008a, b; Kupchan 2003). Der Tenor solcher Einschätzungen – ungeachtet von Finanz- und Wirtschaftskrise – lautet(e) übersetzt in etwa so: Die reale Schwäche der Weltmacht offenbart sich bereits seit längerem. Je mehr die USA sich verschulden und dafür anlegen müssen, das eigene Wirtschaftssystem zu stabilisieren, desto schwerer fällt es Washington, die selbst gewählte Rolle der Weltordnungsmacht auszuüben. Durch die Kriege im Nahen und Mittleren Osten, welche die US-amerikanischen Truppen an die Grenzen der Belastbarkeit geführt haben, sind nicht nur der Ruf der USA in der Welt nachhaltig beschädigt, sondern auch immense humanitäre, finanzielle und diplomatische Kosten entstanden (Haas 2008, S. 44–56). Schließlich beschleunigt sich die Aushöhlung der US-amerikanischen Vormachtstellung durch die genannten Aufsteiger vor allem in den Bereichen Politik und Wirtschaft, aber auch in der Kultur. Natürlich stehen solchen Untergangsprophezeiungen nach wie vor Analysen gegenüber, die darin ein Wiederholungsmuster gerade in Krisenjahren des Landes sehen und darauf verweisen, dass solche Szenarien sich bislang nie bewahrheitet

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hätten. Die Abgesänge beruhen demnach allzu sehr auf dem Irakkrieg als singulärem Ereignis, der Ablehnung der Politik George W. Bushs und einem tiefen Missverständnis der Grundlagen und Parameter, auf denen die US-amerikanische Außenund Sicherheitspolitik im Allgemeinen und die unverändert robuste Machtposition der USA im Besonderen gründen (Lieber 2008). Vielmehr geht es also um die Frage nach dem Grad des US-amerikanischen Machtverlusts. Hier räumen Vertreter der These vom relativen Machtverlust zwar ein, dass dieser auch durch den Aufstieg anderer globaler Akteure bedingt ist, sehen aber insbesondere die bewusste Machtbeschränkung der Obama-Administration und der jetzigen Administration unter Trump als die entscheidende Ursache. So habe die Politik der von den Neokonservativen geprägten Bush-Administration mit ihrem ausgeprägten Unilateralismus zu den bekannten Empire-Analogien im Sinne der US-amerikanischen Übermacht geführt, welche nach Ende der Amtszeit geradezu zwangsläufig ihre Korrektur erfahren hätten (Cox 2003, S. 1–27). Da ein solcher Status für die globale Ordnung mit negativen Konsequenzen verbunden sei, habe es seither gegolten, die US-amerikanische Außenpolitik in die gewohnten Bahnen des wohlwollenden Hegemons zurückzuführen, dessen globale Führungsrolle sich nicht allein aus der strukturellen Überlegenheit im Sinne des überragenden Machtpotenzials speist, sondern vielmehr normativ determiniert ist. Eben diese Sicht, die sich mit der Obama-Administration wieder verstetigte, scheint mit der Trump-Administration endgültig aufgegeben. Dabei sollte die Welt nicht darauf hoffen, dass Trump lediglich eine weitere „außenpolitische Verirrung“ der USA darstellt und unter seinem Nachfolger eine Rückkehr zu den traditionellen Leitlinien US-amerikanischer Außenpolitik erfolgt. Mit Trump stellt erstmals ein US-amerikanischer Präsident seit Ende des Zweiten Weltkriegs die liberale internationale Ordnung mit den USA als ihren Garanten in Frage, was zumindest im Wahlkampf immerhin von rund 60 Millionen Bürgerinnen und Bürgern im Land billigend in Kauf genommen wurde. Die Entwicklungen der letzten Jahre zeigen, dass sich auch nach Trump das Rad so schnell nicht zurückdrehen lassen wird: Zu stark ist die US-amerikanische Gesellschaft über die künftige Rolle der USA in dieser Welt gespalten, zu ausgeprägt ist die Dynamik der Veränderungen außerhalb des Landes (Mandelbaum 2017). Selbst wenn es eine Rückkehr zum Konsens über grundlegende Fragen der Weltordnung gäbe – worauf die Trendlinien im US-amerikanischen Regierungsapparat und im Kongress vielleicht sogar hindeuten mögen –, so wird die Forderung nach einer faireren Lastenteilung in Sicherheit und Handel bleiben und damit verbunden auch eine größere Zurückhaltung in der Übernahme globaler Verantwortung im Dienst einer liberalen Ordnung. Das Zeitalter des US-amerikanischen Interventionismus ist jedenfalls vorbei und dies wird auch Auswirkungen auf das Engagement der USA in Europa haben. Zwar wird das Selbstverständnis Washingtons auch unter Trump nicht zu einer Aufgabe des globalen Führungsanspruchs führen. ‚America first‘ bedeutet wie erwähnt auch, dass das Land weiterhin alles daransetzen wird, dass keine Macht dieser Erde seinen Einfluss und Gestaltungsraum zu Lasten dieser Führungsrolle ausbaut. Insofern darf Europa weiterhin damit rechnen, dass Washington selbst unter Trump nicht tatenlos zusehen wird, wie Russland die geopolitischen Realitäten auf dem eurasischen Kontinent verändert und dabei zu einer

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Bedrohung für Europa wird oder China die Führungsrolle im asiatisch-pazifischen Raum übernimmt; dies belegt die Neue Sicherheitsstrategie (NSS 2017) der USA sehr deutlich. Es ändert aber nichts an der Tatsache, dass Außenpolitik unter Trump als ein Nullsummenspiel betrachtet wird, in dem es vor allem darum geht, im globalen Machtkampf mit China und Russland und anderen potenziellen Herausforderern die Nase vorn zu haben. In einem solchen Szenario muss sich die EU künftig tatsächlich mehr um die Stabilität seiner Peripherie kümmern. Dies wiederum hat zwangsläufig eine Umverteilung der politischen Machtverhältnisse in Europa zur Folge und weist Deutschland eine besondere Verantwortung in diesem System zu.

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Zum traditionellen Selbstverständnis US-amerikanischer Außenpolitik: Grundprinzipien und Charakteristika

In den beiden vergangenen Dekaden waren die USA nicht selten bereit, Menschenrechte und Demokratie gegebenenfalls auch mit Gewalt durchzusetzen. Dass die liberale Tradition des Landes dabei als Rechtfertigung einer Interessen- und Machtpolitik diente, werteten Europäer und der Rest der Welt gerne als Aufkündigung der viel beschworenen gemeinsamen liberalen Grundlage vom Rechtsprimat und von der Kooperation auch mit Nichtdemokraten (Kagan 2003). Die damit verbundene religiöse Überhöhung US-amerikanischer Außenpolitik und der bisweilen anmaßende Glaube an die eigene Auserwähltheit bzw. den Gottesauftrag, die Mission zur Verbreitung des Guten und der Freiheit in der Welt war Europäern keinesfalls fremd; dieser Charakter entsprach der traditionellen Begeisterung der USA für große Ideen – von der „exceptional“ (Lipset 1997) bis hin zur „indispensable nation“ (Clinton 1996) – und er ist maßgeblich dafür, dass die Option des Unilateralismus eine aus der Außenpolitik von jeher nicht wegzudenkende Konstante des amerikanischen Rollenverständnisses widerspiegelt. Mit der Bush-Administration aber wurde dieses Credo auf die Spitze getrieben und das, was Walter Russel Mead in diesem Zusammenhang als „nationalen Messiaskomplex“ (Mead 2002) bezeichnet hatte, erstmals als Bedrohung empfunden. Und aus dem wohlwollenden Hegemon war der imperiale Hegemon geworden. Gemeint war mit dieser Einordnung nicht zuletzt die unter Bush erfolgte kühne Auflösung des das politische Alltagsgeschäft prägenden Gegensatzes zwischen nationalen Interessen auf der einen und „amerikanischen Grundüberzeugungen“ auf der anderen Seite (die Symbiose von Realpolitik und Idealismus) – so als bestimmten die Menschenrechte das außenpolitische Handeln in gleichem Maße wie realistische und geostrategischen Interessen das außenpolitischen Handeln der USA. Diese Symbiose, wonach Realismus und Idealismus in der US-amerikanischen Außenpolitik von jeher zwei Seiten ein und derselben Medaille waren, wurde dabei von Europäern unterschätzt. Sie führte zu der irrigen Annahme, mit dem Wechsel zu Obama würde sich jene „liberale Tradition“, wie sie für das Land in der Phase des Kalten Krieges prägend war, wieder durchsetzen (Ikenberry 2011, S. 119–156, 221 ff. und 333 ff.). Schon sehr rasch aber wurden diese Erwartungen aus wenigsten drei Gründen enttäuscht: Erstens, hatten sich die USA auch unter Obama nicht aus der Weltpolitik

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verabschiedet, sondern drohten allenfalls in das Grundmuster vom reluctant sheriff der späten 1990er-Jahre zurückzufallen (Haas 1997, S. 78 ff.). Zu diesem Selbstverständnis gehörte, dass US-amerikanische Präsidenten, gleichgültig ob Republikaner oder Demokrat, zugleich die „Führer der freien Welt“ sind. Dies zeigte sich bereits in Obamas Wahlkampfäußerungen im ersten Präsidentschaftsrennen, wonach die USA der Garant der internationalen Stabilität und die unentbehrliche Ordnungsmacht seien. Zweitens unterschied sich Obamas politische Agenda in vielerlei Hinsicht weit weniger stark von der seines Vorgängers, als das man dies in Europa bisweilen wahrhaben wollte. Drittens waren bzw. sind die stereotypen Vorwürfe vom US-amerikanischen Unilateralismus und den fundamentalen außenpolitischen Differenzen im transatlantischen Verhältnis insofern überzogen, als dass sich beides bereits für die Clinton-Jahre nachweisen lässt; wenn überhaupt, ist es zutreffender von einer Verschärfung des unilateralen Reflexes unter der Regierung Bush zu sprechen, welcher mit der Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001, insbesondere mit dem Präemptivschlag im Irak, sicherlich seinen Höhepunkt erfuhr, welcher aber damals auch von einem Demokratisch kontrollierten Senat mitgetragen wurde. Abgesehen von diesem Selbstverständnis sind zwei weitere Aspekte zu nennen, welche die USA bis heute eine Führungsrolle in einer multipolaren Welt ausüben lassen: Der eben daraus erwachsende Führungs- und Gestaltungswille gepaart mit dem unerschütterlichen Glauben an die Selbstheilungskräfte des Landes, und das überragende Machtpotenzial des Landes. Zusätzlich gestärkt wird diese Stellung durch die vergleichsweise günstige demografische Entwicklung des Landes sowie seine großen Rohstoffvorkommen und landwirtschaftlich nutzbaren Flächen. All dies gilt im Grundsatz auch für die Trump-Administration, nur dass unter ihr zwei essenzielle Elemente des traditionellen US-amerikanischen Außenpolitikverständnisses abhandengekommen sind: weder beansprucht die jetzige Administration bei allem kraftstrotzenden Auftreten nach außen die gleichzeitige Übernahme einer globalen Führungsverantwortung – im Rahmen internationaler Organisationen, mittels eines einzigartigen globalen Netzwerks von Stützpunkten und die Sicherung des globalen Freihandels –, noch schätzt sie die Vorzüge des Multilateralismus und vorsichtiger Diplomatie, die sich der politisch-psychologischen (weniger vielleicht der materiellen) Grenzen auch einer Supermacht bewusst ist. Trump ist zudem der erste Präsident, der sich nicht daran zu stoßen scheint, dass der Universalitätsanspruch liberaler Demokratie, verkörpert v. a. durch die USA und Europa, durch Russlands und Chinas Autoritarismus zunehmend in Frage gestellt wird. Unter ihm hat sich Washington zumindest vorübergehend von der Idee der ‚Erzwingung‘ westlicher Ordnungsmodelle verabschieden. Damit erfährt ein seit Ende des Kalten Krieges beobachtbarer parteiübergreifender Trend seinen Höhepunkt, wonach alle Administrationen sukzessive von einer multilateralen Einbettung ihrer Entscheidungen zugunsten unilateraler Entscheidungen abrückten. Unter Trump wird dieses instrumentelle Verständnis von Multilateralismus und die sprichwörtliche amerikanische Ambivalenz gegenüber internationalen Organisationen erstmals durch eine offene Ablehnung selbiger abgelöst – mit erheblichen Konsequenzen für die liberale Ordnung (Jarvis et al. 2018).

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Ordnung gestalten als Ausfluss von Macht – einige theoretische Überlegungen zur einzigartigen Stellung der USA in der Welt

Begreift man Macht als Ausdruck von Ressourcenansammlung zur Durchsetzung des eigenen Willens im Sinne Max Webers und damit verbunden als Mittel zur autonomen Gestaltung innerer wie äußerer Ordnung (Weber 1972, S. 28; ähnlich Deutsch 1970, Kap. 7), dann waren die USA bis zum Ausbruch der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 mächtiger denn je, „die erste Weltmacht der Geschichte im Weltmaßstab“ (Rühl 2005, S. 28). Seit Ende des Kalten Krieges dominierten die USA die Weltpolitik bis dahin mit einer beispiellosen Kombination aus politischem Führungswillen, militärischer Stärke, Wirtschaftskraft und kultureller Meinungsführerschaft, letztere nicht zuletzt als Ergebnis der technologischen Revolution und der damit verbundenen (ökonomischen) Globalisierung. Für viele Beobachter steht dabei fest, dass beide Entwicklungen zwar den Austausch von Kulturen und Gütern befördern, dieser Prozess aber vor allem bis zum Irak-Krieg und dem Platzen der ersten größeren Blase in den USA 2003 zur Einbahnstraße geworden war: Diversität war sozusagen zugunsten von Uniformität im Sinne von „Amerikanisierung“ aufgehoben. Noch weit mehr als die US-amerikanische Wirtschaftsphilosophie der „New Economy“ und des Neoliberalismus provozierte die kulturelle Hegemonie der USA als Bestandteil der „weichen Macht“ Amerikas weltweit nicht nur Ablehnung, sondern auch Anziehung und Faszination. Neben den Technologiezentren von der Ostküste bis nach Kalifornien, der gewaltigen Luft- und Raumfahrtindustrie sowie der Ölindustrie zwischen Texas und Alaska, Megakonzernen wie „Microsoft“ oder „Intel“ sind es bis heute die Medienmacht von Film und Fernsehen sowie der sich weltweit ausbreitende „American way of life“, die weltweit und auch in Europa als Verheißung wie Bedrohung zugleich wahrgenommen werden. Amerikas Ausnahmestellung in der jüngsten Vergangenheit war die logische Konsequenz des Umbruchs der Jahre 1989–1991, der die USA als einzig global handlungsfähige Weltmacht bzw. „Überpower“ hinterließ, und Washington die Chance gab, die Welt nach seinen Vorstellungen zu gestalten (Krauthammer 1990, S. 23–33; Wolforth 1999, S. 5–41; Joffe 2006, S. 13–66). Dabei geschah dies weitgehend frei von „überseeischen Verstrickungen“ (bisweilen auch im Jeffersonschen Sinne der internationalen Selbstbeschränkung zur Bewahrung der US-amerikanischen Demokratie) und mit der Perspektive des weltweiten Friedens (im Sinne des Wilsonschen moralischen Rigorismus, der Demokratie als Ideologie in die Welt trägt), aber jederzeit fähig zur globalen Machtprojektion, wenn die nationalen Interessen (freihändlerische im Sinne Alexander Hamilton oder sicherheitspolitische im Sinne des Jacksonischen Interventionismus) es nahe legten (Mead 2002). Das Ende des Ost-West-Konflikts schuf eine neue Ordnung, die auch die Rahmenbedingungen für die transatlantischen Beziehungen nachhaltig veränderte: Mit dem Wegfall der sowjetischen Bedrohung entfiel der über jede systeminterne Krise erhabene Zwang zur Zusammenarbeit, nachdem das weitgehend befriedete Europa für die USA an Stellenwert zugunsten des ‚Größeren Mittleren Ostens‘ (broader middle east) und aktuell Asiens an Bedeutung verlor bzw. Europa sich anschickte, durch die Entwicklung der GASP/GSVP sein

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Gewicht in der Welt zu verstärken, zumindest einen bestimmten Grad an Unabhängigkeit von Washington zu erzielen oder gar von einer Politik der Gegenmachtbildung träumte, der zufolge auch das NATO-Bündnis in die Bedeutungslosigkeit zu versinken drohte (Fröhlich 2012). Die Ausnahmestellung Washingtons wurde nach dem Ende der Bipolarität durch die Ohnmacht der Europäer jenseits aller Lippenbekenntnisse und institutionellen Vorkehrungen in der politischen Praxis (Balkan) zunächst noch gefestigt und veranlasste bereits Bill Clinton, im Januar 1997 von der „unersetzlichen Macht“ USA (indispensable power) zu sprechen, deren Mittel (einschließlich militärischer Art) nötigenfalls auch unilateral einzusetzen seien (Clinton 1996). Die Macht der USA erwuchs nach diesem Verständnis also nicht allein aus seinem überragenden Militärpotenzial oder seiner Wirtschaftskraft, sondern auch aus einer Auffassung, wonach Gestaltung (im Sinne von Ordnung gestalten) die zentrale Aufgabe aller, an bestimmte Wertvorstellungen gebundenen Staatlichkeit im Inneren wie im Äußeren ist. Danach kann und gibt es eben auch keine zentrale Ordnungsgewalt auf internationaler Ebene. Die Vereinten Nationen können dies aus Sicht der USA nicht leisten, weil die Mitglieder ihre Kräfte nicht aus freien Stücken bündeln. Der auf diesem Grundverständnis basierende, viel gescholtene Unilateralismus der Amerikaner setzte wie oben erwähnt also keinesfalls erst mit dem Amtsantritt von George W. Bush ein, und er war auch nicht ausschließlich ein Phänomen der Exekutive. Die Festlegung auf die Raketenabwehr 1999, die Weigerung des Senats, dem atomaren Teststoppvertrag zuzustimmen, im gleichen Jahr, die zögerlichen Verhandlungen der US-Delegationen bei den Gesprächen über ein Verifikationsprotokoll für die Konvention gegen biologische Waffen, das Blockieren des KyotoProtokolls wie des Internationalen Strafgerichtshofs – all diese Entwicklungen signalisierten bereits in den neunziger Jahren das gewandelte Selbstverständnis der Supermacht in der Außenpolitik und führten, befeuert durch die Auseinandersetzungen um Todesstrafe und religiöse Freiheit, bereits in dieser Zeitspanne immer wieder zu latenten Spannungen im transatlantischen Verhältnis und mit den Schwellenländern bzw. zu Reflexen, die US-amerikanische Macht wenn nicht einzudämmen, so doch zu „zähmen“ (Walt 2005, S. 105–120). Der Präemptivschlag im Irak unter der Bush-Administration hatte diesen Reflex wie kein anderes Ereignis bis zur Präsidentschaft Trumps verstärkt. Bei allen Variationen US-amerikanischer Weltpolitik nämlich galt zumindest bis 9/11 eine Konstante: die USA unangefochten und machtvoll zu halten, es gleichzeitig aber mit einer großen Anzahl von Bündnispartner verbunden zu sehen. In diesem Sinne akzeptierte die Welt den ‚wohlwollenden Hegemon‘, die ‚unverzichtbare‘ Nation zum weltweiten Schutz der von ihr verkörperten Werte, die zwar auch ganz praktische, realpolitische und kommerzielle Interessen verfolgte, aber eben nicht imperial auftrat. Die Rückkehr zu dieser einzigartigen Stellung der USA war das erklärte Ziel von Obama nach seinem Amtsantritt 2009. Dabei galt auch unter seiner Präsidentschaft, dass sich Washington der Welt zunächst weit weniger moralistisch und idealistisch präsentierte als noch zu Beginn dieses Jahrhunderts. Die Obama-Administration betonte wiederholt, dass sie einen „außenpolitischen Realismus“ jeder „ideologi-

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sierten Außenpolitik“ vorziehe (Rudolf 2008). Dennoch stand auch Obama in einer außenpolitischen Tradition, in der Idealismus und Realismus, Moral und Macht bzw. Interessen miteinander verschmelzen. Danach können die USA aufgrund ihrer Ressourcen zwar die eigenen Interessen unilateral verfolgen, sind sich aber andererseits ihrer besonderen globalen Verantwortung für die Stabilität des internationalen Systems bewusst und beschränken daher den Einsatz ihrer militärischen Macht nicht auf den Schutz der US-amerikanischen Bevölkerung und vitaler Interessen in Fällen tatsächlich oder unmittelbar bevorstehender Angriffe. In der Überzeugung, dass Demokratie die einzig legitime Regierungsform darstellt, wollte Washington auch künftig demokratische Entwicklungen in aller Welt unterstützen – weniger im Sinne einer Politik des regime change mit vorwiegend militärischen Mitteln, aber eben doch im Sinne dessen, was die damalige Außenministerin Hillary Clinton als smart power bezeichnet hat: der flexiblen Kombination aus militärischer Macht und ökonomischem Druck auf der einen (hard power) sowie Diplomatie und moralischer Autorität (soft power) auf der anderen Seite (siehe hierzu Nye 1990). War die nationale Sicherheit Amerikas aber bedroht, so waren Unilateralismus und selbst Präemptivschläge möglich, sollte die internationale Staatengemeinschaft zu geschlossenem Handeln nicht in der Lage sein (Obama 2008, S. 308 f.). Zugespitzt lässt sich dieser Ansatz auf die Formel: multilateral, wenn möglich, unilateral, wenn notwendig reduzieren. Dieser Grundprämisse US-amerikanischer Außen- und Sicherheitspolitik folgte auch die Obama-Administration wieder und erst unter Trump kam es mit der radikalen Infragestellung der NATO und dem Protektionismus in Handelsfragen zu ihrer vorläufig endgültigen Aufkündigung. Mit Trump verstärkt sich somit der Druck in Richtung einer veränderten Lastenteilung auf die Europäer (Gordon und Shapiro 2019; Inman 2018). Ob die größere US-amerikanische Zurückhaltung beim globalen Konflikt- und Krisenmanagement Europa darüber hinaus in seiner Einschätzung bestätigen wird, dass die an die Peripherie gewanderten Kriege im 21. Jahrhundert nicht allein mit den herkömmlichen Mitteln zu lösen sind, sondern in Form von langwierigen, zumeist eingefrorenen Konflikten einen langen Atem erfordern, bleibt abzuwarten. Der Preis dafür wiederum könnte aber auch das Eingeständnis Europas sein, dass der Anspruch eines wohlmeinenden humanitären Interventionismus jenseits des Einsatzes militärischer Macht an der politischen Realität und dem eigenen (Nicht-)Handeln zerschellt.

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Die besondere Rolle der militärischen Machtasymmetrie

Nichts dokumentiert die Supermachtstellung der USA eindrucksvoller und ist ursächlich für ihren hegemonialen Internationalismus als seine militärische Stärke. Ton und Stil hatten sich in der Außenpolitik unter Obama zwar verändert – zu groß war der Imageschaden für das Land nach dem unilateralen Handeln Washingtons im Irak, der zunehmenden Instrumentalisierung der NATO durch die USA bereits im Krieg gegen das Taliban-Regime in Afghanistan und der daraus resultierenden zunehmenden Ignoranz gegenüber den Bündnispartnern. In den USA blieb aber der Kampf gegen den Terrorismus – parteiübergreifend – eine zentrale Aufgabe; der

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11. September 2001 bestimmte zwar nicht mehr ausschließlich den außenpolitischen Kurs und nach der Sicherheitsstrategie von 2010 (NSS 2010) war es nunmehr das Ziel, den Krieg nicht mehr in Feindesland zu tragen, sondern ihn stattdessen an der Heimatfront zu bekämpfen (homeland security). Sollte sich Washington aber bedroht fühlen, so würde es nicht davor zurückschrecken, notfalls unilateral und auch präventiv loszuschlagen. Dieser Paradigmenwechsel ergab sich geradezu zwangsläufig nach dem Rückzug US-amerikanischer Truppen aus dem Irak im Dezember 2011 sowie der Entscheidung für einen Abzug des Militärs in Afghanistan, wie er weitgehend 2014 vollzogen wurde. Beide Entscheidungen sowie die Kürzungspläne für den Verteidigungsetat änderten jedoch nichts an der Tatsache, dass die Führungsrolle der USA in der Welt sich auch unter Obama aus seiner überragenden militärischen Überlegenheit speisen würde. Auch wenn die Grenzen dieser Dominanz Washington in den vergangenen Jahren schmerzlich vor Augen geführt wurden und am Image der Weltmacht empfindliche Kratzer hinterließen (Bacevich 2008; Layne 2009, S. 147–172), sollte der Abschreckungs- wie der psychologische Effekt dieser Dominanz dennoch nicht unterschätzt werden. Auf diesen Effekt setzt auch die Trump-Administration. Unter ihm sind die Rüstungsausgaben sogar weiter gestiegen, gleichwohl der Präsident einen Rückzug der USA aus der globalen Verantwortung angekündigt und in Teilen auch vollzogen hat. Die US-amerikanischen Ausgaben sind derzeit in etwa doppelt so hoch wie die der EU-27 und dreimal größer als die Chinas – legt man die geschätzten Zahlen des chinesischen Verteidigungshaushalts zugrunde, die die offiziellen in etwa um das Zwei- bis Dreifache überschreiten. So gilt auch unter Trump, dass kein anderes Land nur annähernd an die militärischen Fähigkeiten der USA heranreicht. Die US-amerikanischen Streitkräfte sind die mit weitem Abstand bestausgerüsteten und fähigsten in der Welt. Aufgrund der vollständigen Digitalisierung ihrer Führungsstrukturen und nicht zuletzt aufgrund von Ausbildungsstand, Training und Doktrin sind sie in der Lage, mit geringsten Reibungsverlusten die verschiedenen Teilstreitkräfte im Kampf zu bündeln und sowohl integrierte Operationen wie in Afghanistan oder im Irak durchzuführen wie theoretisch auch die Eskalationsdominanz in einem Großmächtekonflikt zu entwickeln. Kein anderes Land ist in der Lage, seine militärische Macht derart global einzusetzen. Mit einem weltumspannenden Netz an Militärbasen und ihrer auf allen Weltmeeren präsenten Flugzeugträgerflotte können die USA ohne Zeitverlust rasch auf etwaige Krisen in der Welt reagieren und militärische Macht projizieren. So bleibt die überragende Militärmacht der USA wohl auch weiterhin „nicht die Ursache amerikanischer Stärke, aber ihre Konsequenz“ (Kreft 2009, S. 23–27). Und wo immer diese in die Waagschale geworfen wird – ob in regionalen Konflikten oder in Friedensverhandlungsprozessen wie im Nahen Osten -, lässt deren politisch-psychologische Wirkung als Droh- und Rückversicherungspotenzial die Konfliktparteien die Führungsrolle Washingtons letztlich akzeptieren. Gestützt auf diese Ressourcen kann Washington auch künftig seine überragende Militärpräsenz zur Projektion stabiler Verhältnisse vor allem im so genannten ‚Greater Middle East‘ wie in der pazifischen Region nutzen – auf Grund der angestrebten

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Energieunabhängigkeit vielleicht weniger zur unmittelbaren Sicherung der freien Ölzufuhr bzw. der geostrategisch relevanten Netzwerke und Transportwege, dafür aber zur Aufrechterhaltung des jeweiligen regionalen Kräftegleichgewichts. Allerdings ist Washington unter der derzeitigen Regierung gewillt, sich zum einen diesen Regionen mit seinen ordnungspolitischen Vorstellungen nicht weiter als nötig aufzudrängen. Für Trump geht es im globalpolitischen Engagement weder um nation building noch um Demokratieförderung, sondern ausschließlich um US-amerikanische Sicherheit und Interessen. Zum anderen wird Washington unter seiner Amtszeit alles unternehmen, um die sich daraus ergebenden enormen finanziellen Belastungen für Washington endgültig zu senken. Das Instrument für diese Strategie sahen die USA unter Obama dabei im Nahen und Mittleren Osten in einer regionalen kollektiven Sicherheitsarchitektur, in der neben den Staaten der Region und den Europäern auch China, Indien und evtl. Russland einen Teil der Kosten übernehmen und wenn möglich auch militärisch präsent sein sollen – eine Vorstellung, die auch die TrumpAdministration zumindest in Bezug auf eine fairere Lastenteilung hegt.

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Perspektiven der zukünftigen US-Außenpolitik

Ob eine solche breitere Lastenteilung unter pragmatischer Einbeziehung der genannten Akteuren dann nicht das Ende einer an der Idee des liberalen Internationalismus orientierten US-Außenpolitik bedeutet, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt schwer prognostizieren. Es ist gut möglich, dass Trumps außen- und sicherheitspolitischer Kurs auch unter einem anderen Präsidenten die neue Normalität wird. Mit Trump jedenfalls werden nicht nur die Europäer, sondern die Bündnispartner der USA weltweit geradezu gezwungen, endlich auf dem einen oder anderen Weg aus dem übermächtigen Schatten der USA herauszutreten. Kommt es zu einem Einvernehmen der USA mit Moskau (und Peking), wie es Trumps Faible für eine Aufteilung der Welt unter den Großmächten verheißt, ist ein solcher Schritt zwangsläufig, da Europas Verwundbarkeit sich dramatisch erhöht. Für diese Entwicklung würde sprechen, dass Washington Russland nicht als ein unmittelbares Sicherheitsrisiko für die Vereinigten Staaten betrachtet und auch die wirtschaftliche Verflochtenheit vergleichsweise gering ist. Hinzu käme, dass nicht wenige Republikaner dem europäischen Integrationsprojekt ohnehin kritisch gegenüberstehen und Trump ganz offensichtlich der Vision einer Welt ohne Abhängigkeiten von Allianzen und multilateralen Kooperationen anhängt, in der er auch die Beziehungen zu den Europäern als eher transaktionale, pragmatische statt wertebasierte betrachtet – ein Ansatz, den Russland (und China) begrüßen. Noch darf man in Europa darauf hoffen, dass in Washington die Mehrheit (selbst im Republikanischen Lager) davon überzeugt ist, dass das Land auch künftig auf die Unterstützung der Europäer angewiesen sein wird – nicht nur, weil sie, bei allen Defiziten, die einzig verlässlichen Partner sind, die Washington hat, sondern auch, weil Europas Stützpunkte geopolitisch unverzichtbar sind, solange das Land den Anspruch auf die globale Führungsrolle aufrechterhalten will. Bleibt es am Ende also doch beim US-amerikanischen Bekenntnis zur Sicherheitspartnerschaft mit

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Europa und setzen sich die Traditionslinien US-amerikanischer Außenpolitik durch, dann dürfte dennoch der Kompromiss der jetzigen – und wohl auch jeder künftigen Regierung in Washington – darin bestehen, dass man an der Beistandsgarantie innerhalb des Bündnisses (Art. 5) zwar festhält, den russischen Interessen an der Peripherie aber insofern entgegenkommt, als die Idee der Erweiterung von NATO und EU endgültig begraben wird. Einen größeren Konflikt jedenfalls will Washington weder mit Moskau noch mit Peking. So wird es im Nahen und Mittleren Osten wohl zu einer sukzessiven Aushöhlung der US-amerikanischen Unterstützung für die AssadOpposition und einen Syrien-Deal mit Moskau dergestalt kommen, dass künftig ausschließlich der gemeinsame Kampf gegen den IS im Besonderen und den internationalen Terrorismus im Allgemeinen in den strategischen Fokus Washingtons rückt. Darüber hinaus gilt Washingtons Interesse vor allem einer Aufrechterhaltung des Kräftegleichgewichts in der Region durch Unterstützung der traditionellen strategischen Partnerschaft mit Saudi-Arabien zur Eindämmung insbesondere iranischer Hegemonialambitionen. Und auch im Fall der chinesischen Herausforderung geht es Trump zunächst um ein stabiles Gleichgewicht zwischen Peking und Washington, indem man chinesische Provokationen im Ost- und Südchinesischen Meer zwar entschlossen entgegentritt und die eigenen Verteidigungsallianzen stärkt, ansonsten aber darauf verzichtet, China selbst einzudämmen – mit Ausnahme der revisionistischen Haltung in der Handelspolitik.

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Fazit

Wir haben uns seit Beginn des 21 Jahrhunderts daran gewöhnt, dass die weltpolitische Führungsrolle der USA zunehmend in Frage gestellt wird. Grund hierfür ist nicht nur der Aufstieg Chinas und anderer Schwellenländer, sondern auch die spürbar geringere Neigung Washingtons, globale Verantwortung auch im Alleingang zu übernehmen. Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise nährte zudem die These von der mangelnden Nachhaltigkeit des US-amerikanischen Modells. Unter Obama schien das Land dabei zu erkennen, dass die veränderten globalen Rahmenbedingungen eine größere Anpassungsfähigkeit und eine Rückkehr zum Programm des liberalen Internationalismus erforderten – jener traditionellen Verbindung von Diplomatie und militärischer Stärke, wie sie kennzeichnend war für die Außenpolitik über die gesamte Phase des Kalten Krieges und vor allem in der Clinton-Ära. Die Mehrheit des Landes wie der politischen Eliten glaubte unverändert an die Überlegenheit des US-amerikanischen Systems und Linksliberale wie Liberal-Konservative schienen sich einig in der Forderung, dass die Außenpolitik des Landes letztlich weiterhin auf der Annahme basieren musste, dass eben nur der Liberalismus den Weg in die Moderne weist und dass das aktive Eintreten für dessen Grundwerte und Prinzipien die Voraussetzung für eine erfolgreiche Außenpolitik und stabile Weltordnung ist. Mit Trump scheint erstmals ein Präsident mit dieser Tradition zu brechen und die Welt wird vielleicht auf absehbare Zeit auch ohne Führung der USA leben müssen – wobei sie im Übrigen in Teilen bereits unter Obama abhandengekommen war. Deswegen bereits vom Ende des liberalen Internationalismus oder gar des ‚Westens‘

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zu sprechen, scheint allerdings übertrieben. Zum einen ist die sporadische Selbstgefährdung Wesensmerkmal seiner Geschichte und in dieser haben auch europäische Nationen im 20. Jahrhundert dafür gesorgt, dass dieser Westen mal kleiner (Italien, Deutschland oder Spanien), mal größer (EU-Erweiterung um die mittel- und osteuropäischen Staaten) war. Bisher haben sich dessen ungeachtet die Gegenkräfte immer als so machtvoll erwiesen, dass der Kernbestand dieses Projekts – der souveräne Nationalstaat nach europäisch-amerikanischem Muster – bis heute niemals von der Selbstaufgabe bedroht war. Zum anderen bedeutet der so vehement geziehene Rückzug der USA aus multilateralen Vereinbarungen bislang jedenfalls noch keine generelle Missachtung des Völkerrechts oder völkerrechtlicher Vereinbarungen. Weder die Kündigung des Klimaschutzabkommens noch Trumps Rückzug von Freihandelsabkommen wie dem Transpazifischen Partnerschaftsabkommen (TPP) oder dem Transatlantischen Handels- und Investitionsabkommen (TTIP) stellen einen Bruch mit dem Völkerrecht dar; im einen Fall ist eine Rückzugs- und Kündigungsklausel enthalten, im anderen erlaubt das anerkannte Instrument des Gestaltungsrechts jedem Staat vor Vertragsunterzeichnung von diesem zurückzutreten. Lediglich im Fall des Nuklearabkommens mit dem Iran bedeutet Trumps einseitige Aufkündigung eine Verletzung der mit dem politischen Abkommen verbundenen Resolution des UN-Sicherheitsrats zur konkreten Festlegung in Bezug auf seine Implementierung. Schließlich kann vor allem Europa oder sogar die Welt gar Positives aus Trumps Agenda für den eigenen Integrationsprozess erfahren, wenn es denn tatsächlich sein eigenes Schicksal in die Hand nimmt. Indem der Präsident erstmals nicht den normativen Anspruch erhebt, als Führer der freien Welt oder liberalen Ordnung aufzutreten, ergibt sich vielleicht auch die Chance, im Rahmen einer Allianz der Staaten, die bereit sind zur Stärkung von internationalen Normen und Regeln, einen Ordnungsrahmen zu schaffen, der frei ist vom Anspruch westlicher Dominanz und somit von anderen Großmächten neben den USA akzeptiert werden kann.

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Teil VI Empire of Liberty: Die USA in der Welt

Die USA und das Völkerrecht Kontinuität und Wandel in einer schwierigen Beziehung Helmut Philipp Aust

Inhalt 1 2 3 4

Einleitung: Völkerrecht im Zeitalter der (ersten) Trump-Administration . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Great Powers“ und das Völkerrecht – ein spannungsgeladenes Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . Die Rolle der Vereinigten Staaten im historischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Völkerrechtswissenschaft zwischen Foreign Relations Law und Policy-Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Unter Präsident Trump scheinen sich die Vereinigten Staaten von Amerika vom Völkerrecht und seinen Institutionen abzuwenden. Auch wenn manche Attacke sich bisher in einer aggressiven Rhetorik erschöpft, wird das ohnehin nicht konfliktfreie Verhältnis der USA zum Völkerrecht durch die aktuelle politische Entwicklung auf eine harte Probe gestellt. Der Beitrag ordnet diese Entwicklung in eine breitere historische Perspektive ein, wobei sowohl das Verhältnis der US-Außenpolitik zur Völkerrechtsordnung untersucht wird, als auch die methodischen Besonderheiten der US-amerikanischen Völkerrechtslehre gewürdigt werden. Schlüsselwörter

Völkerrecht · Außenpolitik · Vereinte Nationen · Internationale Ordnung · Völkerrechtswissenschaft

H. P. Aust (*) Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_58

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Einleitung: Völkerrecht im Zeitalter der (ersten) TrumpAdministration

In seiner Ansprache vor der UN-Generalversammlung im September 2017 zeichnete US-Präsident Trump das düstere Bild einer Welt, in der globale Eliten und Schurkenstaaten gemeinsam die amerikanische Demokratie aushöhlen: „For too long, the American people were told that mammoth multinational trade deals, unaccountable international tribunals, and powerful global bureaucracies were the best way to promote their success.“ (Trump 2017) Die Rückbesinnung auf nationalstaatliche Souveränität sei dagegen der richtige Weg, um Sicherheit und Wohlstand des Planeten zu gewährleisten. Spricht aus diesen Worten eine Abkehr nicht nur von der sprichwörtlichen liberalen internationalen Ordnung, sondern auch vom Völkerrecht? Und findet diese Sorge Bestätigung in der praktischen Außenpolitik der Vereinigten Staaten? Seit der Amtseinführung von Präsident Trump im Januar 2016 hat es jedenfalls nicht an zumindest symbolisch gewichtigen Schritten gefehlt, mit denen die US-Regierung eine Abkehr von multilateralen Regeln und Institutionen zum Ausdruck gebracht hat. Genannt seien hier nur die geplante Kündigung des Pariser Klimaschutzabkommens, die Erhebung neuer Sanktionen gegenüber dem Iran, die zumindest in einem Spannungsverhältnis zum „Joint Comprehensive Plan of Action“ (JCPOA) stehen oder der Rückzug aus dem UN-Menschenrechtsrat. Gegenüber dem Nachbarstaat Mexiko legt die US-Regierung einen rücksichtslosen Verhandlungsstil an den Tag und droht mit der Erhebung von neuen Zöllen, die sowohl im Lichte der bestehenden NAFTA-Verpflichtungen als auch im Hinblick auf das noch nicht in Kraft getretene „USMCA“-Abkommen fragwürdig sind. Auf den Einsatz von Chemiewaffen in Syrien reagierten die Vereinigten Staaten 2017 sowie 2018 gemeinsam mit den Verbündeten Frankreich und Großbritannien mit militärischen Vergeltungsschlägen, die moralisch-politisch einleuchten mögen, deren völkerrechtliche Grundlage aber alles andere als unstrittig ist (Aust und Payandeh 2018). Will man die Außenpolitik der Regierung Trump völkerrechtlich einordnen, so stellen sich verschiedene Vorfragen, die auch im Lichte vergleichender historischer Erkenntnisse zu diskutieren sind. Eine grundlegende Unterscheidung ist zunächst diejenige zwischen (rechts-) politisch unerwünschtem Verhalten und Verletzungen des Völkerrechts (Dörr 2017). Das Völkerrecht basiert immer noch ganz wesentlich auf dem Staatenkonsens (Krisch 2014). Völkerrechtliche Regeln entstehen durch das Zusammenwirken von Staaten in den vom Völkerrecht vorgesehenen Formen des Vertragsrechts, Gewohnheitsrechts und der allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Art. 38 des IGH-Statuts niedergelegt sind. Beteiligt sich ein Staat nicht an Rechtssetzungsprozessen, kann er grundsätzlich auch nicht durch neu entstehende Normen gebunden werden. Sieht ein völkerrechtlicher Vertrag die Möglichkeit der Kündigung vor, wie z. B. Art. 28 des Pariser Klimaschutzabkommens, so steht den Staaten diese Möglichkeit als Ausdruck ihrer Souveränität auch offen. Nicht jede Form des „Rückzugs“ aus Institutionen und Regimen stellt somit einen Völkerrechtsverstoß dar, mag sie auch

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rechtspolitisch unerwünscht sein oder gar für den Schutz von globalen Gemeinschaftsinteressen wie dem Weltklima höchst bedrohliche Folgen haben. Zweitens besteht die Gefahr, sich in der Kritik einzelner Völkerrechtsbrüche und im Einzelnen nicht einmal völkerrechtswidriger Handlungen, wie dem bereits erwähnten möglichen Rückzug aus dem Pariser Klimaschutzabkommen, zu stark auf die Vereinigten Staaten zu konzentrieren. Auch andere Staaten verstoßen gegen das Völkerrecht. Die Fortentwicklung des Völkerrechts durch die Schaffung neuer Regeln basiert ohnehin auf der souveränen Entscheidung jedes einzelnen Staates. Die Vereinigten Staaten haben als nach Ende des Kalten Krieges zunächst einzig verbleibende Supermacht hier teilweise ein überproportionales Maß an kritischer Aufmerksamkeit erfahren (siehe aber Nolte 2003). In der sich aktuell verändernden geopolitischen Situation verfolgen jedoch auch andere Staaten robust ihre eigenen Interessen und nehmen dabei Verstöße gegen geltende völkerrechtliche Regeln in Kauf. Die russische Annektion der Krim im Jahr 2014 und die Missachtung der Zuständigkeit eines internationalen Schiedsgerichts durch China im Hinblick auf das südchinesische Meer sind nur zwei einschlägige Beispiele (vergleichend Roberts 2017). Die Persönlichkeit des aktuellen US-Präsidenten und der teilweise in Züge einer Reality Show abkippende US-amerikanische politische Diskurs tragen nicht dazu bei, Kontinuitäten und historische Vergleichspunkte für eine völkerrechtliche Einschätzung der aktuellen US-amerikanischen Außenpolitik zu Tage treten zu lassen. Der vorliegende Beitrag will vor diesem Hintergrund strukturelle Bedingungen für das Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und der Völkerrechtsordnung in den Vordergrund rücken. Dazu werden zunächst einige Grundlagen für die Diskussion des Verhältnisses zwischen „great powers“ und Völkerrechtsordnung gelegt (Abschn. 2). Sodann spürt der Beitrag unterschiedlichen historischen und politischen Konjunkturen im US-amerikanischen Völkerrechtsverständnis nach, wobei hier nur einige Schlaglichter auf ein vielschichtiges und komplexes Thema geworfen werden (Abschn. 3). Eine für das Verständnis US-amerikanischer Völkerrechtspraxis und – politik wichtige Konstante ist dabei die Besonderheit auch der methodischen Herangehensweise der US-amerikanischen Völkerrechtswissenschaft, die sowohl gegenüber Einflüssen des nationalen Rechts sehr offen als auch durch eine starke Repräsentation von „realistischen“ und policy-orientierten Herangehensweisen gekennzeichnet ist (Abschn. 4). Der Beitrag endet mit einem Fazit (Abschn. 5).

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„Great Powers“ und das Völkerrecht – ein spannungsgeladenes Verhältnis

In der Völkerrechtswissenschaft gibt es eine zwar lange zurückreichende, aber nicht immer offen geführte Debatte um die Rolle von Großmächten und ihrer Bedeutung für die Völkerrechtsordnung (Simpson 2004). Die Zurückhaltung, sich auf eine entsprechende Debatte einzulassen, ist methodisch grundiert. Die Machtfrage ist keine Rechtsfrage, sondern vielmehr aus dem Blickwinkel einer Soziologie der internationalen Beziehungen zu betrachten. Das kann aber auch für Positivisten

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nicht bedeuten, dass die Machtfrage ignoriert werden darf. In den Worten Hans Kelsens kann das Recht zwar nicht ohne Macht bestehen, ist „aber doch nicht identisch mit der Macht. Es ist (. . .) eine bestimmte Ordnung (oder Organisation) der Macht.“ (Kelsen 1960, S. 220) Das geltende Völkerrecht kennt an sich keine Differenzierung zwischen unterschiedlich mächtigen Staaten. Vielmehr basiert die heutige Völkerrechtsordnung auf dem in Art. 2 Nr. 1 UN-Charta verankerten Grundsatz der souveränen Gleichheit (Fassbender 2012a). Einzelne Durchbrechungen dieses Grundsatzes beruhen wiederum auf der Zustimmung der beteiligten Staaten und stellen insofern keine unzulässige Privilegierung de lege lata (d. h. nach dem geltenden Recht) dar. So beruht etwa die hervorgehobene Stellung der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates ebenso auf dem Staatenkonsens wie die gewichteten Stimmrechte in den Gremien der sogenannten „Bretton Woods“-Institutionen (Weltbank und Internationaler Währungsfonds). Zugleich ist es evident, dass die Völkerrechtsordnung durch einzelne Staaten stärker geprägt wird als durch andere. Dies ist stets mehr oder weniger im Bewusstsein der Völkerrechtslehre verankert gewesen. So befasste sich Wilhelm Grewe in seiner erst 1984 veröffentlichten, aber in den 1930er-Jahren entstandenen Habilitationsschrift zu den „Epochen der Völkerrechtsgeschichte“ mit den Prägungen unterschiedlicher Zeitalter durch vorherrschende Mächte (Grewe 1984). Ebenfalls in den 1930er-Jahren schrieb Heinrich Triepel sein Werk über „Die Hegemonie“, die er als Zustand zwischen Beherrschung und reinem Einfluss situierte und damit ein Modell für die Charakterisierung eines Zustands der Vorherrschaft skizzierte (Triepel 1938). Der im Nachkriegsdeutschland höchst einflussreiche Völkerrechtler Hermann Mosler (Lange 2017) hielt seine Bonner Antrittsvorlesung 1946 über „Die Großmachtstellung im Völkerrecht“ und erkannte Mächten diesen Rangs zwar die gleichen Rechte zu wie allen anderen Staaten, formulierte aber zugleich den Einwand, bei diesen handele es sich um Staaten, die aufgrund ihres Ordnungsanspruchs über eine größere Menge von Zuständigkeiten zur Aufrechterhaltung dieser Ordnung hätten (Mosler 1946). Noch während der NS-Zeit entwarf der „Kronjurist des Dritten Reichs“, Carl Schmitt die Idee einer „Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ (Schmitt 1939), die er in Anlehnung an die US-amerikanische Monroe-Doktrin skizzierte. Die Inanspruchnahme besonderer Vorrechte der Vereinigten Staaten für die südamerikanische Hemisphäre (Meiertöns 2010) stand hier Pate für ein Ordnungsmodell eines Europas, welches vom Dritten Reich beherrscht werden sollte. Auch Grewes „Epochen der Völkerrechtsgeschichte“ liefen in ihrer Konstruktion auf ein deutsches Zeitalter des Völkerrechts hinaus, welches dann in der 1984 veröffentlichten Version nicht mehr auftauchte (Fassbender 2002).

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Die Rolle der Vereinigten Staaten im historischen Kontext

Die Rolle der Vereinigten Staaten in diesen Debatten veränderte sich parallel zur Entwicklung der US-amerikanischen Außenpolitik. So ist es augenfällig, dass die Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert als neuer und um internationale Anerken-

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nung kämpfender Staat im Großen und Ganzen sehr völkerrechtsfreundliche Positionen vertraten. In der Rechtsprechung des US Supreme Court manifestierte sich dies in Ausführungen, dass Völkergewohnheitsrecht auch „part of our law“ sei und zudem innerstaatliche Gesetze im Zweifel so auszulegen waren, dass sie nicht im Konflikt zu völkerrechtlichen Verpflichtungen stehen (Sloss et al. 2010). Im 20. Jahrhundert entwickelte sich demgegenüber ein ambivalenteres Verhältnis der Vereinigten Staaten zur Völkerrechtsordnung. Die mit Präsident Wilson verbundenen Hoffnungen auf ein US-amerikanisches Engagement im Völkerbund erfüllten sich bekanntermaßen nicht (Conze 2018). Nach den im Anschluss an den Ersten Weltkrieg vorherrschenden isolationistischen Tendenzen erfolgte der Durchbruch der Vereinigten Staaten zur globalen Ordnungsmacht erst mit dem Zweiten Weltkrieg und der Schaffung der Nachkriegsinstitutionen der Vereinten Nationen. Im Kalten Krieg neutralisierten sich die beiden Supermächte in ihrem Anspruch auf Vorherrschaft sodann gegenseitig. So war es kein Zufall, dass mit Ende des Kalten Krieges eine neue Debatte um die Rolle von „Großmächten“ ausbrach. Insbesondere im Hinblick auf die Vereinigten Staaten wurde nun diskutiert, ob diese die Stellung eines Hegemons einnehmen würden (Byers und Nolte 2003). Dabei wies die Debatte durchaus unterschiedliche Stoßrichtungen auf. Ging es den einen um einen Wandel hin zu einer liberalen Völkerrechtsordnung, die durch ein stärkeres Bekenntnis zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten geprägt war (Fisler Damrosch 1989; Franck 1992; Slaughter 1993), stand für andere stärker im Mittelpunkt, wie die Strukturen der Völkerrechtsordnung durch die vorherrschende Stelle eines Staates beeinflusst würden (Krisch 2004). Von Mitte der 1990er-Jahre bis in die Anfangsjahre des 21. Jahrhunderts waren die Diskussionen in der Völkerrechtslehre jedenfalls stark von der Annahme eines „amerikanischen Zeitalters“ geprägt. Dies überdauerte die Angriffe des 11. September 2001, nicht zuletzt durch die große Aufmerksamkeit, die der „Kampf gegen den Terrorismus“ in den nachfolgenden Jahren in Anspruch nahm. Diese Phase war verbundenen mit intensiven Diskussionen um einen „American exceptionalism“, der sich auch durch eine besonders zurückhaltende Positionierung gegenüber völkerrechtlichen Verpflichtungen auszeichnete (Koh 2003; Ignatieff 2005; kontextualisierend Nolte und Aust 2013). In diesem Zusammenhang erfuhr insbesondere die ausbleibende Ratifizierung des Kyoto-Protokolls ebenso Aufmerksamkeit wie die starke Opposition der US-Regierung unter George W. Bush gegen den Internationalen Strafgerichtshof. Gerade im letzteren Kontext griff die US-Regierung zu etlichen Mitteln, um die Autorität und den Rückhalt dieses zu schaffenden und seit 2002 auch errichteten Gerichtshofs zu unterminieren (Nolte 2003). So schloss die Regierung etliche bilaterale Abkommen mit Vertragsparteien des Römischen Statuts ab, die den Vertragspartnern eine Kooperation mit dem Gerichtshof in Bezug auf US-Staatsbürger verboten. Eher symbolischen Gehalt hatte ein geplanter „Hague Invasion Act“, der ggf. die Befreiung von im Haag inhaftierten US-Staatsbürgern erlauben sollte. Gravierender als diese Auseinandersetzungen ist die Inhaftierung von mutmaßlichen Terroristen auf der US-Militärbasis Guantanamo auf fragwürdiger rechtlicher Grundlage gewesen. Auch wenn der US Supreme Court durch einige Entscheidun-

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gen verhindert hat, dass diese Personen sich in einem „legal black hole“ befinden (Sands 2006, S. 143), blieben alle Versuche von Präsident Obama, das Gefangenenlager zu schließen, letztlich erfolglos. Schließlich sind die Konsequenzen des nach sehr überwiegender Auffassung klar völkerrechtswidrigen Angriffs auf den Irak im Jahre 2003 von größter Bedeutung (Paulus 2004). Dieser Militäreinsatz erfolgte nicht nur ohne UN-Sicherheitsratsmandat und ohne erkennbare sonstige tragfähige völkerrechtliche Grundlage, sondern erscheint in der Rückschau auch als Beginn einer ganzen Reihe von verheerenden militärischen Auseinandersetzungen, die den Mittleren Osten bis heute entscheidend prägen. Die Schaffung eines zeitweisen Machtvakuums im Irak trug jedenfalls maßgeblich zum Erstarken der Regionalmacht Iran bei, die einen nicht unwesentlichen Einfluss auf den Syrien-Konflikt und den Konflikt im Jemen hat. Von ihren katastrophalen humanitären Auswirkungen abgesehen sind diese Konflikte auch für die Stabilität der Völkerrechtsordnung von besonderer Bedeutung, da durch die Vielschichtigkeit der beteiligten Akteure auch nicht unerhebliche Rechtsunsicherheit erzeugt wird, z. B. im Hinblick auf das Recht zur Selbstverteidigung gegenüber nicht-staatlichen Akteuren, die Reaktionsmöglichkeiten auf den Einsatz chemischer Waffen oder die Unterstützung von Aufständischen mit Waffen (Aust und Payandeh 2018). Insgesamt ist die Völkerrechtspraxis der Vereinigten Staaten der letzten 15 bis 20 Jahre von einem erheblichen Maß an Kontinuität geprägt. So wurde zwar vielfach die Präsidentschaft Obamas als Rückkehr zu einer stärken internationalen Orientierung gesehen. Aber auch unter Präsident Obama sind völkerrechtlich umstrittene Maßnahmen nicht ausgeblieben. Der kontroverse Einsatz von Drohnen zur Tötung von Terroristen in Afghanistan, Somalia und im Jemen wurde sogar erheblich ausgeweitet. Verhandlungserfolge auf der internationalen Ebene wie der sog. IranDeal („Joint Comprehensive Plan of Action“) und das Pariser Klimaschutzabkommen verzichteten entweder von vornherein auf eine völkerrechtliche Bindungswirkung (wie im Fall des Iran-Deals) oder verfolgten eine zwar innovative, da flexible und informelle Verpflichtungsstruktur (wie das Pariser Abkommen). In beiden Fällen ist so der Eindruck einer zwar auf internationale Verständigung ausgerichteten US-Außenpolitik entstanden, die allerdings nicht mehr zwangsläufig in den etablierten Formen völkerrechtlicher Kooperation stattfand, was sich in breitere Entwicklungslinien der Völkerrechtsordnung einfügt (Rodiles 2018). Diese Entwicklung ist allerdings auch den aus einer innerstaatlichen Perspektive schwieriger gewordenen Bedingungen geschuldet, im US-Senat ob der Polarisierung zwischen Demokraten und Republikanern den notwendigen „advice and consent“ zu einem völkerrechtlichen Vertrag einzuholen.

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Die Völkerrechtswissenschaft zwischen Foreign Relations Law und Policy-Orientierung

Die innerstaatliche Bedingtheit der Völkerrechtspolitik spiegelt sich auch in Besonderheiten der US-amerikanischen Völkerrechtswissenschaft wider. Dies wird zum einen durch die Prominenz des sogenannten „Foreign Relations Law“ (Außenver-

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fassungsrecht) als eigenständigem Rechtsgebiet deutlich (grundlegend Wright 1922; Henkin 1996). Hierunter fallen die US-amerikanischen Regeln in Verfassungsrecht wie einfachem Recht zum Eingehen völkerrechtlicher Bindungen, der Rolle und des Rangs des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht sowie mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung verbundene Fragen der Kompetenzverteilung zwischen Exekutive und Kongress. Es ist zwar nicht weiter ungewöhnlich, dass sich ein nationales Rechtssystem mit diesen Fragen beschäftigt (Aust 2017). Die Besonderheit des US-amerikanischen Zugangs liegen aber darin begründet, dass zumindest für einige Stimmen „Foreign Relations Law“ zu einer Art „Ersatz international law“ wird und das zwischenstaatliche Völkerrecht den Charakter eines US-Außenrechts annimmt (kritisch dazu Roberts 2017, S. 104; McLachlan 2014, para. 1.30). Das USamerikanische Außenverfassungsrecht ist dabei im Vergleich zur Diskussionslage während des Kalten Krieges zunehmend geschlossener geworden. Ausdruck davon ist die Betonung einer Filterfunktion des US-amerikanischen Rechts, um die Spielräume der demokratisch legitimierten US-Organe zu sichern. Bezogen auf Entscheidungen von internationalen Gerichten wie Organisationen betont Curtis Bradley entsprechend den Grundsatz einer nicht automatischen Anwendbarkeit im innerstaatlichen Recht: „By requiring political branch implementation, this non-selfexecution approach subjects international orders and decisions to the filter of the U.S. democratic process while preserving the traditional role of the U.S. judiciary to interpret and apply existing domestic law“ (Bradley 2015, S. 135). Außer dieser besonderen Beziehung zwischen „foreign relations law“ und Völkerrecht ist die US-amerikanische Völkerrechtslehre auch sonst im Vergleich zu etwa europäischen Ansätzen von erheblichen Unterschieden geprägt (Payandeh 2019). Versteht sich der völkerrechtliche Mainstream in Europa vielfach als positivistisch orientiert und von formalen Kriterien geprägt, herrscht in den Vereinigten Staaten ein größerer Pluralismus an disziplinären Zugängen, der aber gerade das, was in Europa als traditionell und dem Völkerrecht immer noch als grundsätzlich angemessen erscheint, kaum umfasst. Besonders einflussreich sind demgegenüber Zugänge, die von verschiedenen Spielarten des Realismus in der Lehre der internationalen Beziehungen (IB) inspiriert sind. Ihren Ausgangspunkt hat diese Lehre ganz maßgeblich in den Arbeiten Hans Morgenthaus gewonnen, der sich als jüdischer Völkerrechtler schon vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten entschloss, Deutschland zu verlassen. In seiner neuen US-amerikanischen Heimat wandte er sich weiter vom Völkerrecht ab und der Disziplin der Politikwissenschaft zu (Morgenthau 1940; Morgenthau 1948). Ob seiner Prominenz in der IB-Theorie werden seine Wurzeln als Völkerrechtler, als der er 1929 mit einer Arbeit zu den Grenzen der gerichtlichen Streitbeilegung in Frankfurt promoviert wurde, oft vergessen (Jütersonke 2010; Aust 2012). Ebenfalls prominent vertreten sind Ansätze, die sich als stark policy-orientiert bezeichnen lassen. Hier ist insbesondere die von einer Gruppe um Harold D. Lasswell, Myres S. McDougal und später auch Michael Reisman bestimmte sog. „New Haven School“ (NHS) erwähnenswert (McDougal und Reisman 1986). Auf einem starken Wertefundament basierend, analysierten die Autoren der NHS das Völkerrecht vor allem als Entscheidungsprozess. Gegenüber den stärker formal geprägten Zugängen der europäischen Völkerrechtslehre ist ein entscheidender

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Vorteil der NHS, den prozesshaften und nicht immer systematisch geschweige denn linear verlaufenden Entwicklungscharakter des Völkerrechts besser erfassen zu können. Kritiker der NHS warfen ihr zugleich vor, durch ihre offene Argumentationsstruktur zugleich in einer überwiegenden Zahl der praktischen Anwendungsfälle der Unterstützung US-amerikanischer Außenpolitik gedient zu haben (siehe Voos 2000; Fassbender 2012b). In jüngerer Zeit wird allerdings mit den Methoden der NHS auch gegen die Trump-Administration argumentiert (Koh 2018). Auch die ökonomische Analyse des Völkerrechts ist in der US-amerikanischen Völkerrechtslehre weiter verbreitet und umfasst mehr als nur das besonders wirkmächtige aber auch hochgradig umstrittene Buch „The Limits of International Law“ von Jack Goldsmith und Eric Posner (Goldsmith und Posner 2005; kritisch dazu aus methodischer Perspektive van Aaken 2005). In der US-amerikanischen Völkerrechtslehre sind aber auch darüber hinaus eine Vielzahl an Ansätzen vertreten, die sich etwa an den typischerweise traditioneller eingestellten deutschen juristischen Fakultäten schwer tun. So gingen wesentliche Impulse für „critical legal studies“ (Kennedy 1990) und die „Third World Approaches to International Law“ (Rajagopal 2003; Anghie 2005) von Wissenschaftlern aus, die an US-amerikanischen Law Schools und Universitäten beschäftigt sind. Aus der Perspektive der Rechtspraxis haben die US-amerikanischen Völkerrechtsdiskurse dabei zugleich einen Teil ihrer praktischen Relevanz eingebüßt. So beklagte der an der Yale Law School lehrende und zeitweilig im State Department unter Hillary Clinton tätige Völkerrechtler Harold H. Koh in einem viel beachteten Vortrag einen eklatanten Mangel an Realitätsbezug in den Arbeiten seiner US-amerikanischen Kollegen (dokumentiert in von Bernstorff 2017, S. 222). Im Vergleich dazu steht die deutsche Völkerrechtslehre in einem engeren Austausch mit der Regierungspraxis. Ihr mag es aber ob der völkerrechtsfreundlichen Orientierung der deutschen Außenpolitik und ihres stärker „dogmatisch“ orientierten Charakters auch leichter fallen, Gehör zu finden als den Kolleginnen und Kollegen in den Vereinigten Staaten.

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Fazit

Die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Völkerrecht sind vielschichtig: So hat die „Völkerrechtsfreundlichkeit“ der Vereinigten Staaten im Laufe der Zeit mal zu-, mal abgenommen, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Vereinigten Staaten beileibe kein monolithischer Akteur sind, sondern ihre Position zum Völkerrecht von der Exekutive ebenso geprägt wird wie vom Kongress und der Rechtsprechung der US-amerikanischen Gerichte. Auch die US-amerikanische Völkerrechtswissenschaft ist von einem großen Pluralismus der Ansätze und Methoden gekennzeichnet. Die derzeitige Völkerrechtsordnung ist stark von US-amerikanischen Einflüssen geprägt und leidet vielleicht gerade deshalb umso mehr unter der so wahrgenommenen Abkehr der Trump-Administration von zentralen Institutionen der Völkerrechtsordnung. Vieles mag dabei zunächst nur Rhetorik sein, aber auch diese ist wichtig, um ein „climate of legality“ in der internationalen Gemeinschaft zu erhalten (dazu auch Krieger 2019). Die Präsidentschaft von Barack Obama mag in vielerlei

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Hinsicht vor allem rhetorisch freundlicher gewesen sein. Aber zugleich herrschte in der internationalen Gemeinschaft bei vielen Entscheidungsträgern wie Völkerrechtswissenschaftlern das Gefühl vor, im Weißen Haus jemanden zu wissen, der rational und an Gemeinwohlbelangen orientiert zu entscheiden sucht – und solche Gemeinwohlbelange nicht nur einseitig an einer „America first“-Politik ausrichtet. Für das Funktionieren einer dezentralen Völkerrechtsordnung, wie sie das Völkerrecht darstellt, ist die Existenz eines wohlwollenden Hegemons jedenfalls hilfreich. Die Stellung als Hegemon mag mit dem Aufstieg Chinas zur Weltmacht ähnlichen Gewichts über kurz oder lang ohnehin hinfällig sein. Bis auf weiteres wird die Zukunft der Völkerrechtsordnung aber auch ganz maßgeblich von der Völkerrechtspraxis der Vereinigten Staaten geprägt sein.

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Die USA und internationale Organisationen Eine ambivalente Beziehung Lora Anne Viola

Inhalt 1 Einleitung: Die liberale Ordnung in der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die USA und Multilateralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Die USA in internationalen Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Angst vor Souveränitätsverlust und hegemonialer Niedergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fazit: Widerstand und Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Nach dem Zweiten Weltkrieg schufen die Vereinigten Staaten gemeinsam mit anderen Partnern eine Nachkriegsordnung mit umfangreichen neuen Sicherheitsund Wirtschaftsinstitutionen. Die zentrale Rolle der USA in dieser institutionellen Ordnung ist nicht nur ein Ausdruck, sondern auch eine Quelle für ihre Vormachtstellung. Die leitende Rolle der USA wird derzeit stark in Frage gestellt. Amerikas Ambivalenz gegenüber dem liberalen Internationalismus ist allerdings keine neue Erscheinung; vielmehr stellt die Spannung zwischen Unilateralismus und Multilateralismus ein entscheidendes Merkmal der amerikanischen Außenpolitik dar. Schlüsselwörter

Internationale Ordnung · Hegemonie · Mulilateralismus · UN · NATO · WTO

L. A. Viola (*) John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_45

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Einleitung: Die liberale Ordnung in der Krise

Die sogenannte liberale internationale Ordnung ist mit ihrem zentralen Charakteristikum eines institutionalisierten Multilateralismus in die Krise geraten. Noch bemerkenswerter ist es, dass gerade die Architektin dieser Ordnung, die USA, zu einer ihrer größten Bedrohung zu werden scheint. Die Konturen der gegenwärtigen internationalen Ordnung wurden größtenteils in der unmittelbaren Nachkriegszeit geformt. Zwischen 1944 und 1951 schufen die Vereinigten Staaten zusammen mit den Alliierten eine Nachkriegsordnung mit umfangreichen neuen Sicherheits- und Wirtschaftsinstitutionen, in denen die USA eine führende Rolle spielten. Das Hauptmerkmal dieser Ordnung war ihre multilaterale Ausrichtung. Im Gegensatz zu früheren Nachkriegsordnungen (z. B. nach 1815 oder 1919), die in erster Linie durch militärische Macht hergestellt und gesichert wurde, wird sie jetzt hauptsächlich durch institutionalisierte Mechanismen der Zusammenarbeit erreicht, auch wenn sie primär den Interessen der USA und ihrer engsten Verbündeten dienen sollte (Ikenberry 2001). Diese Nachkriegsordnung erwies sich als bemerkenswert beständig, da sie sowohl den Kalten Krieg als auch die Zeit danach überdauerte. Die Legitimität und Effektivität diese Ordnung – sowie die führende Rolle der USA in dieser Ordnung – werden aber derzeit in Frage gestellt. Globalismus und Internationalismus, so die Kritik breiter Bevölkerungsschichten, gehen auf Kosten lokaler Werte und Interessen. Zur allgemein wachsenden Skepsis gegenüber der liberalen internationalen Ordnung kommt eine USamerikanische Regierung, die diese Ordnung explizit ablehnt. Präsident Trumps Aversion gegenüber einer globalen Führungsrolle und seine offene Ablehnung internationaler Organisationen und der Idee des Multilateralismus im weiteren Sinne – z. B. durch seine Kritik an der NATO, sein schwaches Bekenntnis zu den europäischen Verbündeten, seine Befürwortung eines Handelsprotektionismus sowie sein tatsächlicher oder angedrohter Rückzug aus internationalen Abkommen – haben zur weit verbreiteten Auffassung geführt, dass Trump den liberalen Internationalismus gefährde. Trumps Ablehnung des Multilateralismus mag extrem erscheinen, sie ist aber nicht neu. Die Außenpolitik der USA war schon immer durch eine Mischung aus internationalem Interventionismus und einer gewissen Ambivalenz gegenüber dem Multilateralismus gekennzeichnet. Das Spannungsverhältnis zwischen Unilateralismus und Multilateralismus stellt ein entscheidendes Merkmal US-amerikanischer Außenpolitik dar. Obwohl Trump von vielen als Gefahr für die liberale internationale Ordnung wahrgenommen wird, stehen seine Äußerungen in einer längeren Tradition in den USA, in der auf einen wahrgenommenen hegemonialen Niedergang mit einem Rückzug aus multilateralen Abkommen und Institutionen reagiert wird.

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Die USA und Multilateralismus

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges präsentierte sich Präsident Woodrow Wilson als starker Verfechter eines neuen multilateralen Völkerbundes, um globale Stabilität und Frieden zu fördern. Multilateralismus kann als institutionalisierte Kooperation zwischen mindestens drei Staaten basierend auf generalisierten (statt ad-hoc-)

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Regeln und Prinzipien definiert werden und stellt ein Kernmerkmal des modernen internationalen Systems dar (Ruggie 1992, S. 571). Die USA waren jedoch stets zurückhaltend, sich allgemeinen Prinzipien zu unterwerfen, die sie selbst nicht kontrollieren konnten, und sie behielten sich oftmals vor, diese Regeln nicht vollständig zu befolgen. Wilson vermochte es nicht, den US-amerikanischen Kongress von der Mitgliedschaft in der neuen Organisation zu überzeugen. Politische Gegner argumentierten im Kongress erfolgreich, dass die Beteiligung an einer solchen multilateralen Institution, die Souveränität der Vereinigten Staaten gefährden würde. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten sich die USA dann allerdings zum Hauptarchitekten einer institutionellen Nachkriegsordnung mit den Vereinten Nationen und den Bretton-Woods-Institutionen im Zentrum. Diesmal stimmte der Kongress dem US-amerikanischen Beitritt zu diesen Institutionen zu, wobei die Verhandlungen über die Struktur der neuen multilateralen Institutionen zwischen US-amerikanischen und europäischen Vertretern das anhaltende Unbehagen US-amerikanischer Politiker, die Souveränität zu beschneiden, widerspiegelte. Die USA akzeptierten eine regelbasierte Ordnung, durch die alle anerkannten Staaten politische Rechte – etwa durch Abstimmungsverfahren – verliehen wurden. Die Formulierung einer liberalen politischen Ordnung, der sich auch andere Staaten verschreiben konnten, stand im Zentrum US-amerikanischer Außenpolitik und legitimierte deren hegemoniale Stellung im internationalen System. Neben der diskursiven Macht der liberalen Ideologie ist das internationale System auch dadurch legitimiert, dass die USA selbst dazu bereit waren, sich den Regelwerken der Institutionen zu unterwerfen (Ikenberry 2001). Die internationale Ordnung ist jedoch keinesfalls das Resultat altruistischer Motive. Sie ist vielmehr dazu bestimmt, die wirtschaftlichen und politischen Interessen der Vereinigten Staaten zu festigen und voranzutreiben. Die USA haben den multilateralen Institutionalismus zwar weitgehend unterstützt, gleichzeitig behielten sie sich allerdings das Recht vor, von Regeln abzuweichen oder davon ausgenommen zu werden, um die eigenen nationalen Interessen zu fördern (Stone 2011). Die USA versuchten ihre Einflussnahme durch ein institutionelles Design aufrechtzuerhalten, was sich in der Vetomacht der großen Mächte im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, der Einteilung der Welt laut Atomwaffensperrvertrag in Atomwaffenstaaten und Nichtatomwaffenstaaten sowie der Verteilung von Wahlrechten im Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank widerspiegelt. In diesem Sinne war Multilateralismus immer schon eine Führungsstrategie, die aber keine signifikanten Einschränkungen für hegemoniale Machtausübungen mit sich brachte. US-amerikanische Präsidenten haben stets verstanden, dass eine Beteiligung an internationalen Institutionen als ein starkes Instrument in der Außenpolitik und für die Durchsetzung von Eigeninteressen eingesetzt werden kann, solange die USA die Freiheit genießen, für sich Ausnahmen zu beanspruchen. Internationale Institutionen verankern daher sowohl ein Bekenntnis zur Gleichheit souveräner Staaten als auch eine real existierende Ungleichheit in ihrem operativen Betrieb (Viola et al. 2014). Während die Zeit des Kalten Krieges durch politischen Stillstand und institutionelle Unbeweglichkeit gekennzeichnet war, brachte die Zeit nach dem Kalten Krieg neue Impulse für den Ausbau existierender und die Schaffung weiterer internatio-

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naler Institutionen. Bereits bestehende Institutionen, die während des Kalten Kriegs in ihren Funktionen überwiegend gelähmt waren, wie etwa die Vereinten Nationen (UN), waren nun in der Lage, eine aktivere Rolle in der Gestaltung internationaler Politik zu spielen. Ein Beispiel hierfür ist die rasche Zunahme an UN-geführten Friedensoperationen: zwischen 1989 und 1994 autorisierte der UN Sicherheitsrat insgesamt 20 solcher Einsätze. Parallel dazu stieg die Macht zwischenstaatlicher Organisationen (Intergovernmental Organizations, IGOs), die zunehmend in der Implementierung, Durchsetzung und Überwachung internationaler Regeln und Normen involviert waren. Sie übten Einfluss nicht nur auf Staaten aus, sondern auch „behind the border“ auf das Leben einzelner Menschen innerhalb von Staaten (Zürn 1998). Derartige Wandlungsprozesse wurden begleitet durch einen Zuwachs an Autonomie und Autorität der IGOs gegenüber ihren jeweiligen Mitgliedstaaten (Zürn et al. 2012). Im Kontext des Transformationsprozesses existierender zwischenstaatlicher Organisationen bedeutete das Ende des Kalten Krieges außerdem einen Zuwachs an neuen Institutionen, allen voran sogenannten Nichtregierungsorganisationen (Non-Governmental Organizations, NGOs; Matthews 1997). In den ersten Jahrzehnten nach dem Kalten Krieg war die institutionelle Ordnung zunehmend durch den politischen und wirtschaftlichen Neoliberalismus der USA geprägt. Internationale Organisationen haben gemeinsam mit den Vereinigten Staaten eine liberalisierende Politik verfolgt, gekennzeichnet durch externe Demokratieförderung, Liberalisierung der Kapitalmärkte, und Konditionalität der Kreditvergabe. Doch institutionelle Eingriffe „behind the border“ in das Alltagsleben der Menschen erfolgten nicht ohne Widerstand. In der letzten Dekade wurde die Legitimation internationale Organisationen zunehmend infrage gestellt, zum einem durch ineffektive Politik (z. B. fehlgeschlagene Friedensmissionen oder wirtschaftliche Krisen), zum anderen, weil die Organisationen Entscheidungen treffen, ohne dafür demokratisch legitimiert zu sein. (Keohane 1998; Nye 2005; Zürn et al. 2012; Zürn 2013). Gleichzeitig zeigten sich viele Akteure in den USA – wie beispielsweise John Bolton – skeptisch gegenüber der Verpflichtung zum Multilateralismus. Sie argumentierten für einen unilateralen Einsatz US-amerikanischer Macht. Nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 setzten sich dann in den USA unilateralistische Vorstellungen internationaler Politik durch. Angesichts der kritischen Haltung der Bush-Administration gegenüber internationaler Zusammenarbeit wurde erneut eine Debatte zum „Ende des Multilateralismus“ geführt (Kupchan und Trubowitz 2007). Die USA verweigerten sich, internationale Vereinbarungen zu ratifizieren, wenn dadurch eine Beschneidung ihrer Souveränität zu befürchten wäre. Darunter fallen beispielsweise der Internationale Strafgerichtshof, das Kyoto-Protokoll, die Ottawa-Landminen-Konvention, der Kernwaffenteststoppvertrag, die Biodiversitäts-Konvention und das UN-Seerechtsübereinkommen. Schon bevor Trump ins Weiße Haus einzog, waren die USA an weit weniger internationalen Abkommen beteiligt als viele europäische Staaten. Trotz solcher Diagnosen lässt sich festhalten, dass internationale Organisationen (IOs) ein zentrales Instrument zur Gestaltung internationaler Beziehungen bilden (Barnett und Finnemore 2004). Die Rolle der USA in dieser institutionellen Ordnung ist nicht nur ein Ausdruck, sondern auch eine Quelle für ihre Vormachtstellung.

Die USA und internationale Organisationen

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Dementsprechend lassen sich weder US-Außenpolitik noch die Politik internationaler Institutionen wirklich verstehen, ohne die Verbindungen zwischen den beiden näher zu betrachten.

3

Die USA in internationalen Organisationen

Die USA üben Macht und Einfluss durch zentrale Sicherheits- und Wirtschaftsorganisationen auf andere Akteure aus. Dennoch zeigen sich die USA gegenüber diesen Organisationen auch ambivalent. Um die wechselseitige Beziehung zwischen den USA und internationalen Institutionen zu erörtern, lassen sich drei Organisationen im Zentrum des liberalen Ordnungssystems näher betrachten: die Vereinten Nationen als die Kerninstitution der globalen Ordnung, die NATO als ein Beispiel für kollektive Sicherheitsorganisation und die Welthandelsorganisation (WTO) als die Hüterin einer offenen und liberalen Handelsordnung. Gemeinsam tragen diese Organisationen Verantwortung für Frieden und Sicherheit sowie für die Förderung wirtschaftlichen Wachstums.

3.1

Die Vereinten Nationen

Die Vereinten Nationen verfolgen das Ziel, „den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen“ (Charta der Vereinten Nationen (1945), Kap. 1, Artikel 1: 3). Die Organisation der UN ist unterteilt in den Exekutivausschuss des Sicherheitsrats, bestehend aus fünf ständigen Mitgliedern (USA, Russland, China, Großbritannien, Frankreich) sowie elf nichtständigen Mitgliedern, und in die Generalversammlung, die sämtliche Mitgliedstaaten umfasst. Der Sicherheitsrat verfügt über Entscheidungsgewalt zu allen Hauptthemen, während die Generalversammlung im Wesentlichen als ein Beratungsgremium fungiert. Ständige Mitglieder im Sicherheitsrat, die USA eingeschlossen, verfügen über ein Vetorecht. So müssen alle ständigen Mitglieder einem Vorschlag zustimmen, bevor die UN zu einem gemeinsamen Handeln in der Lage sind; wenn ein ständiges Mitglied seine Zustimmung verweigert, ist der Sicherheitsrat blockiert. Einerseits drückt sich in der Vetobestimmung die Absicht aus, ein kollektives Forum zu schaffen. Andererseits dient das Veto den Großmächten dazu, die eigenen nationalen Interessen zu wahren. Vom Vetorecht machten während des Kalten Krieges am häufigsten die USA und die Sowjetunion Gebrauch, um so die eigenen Interessen gegenüber dem anderen abzusichern. Die USA sind sowohl der wichtigste Unterstützer der UNO als auch ihr schärfster Kritiker. Mit etwa 22 % des Gesamthaushaltes sind die USA der größte Beitragszahler des UN-Budgets und steuern damit fast doppelt so viel wie der nächstgrößte Geldgeber (China) bei (VN 2018). Unmittelbar nach Ende des Kalten Krieges, dominierten die USA die UN-Politik, als die USA einen neuen Aktivismus der UN ideell leiteten und materiell unterstützten (Malone 2003). In dieser Phase fanden

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zahlreiche Friedenseinsätze und humanitäre Interventionen unter dem Dach der Vereinten Nationen statt und die USA machten nur relativ selten von ihrer Vetomacht Gebrauch. Nach einer Reihe gescheiterter Missionen zeigten sich die USA aber zunehmend skeptisch gegenüber den Handlungsmöglichkeiten multilateraler Institutionen (Malone 2003). Diese Einstellung erreichte unter der Regierung von George W. Bush eine neue Stufe, da sich die USA gegenüber multilateralen Einsätzen grundsätzlich misstrauisch und besonders in Bezug auf die Vereinten Nationen kritisch zeigten. Die anderen Mitglieder des Sicherheitsrates wurden ihrerseits im Umgang mit den Vereinigten Staaten vorsichtiger, nachdem diese den „War on Terror“ ausgerufen hatten und ohne die Zustimmung der UN die Invasion des Iraks ausführten. Heute gehen Russland und China regelmäßig gemeinsam vor, um USVorschlägen entgegenzuwirken und die eigenen Interessen sowie die ihrer geostrategischen Verbündeten zu wahren. Die USA haben der Organisation bereits mehrfach vorgeworfen, ineffizient und verschwenderisch zu sein und oftmals gegen die Interessen der Vereinigten Staaten zu handeln. Es gibt unter den Kongressabgeordneten zudem seit langer Zeit Befürworter der Forderung, die Anteile der US-Beiträge zu reduzieren oder gar aus der UN auszutreten. Das Zurückhalten von Zahlungen ist regelmäßig von den USA als eine Möglichkeit für die Ausübung von Macht genutzt worden (Bond 2003). So weigerte sich der US Kongress seit 1985 regelmäßig, Zahlungen der USA an die UN zu bewilligen. Die Weigerung, die Beiträge vollständig zu zahlen, ist somit stets eine Möglichkeit für die USA, die UN zum Wandel zu bewegen und ihrem Unmut über die Generalsversammlung Ausdruck zu verleihen. 1997 brachte der Kongressabgeordnete Ron Paul erstmals ein Gesetz mit dem Titel „American Sovereignty Restoration Act“ ein, mit dem die US-amerikanische Mitgliedschaft in der UNO beendet werden sollte (US-Kongress 1997). Dieser Entwurf ist seitdem regelmäßig in den Kongress eingebracht worden, jüngst 2019 durch den Abgeordneten Mike Rogers, hat aber nie die notwendige Unterstützung erhalten (US-Kongress 2019). Dennoch drohen die USA weiterhin damit, ihre Unterstützung für einzelnen UNO-Institutionen zu entziehen, um Druck auf die Gesamtorganisation auszuüben. Die USA zogen sich 1984 aus der UNESCO zurück, wurden 2002 wieder Mitglied und zogen sich 2017 unter der neuen Trump-Administration erneut zurück. Auch aus dem UN-Menschenrechtsrat (UNHRC) traten die USA 2018 aus, den die Botschafterin Nikki Haley als eine „Jauchegrube politischer Vorlieben“ und als eine „heuchlerische und egoistische Organisation“ kritisiert hatte (Koran 2018).

3.2

NATO

Die NATO ist ein 1949 gegründetes Militärbündnis mit dem Ziel, die militärische Zusammenarbeit und gemeinsame Verteidigungspolitik der USA und westeuropäischen Alliierten zu fördern. Als der NATO-Vertrag unterzeichnet wurde, betrachtete Amerika dies als ein vorübergehendes Abkommen zur Unterstützung europäischer Staaten, solange diese keine eigenen Sicherheitsinstitutionen etablieren konnten (Ikenberry 2001, S. 201). Britische und französische Amtsträger beharrten jedoch

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darauf, dass westeuropäische militärische Zusammenarbeit nur unter Einbeziehung der Vereinigten Staaten funktionieren könne (Lundestad 1986). Die NATO wird daher oft als ein Instrument betrachtet, mit dem die europäischen Staaten die USA in Europa halten wollten. Daher stammt auch der oft bemühte Satz, die NATO diene dem Zweck „to keep the Russians out, the Germans down, and the Americans in“. Die Dominanz der USA innerhalb der NATO wird von den anderen Mitgliedern sowohl willkommen geheißen als auch angefochten: die Vereinigten Staaten werden mal als unverzichtbarer Partner, mal als herrschsüchtiger Koloss dargestellt (Sloan 2010). Die formellen Regeln der NATO führen nicht zu einer institutionalisierten Ungleichheit und allen Mitgliedstaaten kommt durch den Prozess der Konsensbildung bei Beratungen das gleiche Mitspracherecht zu. Als Resultat ihrer deutlich höheren materiellen Beiträge zur NATO erweisen sich die USA in der Praxis jedoch als dominanter Akteur (vgl. Kaplan 2004). In den USA selbst wird das amerikanische Engagement in der NATO regelmäßig infrage gestellt, gerade weil die USA die größte militärische Last tragen. Die NATO wird über direkte und indirekte Beiträge ihrer Mitglieder finanziert. Direkte Beiträge der Mitgliedstaaten erfolgen auf Grundlage einer Einstufung des jeweiligen Bruttosozialproduktes. Der Großteil der Beiträge erfolgt jedoch indirekt und berechnet sich nach der Teilnahme an von der NATO geleiteten Operationen und Missionen. Da der Umfang der Beiträge in direktem Verhältnis zum jeweiligen Verteidigungshaushalt steht, klaffen gewaltige Unterschiede zwischen den Beitragshöhen der einzelnen Mitglieder. An erster Stelle stehen hier die Militärausgaben und militärischen Möglichkeiten der USA, welche die Beiträge aller anderen NATO Mitglieder bei weitem übersteigen. Die Mehrheit der Mitglieder erreicht dagegen nicht das NATO-Ziel von 2 % des BIP für Verteidigungsausgaben (NATO 2019). Diese ungleiche Lastenverteilung innerhalb der NATO war von Beginn an gegeben. Einerseits profitierte die USA von dieser Situation, weil sie die Dominanz und Kontrolle über die Allianz begünstigte. Die Abhängigkeit der NATO von den Vereinigten Staaten hat zur Folge, dass andere Mitgliedstaaten relativ wenig Einfluss auf die politische Agenda ausüben und wenig Macht haben, wenn sie sich USamerikanischen Vorstellungen bezüglich Operationen, Zielsetzungen und Taktiken widersetzen oder diese ändern wollen. Andererseits hat das Engagement der USA in der NATO die Europäer dazu ermutigt, weniger in die eigenen Verteidigungshaushalte einzuzahlen, da man sich unter dem Schutzschirm der Vereinigten Staaten sicher wähnen konnte (Jones 2007). So kürzten in den vergangenen Jahrzehnten viele europäische Staaten ihren Verteidigungsetat um mindestens 10–15 %. Die Abhängigkeit der NATO von den USA ist dadurch noch deutlich angestiegen. 2011 merkte der damalige US-Verteidigungsminister Robert Gates in Anbetracht der NATO Operation in Libyen an, dass Europa kurz vor einer „kollektiven militärischen Bedeutungslosigkeit“ stehe und durch weitere Kürzungen der Verteidigungshaushalte die Fähigkeit aufs Spiel setze, als stabilisierende Macht in der eigenen Nachbarschaft, geschweige denn der Welt, auftreten zu können (Gates 2011). Trotz Trumps Aussagen, dass die Allianz „obsolet“ sei, und trotzdem die NATO noch nie derartig in Frage gestellt worden ist, ist die Frage nach ihrer Zukunft nicht neu (Masters und Hunt 2017). US-amerikanische strategische Interessen haben sich in

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den letzten zehn Jahren allmählich von Europa entfernt, was zu einer Schwächung der Rolle der USA in der Region geführt hat. Ohne die USA kann die NATO allerdings in ihrem aktuellen Zustand nicht überleben.

3.3

Welthandelsorganisation (WTO)

Die WTO ist eine 1995 gegründete internationale Organisation mit formellen Verpflichtungen gegenüber einer breiten Palette von Themenfeldern in den Handelsbeziehungen, welche die Reichweite ihres Vorgängers – General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) – oder regionaler Organisationen – wie dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (North American Free Trade Agreement, NAFTA)/US-Mexico-Canada-Agreement (USMCA) – deutlich überschreitet. Es ist das Ziel der WTO, Handel zu liberalisieren und zwischen den Mitgliedstaaten zu regulieren. Entscheidungen innerhalb der WTO werden direkt durch Mitgliedsstaaten getroffen und auf formeller Basis genießen die Mitglieder der WTO daher ein hohes Maß an Autonomie. Allerdings werden wichtige politische Entscheidungen nur selten bei formellen Treffen gefällt. Vielmehr wird Konsens innerhalb der WTO durch eine Abfolge informeller und selektiver Zusammenkünfte erreicht. Beispielsweise könnte der Leiter einer Verhandlungsgruppe sich mit einer kleinen Gruppe besonders einflussreichen Staaten treffen, um noch vor einem Treffen eine Übereinkunft zu erreichen. Dies führt dazu, dass mächtige Staaten ihre Vorschläge den anderen Mitgliedern als take-it-or-leave-it Angebote präsentieren können. Dennoch stellt die WTO eine bindende vertragsrechtliche Organisation dar, welche mit formalisierten Mechanismen der Streitschlichtung über eine der stärksten Compliance-Regelungen verfügt. Sollte ein Mitglied einem anderen vorwerfen, die Handelsbestimmungen verletzt zu haben, besteht innerhalb der WTO die Abmachung, in diesen Fällen ein multilaterales Verfahren zur Streitbeilegung einzuleiten. Ein Beschwerdeführer kann die Einrichtung eines Schlichtungsausschusses beantragen, der den Fall hört und eine Entscheidung fällt. Das Urteil wird dann durch das Streitschlichtungsgremium verlesen, wodurch es für beide Parteien verbindlich wird. Sollte sich der Beklagte einem nachteiligen Urteil verweigern, so kann die WTO den beschwerdeführenden Staat dazu ermächtigen, Sanktionen zu vollziehen. Das Streitschlichtungsverfahren der WTO ist daher eine der stärksten supranationalen Governance-Funktionen des internationalen Systems. Aufgrund des Bedürfnisses, sich vor US-amerikanischem Unilateralismus zu schützen, setzte sich die EU neben anderen Staaten für ein starkes Streitschlichtungsverfahren ein (Sen 2003, S. 129). Der US-Kongress meldete dementsprechend Bedenken über eine Stärkung solcher Verfahren an, stimmte letztendlich aber zu. Die Abläufe der Streitschlichtung bieten Ländern, die sich ungerecht behandelt fühlen, tatsächlich die Möglichkeit, sich der Macht der USA zu widersetzen. Und in der Regel hielten sich die USA an ihre Verpflichtungen gegenüber der WTO und den Urteilen zur Streitschlichtung, auch in Fällen, in denen sie diese stark ablehnte (Wilson 2007). Es bleibt festzuhalten, dass die WTO nur Handelsabkommen erzwingt, die bereits zuvor von den Mitgliedsparteien ausgehandelt und ratifiziert wurden. Da die USA über ein

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beachtliches Maß an asymmetrischer Macht besitzen, vorteilhafte Abkommen auszuhandeln, dient der Zwang zur Einhaltung solcher Abkommen in der Regel auch ihren eigenen Interessen. Obwohl die USA am häufigsten angeklagt werden, machen sie auch am häufigsten selbst von dem Streitschlichtungsverfahren Gebrauch und haben so bereits über 130-mal Beschwerden gegen andere Mitglieder eingelegt (WTO 2019). Obwohl die WTO eine zentrale Rolle darin gespielt hat, die US-amerikanische Vorstellung einer liberalen Marktordnung zu verbreiten, hat die innenpolitische Rückkehr zu Protektionismus und die geopolitische Auseinandersetzung mit China dazu geführt, die WTO zu unterminieren. In Trumps Amtszeit hat die USA ihre Macht benutzt, um den WTO-Konsens zu durchbrechen, Strafzölle für China einzuführen und gleichzeitig den Prozess für das Konfliktschlichtungsverfahren zu schwächen, indem sie die Neuberufung von Richtern an den WTO-Appellate Body (das WTO-Berufungsgremium) verhindert hat. Durch diese Maßnahmen ist das WTO-System in eine Krise geraten (Bown 2019).

4

Angst vor Souveränitätsverlust und hegemonialer Niedergang

Die Vereinigten Staaten hatten immer eine ambivalente Beziehung zum Multilateralismus, und sie neigen dazu, besonders anfällig für Unilateralismus oder Minilateralismus zu sein, wenn sie ihre Souveränität bedroht sehen (Viola 2018). Die Sorge über einen Souveränitätsverlust hängt direkt mit der amerikanischen Wahrnehmung ihrer Machtposition im internationalen System zusammen. Die Ängste vor diesem Verlust und einem Rückzug aus dem Multilateralismus werden in Momenten eines wahrgenommenen hegemonialen Niedergangs tendenziell noch verschärft. Auf dem Höhepunkt ihrer Macht sind die USA am ehesten dazu bereit, sich dem Multilateralismus und institutionellen Zwängen zu unterwerfen. Hierfür waren die USA nach dem Zweiten Weltkrieg offen, weil sie dadurch Zustimmung anderer Staaten gewinnen konnten und gleichzeitig in ihrem Handlungsspielraum kaum eingeschränkt wurden. Geht die US-amerikanische Hegemonie jedoch zurück, zeigen die USA immer weniger Bereitschaft, sich multilateral zu engagieren und die Kontrolle über ihre Souveränität aufzugeben. Dies liegt daran, dass der Multilateralismus viel kostenintensiver wird, wenn die Interessen der Staaten voneinander abweichen und die USA ihre Interessen nicht als globale Interessen durchsetzen können. Wir befinden uns derzeit inmitten einer globalen Machtverschiebung: Einerseits genießen die USA nicht mehr das Maß an Machtüberlegenheit wie unmittelbar nach dem Ende des Kalten Krieges, weshalb sie weniger Verhandlungsspielraum haben. Spätestens seit 2001 haben eine Vielzahl innenpolitischer Herausforderungen, die politischen und wirtschaftlichen Kosten des „War on Terror“ sowie Konsequenzen der Wirtschaftskrise von 2008 die Position der USA innerhalb des internationalen Systems destabilisiert (Pape 2009; Brooks und Wohlforth 2009). Zugleich gewinnen Schwellenländer an Bedeutung für die globale Zusammenarbeit. Diese globale Machtverschiebung bedeutet, dass heute eine steigende Zahl von Staaten mit unterschiedlichen Interessen für eine kollektive Lösung globaler Probleme entscheidend

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ist. Diese Situation eines relativen hegemonialen Rückgangs macht die Beteiligung an multilateralen Institutionen für die USA zu einer Belastung, da sie gezwungen sind, Entscheidungsgewalt zu teilen und sich somit den Interessen anderer Staaten zu unterwerfen. Dies wird deutlich bei der Einflussnahme, die ein Staat wie China heute in Verhandlungen in Handelsfragen, in Klimaabkommen und in Sicherheitskrisen wie etwa mit Nordkorea hat. Je stärker der Multilateralismus darin ist, dem Rest der Welt mehr Gewicht zu verleihen, desto größer wachsen die Anreize führender Mächte wie der USA, den Multilateralismus zu schwächen und insbesondere außerhalb multilateraler Institutionen zu arbeiten. Bereits vor der Trump-Administration begannen die USA Verhandlungen über Sicherheitskooperation und Handelsabkommen von multilateralen in plurilaterale Institutionen zu verschieben, die eine kleine und ausgewählte Gruppe von Staaten einschlossen. Obama, der sich rhetorisch dem Multilateralismus verschrieben hatte, versäumte es, die US-amerikanische Außenpolitik in eine entschieden multilaterale Richtung zu lenken (Skidmore 2012). Die Regierung Obamas hat zwar einige erwähnenswerte multilaterale Erfolge vorzuweisen, wie die Zustimmung zum Pariser Klimaabkommen und die Bestrebung, die US-amerikanischen Beziehungen zu den Vereinten Nationen zu stabilisieren. Insgesamt aber konzentrierte sich seine Regierung auf eine Diplomatie innerhalb informeller Ad-hoc-Gruppierungen von Staaten, etwa bei Atomverhandlungen oder Verhandlungen über den Handel von Dienstleistungen (Trade in Services Agreement), anstatt innerhalb der traditionellen Organisationen, die mit der liberalen Ordnung in Verbindung stehen. Die Befürchtungen eines Souveränitätsverlustes scheinen jedoch eine zunehmend parteipolitische Dimension zu haben. Die beiden Parteien hatten schon immer unterschiedliche Vorstellungen über Souveränitätsverluste – wobei Republikaner viel sensibler auf den vermeintlichen Autonomieverlust reagieren, während die Demokraten eher bereit sind, souveräne Autonomie gegen eine verstärkte Zusammenarbeit einzutauschen. Durch die Intensivierung der parteilichen Polarisierung wurde dieser Unterschied noch einmal verstärkt. Jüngste Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass Eliten, die sich auf außenpolitische Ziele verständigt haben, auch die Öffentlichkeit davon überzeugen können. Gehen die Zielvorstellungen der Eliten jedoch auseinander, spaltet sich auch die Öffentlichkeit entlang der Parteilinien (Guisinger und Saunders 2017).

5

Fazit: Widerstand und Wandel

Die internationale Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg ist größtenteils durch die Vereinigten Staaten erschaffen und dominiert worden. Im Gegensatz zu früheren Nachkriegsordnungen war sie durch die zentrale Bedeutung internationaler Institutionen geprägt. Innerhalb dieser institutionellen Ordnung agierten die USA als hegemonialer Akteur; die Anordnung des internationalen Systems und seiner Institutionen spiegelten die materielle, institutionelle, produktive und strukturelle Macht der USA wider. Allerdings kann keine internationale Organisation als ein bloßes Instrumentarium US-amerikanischer Macht dargestellt werden.

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Heute sind die USA weder materiell in der Lage noch politisch gewillt, weiterhin das Gros der Belastungen zu übernehmen, die der Erhalt der internationalen Ordnung mit sich bringt. Wirtschaftliche Schwierigkeiten im eigenen Land werden dabei ergänzt durch Kriegsmüdigkeit und den Aufstieg eines populistischen Nationalismus, der sich explizit vom kosmopolitischen Internationalismus distanziert. Diese Kritik kann sowohl als Ausdruck einer anti-Globalisierungspolitik als auch einer neuartigen Politisierung internationaler Institutionen gedeutet werden – als ein Trend, der sich allerdings bereits weit vor dem 11. September 2001 abzeichnete (Zürn 2013). Tatsächlich zeigt sich eine langsame Verschiebung der Lastenverteilung. Die wichtigsten Fragen mit Blick auf die weitere Entwicklung des internationalen Systems sind daher, wie eine neue Arbeitsteilung aussehen kann, welche Akteure dabei eine führende Rolle übernehmen, und welche Auswirkungen diese Veränderungen auf internationale Institutionen haben werden. Es ist durchaus möglich, dass die USA zu einem zukünftigen Zeitpunkt keine führende Rolle mehr in der NATO spielen werden. Es ist durchaus denkbar, dass die USA eine weniger aktive Rolle bei Entscheidungen über humanitäre Krisen im Sicherheitsrat spielen werden. Es ist ebenso denkbar, dass die Vereinigten Staaten innerhalb von Wirtschaftsinstitutionen wie der WTO und den G20, wo China zunehmend in der Lage zu sein scheint, eine stärkere Führungsrolle zu übernehmen, institutionelle Macht an aufstrebende Volkswirtschaften abtreten werden. Letzten Endes bleiben die USA jedoch der mächtigste internationale Akteur und die Gefahr, durch einen neuen Hegemon ersetzt zu werden, scheint nicht unmittelbar gegeben. Dennoch ist der relative Niedergang der US-Hegemonie real und dies wird sich auch auf die internationale Institutionenlandschaft auswirken. Der Niedergang der amerikanischen Vormachtstellung könnte eine Chance für Global Governance darstellen – als kritischer Zeitpunkt, um eine Neustrukturierung internationaler Institutionen vorzunehmen, die durch jahrzehntelang angekündigte Reformprogramme nicht verwirklicht werden konnten und die Fast jeder für überfällig hält.

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Die USA und die transatlantischen Beziehungen Ende einer Ära? Gerlinde Groitl

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Transatlantischer Schulterschluss im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Europäisch-amerikanische Entfremdung von George H. W. Bush zu Barack Obama . . . . 4 Transatlantischer Bruch unter Donald J. Trump . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Die Trump-Administration entzieht mit ihrem allianzfeindlichen Nullsummendenken und ihrer Abkehr vom liberalen Internationalismus der bisherigen europäisch-amerikanischen Partnerschaft die Existenzgrundlage. Auch wenn die Entfremdung lange vor Trumps Wahlerfolg 2016 begann und es trotz seiner radikalen Rhetorik viel Kontinuität gibt, ist der Schaden beträchtlich. Dabei gäbe es mit Blick auf Russland und China gute Gründe für eine Belebung der Zusammenarbeit. Allerdings erodieren auf beiden Seiten des Atlantiks die Werte und Interessen, für die der liberale Westen einst stand. Schlüsselwörter

Transatlantische Entfremdung · NATO · EU · Deutschland · Liberale Weltordnung

G. Groitl (*) Universität Regensburg, Regensburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_46

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Einleitung

Die USA und Europa stehen einander in vielen politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Bereichen näher als allen anderen: Als Kern des liberalen Westens prägte die transatlantische Werte- und Interessengemeinschaft jahrzehntelang die Weltpolitik mit ihrem Bekenntnis zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft, Freihandel, Freiheit und Menschenrechten. Auch ökonomisch sind die Vereinigten Staaten und die EU füreinander die wichtigsten Partner. Kaufkraftbereinigt macht die transatlantische Wirtschaft rund ein Drittel des Weltsozialprodukts aus. Von den ausländischen Direktinvestitionen in den USA 2017 kamen 54 Prozent aus Europa, 64 Prozent der globalen US-Direktinvestitionen gingen nach Europa (vgl. Hamilton und Quinlan 2018, S. vii–xii). Sicherheitspolitisch ist die Nordatlantische Vertragsorganisation NATO seit 1949 das wichtigste Bindeglied, sichern sich doch mittlerweile 29 Mitglieder Beistand im Angriffsfall zu. Trotz dieser Verbundenheit steckt die Partnerschaft heute in einer existenziellen Krise. Donald J. Trump übernahm im Januar 2017 die Amtsgeschäfte im Weißen Haus mit dem Versprechen, die liberale Weltordnung einzureißen, die die USA mit ihren europäischen Verbündeten nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen hatten. Geleitet von einem Nullsummen- und Statusdenken wollte er durch einen unberechenbaren Nationalismus sein Land stärken. Institutionen und Multilateralismus, Prinzipien und Werte stünden dabei ebenso hintan wie Bündnisstrukturen und die Interessen anderer. Schließlich seien alle – ob Demokratien oder Autokratien, Partner oder Widersacher – gleichermaßen als Rivalen zu betrachten. Wenn man Trumps Logik folgt, erscheinen weder die NATO noch eine geeinte EU noch fähige europäische Staaten im US-amerikanischen Interesse. Vom Freihandel und der regelbasierten Welthandelsordnung distanziert er sich ebenso. Vorbehaltlos umgesetzt würde Trumps America First-Agenda die Europapolitik der vergangenen 70 Jahre auf den Kopf stellen und der transatlantischen Partnerschaft die Grundlage entziehen. Dennoch ist Trump mitnichten allein für die Krise verantwortlich, schließlich begann die Entfremdung schon lange vor seiner Zeit. Der vorliegende Beitrag zeigt erstens, dass die europäisch-amerikanische Partnerschaft keine Selbstverständlichkeit ist. Es waren machtpolitische Zwänge, ordnungspolitische Ideen und ein beiderseitiger Kooperationswille, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Kooperation begründeten. Zweitens wird rekapituliert, welchen Fliehkräften die Zusammenarbeit nach dem Ende des Kalten Kriegs ausgesetzt war. Drittens analysiert der Beitrag den Bruch, der in den ersten beiden Amtsjahren der TrumpAdministration offen zu Tage trat. Das Fazit ernüchtert: Der Aufstieg illiberaler, autoritär regierter Großmächte im internationalen System sollte eigentlich Anlass geben zur revitalisierten Kooperation. Doch dazu müsste es den USA und Europa gelingen, das eigene Haus in Ordnung zu bringen. Tatsächlich ist Donald Trump nicht Ursache, sondern Symptom einer grundlegenderen Krise: der Erosion des liberalen Westens.

Die USA und die transatlantischen Beziehungen

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Transatlantischer Schulterschluss im 20. Jahrhundert

Historisch betrachtet ist die US-amerikanische Bindung an Europa eine relativ neue Entwicklung. Dabei muss man sich ins Gedächtnis rufen, dass die Gründung der Vereinigten Staaten – die Unabhängigkeitserklärung von 1776, der Krieg gegen die britische Krone und die Schaffung eines auf der Verfassung ruhenden Staatswesens – eine Zurückweisung europäischer Politik und Ordnung darstellte. Insofern verwundert es nicht, dass der erste Präsident George Washington in seiner Abschiedsrede 1796 vor permanenten Allianzen warnte, die die junge Republik zu ihrem eigenen Nachteil in europäische Machtkämpfe verwickeln würden. Thomas Jefferson, der dritte Präsident der USA, bekräftigte diese Grundhaltung bei seiner Amtseinführung 1801: Die USA sollten Handel treiben, gute Beziehungen zu anderen pflegen, aber sich vor einengenden Bündnissen hüten (vgl. Koschut 2018, S. 141–143). Erst nachdem die USA am Ende des 19. Jahrhunderts im Inneren konsolidiert und zu einem ökonomischen Machtzentrum herangewachsen waren, stellte sich die Frage nach den globalen Ambitionen neu. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war geprägt vom Streit zwischen Isolationisten und Internationalisten. Beide Denkrichtungen wurzeln im amerikanischen Exzeptionalismus, gelangen aber zu unterschiedliche Schlüssen: Würde das Wohl der USA am besten gesichert, wenn sie möglichst wenige Berührungspunkte mit der Welt besäßen und sich außenpolitisch zurückhielten, zumal es ihre geographische Lage zu erlauben schien? Oder sollten die USA aus Eigeninteresse und moralischer Verantwortung die Welt durch eine gestaltende Außenpolitik nach eigenem Vorbild transformieren? Es waren die Entwicklungen in Europa, die Katastrophe des Ersten Weltkriegs und die Turbulenzen der Zwischenkriegszeit, die die Diskussion befeuerten. Obwohl die Vereinigten Staaten 1917 in den Ersten Weltkrieg gezwungen worden waren und Präsident Woodrow Wilson als Impulsgeber für eine auf Institutionen und Demokratie ruhende Nachkriegsordnung aufgetreten war, setzte sich sein internationalistischer Kurs im Kongress nicht durch. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs schwankte das Land erneut zwischen Zurückhaltung und Intervention. Unter anderem versuchte das America First-Komitee unter dem Vorsitz von Charles Lindbergh Washingtons Kriegseintritt zu verhindern. Erst der japanische Angriff auf den US-Stützpunkt Pearl Harbor beendete 1941 die Debatte. Letztlich setzte sich mit der zweimaligen Weltkriegserfahrung die Einsicht durch, dass ein internationalistischer Kurs im amerikanischen Interesse lag (vgl. Rose 2019, S. 10–14; Bierling 2004, S. 81–95; Dittgen 1998; Ambrose und Brinkley 2011). Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und unter dem Eindruck des Systemkonflikts mit der Sowjetunion nahmen die USA ihre Rolle als globale Ordnungsmacht an und setzten sich – im Rahmen dessen, was machtpolitisch möglich war – für eine liberale, auf Institutionen und Regeln basierende internationale Ordnung ein (vgl. Ikenberry 2011). Hier liegt das Fundament der europäisch-amerikanischen Partnerschaft. Das Ziel der USA lautete, die Dominanz einer feindlichen Macht in den drei strategisch wichtigen Regionen Europa, Asien und Mittlerer Osten zu verhindern. Dabei waren sie im geteilten Europa zu einem weit tieferen Engagement

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bereit als anderswo. In Westeuropa organisierten sie durch die NATO die Abschreckung und Eindämmung der Sowjetunion, fungierten nach innen wie außen als Sicherheitsgarant, kultivierten einen engen Multilateralismus und unterstützten die Westintegration der Bundesrepublik ebenso wie den europäischen Einigungsprozess, der destruktive Nationalismen zu überwinden versprach. Beate Neuss charakterisiert die Vereinigten Staaten daher als „Geburtshelfer Europas“ (vgl. Neuss 2000). Drei Faktoren schweißten die transatlantischen Partner fortan zusammen. Erstens sind die Zwänge des internationalen Systems zu nennen. Angesichts der Bedrohung durch die Sowjetunion deckten sich die weltpolitischen Ziele der USA und die regionalen Bedürfnisse Westeuropas. Zweitens stimmten die Demokratien Westeuropas mit den Vereinigten Staaten überein, dass eine liberale Ordnung ihren Interessen und Wertvorstellungen entsprach. Unbestritten gab es dabei auch Doppelstandards und Streit zum richtigen Vorgehen, und zwar sowohl innerhalb der einzelnen Staaten als auch zwischen ihnen. Nichtsdestotrotz hielt ein Grundkonsens den liberalen Westen zusammen, der das Bekenntnis zu einer freiheitlich-liberalen Grundordnung, zu Verrechtlichung, Institutionalisierung, kooperativer Sicherheit, Marktwirtschaft, Freihandel und universellen Menschenrechten beinhaltete. Drittens war man sich beim Interaktionsmodus einig. Die USA übernahmen die Führung und die westeuropäischen Partner folgten ihnen. Weil die Eindämmung der Sowjetunion ihre strategische Priorität war, schulterten die USA dabei bereitwillig einen größeren Teil der Lasten. Nach dem Kalten Krieg musste sich zeigen, ob die Werte- und Interessenpartnerschaft auch unter veränderten Rahmenbedingungen für beide Seiten funktionieren würde.

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Europäisch-amerikanische Entfremdung von George H. W. Bush zu Barack Obama

Obwohl die USA nach dem Kalten Krieg ihre Prioritäten neu justieren wollten, verabschiedeten sie sich nicht von der Rolle als liberaler Weltordnungsmacht. Die Weichenstellungen der Präsidenten George H. W. Bush und Bill Clinton in den 1990er-Jahren zeigten, dass erstens die Stabilität Europas noch immer zu den amerikanischen Kerninteressen gehörte, zweitens der eigene Führungsanspruch erhalten blieb, man sich aber drittens ein handlungsfähiges Europa erhoffte, das Washington weltweit unterstützen würde. Zwar gab es erfolgreiche Kooperationsprojekte, etwa die Gründung der Welthandelsorganisationen (WTO) oder die Transformation der NATO. Doch bald entstand auch Unmut: Letztlich mussten nämlich die USA trotz der innenpolitischen Vorbehalte für die Europäer in die Bresche springen, um die Konflikte in Bosnien und im Kosovo zu beenden (vgl. Groitl 2017a, S. 27–28). Dabei deutete sich bereits an, welche Belastungen und Verlockungen mit liberaler Hegemonie einhergingen: Ohne einen externen Gegner, der machtpolitische Grenzen setzt, würde eine liberale Supermacht immer wieder Zwänge sehen für den Einsatz militärischer Gewalt um der Demokratie und der Werte willen (vgl. Mearsheimer 2018).

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Nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 wollte sich die George W. Bush-Administration nicht einengen lassen von unflexiblen und wegen der Machtasymmetrie nur bedingt nützlichen Bündnissen. Der von den USA weitgehend unilateral formulierte „Globale Krieg gegen den Terrorismus“ mit Interventionen in Afghanistan 2001 und im Irak 2003, die Bevorzugung von „Koalitionen der Willigen“ gegenüber festen Allianzen sowie der Streit um den präventiven Militärschlag gegen den Irak führten zu einem heftigen transatlantischen und innereuropäischen Zerwürfnis (vgl. Anderson et al. 2008). Tatsächlich stürzten die USA auch die regelbasierte, liberale Weltordnung in die Krise, zeigte der Krieg gegen den Terror doch, wie schnell bei einer Bedrohung der nationalen Sicherheit liberale Grundprinzipien und völkerrechtliche Normen ausgehebelt werden können. Die transatlantische Spaltung wurde einerseits mit Kooperation in anderen Feldern überbrückt, weil man den Wert der Beziehungen schätzte, die Differenzen der Bush-Administration zuschrieb und der Erhalt etablierter Strukturen weiter im beiderseitigen Interesse lag. Andererseits nahmen die Reibungspunkte zu und es gedieh der europäische Wille, sich von amerikanischer Führung zu emanzipieren (vgl. Groitl 2017a, S. 27–28; Jäger et al. 2005). Der Amtsantritt von Präsident Barack Obama 2009 bot augenscheinlich die Gelegenheit für eine transatlantische Versöhnung. Doch schon der Strategiewechsel in Afghanistan 2009 und der Streit um die Lastenteilung in der NATO in den Folgejahren führten vor Augen, dass die Europäer aus US-Sicht nicht handlungsfähig genug waren (vgl. U.S. Department of Defense 2011). Der NATO-Einsatz in Libyen 2011 bestätigte das Bild (vgl. Goldberg 2016; Hallams und Schreer 2012). Derweil begann Washington ab 2011 mit der Verlagerung seiner Aufmerksamkeit in den asiatisch-pazifischen Raum, um Chinas Aufstieg zu begegnen. Dieses Rebalancing formulierten die USA ohne Konsultation, geschweige denn im Verbund mit Europa. Während Chinas neues Selbstbewusstsein die USA als pazifische Macht direkt betraf, war Europa dort weder präsent noch nach amerikanischer Einschätzung willens oder in der Lage, zu helfen (vgl. Groitl 2017b; Gareis und Liegl 2016). Tatsächlich war Europa mit sich selbst beschäftigt: Die Verwerfungen der Finanz-, Wirtschafts- und Euro-Schuldenkrise, die Debatten um die Austeritätspolitik und ein neuer EU-Skeptizismus potenzierten die innereuropäischen Fliehkräfte. Selbst die ab 2013 mit den USA geführten Verhandlungen über die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) stockten bald wegen öffentlichen Widerstands in europäischen Staaten (vgl. Groitl 2016, S. 402–404). Obwohl Europa und die USA weiter einer liberalen internationalen Ordnung anhingen, verschoben sich nicht nur ihre Prioritäten und Interpretationen, was diese beinhalten sollte, sondern eben auch ihre Fähigkeit und Bereitschaft zur Kooperation. Obama drängte sowohl Deutschland, europäische Zusammenarbeit zu organisieren und mehr Verantwortung zu übernehmen, als auch die europäischen NATO-Partner und die EU, eigenständiger zu agieren. Wegen der russischen Annexion der Krim und der Destabilisierung der Ukraine verstärkten die USA ab 2014 ihr NATO-Engagement. Sie verdeutlichten aber, weder als politischer Krisenmanager für Europa zurückzukehren noch die Hauptaufmerksamkeit erneut auf Europa zu richten. Auch umgekehrt hatten die Vorjahre Spuren hinterlassen: Dass Washington

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kluge Führung ausüben würde und es im europäischen Interesse war, zu folgen, war längst passé, wenngleich eine post-amerikanische Sicherheitspolitik nicht in Sicht war (vgl. Groitl 2017a).

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Transatlantischer Bruch unter Donald J. Trump

Donald Trumps Amtsantritt im Januar 2017 brachte außenpolitische Ideen ins Weiße Haus, die zwar nicht neu, aber für viele Jahrzehnte nicht durchsetzungsfähig gewesen waren. Die America First-Agenda ruht auf der Prämisse, dass die USA keine Verantwortung für die Gestaltung der Welt hätten, ja dass ein ausgeprägtes globales Engagement ihnen sogar schadete. Eine solche Abkehr vom Internationalismus und seiner liberalen Ausprägung würde der europäisch-amerikanischen Partnerschaft die Existenzgrundlage rauben. Ob Trumps Präsidentschaft tatsächlich zu einer Zäsur werden sollte, war keinesfalls sicher. Zwar sank das weltweite Vertrauen in den US-Präsidenten, die richtigen Entscheidungen zu treffen, mit dem Personalwechsel im Weißen Haus 2017 schlagartig. Doch George W. Bush war zum Ende seiner Amtszeit ähnlich kritisch bewertet worden (vgl. Wike et al. 2018). Gegen einen radikalen Kurswechsel sprach, dass internationale Zwänge jeden Präsidenten disziplinieren und das politische System von Checks and Balances geprägt ist (vgl. Koschut und Kutz 2012). Trump umgab sich mit Außenminister Rex Tillerson, Verteidigungsminister James Mattis und Sicherheitsberater H. R. McMaster zudem mit Traditionalisten, die den Wert von Allianzen und den Nutzen der regelbasierten Weltordnung für die USA anerkannten (vgl. Bierling 2017). Tatsächlich gab es im ersten Amtsjahr auch in der Europapolitik mehr Kontinuität als Wandel. Die USA bauten ihr Engagement in der NATO zur Abschreckung Russlands und zur Rückversicherung der europäischen Partner sogar aus und stellten mehr Geld zur Verfügung (vgl. Lange 2018). Die Ende 2017 unter der Federführung von H. R. McMaster entstandene Nationale Sicherheitsstrategie identifizierte Russland und China als repressive Revisionisten, denen die Vereinigten Staaten mit prinzipientreuem Realismus und zusammen mit ihren Verbündeten in Europa und Asien entgegentreten würden (vgl. Trump 2017a). Trotzdem belastete Trump die europäisch-amerikanischen Beziehungen schwer. Zunächst ging es primär um rhetorische Querschläge, die im Widerspruch zum Regierungshandeln standen. Doch die Personalwechsel und das steigende Selbstbewusstsein des Präsidenten im zweiten Amtsjahr zogen politische Konsequenzen nach sich. Außenminister Mike Pompeo und der inzwischen bereits wieder aus dem Amt entlassene Sicherheitsberater John Bolton stützten die unilateralen Impulse des Präsidenten. James Mattis, vormals ein Stabilitätsanker, verließ wiederum zum Jahresende 2018 das Pentagon wegen seiner Differenzen mit Trump. Philipp Gordon und Jeremy Shapiro diagnostizierten Anfang 2019 gar den Tod der transatlantischen Partnerschaft, wie wir sie kannten (vgl. Gordon und Shapiro 2019). Die NATO unterminierte der US-Präsident in den ersten beiden Amtsjahren geflissentlich. Dabei ist die Sachkritik an den Verteidigungsausgaben der anderen

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Mitglieder, die sich ohne die USA im Schnitt nur auf 1,47 statt der bis 2024 anvisierten 2 Prozent des Bruttosozialprodukts belaufen, gar nicht der entscheidende Punkt (Zahl nach NATO 2018, S. 4). Korrosiver war, dass Trump die Glaubwürdigkeit des Bündnisses beschädigte. Nachdem er im Wahlkampf die NATO als obsolet bezeichnet hatte, implizierte er später, dass die kollektive Verteidigung nur greife, wenn andere Mitglieder ihre Beiträge zahlten. Bei seinem ersten Gipfel in Brüssel 2017 kritisierte er die Partner und verzichtete auf ein Bekenntnis zum Beistandsversprechen nach Artikel 5 (vgl. Petersson 2019, S. 32). Beim NATO-Gipfel 2018 provozierte Trump eine Krisensitzung zur Lastenteilung und drohte, dass die USA eigene Wege gehen könnten (vgl. Meyer zum Felde 2018). Später berichtete die Presse, der Präsident wolle einen Austritt aus dem Bündnis (vgl. Barnes und Cooper 2019). Im US-Fernsehen fabulierte er, dass das neueste NATO-Mitglied Montenegro besonders aggressiv sei und die USA in einen dritten Weltkrieg ziehen könnte (vgl. FAZ 2018), während er ausgerechnet dem russischen Präsidenten Wladimir Putin wiederholt sein Vertrauen aussprach und eine Verbesserung der Beziehungen in Aussicht stellte. Dass der US-Kongress sich demonstrativ hinter die atlantische Allianz stellt und eine illusionslose Russlandpolitik verfolgt, beruhigt unter diesen Umständen nur bedingt (vgl. Adomeit 2018). Das Verhältnis zur Europäischen Union kann als präzedenzlos schlecht charakterisiert werden. Trump begreift die EU als ökonomischen Rivalen und politisches Nullum. Es passt zu seiner generellen Ablehnung von intergouvernementalen und supranationalen Strukturen und der Glorifizierung des souveränen Nationalstaats (vgl. z. B. The White House 2017, 2018). Wiederholt brachte er seine Sympathie für Rechtspopulisten und EU-Gegner wie Marine Le Pen oder Nigel Farage zum Ausdruck. US-Außenminister Pompeo bezweifelte öffentlich, ob die EU den Interessen der europäischen Staaten und Bürger diene. Zu den internationalen Institutionen, die die USA als nützlich erachteten, zählte er die NATO, nicht aber die EU oder die UN (vgl. Harris 2018). Aus dem gemeinsam verhandelten Nuklearabkommen mit dem Iran zogen sich die USA trotz europäischen Widerstands zurück, forderten Gefolgschaft und provozierten so ein weiteres Zerwürfnis. Ebenfalls 2018 verhängte die Administration mit Verweis auf die nationale Sicherheit Einfuhrzölle von 10 Prozent auf Aluminium und 25 Prozent auf Stahl auch aus Europa und diskutierte willkürlich Zölle auf europäische Autos (vgl. Gordon und Shapiro 2019). Bilateral gab es ebenfalls eine unerwartete Kehrtwende. Während Deutschland zuvor als Schlüsselstaat für die amerikanische Europapolitik galt, stilisiert die Trump-Administration Berlin zum Antagonisten (vgl. Toosi 2018). Die Bundesrepublik sei ein Trittbrettfahrer in der NATO und schulde Unsummen: „[Germany owes] . . . vast sums of money to NATO & the United States must be paid more for the powerful, and very expensive, defense it provides to Germany!“ (Trump 2017b). Freilich gibt es kein Schuldenkonto und die US-Militärpräsenz in Deutschland dient – ungeachtet des Beistandsversprechens der NATO – zur amerikanischen Machtprojektion über Europa hinaus. Darüber hinaus interpretiert Trump die Exportstärke der deutschen Wirtschaft als Nachteil für die USA (vgl. Sheftalovich 2017). Es ist offensichtlich, dass die Trump-Präsidentschaft Fragen zum Zustand der amerikanischen Demokratie aufwirft (vgl. Horst et al. 2018), die USA international

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ins Abseits rückt (vgl. Herr et al. 2019) und die liberale Weltordnung bedroht (vgl. Daase und Kroll 2019). Für Europa sind das schwerwiegende Probleme. Dass Europa eigenständiger werden müsse, vermittelte bereits die Obama-Administration. Trump verschärft den Druck, zumal seine Politik regelmäßig europäische Interessen verletzt. Bundeskanzlerin Angela Merkel mahnte 2017: „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück weit vorbei und deshalb kann ich nur sagen, wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in die eigene Hand nehmen.“ (FAZ 2017) Zweifellos hat die EU in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik eine neue Dynamik entwickelt. Doch von „strategischer Autonomie“, wie es die Globalstrategie von 2016 als Ziel formuliert, ist sie weit entfernt (vgl. European Union 2016). Insofern ist auch die Forderung des deutschen Außenministers Heiko Maas, die Antwort auf „America First“ müsse „Europe United“ lauten, damit Europa als Gegengewicht auftreten könne, wenn die Vereinigten Staaten Grenzen überschritten, nicht mit den nötigen Fähigkeiten unterlegt (vgl. Maas 2018). Überzeugte Transatlantiker warnen mit Recht davor, die USA mit Trump gleichzusetzen und seine Präsidentschaft mit einer unabänderlichen Zeitenwende zu verwechseln (vgl. Tempel et al. 2017). Doch dass Trumps Wahl ein Ausrutscher gewesen sei und alsbald wieder an vergangene Zeiten angeknüpft werden könne, ist nicht realistisch. Für Europa und die transatlantischen Beziehungen sind das keine guten Aussichten.

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Fazit

Die transatlantischen Beziehungen befinden sich an einer Wegscheide. Schon vor dem Amtsantritt von Donald Trump war das Verhältnis von einem Entfremdungsprozess gezeichnet. Zwar gab es einen liberal-internationalistischen Grundkonsens, der das Ende des Kalten Krieg überdauerte und in den 1990er-Jahren zunächst erfolgreich in transatlantische Kooperationsprojekte überführt werden konnte. Doch praktisch erwies sich Europa aus amerikanischer Sicht – in der NATO, in der EU und einzelstaatlich – wiederholt nicht in der Lage, als vollwertiger ordnungspolitischer Partner aufzutreten. Umgekehrt wuchs in Europa der Wunsch nach mehr Autonomie, weil die USA insbesondere nach 2001 nicht mehr als verlässliche Ordnungsmacht erschienen. Unter Obama zeigte sich, dass die USA und Europa zwar prinzipiell das Interesse am Erhalt einer liberalen Weltordnung teilten, es aber nur bedingt gemeinsam operationalisieren konnten. Die Donald J. Trump-Präsidentschaft markiert nun mit ihrer Agenda des America First einen konzeptionellen Bruch. Nach über sieben Jahrzehnten stellt erstmals eine US-Administration die große Strategie der Nachkriegszeit in Frage, schürt Zweifel an der transatlantischen Sicherheitspartnerschaft, revidiert die Unterstützung für die europäische Integration und stilisiert enge demokratische Verbündete zu Gegnern, während der Präsident autoritäre Machthaber umgarnt. Darüber hinaus prescht die Trump-Administration regelmäßig unilateral voran und verlangt Gefolgschaft. Obwohl selbst ihre eigenen Strategiedokumente Europa als wichtigen Partner in einer von Machtverschiebungen und Revisionismus gezeichneten Welt sehen, handelt die Trump-Administration nicht danach. Für Europa ist das eine überraschende Wende.

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Dabei böte die Rückkehr der illiberalen Großmächte Russland und China Raum für einen neuen transatlantischen Schulterschluss. Wie unter den veränderten Bedingungen eigene Interessen verteidigt und tragfähige Ordnungsstrukturen gestaltet werden können, ist die zentrale strategische Frage der Gegenwart. Für sich allein sind dabei weder die USA noch Europa gut aufgestellt. Im transatlantischen Verhältnis zeigt sich derzeit aber weder der Wille noch ein perzipierter Zwang zur Zusammenarbeit. Stattdessen treiben (Rechts)Populisten auf beiden Seiten des Atlantiks die politische Debatte. Sie singen das Hohelied des souveränen Nationalstaats, der sich die „Kontrolle zurückhole“ und sich gegen vermeintliche Exzesse des Liberalismus und Globalismus zur Wehr setze. Die TrumpAdministration ist in diesem Sinne nicht der Auslöser, sondern ein Symptom für die Krise des Liberalismus als Ordnungsrahmen auf nationaler und internationaler Ebene.

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Die USA und Russland Ewige Antagonisten? Sabine Fischer und Susan Stewart

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die USA und die Sowjetunion während des Ost-West-Konflikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Männerfreundschaft und wilde Jahre – Russland und die USA, Bill Clinton und Boris Jelzin in den 1990ern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Vom Kampf gegen den internationalen Terrorismus zur Konfrontation über die Nachbarschaft: Bush und Putin in den 2000ern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Die USA und Russland in den Obama-Jahren – Der „Reset“ und sein Scheitern . . . . . . . . . 6 Konfrontation statt Männerfreundschaft – das amerikanisch-russische Verhältnis seit der Wahl Donald Trumps . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Schlussfolgerungen: Der Antagonismus ist langfristig, aber nicht irreversibel . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Das Kapitel analysiert die USA-Russland-Beziehungen insbesondere seit dem Ende des Ost-West-Konflikts. Die Autorinnen gehen der Entwicklung des Verhältnisses unter den verschiedenen US-amerikanischen (und drei russischen) Präsidenten nach und kommen zum Schluss, dass sich die Beziehungen seit 1999 kontinuierlich verschlechtert haben. Dies liegt an falschen Annahmen sowie an fehlendem Vertrauen auf beiden Seiten, aber auch daran, dass das Verhältnis im Wesentlichen auf den Sicherheitsbereich konzentriert ist. Die Beziehungen sind stark personalisiert. Die Chemie zwischen den jeweiligen Präsidenten spielt mangels institutioneller Verflechtung eine entscheidende Rolle. Auch wenn nicht

S. Fischer (*) · S. Stewart (*) Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, Deutschland E-Mail: sabine.fi[email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_47

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S. Fischer und S. Stewart

ausgeschlossen ist, dass das Verhältnis sich in Zukunft verbessert, ist eine solche Entwicklung in den kommenden Jahren nicht abzusehen. Schlüsselwörter

USA · Russland · Sicherheitspolitik · Politische Elite · Antagonismus

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Einleitung1

Die Vereinigten Staaten von Amerika und Russland sind die größten Nuklearmächte der Welt. Im Falle einer atomaren Eskalation können sie sich gegenseitig und einen großen Teil der Welt vernichten. Washington und Moskau verfügen über einen permanenten Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Sie tragen die Hauptverantwortung für nukleare Rüstungskontrolle und Nonproliferation. Die Frage nach dem strategischen (Un)Gleichgewicht im russisch-amerikanischen Verhältnis ist deshalb von zentraler Bedeutung. Die Fähigkeit zu globaler Machtprojektion ist jedoch bis heute sehr einseitig zugunsten der USA verteilt. Die transatlantischen Beziehungen, die NATO und Fragen der europäischen Sicherheit bleiben ein wichtiger Teilaspekt des strategischen Verhältnisses zwischen den USA und Russland. Weder vor noch nach dem Ende der Systemkonfrontation entwickelte sich ein intensiver wirtschaftlicher Austausch. Die USA und die Sowjetunion betrieben kaum Handel, anders als beispielsweise Deutschland und die Sowjetunion. Nach 1992 fand sich in den USA kein Markt für die wichtigsten russischen Exportprodukte Energieträger, Rohstoffe und Rüstungsgüter. Der russische Markt ist aufgrund von mangelnder Diversifizierung und anhaltender Rechtsunsicherheit für amerikanische Investoren nur von eingeschränktem Interesse. Die gegenseitigen Sanktionen, die seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland im März 2014 bestehen und seitdem erheblich erweitert wurden, verstärken diese wirtschaftliche Isolation. Auch gesellschaftliche Kontakte, z. B. durch Hochschulkooperationen und Studierendenaustausch, Tourismus oder zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit, sind begrenzt und schrumpfen weiter. Anders als im Verhältnis zwischen Russland und vielen europäischen Staaten fehlen deshalb sowohl in Russland als auch in den USA wirtschaftliche und gesellschaftliche Gruppen mit einem starken Interesse an der jeweils anderen Seite, die den „Unterbau“ für ein konstruktiveres politisches Verhältnis bilden könnten. Dies spiegelt sich auf der politischen Ebene in schwacher Institutionalisierung: Versuche, das bilaterale Verhältnis durch regelmäßige Regierungskontakte, gemeinsame Kommissionen und Arbeitsgruppen abzustützen, waren nicht von langer Dauer und blieben der politischen Konjunktur in den Beziehungen unterworfen. Diese Konjunktur war deshalb immer wieder vom persönlichen Verhältnis zwischen den jeweiligen Staatsoberhäuptern anhängig (Stent 2019, S. 303). 1

Wir danken Anastasia Vishnevskaya-Mann und Belinda Nüssel herzlich für ihre Hilfe mit Recherche- und Formatierungsaufgaben.

Die USA und Russland

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Auch die innenpolitische Dynamik in beiden Staaten spielt eine wichtige Rolle für die Entwicklung der Beziehungen. Die Verfassung der Russischen Föderation beschreibt ein präsidentielles System, in dem das Staatsoberhaupt mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet ist; u. a. bestimmt der/die Präsident/in die außenpolitische Ausrichtung des Landes. Russland wurde in seiner postsowjetischen Geschichte von drei Präsidenten regiert: Boris Jelzin (1992–1999), Wladimir Putin (2000–2008, seit 2012) und Dmitri Medwedew (2008–2012). In der Realität hat sich seit Beginn der 2000er-Jahre ein hyperzentralisiertes autoritäres System entwickelt, das durch eine starke Machtvertikale mit Wladimir Putin an der Spitze gekennzeichnet ist.2 In den USA haben vier demokratische Wechsel an der Staatsspitze stattgefunden: von George H. W. Bush (senior) zu Bill Clinton, 1992; von Bill Clinton zu George W. Bush 2000; von George W. Bush zu Barack Obama 2008; von Barack Obama zu Donald Trump 2016. Während manche Trends in der amerikanischen Russlandpolitik sich kontinuierlich weiterentwickelten, haben diese Persönlichkeiten und ihre Administrationen den russisch-amerikanischen Beziehungen doch unterschiedliche Stempel aufgedrückt. Politische Eliten und Gesellschaften auf beiden Seiten nehmen die Welt, den jeweiligen anderen und die gemeinsame Geschichte sehr unterschiedlich wahr. Die Diskrepanz der Weltbilder war in den vergangenen 30 Jahren mal größer mal kleiner, hat sich jedoch unter dem Strich eher verstärkt als abgenommen. Ein weiterer Faktor, der die russisch-amerikanischen Beziehungen wesentlich beeinflusst, liegt im internationalen Kontext. Die Bipolarität des Ost-West-Konflikts wurde in den 1990er-Jahren von einer amerikanisch-westlichen dominierten unipolaren, diese wiederum ab den 2000er-Jahren von einer sich immer stärker ausformenden multipolaren Struktur abgelöst. Die Finalität dieses Wandlungsprozesses bleibt offen und hängt vor allem von der zukünftigen Rolle und Politik Chinas und den amerikanisch-chinesischen Beziehungen sowie der weiteren Entwicklung des transatlantischen Verhältnisses ab. Sowohl die USA als auch Russland reagieren in ihrer Außenpolitik auf strukturellen Wandel im internationalen System, was sich wiederum auf das bilaterale Verhältnis auswirkt. Weite Teile der politischen Eliten, Expertinnengemeinschaften und Gesellschaften in den USA und Russland gehen davon aus, dass das Verhältnis zwischen beiden Staaten unveränderlich antagonistisch ist. Auch in der Forschung ist diese Sichtweise auf beiden Seiten weit verbreitet. Sie entspricht der neo-realistischen Lesart internationaler Beziehungen (vgl. Karaganov und Suslov 2018; Mearsheimer 2014 und Suslov 2018). Andere theoretische Perspektiven, wie Liberalismus und Konstruktivismus, konnten sich nur in Phasen der Entspannung mit ihren Erklärungsangeboten durchsetzen, so beispielsweise in den 1990er-Jahren (vgl. Legro und Moravczik 1999; Wendt 1992 und 1999; sowie Fischer 2003). Wir möchten in diesem Beitrag darüber reflektieren, ob die Beziehungen zwischen den USA und Russland tatsächlich irreversibel antagonistisch sind.

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Zur Person, Biographie und zum Weltbild Wladimir Putins siehe Hill und Gaddy 2013.

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Die USA und die Sowjetunion während des Ost-WestKonflikts

Das Hauptmerkmal des Ost-West-Konflikts war das bipolare Spannungsverhältnis zwischen einem westlichen und einem östlichen Block von Staaten unter der Führung der Supermächte USA und Sowjetunion. Mit der Blockkonfrontation ging eine ideologische Systemkonkurrenz zwischen westlicher Demokratie und Marktwirtschaft einerseits und Kommunismus/Sozialismus und Planwirtschaft andererseits einher (vgl. Gaddis 2005 und LaFeber 2008). Das grundlegende Merkmal des Ost-West-Konflikts war konfrontative Stabilität angesichts der sicheren gegenseitigen Vernichtung (Mutually Assured Destruction, MAD) im Falle eines Atomkrieges. Dennoch zeichneten sich die Jahrzehnte zwischen 1945 und 1989/1991 durch hohe Dynamik und einen Wechsel zwischen Phasen der Anspannung3 und der Entspannung4 ab. Die Politik der USA und der Sowjetunion war während des Ost-West-Konflikts darauf ausgerichtet, das strategische Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Die Machtprojektion der Supermächte auf allen Kontinenten und zahlreiche Stellvertreterkriege verliehen dem Konflikt eine globale Dimension. Handel und gesellschaftlicher Austausch blieben nachrangig. Die USA und die UdSSR waren politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich weitgehend voneinander abgeschottet. Dies änderte sich ab 1986, als Michail Gorbatschow, Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, bahnbrechende interne Reformen initiierte und begann, die Beziehungen zwischen der UdSSR und der westlichen Welt umzugestalten. Direkte Abrüstungsverhandlungen begannen bereits zwischen Ronald Reagan und Gorbatschow und wurden ab 1988 von Reagans Nachfolger George H.W. Bush fortgesetzt. Sie führten zu den Schlüsselverträgen, die in den nächsten Jahrzehnten das strategische Verhältnis der USA und Russlands bestimmen sollten.5 Ende 1991 zerfiel die Sowjetunion. Die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik trat 1992 die Rechtsnachfolge der Sowjetunion auf internationaler Ebene an und übernahm die sowjetischen Atomwaffen und den sowjetischen Sitz im UN-Sicherheitsrat. In den folgenden Jahren waren Washington und Moskau unter teils chaotischen Bedingungen mit der Neuordnung ihres Verhältnisses beschäftigt.

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Männerfreundschaft und wilde Jahre – Russland und die USA, Bill Clinton und Boris Jelzin in den 1990ern

Als Bill Clinton Anfang 1993 die US-amerikanische Präsidentschaft übernahm, war Boris Jelzin bereits seit anderthalb Jahren im Amt. Die Beziehung zwischen den beiden Männern, die sich über die nächsten sieben Jahre entwickelte, wirkte sich 3

Berlinblockade 1948, Berlinkrise 1961, Kubakrise 1962, sowjetischer Afghanistankrieg und neues Wettrüsten Ende der 70er- und in den 80er-Jahren. 4 Nach dem Machtantritt Nikita Chruschtschows sowie in den 1970er-Jahren. 5 Zur Übersicht der Verträge siehe Arms Control Association 2019.

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maßgeblich auf das Verhältnis zwischen den von ihnen geführten Staaten aus. Clinton unterstützte Jelzin, als dieser das russische Parlament im Herbst 1993 attackierte, trotz des ersten Tschetschenienkriege 1994–1996 und während der sehr umstrittenen russischen Präsidentschaftswahl 1996. Jelzin entwickelte daraufhin ein starkes Vertrauen in seinen amerikanischen Amtskollegen und tolerierte Handlungen der USA, die schon damals in Russland heftigen Widerstand hervorriefen. In der vergleichsweise offenen und vertrauensvollen Atmosphäre der 1990erJahre riefen die beiden Präsidenten die Gore-Chernomyrdin-Kommission ins Leben. Geleitet vom US-amerikanischen Vize-Präsidenten und dem russischen Premierminister, sollte dieses Gremium die Beziehungen in einer Reihe von Feldern voranbringen, wie z. B. Weltraumaktivitäten, Verteidigungskooperation, Energiefragen und Handelsbeziehungen. Die Idee bestand unter anderem darin, dass in vielen Bereichen US-amerikanische Firmen den entsprechenden Akteuren in Russland Know-how beibringen und gleichzeitig ihre eigenen Geschäftsinteressen verfolgen könnten. Dies gelang wesentlich schlechter als erwartet. Die Kommission hinterließ keine nachhaltigen Ergebnisse. Die Politik der USA konzentrierte sich in dieser Phase auf die sicherheitspolitischen Folgen des sowjetischen Zerfalls. Die US-amerikanische Seite war insbesondere daran interessiert, die Gefahr der Proliferation von Nuklearwaffen einzudämmen, indem man sicherstellte, dass Russland ein Monopol über die verbleibenden sowjetischen Atomwaffen besaß. Es gelang der Clinton-Administration, andere postsowjetische Staaten darauf zu verpflichten, ihre Nuklearwaffen an die Russische Föderation abzugeben, damit diese in Russland vernichtet würden.6 Darüber hinaus stand die Frage nach einer neuen europäischen Sicherheitsstruktur auf der Tagesordnung. Um die erste NATO-Osterweiterung für Russland verträglicher zu gestalten einigten sich die NATO und Russland unter aktiver Vermittlung von Bill Clinton 1996 auf die NATO-Russland Grundakte und die Bildung eines sogenannten Permanent Joint Council. Auf Dauer konnte diese Maßnahme aber das russische Misstrauen gegenüber der NATO nicht beruhigen.7 Schließlich förderten die USA die Demokratisierung Russlands in der Annahme, dass das Land sich der westlichen Welt im politischen wie im wirtschaftlichen Sinne anpassen würde.8 Die amerikanische Politik war dabei durchaus ambivalent. Präsident Clinton und andere Akteure waren bereit, schwere Brüche im russischen

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Dieser Prozess führte zum u. a. sogenannten Budapest Memorandum zwischen der Ukraine, Russland, den USA und Großbritannien, das Russland mit der Annexion der Krim 2014 brach. 7 Besonders problematisch in diesem Zusammenhang war die Interpretation der US-amerikanischen Position in den sogenannten Zwei-plus-vier-Verhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands 1990. Im Nachhinein behauptete die russische Seite, sie hätte Versprechungen erhalten, dass die NATO sich nicht auf die Staaten des damaligen Ostblocks ausdehnen würde. Einschlägige Recherchen zeigen allerdings, dass diese Frage zu dem Zeitpunkt nicht verhandelt wurde. Siehe z. B. Kramer 2009. 8 Dieses Ziel fügte sich in einen breiteren Ansatz, der davon ausging, dass die postsowjetischen Staaten sich in einer Übergangsphase befanden, während derer sie sich zu Demokratien und Marktwirtschaften entwickeln würden. Die Politik westlicher Staaten sollte sie auf diesem Weg entsprechend fördern. Siehe z. B. Carothers 1999.

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Demokratisierungsprozess hinzunehmen, weil sie die Folgen einer Machtübernahme der Kommunisten befürchteten. Demokratieförderung wurde v. a. von US-amerikanischen NGOs betrieben und konzentrierte sich insbesondere auf den Aufbau von politischen Parteien sowie auf Techniken für das Monitoring von Wahlen. Diese Bemühungen hatten einen begrenzten Effekt, der sich kaum auf die russische politische Elite und die Struktur des politischen Systems auswirkte. Sie stellten aber eine wichtige Unterstützungsquelle für russische Aktivistinnen dar (Mendelson 2001, S. 68–106). Ab der Mitte der 1990er-Jahre erstarkten konservative politische Kräfte in Russland; die Spielräume für US-amerikanischen und westlichen Einfluss begannen zu schrumpfen. Weite Teile der russischen politischen Elite hegten großes Misstrauen gegenüber den USA und nahmen den asymmetrischen Charakter der Beziehungen als Demütigung wahr. Das Misstrauen steigerte sich drastisch, als die NATO im Frühjahr 1999 Serbien bombardierte, das in Russland als traditioneller Verbündeter wahrgenommen wurde. Waren Washington und Moskau Mitte der 1990er-Jahre noch in der Lage gewesen, ihre Divergenzen über die jugoslawischen Zerfallskriege und die Neuordnung des Balkans durch Verhandlungen zu überbrücken, kam es nun zum offenen Konflikt. Die Luftschläge der NATO wurden in Russland als Zeichen interpretiert, dass die USA sich über die UNO stellten und sich anmaßten, unilaterale Entscheidungen zu treffen – auch in Bereichen, in denen Russland nach eigenem Empfinden eine entscheidende Rolle zu spielen hatte. Zusammen mit der NATO-Erweiterung um Polen, Ungarn und die Tschechische Republik im März 1999 beschädigte der Kosovo-Krieg nicht nur die Beziehung zwischen den beiden Präsidenten Clinton und Jelzin schwer, sondern stellte auch Weichen, die für die Weiterentwicklung des Verhältnisses zwischen beiden Staaten von entscheidender Bedeutung waren und sind (Averre 2009, S. 575–591).

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Vom Kampf gegen den internationalen Terrorismus zur Konfrontation über die Nachbarschaft: Bush und Putin in den 2000ern

George Walker Bush, im Januar 2001 zum 43. Präsident der USA inauguriert, und Wladimir Putin, seit Mai 2000 Präsident der Russischen Föderation, begegneten sich erstmals im Juni 2001 im slowenischen Brno. Bushs Wahlsieg gegen den demokratischen Kandidaten und Vizepräsidenten der Clinton Administration, Al Gore, war äußerst knapp gewesen und wurde in den USA und in Europa vielfach angezweifelt. Wladimir Putin war im Sommer 1999 praktisch aus dem Nichts vom Geheimdienstchef zum Premierminister befördert worden. Im Herbst 1999 wurde Russland von einer Serie verheerender Bombenanschläge auf Wohnhäuser in mehreren Städten erschüttert, für die islamistische Gruppierungen aus dem Nordkaukasus verantwortlich gemacht wurden. Im Dezember 1999 marschierten zum zweiten Mal seit dem Ende der Sowjetunion russische Truppen in Tschetschenien ein. Wladimir Putin positionierte sich in diesen Monaten als entschlossener Führer und starker Mann.

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Dieses Image trug wesentlich zu seinem Wahlsieg in den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen im März 2000 bei, die Boris Jelzin mit seinem vorzeitigen Rücktritt herbeigeführt hatte. Die Bush-Administration brachte neue außenpolitische Prioritäten ins Weiße Haus. Sie schrieb Russland wesentlich geringere Bedeutung zu als die VorgängerAdministration und verwarf die Kernidee der Gore-Chernomyrdin-Kommission, institutionelle Kontakte auf verschiedenen Regierungsebenen zu unterhalten. Die Bush-Administration stand außerdem jeder Form von multilateraler Rüstungskontrollpolitik skeptisch gegenüber. Sie setzte früh darauf, das Projekt eines strategischen Raketenabwehrsystems wiederzubeleben. Washington kündigte im Dezember 2001 seinen Rückzug aus dem ABM-Vertrag an, mit dem die USA und die Sowjetunion sich 1972 verpflichtet hatten, keine solchen Systeme zu entwickeln. Die gewaltige Wirkung dieses Schritts wurde zunächst durch die präzedenzlos enge Zusammenarbeit beider Seiten nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 verdeckt. Wladimir Putin war der erste Staatschef, der den USA an diesem Tag seine Unterstützung zusicherte. Als die USA ihre Militäroperation gegen die afghanischen Taliban (Enduring Freedom) begannen, öffnete Russland seinen Luftraum für US-Flugzeuge auf dem Weg zu Militärbasen in Zentralasien und stellte Geheimdienstinformationen zur Verfügung. Die russische Führung betrachtete diese Kooperation als Ausdruck eines gemeinsamen Kampfes gegen den internationalen islamistischen Terrorismus, zu dem sie auch den russischen Krieg in Tschetschenien zählte und in dem sie Russland als gleichberechtigter Partner neben den USA sah. Die neue Freundschaft zwischen Moskau und Washington hielt jedoch nicht an. Bereits ab Mitte 2002 traten neue und alte Meinungsverschiedenheiten deutlich hervor. Moskau verstand den amerikanischen Rückzug aus dem ABM-Vertrag und das erklärte Ziel der Bush-Administration, ein Raketenabwehrsystem zu entwickeln, von Beginn an als gegen Russland gerichtet. Washingtons Beteuerungen, es handele sich um eine Schutzmaßnahme gegen nach atomarer Bewaffnung strebenden „Schurkenstaaten“ (rogue states), trafen in Russland auf taube Ohren. Je weiter sich beide Seiten ab 2002 voneinander entfernten, desto näher sah sich auch Russland in die Nähe der sogenannten „Schurkenstaaten“ gerückt und von den US-amerikanischen Raketenabwehrplänen unmittelbar gefährdet. Auch der SORT-Vertrag, den Washington und Moskau im Mai 2002 schlossen, konnte diese Entwicklung nicht aufhalten.9 Der Streit um die Erweiterung der NATO wurde mit immer größerer Härte geführt. Nachdem 1999 Polen, die Tschechische Republik und Ungarn beigetreten waren, sicherte die Allianz 2002 auch den baltischen Staaten die Mitgliedschaft 9

Der Strategic Offensive Reduction Treaty (SORT) legte fest, dass beide Seiten ihr Arsenal gefechtsfähiger strategischer Nuklearsprengköpfe bis Dezember 2012 auf 1700 bis 2200 reduzieren würden. Der Vertrag verpflichtete sie nicht zur Vernichtung der Sprengköpfe und hatte keinen Verifikationsmechanismus, was ihn im Vergleich zu den Rüstungskontrollverträgen der 80er-Jahre zu einem schwachen Instrument machte (vgl. Arms Control Association 2006).

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zu. Mit der Aufnahme von drei ehemaligen Sowjetrepubliken wurde aus russischer Perspektive eine rote Linie überschritten. Die Aufwertung des Permanent Joint Council zum NATO-Russland Rat 2002 half kaum, das wachsende Misstrauen der russischen politischen Elite zu beruhigen. Der Konflikt trat offen zu tage, als die Bush-Administration mit der Unterstützung großer Teile des Kongresses ab 2004 begann, sich für eine NATO-Beitrittsgarantie (MAP) für Georgien und die Ukraine einzusetzen. Eine solche Option war nach den sogenannten Farbrevolutionen in Kyjiw und Tbilisi in den Bereich des Denkbaren gerückt, in deren Folge Georgien und die Ukraine ihren Beitritt zu NATO und EU zu prioritären außenpolitischen Zielen erklärten. In Moskau lösten diese Entwicklungen Panik aus. Die russische politische Elite sah die Ereignisse in den beiden Nachbarstaaten, bereits ganz im Lichte der sich verschlechternden Beziehungen mit den USA und der NATO, als vom Westen gesteuerte Umstürze mit dem Ziel, russischen Einfluss in der ehemaligen Sowjetunion zurückzudrängen – und letztendlich auch in Russland einen Regimewechsel herbeizuführen. Die innenpolitischen Entwicklungen in Russland lieferten ebenfalls zunehmend Stoff für Meinungsverschiedenheiten zwischen Moskau und Washington. Hatte die Präsidentschaft Putin mit Gesten nach Westen und einigen vor allem wirtschaftlichen Reformen begonnen, so nahmen autoritäre Tendenzen im politischen System bereits in der ersten Hälfte der 2000er-Jahre spürbar zu. Der russische Staat ging nicht nur gegen Oligarchen, sondern auch zunehmend gegen unabhängige Medien, zivilgesellschaftliche Organisationen und Oppositionelle vor. In den USA riefen diese Entwicklungen scharfe Kritik hervor. Moskau beobachtete seinerseits amerikanische Organisationen, die in Russland Demokratieförderung betrieben, mit immer größerem Argwohn. Die zunehmenden Spannungen artikulierten sich in Wladimir Putins berühmter Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007. Hier formulierte er in aller Klarheit den Vorwurf, die USA versuchten, ein unipolares internationales System zu errichten und beschuldigte Washington, russische Interessen zu verletzen. Putin kündigte an, Russland werde sich dem amerikanischen Streben nicht unterwerfen und reziprok auf die Politik der USA reagieren. Dies ist bis heute die Grundlinie der russischen Haltung geblieben (Präsident Russlands 2007). Mit dem russisch-georgischen Krieg im August 2008, wenige Monate vor dem Ende der zweiten Administration George W. Bushs, erreichten die russisch-amerikanischen Beziehungen ihren vorläufig tiefsten Punkt.

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Die USA und Russland in den Obama-Jahren – Der „Reset“ und sein Scheitern

2008 war nicht nur ein Jahr der Krise in den russisch-amerikanischen Beziehungen, sondern auch ein Zeitpunkt der innenpolitischen Veränderungen in beiden Staaten. Im März gewann Dmitri Medwedew die russische Präsidentschaftswahl. Vor dem Hintergrund der im Herbst 2008 einsetzenden Wirtschaftskrise verkündete er ein

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breites Modernisierungsprogramm sowie die Bereitschaft zu „Modernisierungspartnerschaften“, was im Westen große Erwartungen hervorrief (Medwedew 2009). Der Sieg Barack Obamas in den amerikanischen Präsidentschaftswahlen zum Ende des Jahres schien ein neues Möglichkeitsfenster zu öffnen für ein besseres Verhältnis zwischen zwei reform- und kooperationsorientierten Staatsoberhäuptern. Die ersten Begegnungen ab April 2009 und besonders der amerikanisch-russische Gipfel in Silicon Valley im Juni 2010 schienen dies zu bestätigen. Obama und sein Team versuchten, ähnlich wie die Clinton-Administration, das amerikanisch-russische Verhältnis zu institutionalisieren. Hierfür wurde eine Bilaterale Präsidentielle Kommission eingerichtet, die, wie ihre Vorgängerin, die GoreTschernomyrdin-Kommission der 1990er-Jahre, die Kooperation von Aktivitäten im Weltraum über Gesundheitsfragen bis hin zu wirtschaftlichen Themen auf eine breitere Basis stellen sollte (Rojansky 2010). Die Kommission war eine zentrale Komponente des sogenannten „Reset“ in den amerikanisch-russischen Beziehungen. Washington hoffte, die Beziehungen dauerhaft auf ein qualitativ neues Niveau heben und so in wichtigen internationalen Fragen besser mit Moskau kooperieren zu können. Die russische politische Führung hingegen sah das Reset eher als eine nötige Kurskorrektur seitens der USA (Stent 2014, S. 260). Trotz des Versuchs, die bilaterale Themenpalette zu erweitern, lag der Fokus weiter auf Sicherheitsthemen, insbesondere der Rüstungskontrolle, Afghanistan, Iran und Syrien. Die Haupterrungenschaft dieser Jahre war sicherlich das New START-Abkommen von 2011. Es reduzierte die Atomwaffenarsenale der beiden Staaten in Schlüsselbereichen und etablierte, im Gegensatz zu SORT, Verifizierungsprozeduren. Auch zu Afghanistan trafen die USA und Russland effektive Vereinbarungen, die den Transport von Truppen sowie Ausrüstung über Russland (und Zentralasien) nach Afghanistan über das sogenannte Northern Distribution Network für mehrere Jahre sicherstellten. Anhaltende Meinungsverschiedenheiten hinderten Moskau und Washington daran, eine stabile Kooperation im Hinblick auf den Iran aufzubauen. Auch wenn die russische Führung die nukleare Bewaffnung des Iran im Prinzip verhindern wollte, waren gute Beziehungen zu Teheran aus wirtschaftlichen und strategischen Gründen dennoch von hoher Priorität. In der ersten Amtszeit Obamas blieb die russisch-amerikanische Zusammenarbeit deshalb sporadisch. Ab 2012 intensivierte sie sich jedoch trotz wachsender Spannungen in den russisch-amerikanischen Beziehungen insgesamt nicht zuletzt aufgrund intensiver europäischer Verhandlungsbemühungen. Im Juli 2015 wurde der sogenannte Joint Comprehensive Plan Of Action (JCPOA) zwischen Iran einerseits und den USA, Russland, Großbritannien, Frankreich, Deutschland und China andererseits getroffen. Die Vereinbarung sah die Aufhebung der bisherigen Sanktionen gegen den Iran vor. Im Gegenzug verpflichtete sich Teheran, seine nuklearen Fähigkeiten teilweise abzubauen und dies transparent zu gestalten. Das Thema Raketenabwehr blieb auch in den Obama-Jahren ein Zankapfel zwischen Washington und Moskau. Das Misstrauen der russischen Seite konnte nicht ausgeräumt werden. Obama verschob zwar die Stationierung relevanter Komponenten in Polen und der Tschechischen Republik. Moskau befürchtete aber

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weiterhin die Schwächung seines Abschreckungspotenzials. Versuche, die NATO in die Abwehrpläne einzubeziehen und den NATO-Russland-Rat für Verhandlungen darüber einzuspannen, scheiterten (Stent 2014, S. 225–229). Zu den Differenzen im Sicherheitsbereich kamen wachsende Divergenzen über Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hinzu. Nach den Dumawahlen 2011 kam es zu einem heftigen Schlagabtausch. Die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton kritisierte die Durchführung der Wahl als weder frei noch fair. (Noch) Premierminister und Präsidentschaftskandidat Putin warf den USA daraufhin vor, die Massendemonstrationen für demokratische Wahlen in russischen Städten im Winter 2011/2012 inszeniert zu haben (Herszenhorn und Barry 2011). Auch außerhalb Russlands sah die russische Führung Anzeichen für illegitime Handlungen der USA. Die Tötung von Muammar Ghaddafi in Libyen, der „arabische Frühling“ in Nordafrika und im Nahen Osten sowie der „Euromajdan“ in der Ukraine waren für Moskau Ergebnisse US-amerikanischer Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten. Sie steigerten das russische Misstrauen gegenüber den USA und erhöhten Moskaus Bedürfnis, die Souveränität und Unverwundbarkeit Russlands zu schützen. Den Todesstoß erhielt die Reset-Initiative der Obama-Administration aber durch die Krimannexion und die russische Intervention im Donbas im Frühjahr 2014. Washington hatte im Zuge seines „pivot to Asia“ der Region Osteuropa vor der Eskalation des russisch-ukrainischen Konflikts immer weniger Beachtung geschenkt und die Entwicklungen dort den europäischen Partnern überlassen. Nun rückte die Frage der russischen Präsenz im postsowjetischen Raum jedoch wieder in den Vordergrund. Die USA antwortete auf die russische Aggression gegen die Ukraine, zunächst in enger Koordination mit den europäischen Partnern, mit einer Kombination von Unterstützung für Kyjiw und Sanktionen gegen Russland. Die Obama-Administration sah jedoch davon ab, der Ukraine tödliche Waffen zu liefern, um den Eindruck eines Stellvertreterkriegs mit Russland und eine weitere Eskalation des Krieges zu vermeiden. Die russische Militärintervention im syrischen Krieg versetzte dem ohnehin schwer beschädigten amerikanisch-russischen Verhältnis einen weiteren Schlag. Moskau zielte darauf ab, seine Stellung als globale Macht hervorzuheben und die USA zu Verhandlungen „auf Augenhöhe“ zu zwingen. In der Tat verschob die russische Intervention nicht nur das militärische Gleichgewicht in Syrien, sondern auch das geopolitische Gleichgewicht im gesamten Mittleren Osten wesentlich zuungunsten der USA und ihrer Verbündeten. Moskau baute seine Rolle zunehmend aus und hält den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad bis heute an der Macht. Die Bilanz der Obama-Administration in Bezug auf das Verhältnis zu Russland fällt also sehr gemischt aus. Die ursprünglichen Erfolge des Resets (New START, Kooperation in Afghanistan, JCPOA) wurden zunehmend überschattet durch die Konflikte über die Ukraine und Syrien. Zum Ende der Amtszeit Barack Obamas hatten die amerikanisch-russischen Beziehungen den tiefsten Punkt seit dem Ende des Ost-West-Konflikts erreicht.

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Konfrontation statt Männerfreundschaft – das amerikanisch-russische Verhältnis seit der Wahl Donald Trumps

Die Übernahme der Präsidentschaft durch Donald Trump im Januar 2017 schien eine neue Wende in die Beziehungen zwischen den USA und Russland einzuleiten. Trump hatte sich im Wahlkampf jovial positiv über die Qualitäten Wladimir Putins als Person und Politiker geäußert und setzte auf persönliche Treffen mit dem russischen Präsidenten, um einen Wandel im Verhältnis herbeizuführen. In der komplexen innenpolitischen Situation, die sich aus seiner Wahl ergeben hatte, konnte diese Rechnung allerdings nicht aufgehen. Der Vorwurf, dass Russland zugunsten Donald Trumps massiven Einfluss auf den amerikanischen Wahlkampf genommen habe und es sogar Absprachen zwischen Moskau und Trumps Wahlkampfteam gegeben habe, löste in der amerikanischen politischen Elite ein tiefes Trauma aus.10 Bis heute sehen viele Demokratinnen darin den Hauptgrund für die Niederlage Hillary Clintons. Das Verhältnis zu Russland ist damit endgültig zum zentralen Streitpunkt in der extrem polarisierten amerikanischen Innenpolitik geworden. Im Kongress entstand nach der Wahl ein parteiübergreifender Konsens gegen das Vorhaben des Weißen Hauses, eine russlandfreundlichere Politik zu betreiben. Nicht nur der Kongress, sondern auch Trumps Minister und Berater haben bislang eher eine eingrenzende Rolle gespielt. Die Personen, die Trump in seiner Annäherung an Russland stark unterstützt haben, wie z. B. der ehemalige Sicherheitsberater Michael Flynn, mussten die Administration aufgrund problematischer Verbindungen nach Russland bald verlassen. State Department und Pentagon betrachten Russland als eine wesentlich größere Gefahr als Trump. Auch hochrangige Wechsel, wie der auf Außenministerebene von Rex Tillerson zu Mike Pompeo, haben keine wesentlichen Änderungen gebracht. In der Nationalen Sicherheitsstrategie 2017 wurde Russland entsprechend dieser eher harten Linie als Konkurrent und revisionistische Macht eingestuft (White House 2017). Donald Trump ist mit seinen russlandpolitischen Ambitionen also innenpolitisch weitgehend blockiert. Der Kongress gibt in der amerikanischen Russlandpolitik den Ton an. Im August 2017 wurde z. B. das CAATSA-Gesetz11 mit einer solch großen Mehrheit verabschiedet, das ein präsidentielles Veto unmöglich war. CAATSA schrieb die seit 2014 bestehenden Sanktionen gesetzlich fest und erweiterte sie

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Eine spezielle Untersuchung unter dem Sonderbeauftragten Robert Mueller kam im April 2019 zu dem Schluss, dass Russland über verschiedene Kanäle versuchte, einen Wahlsieg von Hillary Clinton zu verhindern. Eindeutige Indizien für eine Verschwörung zwischen dem Wahlkampfteam von Donald Trump und russischen Akteuren wurden allerdings nicht entdeckt, auch wenn es einen systematischen Austausch zwischen den beiden Seiten gegeben hat. https://www.justice.gov/sto rage/report.pdf. 11 Der „Countering America’s Adversaries through Sanctions Act“ wurde im Senat von 98 gegen zwei Stimmen und im Repräsentantenhaus von 419 gegen drei Stimmen verabschiedet. Siehe z. B. Desiderio 2018.

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maßgeblich. Sie können nun nicht mehr vom Präsidenten per Dekret aufgehoben, sondern nur vom Kongress widerrufen werden. In dieser Lage gibt es kaum Möglichkeiten für einen Ausbau der Beziehungen in einzelnen Bereichen. Stattdessen erodiert das bisher Erreichte in dem bilateralen Verhältnis. Dies gilt insbesondere für die Sicherheitssphäre. Nach jahrelangen Vorwürfen, dass Russland seine Verpflichtungen im Rahmen des INF-Vertrags verletzt, haben die USA den Vertrag im Februar 2019 aufgekündigt (Arms Control Association 2018). Der INF-Vertrag endete offiziell im August 2019, und mit ihm die Begrenzung für den Bau atomarer Mittelstreckenraketen. Damit wächst die Gefahr eines atomaren Wettrüstens und eines nuklearen Einsatzes in Europa. Insbesondere nach diesem Schritt ist auch das New START-Abkommen in Gefahr, das 2021 ausläuft. Falls kein Folgeabkommen zustande kommt, endet der Prozess, der seit 1991 daraufhin abzielt, Atomwaffen dauerhaft zu reduzieren. Die USA haben sich außerdem entschieden, der Ukraine tödliche (sogenannte letale) Waffen zu ihrer Verteidigung zur Verfügung zu stellen – ein Schritt, den die Obama-Administration vermieden hatte und der die Spannungen zwischen Russland und den USA weiter erhöhte. Im Handelsbereich haben die von den USA verhängten Sanktionen sowie Zollerhöhungen auf beiden Seiten das auch so bereits niedrige Handelspotenzial weiter gedämpft (Russell 2018). Auch im Energiebereich ergeben sich zunehmend Probleme dadurch, dass die USA immer mehr Interesse am Export von Erdgas nach Europa haben. Unter anderem deswegen stellte die Trump-Administration sich gegen den Bau der Pipeline Nord Stream 2, die aus russischer Sicht mittelfristig die Ukraine als Gastransitland überflüssig machen soll. Hier ziehen der Kongress und der Präsident an einem Strang, da die bisherigen vom Kongress angeordneten Sanktionen Möglichkeiten für die Bestrafung auch nicht-russischer Firmen eröffnen, die am Bau von Nord Stream 2 beteiligt sind. Entgegen ursprünglichen Erwartungen hat sich das bilaterale Verhältnis während der Trump-Präsidentschaft also nicht nur negativer entwickelt als erwartet, sondern es ist eine qualitativ neue Situation entstanden, in der die Beziehungen zu Russland noch stärker als üblich zu einem innenpolitischen Thema geworden sind. Dies hat zu einer gefährlichen Verschlechterung des Verhältnisses geführt, deren Auswirkungen langfristiger Natur sein werden.

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Schlussfolgerungen: Der Antagonismus ist langfristig, aber nicht irreversibel

Nach den frühen 1990er-Jahren, in denen entspannte Beziehungen und enge bilaterale und multilaterale Kooperation zwischen Russland und den USA möglich schienen, haben sich die russisch-amerikanischen Beziehungen spätestens seit 1999 kontinuierlich verschlechtert. Alle Versuche, das Verhältnis auf personeller und institutioneller Ebene zu normalisieren, zu verbessern und zu stabilisieren, sind bislang gescheitert. In Russland scheint sich ein konservativer, anti-amerikanischer Konsens in politischer Elite und Bevölkerung fest etabliert zu haben. In den USA ist

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die Russlandpolitik mehr denn je zu einer innenpolitischen Frage geworden. Die russische Einmischung in die US-Präsidentschaftswahlen hat die Atmosphäre endgültig vergiftet. Weder in Russland noch in den USA ist ein Kurswechsel in naher Zukunft absehbar. Außen- und Innenpolitik der russischen Führung stehen bereits jetzt unter dem Vorzeichen der Präsidentschaftswahlen 2024 und der Frage, wer Präsident Putin ins Amt folgen wird. Die Position Russlands als Großmacht in einer multipolaren Welt und eurasische Vormacht, Gleichstellung mit den USA und Machtprojektion auch in andere Weltregionen – all dies wurde in den vergangenen Jahren zunehmend auch zum Zwecke der innenpolitischen Legimitationsbeschaffung genutzt. Die Entwicklung der russischen Politik seit den Präsidentschaftswahlen 2018 lässt darauf schließen, dass sich daran auch in den kommenden Jahren nichts ändern wird. In den USA ist die skeptische Haltung gegenüber Russland in beiden politischen Lagern tief verwurzelt. Die neue Sanktionsgesetzgebung wird auch die Politik künftiger Administrationen stark beeinflussen. Das Verhältnis zwischen Moskau und Washington wird also bis auf weiteres antagonistisch bleiben. Die Rede von einem Neuen Kalten Krieg, wie er immer wieder in der wissenschaftlichen und publizistischen Debatte beschworen wird, ist jedoch aufgrund der Veränderungen im internationalen System verfehlt. Russland und die USA sind zwei wichtige, unterschiedlich mit Machtmitteln ausgestattete, antagonistische Großmächte in einem multipolaren System, auch wenn das eine über ein demokratisches und das andere über ein autoritäres System verfügt. Die Voraussetzungen für einen positiven Wandel ihres Verhältnisses sind derzeit nicht gegeben. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass innenpolitische Veränderungen in der Zukunft zu einer neuen Entspannungsphase führen können. In Russland müsste dies mit einer Änderung des außenpolitischen Verhaltens, in den USA mit der Abschwächung der innenpolitischen Polarisierung zwischen Demokraten und Republikanern und der Blockade zwischen Weißem Haus und Kongress einhergehen. Nur so können Perzeptionen und Narrative auf beiden Seiten sich grundlegend ändern, ist eine nachhaltige Verbesserung der Beziehungen denkbar.

Literatur Arms Control Association. 2006. The Strategic Offensive Reductions Treaty (SORT) at a glance. Aktualisiert im Sept. https://www.armscontrol.org/factsheets/sort-glance. Zugegriffen am 20.08.2019. Arms Control Association. 2019. U.S.-Russian nuclear arms control agreements at a glance. Aktualisiert im Aug. https://www.armscontrol.org/factsheets/USRussiaNuclearAgreements. Zugegriffen am 21.08.2019. Averre, Derek. 2009. From Pristina to Tskhinvali: The legacy of Operation Allied Force in Russia’s relations with the West. International Affairs 85(3): 575–591. Carothers, Thomas. 1999. Aiding democracy abroad: The learning curve. Washington, DC: Carnegie Endowment for International Peace. Desiderio, Andrew. 2018. Senate democrats call for multi-agency probe into Russia sanctions delay. Thedailybeast.com. 18. Mai. https://www.thedailybeast.com/senate-democrats-call-for-multiagency-probe-into-russia-sanctions-delay. Zugegriffen am 20.08.2019.

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S. Fischer und S. Stewart

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Die USA und Asien Weltordnung à la Trump Markus Liegl und Iris Wurm

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die USA und Asien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Die USA und China . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Die USA und Japan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Die USA und die koreanische Halbinsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Fazit – Weltunordnungsmacht USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Nirgendwo sonst wird der internationale Führungsanspruch der Vereinigten Staaten von Amerika derzeit ähnlich stark herausgefordert wie in Asien. In dieser sich im dynamischen Wandel befindlichen Weltregion treffen enormes Wirtschaftswachstum auf eine Vielzahl traditioneller und nicht-traditioneller Sicherheitsherausforderungen, schwelende Rivalitäten und ungelöste Territorialkonflikte. Obama richtete deshalb das strategische Augenmerk der USA auf Asien. Obamas Pivot to Asia in der Wirtschafts-, Außen- und Sicherheitspolitik brachte ihm deshalb auch den Beinamen ‚America’s first Pacific president‘ ein. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es zu analysieren, inwiefern sich die dominante Position der USA in Asien seit dem Amtsantritt Donald Trumps verändert hat. Um diese Fragen zu beantworten werden die Beziehungen der USA zu China und Japan sowie zu Nord- und Südkorea untersucht.

M. Liegl (*) · I. Wurm (*) Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_49

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Schlüsselwörter

Pivot to Asia · Regionale Hegemonie · US-Weltordnung · China · Japan · Nordkorea · Südkorea

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Einleitung

Nirgendwo sonst wird der internationale Führungsanspruch der Vereinigten Staaten von Amerika derzeit ähnlich stark herausgefordert wie in Asien. In dieser sich im dynamischen Wandel befindlichen Weltregion treffen enormes Wirtschaftswachstum auf eine Vielzahl traditioneller und nicht-traditioneller Sicherheitsherausforderungen, schwelende Rivalitäten und ungelöste Territorialkonflikte. Mit der Volksrepublik China ist hier zudem ein Akteur erwachsen, der den USA schon in naher Zukunft die regionale und möglicherweise auch globale Vormachtstellung streitig machen könnte. Geht es nach dem chinesischen Präsidenten Xi Jingping, dann soll sich China bis Mitte des Jahrhunderts nicht nur zu einem Global Player der Weltwirtschaft entwickeln, sondern auch politisch und militärisch eine Weltmachtrolle einnehmen (Xinhua 2018). Die Zeiten, in denen Deng Xiaopings Mantra der Zurückhaltung die Leitlinien der chinesischen Außenpolitik bestimmte, scheinen vorbei. Beflügelt durch ihren anhaltenden wirtschaftlichen Erfolg sieht die Volksrepublik nun ihren historischen Moment gekommen, um ihren Aufstieg zur regionalen Ordnungsmacht auch gegen aufkommende Widerstände zu vollenden. Für die Vereinigten Staaten stellt die wirtschaftliche und militärische Entfaltung Chinas eine fundamentale strategische Herausforderung dar, der es wirkungsvoll zu begegnen gilt. Denn schon heute ist absehbar, dass die erweiterten Status- und Gestaltungsansprüche Pekings nur allzu leicht in einem regionalen Ordnungskonflikt mit den USA münden könnten (Wolf 2012; Allison 2017). Den sich nun immer deutlicher abzeichnenden amerikanisch-chinesischen Großmachtkonflikt erkannten schon Donald Trumps Vorgänger im Weißen Haus und modernisierten daher die US-geführte Sicherheitsarchitektur in Asien-Pazifik. Während unter George W. Bush eine ‚stille‘ Umstrukturierung der traditionell auf den fünf Kernallianzen mit Japan, Südkorea, Thailand, den Philippinen und Australien beruhende US-Sicherheitsarchitektur in der Region erfolgte, rückte mit dem ‚pazifischen Präsidenten‘ Barack Obama die Region Asien-Pazifik dann vollständig in den Mittelpunkt der amerikanischen Weltordnungspolitik (The White House 2009; Clinton 2011). Kernziel von Obamas Pivot to Asia war es, die wirtschaftliche, politische und militärische Vormachtstellung der Vereinigten Staaten in der Region zu erhalten, um so wirkungsvoll und nachhaltig der chinesischen Herausforderung begegnen zu können (Shambaugh 2013). Mit diesem Schritt wollte Washington nachholen, was frühere US-Regierungen, aus einer Mischung von Überschätzung amerikanischer und Unterschätzung chinesischer Stärke, versäumt hatten. Für die durch Chinas durchsetzungsfreudiges Auftreten im Ost- und Südchinesischen Meer verunsicherten US-Verbündeten war der Pivot zudem eine eindeutige Rückversicherung, dass die USA auch zukünftig ihre Rolle als Garantiemacht der Region wahrnehmen und sie weiterhin unterstützen und verteidigen

Die USA und Asien

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werden. Obamas ‚Grand Strategy‘ für Asien sah, neben einer Verstärkung der in der Region stationierten US-Streitkräfte, der weitergehenden Vernetzung der fünf Kernallianzen, dem Aufbau von neuen sicherheitspolitischen Partnerschaften und einer Reihe von diplomatischen Initiativen, auch die wirtschaftliche Einhegung Chinas vor (Manyin et al. 2012). Letztere sollte im Rahmen des US-geführten ‚Trans-Pacific Partnership Agreement‘ (TPP) erfolgen. TPP war ein von den USA initiiertes Freihandelsabkommen zwischen den zwölf Pazifikanrainern Australien, Brunei, Chile, Japan, Kanada, Malaysia, Mexiko, Neuseeland, Peru, Singapur, Vietnam und den USA (Klodt 2017, S. 116), welches rund 40 Prozent des weltweiten Handelsvolumens abdeckte (Knittel 2018, S. 13) und das China dabei explizit ausschloss. Die Regierung Obamas verfolgte mit TPP zwei strategische Ziele: zum einen sollten die elf Partnerstaaten noch stärker und nachhaltig als bisher an die USA gebunden werden; zum anderen sollte Chinas wirtschaftliche Dominanz in der Region unterlaufen und damit die weitere wirtschaftliche Entfaltung der Volksrepublik eingedämmt werden. Mit Blick auf die Vielzahl der während der Amtszeit Obamas angestoßenen Initiativen der USA in Asien hält der US-Politologe David Shambaugh anerkennend fest, dass „[b]y the time Obama left office, [. . .] the US’ position [. . .] in Asia had never been stronger“ (Shambaugh 2018, S. 95). Ziel des vorliegenden Beitrags ist zu analysieren, inwiefern sich die dominante Position der USA in Asien seit dem Amtsantritt Donald Trumps als US-Präsident verändert hat. Gehen die Vereinigten Staaten unter Trump gestärkt in die regionale Rivalität mit China? Oder unterminiert die isolationistische ‚America First‘ Programmatik des US-Präsidenten die Position der USA in der Region? Um diese Fragen zu beantworten werden nach einem kurzen historischen Abriss der ‚USGrand Strategy‘ gegenüber Asien seit dem Zweiten Weltkrieg, die Beziehungen der USA zu China und Japan, sowie zu Nord- und Südkorea untersucht.

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Die USA und Asien

Spätestens mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs konnten sich die USA als ein zentraler Akteur in Asien-Pazifik etablieren und die Sicherheitsarchitektur der Region maßgeblich mitgestalten. Dabei wurde das sicherheits- und verteidigungspolitische Engagement der USA in der Region innerhalb der letzten 70 Jahre mehrfach herausgefordert. Hatten sich die USA noch bis 1949 auf Seite der nationalistischen Kuomintang in den chinesischen Bürgerkrieg involviert, stellte der dann folgende Koreakrieg (1950–1953) die erste ‚heiße‘ Phase des Kalten Krieges mit der Sowjetunion dar, welche ein militärisches Eingreifen der USA zugunsten der südkoreanischen Streitkräfte notwendig werden ließ. Durch die von den USA angeführte, UN-mandatierte internationale Intervention konnte die Niederlage Südkoreas abgewandt und ein bis heute andauernder Waffenstillstand am 38ten Breitengrad errungen werden. Vor dem Hintergrund der bipolaren Blockkonfrontation bauten die USA dann ihre Sicherheitsbeziehungen in der Region stetig aus. Dabei fungierten die bilateralen Allianzen mit Japan, Südkorea, den Philippinen und Taiwan lange als

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die zentralen Eckpfeiler der US-Sicherheitsarchitektur in Asien, mit der Washington die Kontrolle über den Pazifikraum erhalten wollte (Cox 2008). So kann auch das militärische Engagement der USA in Vietnam in den 1970er-Jahren als Versuch gewertet werden, die US-Vormachtstellung in der Region gegenüber dem wachsenden Druck von mit der Sowjetunion verbündeten Staaten zu erhalten. Dabei ließ die Furcht vor dem ansteigenden sowjetischen Einfluss in der Region die USA auch über politische Unstimmigkeiten mit ihren Verbündeten hinwegsehen. Erst die Kombination aus innenpolitischen Krisen (wie dem Watergate-Skandal und den zunehmenden Protesten gegen den Vietnam-Krieg) sowie außenpolitischen Niederlagen (wie dem Sturz der Regime in Süd-Vietnam und Kambodscha) läuteten einen Wandel der amerikanischen Asienpolitik ein (Sutter 1992, S. 19–20). In den 1980er-Jahren wandelten sich die zentralen Herausforderungen für die USA in Asien von ideologisch-politischen zu ökonomischen. Der wirtschaftliche Aufstieg Japans ab 1980, die ökonomische Entfaltung von Südkorea und anderer asiatischer Tigerstaaten in den 1990er-Jahren und nicht zuletzt auch Chinas wirtschaftliche Dynamik ließen schon einige Autoren über einen neuen Machtwechsel an der Spitze des internationalen Systems spekulieren (Lieber 2012; Lundestad 2012). Das Ende des ‚amerikanischen Jahrhunderts‘ und die Debatten über den Aufstieg einer asiatischen Macht an die Spitze der globalen Ordnung hat also nicht erst mit der wirtschaftlichen und politischen Entfaltung Chinas begonnen (Kissinger 2011; Christensen 2015; Mearsheimer 2010), sondern seinen Ursprung in den 1980er und der ökonomischen Machtentfaltung Japans (Taira 1991; Rosecrance und Taw 1990). Auch nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes blieb die Region Ost-Asien für die USA ein außen- und sicherheitspolitischer Tätigkeitsschwerpunkt, denn die Region weist zahlreiche Konflikt- und Spannungsfelder auf, die nicht mit einfachen diplomatischer Lösungen beigelegt werden können (Cox 2008, S. 286). So bleibt Korea bis heute am 38ten Breitengrad geteilt und weiterhin ohne Friedenschluss, wobei Nordkorea zudem als ein Dauerkrisenherd und Atomwaffenaspirant fungiert. Weitere ungelöste und nicht weniger brisante Territorialkonflikte finden sich im Südund Ostchinesischen Meer und betreffen auch die Verbündeten der USA in der Region (Christensen 2015). Der Ausbruch von Feindseligkeiten in diesen viel befahrenen Seegebieten und engen Seestraßen könnte schwerwiegende Folgen für den internationalen Waren- und Güterverkehr nach sich ziehen, weswegen die USA weiterhin als Garantiemacht für die Freiheit und Sicherheit der Seefahrt in Asien auftreten. Ohne Lösung bleibt auch die für China äußerst sensitive Taiwan-Frage, wobei Peking seit der Krise von 1995 durch lageangepasste Aufrüstung der See-, Luft- und Raketenstreitkräfte Bedingungen schafft, die ein mögliches militärisches Eingreifen der USA zugunsten Taipeihs nur noch unter prohibitiven Kosten möglich machen. Gleichsam erhöht Peking sukzessive den Druck auf die abtrünnige Insel und hat angekündigt, die Unabhängigkeit Taiwans um jeden Preis verhindern zu werden. Angesichts dieser Vielzahl von Konfliktlinien und Spannungsfeldern kam Aaron Friedberg in einem viel zitierten Aufsatz von 1993 zu dem Schluss, dass Europas kriegerische Vergangenheit nur allzu leicht Asiens Zukunft werden könnte (Friedberg 1993, S. 7; vgl. Acharya 2003).

Die USA und Asien

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Darüber hinaus unterscheidet sich die US-Politik gegenüber Europa noch in einem weiteren zentralen Punkt stark von der gegenüber Asien. Während die USA in Europa auf ein multilaterales Sicherheitsbündnis setzten, betrieb Washington in Asien seit dem Koreakrieg eine Politik der Eindämmung basierend auf bilateralen Sicherheitskooperationen (Hemmer und Katzenstein 2002). Cha begründet die Wahl der bilateralen Kooperationen damit, dass die USA ein „desire for maximum and exclusive control over potentially dangerous allies“ (Cha 2009, S. 158) hätten. In Ostasien pflegten die USA nach dem Zweiten Weltkrieg exklusive Beziehungen zu Südkorea (ROK), Taiwan (ROC) und Japan. Die Struktur aus bilateralen Verflechtungen wurde vom ehemaligen Außenminister Dulles als System von „hub and spoke“ bezeichnet. Im Kern fußt die US-Bündnis- und Sicherheitsarchitektur in der Region auf zwei Säulen: die USA gewähren ihren Verbündeten Sicherheitsgarantien und den Zugang zu amerikanischen Märkten, Technologien und Ressourcen, während die US-Verbündeten die Führungsrolle der USA in Asien unterstützten und nicht herausforderten (Ikenberry 2011, S. 280–289). Für Südkorea, Taiwan und Japan dienten die USA somit als „Hub“. Washington tätigte ökonomische und politische Investitionen (Mastanduno 2000), um seinen Einfluss zu maximieren und zeitgleich die Anreize für Beziehungen zwischen den „Spokes“ zu minimieren. Im Laufe der Jahre kamen Kooperationen mit Australien sowie Thailand und den Philippinen, die weiterhin als „major non NATO-allies“ der USA geführt werden, hinzu (Twining 2007, S. 79). Bis heute sind diese bilateralen Kooperationen das Fundament der US-Sicherheitsarchitektur in Asien (Buzan 2003) und Washington „did not seek to make these bilateral alliances multilateral, because it wanted to amplify U.S. control and minimize any collusion among its partners“ (Cha 2009, S. 193).

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Die USA und China

Für lange Zeit waren die chinesisch-amerikanischen Beziehungen nach dem Ende des chinesischen Bürgerkriegs nicht existent. Die USA kannten die maoistische Volksrepublik China bis 1979 nicht an und bis Ende der 1960er-Jahre waren jegliche Beziehungen durch ein US-Embargo unterbunden. Erst unter der Präsidentschaft Nixons und der aufgrund des Vietnamkriegs geschwächten amerikanischen Position in der Region, wurde China zu einem interessanten Partner (Cox 2008, S. 264 f.). 1972 kam es zum medienwirksam inszenierten Besuch Nixons in China und 1979 schließlich zu einem gemeinsamen Kommuniqué über die Etablierung diplomatischer Beziehungen – einhergehend mit Handelsvereinbarungen und einer militärischen Kooperation in Anbetracht der drohenden sowjetischen Invasion in Afghanistan. Im Fokus standen für die USA hier von der Bipolarität geprägte ordnungspolitische Überlegungen. Seither herrscht in Washington die ‚Ein-China Politik‘, welche die Anerkennung Pekings als einzigem diplomatischen Kontakt und somit eigentlich auch ein formales ‚Kontaktverbot‘ zu Taipeh bedeutet. Zu einem erneuten Bruch mit der Volksrepublik kam es nach der blutigen Niederschlagung der Proteste auf dem Platz des himmlischen Friedens 1989. Wirt-

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schaftliche Sanktionen und das Einfrieren von Rüstungsgeschäften sowie der militärischen Kooperation brachten das chinesisch-amerikanische Verhältnis zurück auf den Nullpunkt. Bilaterale Zusammenarbeit ist seitdem grundsätzlich fallspezifisch: So unterstütze China beispielsweise den Kampf gegen den Terror in Afghanistan und es kam zur Zusammenarbeit zwischen Peking und Washington im Rahmen der nuklearen Nichtverbreitung mit Bezug auf Nordkoreas Austreten aus dem NPT-Vertrag. Die Obama-Administration versuchte diese Zusammenarbeit auch in Wirtschaftsforen durch intensiveren Dialog auszuweiten, wie die regelmäßigen Treffen des U.S.-China Strategic and Economic Dialogue zeigen (U.S. Department of the State 2017; Shambough 2011, S. 21 f.). Zudem spürt Washington seit der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 auch deutlich die wirtschaftliche Abhängigkeit gegenüber China: so löste China 2008 offiziell Japan als größter Gläubiger der USA ab (Drezner 2009, S. 8). Erst unter den Administrationen von George W. Bush und Obama festigte sich die Überzeugung, dass China als Konkurrent zu sehen ist (Cox 2008, S. 266). Auch die Politik der Regierung Trump baut auf dieser Prämisse auf, jedoch verfolgt der neue US-Präsident eine ganz eigene Schwerpunktlegung. Schon im Wahlkampf ließ Trump keine Zweifel daran, dass er als US-Präsident dem Rivalen China entschieden entgegentreten werde. So kritisierte er insbesondere die seiner Meinung nach unfairen Handelspraktiken und die auf Kosten der USA anwachsende Wirtschaftskraft der Volksrepublik äußerst scharf (Kreuzer 2017, S. 29). Ein besonderer Dorn im Auge war ihm Chinas Eintritt in die WTO 2001, denn dieser habe zum größten „Jobraub“ (Trump 2016) der amerikanischen Geschichte geführt. Der immense Anstieg von chinesischen Importen in die USA wird von vielen Amerikanern als „China-Schock“ bezeichnet (Sparding 2018). Vor diesem Hintergrund kritisierte Trump: „China is ripping us on trade. (. . .) We’re going to have a trade deficit of 505 billion dollars this year with China“ (CBS News 2016). Trumps Lösung gegen das Handelsdefizit ist es, Strafzölle auf chinesische Produkte zu verhängen (Sparding 2018). Peking reagiert meist umgehend mit Vergeltungszöllen für US-Importe und erklärte, dass die USA einen „Handelskrieg“ angezettelt hätten (Schmidbauer 2018). Neben dem Bemängeln von Handelsschieflagen zu Ungunsten der USA ist jedoch derzeit keine mit Obamas Pivot to Asia vergleichbare Strategie der TrumpAdministration gegenüber China erkennbar. In der nationalen Sicherheitsstrategie der USA nimmt zwar auch die Regierung Trump den Aufstieg Chinas in den Blick und klassifiziert die Volksrepublik als „strategic competitor“ und „revisionist power“, die danach strebe die USA aus der indo-pazifischen Region zu verdrängen, um den Einfluss ihres staatlich-geführten Wirtschaftsmodells zu erweitern und die Region im eigenen Interesse neu zu ordnen (National Security Strategy 2017, S. 25). Aber neben der Feststellung des chinesischen Führungsanspruchs findet sich darin keine langfristig angelegte Strategie um der Herausforderung durch China nachhaltig und wirkungsvoll entgegenzutreten Vielmehr zeigen eine Reihe von Einzelereignissen Trumps Sprunghaftigkeit gegenüber China. Sehr ambivalent gestalten sich Trumps Reaktion auf Chinas Expansionspolitik im Südchinesischen Meer. So warf Trump im Wahlkampf China vor, durch die Auf-

Die USA und Asien

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schüttung und Militarisierung von künstlichen Inseln im Südchinesischen Meer eine „Festung“ zu bauen um damit die chinesischen Territorialansprüche unilateral erzwingen zu wollen. Der damalige US-Außenminister Rex Tillerson stellte dann deutlich klar, dass die USA diese schleichende Expansion nicht akzeptieren werden: „We‘re going to have to send China a clear signal that, [. . .] the island-building stops“ (Tillerson im Januar 2017 zit. n. Shambaugh 2018, S. 108). Jedoch hat Trump diese harte Linie gegenüber Peking auch schnell wieder verlassen, weshalb für Chinas Konfliktgegner im Südchinesischen Meer der Eindruck entsteht, der US-Präsident stehe in den kritischen Territorialfragen eher auf Seiten Pekings (Shambaugh 2018, S. 108). Die womöglich folgenreichste Entscheidung traf Trump gleich zu Beginn seiner Amtszeit, denn die Aufkündigung vom TPP-Abkommen hat einzig und allein Peking in die Hände gespielt. Trump begründete den Stopp des Ratifizierungsprozesses von TPP damit, dass „die USA [. . .] keine multilateralen Wirtschaftsverträge mehr eingehen [würden], weil diese das Land nur fesseln und ausbeuten“ (zit. n. Knittel 2018, S. 13). In Asien löste Trumps Ausstieg aus dem Freihandelsabkommen eine regelrechte Schockwelle aus (Shambaugh 2018, S. 108). Trumps Rückzug wird als Respektlosigkeit sowie als ein weiteres Indiz für die wachsende Unzuverlässigkeit der USA in Asien wahrgenommen (Shambaugh 2018, S. 108). Zudem überlässt es Trump nun vollständig dem Rivalen China, die geltenden Regeln zu bestimmen: Peking kann nun das als Konkurrenzmodell zu TPP initiierte Regional Comprehensive Economic Partnership als einzig verbliebene Alternative anbieten und schickt sich zudem an, den Abschluss des trilateralen Freihandelsabkommen mit Japan und Südkorea zu forcieren (The Economist 2017). Wie auch immer sich Peking schlussendlich entscheidet, die ohnehin schon starke wirtschaftliche Abhängigkeit der US-Partner und Verbündeten in der Region von China wird sich zukünftig noch deutlich erhöhen. Genau dies wollte Obama mit TPP langfristig verhindern. Trumps überhasteter Ausstieg aus dem Freihandelsabkommen kann daher als klares Zeichen für seine fehlende strategische Weitsicht verstanden werden, von der China nun massiv profitiert.

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Die USA und Japan

Am 2. September 1945 erklärt Japan seine bedingungslose Kapitulation, woraufhin bis 1951 die USA Besetzungsmacht in Japan waren, dem Land aber schließlich seine Unabhängigkeit zugestanden. Besonders durch die Konditionen der Kapitulation gelang es den Vereinigten Staaten, Japan zu ihrem ‚Proxy‘ zu machen und sich langfristig als bedeutendster Akteur im ostasiatischen Raum zu etablieren (Green 2007). Japan genießt bis heute die amerikanische Sicherheitsgarantie, deren Preis eine untergeordnete politische Rolle in einer US-dominierten Pazifikordnung mit entsprechenden Restriktionen für das japanische Militär und seine Rüstung ist. Zudem ermöglicht dieses Arrangement Washington, Bodentruppen, die 7. Flotte (Pazifikflotte) sowie Raketenabwehrsysteme in Japan zu stationieren. Die United States Forces Japan umfassen heute in etwa 40.000 Soldaten (USFJ 2019).

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Zum anderen wurde Japan stark an die amerikanische Wirtschaft gebunden – was zum einen zu fast vierzig Jahren japanischen Wirtschaftswachstum führte, gleichzeitig aber auch eine entsprechende Abhängigkeit von amerikanischen Importen sowie wirtschafts- und finanzpolitischen Entscheidungen bedeutet. So wurde der Yen beispielsweise 1985, als das japanische Wirtschaftswachstum den USA zu bedrohlich erschien, gegenüber dem US-Dollar abgewertet (Gipouloux 2011, S. 15). In den 1990 Jahren kam es schließlich zum Einbruch des schnellen japanischen Wirtschaftswachstums und gleichzeitig zum Aufstieg Chinas. Symbolträchtig beteiligte sich Japan im Kampf gegen den Terror und entsandte u. a. ein Pionierbataillon 2003 in den Irak (ebd, S. 29). Die militärisch- und sicherheitspolitische Dimension des Bündnisses trat im Besonderen mit dem Pivot to Asia in den Vordergrund (Cox 2008, S. 262 f.), bis auch hier Donald Trump seine eigene Agenda festlegte. Japan beunruhigt die wachsenden Macht Chinas, da China und Japan um den Status der umstrittenen Senkaku/Diaoyu Inseln noch immer uneins sind. Bisher hat die Stärke Pekings Japan immer stärker an Washington gebunden. Dies hat sich jedoch unter Trump nun ins Gegenteil verkehrt. Denn das Verhältnis Tokios zur neuen US-Regierung war schon vor den Wahlen schwierig. Im Wahlkampf kritisierte Trump Japan nicht nur für dessen Handelspraktiken, sondern auch die militärische Abhängigkeit Tokios von den USA. Dabei ging er sogar so weit, Japan anzuraten sich Atomwaffen anzuschaffen, um sich selbst verteidigen zu können und damit nicht länger auf die USA angewiesen zu sein (Smith und McClean 2017, S. 10). Dass die US-Marinestützpunkte in Japan seit Jahrzehnten ein unverzichtbares Fundament für die militärische Präsenz der USA in der Region darstellen, scheint Trump hierbei entgangen zu sein. Trotz dieser ungünstigen Vorzeichen waren die bilateralen Beziehungen zunächst überraschend stabil, denn Premierminister Shinzo Abe bemühte sich sichtlich um Trump. Beide trafen sich sehr regelmäßig und gerade in Bezug auf Nordkorea begrüßte Japan die neue konfrontative Strategie des US-Präsidenten (CRS 2018). Doch in der Handelspolitik zeigten sich sehr schnell gravierende Interessendivergenzen: Abe war ein großer Befürworter von TPP und gerade für Japan war Trumps Ausstieg aus dem Freihandelspakt ein harter Schlag. Japan versuchte daher, das Freihandelsabkommen zunächst auch ohne die USA voranzubringen. TPP-11 wurde aber bislang nur von Japan, Australien, Mexiko und Singapur ratifiziert. Abe machte deshalb früh deutlich, dass der Rückzug Washingtons Japan dazu zwinge, seine Aufmerksamkeit auf das japanisch-chinesisch-südkoreanische Freihandelsabkommen und die von Peking geführte RCEP zu lenken. In allen diesen Abkommen bleiben die USA außen vor, was einen harten Einschnitt für US-Exporte nach Japan nach sich zöge (Smith und McClean 2017, S. 12; CRS 2018). Die bilateralen Konflikte im Bereich des Handels verfestigten sich 2018 noch weiter: Trump äußerste seine Unzufriedenheit über die hohe Zahl an Autoimporten aus Japan und kündigte an, er wolle die Verhängung von Zöllen auf japanische PKWs prüfen. Diese Zölle würden die japanische Automobilindustrie hart treffen: Japanische Autos stellen rund ein Drittel der gesamten US-Importe aus Japan dar. Um die im Raum stehenden US-Zölle abzuwehren, sah sich Tokio

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gezwungen, einer Neuverhandlung des bilateralen Handelsabkommens zuzustimmen (CRS 2018). Doch nicht nur im Bereich des Handels kam es zu Differenzen zwischen den Partnern. Hatte Japan die harte Haltung der USA im Nuklearkonflikt mit Nordkorea zunächst begrüßt, beäugte Tokio die dann folgende Annäherung zwischen Trump und Kim umso kritischer. Anders als die USA befindet sich Japan nicht erst seit kurzem in Reichweite des nordkoreanischen ABC-Waffenarsenals. Zudem stellen die US-Truppenbasen in Japan für Nordkorea primäre Ziele im Fall einer militärischen Konfrontation mit den USA dar, weswegen für Japan eine von Washington, Seoul und Tokio gemeinsam geteilte Einschätzung der nordkoreanischen Bedrohung von vitaler Bedeutung ist. Diese gemeinsame Bedrohungseinschätzung wird durch die unilateralen Entspannungspolitiken von Moon und Trump gegenüber Pjöngjang jedoch zusehends unterminiert (CRS 2018). Dass es Trump nicht gelingt, Japan näher an die USA zu binden, sondern vielmehr in die Arme Pekings zu treiben, zeigt sich nicht nur durch das geplanten chinesisch-japanische Handelsabkommen, sondern auch durch Tokios Engagement bei Chinas One Belt – One Road (OBOR)-Projekt (Neue Seidenstraße). Mit zwei Routen – auf einem Landweg durch Zentralasien und dem Seeweg durch den Indischen Ozean – möchte China die ganze Region wirtschaftlich voranbringen und die eigene Position als führende Wirtschaftsmacht in Asien stärken. Auch das Exportland Japan zeigte sich auf der Gründungskonferenz sehr erfreut über das Projekt, denn die Ablehnung wirtschaftlicher Kooperationen durch Trump zwingt Abe nun dazu, sich um mehr Zusammenarbeit mit China zu bemühen (Jiang 2018).

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Die USA und die koreanische Halbinsel

Der Kampf gegen Japan zum Ende des Zweiten Weltkrieges brachte eine militärische Präsenz der USA und UdSSR im Pazifikraum mit sich, die schließlich in der Teilung Koreas am 38. Breitengrad mündete. Die Großmächte agierten zunächst als Besatzungsmächte: die UdSSR im Norden, die USA im Süden, beide zogen jedoch schnell ihre Truppen aus den Gebieten ab. Zunächst entwickelte sich Nord-Korea schneller als der Süden. Nach einem Angriff des Nordens auf den Süden begann 1950 der Koreakrieg, der sich zu einem Stellvertreterkrieg der beiden Großmächte entwickelte, an dessen Ende wieder die Teilung der Halbinsel am 38ten Breitengrad stand (Cox 2008, S. 268–269). Seitdem ist Südkorea ein enger Verbündeter der USA, nicht nur aus militärischer, sondern auch aus ökonomischer Sicht. So schlossen die beiden Staaten 2007 ein bedeutendes Freihandelsabkommen (KORUS FTA; Korean-US Free Trade Agreement). Es war das erste Freihandelsabkommen der USA mit einem der asiatischen Tigerstaaten (The Economist 2018). Die Teilung Koreas, das Bündnis mit Südkorea und besonders die Auseinandersetzung mit Nordkorea bestimmen seitdem die Außen- und Sicherheitspolitik der Vereinigten Staaten im Bezug auf die koreanische Halbinsel. Trumps sprunghaftes Vorgehen gegenüber den beiden Koreas überraschte daher wie kaum eine andere Entscheidung seiner Administration.

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5.1

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Die USA und Pjöngjang

Die USA konnten es sich spätesten ab 2017 nicht länger leisten, den nuklearen Dauerkonflikt mit Nordkorea weiter auszusitzen, denn Pjöngjang hatte mit mehreren Interkontinentalraketentests und der Detonation einer vermeintlichen Wasserstoffbombe demonstriert, dass sich nun auch die Vereinigten Staaten in Reichweite der nordkoreanischen Trägersysteme befinden (CSIS 2017). Angesichts dieser neuen Bedrohungslage entschied sich die Trump-Administration für einen Kurswechsel in der amerikanischen Nordkoreapolitik. Gemäß der neuen „maximum pressure“-Strategie sollte das Regime in Pjöngjang nun durch die Maximierung des wirtschaftlichen, diplomatischen und militärischen Drucks zur Aufgabe der nuklearen Ambitionen gezwungen werden (Gupta 2017). Trumps Politik des „maximalen Drucks“ führte jedoch nicht zum gewünschten Einknicken Nordkoreas, sondern provozierte eine der schwersten Krisen auf der koreanischen Halbinsel. So drohte Trump der nordkoreanischen Führung im August 2017 offen mit „fire and fury like the world has never seen“ (Bender und Klimas 2017) und betonte, dass die USA jederzeit bereit wären, „devastating attacks“ (The White House 2017) gegen Nordkorea durchzuführen. Pjöngjang konterte mit der Detonation einer Kernwaffe im September und einer weiteren Salve an ballistischen Raketentests. Der entscheidende Impuls zur Lösung dieser gefährlichen Pattsituation ergab sich im März 2018 durch ein Zusammentreffen zwischen Trump und dem südkoreanischen Sicherheitsberater Cheung Eui-Yong im Weißen Haus (Fifield et al. 2018). Cheung überbrachte Trump eine Einladung des nordkoreanischen Führers Kim Jong-un zu Gesprächen über das Kernwaffenprogramm. Diese Einladung nahm der US-Präsident offenbar spontan und ohne mit seinem Beraterstab Rücksprache zu halten an. Drei Monate später trafen sich Trump und Kim dann zu direkten Gesprächen in Singapur. In der anschließenden Pressekonferenz präsentierte Trump die in den Verhandlungen erzielten Ergebnisse als einen historischen Erfolg: So verpflichtete sich Nordkorea, auf die Denuklearisierung der koreanischen Halbinsel hinzuarbeiten, wohingegen die USA, Sicherheitsgarantien für Nordkorea zusagten (The White House 2018). Die Forderung nach der vollständigen, unumkehrbaren und überprüfbaren nuklearen Abrüstung der DVRK lässt das Abschlussdokument des Treffens jedoch ebenso vermissen wie einen Maßnahmenkatalog zur praktischen Umsetzung. Zudem kündigte Trump spontan die Einstellung der gemeinsam mit Südkorea durchgeführten Militärmanöver an, denn diese seien nicht nur sehr kostspielig, sondern auch „provokativ“ (Smith und Stewart 2018). Mit der Erfüllung einer jahrzehntelangen Forderung Nordkoreas überraschte Trump nicht nur den Bündnispartner in Seoul, sondern auch das Pentagon (Schmitt 2018). Geht es nach den Äußerungen des US-Präsidenten, dann war mit Singapur die Lösung des Nuklearkonflikts in greifbarer Nähe. Jedoch zeigte sich, dass die USA und Nordkorea ein durchaus unterschiedliches Verständnis davon haben, was mit dem Begriff ‚Denuklearisierung‘ gemeint ist. Es ist daher wenig überraschend, dass aufgrund dieser konträren Perspektiven auch beim zweiten und dritten Zusammentreffen von Trump und Kim im Februar und Juli 2019 keine substantiellen Fort-

Die USA und Asien

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schritte erzielt werden konnten. Der mit hohen Erwartungen verbundene Gipfel in Hanoi wurde sogar vorzeitig abgebrochen und ging damit ergebnislos zu Ende (Oprysko 2019). Somit bleibt Nordkoreas Kernwaffen- und Raketenarsenal weiterhin eine beständige Bedrohung für die Sicherheit der USA und ihrer Verbündeten in der Region.

5.2

Die USA und Südkorea

Südkorea ist einer der wichtigsten strategischen und wirtschaftlichen Partner der USA in Asien. Das bilaterale Verteidigungsbündnis und die in Südkorea stationierten US-Streitkräfte bilden seit Beginn des Ost-West-Konfliktes einen zentralen Pfeiler der US-geführten Sicherheitsarchitektur in der Region. Durch die geografische Lage zwischen China und Japan ist Südkorea für die USA von großer strategischer Bedeutung. Deshalb bezeichnete Präsident Obama 2016 diese Allianz als ein „lynchpin of peace and security not just on the Korean Peninsula, but across the region“ (Obama 2016) und unterstrich die besondere Bedeutung der US-Beziehungen zu Seoul, in dem er Südkorea als einen der „engsten Freunde und wichtigsten Verbündeten der USA“ (Gilmore 2009) charakterisierte. Mit ähnlich wertschätzenden Äußerungen hat sich Obamas Nachfolger bislang zurückgehalten. Seit den Amtsantritten Trumps und seines südkoreanischen Kollegen Moon 2017 brachen vielmehr diejenigen bilateralen Konfliktlinien offen zu Tage, die Seoul und Washington in der Vergangenheit noch durch gegenseitige Konsultation, umsichtige Politikgestaltung und gemeinsame Abstimmung einhegen konnten. Einer dieser Konfliktpunkte betrifft Südkoreas wachsende wirtschaftliche Abhängigkeit von China (Deney 2015). Die Volksrepublik ist heute mit großem Abstand der wichtigste Handelspartner Seouls (OEC 2018). Durch diese starke wirtschaftliche Verflechtung sehen daher einige Beobachter auch den politischen Einfluss Chinas in Seoul weiterwachsen. Die Handelspolitik der Regierung Trumps schien jedoch nicht darauf abzuzielen, die wachsende Abhängigkeit Seouls von Peking durch den Abbau von bilateralen Handelsbarrieren abzumildern. Vielmehr lag Trumps Hauptaugenmerk auf dem US-Handelsdefizit von 18 Mrd. US-Dollar, welches die USA seiner Meinung nach dem „desaströsen“ Freihandelsabkommen KORUS zu verdanken hätten. Trump forcierte daher unter Androhung von Strafzöllen eine Neuverhandlung des Abkommens, das nun unter anderem eine neue Deckelung für Stahl- und Aluminiumimporte aus Südkorea beinhaltet (The Economist 2018). Neben der Handelspolitik kollidierten die Interessen der Verbündeten auch im Konflikt mit Nordkorea. Trumps konfrontative Politik der Druckmaximierung und insbesondere die eskalierende Rhetorik des US-Präsidenten wurden in Seoul mit wachsender Sorge wahrgenommen. Denn während die USA sich weiterhin nur einer potenziellen Bedrohung durch Nordkoreas Arsenal an Massenvernichtungswaffen ausgesetzt sehen, ist diese für Südkorea ungleich akuter. Auf dem Höhepunkt der Krise konnte zudem von einem gemeinsam abgestimmten Vorgehen der Verbündeten keine Rede mehr sein. Vielmehr bemühte sich Südkoreas Präsident Moon

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M. Liegl und I. Wurm

sichtlich, der US-Regierung deutlich zu machen, dass ein militärisches Vorgehen zur Entwaffnung Nordkoreas für Seoul nicht in Frage käme (Liegl 2018, S. 9). Zudem emanzipierte sich Seoul bereits im Vorfeld von der konfrontativen Linie der USA und setzte mit Moons Politik der innerkoreanischen Annäherung eigene Akzente, die Trump zwar schlussendlich Kims Einladung zum Gipfel bescherte, vom US-Präsidenten aber zunächst als fehlgeleitete Appeasement-Politik abgetan wurde (Trump 2017). Dass die einst so unerschütterliche Allianz zwischen den USA und Südkorea brüchig wird, zeigt Trumps spontane Absage der gemeinsamen Militärmanöver und sein lautes Nachdenken über einen Abzug der Truppen aus Südkorea (Ryall 2019). Anders als seine Vorgänger sieht Trump die US-Truppenpräsenz in Südkorea nicht als einen strategischen Vorteil, sondern glaubt hier vielmehr ein Minusgeschäft für die USA zu erkennen (Trump 2018). Mit solch kurzsichtigen Kalkulationen brüskiert und verunsichert Trump nicht nur Südkorea und andere US-Verbündete, sondern riskiert damit auch das wohl wichtigste Fundament der US-Sicherheitsarchitektur in Asien zu entwerten: das über Jahrzehnte gewachsene Vertrauen der regionalen Partner in die Bündnistreue der Vereinigten Staaten.

6

Fazit – Weltunordnungsmacht USA

In keiner Region der Welt ist ein nachhaltiges und von strategischer Weitsicht geprägtes Engagement der USA notwendiger als in Asien: hier lauert mit China ein Herausforderer, hier schwelt ein Nuklearkonflikt und hier sind mit Japan und Südkorea zwei ökonomische Schwergewichte verortet. Mearsheimer und Walt, die sich für einen Rückzug der USA aus Europa und dem Mittleren Osten aussprachen, betonen deshalb dass „in Asia, the United States may indeed be the indispensable nation“ (Mearsheimer und Walt 2016, S. 81). Obama erkannte hier die Notwendigkeit zum strategischen Handeln und wollte mit dem Pivot die amerikanische Vormachtstellung in Asien festigen, um so die chinesische Herausforderung wirkungsvoll zu kontern; Trump hingegen hat keine vergleichbare Strategie. Mit seinen außen- und wirtschaftspolitischen Alleingängen, die seine Verbündeten häufig verprellen, betreibt er vielmehr eine Weltunordnungspolitik und schwächt damit die Position der USA in der Region, wie auch im internationalen System. Trumps bislang größter außenpolitischer Erfolg sind die Gipfeltreffen mit Kim. Diese bescherten Trump zwar einen passenden Rahmen zur Selbstinszenierung und gaben Anlass für selbstverliebte Tweets, haben aber die nukleare Abrüstung Nordkoreas nicht vorangetrieben. Eigentlicher Nutznießer dieser Gipfeldiplomatie ist China, denn die in der gemeinsamen Erklärung von Singapur vereinbarten Absichten spiegeln die chinesischen Interessenprioritäten nach Frieden und Stabilität auf der koreanischen Halbinsel wider. Auch wenn Trump handelspolitisch aktuell auf Konfrontation gegenüber China setzt, so hat er mit dem Ende von TPP die Option verspielt, Amerikas Partner in

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Asien langfristig fester an die USA zu binden. Mit ihrer Politik gegenüber China verlieren die USA nach und nach an Ansehen und Vertrauen in der Region. Die US-Verbündeten sehen sich daher gezwungen, sich gegenüber China nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sicherheitspolitisch zu öffnen. Die aktuelle Lage im Pazifikraum lässt daher nur einen Schluss zu: durch Trumps strategie- und ziellose Wirtschafts- und Sicherheitspolitik beginnt die US-Sicherheitsarchitektur in Asien zu erodieren. Dadurch befördert der US-Präsident schlussendlich den Aufstieg Chinas zur führenden Macht in der Region.

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Die USA und der Nahe Osten Zwischen Kontinuität und Wandel Steffen Hagemann

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Strategische Grundinteressen der USA im Nahen Osten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Krisenjahr 1979 und Nachwirkungen bis in die Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Radical Departure? Von Obama zu Trump . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Die Region des Nahen Ostens genießt in der amerikanischen Politik und Öffentlichkeit hohe Aufmerksamkeit. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich eine stabile Interessenstruktur herausgebildet, die immer wieder zu Interventionen der USA im Nahen Osten geführt hat. Trotz des geopolitischen Bedeutungsverlustes der Region hat auch Donald Trump vitale Interessen der USA formuliert: den Kampf gegen den internationalen Terrorismus und die Eindämmung des Iran. Der Anspruch auf eine Revision der Politik Obamas wird jedoch durch Pfadabhängigkeiten und strukturelle Restriktionen begrenzt. Schlüsselwörter

Interessen · Persischer Golf · Nahostkonflikt · Terrorismus · Atomabkommen

S. Hagemann (*) Heinrich-Böll-Stiftung, Tel Aviv, Israel E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_48

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Einleitung

Nach George W. Bush und Barack Obama hat auch Donald Trump einen fundamentalen Wandel in der amerikanischen Nahostpolitik versprochen. Dies zeigt zum einen, dass die Region des Nahen Ostens ein hohes Maß an Aufmerksamkeit genießt, hat die amerikanische Politik den Nahen Osten doch zumindest bis zuletzt als eine Region vitaler amerikanischer Interessen definiert. Dies gilt nicht allein für die Exekutive, sondern auch für den Kongress und die amerikanische Öffentlichkeit. Vor allem die besonderen Beziehungen zu Israel und die Wahrnehmung einer terroristischen Bedrohung, die ihren Ausgangspunkt und Nährboden im Nahen Osten hat, tragen zur innenpolitischen Salienz der Region in der amerikanischen Politik bei. Zum anderen haben jedoch politische Bewegungen und Ideologien sowie Krisen und Kriege amerikanische Interessen und die amerikanische Dominanz in der Region immer wieder herausgefordert und amerikanische Administrationen dazu veranlasst, Prioritäten, Strategien und Bündnisse abzuwägen und zu hinterfragen. Zugleich sind trotz der ökonomischen und militärischen Dominanz der Amerikaner in der Region, den USA gerade im Nahen Osten die Grenzen amerikanischer Macht aufgezeigt worden. So waren die USA oftmals nicht in der Lage, regionale Ordnungspolitik durchzusetzen oder auch nur die regionale Politik der Verbündeten zu kontrollieren. Nicht zuletzt die destabilisierenden Folgen der amerikanischen Intervention im Irak 2003 sowie das Scheitern beim Aufbau einer stabilen regionalen Ordnung haben zur Desillusionierung amerikanischer Nahostpolitik beigetragen und die Debatte um eine Neuorientierung amerikanischer Politik in der Region neu entfacht (Gerges 2012; Nasr 2013; Lynch 2016; Krieg 2017; Karlin und Cofman Wittes 2019). Der folgende Beitrag möchte diese Entwicklung amerikanischer Nahostpolitik seit dem Zweiten Weltkrieg beleuchten. In einem ersten Teil wird zunächst die sich entwickelnde grundlegende Interessenstruktur amerikanischer Nahostpolitik herausgearbeitet. Nach einer kurzen historischen Einordnung folgt dann eine Diskussion der Politik Donald Trumps in Kontrast zur Vorgänger-Administration.

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Strategische Grundinteressen der USA im Nahen Osten

Die Region des Nahen Ostens nimmt in der amerikanischen Außenpolitik seit dem Zweiten Weltkrieg eine herausgehobene Bedeutung ein. Dies hängt zum einen mit der Krisenhaftigkeit der Entwicklungen in der Region zusammen. Die Dekolonisierung der Region und die damit einhergehende Staatenbildung hat eine regionale Struktur hervorgebracht, die durch ein hohes Maß an Instabilität und Machtkonkurrenz regionaler Akteure gekennzeichnet ist, welche immer wieder auch in zwischenstaatlichen Kriegen, Terrorismus und Bürgerkrieg mündete (vgl. Hinnebusch 2011). Zum anderen hat sich eine anhaltende Interessensstruktur herausgebildet, die zu regelmäßigen Interventionen externer Akteure, nicht zuletzt der USA, führte. Diese Interessenstruktur der USA beruht auf drei strategischen Zielsetzungen:

Die USA und der Nahe Osten

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Erstens zielt die US-amerikanische Nahostpolitik darauf, US-freundliche Regime in der Region zu unterstützen und damit eine dem Westen freundlich gesinnte regionale Ordnung zu wahren. Während des Kalten Krieges ging damit eine Politik der Schwächung der Sowjetunion einher. In der globalen Konfrontation galt der Nahe Osten als eine strategische Region, die für die globale Machtbalance entscheidende Bedeutung hatte (vgl. grundlegend Sayigh und Shlaim 1997). Die USA suchten daher durch ein Bündnissystem die Sowjetunion einzudämmen, wobei vor allem Iran und Saudi-Arabien die beiden wichtigsten Säulen der amerikanischen Nahostpolitik darstellten (twin-pillar policy). Zugleich konfrontierten die USA jene Bewegungen, die sie als Bedrohung der regionalen Stabilität und befreundeter Staaten auffassten, wie etwa den aufstrebenden arabischen Nationalismus – durch eine Politik der Kooptation (Ägypten unter Nasser), der Isolierung (Ägypten) oder des Sturzes der Machthaber (1953 Mossadegh im Iran) (vgl. Kupchan 1987; Lenczowski 1990). Auch nach dem Ende des Kalten Krieges bleibt es zentrales Ziel der USA, die Stabilität wichtiger Bündnispartner zu wahren und feindliche Staaten zu schwächen. Zweitens besteht ein grundlegendes Interesse der USA darin, den Persischen Golf auf Grund seiner energiepolitischen Schlüsselrolle zu kontrollieren und den freien Zugang zu den Erdölressourcen für die Weltwirtschaft zu sichern. Der Nahe Osten nimmt auf dem Ölmarkt eine herausgehobene Rolle ein: Fünf Golfstaaten kontrollieren rund 46 % der weltweit nachgewiesenen Ölreserven. Zudem ist die Förderung des Öls ausgesprochen günstig (Luciani 2016). In der Folge haben in der Region die ölreichen Rentierstaaten zunehmend an Macht gegenüber den traditionellen arabischen Schlüsselstaaten wie Ägypten gewonnen. Auch wenn die Bedeutung des Nahen Ostens für die direkte Energieversorgung der USA schwankte und gegenwärtig an Bedeutung verliert, so hat der Nahe Osten bis heute eine zentrale Bedeutung für die Weltenergieversorgung. Dabei besteht das amerikanische Ziel „weder in der physischen Eroberung des Öls noch in einer direkten Marktregulierung (im Sinne einer erzwungenen Preissenkung) durch Krieg, sondern in der Verweigerung von Vormachtstellung am Golf durch eine nicht befreundete Macht“ (Hanrath und Hippler 2009, S. 5). Die USA setzen dabei insbesondere auf das traditionelle Bündnis mit Saudi-Arabien. Das Öl-Embargo 1973/74 hatte dabei paradoxerweise die Beziehungen noch vertieft. Saudi-Arabien war bereit, die Gewinne aus den Ölverkäufen in amerikanische Unternehmen zu investieren (Recycling der Petrodollar) und als swing-producer ihre Kapazitäten so einzusetzen, dass ein moderater Ölpreis garantiert ist. Die USA wiederum haben im Gegenzug versprochen, die Sicherheit Saudi-Arabiens zu garantieren (vgl. grundlegend Gause 2010; Wurm 2014). Drittens hat sich die Unterstützung für Israel als ein weiteres Interesse amerikanischer Politik herausgebildet. Dabei war die Unterstützung für Israel bis in die 1960er-Jahre durchaus umstritten. So hatte der amerikanische Präsident Truman zwar unmittelbar nach der Unabhängigkeitserklärung den Staat Israel aus moralischen wie innenpolitischen Erwägungen anerkannt, insbesondere seitens des Außenund Verteidigungsministeriums wurde Israel jedoch als eine strategische Belastung im Verhältnis zu arabischen Staaten wahrgenommen. Entsprechend blieben die Beziehungen zunächst distanziert und die USA hielten an ihrem Waffenembargo

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gegenüber Israel und der Politik der Unparteilichkeit im israelisch-arabischen Konflikt fest. Erst seit den 1960er-Jahren haben sich dann besondere Beziehungen zwischen den USA und Israel entwickelt. Fortan galt Israel als strategischer Verbündeter und verlässlicher Partner im Kalten Krieg. Israel ist seitdem zum größten Empfänger amerikanischer Militärhilfe geworden. Zugleich sind die Beziehungen innenpolitisch verankert. Israel gilt nicht nur als verbündete Demokratie, sondern wird als Ableger der USA auf Grundlage einer geteilten politischen Kultur betrachtet (Hagemann 2017; Rynhold 2015; Ben Zvi 1993). Die Unterstützung für Israel ist historisch immer wieder in Konflikt mit der Verfolgung der beiden anderen strategischen Interessen geraten. Die USA haben daher wiederholt versucht, eine israelisch-arabische Friedensregelung zu verhandeln und hierdurch die Beziehungen zu den arabischen Staaten zu verbessern (etwa nach dem Öl-Embargo). Dies ist allerdings nur begrenzt erfolgreich gewesen (Friedensvertrag mit Ägypten 1979), auch weil die breite, innenpolitische Unterstützung für Israel den Handlungsspielraum der Exekutive gegenüber Israel einschränkt. Zudem waren die Kosten für die USA durchaus tragbar, da sie weder den Verlust des Zugangs zum Öl noch eine grundlegende Machtverschiebung zu Ungunsten der USA umfassten.

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Krisenjahr 1979 und Nachwirkungen bis in die Gegenwart

Bereits ein Jahrzehnt vor dem Ende des Kalten Krieges setzten fundamentale Veränderungen im Nahen Osten ein, die nicht nur die regionale Dynamik veränderten, sondern zugleich auch einen Wendepunkt US-amerikanischer Nahostpolitik markieren. Politische und gesellschaftliche Entwicklungen kulminierten im Jahr 1979 in richtungsweisenden Ereignissen, deren Nachwirkungen bis heute spürbar sind (Quandt 2001; Hudson 2016). Erstens entwickelt sich der politische Islam zu einer Herausforderung der USA und seiner Verbündeten. Die Besetzung der Großen Moschee in Mekka durch radikal-islamistische Gruppen im November 1979 forderte das saudische Regime heraus und stellte seine Legitimation in Frage. Auch wenn es Saudi-Arabien letztlich gelang, diesen Aufstand niederzuschlagen, so steht die militante Aktion für wachsende Kritik unter anderem von salafistischen Geistlichen, die das Bündnis SaudiArabiens mit den USA sowie den westlichen Einfluss in der Region insgesamt beklagen. Unter den Aktivisten befand sich auch Osama bin Laden. Zweitens siegte 1979 die iranische Revolution im Iran. Der Sturz des Schahs markierte damit das Ende der amerikanischen twin-pillar-Strategie, der Iran entwickelte sich vom Verbündeten der USA zu einem Herausforderer amerikanischer Politik in der Region. Zugleich wurde der Iran in der Region nicht allein als ein konkurrierender Staat wahrgenommen, sondern als Exporteur der iranischen Revolution und des schiitischen Islams und damit als politischer und ideologischer Herausforderer der traditionellen, pro-amerikanischen Golfmonarchien. Und drittens übernahm mit Saddam Hussein ein Herrscher die Macht im Irak, der regionale Ambitionen hegte und die USA herausfordern sollte.

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Die USA realisierten in Folge dieser Veränderungen, dass ein militanter politischer Islam sowohl in seiner sunnitischen wie schiitischen Ausprägung die USA herausfordern und die Stabilität verbündeter Staat bedrohen kann. Entsprechend sahen die amerikanischen Administrationen im militanten Islam, der unter anderem auch auf terroristische Strategien setzte, eine Bedrohung amerikanischer Interessen und der nationalen Sicherheit der USA. Zugleich hatten die Entwicklungen des Jahres 1979 die Unsicherheitswahrnehmung der verbündeten Golfstaaten und ihre Abhängigkeit von amerikanischem Schutz weiter erhöht. Dies hatte zur Folge, dass die USA begannen, eine ständige und umfassende militärische Präsenz in der Region zu errichten, die die praktischen Voraussetzungen für aktive militärische Interventionen schuf. Die amerikanische Präsenz diente zudem dazu, sowohl den Iran wie den Irak mit einer Strategie des dual containment einzuhegen. Mit dem Ende des Kalten Krieges waren die USA der unangefochtene Hegemon in der Region. Die Bemühungen, eine stabile Pax Americana nach dem Ersten Golfkrieg im Nahen Osten zu errichten, scheiterten jedoch. Die Anschläge vom 11. September änderten nicht allein die Bedrohungswahrnehmung in den USA, sondern symbolisierten zugleich einen Angriff auf die globale US-Hegemonie. Auch deswegen gingen die Reaktionen der USA über die bloße Terrorbekämpfung hinaus und zielten auch auf eine Neuordnung des Nahen Ostens. Die Bush-Administration setzte sich dabei deutlich von den vorherigen Administrationen ab (Hudson 2016, S. 371).

4

Radical Departure? Von Obama zu Trump

Die Herausforderungen für die amerikanische Politik waren und sind immens. Das Scheitern der Politik der Demokratieförderung und des Aufbaus einer stabilen, demokratischen Nachkriegsordnung im Irak hatte gravierende, nichtintendierte Folgen: Die Legitimität und Glaubwürdigkeit der amerikanischen Politik war unterminiert, der Ausfall des Iraks als regionale Macht nutzte vor allem dem Iran und die Politisierung und Versicherheitlichung von sunnitischen und schiitischen Identitäten hat die Spannungen zwischen und innerhalb von Staaten der Region weiter verschärft (Hashemi und Postel 2017; Salloukh 2017). Das Scheitern der Arabellion in vielen Staaten trug letztlich zu einer Re-Autoritarisierung bzw. zu Bürgerkriegen und dem Zerfall von Staatlichkeit bei. Donald Trump hatte sich im Präsidentschaftswahlkampf 2016 deutlich von seinem Vorgänger Barack Obama abgesetzt und einen radikalen Wandel versprochen. Ob unter Trump eine Neuorientierung der amerikanischen Nahostpolitik zu verzeichnen ist, oder ob seine Ambitionen durch die strukturellen Realitäten in der Region eingehegt werden und Trump die Verringerung des amerikanischen Engagements in der Region auf der Grundlage eines Bedeutungsverlustes der Region in der globalen Entwicklung fortsetzt, soll im Folgenden diskutiert werden.

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Gescheiterter Neuanfang unter Obama

Obama hatte in seiner berühmten Rede in Kairo im Jahr 2009 einen Neuanfang mit der arabischen Welt versprochen, der auf Verständigung, Partnerschaft und Respekt nach den Verheerungen des Irakkrieges setzte. Vom transformativen Anspruch Obamas war jedoch am Ende seiner beiden Amtszeiten wenig übriggeblieben, insbesondere in der Reaktion auf den arabischen Frühling (Berger 2014). Stattdessen ist die Politik Obamas durch den Bedeutungsverlust der Region für die USA bzw. die Verschiebung der Aufmerksamkeit zum asiatischen Raum und den Aufstieg Chinas, die Desillusionierung über vergangenes Engagement der USA sowie einen skeptischen Blick auf die Fähigkeiten der USA zur Konfliktregelung mit Hilfe militärischer Macht gekennzeichnet. Der Wunsch nach einer Verminderung des amerikanischen Engagements innerhalb der Administration wurde von einer kriegsmüden amerikanischen Öffentlichkeit geteilt, die einen Rückzug amerikanischer Truppen und die Beendigung der Kriege im Irak und in Afghanistan unterstützte und keineswegs in neue militärische Abenteuer hineingezogen werden wollte. Das Teilen der Lasten, die Externalisierung der Kosten und die Reduzierung des amerikanischen Fußabdrucks wie etwa im Falle Libyens sollten sich zu einem Charakteristikum amerikanischer Nahostpolitik unter Obama entwickeln (Krieg 2017). Auch im Kampf gegen den IS setzten die USA auf ein internationales Bündnis unter Beteiligung westlicher und arabischer Staaten. In anderen Fällen wiederum war Obama nicht bereit, militärische Gewalt einzusetzen – auch nicht im syrischen Bürgerkrieg, selbst als das Assad-Regime die von Obama gezogene rote Linie durch den Einsatz von Chemiewaffen verletzt hatte. Priorität besaß hingegen eine Regelung des Konflikts um das iranische Atomprogramm. Barack Obama war ebenso wie sein Vorgänger George W. Bush nicht gewillt, die nukleare Bewaffnung des Iran zu akzeptieren, da diese das nukleare Nichtverbreitungsregime unterminiert, einen Rüstungswettlauf im Nahen Osten auslösen und Verbündete der USA (vor allem Israel und Saudi-Arabien) gefährden würde. Der Einsatz militärischer Mittel wurde zwar nicht ausgeschlossen, anders als Bush setzte Obama jedoch zusammen mit den europäischen Verbündeten auf ein umfassendes Sanktionsregime, das den Iran zu Verhandlungen bewegen sollte. In langwierigen Verhandlungen gelang schließlich den P5+1 Staaten (die ständigen Sicherheitsratsmitglieder sowie Deutschland) mit der JCPOA (Joint Comprehensive Plan of Action) eine Einigung mit dem Iran. Dieser verzichtet auf Kernwaffen, unterwirft seine nukleare Infrastruktur quantitativen und qualitativen Beschränkungen und stimmt intrusiven Überwachungsmaßnahmen der IAEO zu. Im Gegenzug haben die Vertragsparteien die wegen des Nuklearprogramms verhängten Sanktionen schrittweise aufgehoben (Gärtner 2017). Dieses Abkommen ist von Israel und Saudi-Arabien, und damit zwei Säulen der amerikanischen Nahostpolitik, scharf kritisiert worden. Obama versuchte diese Ängste zwar durch Waffenlieferungen und andere Rückversicherungsmaßnahmen abzumildern, sein Ziel bestand jedoch darin, eine stabile regionale balance-of-power zu organisieren, die zentrale amerikanische Interessen schützt, aber ein geringeres Engagement der USA erfordert. Auch die Beziehungen zu Israel waren unter Obama

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angespannt, nicht allein hinsichtlich der Bedrohungswahrnehmung des Iran herrschten manifeste Differenzen, sondern auch mit Blick auf den israelisch-palästinensischen Konflikt. Für Obama stellte der Konflikt eine Belastung für die amerikanische Nahostpolitik dar, er versuchte daher in beiden Amtszeiten eine Regelung durchzusetzen – und scheiterte dabei sowohl an Widerständen im Kongress wie auch auf Seiten der israelischen Regierung (vgl. Allin und Simon 2016).

4.2

Die Nahostpolitik der Trump-Administration

Die Erwartungen an Donald Trump waren insbesondere unter den Verbündeten der USA hoch. Diese hatten die Politik des amerikanischen Rückzugs aus der Region als Schwäche gedeutet und erwarteten von der Trump-Administration ein stärkeres Engagement für eine regionale Ordnung, die auf der Unterstützung amerikanischer Bündnispartner in der Konfrontation mit dem Iran beruht. Donald Trump teilt die Interpretation der Politik Obamas als einer Politik der Schwäche durchaus. Er formulierte daher drei klare Ziele in der Region: Den Sieg gegen die Terrororganisation des sogenannten Islamischen Staates, eine Zurückdrängung des Iran und die Unterstützung amerikanischer Freunde in der Region, allen voran Israels und SaudiArabiens. Diese Ziele sind eng verknüpft mit einem Identitätsnarrativ, das einen Statusverlust der USA beklagt und die Rückgewinnung von Respekt und Ansehen verfolgt (Wolf 2017).

4.2.1 Sieg gegen den IS als Etappe im Krieg gegen den Terrorismus Trump versprach nach seiner Wahl einen Sieg gegen den sogenannten Islamischen Staat und den internationalen Terrorismus (The White House 2017a). Trump setzte dabei auf harte Macht, lockerte die operativen Regeln für gezielte Tötungen und dehnte den Drohneneinsatz im Jahr 2017 deutlich aus, was zu einer Zunahme ziviler Opfer geführt hat. Zusammen vor allem mit kurdischen Truppen gelang es den USA so, den IS in Rakka und Mossul militärisch zu besiegen und das Herrschaftsgebiet der Organisation deutlich zu reduzieren. Im Dezember 2018 proklamierte Trump schließlich den Sieg über den IS. Zugleich zeigt die Trump-Administration wenig Bereitschaft, sich für den zivilen Wiederaufbau und die Errichtung funktionierender Governance-Strukturen einzusetzen und delegiert diese Aufgabe an regionale Akteure (Landis 2018). Die Grenzen des amerikanischen Engagements wurden Ende 2018 deutlich, als Trump den Rückzug amerikanischer Truppen aus Syrien andeutete. Die Politik des „America First“ setzt zwar auch auf militärische Macht, diese wird aber nur zur Wiedererlangung nationaler Stärke und zur Durchsetzung nationaler Interessen im engeren Sinne eingesetzt (Böller und Herr 2017). Für Trump war mit dem weitgehenden militärischen Sieg gegen den IS der amerikanische Auftrag erfüllt. Es sei nun Aufgabe regionaler Akteure, die letzten Reste des IS zu besiegen, den Wiederaufbau zu organisieren und eine Nachkriegsordnung zu errichten. Schon während seines ersten Besuches in der Region hatte Trump die arabischen Verbündeten aufgefordert, das militärische Engagement in der Region auszudehnen (The White House 2017b). Die Rückzugsentscheidung blieb innerhalb der Administration jedoch nicht unum-

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stritten. So kritisierte Verteidigungsminister Jim Mattis den Rückzug als strategischen Fehler. Die kurdischen Verbündeten würden im Stich gelassen und damit die Glaubwürdigkeit der USA als Partner unterminiert. Zudem verlören die USA durch einen bedingungslosen Rückzug jeglichen politischen Einfluss auf die Gestaltung der syrischen Nachkriegsordnung, wodurch Russland und Iran profitieren würden. Angesichts dieser Unvereinbarkeit mit anderen strategischen Zielsetzungen (Zurückdrängung des Iran) in der Region hatten die USA den Rückzug zunächst verzögert. Im Oktober 2019 jedoch ordnete Donald Trump den Rückzug amerikanischer Truppen aus Nordsyrien an und ermöglichte damit eine militärische Offensive der Türkei gegen die Kurden. Diese Entscheidung wurde auch von Republikanischen Abgeordneten kritisiert, die nicht allein die strategische Fehlkalkulation der Trump-Administration beklagen, sondern zugleich ein Wiedererstarken des IS befürchten.

4.2.2 Eindämmung des Iran Hatte Trump den Kurs von Obama gegen den Islamischen Staat im Kern fortgesetzt und intensiviert, so brach er mit einer zentralen Errungenschaft der ObamaAdministration: dem Atomabkommen mit dem Iran. Diese Entscheidung basiert auf einer veränderten Einschätzung der Identität des Iran. Die Trump-Administration greift zur Charakterisierung des Iran auf die von George W. Bush etablierte Kategorie des rogue state (The White House 2017c) zurück. Diese Repräsentation des Irans als eines irrationalen, ideologischen und aggressiven Regimes lässt Strategien der Einbindung in eine regionale Ordnung als wenig erfolgversprechend erscheinen (The White House 2017d). In diesem Licht erscheint das Atomabkommen nicht nur vergeblich, sondern gar gefährlich, da die Aufhebung der Sanktionen zu einem Erstarken des Irans beigetragen habe. In der Begründung für den Ausstieg verweist Trump daher auch nicht in erster Linie auf Verstöße des Iran gegen Verpflichtungen im Rahmen der JCPOA, zumal die IAEO dem Iran die Einhaltung attestiert hatte. Stattdessen kritisierte Trump die „aggressive“ Außenpolitik des Iran in der Region und macht den Iran für die destabilisierenden Entwicklungen in der Region verantwortlich – von den Bürgerkriegen in Syrien und Jemen, die Konfessionalisierung der Konflikte in der Region bis hin zum internationalen Terrorismus. Die US-Administration kehrt daher zu einem holistischen Ansatz zurück, der das Atomabkommen mit anderen Streitfragen wie der Entwicklung iranischer Raketensysteme oder der Unterstützung terroristischer Gruppen verknüpft (vgl. US Department of State 2018). Mit dem Ausstieg aus dem Abkommen traten in 2018 auch wieder die amerikanischen Sanktionen in Kraft. Insbesondere über eine Sanktionierung der ÖlExporte und die Drohung mit Sekundärsanktionen gegen alle Staaten, die weiterhin Handel mit dem Iran treiben, soll „maximaler Druck“ auf das Regime ausgeübt werden. Das Ziel besteht in einer ökonomischen, militärischen und politischen Schwächung des Iran, die entweder zu einem grundlegenden Politikwandel oder zum Sturz des herrschenden Regimes führen soll. Diese Strategie hat bislang jedoch nicht zum erwünschten Erfolg geführt. Ganz im Gegenteil hat der Iran seinerseits versucht, Druck auf die USA auszuüben. So wird der Iran für Angriffe auf Öltanker in der Straße von Hormus sowie auf die größte Ölraffinerie Saudi-Arabiens verantwortlich gemacht. Trump schreckte in seiner Reaktion vor einer weiteren Eskalation

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und insbesondere vor dem Einsatz militärischer Mittel zurück. Stattdessen erklärte er seine Bereitschaft zu Verhandlungen mit dem Iran. Angesichts der fehlenden Glaubwürdigkeit amerikanischer Drohungen mit einem Militärschlag und der Spaltung zwischen den USA und Europa hat der Iran jedoch Vorbedingungen, wie die Aufhebung von Sanktionen, für die Aufnahme von Verhandlungen formuliert. Zudem vollzieht der Iran eine schrittweise Aussetzung von Verpflichtungen aus dem Atomabkommen und erhöht damit den Druck auf internationale und regionale Akteure.

4.2.3 Erneuerung des Bündnisses mit Saudi-Arabien und Israel Bei Verbündeten der USA hatte die Politik der Obama-Administration vor allem gegenüber dem Iran für Unsicherheit und Kritik gesorgt (Lynch 2016, S. 131). Dass die erste Auslandsreise Donald Trumps nach Saudi-Arabien und Israel führte, war ein starkes Symbol der Rückversicherung gegenüber beiden Bündnispartnern. Hatte Obama noch von einer regionalen Machtbalance gesprochen, so verdeutlichte die Reise, dass die USA sich in der regionalen Konfrontation bzw. dem sogenannten neuen Arabischen Kalten Krieg eindeutig auf der Seite Saudi-Arabiens und Israels gegen den Iran positionieren. Trump setzt hier die langjährige amerikanische Politik fort, die auf die Unterstützung US-freundlicher Regime setzt, auch wenn diese selbst autoritär regiert werden. Trump sieht in Saudi-Arabien eine den USA verbundene Führungsmacht, die gemeinsame Feinde und Interessen teilt. Entsprechend verteidigte Trump das Bündnis auch nach der Ermordung des saudischen Journalisten Jamal Khashoggi im August 2018 und obwohl die amerikanischen Geheimdienste zu dem Ergebnis gekommen sind, dass der saudische Kronprinz Mohammed Bin Salman hierfür verantwortlich ist. Diese Haltung hat im Kongress Widerstand hervorgerufen, ohne dass es jedoch zu einer grundlegenden Kurskorrektur gekommen ist. Nach einem langen Prozess der Entfremdung und des Vertrauensverlustes zwischen Obama und Netanjahu begrüßte auch der israelische Ministerpräsident die Wahl von Donald Trump. Insbesondere hinsichtlich der Neuausrichtung der Politik gegenüber dem Iran, aber auch in Bezug auf den israelisch-palästinensischen Konflikt zeigen sich deutliche Übereinstimmung in der Bedrohungswahrnehmung und Interessenartikulation. Anders als die Beziehungen zu Saudi-Arabien sind die amerikanisch-israelischen Sonderbeziehungen jedoch zugleich gesellschaftlich verankert und beruhen auf engen emotionalen Bindungen, gegenseitiger Identifikation und Verbundenheit. Eine Folge dessen ist, dass Kongress und amerikanische Interessengruppen ein hohes Interesse an den Beziehungen besitzen und Einfluss auf die Politikformulierung nehmen. Dies zeigte sich exemplarisch an der Verlegung der amerikanischen Botschaft nach Jerusalem und der Anerkennung dieser als israelische Hauptstadt. Der Kongress hatte die Verlegung bereits 1995 beschlossen, die Implementierung war von allen amerikanischen Präsidenten jedoch aufgeschoben worden, da es sich bei der Frage nach der Zukunft Jerusalems um eine Endstatusfrage handele. Die Umsetzung dieses Beschlusses durch Trump war vor allem innenpolitisch motiviert, konnte der Präsident so wichtige Unterstützer wie Sheldon Adelson und seine evangelikalen Bündnispartner bedienen und ein zentrales Wahl-

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kampfversprechen einlösen. Auch hinsichtlich der Regelung des israelisch-palästinensischen Konflikts scheint Trump mit dem bislang international geteilten und völkerrechtlich verankerten Modell der Zwei-Staaten-Regelung zu brechen und israelischen Kerninteressen zu folgen. Nach bisherigen Informationen folgt der amerikanische Plan dem Konzept eines „ökonomischen Friedens“, wonach massive Investitionen in die palästinensische Ökonomie den Verzicht auf die Gründung eines souveränen palästinensischen Staates kompensieren sollen (Asseburg 2019). Schon die bisherige Politik der Trump-Administration (wie das Einstellen der amerikanischen Zahlungen für das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) oder die Anerkennung der israelischen Souveränität über die 1967 besetzten Golanhöhen) legt nahe, dass Druck auf die Palästinenser aufgebaut werden soll, jegliche Bedingungen zu akzeptieren. Die Kosten dieser Politik zeichnen sich freilich bereits ab: Hatten die Palästinenser trotz der engen Beziehungen zu Israel die USA als Vermittlerin akzeptiert, so ist jedes Vertrauen verloren gegangen. Die Palästinenser haben jedenfalls angekündigt, eine Vermittlerrolle der USA ebenso abzulehnen wie jeden amerikanischen Plan, der nicht auf Grundlage internationalen Rechts und der Zwei-Staaten-Regelung basiert (Barnes-Decay et al. 2018). Aber auch das Verhältnis zu Israel wandelt sich: Das enge Bündnis zwischen Trump und Netanjahu trägt zu einer parteipolitischen Polarisierung des amerikanisch-israelischen Verhältnisses bei. Galt gerade der überparteiliche Charakter der Beziehungen als Garant der Stabilität über den Wechsel von Administrationen hinaus und erhielt Israel Sympathie und Unterstützung aus beiden politischen Lagern, so ist eine zunehmende parteipolitische Differenzierung zu erkennen (Pew Research Center 2019).

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Fazit

Mit dem Amtsantritt von Donald Trump hat die amerikanische Politik transformationale Ansprüche, wie Obama sie formuliert hatte, aufgegeben und ist zu den alten Orthodoxien amerikanischer Nahostpolitik zurückgekehrt. Dazu zählt die Unterstützung für autoritäre Verbündete, die eine US-freundliche, regionale Ordnung unterstützen, die Konsolidierung der Beziehungen mit Saudi-Arabien als zentraler regionaler Führungsmacht, die die Stabilität insbesondere auch in der energiepolitischen Schlüsselregion sicherstellen soll, sowie die Festigung des Bündnisses mit Israel. Trump hat insbesondere die Bekämpfung des internationalen Terrorismus sowie die Eindämmung und Zurückdrängung des Iran zu nationalen Interessen erklärt. Im Kampf gegen den Terrorismus verstärkte Trump den Einsatz harter Macht, setzte dabei aber im Kern die Strategie Obamas fort. Deutliche Differenzen mit potenziell gravierenden Folgen für die Region zeigen sich jedoch in zwei Punkten: In Bezug auf den Iran kehrte Trump zur Charakterisierung des Iran als rogue state zurück, der nicht in eine regionale Ordnung eingebunden, sondern nur eingedämmt und zurückgedrängt werden könne. Entsprechend kündigte Trump das Atomabkommen auf und re-installierte ein umfassendes Sanktionssystem. Zugleich gehört die Formierung einer regionalen Allianz gegen den Iran zu den übergeordneten Zielen der Trump-

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Administration. Vor dem Hintergrund dieser Prioritätensetzung zeichnet sich zudem hinsichtlich des israelisch-palästinensischen Konflikts ein Wandel ab: Die TrumpAdministration scheint mit der langjährigen amerikanischen Position zu brechen, die sich trotz der Sonderbeziehungen mit Israel zu einer Zwei-Staaten-Regelung auf Grundlage internationalen Rechts bekannte. In beiden Fällen ist Trump jedoch bislang kein außenpolitischer Erfolg gelungen. Trotz dieser Veränderungen ist die amerikanische Nahostpolitik in einem hohen Maße von Pfadabhängigkeit und strukturellen Restriktionen gekennzeichnet. So darf die Intensivierung des Kampfes gegen den IS nicht darüber hinwegtäuschen, dass Trump die Strategie des Rückzugs und der Reduzierung des militärischen Engagements fortsetzt. Lediglich vitale nationale Interessen wie der Kampf gegen den Terrorismus sollen gesichert werden, ein weitergehendes militärisches Engagement scheint hingegen ausgeschlossen. Stattdessen wird die Ordnungsfunktion an regionale Akteure delegiert, wie auch die Rückzugsentscheidung aus Syrien zeigt. Darüber hinaus ist der Handlungsspielraum der USA in der Region begrenzt: Die Amerikaner sind in der geschwächten Region nicht länger der einzige überregionale Spieler, sondern konkurrieren mit Russland und regionalen Mächten. Zudem besitzen die USA trotz ihrer überlegenen militärischen Mittel angesichts der Bedeutung transnationaler Netzwerke und der Herausforderungen schwacher Staaten nur wenig regionalen Einfluss. Und nicht zuletzt verweist auch die Nationale Sicherheitsstrategie Trumps darauf, dass der Nahe Osten nur eine Arena in einer kompetitiven Welt darstellt, in der die USA in erster Linie durch revisionistische Mächte wie Russland und China herausgefordert werden.

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Die USA und die Amerikas Kooperation und Konflikt in der westlichen Hemisphäre Detlef Nolte

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Ein komplexes Beziehungsgeflecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Zwischen „benign neglect“ und Monroe-Doktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Sicherheitspolitische und wirtschaftliche Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Das Kapitel behandelt Grundzüge der US-Außenpolitik gegenüber Lateinamerika, und will dabei helfen, die Politik der gegenwärtigen Regierung besser zu verorten. Es analysiert die sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Interessen der USA in Lateinamerika; und geht auf die amerikanischen Reaktionen auf die wachsende Präsenz Chinas in der Region ein. Ein weiterer Schwerpunkt ist die enge Vernetzung von Innen- und Außenpolitik, die es mit Blick auf andere Weltregionen nicht in vergleichbarer Weise gibt. Schlüsselwörter

Lateinamerika · Außenpolitik · Intermestic politics · Hispanics · Handel

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Einleitung

Präsident Barack Obama (2009–2017) hatte in Lateinamerika sehr viel good will aufgebaut (O’Keefe 2018; Tulchin 2016), den sein Nachfolger allerdings sehr schnell wieder aufgebraucht hat. Schon im Wahlkampf hatte Donald Trump illegale D. Nolte (*) Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_50

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Einwanderer aus Lateinamerika als Kriminelle, Drogenhändler und potenzielle Vergewaltigter beschimpft, eine härtere Gangart gegen illegal im Land lebende Lateinamerikaner und den Bau einer Mauer an der Grenze zu Mexiko angekündigt, die nach seinen Vorstellungen von der mexikanischen Regierung bezahlt werden sollte. Noch vor Amtsantritt von Donald Trump äußerte der ehemalige Außenminister Mexikos Jorge G. Castañeda (2016) die Befürchtung: „Keine Region wird mehr unter der Präsidentschaft von Trump leiden als die westliche Hemisphäre.“ Obwohl sich die Lateinamerika-Politik der Trump-Administration in vielerlei Hinsicht von früheren Präsidentschaften unterscheidet, zeigen sich auch viele Kontinuitätslinien. Erstens, kommt Lateinamerika in der U.S. Außenpolitik in der Regel keine hohe Priorität zu. Die USA agieren in Lateinamerika eher reaktiv und nicht proaktiv. Zweitens, sehen die USA Lateinamerika als ihren natürlichen Einflussbereich an, und versuchen, den Einfluss externer Akteure zu beschränken. Drittens, Lateinamerika besonders Mexiko ist für die USA zunehmend auch wirtschaftlich von Bedeutung. Viertens, die Politik gegenüber Lateinamerika wird stärker als gegenüber anderen Regionen von der Innenpolitik beeinflusst.

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Ein komplexes Beziehungsgeflecht

Die Beziehungen der USA mit Lateinamerika sind vielschichtig. So gibt es Sonderbeziehungen mit Mexiko. Die Volkswirtschaften der USA, Kanadas und Mexikos sind eng durch die Wertschöpfungsketten US-amerikanischer und anderer multinationaler Unternehmen vernetzt. Durch das nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA (North American Free Trade Agreement) – zukünftig United States – Mexico – Canada Agreement (USMCA) – bilden sie einen gemeinsamen Wirtschaftsraum. Kanada und Mexiko sind die einzigen Länder, mit denen die USA eine – darüber hinaus lange (insgesamt 12.000 km) – Landgrenze teilen. Sie gehören damit zum erweiterten Sicherheitsperimeter der USA, und die USA sind in gewissen Bereichen (z. B. bei der homeland security) von der Kooperationsbereitschaft der beiden Nachbarländer abhängig, obwohl dies durch die MachtAsymmetrien nur eine relative Abhängigkeit ist (Clarkson und Mildenberger 2011). Präsident Trump hat diese Abhängigkeiten dazu ausgenutzt, um Druck auf Kanada und Mexiko im Hinblick auf eine Neuverhandlung des NAFTA-Abkommens auszuüben. Eine Sonderrolle spielt auch Kuba, das durch die spannungsreichen Beziehungen seit der Kubanischen Revolution vor 70 Jahren und den Einfluss der kubanischen Lobby in den USA mehr Teil der amerikanischen Innen- als der Außenpolitik ist. Zentralamerika und der Karibik kommt aufgrund der geographischen Nähe und der Migrationsströme in die USA gleichfalls eine besondere Bedeutung zu. Demgegenüber besteht eine größere Distanz und auch Eigenständigkeit in den Beziehungen zwischen den USA und Südamerika. Im politischen Sprachgebrauch in den USA wird zur Benennung des geopolitischen Umfelds überwiegend der Begriff der Western Hemisphere verwendet, die Kanada einschließt. Die Beziehungen zu Kanada, Lateinamerika

Die USA und die Amerikas

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und der Karibik werden beispielsweise im US-amerikanischen Außenministerium im Bureau of Western Hemisphere Affairs gebündelt. Auch im Nationalen Sicherheitsrat (National Security Council) gibt es einen Senior Director for Western Hemisphere Affairs. Neuerdings wird allerdings sowohl im englischen als auch im spanischen Sprachgebrauch häufig der Begriff der Amerikas (Americas; Américas) benutzt – etwa im Hinblick auf die Gipfeltreffen der Amerikas (Summits of the Americas) oder die gescheiterte Freihandelszone der Amerikas (FTAA – Free Trade Area of the Americas), die auf eine Initiative von Präsident George H.W. Bush (Enterprise for the Americas) zurückging. Das Konzept der Amerikas knüpft in gewisser Weise an den bis ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Panamerikanismus an (Rinke 2012, S. 46–50; Weeks 2015, S. 64–65, 86–90). Mit der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die 1948 als eine der weltweit ältesten Regionalorganisationen gegründet worden war, gibt es seit dem Beitritt Kanadas (1990) außerdem eine allumfassende Regionalorganisation der Amerikas. Deren Budget wird zu einem Großteil von den USA bestritten (im Jahr 2017 zu 44 %); und während des Kalten Krieges war die OAS ein Instrument der U.S.-Außenpolitik zur Eindämmung des Kommunismus. Danach erreichte die Organisation eine größere Eigenständigkeit gegenüber den USA (Herz 2011).

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Zwischen „benign neglect“ und Monroe-Doktrin

Lateinamerika zieht nur dann größere Aufmerksamkeit in der US-Außenpolitik auf sich, wenn es zu Krisen kommt. Normalerweise steht der Halbkontinent im Schatten der Herausforderungen und Bedrohungsszenarien in anderen Weltregionen und wird als naturgegebener Partner wahrgenommen. Bereits 1973 schrieb Gustav H. Petersen in einem Beitrag zu Foreign Affairs „Es ist jetzt allgemein anerkannt, dass die Vereinigten Staaten keine Lateinamerikapolitik haben“ (Petersen 1973, S. 598). Die Klage über die Vernachlässigung Lateinamerikas in der USAußenpolitik wird seitdem immer wieder erhoben, und verstärkt seit 2000. Jeder US-Präsident – George W. Bush, Barack Obama und Donald Trump – sah sich während seiner Amtszeit mit dem Vorwurf konfrontiert, sich zu wenig um Lateinamerika zu kümmern und die Interessen der USA in der Region zu vernachlässigen. Auch Präsident Trump hat kein genuines Interesse an der Region. Er war der erste US-Präsident, der nicht am alle drei Jahre stattfindenden Gipfel der Amerikas teilnahm (im April 2018 in Lima), der alle Regierungschefs Lateinamerikas, der Karibik und Nordamerikas (Kanada und die USA) oder ihre Vertreter zusammenbringt. Kritiker werfen Trump eine überwiegend negative Agenda gegenüber Lateinamerika vor (Oppenheimer 2016), und warnen davor, dass die USA mangels einer adäquaten Strategie im Wettbewerb mit China weiter an Einfluss in Lateinamerika verlieren könnten (Roa 2019). In der Bewertung der US-Lateinamerikapolitik wird immer wieder der Begriff des benign neglect (Petersen 1973), der wohlwollenden Vernachlässigung verwendet. Lateinamerika ist in der Regel nicht schlecht gefahren mit dem Aufmerksamkeitsdefizit der USA, und hat dies für größere Eigenständigkeit in der

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internationalen Politik genutzt (etwa während der Präsidentschaften von George W. Bush und Barack Obama). In Zeiten größerer Aufmerksamkeit der USA für die südlichen Nachbarn, wie etwa während der Venezuela-Krise ab 2018, nimmt der eigenständige Handlungsspielraum Lateinamerikas schnell wieder ab. Bei Interventionen in Lateinamerika berufen sich US-Regierungen gerne auf die sogenannte Monroe-Doktrin. Die 1823 in einer Rede vor dem US-Kongress von Präsident Monroe verkündete Doktrin beinhaltete zunächst die Zurückweisung von Interventionen europäischer Mächte in den Amerikas, die als Gefahr für die Interessen und Sicherheit der USA angesehen wurden (Rinke 2012, S. 26–27; Gilderhus 2006). Ihr wurde aber damals mangels militärischen Gewichts der USA von den europäischen Mächten keine Bedeutung zugemessen; und sie spielte im 19. Jahrhundert nur eine geringe Rolle. Später, vor allem unter Präsident Theodore Roosevelt (1901–1909), diente sie der moralisch verbrämten Rechtfertigung von U.S. Militärinterventionen in Lateinamerika (vor allem in Zentralamerika und der Karibik). Nachdem sich die USA unter Präsident Franklin D. Roosevelt (1933–45) dem Prinzip der Nichtintervention verpflichtet hatten, wurde die Monroe-Doktrin während des Kalten Krieges erneut zur Rechtfertigung von US-Interventionen in Lateinamerika herangezogen. Noch 1983 hatten die USA auf Grenada und 1989 in Panama militärisch interveniert. Danach schien die Monroe-Doktrin mehr und mehr in Vergessenheit zu geraten. Im November 2013 erklärte der damalige Außenminister John Kerry (2013) in einer Rede vor der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) schließlich: „Die Ära der Monroe-Doktrin ist vorüber“ (Kerry 2013). Vier Jahre später holte jedoch die Trump-Administration die Monroe-Doktrin bei diversen Anlässen wieder aus der diplomatischen Mottenkiste. So erklärte John Bolton, der Nationale Sicherheitsberater von Präsident Trump, in einem Interview mit CNN zur Krise in Venezuela: „In dieser Regierung haben wir keine Angst den Ausdruck ‚Monroe-Doktrin‘ zu verwenden.“ (Taylor 2019). Und nur wenige Wochen später bekräftigte er anlässlich des Jahrestages der gescheiterten Invasion in der Schweinebucht „die Monroe-Doktrin lebt und ist gesund“ (Weeks 2019).

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Sicherheitspolitische und wirtschaftliche Interessen

Die USA haben sicherheitspolitische und wirtschaftliche Interessen in Lateinamerika. Zu den sicherheitspolitische Interessen gehört die Abwehr traditioneller Bedrohungen. Die USA sind bestrebt, dass sich keine ihr gegenüber feindliche (oder mit ihren Feinden kooperierende) Regierung in Lateinamerika etabliert. Dies erklärt die stärkere Fokussierung auf China und Russland als neue und alte Bedrohung in der gegenwärtigen Neuausrichtung der Lateinamerikapolitik. Die in der jüngeren Vergangenheit größte Bedrohung der USA stellte die militärische Kooperation zwischen Kuba und der Sowjetunion dar, die während der Kubakrise 1962 beinahe zu einer direkten militärischen Konfrontation zwischen den beiden Supermächten geführt hätte. Aber auch das Aufkommen linker Aufstandsbewegungen gegen rechte Diktaturen wurde während des Kalten Krieges als Bedrohung der nationalen

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Sicherheit wahrgenommen. In der Folge haben die USA offen oder verdeckt gegen linke Regierungen und Bewegungen agiert. Im Zweifel wurden rechte Diktaturen linken oder auch gemäßigten demokratischen Regierungen vorgezogen, falls diese aus der Sicht der USA eine ambivalente Haltung gegenüber der kommunistischen Bedrohung zeigten. Mit dem Ende des Kalten Krieges war dieses Bedrohungsszenarium verschwunden und eine größere Toleranz auch gegenüber linksgerichteten Regierungen in Lateinamerika zu verzeichnen, die das Projekt einer gesamtamerikanischen Freihandelszone scheitern ließen und in einigen Fällen (Venezuela, Bolivien, Ekuador, Argentinien) eine offen kritische Haltung gegenüber den USA an den Tag legten. Die aktuelle Krise in Venezuela hat jedoch alte Reflexe reaktiviert. Daneben haben nicht traditionelle Bedrohungen wie der internationale Terrorismus, der Drogenhandel, die organisierte Kriminalität und die illegale Einwanderung in den Beziehungen mit Lateinamerika an Bedeutung gewonnen. In einer Rede von Vizepräsident Pence in der Börse von Buenos Aires am 15. August 2017 wurden die US-Interessen in Lateinamerika klar umrissen. Pence sprach von „unserer“ westlichen Hemisphäre. Als Sicherheitsprobleme werden der Drogenhandel und internationale kriminelle Netzwerke genannt. Venezuela wird als Diktatur und failed state bezeichnet. Klar werden Handelsinteressen benannt, einschließlich einer „Verbesserung“ und Neuverhandlung bestehender Handelsverträge („every deal can be improved“ The White House 2017a). Denn die Amerikas, d. h. Kanada, die Karibik, Mexiko und die übrigen lateinamerikanischen Staaten haben seit 2000 als Handelspartner an Bedeutung für die US-Wirtschaft gewonnen. 1980 lag der Anteil Lateinamerikas an den US-Exporten bei 17,1 %, er ging dann auf 13,3 % (1990) zurück, um danach wieder auf 21,6 % (2000) anzusteigen (ECLAC 2015 S. 19). In der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts ging ein Viertel der US-Exporte nach Lateinamerika und in die Karibik (Tab. 1), knapp ein Fünftel der Importe kam aus der Region (im Jahr 2016 bezogen die USA

Tab. 1 US-Exporte und -Importe: Anteil Lateinamerika (in Mrd. USD und %) Exporte Lateinamerika insgesamt - Mexiko - Brasilien Importe Lateinamerika insgesamt - Mexiko - Brasilien - Venezuela

2010

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

302,2 23,6 12,8 2,8

367,3 24,8 13,4 2,9

399,1 25,8 14,0 2,8

410,4 26,0 14,3 2,8

424,9 26,2 14,9 2,6

388,8 25,9 15,7 2,1

365,7 25,2 15,8 2,1

393,2 25,4 15,7 2,4

361,4 18,9 12,0 1,2 1,7

437,2 19,8 11,9 1,4 2,0

449,4 19,7 12,2 1,4 1,7

439,0 19,4 12,4 1,2 1,4

446,0 18,9 12,5 1,3 1,3

412,3 18,3 13,2 1,2 0,7

401,7 18,3 13,4 1,2 0,5

430,0 18,3 13,4 1,2 0,5

Quelle: Eigene Berechnungen basierend auf Daten der United States International Trade Commission (ITC), zitiert vom Congressional Research Service (2019, S. 19)

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u. a. insgesamt 28 % ihres Erdöls aus Lateinamerika; CRS 2019, S. 7). Die Gesamthandelsstatistik mit Lateinamerika ist jedoch insofern verzerrt, als sich der Anteil allein Mexikos (2017) auf 62 % an den Exporten nach Lateinamerika und 73 % an den Importen aus Lateinamerika belief. Nimmt man Kanada dazu, dann entfielen 2018 43,7 % der Exporte (zum Vergleich: EU 19,1 %) und 31 % der Importe (EU 19,2 %) der USA auf die Amerikas (United States Trade Representative 2019a, b). Darüber hinaus kommt Lateinamerika als Standort für Investitionen U.S.amerikanischer Unternehmen Bedeutung zu. Im Zeitraum 2012 bis 2017 entfielen 42 % (2018, 38 %) der Auslandsinvestitionen in Mexiko auf U.S. Unternehmen (ECLAC 2019, S. 41). Zur Sicherung ihrer wirtschaftlichen Interessen haben die USA neben dem Vertrag über die Schaffung einer Nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA, North American Free Trade Agreement; seit 1994 in Kraft) mit Kanada und Mexiko Freihandelsabkommen mit verschiedenen lateinamerikanischen Ländern abgeschlossen: bilateral mit Chile 2004, Peru 2009, Kolumbien 2012 und Panama 2012, und multilateral 2009 mit der Dominikanischen Republik sowie den zentralamerikanische Staaten Costa Rica, El Salvador, Guatemala und Nicaragua (Dominican Republic-Central America Free Trade Agreement [DR-CAFTA]). Dadurch verfügten die USA zu Beginn der Amtszeit von Donald Trump über ein Netzwerk von Freihandelsabkommen. Die Trump-Administration stellt allerdings alle Handelsabkommen auf den Prüfstand. Bereits im Wahlkampf hatte Präsident Trump NAFTA unter Verweis auf das US-Handelsbilanzdefizit und den Verlust an Arbeitsplätzen in der amerikanischen Industrie als das „schlechteste Handelsabkommen“ bezeichnet und angedroht, den Vertrag aufzukündigen. Nach langwierigen, zeitweilig vom Scheitern bedrohten Verhandlungen, unterschrieben die drei beteiligten Regierungen am 30. November 2018 ein neues Abkommen, das U.S.-Mexico-Canada Trade Agreement (USMCA), das allerdings noch vom U.S. Kongress ratifiziert werden muss. Es lässt das alte Abkommen weitgehend in Kraft, enthält aber für Mexiko wesentliche Neuerungen im Hinblick auf die Ursprungsregeln bei Automobilbauteilen (plus Mindestlohnvorschriften für einen Teil des Produktionsprozesses). Nach den Erfahrungen Mexikos mit der Neuverhandlung des NAFTA-Vertrags ist nicht auszuschließen, dass die US-Regierung auch gegenüber anderen Regierungen Druck aufbaut, um Abkommen neu zu verhandeln oder ggf. aufzukündigen. Aus lateinamerikanischer Perspektive haben die USA an Gewicht als Handelspartner verloren, sie sind in der Regel je nach Subregion aber immer noch der wichtigste oder zweitwichtigste Handelspartner. Im Jahr 2000 lag der Anteil der USA an den lateinamerikanischen Exporten noch bei 61 % und ging dann bis Ende der Dekade auf 40 % zurück, bei den Importen fiel der Rückgang von 55 % auf 29 % noch deutlicher aus (ECLAC 2010, S. 109). Danach konnten die USA aber ihren Handelsanteil stabilisieren und teilweise wieder ausbauen. Im Jahr 2017 gingen 46 % der lateinamerikanischen Exporte in die USA, und die USA hatten einen Anteil von 33 % an den lateinamerikanischen Importen (CRS 2019, S. 17). Diese lateinamerikanischen Durchschnittswerte sind allerdings durch den starken Anteil

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der USA am Außenhandel Mexikos verzerrt, in Südamerika ist der Anteil der USA am Außenhandel deutlich niedriger. Die Venezuela-Krise, in der die Trump-Administration auf einen Regimewechsel hinarbeitet, ist ein gutes Beispiel für das Zusammenspiel sicherheitspolitischer und wirtschaftliche Interessen der USA in Lateinamerika. U.S.-Unternehmen waren in der Vergangenheit stark im venezolanischen Erdölsektor engagiert, und die USA waren der wichtigste Importeur venezolanischen Erdöls. Dazu kommen traditionelle und nicht-traditionelle Sicherheitsinteressen. Das venezolanische Regime wird von zwei Großmächten außerhalb der Region unterstützt, China und Russland, die von den USA als Gegenspieler wahrgenommen werden. Die Flüchtlingsströme aus Venezuela und die vermutete Verwicklung des venezolanischen Militärs in den internationalen Drogenhandel tangieren nicht-traditionelle Sicherheitsinteressen der USA. Dies alles zusammen brachte das legimitationsschwache venezolanische Regime auf den Radarschirm US-amerikanischer Außenpolitik. Auch im Hinblick auf China kommt sowohl wirtschaftlichen als auch sicherheitspolitischen Interessen Bedeutung zu. China hat seine Präsenz in Lateinamerika seit 2000 deutlich ausgebaut, und ist für einige lateinamerikanische Länder bereits der vorrangige Haupthandelspartner (Tab. 2). Es ist außerdem ein wichtiger Kreditgeber und Investor. Mittlerweile haben sich 19 lateinamerikanische und Karibikstaaten mit Absichtserklärungen der Belt and Road Initiative (BRI) angeschlossen. Die USA hatten die wachsende wirtschaftliche Präsenz Chinas in ihrem Hinterhof lange Zeit zwar kritisch beäugt, aber nicht als unmittelbare Bedrohung ihrer Sicherheit wahrgenommen. Dies hat sich unter der Trump-Administration grundlegend verändert. China wird nicht mehr als wirtschaftlicher Konkurrent wahrgenommen, sondern als politischer Gegner, der wirtschaftliche Mittel einsetzt, um seinen Einfluss in Lateinamerika auszuweiten und lateinamerikanische Regierungen in Abhängigkeit zu bringen. In der „Nationalen Sicherheitsstrategie“ der USA vom Dezember 2017 heißt es zur westlichen Hemisphäre: „China versucht, die Region mittels staatlich gelenkter Investitionen und Kredite in seinen Einflussbereich zu ziehen. [. . .] Beide, China und Russland, unterstützen die Diktatur in Venezuela und sind bestrebt ihre militärische Verbindungen und Waffenverkäufe in der Region auszuweiten“ (The White House 2017b, S. 51). Lateinamerika ist zu einem Spielfeld in der globalen Auseinandersetzung mit China geworden. Der damalige Tab. 2 Rang der USA als Handelspartner Lateinamerikas und der Karibik (2017) Sub-Region/Länder Mexico Zentralamerika Cariforum Kuba Andengemeinschaft Chile Mercosur Quelle: EPRS (2018, S. 6)

USA 1 1 1 niedrigerer Rang 1 2 3

China 2 3 3 2 2 1 1

EU 3 2 2 1 3 3 2

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Oberkommandierende des U.S. Southern Command und spätere Stabschef im Weißen Haus, General John F. Kelly, hatte bereits im März 2015 in einer Anhörung im US-Kongress erklärt „so wie wir uns dem Pazifik zugewendet haben, hat sich China der westlichen Hemisphäre zugewandt. Es sieht gute Beziehungen mit der Region aus zwei Gründen als vorteilhaft an: um Zugang zu Rohstoffen zu erlangen und um seinen globalen Einfluss zu erweitern“ (United States Southern Command 2015). Lateinamerika als Teil der U.S. Innenpolitik In der US-amerikanischen Lateinamerika-Politik gibt es schon lange eine enge Vernetzung von Innen- und Außenpolitik, die es nicht in gleichem Umfang mit anderen Regionen gibt. Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch hat sich dafür der Terminus intermestic politics (eine Kombination aus international und domestic) eingebürgert. Diese Vernetzung ist auf die geografische Nähe, gemeinsame Herausforderungen wie den Drogenhandel und v. a. auf die andauernde Migration vieler Lateinamerikaner in die USA zurückzuführen. Deren finanzielle Rücküberweisungen (remittances) an Familienangehörige in ihren Heimatländern sind für viele Staaten in Zentralamerika und der Karibik ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Zugleich nimmt in den USA das demographische und politische Gewicht der Hispanics – so die offizielle Bezeichnung in den Statistiken für US-Amerikaner mit lateinamerikanischen Wurzeln – zu. Lag der Anteil der Hispanics 1990 noch bei 9 % der Bevölkerung, so stieg er bis 2000 auf 13 % an. Im Jahr 2003 überholten die Hispanics die Afroamerikaner als größte ethnische Minderheit in den USA. Mit fast 60 Mio. US-Amerikanern (18 % der Bevölkerung) hispanischer Herkunft waren die USA im Jahr 2018 das drittgrößte „lateinamerikanische“ Land, nach Brasilien und Mexiko und noch vor Kolumbien und Argentinien. Obwohl sich der Zuwachs (auf zuletzt jährlich 2 %) verlangsamt hat, werden im Jahr 2025 die Hispanics vermutlich bereits ein Fünftel der Gesamtbevölkerung der USA ausmachen (United States Census Bureau 2018). Dies erzeugt innenpolitische Ängste und Widerstände v. a. bei weißen Amerikanern, die Donald Trump im Wahlkampf 2016 mit seinen polemischen Aussagen zu illegalen lateinamerikanischen Einwanderern v. a. aus Mexiko für sich nutzen konnte. 2017 lebten nach Schätzungen des Pew Research Centers 11,6 Millionen mexikanische Immigranten in den USA, davon weniger als die Hälfte (43 %) illegal. Seit 2007, dem Höhepunkt der Einwanderungswelle, ist die Zahl der illegalen Einwanderer aus Mexiko um 2 Millionen zurückgegangen (Gonzalez-Barrera und Krogstad 2019); und seit 2016 werden an der Grenze zu Mexiko in jedem Jahr mehr illegale Immigranten aus anderen lateinamerikanischen Ländern als Mexikaner abgefangen. So haben in den vergangenen Jahren jährlich zwischen 250.000 und 300.000 Menschen ihre Heimat in El Salvador, Guatemala und Honduras verlassen, die Mehrzahl mit dem Ziel USA (Leutert und Spalding 2019). Zwar steigt der Anteil der Hispanics an der Wählerschaft, sie sind aber immer noch unterrepräsentiert (bei den Kongresswahlen 2018 machten sie bei steigender Tendenz knapp 10 % der Wähler aus). In den sogenannten swing states können sie trotzdem die Wahlen in die eine oder andere Richtung entscheiden. Mehrheitlich

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tendieren die Hispanics zur Demokratischen Partei. Sie unterstützten mit großer Mehrheit Barack Obama und Hillary Clinton. Bei den Kongresswahlen 2018 wählten 69 % der Hispanics die Demokraten und nur 29 % Republikanische Kandidaten (Krogstad et al. 2018). Starke Minderheiten lateinamerikanischer Herkunft können, soweit sie sich als Wähler registriert haben, die US-amerikanische Politik gegenüber ihren Herkunftsländern (z. B. Kuba) beeinflussen. Besonders einflussreich war bisher die v. a. in Florida starke Lobby der Exil-Kubaner (Cuban American National Foundation), die für eine harte Haltung und Sanktionen gegenüber dem Castro-Regime eintritt. Vermutlich haben die Wähler kubanischer Herkunft in Florida 2000 die Präsidentschaftswahl für George W. Bush entschieden. Auch Donald Trump hatte in seinem Wahlkampf bewusst um die Stimmen der Hardliner in der kubanischen Community geworben. Die Stimmen der Wähler mit kubanischen Wurzeln leisteten einen wichtigen Beitrag zum Wahlsieg von Trump 2016 in Florida. Ein weiteres wichtiges innenpolitisches Thema mit direkter Relevanz für die Beziehungen mit Lateinamerika ist der Kampf gegen den Drogenhandel. Seit 1992 ist der Präsident verpflichtet, dem Kongress jährlich einen Bericht über die wichtigsten Drogen produzierenden Länder und die wichtigsten Drogentransitländer (die sog. Drug Majors) vorzulegen. Der Präsident muss zertifizieren, dass diese Länder substanzielle Anstrengungen unternommen haben, ihren internationalen Verpflichtungen im Kampf gegen den Drogenhandel nachzukommen. Andernfalls werden sie von bestimmten US-Unterstützungszahlungen ausgeschlossen (außer der Präsident hält diese im nationalen Interesse für notwendig). Für das Haushaltsjahr 2020 befanden sich unter den 22 aufgelisteten Drug Majors 17 Staaten aus Lateinamerika und der Karibik. Bolivien und Venezuela wurden zudem mangelnde Anstrengungen im Kampf gegen den Drogenhandel attestiert (Memorandum 2019). Nach Angaben der Drug Enforcement Administration (DEA) wird das meiste in den USA konsumierte Kokain weiterhin in Kolumbien produziert; die Opiumproduktion in Mexiko, Kolumbien und Guatemala ist weitgehend für den US-Markt bestimmt. Mexiko ist überdies der größte ausländische Produzent von in den USA konsumiertem Marihuana, Methamphetamin und Heroin. Außerdem ist Mexiko das Hauptdurchgangsland für Kokain aus Südamerika. Im Kampf gegen den Drogenhandel haben die USA als Teil ihrer Außenpolitik bereits in der Vergangenheit verschiedene Initiativen in Lateinamerika eingeleitet. Unter Präsident Trump wird dem Kampf gegen den internationalen Drogenhandel wieder höchste Priorität in der Lateinamerika-Politik eingeräumt.

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Fazit

Die Amerikas werden ein wichtiger Bestandteil US-amerikanischer Außenpolitik bleiben; auch wenn sich deren strategische Bedeutung nur selten in der Tagespolitik widerspiegelt. Lateinamerika und die Karibik (wie auch Kanada) sind für die USA von höchster sicherheitspolitischer Bedeutung. Das Fehlen einer Bedrohung durch feindselige Regierungen (mit einem echten Drohpotenzial) oder von Allianzen mit

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Gegenspielern der USA in anderen Weltregionen hält den USA den Rücken für ihre globalen Ziele und Aktivitäten frei. Die USA sind mit Kanada und Mexiko wirtschaftlich verflochten, und auch mit dem restlichen Lateinamerika und der Karibik bestehen enge Wirtschaftsbeziehungen. Gemeinsame Herausforderungen wie der Drogenhandel und die (illegale) Migration aus Lateinamerika und der Karibik in die USA werden fortbestehen. Der wachsende Anteil von Hispanics an der US-Bevölkerung schafft zusätzliche Bindungen innerhalb der Amerikas, die es im gleichen Ausmaß nicht mit anderen Weltregionen gibt.

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Die USA und Afrika Politik im Wandel Frank Mattheis

Inhalt 1 Schwerpunkte der Afrikapolitik der USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Fluktuationen und Kontinuitäten der Afrikapolitik der USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Geopolitische Schwerpunkte der US Afrikapolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

In diesem Beitrag werden die Konstanten und Umbrüche der Afrikapolitik der USA im Allgemeinen sowie zentrale thematische und regionale Schwerpunkte dieses Politikfeldes im Einzelnen behandelt. Zunächst werden die Hauptachsen der Afrikapolitik vorgestellt und im zweiten Teil historisch eingebettet. Nach einer kurzen Abhandlung des Kalten Krieges werden vor allem Oszillationen unter den Präsidentschaften von Bush Senior bis Trump herausgearbeitet. Im dritten Teil wird näher auf die Vielzahl der staatlichen und nichtstaatlichen Akteure auf Seiten der USA eingegangen. Der vierte Teil hebt regionale Schwerpunkte in Afrika hervor, bevor im Fazit auf Erfolge und Schwächen der Afrikapolitik eingegangen sowie eine Bewertung des derzeit stattfindenden Wandels ausgeführt wird. Schlüsselwörter

Afrika · Afrikapolitik · USA · Sicherheitspolitik · Außenpolitik

F. Mattheis (*) Université libre de Bruxelles, Brüssel, Belgien University of Pretoria, Pretoria, Südafrika E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_54

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Schwerpunkte der Afrikapolitik der USA

Ob gutmütig (Schraeder 1994) oder böswillig (Adebajo 2018) motiviert: Afrika wurde in der Außenpolitik der USA lange als Nebenschauplatz betrachtet. Dies änderte sich 2001 mit dem „Krieg gegen Terror“. Trotz der im Vergleich zu anderen Weltregionen geringen Aufmerksamkeit, die Afrika in Washington weiterhin erhält, wurde die Rolle des Kontinents für die Außen- und Sicherheitspolitik der USA graduell aufgewertet (Rye Olsen 2017). Die thematischen Schwerpunkte lassen sich auf drei Hauptachsen verorten. Als überragendes Thema bestimmt nationale Sicherheit traditionell die Afrikapolitik. Zwar gehen mit einer Milliarde USD weniger als 10 % der globalen Militärhilfe nach Afrika und nur 2500 von 200.000 Soldaten in Übersee sind in Afrika stationiert (Allen 2018). Zudem trägt ein dauerhaft vereinbarte Abwesenheit von atomaren Waffen auf dem Kontinent zur Nachrangigkeit Afrikas bei. Dennoch sind die USA im „Krieg gegen Terror“ auf ein langfristiges Engagement in Afrika eingestellt, wie in den beiden letzten wichtigsten Leitlinien deutlich wird: der US Strategie für das subsaharische Afrika (White House 2012) sowie der Grundsatzrede des damaligen nationalen Sicherheitsberaters Bolton (White House 2018). Dieses Engagement bleibt aber strategischen Oszillationen unterworfen. Im Kalten Krieg wurde vorwiegend auf Militärhilfe von ausgewählten Verbündeten wie Zaire und Angola gesetzt und Anfang der 1990er griffen die USA kurzzeitig selbst ein bevor sie sich für über zehn Jahre sichtbar zurückzogen. Seit 2001 nehmen Militärhilfe, Stützpunkte und Nachrichtendienste wieder stetig zu. Auch wenn nach dem gescheiterten Eingreifen 1993 in Somalia Militäreinsätze auf afrikanischem Boden eher vermieden werden, finden wieder Interventionen statt, nicht zuletzt als Reaktion auf gewalttätigen Antiamerikanismus, wie die islamistischen Anschläge auf die Botschaften der USA in Kenia und Tansania im Jahr 1998 und dem Angriff auf die Vertretung der USA in Bengasi im Jahr 2012, bei dem der Botschafter getötet wurde. Statt direkt einzugreifen werden Drohnen und bemannten Fluggerät für Aufklärung und Angriffe bevorzugt. US Spezialkommandos begleiten afrikanische Soldaten oder führen Spezialeinsätze eigenmächtig durch. Militärische Unterstützung afrikanischer Partner beschränkt sich hierbei nicht nur auf nationale Armeen, sondern begünstigt auch den Aufbau von bewaffneten Parallelstrukturen, welche direkt dem Präsidenten unterstellt sind (Reno 2004). Assistant Secretary of State Nagy hat in seiner Rede vor dem Ausschuss des Senats im Juni 2018 eine vergleichsweise konventionelle Sichtweise vorgetragen, die insbesondere im Bereich Sicherheit und Regierungsführung Kontinuität versprach. Auch unter Trump orientiert sich die Afrikapolitik somit an einem einseitig auf islamistischen Terrorismus eingestellten Sicherheitsverständnis, in welchem Themen wie ökologische Krisen, sexualisierte Gewalt und Gesundheitsfürsorge bestenfalls als nebensächlich betrachtet werden. Als zweite Achse der Afrikapolitik gelten wirtschaftliche Interessen. Auch wenn Handel und Investitionen schwach ausgeprägt sind, nehmen wirtschaftliche Abkommen eine wichtige Rolle in der Afrikapolitik ein. Seit 2000 werden einseitige Handelserleichterungen an afrikanische Länder klar mit demokratischen Fortschritten verknüpft, auch wenn in der neuen Afrikastrategie von 2018 ein auf Reziprozität ausgerichtete

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Handelspolitik in Aussicht gestellt wird. Dazu wird ein privatwirtschaftlicher Schwerpunkt gesetzt, der sich im Wirken der Behörde für international Entwicklung USAID wiederspiegelt, wie in deren Private Sector Engagement Policy deutlich wird. Der neue Direktor von USAID, Green, betreibt in diesem Sinne die Mittelumwidmung von humanitärer und Entwicklungshilfe hin zur Unterstützung von US-amerikanischen Privatunternehmen. Die ursprünglich angekündigte Reduzierung von Entwicklungshilfe um 30 % scheint folglich nicht umgesetzt zu werden, dafür aber eine deutliche Umwidmung in deren Nutzung (Schneidman und Signé 2018). Zwar wurde Entwicklungshilfe auch früher instrumentalisiert, allerdings wird diese weniger an Fortschritte bei Demokratie und Menschenrechten gekoppelt und dafür mehr an Marktanteile für US-amerikanische Unternehmen (Rock und Grumbach 2019). Das neue Programm der Trump-Regierung Prosper Africa verkörpert diesen Strategiewandel. Die wirtschaftliche Entwicklung Afrikas verliert an Priorität. Es geht vorerst um die Schaffung von Arbeitsplätzen in den USA, die Ausdehnung von US-Exporten und Marktzugang in Afrika. Die dritte Achse der Afrikapolitik ist ein Wettstreit der Großmächte, der in der nationalen Sicherheitsstrategie (NSS) zum übergreifenden Anliegen erkoren wurde. Dies erinnert nicht nur an den Kalten Krieg sondern wird auch mit den beiden ersten Achsen der Afrikapolitik verknüpft. Eine schlagkräftige amerikanische Präsenz sowie westliche militärische Zusammenarbeit, insbesondere mit Frankreich, dient der Eindämmung von globalen Rivalen und Stellvertreterkonflikte wie in der Zentralafrikanischen Republik mit Russland. Die neu gegründete Development Finance Institution mit einem Budget von 60 Mrd. USD soll der chinesischen Entwicklungsfinanzierung die Stirn bieten soll und gleichzeitig unter dem Motto Better Utilization of Investments Leading to Development afrikanische Märkte für US-amerikanische Unternehmen erschliessen.

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Fluktuationen und Kontinuitäten der Afrikapolitik der USA

Historisch betrachtet erhält Afrika innerhalb der globalen Ausrichtung der USA traditionell wenig Aufmerksamkeit (van de Walle 2009; Veney 2014). Das Erbe des Sklavenhandels sowie Panafrikanismus als ab 1900 aufkommendes Leitmotiv der Diaspora erfuhren zu keiner Zeit einen fassbaren Wiederhall in der formellen Außenpolitik. Die europäische Kolonialisierung, der Verlauf der beiden Weltkriege sowie die exklusive Mitgliedschaft in den multilateralen Institutionen der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert wiesen Afrika aus Sicht Washingtons einen Randplatz auf der Weltbühne zu. Während des Kalten Krieges folgte das US-Engagement vornehmlich einer antikommunistischen und staatszentristischen Ausrichtung. Hierzu wurden verbündete Regierungen unterstützt, wobei dies teils verdeckt stattfand, wie in Südafrika während der Apartheid. Dass sich dadurch wie in Zaire oftmals Diktaturen und autoritäre Regime etablierten und der Selbstdarstellung als Anführer der freien Welt entgegenliefen, geriet im Kontext der antisowjetischen US-Doktrin in den Hintergrund (Keller und Rothchild 1996). Oppositionelle in solchen Staaten wurden nur dort unterstützt, wo dies strategisch opportun war, wie beispielsweise in

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Angola und Mosambik, wo Marxismus-Leninismus die Staatsideologie prägte. In zweiter Linie spielten auch wirtschaftliche Beweggründe wie der Zugang zu Rohstoffen für die USA eine Rolle. Daraus ergab sich ein Afrikabild, welches durch strategische Interessen geprägt war, die nur mittelbar mit dem Kontinent selbst zu tun hatten. Die US-Regierungen schälten lediglich relevante Elemente Afrikas heraus und betrachteten diese als Mittel zum Zweck (Magyar 2000). Afrika und die mehrheitlich in den 1960er- und 1970er-Jahren entstehenden Staaten wurden kaum als eigenständiger Akteure betrachtet, was sich auch darin widerspiegelt, dass mit Carter (1977–1981) lediglich ein Präsident während des Kalten Krieges einen Staatsbesuch auf dem Kontinent unternahm. Selbst der Anti-Apartheid-Act, bei welchem 1986 Senat und Repräsentantenhaus Reagans Veto überstimmten und somit eine Abkehr der Unterstützung der Apartheidregierung einläuteten war in erster Linie eine Auseinandersetzung zwischen Interessensgruppen innerhalb der USA. In den 1980er-Jahren etablierte sich in der Afrikapolitik unter Reagan (1981–1989) ferner der global ausgerichtete Konsens von Washington, welcher im von Schuldenkrisen und humanitären Krisen geprägten Afrika ein Engagement vorsah, um den Rückbau der staatlichen Bürokratie, die Privatisierung von öffentlichen Aufgaben und Marktliberalisierung voranzutreiben. In diesem Ansatz ist bereits eine Abkehr von der Außenpolitik des Kalten Krieges zu verzeichnen, welche afrikanische Staaten vorwiegend ignorierte solange keine größeren wirtschaftlichen und politischen Bedrohungen von ihnen ausgingen. Obschon die Eindämmung des Kommunismus in Afrika nach 1989 an Priorität verlor, so verschwand die selektive Sicherheitslogik des Kalten Krieges nicht gänzlich. Sie wurde aber um eine stärkere humanitäre Dimension erweitert. Nicht der Marxismus-Leninismus, sondern Bürgerkriege, Hungersnöte und Pandemien wurden als primäre Bedrohung der USA wahrgenommen, welche sich nun als unipolare Weltmacht stärker für Frieden und Demokratie in Afrika verantwortlich sahen (White House 1992). Unter Bush Senior (1989–1993) fand neben einem Aufbau der Entwicklungshilfe auch eine stärkere multilaterale Einbettung der Afrikapolitik in die Vereinten Nationen statt, unter anderem als Teil der Operation der Vereinten Nationen in Somalia (UNOSOM). Der als Black Hawk Down bekannt gewordene Abschuss von zwei US-Militärhubschraubern und Tod von 18 Soldaten im Jahr 1993 in Somalia führte allerdings unter Druck der Öffentlichkeit dazu, dass Clinton (1993–2001) die amerikanischen Truppen wieder abzog, was nicht nur zum Scheitern der UNOSOM beitrug, sondern auch zu einer sicherheitspolitischen Abkehr der USA von Afrika, welche in einer fehlenden Unterstützung der Mission der Vereinten Nationen für Ruanda deutlich wurde (White House 1994; Francis 2010). Neue Sicherheitsinstrumente wie die African Crisis Response Initiative wurden zwar in die Afrikapolitik eingeführt, aber diese spielten aufgrund des „Somaliasyndroms“ nur eine nebensächliche und überwiegend bilaterale Rolle. Selbst die Anschläge auf die Botschaften in Tansania und Kenia im Jahre 1998 lösten keine neuen Einsätze aus. Der vom „Somaliasyndrom“ ausgelöste sicherheitspolitische Rückzug ermöglichte hingegen eine stärkere Beteiligung nicht-militärischer Akteure in der Afrikapolitik. Daraus ergab sich eine Stärkung der Wirtschafts- und Entwicklungspolitik, unter anderem mit dem African Growth and Opportunity Act (AGOA), ein auf den

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Kontinent ausgerichtetes Abkommen, welches Freihandel und privatwirtschaftliche Aktivitäten fördern sollte. Ein bevorzugter Marktzugang zu den USA diente der Unterstützung demokratisch gesinnter Länder. Die Verknüpfung von wirtschaftlicher Entwicklung und Demokratie wurde somit zu einem festen Bestandteil der Afrikapolitik und bestimmte die von Clinton eingeführten Afrikakonferenzen des Weißen Hauses. Die Priorisierung von wirtschaftlichen Themen dauerte bis zu den Attentaten im September 2001 an. In dem daraufhin ausgerufenen „Krieg gegen Terror“ wurden Krisen und Kriege in Afrika nunmehr nicht mehr als allgemeine und eher abstrakte Gefahr für globalen Frieden und Demokratie wahrgenommen, sondern dezidiert als Bedrohung für die nationale Sicherheit der USA. Interventionen fanden zehn Jahre nach dem Somaliaeinsatz ab 2003 wieder statt, insbesondere gegen bewaffnete islamistische Bewegungen und wie bereits im Kalten Krieg vermehrt in Zusammenarbeit mit autoritären Regimes, obgleich einzelne Regierungen wie in Simbabwe und Libyen als Teil einer „Achse des Bösens“ gebrandmarkt wurden. Im Jahr 2007 wurde mit dem Afrikakommando (AFRICOM) erstmals eine eigenständige militärische Struktur für Afrika geschaffen, die als imperiale Vorgehensweise der USA in Afrika kritisiert wurde, so dass das Hauptquartier nach Stuttgart verlegt wurde, wo es bis heute seinen „vorläufigen“ Sitz behält (Kalu und Kieh 2013). Flankiert wurde AFRICOM durch neue Programme zur Kooperation mit afrikanischen Staaten, in denen die islamistische Bedrohung als besonders hoch erachtet wurde. Hierzu zählten insbesondere Militärausbildungsprogramme und ein Ausbau der bereits bestehenden Militärbasis in Djibouti mit einer neu eingeführten Combined Joint Task Force – Horn of Africa (CJTF-HOA). Im Vordergrund standen neben der Ausbildung der afrikanischen Streitkräfte auch logistische Unterstützung und bewaffnete Einsätze gegen Terroristen. Unter Bush Junior (2001–2009) nahm auch die präsidentielle Diplomatie, gemessen an Treffen mit afrikanischen Staatschefs, deutlich an Fahrt auf. Gleichzeitig wurden umfassende Entwicklungsprogramme aufgebaut, wie der President’s Emergency Plan for AIDS Relief (PEPFAR, 15 Mrd USD) und die Millennium Challenge Corporation (MCC, 4,5 Mrd USD). Mit der deutlichen Ausweitung der Entwicklungshilfe gingen auch strengere Konditionen der Mittelvergabe einher, die deutlicher als bei USAID an wirtschaftspolitische und demokratische Liberalisierung geknüpft waren. Die Präsidentschaft Obamas (2009–2017) stellte ob seiner Hautfarbe und familiärer Verbindungen besondere Erwartungen hinsichtlich der unter Bush Junior bereits deutlich aufgewerteten Afrikapolitik (Vines und Cargill 2010). Seine drei Staatsbesuche in Afrika wurden zu gefeierten Auftritten und bis auf die mit Sanktionen belegten Präsidenten Sudans und Simbabwes warteten fast alle afrikanischen Amtskollegen in Washington auf. Zudem richtete Obama 2014 den ersten USA-Afrika Gipfel aus. Jenseits des gesteigerten Erscheinungsbilds fand jedoch tatsächlich kein einschneidender inhaltlicher Umbruch statt, weder im Sinn einer Neuausrichtung noch einer Priorisierung. Auch die unter Obama eingeführten neuen Programme Feed the Future und Power Africa, welche die Bereiche Landwirtschaft und Energie aufwerteten, änderten wenig daran, dass AFRICOM und PEPFAR weiterhin den Löwenanteil des Afrikabudgets bestritten. Bestehende HIV/AIDS

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Programme wurden ebenso weitergeführt wie die Handelsabkommen seiner Vorgänger. Das sicherheitspolitische Engagement zur Terrorismusbekämpfung in Afrika wurde weiter ausgebaut. Obama dehnte die Stationierung von Soldaten und die Anzahl der Luftangriffe auf Terroristen aus und unterzeichnete zusätzliche Militärabkommen mit afrikanischen Regierungen. Graduell fanden auch Kursänderungen statt. Diese betrafen zunächst strukturelle Reformen innerhalb der außenpolitischen Institutionen, um die Zersplitterung der an Anzahl und Vielfalt zugenommenen Verantwortlichkeiten zu zähmen. Die Aufwertung der Afrikapolitik spiegelte sich zunächst nicht im direkten Agieren von Obama wider, sondern in der Besetzung von Schlüsselpositionen mit Außenministerin Clinton und UN-Botschafterin Rice, die ihre Prioritäten explizit in Afrika sahen. Grundsätzlich lässt sich im Verlauf der Präsidentschaft von Obama eine multilaterale und liberale Tendenz ablesen. Die Kooperation mit der UN und westlichen Partnern nahm in Afrika zu und die Abneigung afrikanischer Staaten gegenüber AFRICOM wurde ernster genommen. Dies führte dazu, dass Friedensmissionen der UN und der Afrikanischen Union (AU) deutlich aufgewertet wurden. Ebenso wurden US-Unternehmen stärker gefördert und die Demokratieförderung gestärkt, beispielsweise im Umgang mit Simbabwe oder Sudan, wobei sogar der Internationale Gerichtshof unterstützt wurde (Vines und Cargill 2010). Unter Obama fand somit eine graduelle Entwicklung der bisherigen Afrikapolitik statt, die allerdings an dem vergleichsweise niedrigen Status Afrika in der Außenpolitik keine grundsätzliche Veränderung herbeiführte. Dies wird mit Blick auf die übergeordneten Prioritäten – den „Pivot“ zum Pazifischen Asien und die Kriegsführung im Irak und in Afghanistan – deutlich, da Afrika hier kein strategischer Wert eingeräumt wurde. Nichtsdestotrotz gab es unter Obama mit der Intervention in Libyen ein einschneidendes Erlebnis, welches die Afrikapolitik bis heute prägt. Im Jahr 2011 fanden in Libyen, ähnlich wie zeitgleich in anderen arabischen Ländern, Massenproteste gegen den Langzeitherrscher Gaddafi. Im Gegensatz zum benachbarten Tunesien wurden die Proteste jedoch von der Regierung gewaltsam niedergeschlagen, was wiederum in einem Bürgerkrieg mündete, der in massenmordähnliche Zustände zu kippen drohte. Hatten bis dahin innerhalb der US-Regierung Realisten wie Verteidigungsminister Gates und der stellvertretende Präsident Biden Interventionen der USA in neue Konflikte verhindert, fand sich in dieser Situation mit führenden Politikern wie Clinton, Rice, Power und McCain eine Mehrheit, die ein Einschreiten als notwendig ansah. Obama übernahm diese Position, beschränkte den Einsatz aber auf Luftangriffe, um ein langwieriges Zugegensein vor Ort zu vermeiden. Er bettete den Einsatz in einem internationalen UN-Mandat mit Unterstützung der Arabischen Liga und der AU ein und teilte die führende militärische Beteiligung mit NATO-Verbündeten. Die Luftangriffe, die über acht Monate währten, gingen jedoch über das ursprüngliche Mandat hinaus und forcierten einen Regimewechsel, der weitreichende negative Konsequenzen für die Sicherheitslage in der ganzen Region hatte (Fitzgerald und Ryan 2014). Auf afrikanischer Seite führte dieses Erlebnis zu einem stärkeren anti-imperialen Bewusstsein, welches eine Ablehnung westlicher Interventionen verfestigte sowie den Aufbau eigener Sicherheitsorgane beschleunigte (Edozie 2014). Nachdem die Kooperation mit den USA im „Krieg

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gegen Terror“ afrikanische Staaten dazu verleitet hatte, anti-westliche Bewegungen zu unterdrücken (Pinkney 2009), wurde diese Position unter der neuen Stimmungslage wieder hoffähig. Die Afrikapolitik nach dem Kalten Krieg ist somit unter den Präsidentschaften von Bush Senior bis Obama zwar keinesfalls durch lineare Kontinuität gekennzeichnet, aber es ist eine Tendenz festzumachen, die eine zunehmende Komplexität der Ausrichtung und eine Ausdehnung auf immer mehr Politikfelder umfasst. Die Entstehung einer Außenpolitik, die sich Afrika als eigenständige Kategorie annimmt, kann ebenfalls als übergreifende Entwicklung hervorgehoben werden, auch wenn die Definition, worauf sich die USA beziehen, wenn von Afrika die Rede ist, durchwegs Neuinterpretationen unterworfen bleibt, sowohl im Sinne geografischer als auch politischer Abgrenzungen (siehe Abschn. 3). Es hat allerdings in bestimmten Politikfeldern und Subregionen Vertiefungen gegeben, welche auf der nunmehr etablierten Erkenntnis basieren, dass die USA bestimmte strategische und nationale Interessen nicht von Afrika lösen können (siehe Abschn. 4). Unter Trump (2017–) lässt sich zunächst feststellen, dass die Beziehungen zu Afrika auf der Liste der außenpolitischen Prioritäten der USA eine im Vergleich mit anderen Weltregionen unverändert niedrige Stellung einnehmen. Zwar wird Afrika nicht als gänzlich irrelevant von den USA angesehen, aber wie in den vergangenen Jahrzehnten nimmt der Kontinent mit punktuellen Ausnahmen in der Rangfolge strategischer nationaler Interessen einen der letzten Plätze, wenn nicht gar den letzten Platz, ein. Zudem kommt, dass unter Trump, wie bereits unter Obama, das globale Engagement der USA in der Breite reduziert wird und eine Konzentration auf einzelne, als strategisch herausragend bewertete Themen und Regionen stattfindet (Kotsopoulos und Goerg 2018). Auch wenn bisherige strategische Bewertungen in Bezug auf Afrika weiter Bestand haben, so sind dennoch vermehrt Bruchstellen hinsichtlich Form und Inhalt sichtbar geworden. In den ersten beiden Jahren seiner Präsidentschaft war Trumps öffentliche Positionierung gegenüber Afrika vor allem durch eine Gleichgültigkeit mit gelegentlichen herablassenden Stellungnahmen gekennzeichnet. Auch die Restriktionen gegen Einwanderer aus mehreren arabischen Ländern Afrikas trugen zu einem frostigen Klima bei. Die formellen Beziehungen wurden gleichwohl weitergeführt und Trump hielt Treffen mit einigen afrikanischen Amtskollegen ab – im Jahr 2018 mit Kagame (Ruanda), Buhari (Nigeria) und Kenyatta (Kenia) – jedoch fallen die Häufung und Intensität deutlich hinter der seines Vorgängers zurück. Noch ausgeprägter fällt der Vergleich mit der chinesischen Diplomatie aus, welche dem offiziellen Empfang von afrikanischen Präsidenten sowie der Ausrichtung von hochrangigen Gipfeltreffen im Forum für China-Afrika Kooperation (FOCAC) einen hohen Stellenwert einräumt. Trumps Geringschätzung hinsichtlich einer Afrikapolitik wird auch mit Blick die Vakanzen leitender Positionen im Außenministerium deutlich. Zentrale Botschafterposten wie in Pretoria sind auch über zwei Jahre nach Amtsantritt nur kommissarisch besetzt. Gleichzeitig ermöglicht Trumps Desinteresse es auch, dass die langjährigen Programme seiner Vorgänger wie AGOA und PEPFAR von Kongress und Außenministerium unterstützt und weitergeführt werden. Und auch wenn die Vakanzen die Bürokratie ausdünnen, so ist der Diskurs von Diplomaten in Afrika weiterhin von

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guter Regierungsführung und Konfliktprävention geprägt (Westcott 2019). Somit ist die Afrikapolitik unter Trump nicht völlig ins Abseits geraten. Ende 2018 wurde sogar eine neue Afrikastrategie der Regierung vorgestellt, welche allerdings als vertraulich klassifiziert ist. Im Vergleich zu Trumps Vorgängern, unter denen erst im zweiten Mandat eine Afrikastrategie eingeführt wurde, ist dies ein früher Zeitpunkt. Die Kontinuität der Logik des „Krieges gegen Terror“ wird in dieser neuen Afrikastrategie deutlich, die passenderweise vom nationalen Sicherheitsberater Bolton vorgestellt wurde. Die militärischen Aktivitäten der USA in Afrika werden vom Pentagon weitergeführt, wobei Luftangriffe sogar ausgedehnt werden. Das Weiße Haus hat die Regeln für Angriffe in Somalia weiter gelockert, so dass das Pentagon vermehrt eigenständig zuschlagen kann. Auch die CIA erhält mehr Befugnisse, um in Niger Drohnenangriffe gegen mutmaßliche Terroristen auszuführen. Eine wertorientierte Ausrichtung, bspw. zum Einsatz für Demokratie in Afrika, kommt nunmehr lediglich zum Zuge, wenn es mit anderen Interessen überlappt oder Menschenrechtsverletzungen außerordentliches Aufsehen erregen. Normativ begründete Waffenembargos wie bspw. nach Nigeria wurden 2018 aufgehoben, um den Kampf der dortigen Armee gegen Boko Haram zu unterstützen. Das Konzept amerikanischer Werte und Interessen wird in diesem Kontext neu interpretiert. In der neuen Afrikastrategie werden vermehrt transaktionelle Kalkulationen erkennbar, die beispielsweise in Richtung eines Endes von Handelspräferenzen und einer Reduzierung humanitärer Entwicklungshilfe weisen. An dieser Stelle deutet sich ein klarer Bruch mit der bisherigen Afrikapolitik seit 1989 an. Ebenfalls wird Afrika deutlicher im Kontext der Auseinandersetzung mit China betrachtet und führt somit zu einer Verschiebung der Definition von Partnerschaften auf dem Kontinent, die stärker an den Kalten Krieg erinnern. Ob sich allerdings diese Wandlungen gegen die auf Kontinuität gepolten Bürokratien der Außen- und Verteidigungsministerien durchsetzen, ist derzeit noch nicht absehbar.

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Akteure

Die Afrikapolitik der USA wird vorwiegend durch vier Institutionen geprägt, welche mitunter gegensätzliche Prioritäten verfolgen (Balthazar und David 2008). Neben dem Weißen Haus, welches als Impulsgeber auftritt, sind die Entwicklungsagentur USAID sowie die Außen- und Verteidigungsministerien für Routine und Kontinuität in der täglichen Arbeit zuständig. Im Außenministerium ist ein/e vom Präsidenten nominierte/r Assistant Secretary of State seit 1958 innerhalb der politischen Abteilung für Afrika verantwortlich. Dieser Position kommt eine zentrale Rolle zu, da Afrikapolitik traditionell weder im Weißen Haus noch auf ministerialer Ebene vorrangig behandelt wird und somit nennenswerte Gestaltungsfreiräume entstehen. Seit Ende des Kalten Krieges wurde die Position regelmäßig mit einflussreichen schwarzen Diplomaten besetzt, die diese Freiräume aktiv nutzten, insbesondere Susan E. Rice, Jendayi Frazer, Johnnie Carson und Linda Thomas-Greenfield. Unter Trump blieb die Position wie viele andere leitende Stellen im Außenministerium zunächst unbesetzt. Erst nach knapp

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eineinhalb Jahren Vakanz bzw. kommissarischer Verwaltung wurde Mitte 2018 der Diplomat Tibor P. Nagy nominiert. Das Außenministerium teilt den subsaharischen Teil des afrikanischen Kontinents in fünf Bureaus auf: Zentralafrika, Sahel, südliches Afrika, Ostafrika und Westafrika. Jedes Bureau ermittelt jeweils eigene strategische Schwerpunkte. Von den vorgesehenen Sondergesandten mit direktem Afrikabezug (Sudan und Südsudan; Libyen; Zentralafrikanische Republik; Große Seen) blieben unter Trump bis Ende 2018 alle vakant. Seitdem wurde J. Peter Pham als Sondergesandter für die Großen Seen nominiert. USAID geniesst seinerseits als unabhängige Agentur mit einem Budget von 10 Milliarden Dollar (etwa ein Drittel des Außenministeriums) auch nach mehreren Strukturreformen eine vergleichsweise hohe Autonomie. Unter Außenministerin Clinton wurde die Stellung der Entwicklungspolitik als integraler Teil der Außenund Sicherheitspolitik gestärkt. Hierzu gehört auch eine enge Verzahnung zwischen dem Außenministerium und USAID. Entwicklungspolitik wird seitdem klarer als außenpolitisches Instrument identifiziert und unter die Leitlinien amerikanische Werte und Interessen gestellt (Kotsopoulos und Goerg 2018). Ferner wird das Pentagon in Abhängigkeit von sicherheitspolitischen Beweggründen auf selektive, aber einflussreiche Weise in Bezug auf Afrika aktiv. Es verfügt über eine eigene Afrikaabteilung (Office for African Affairs) und hat nach 2001 eine Versicherheitlichung und Militarisierung der Afrikapolitik vorangetrieben. Mit AFRICOM verschob sich die Balance der Afrikapolitik. War diese zuvor stark von Diplomaten und Entwicklungshelfern geprägt, spielt AFRICOM mit 6000 Soldaten und zusätzlichen Spezialkräften nun eine tragende Rolle. Dies gilt auch für das Budget, welches für Militärhilfe in Afrika vorgesehen ist und ab 2005 sprunghaft angestiegen ist (Allen 2018). Auf nichtstaatlicher Ebene nehmen Lobbygruppen in der Bundespolitik der USA eine einflussreiche Rolle ein und die Afrikapolitik ist keine Ausnahme. Im Gegensatz zu den auf Kontinuität ausgerichteten bürokratischen Institutionen, agieren Lobbys eher als disruptive Faktoren. Eine aktive Afrikapolitik wird von vielfältigen Interessensgruppen gefordert, von kirchlichen Gruppierungen über afroamerikanische Bewegungen bis zu Philanthropen wie Bill und Melinda Gates. Trotz unterschiedlicher Beweggründe und Aktivitäten eint sie die Ansicht, dass die USA eine moralische Verpflichtung haben, afrikanische Gesellschaften mit Entwicklungshilfe zu unterstützen. Hinsichtlich Lobbyismus sind spirituelle Gruppen besonders erfolgreich. Christliche Fundamentalisten wie die Pfingstgemeinde und andere evangelikale Sekten haben zwar die Afrikapolitik als Ganzes nicht mitbestimmt, aber sie haben zu einzelnen Ländern oder Themengebieten einflussreiche Positionen eingenommen (Huliaras 2008). Dies gilt vor allem bezüglich gewaltsamer Konflikte zwischen Christen und Muslimen sowie der Gesundheitspolitik in Bezug auf HIV/AIDS. So trugen evangelikale Gruppen durch Kampagnen und Lobbying dazu bei, dass sich die USA aktiv im Konflikt in Darfur einmischten. Darüber hinaus nehmen auch zahlreiche nichtstaatliche Akteure an der Implementierung der US-amerikanischen Afrikapolitik teil. USAID ist einer der Geber, der am meisten auf die Auftragsvergabe an nichtstaatliche Organisationen zurück-

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greift, womit einhergeht, dass zwei Drittel der Einkünfte US-amerikanischer nichtstaatlicher Entwicklungsorganisationen öffentlicher Herkunft sind (Banks et al. 2015). Religiöse Organisationen werden in der neuen Strategie besonders hervorgehoben, um als ausführende Partner an der Umsetzung teilzunehmen. Hiermit wird folglich kein neuer Akteur eingeführt, aber ein bisheriger aufgewertet und gestärkt (White House 2018). Ferner hat USAID aufgrund ihres Zugegenseins in Afrika eine enge Beziehung zu afrikanischen kirchlichen Organisationen, die sich auch in ideologischer Nähe niederschlägt (Pinkney 2009). Die Afrikapolitik der USA wird in der Regel parteiübergreifend behandelt (Rye Olsen 2017). Eine Politisierung findet in den beiden Kammern daher selten statt. Dies gilt auch für die jeweiligen Ausschüssen für Außenpolitik. Demokraten und Republikaner nutzen die Afrikapolitik nur selten für Auseinandersetzungen und wenn, dann meist im militärischen Kontext, wie in Bezug auf die Libyeneinsätze. Afrikapolitik ist in den USA ferner kein prominentes Wahlkampfthema. Zwar werden beispielsweise in den schwarzen Bürgerbewegungen Forderungen formuliert, aber grundsätzlich erhält dieses Thema wenig Öffentlichkeit. Auch der Black Caucus im Kongress fällt nur punktuell durch gezielte Initiativen auf, wie beispielsweise die humanitäre Kampagne in Darfur.

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Geopolitische Schwerpunkte der US Afrikapolitik

Unter dem Begriff Afrikapolitik werden von den USA verschiedene geografische Schwerpunkte zusammengefasst. Hierzu gehören kontinentale Ansätze, Kooperation mit ausgewählten Staaten und die Grenzziehung transnationaler und regionaler Räume, welche relevante Teile Afrikas einschließen. Die Knotenpunkte der USA auf dem afrikanischen Kontinent folgen der Logik strategischer, wirtschaftlicher und geopolitischer Interessen. Die Relevanz von traditionellen Ankerstaaten wie Südafrika, Nigeria, Kenia und Äthiopien nimmt hierbei ab, und die Aufmerksamkeit verschiebt sich in den Golf von Guinea, in die Sahel und ans Horn von Afrika. In diesen Räumen überlappen Erdölexporte in die USA, terroristische und kriminelle Gruppierungen, islamistische Bewegungen, Pandemien, eingeschränkte staatliche Kontrolle, demokratische Defizite, traditionelle US-Alliierte, maritime Handelswege und insbesondere am Horn die Präsenz der Volksrepublik China (Goldwyn und Morrison 2004). Traditionell wird Afrika aus Sicht der US-Politik als Raum südlich der Sahara verstanden (US Department of Defense 1995). Aufgrund sicherheitspolitischer Verschiebungen verschwimmt diese Abgrenzung zunehmend, nicht zuletzt weil islamistische Gruppierungen auf beiden Seiten der Sahel aktiv sind, sondern auch weil die AU einen institutionellen Rahmen für den ganzen Kontinent bietet. 2006 eröffneten die USA ihre diplomatische Vertretung bei der AU, die in der US-Botschaft in Äthiopien untergebracht ist. Vier Jahre später wurde der US-African Union High Level Dialogue eingeführt, der seitdem nahezu jährlich stattfand. Die Partnerschaft zwischen der AU und den USA wurde 2010 mit einem Unterstützungsvertrag weiter formalisiert (US State Department 2011). Der Vertretung bei der AU fehlen jedoch die notwendigen eigenständigen Ressourcen, um Strategien und Programmpläne für den gesamten

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Kontinent vorzuschlagen und umzusetzen (Williams 2015). Ebenso folgen die ab August 2014 abgehaltenen Gipfeltreffen der USA und Afrikas, das Netzwerk der Young African Leaders Initiative und AGOA bilateralen Mustern, wobei die AU oder andere regionale Organisationen nur eine begrenzte Rolle spielen. AFRICOM wiederum umfasst zwar den ganzen afrikanischen Kontinent mit Ausnahme der europäischen Überseegebiete und Ägyptens, welches weiterhin der Central Command (CENTCOM) zugeordnet ist. Allerdings wird die kontinentale Ausrichtung auch hier selten praktisch umgesetzt. Ein kohärenter, ganzheitlicher Ansatz für Afrika ist somit nur bedingt auszumachen. Bilaterale und regionale Beziehungen, welche auf die jeweiligen Interessen der USA zugeschnitten sind, dominieren das Feld. Die geografische Schwerpunktbildung innerhalb Afrikas folgt vornehmlich einer sicherheitspolitischen Wahrnehmung. Die Afrikastrategie der USA aus dem Jahr 2012 führte schwerpunktmäßig den bestehenden „Krieg gegen Terror weiter und dehnte die Militarisierung weiter aus. Dabei wurde trotz Ausdehnung der Militärpräsenz die Light Footprint Herangehensweise bestätigt, welche besagt, dass direkte Kampfeinsätze und die damit verbundene Wahrscheinlichkeit von Toten in den eigenen Reihen gering gehalten werden. Stattdessen werden afrikanische und internationale Truppen bei Einsätzen im Interesse der USA unterstützt. Dies findet durch Ausbildung, Finanzierung, Ausrüstung und Beratung statt, beispielsweise im Rahmen von Operation Flintlock, Operation Enduring Freedom oder der Mission der Afrikanischen Union in Somalia (AMISOM). Das Risiko von Truppenverlusten wird somit ausgelagert, ohne eine Einflussstellung aufzugeben. Gleichermaßen wird die Kapazität, eigenmächtig einzugreifen, ausgebaut, indem Luft- und Drohnenangriffe geflogen werden. Primäre strategische Hauptziele sind somit die Eindämmung von islamistischen Terrorgruppen mit gleichzeitigem Aufbau staatlicher Militärkapazitäten vor Ort. Folglich orientiert sich die Aufmerksamkeit der USA nach dem Wirkungsgebiet bewaffneter islamistischer Organisationen: Al-Shabaab in Ostafrika, Boko Haram in West- und Zentralafrika, Organisation al-Qaida des Islamischen Maghreb (AQIM) im Sahel und Ansar al-Sharia in Nordafrika (Hunt Friend und Wise 2018). Die dauerhafte Militärpräsenz der USA befindet sich daher vor allem in betroffenen Ländern oder benachbarten alliierten Staaten. Vorrang haben Länder, die entweder einen – tatsächlichen oder potenziellen – Zufluchtsort darstellen und/oder deren Regierungen sich als Alliierte im Kampf gegen islamistischen Terrorismus hervorheben. Der Militärbasis in Djibouti kommt hierbei eine zentrale Rolle zu, da ein Großteil der Logistik hier abgewickelt wird und die Lage es den USA ermöglicht, Einsätze in zwei überlappenden Regionen zu unterstützen: auf der arabischen Halbinsel und in Ostafrika. AFRICOM hat zudem in Libyen und Somalia das Mandat, eigenständig gezielte Tötungen mit Hilfe von Drohnen und Luftangriffen durchzuführen. Im Bereich Terrorismusbekämpfung wurden neben den erwähnten Einsätzen auch zahlreiche regionale Kooperationen aufgebaut, um als „schwarze Löcher“ wahrgenommen Räume im Sahel und Ostafrika zu kontrollieren: die Pan-Sahel Initiative (PSI, 2003), die East Africa Counter-Terrorism Initiative (EACTI, 2004), die African Contingency Operations Training and Assistance (ACOTA, 2004) und die Trans-Sahara Counter-Terrorism Initiative (TSCTI, 2005). Durch die Verteilung

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kleiner Stützpunkte ergibt sich ein breites Netzwerk, welches vor allem vorbeugend aktiv ist und dabei jenseits rein militärischer Aktion auf eine Verflechtung mit dem Außenministerium, USAID und den Geheimdiensten angewiesen ist. Und auch wenn unter Trump eine Abkehr von multilateralen Strukturen wie den Friedensmissionen der UN stattfindet, werden zugeschnittene regionale Organisationen wie die G5 Sahel als Sicherheitspartner hervorgehoben (Nagy 2018). Regionen bestehen für die USA in Afrika folglich in erster Linie als Verdichtungsräume wahrgenommener Instabilität. Die zeitliche und territoriale Überlappung von transnationalen Bedrohungsfaktoren für die USA – bspw. schwache Zentralregierungen, islamistische Terrorismusaktivitäten, Schwarzmärkte für Waffen und Drogen – fügt sich zu einer Kartografie zusammen, die Kern- und Randgebiete enthält und in Konkurrenz zu anderen Raumformaten steht (Middell 2018). Der Kampf gegen islamistische Terroristen ist somit zu einem Paradigma geworden, welches über direkte nationale Interessen hinausgeht. Denn auch wenn beispielsweise von Al-Kaida in Mali nur eine begrenzte unmittelbare Gefahr im Sinne eines Angriffs auf das Territorium der USA ausgeht, so ist es die Möglichkeit eines Landes, in welchem islamische Terroristen ungestört walten können, von der Gefahr ausgeht (Rye Olsen 2017). Die geographischen Schwerpunkte sind somit weniger topografisch begründet, sondern beruhen vielmehr auf einer Verräumlichung von Randgebieten nationalstaatlicher Kontrolle (Mattheis et al. 2019). Es handelt sich um Teile Afrikas, die einerseits nicht der engen Sichtweise nationalstaatlich geprägter Ordnung entsprechen und andererseits eine Ausdehnung islamistischer, antiamerikanischer Organisationen erfahren (US Africa Command 2019). In dieser Sichtweise spiegelt sich eine gewisse Faszination für Gebiete wider, die den Anschein erwecken, ein zivilisatorisches Vakuum zu bilden, in dem keine Regeln, sondern nur Anarchie herrschen (Metelits 2016). Jenseits des „Kriegs gegen Terror“ bestehen noch weitere geografische Schwerpunkte: auf wirtschaftlicher Ebene insbesondere der Energiebereich. So rangiert Afrika mit mehr als einem Fünftel der US-Erdölimporte noch vor dem Nahen Osten. Neben den traditionellen Erdölexporteuren Algerien, Angola, Libyen und Nigeria beherbergen auch der Sudan und Zentralafrika relevante Reserven. Seit der innenpolitischen Transition im Jahr 1998 ist Nigeria zu einem strategischen Partner in der Energiestrategie der USA geworden. Ferner werden bestimmte Länder oder Regionen zeitweise prioritär behandelt, wenn ein klar umrissenes Interessensfeld abgedeckt wird. Die USA hatten sich beispielsweise unter Bush Junior und Obama aus humanitären Gründen und aufgrund innenpolitischer Aufmerksamkeit gezielt in den Darfurkonflikt eingebracht und waren einer der zentralen Unterstützer der Unabhängigkeit Südsudans.

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Fazit

Auch wenn die Afrikapolitik der USA einige ihrer Ziele verwirklicht hat, so lassen sich viele Ergebnisse in Frage stellen. Auf militärischer Ebene war der Light Footprint Ansatz zwischen 1993 und 2017 insoweit erfolgreich, als dass in Afrika

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keine Soldaten während Kampfeseinsätzen starben. Seitdem sind wieder vereinzelt Tote bei Kommandos in Somalia und Niger zu verzeichnen, aber diese blieben sowohl in Anzahl als auch in Öffentlichkeitswirkung deutlich hinter denen des Somaliatraumas zurück. Hinsichtlich der Frage, ob die Afrikapolitik der USA tatsächlich zu den selbstgestreckten Zielen von Sicherheit und Stabilität auf dem Kontinent beiträgt, gehen die Bewertungen auseinander. Eine andauernde flächendeckende Gebietskontrolle von bewaffneten islamistischen Gruppen wurde vielerorts verhindert. Allerdings haben islamistische Anschläge und die Anzahl von Toten in bewaffneten Konflikten in Afrika seit Gründung von AFRICOM deutlich zugenommen (Allen 2018). Die starke Vereinfachung von zentralen Begriffen wie Sicherheit, nationalen Interessen und afrikanischen Akteuren sowie der staatszentrische Fokus führt insgesamt zu einer Afrikapolitik, die widersprüchlich verläuft und relevante Akteure ausblendet, als passive Opfer betrachtet oder per se als Bedrohung wahrnimmt (Metelits 2016). Ähnlich wie im Kalten Krieg, als Diktatoren im Ausgleich für ihren Kampf gegen Kommunismus gefördert wurden, entspricht die Höhe der Militärhilfe seit dem Beginn von AFRICOM vorwiegend der Relevanz ihrer Empfänger für den „Krieg gegen Terror“ und weniger demokratischen Standards. „Schwache“ und „gescheiterte“ Staaten sollen mit Hilfe der USA die Kontrolle über ihre Territorien von transnationalen islamistischen Akteuren zurückgewinnen. Dies erhöht die Gefahr von Veruntreuung, Menschenrechtsverletzungen und Oppositionsgängelung durch Regierungen und deren Sicherheitskräfte. Afrikanische Regierungen haben Militärhilfe genutzt, um parallele Strukturen aufzubauen, welche direkt an den Präsidenten gebunden sind und die Autorität und Ausstattung der Armee untergraben (Reno 2004). Staatliche Repression und Korruption wiederum sind eine der Triebfedern für die Rekrutierung islamistischer Kämpfer (UNDP 2017). Darüber hinaus wird Militärhilfe auch direkt gegen die USA gewandt, bspw. durch den Verkauf von Material an islamistische Gruppen oder das Überlaufen ausgebildeter Soldaten. Die Interessen von afrikanischen Regierungen und den USA überlappen teilweise, bspw. wenn islamistische Gruppen als eine Bedrohung sowohl für afrikanische Regierungen als auch das US-amerikanische Sicherheitsempfinden darstellen. Es geht aber tatsächlich weniger darum, afrikanische Staaten gegen von ihnen wahrgenommenen Bedrohungen zu unterstützen, sondern mit afrikanischen Staaten gegen von den USA wahrgenommene Bedrohungen auf deren Territorien. Auch in der Wirtschaftspolitik wird durch einen bilateralen, selektiven Ansatz übergangen, dass sich die meisten afrikanischen Länder auf einen kontinentalen Ansatz mit einer Freihandelszone verständigt haben (Mattheis und Staeger 2019). Die Afrikapolitik USA ist somit weiterhin von einer Variante imperialer Denkweise geprägt, welche afrikanische Akteure als Verursacher von Armut, Unterdrückung und Zerstörung darstellt und sich selbst zum Garanten von Frieden und Wohlstand mit Legitimation zum Eingreifen erhebt (Berman 2004). Jenseits von bisherigen Erfolgen und Schwächen stellt sich zudem die Frage, inwiefern Trump eine neue Afrikapolitik eingeleitet hat. Drastische Kehrtwenden wurden bisher selten von Amtswechseln bestimmt, sondern von Reaktionen auf einschneidende Geschehnisse, wie der Hubschrauberabschuss 1993 oder der 11.

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September. So hat auch Trump die Afrikapolitik nicht von Grund auf verändert, sondern bestehende Politikfelder neu bewertet. Gleichwohl fällt die Neubewertung drastischer aus als bei vergangenen Amtswechseln und fügt sich dem übergeordneten „Zuerst die USA“ Dogma. Nationale Interessen werden unmissverständlich als monetäre Rentabilität, Importreduzierung, Waffenhandel und Allianzen gegen islamistischen Terrorismus gedeutet. Humanitäre und Entwicklungshilfe sollen zwar nicht ganz abgeschafft werden, aber nur noch dann eingesetzt werden, wenn eng definierte Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen bedient werden. Zwar wird weiterhin auf demokratische Werte verwiesen, allerdings ist hiermit vorwiegend der performative Charakter im Sinne von organisierten Wahlen gemeint, welche durchaus mit autoritären und korrupten Regierungen vereinbar sind. Auch die militärische Präsenz in Afrika nimmt ab und konzentriert sich deutlich auf Länder, in denen fortlaufend Kampfeinsätze stattfinden, insbesondere Somalia und Libyen (US Africa Command 2019). Mit Blick auf die nächsten Präsidentschaftswahlen im Jahr 2020 ist festzuhalten, dass Afrika keine wesentliche Rolle spielen dürfte – es sei denn, die USA nehmen an einem neuen Krieg auf dem Kontinent teil oder es gibt einen Zwischenfall mit zahlreichen toten US-Soldaten. Folglich ist bis dahin weiterhin kein Staatsbesuch von Trump in Afrika zu erwarten. Bis auf wenige Ausnahmen wie Ägypten werden afrikanische Länder als zu nebensächlich und machtlos gesehen, um eine enge Kooperation zu erfordern bzw. um eine bedrohliche Gegnerschaft darzustellen. Trotz wiederholt rassistischer und abfälliger Bemerkungen von Trump erkennen die meisten afrikanische Regierungen die USA als Weltmacht an und verfolgen enge – wenn auch zunehmend transaktionelle – Beziehungen. Aus Sicht von Trump können sich die USA folglich nicht nur eine zweitrangige Afrikapolitik erlauben – eine Aufwertung käme einem ineffizienten Einsatz von Ressourcen und Aufmerksamkeit gleich.

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Make America Great Again Trump und die These vom Niedergang der USA Simon Koschut

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Perspektiven zum American Decline . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Outside-in: Strukturelle Veränderungen im internationalen System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Inside-Out: Die Machtbasis der USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fazit: Bedeutungsverlust oder -wandel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Frage, ob die Außenpolitik der USA auf internationaler Ebene an Bedeutung verliert. Der vermeintliche American Decline wird dabei aus einer Struktur- und einer Akteursperspektive erläutert, die einerseits die strukturellen Veränderungen im internationalen System (outside-in) sowie andererseits die gegenwärtige Machtgrundlage der USA als Akteur (inside-out) in den Blick nehmen. Es wird argumentiert, dass die sich wandelnde Position der USA eher eine Anpassung an veränderte innen- und außenpolitische Wahrnehmungen und Realitäten darstellt als einen Niedergang. Schlüsselwörter

US-Außenpolitik · American Decline · Internationale Sicherheit · Machtgrundlagen der USA · Trump

S. Koschut (*) Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2_35

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Einleitung

In seiner Antrittsrede als 45. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika zeichnete Donald Trump ein düsteres Bild von der aktuellen Rolle Amerikas in der Welt. In seinen Augen haben die USA international an Macht eingebüßt und werden nicht mehr respektiert, wobei er allein das Land wieder „großartig“ machen könnte: „For many decades, we’ve enriched foreign industry at the expense of American industry; Subsidized the armies of other countries while allowing for the very sad depletion of our military; We’ve defended other nation’s borders while refusing to defend our own; And spent trillions of dollars overseas while America’s infrastructure has fallen into disrepair and decay. We’ve made other countries rich while the wealth, strength, and confidence of our country has disappeared over the horizon. (. . .) Together, we will make America great again“ (The White House 2019). Der Wahlsieg Trumps 2016 basierte nicht zufällig auf einer Wahlkampfplattform des US-amerikanischen Niedergangs. Amerika ist gegenwärtig alles andere als außergewöhnlich, unverzichtbar oder großartig. Der Aufstieg Chinas und das Bröckeln der liberalen Weltordnung lassen die USA eher als ein Imperium im Niedergang erscheinen. Die These vom American Decline spiegelt sich auch in Umfragen in der US-amerikanischen Öffentlichkeit wider. Im Vorfeld des Präsidentschaftswahlkampfs 2016 gab sich zum ersten Mal seit Beginn der Umfrage des Pew Research Centers eine Mehrheit der Befragten überzeugt davon, dass die USA an Macht und Einfluss in der Welt eingebüßt haben. Bei Experten bleibt hingegen umstritten, ob sich der US-amerikanische Hegemon tatsächlich im Niedergang befindet (vgl. etwa Joffe 2014; Layne 2012; Wohlforth und Brooks 2008; Ikenberry 2011; Cohen 2019; Zakaria 2019). Diese Debatte ist keineswegs neu. Bereits Ende der 1960er-Jahre, als Vietnamkrieg und Bürgerrechtsbewegung das US-amerikanische Selbstbewusstsein der Nachkriegszeit zunehmend infrage stellten, kamen Zweifel an der internationalen Dominanz der USA auf. Mit der Schwächung des Dollars und der wachsenden wirtschaftlichen Bedeutung Japans und Westeuropas gewann diese Debatte weiter an Fahrt und erreichte einen ersten Höhepunkt in den 1980er-Jahren. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion schien die Auseinandersetzung über den außenpolitischen Niedergang angesichts der neuen Stellung der USA als „unipolare Weltmacht“ zunächst beendet zu sein. Im Zuge des Irakkrieges 2003, des wachsenden militärischen und wirtschaftlichen Gewichts Chinas und anderer aufstrebender Wirtschaftsnationen sowie im Kontext der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 flammte diese Debatte jedoch wieder auf. Wenn die Kontroverse um den American Decline also schon länger existiert, stellt sich die Frage, ob die gegenwärtige Debatte (vgl. etwa Joffe 2014; Kupchan 2012; Layne 2012) eine neuartige Qualität und Dynamik besitzt, die es tatsächlich rechtfertigen würde, von einem Niedergang (decline) der Weltmacht zu sprechen, oder ob die USA ihre Vorrangstellung (primacy) beibehalten werden. Zur Beantwortung dieser Frage ist der vorliegende Beitrag in drei Teile unterteilt. Im ersten Teil werde ich mithilfe einer knappen Zusammenfassung der bisherigen Debatten zum American Decline die groben Argumentationslinien sowie die historische Redundanz der

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dabei verwendeten Argumentationsmuster darstellen. Ausgehend von dieser Darstellung analysiere ich in einem zweiten Teil die gegenwärtige Machtposition der USA aus zwei unterschiedlichen Perspektiven. Zunächst richte ich den Blick von außen nach innen (outside-in) und beleuchte die Konsequenzen gegenwärtiger struktureller Veränderungen im internationalen System für die Machtposition der USA. Danach richte ich den Blick von innen nach außen (inside-out), indem ich empirisch die aktuellen akteursspezifischen materiellen und immateriellen Machtressourcen der USA analysiere und diese wiederum in den internationalen Kontext einordne. Abschließend folgt ein kurzes Fazit, das den vermeintlichen Niedergang der USA als einen Anpassungsprozess an veränderte innen- und außenpolitische Wahrnehmungen und Realitäten interpretiert.

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Perspektiven zum American Decline

Die Auseinandersetzung um einen möglichen American Decline erfuhr mit der Niederlage der USA im Vietnamkrieg eine erste historische Zuspitzung.1 Zu diesem Zeitpunkt warnte kein Geringerer als der damalige offizielle Berater für Außen- und Sicherheitspolitik (National Security Advisor) Henry Kissinger davor, dass sich die USA auf strukturelle Transformationen im internationalen System einstellen müssten, die langfristig zur Schwächung Amerikas in der Welt führen würden (Kissinger 1969). Damit bezog sich Kissinger zum einen auf das wachsende wirtschaftliche Gewicht Westeuropas und Japans und zum anderen auf den Dekolonisationsprozess, der nicht nur das Machtgleichgewicht unter den beiden Supermächten, sondern auch die globalen Machtverhältnisse insgesamt verschob. Schon zuvor hatte auch der damalige US-amerikanische Präsidentschaftskandidat John F. Kennedy (1960) in einer seiner Wahlkampfreden vor einem Niedergang Amerikas in der Welt gewarnt: „American strength relative to that of the Soviet Union has been slipping, and communism has been advancing steadily in every area of the world“. Wenige Jahre später schien sich diese Prophezeiung vom ‚post-hegemonialen Zeitalter‘ in der Tat zu bewahrheiten. In Folge steigender Staatsausgaben aufgrund des Vietnamkriegs und der Sozialprogramme der Great Society einerseits sowie sinkender Staatseinnahmen andererseits kündigte die Nixon-Administration einseitig den Goldstandard auf. Damit führten die USA das Bretton-Woods-System, das die US-amerikanische Wirtschaftsdominanz der vorherigen zwei Dekaden nicht nur symbolisiert, sondern auch institutionell gefestigt hatte, zum Zusammenbruch (Brandon 1974; Hoffmann 1979). Einen weiteren Höhepunkt erreichte die Kontroverse gegen Ende der 1980er-Jahre unter der Reagan-Administration. Deren angebotsorientierte Wirtschaftspolitik (Reaganomics), gepaart mit einer massiven militärischen Aufrüstung, hatte zu diesem 1

Manche Kommentatoren datieren den Beginn auch früher und belegen dies mit dem sogenannten Sputnik-Schock und der Verfolgung vermeintlicher und tatsächlicher Kommunisten während der McCarthy Ära in den 1950er-Jahren (z. B. Joffe 2014).

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Zeitpunkt das durchschnittliche Haushaltsdefizit von 59,9 Milliarden US-Dollar (USD) während der Carter-Administration auf 237,5 Milliarden USD ansteigen lassen. In diesem Zeitraum erschien auch der vom Historiker Paul Kennedy (1987) verfasste und wohl meistgelesene Beitrag zur Debatte um den American Decline. Dieser argumentierte in seinem Buch The Rise and Fall of Great Powers anhand von historischen Vergleichen mit den spanischen, französischen und britischen Kolonialreichen, dass Imperien im internationalen System nur eine zeitlich begrenzte Überlebensdauer hätten – und lieferte damit das intellektuelle Unterfutter für die damals äußerst populäre These vom Niedergang der USA. Diese These wurde auch von anderen US-Wissenschaftlern wie David Calleo (1982) und James Chace (1981) vertreten, die den Aufstieg Japans zur ökonomischen Supermacht prophezeiten. Anders als jenen Autoren gelang es Kennedy, mit seiner sehr eingängigen und historisch fundierten Studie ein Massenpublikum zu erreichen. Doch auch seine Argumente blieben nicht unumstritten. Kritiker wie die Politikwissenschaftler Joseph Nye (1990); Richard Haas (1988); Henry Nau (1990) und Samuel Huntington (1988) stellten nicht nur die Interpretation der Daten und Fakten der sogenannten „declinists“ in Frage, sondern bestritten zudem vehement, dass sich die exzeptionelle Position der USA im internationalen System mit der früherer Imperien vergleichen ließe. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Wirtschaftskrise in Japan 1991 endete diese Debatte abrupt. Plötzlich war nun vom „unipolaren Moment“ und von der „unipolaren Ära“ (Krauthammer 1991) die Rede, während andere sogar das „Ende der Geschichte“ beschworen (Fukuyama 1989). Nur einige wenige AutorInnen – deren Stimmen jedoch in dieser Zeit kaum Gehör fanden – argumentierten dagegen, dass dieser unipolare Moment lediglich den Übergang von einer bipolaren hin zu einer multipolaren Weltordnung darstellte (Layne 1993; Waltz 1994; Mearsheimer 2001). Allerdings waren sich diese AutorInnen (von denen die meisten eine sogenannte neorealistische Sichtweise vertraten) untereinander nicht einig darüber, was letztlich zum Niedergang der USA führen sollte. Bis zu seinem Tod im Mai 2013 sah Waltz im Sinne eines defensiven Realismus Machtüberdehnung (imperial overstretch) als Erklärungsansatz für den American Decline. Layne und Mearsheimer betrachten dagegen den relativen Machtverlust der USA gegenüber Staaten wie China als Hauptursache. Tatsächlich schien es für die meisten Kommentatoren in öffentlichen und akademischen Diskursen jedoch angesichts des anhaltenden Wirtschaftswachstums in den 1990er-Jahren so, als könnten die USA als alleinige Supermacht auch das 21. Jahrhundert zu einem „amerikanischen Jahrhundert“ machen. Allein die Vorstellung eines Niedergangs der Vereinigten Staaten erschien vielen angesichts von NATOErweiterung und Balkankonflikt geradezu abwegig (z. B. Cox 2007, S. 647). Das Selbstbewusstsein in der US-amerikanischen Gesellschaft nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hielt zunächst auch noch über die Anschläge des 11. September 2001 hinweg an, als sich US-amerikanische Überlegenheit und Macht anhand der raschen militärischen Erfolge im Irak und Afghanistan anfangs noch zu bestätigen schienen.

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Erst die instabilen Nachkriegsordnungen im Irak und in Afghanistan, die Misshandlung und Folter von Gefangenen durch US-amerikanische Geheimdienste und Militärs sowie die globale Wirtschafts- und Finanzkrise führten zu einer Neubelebung der American Decline-Debatte, die sich nun vor allem auf das Fiasko der USA im Irak und den Aufstieg Chinas konzentrierte (Kupchan 2002; Mann 2003; Johnson 2004; Layne 2006; Wallerstein 2003; Todd 2004; Khanna 2009). Angesichts dieser Entwicklung fühlen sich inzwischen manche „declinists“ der frühen 1990er-Jahre nachträglich in ihrem Urteil bestätigt (Layne 2012, S. 412). Erneut argumentieren zahlreiche Autoren, dass der sogenannte „rise of the rest“ ein postamerikanisches Zeitalter einläuten würde, welches sich künftig aus mehreren Machtpolen zusammensetzen würde (Kupchan 2002, 2012; Zakaria 2008). Kupchan und Zakaria sehen die USA als „guten“ Hegemon, der liberale Werte und Prinzipien wie Demokratie, Freihandel und internationale Institutionen fördert und so nicht nur das eigene Überleben sichert, sondern gleichzeitig eine friedliche und prosperierende Weltordnung (Pax Americana) schafft. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass der Niedergang der USA sich nach dieser liberalen Lesart maßgeblich aus deren Unfähigkeit bzw. Unwillen ergibt, globale Regeln und multilaterale Kooperation zu implementieren. Die Hegemonialstellung der USA beruht demnach im Wesentlichen darauf, dass andere Staaten die damit verbundenen Werte und Prinzipien als legitim ansehen. Zerfällt dieser Legitimationsanspruch erodiert damit auch die Machtstellung der USA (vgl. hierzu auch Keohane 1984; Ikenberry 2000, 2011). Der Gedanke einer multipolaren Weltordnung wurde auch vom Global Trends Report 2025 genährt, ein öffentlich zugänglicher Bericht der US-amerikanischen Geheimdienste, der 2008 vom US National Intelligence Council (2008) herausgegeben wurde. In diesem Bericht ist bereits auf der ersten Seite von einer „multipolar future, and (. . .) dramatic changes in the international system“ die Rede. Doch auch gegenwärtig gibt es Kritiker, die – entgegen der Annahme einer multipolaren Weltordnung – vom Fortbestehen der US-amerikanischen Vormachtstellung überzeugt sind (z. B. Wohlforth und Brooks 2008). Nicht zuletzt die Obama-Administration wurde nicht müde zu betonen, dass die Beständigkeit US-amerikanischer Führungsstärke in der Welt einen „new American moment“ einläuten wird (Kessler 2010). Insgesamt lässt sich aus diesem kurz skizzierten Überblick ein wiederkehrendes Muster ableiten. So gleichen sich die wesentlichen Argumente und Positionen in der Kontroverse um den American Decline über die Jahrzehnte in ihrem Inhalt weitgehend. Überspitzt formuliert könnte man sagen, dass die eine Seite hinter jeder vermeintlichen oder tatsächlichen Machtverschiebung und wirtschaftlichen Krise im internationalen System den Niedergang der USA (decline) vermutet, während die andere Seite dagegen gebetsmühlenartig die historisch einzigartige Stellung der USA im internationalen System (primacy) betont. Dabei werden oft lediglich die entsprechenden Gegenspieler auf globaler Ebene ausgewechselt. Wie ist vor diesem Hintergrund einer in sich widersprüchlichen Debatte die gegenwärtige These vom American Decline tatsächlich einzuordnen?

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Outside-in: Strukturelle Veränderungen im internationalen System

In diesem Abschnitt richte ich den analytischen Blickwinkel von außen nach innen (outside-in) und beleuchte die Bedeutung gegenwärtiger struktureller Veränderungen im internationalen System für die außenpolitische Machtposition der USA. Die liberal-demokratische Ordnung steht weltweit von innen und von außen unter Druck. Zudem ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Bedeutung asymmetrischer Konfliktformen, nicht staatlicher Akteure sowie nichtmilitärischer Risiken deutlich gestiegen. Man könnte für den eingegrenzten Bereich der Sicherheitspolitik auch den Begriff der Sicherheitsglobalisierung verwenden, der eine Zunahme der Anzahl und Arten von Akteuren und Konfliktformen ausdrückt (Kay 2004, S. 11). Insbesondere nicht staatliche Akteure und asymmetrische Konflikte üben vermehrt Einfluss auf die globale Sicherheitsagenda aus. Zudem kam es zu einer Ausweitung der Krisenherde. Sicherheitsrisiken wie der internationale Terrorismus, die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, international organisierte Kriminalität, Pandemien und Seuchen, Umweltverschmutzung und Klimawandel, der Zusammenbruch bzw. die Gefährdung wichtiger Transport- und Kommunikationswege, der Zerfall staatlicher Strukturen, soziale Ungleichheiten, Ressourcenkonflikte oder Migration heben die traditionell eng definierten Prämissen der Sicherheitspolitik auf. Dies hat zwangsläufig Folgen für die USA. Mögliche Schäden und Kosten verlieren mitunter ihre räumliche und zeitliche Zuordnung, da Sicherheitsrisiken zwar global präsent sind, sich jedoch nicht immer klar bestimmbaren Verantwortlichen zuschreiben lassen. Damit existiert nicht nur wenig Spielraum für eine Rückversicherung im Falle eines Schadeneintritts. Auch die mitunter unklare räumliche und zeitliche Zuordnung erschwert es für die USA, Sicherheitsrisiken mit militärischen Mitteln zu begegnen (Daase 2002). Schließlich sind auch die klassischen sicherheitspolitischen Bedrohungen in Form von zwischenstaatlichen Konflikten in Osteuropa, in Georgien, in Kaschmir und im Südchinesischen Meer zurückgekehrt. Zweitens sind die USA auf globaler Ebene zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht schon lange nicht mehr „the only game in town“. Nach Berechnungen der Investmentbank wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) von Brasilien, China, Indien und Russland in den kommenden zwei Jahrzehnten mit der Wirtschaftsleistung der G-7 Staaten gleichziehen. Allein Chinas Bruttoinlandsprodukt soll sich bereits 2014 bis auf drei Prozentpunkte dem US-amerikanischen BIP annähern (IWF). Im Jahr 2010 überholte China die USA als weltweit führendes Fertigungsland – eine Position, die die USA bis zu diesem Zeitpunkt über fünfzig Jahre innehatten. Nach Prognosen von Wirtschaftsinstitutionen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der Investmentbank PriceWaterhouseCoopers und dem Wochenmagazin The Economist wird China bereits zum Ende der laufenden Dekade zur weltweit größten Wirtschaftsnation (gemessen am BIP) aufsteigen.2 Diese wirtschaftlichen Machtverschiebungen

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Aus historischer Sicht ist dieser Aufstieg jedoch mehr eine Rückkehr, denn um 1700 waren China und Indien bereits die größten Ökonomien der Welt (Layne 2012, S. 413).

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haben auch sicherheitspolitische Auswirkungen. Bereits jetzt geben die asiatischen Staaten mehr für ihre Verteidigung aus als die Länder der Europäischen Union. Die gegenwärtige Ausdifferenzierung und Diffusion des internationalen Systems durch den (Wieder-)aufstieg einiger Akteure (insbesondere im asiatisch-pazifischen Raum) stellt nicht allein eine materielle Machtverschiebung dar, sondern geht ebenso einher mit einer Neudefinition bzw. Infragestellung bestehender Identitäten und der globalen Ordnung: „In fact, rising powers appear to be following a third way: entering the Western order but doing so on their own terms – thus reshaping the system itself“ (Zakaria 2008, S. 36). Damit wird auch die einzigartige Machtstellung der USA im internationalen System in Frage gestellt. Drittens haben die Kosten der Kriege im Irak und Afghanistan aber auch in Syrien sowie die Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise den finanziellen Handlungsspielraum der US-amerikanischen Außenpolitik stark eingeengt. Die immense Staatsverschuldung hat zudem Zweifel an der Zahlungsfähigkeit der USA genährt. Dies ist hochproblematisch angesichts der Tatsache, dass die USA die gegenwärtig nach wie vor beträchtliche Ausgabenpolitik nur mithilfe einer hohen Auslandsverschuldung finanzieren können. Während andere Staaten eher gezwungen sind, zwischen den Ausgaben für Sicherheit (guns) und Wohlstand (butter) sorgfältig abzuwägen, können die USA aufgrund der Rolle des Dollars als Leitwährung im internationalen Finanz- und Handelssystem hohe Ausgaben auf beiden Feldern finanzieren. Angesichts eines Haushaltsdefizits von knapp einer Billion USD steht diese Sonderstellung der USA möglicherweise künftig zur Disposition. So prognostiziert die Weltbank (2011), dass der Dollar seine Funktion als Leitwährung bis 2025 verlieren könnte. Die Fiskalkrise und der government shutdown 2018/19 haben das Vertrauen in den Dollar als Leitwährung weiter erschüttert. Daher warnte der ehemalige US-amerikanische Verteidigungsminister Chuck Hagel: „Those who want to say that America is on the back side of history and the days of power and glory are gone – this plays right into their hands, because this sends a message that we can’t even govern ourselves“ (zitiert in: Shanker 2013). Unter der Obama Administration hatte die Wirtschafts- und Finanzkrise zu massiven Einsparungen im Militärhaushalt der USA geführt. Die damaligen Vorgaben sahen Einsparungen in Höhe von bis zu einer halben Billion USD vor (Cloud 2012). Dadurch würden die USA zum ersten Mal seit Jahrzehnten nicht länger in der strategisch günstigen Position sein, zwei regionale Kriege gleichzeitig führen zu können. Zudem müssten immer mehr Militärbasen im Ausland geschlossen werden, was die globale Militärpräsenz der USA mittel- bis langfristig spürbar verringern wird. Dadurch wären die USA weniger in der Lage, in regionale Konflikte einzugreifen, während andere Regionalmächte wie China, Indien und Russland dieses Machtvakuum möglicherweise füllen könnten (Kirshner 2008; Layne 2012). Um diesem Szenario entgegenzuwirken hat die Trump Administration eine deutliche Erhöhung des Verteidigungshaushalts beschlossen. Die USA sehen sich demnach mit drei zentralen globalen Veränderungen konfrontiert. Erstens hat sich trotz der gesunkenen Anzahl bewaffneter Konflikte seit dem Ende des Ost-West-Konflikts die gefühlte Unsicherheit in den Bevölkerungen Europas und Nordamerikas vor allem aufgrund transnationaler Bedrohungen und Risiken erhöht (Kaldor 2007). Zweitens impliziert der wirtschaftliche Aufstieg von

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Staaten wie China und Indien eine Verschiebung bzw. Aufteilung des globalen Machtzentrums sowie eine Infragestellung bestehender globaler Hierarchien und Identitäten. Drittens haben die Kriege des vergangenen Jahrzehnts sowie die Wirtschafts- und Finanzkrise zu Sparzwängen und Haushaltskonsolidierungsprogrammen geführt, die zum Teil drastische Einschnitte im nationalen Verteidigungshaushalt zur Folge hatten. Aus dieser Perspektive heraus erscheint die These vom Niedergang der USA einerseits durchaus plausibel. Andererseits spiegeln strukturelle Veränderungen im internationalen System nur eine Seite der außenpolitischen Macht der USA wider.

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Inside-Out: Die Machtbasis der USA

Die USA sind nicht Spielball struktureller Veränderungen im internationalen System, sondern verfügen über eigenständige, innere Machtressourcen. In diesem Abschnitt richte ich den Blick daher von innen nach außen (inside-out), indem die außenpolitische Machtbasis der USA in den Fokus der Analyse rückt und anschließend in den internationalen Kontext eingeordnet wird. Außenpolitische Macht speist sich nicht nur aus sogenannter harter Macht (hard power) sondern ebenso aus immateriellen Quellen sogenannter weicher Macht (soft power) (Bühl 1978; Nye 2004). Harte Macht beinhaltet neben der Machtausübung über Belohnung, Bestechung, Aufmerksamkeit, Lob oder Zuwendung (inducement) ebenso die Machtausübung über Androhung oder Ausübung von Gewalt, Bestrafung, Degradierung oder Zurückhaltung von Belohnung (coercion) (Nye 2004). In der internationalen Politik beruht harte Macht im Wesentlichen auf materiellen Ressourcen wie militärischen Fähigkeiten und ökonomischem Potenzial. Diese lassen sich wiederum anhand von Indikatoren wie der Anzahl nuklearer Sprengköpfe, Trägersystemen, Panzerdivisionen, Streitkräften oder Flugzeugträgern bzw. dem nationalen Anteil am globalen Bruttoinlandsprodukt, Exportdaten, Staatsanleihen, Handelsbilanz oder Währungsstabilität ablesen (Koschut 2012a). Die angestrebten Verteidigungsausgaben der USA betragen für das Jahr 2019 716 Milliarden USD (Die Zeit 2018). Damit geben die USA mehr für das Militär aus als die Verteidigungshaushalte der nachfolgenden zehn Länder zusammengenommen (vgl. Abb. 1). 2012 war zunächst eine Trendwende zu erkennen, denn die USA hatten ihre Ausgaben für Rüstungsgüter im Zuge von innenpolitischen Sparzwängen um 6 % gekürzt. Erstmals seit dem Ende des Ost-West-Konflikts machte der US-Verteidigungshaushalt damit weniger als 40 % der weltweiten Rüstungsausgaben aus. Unter Donald Trump soll der Wehretat allerdings wieder deutlich steigen, denn genau das hatte der Präsident seinen Wählerinnen und Wählern versprochen. Eine ähnliche Entwicklung ist aufgrund des US-amerikanischen Drucks in den europäischen NATO-Mitgliedstaaten zu erkennen. Gleichzeitig investieren auch andere Staaten wie China und Saudi-Arabien massiv in den Erwerb von Rüstungsgütern, was die weltweiten Rüstungsausgaben 2018 insgesamt erneut ansteigen ließ (SIPRI 2019).

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Abb. 1 Weltweite Militärausgaben 2018. (Quelle: SIPRI 2019)

Es erscheint angesichts dieser aktuellen Trendwende daher etwas verfrüht, aus der unter der Obama Administration veränderten Ausgabenpolitik bereits Rückschlüsse auf den Niedergang der US-amerikanischen militärischen hard power zu ziehen. Die Dominanz des US-amerikanischen Militärs basiert zudem weniger auf einem rein quantitativen Vorsprung in Form von Rüstungsausgaben, Stückzahlen und Personal als vielmehr auf der qualitativen Überlegenheit seiner Militärtechnologie. So verfügen die USA als einziges Land über eine weltweit einsatzbereite bemannte und unbemannte Luftwaffe, die mithilfe von Flugzeugträgern, bestückt mit Hochleistungsmunition und unterstützt durch Atom-U-Boote hochflexibel und mobil ist. Daneben verfügen die USA über tausende von Atomsprengköpfen und die dazugehörigen Trägersysteme, die binnen Minuten sämtliche Teile des Globus erreichen können (Posen 2003). Andererseits werden die meisten Konflikte nicht länger zwischen Staaten ausgetragen. Nichtstaatliche Akteure wie der sogenannte Islamische Staat aber auch transnational agierende Drogenkartelle in Lateinamerika zeigen die Grenzen der militärischen Überlegenheit der USA auf. Auch beim Postkonfliktmanagement zur Stabilisierung und Befriedung innerstaatlicher Konflikte wie im Irak und in Afgha-

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nistan weisen die USA eklatante Defizite auf. Im sicherheitspolitischen Bereich führt daher möglicherweise weniger die massive Aufrüstung von Staaten wie China, Indien oder Saudi Arabien, sondern vielmehr die negativen Erfahrungen der USA in asymmetrischen Konflikten mit nicht staatlichen Akteuren zur Infragestellung der US-amerikanischen Vormachtstellung. Ein entscheidender Faktor ist dabei die Frage, inwieweit die USA angesichts der Kriege der vergangenen Jahrzehnte und des gegenwärtigen Haushaltsdefizits auch künftig in der Lage sein werden, die notwendige innenpolitische Unterstützung und materiellen Ressourcen für die militärische Machtprojektion in der Welt langfristig zu sichern. Auf dem Feld der Wirtschafts- und Handelspolitik befinden sich dagegen einige Akteure bereits seit langem auf Augenhöhe mit den USA. Die US-amerikanische wirtschaftliche Dominanz wurde bereits Ende der 1960er-Jahre mit dem ökonomischen (Wieder-)aufstieg Westeuropas und Japans gebrochen und derzeit sind es Staaten wie Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika (BRICS), die mit ihrem zum Teil rasanten Wirtschaftswachstum die ökonomische Machtbalance verändern. In den künftigen Dekaden wird diese Machtumverteilung sich voraussichtlich noch weiter ausdifferenzieren. So soll bereits 2030 der Anteil Chinas am globalen Bruttoinlandsprodukt zum größten weltweit avancieren. Darüber hinaus werden voraussichtlich auch die anderen BRICS-Staaten ihre Anteile deutlich erhöhen. Andererseits dürfte sich jedoch auch das Wirtschaftswachstum der USA wieder erholen und laut Prognose bis 2030 stetig weiterwachsen, wenn auch auf deutlich geringerem Niveau. Ferner muss berücksichtig werden, dass sich die jetzigen Prognosen auf das Gesamtbruttoinlandsprodukt der BRICS-Staaten berufen. Gemessen am Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt liegt Chinas Wirtschaftskraft dagegen kaum höher als die Ecuadors (siehe World Bank 2013). Ähnlich wie in der Sicherheitspolitik macht hier jedoch ebenso der qualitative Vorsprung der USA den wesentlichen Unterschied. Die meisten der weltweit agierenden Konzerne haben ihren Sitz nach wie vor in den USA und deren Produkte und Technologiestandards sowie deren Verbreitung stellt die vorhandene Konkurrenz aus den BRICS-Staaten weiterhin deutlich in den Schatten. Das Pro-Kopf Bruttoinlandsprodukt der USA ist immer noch fast sechsmal so hoch wie das Chinas. Entscheidend für den weiteren Aufstieg Chinas dürfte schließlich die Frage sein, wie das rasante Wirtschaftswachstum Chinas und anderer BRICS-Staaten mit deren zum Teil schwerwiegenden innenpolitischen Problemen wie dem wachsenden Energiebedarf, Verteilungsgerechtigkeit, Korruption und Umweltverschmutzung in Einklang zu bringen ist. Im Gegensatz zu harter Macht beruht weiche Macht vor allem auf der Attraktivität US-amerikanischer Institutionen, des politischen Systems der USA, seiner Kultur, seiner Werte und seiner außenpolitischen Handlungen. Joseph Nye, der den Begriff der soft power konzeptionell maßgeblich geprägt hat, versteht unter weicher Macht ganz allgemein „the ability to shape the preferences of others“ (Nye 2004, S. 5). Diese Definition ist allerdings noch viel zu allgemein, da sie sich sowohl auf harte wie auch auf weiche Macht anwenden lässt. Nye weist daher daraufhin, dass weiche Macht mehr beinhaltet als aktive Einflussnahme oder argumentative Überzeugungskraft. Es geht hierbei vielmehr um indirekte Machtausübung durch Anziehungskraft und At-

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traktivität oder wie es Nye (2002, S. 9) ausdrückt: „to get others to want what you want“. Diese Magnetwirkung wird zum einen durch die Attraktivität der politischen Institutionen sowie der Kultur und Werte eines Landes und zum anderen durch sein politisches Verhalten erzeugt. Kommunikation und Wissen spielen dabei eine entscheidende Rolle, deren Bedeutung im Zuge von Globalisierungsprozessen sowie steigender medialer und sozialer Vernetzung weiter zunimmt. Um es mit den Worten des ehemaligen französischen Außenministers Hubert Védrine auszudrücken: „Americans are powerful because they inspire the dreams and desires of others, thanks to the mastery of global images through film and television and because, for the same reasons, large numbers of students from other countries come to the United States to finish their studies“ (zitiert in: Nye 2002, S. 9). Man muss jedoch einschränken: Weiche Macht bleibt mitunter äußerst begrenzt, sofern diese nicht durch klassische Machtfaktoren wie militärische und ökonomische hard power unterfüttert wird. So trugen die Milizen im ruandischen Bürgerkrieg 1994 T-Shirts mit den Logos US-amerikanischer Sporthersteller, was diese noch lange nicht zu Verfechtern US-amerikanischer Werte wie Menschenrechte oder Demokratie machte (Nye 2004, S. 12). Zudem kann sich soft power auch negativ auf die Außenpolitik eines Landes auswirken. Beispielsweise liefert die Darstellung des American Way of Life in US-amerikanischen Filmen und Fernsehserien in einigen arabischen Gesellschaften die Argumente für gezielte Hetzkampagnen gegen „den Westen“. Der Begriff „weiche“ Macht ist in empirisch-methodischer Hinsicht wörtlich zu nehmen: soft power ist wie der sprichwörtliche Pudding an der Wand und lässt sich daher nur schwer wissenschaftlich nachweisen geschweige denn messen. Es lassen sich dennoch eine Reihe von Indikatoren heranführen, die zumindest einen Eindruck davon geben, was US-amerikanische soft power ausmacht – und ihre Vormachtstellung auch von innen heraus erhält. So ist die Zahl der Einwanderer in die USA sechsmal so hoch wie in Deutschland. Die USA exportieren nach wie vor die meisten Filme und TV Serien ins Ausland. Die USA produzieren weltweit die meisten Bücher, verkaufen die meisten Musikprodukte und sind mit den meisten Internetseiten registriert (wobei dies, wie oben erwähnt, nicht immer positive Auswirkungen haben muss). 28 % aller ausländischen Studierenden studieren in den USA, wobei sich der Anteil europäischer zugunsten asiatischer Studierender deutlich verschoben hat. WissenschaftlerInnen an US-amerikanischen Universitäten veröffentlichen mit Abstand die meisten akademischen Publikationen. Die USA sind zudem führend bei den Nobelpreisen für Physik, Chemie und Ökonomie und nehmen in der Literatur den zweiten Rang ein. Die US-amerikanische Außenpolitik unterstützt dabei den Ausbau weicher Macht mithilfe von public and cultural diplomacy wie Austauschprogrammen, Entwicklungs- und Katastrophenhilfe sowie Elitendialogen.3

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Public and cultural diplomacy will durch gezielte Kommunikation der eigenen Werte und Ideale die Attraktivität des eigenen Landes ausbauen, um die öffentliche Meinung in festgelegten Zielländern direkt zu beeinflussen (Schwan 2012).

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Ein weiterer wichtiger Indikator weicher Macht sind Meinungsumfragen. Das renommierte Pew Research Center (2013) hat dazu in einer Langzeitstudie im Zeitraum zwischen 2002 und 2018 mehr als 325.000 Menschen in über 60 Ländern befragt. Selbstverständlich kann und muss deren Befragungsmethode in einigen Punkten kritisch gesehen werden.4 Dennoch lassen sich die Daten als Globalindikator für US-amerikanische weiche Macht durchaus heranziehen, da sie zumindest einen Gesamteindruck der USA aus unterschiedlichen Gesellschaften und Regionen widerspiegeln. Grundsätzlich hatte bis 2016 eine große Anzahl der befragten Gesellschaften eine überwiegend positive Meinung von den USA. Nach der Wahl von Donald Trump stürzte das internationale Ansehen der USA ab. Eine wachsende Zahl von Menschen in der Welt sieht in den USA sogar eine „große Bedrohung“ für ihr Land (Pew Research 2019). Allerdings wird die Verbreitung US-amerikanischer Ideen nur in sehr wenigen Ländern der Welt als mehrheitlich positiv wahrgenommen.5 Die meisten Befragten wünschen sich angesichts des Aufstiegs Chinas eine von den USA angeführte Weltordnung. Bezeichnenderweise befindet sich kein einziges europäisches Land darunter. Anders sieht das Ergebnis aus, wenn nach spezifischen Ideen gefragt wird. So befürwortet eine große Zahl der befragten Personen mehrheitlich das US-amerikanische Demokratiemodell. Auch US-amerikanische Unternehmenspraktiken werden in zahlreichen Ländern der Welt überwiegend positiv wahrgenommen. Diese Grundeinstellung verteilt sich über sämtliche Weltregionen, auch hier mit Ausnahme Europas. Dies überrascht angesichts der engen wirtschaftlichen Verflechtung im transatlantischen Raum. Selbst in Großbritannien stößt das US-amerikanische Wirtschaftsmodell auf mehrheitliche Ablehnung, was vor dem Hintergrund des Brexits interessant erscheint. Deutlich fällt die Zustimmung dagegen im Bereich Technologie und Wissenschaft aus. Hier stehen nur die befragten Personen in Indien, Pakistan, Russland und seit 2007 auch in der Türkei den technologischen und wissenschaftlichen Errungenschaften aus den USA skeptisch bis ablehnend gegenüber. In allen anderen Ländern, inklusive den befragten europäischen Ländern, liegt die Befürwortung deutlich über 70 bzw. 80 %. Ähnliche Zustimmungsraten lassen sich schließlich auch im Kultursektor ausmachen. US-amerikanische Musik, Filme und Fernsehserien sind nach wie vor in fast allen Teilen der Welt Exportschlager. Nur in den palästinensischen Territorien und auf dem indischen Subkontinent (Indien, Pakistan, Bangladesch) stößt US-amerikanische Massenunterhaltung auf deutliche Ablehnung. Auch in den europäischen Ländern und sogar im überaus amerikakritischen Venezuela erfreuen sich USamerikanische Massenmedien weiterhin großer Beliebtheit. Im direkten Vergleich mit dem potenziellen Herausforderer China zeigen die Umfragewerte schließlich,

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Die untersuchte Datenmenge ist selektiv und lückenhaft, da nicht alle Länder über die Jahre durchgängig befragt und einige wichtige Länder wie etwa der Iran überhaupt nicht in der Umfrage berücksichtigt wurden. 5 Äthiopien, Brasilien, Elfenbeinküste, El Salvador, Israel, Japan, Kenia, Nigeria, Senegal, Südafrika.

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dass die USA in Regionen wie Afrika und Lateinamerika nach wie vor in allen der oben genannten Bereichen jeweils größere Zustimmung erfahren als die Volksrepublik. Zusammenfassend lässt sich daher sagen, dass trotz einschneidender struktureller Veränderungen im internationalen System die Machtgrundlage der USA gegenwärtig nach wie vor gefestigt erscheint. Die skeptischen Prognosen eines American Decline vor dem Hintergrund des Irakkrieges, der Weltwirtschaftskrise und dem Aufstieg Chinas decken sich (noch) nicht mit den gegenwärtigen materiellen und immateriellen Indikatoren US-amerikanischer Macht. Die Nachhaltigkeit US-amerikanischer Macht liegt dabei vor allem in der Feststellung begründet, dass deren Projektion und Anziehungskraft erstens nicht auf bestimmte Regionen beschränkt ist, sondern globale Reichweite hat und zweitens sowohl auf politischer wie auch gesellschaftlicher Ebene verankert ist (wobei beide Ebenen nicht immer deckungsgleich sein müssen wie die Beispiele China und Westeuropa zeigen).

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Fazit: Bedeutungsverlust oder -wandel?

Gegenwärtig erscheint die US-amerikanische Vormachtstellung noch gefestigt. Wie aber sieht es künftig aus? Erleben wir langfristig einen Niedergang der USamerikanischen Machtposition auf internationaler Ebene? Die Antwort lautet: es kommt auf die Perspektive an. Nimmt man die Jahre 1945 bzw. 1990 als Referenzpunkte (und dies tun die meisten AutorInnen) dann lässt sich diese Frage zunächst eindeutig positiv beantworten: Die USA erfahren einen außenpolitischen Bedeutungsverlust, da sowohl ihre materielle als auch ihre immaterielle Machtstellung im internationalen System im historischen Vergleich seit 1945 bzw. 1990 nachweislich abgenommen hat. Dieser Befund ist jedoch für sich genommen wenig aussagekräftig, da er auf drei Prämissen beruht. Erstens war die Machtposition der USA 1945 bzw. 1990 eine historische Ausnahmeerscheinung, deren Auswahl als Referenzkriterium wohl kaum als langfristiger Maßstab US-amerikanischer Machtentwicklung gelten kann. Zweitens bleibt der Befund vorläufig, da die Zukunft US-amerikanischer Macht naturgemäß nicht vorhergesagt werden kann. Der American Decline in der Außenpolitik scheint eher ein zyklisches Phänomen zu sein, das in regelmäßigen Abständen aufgrund innerer und äußerer Entwicklungen auftritt. Drittens ist der vermeintliche Niedergang der USA im Vergleich zu 1945 bzw. seit 1990 – wenn überhaupt – kein absoluter, sondern ein relativer Niedergang, da er weniger auf der abnehmenden Machtbasis der USA, sondern vielmehr auf dem Machtzuwachs anderer Akteure beruht. Der American Decline ist also weniger ein Abstieg der USA als vielmehr ein (Wieder-)Aufstieg der Anderen. Von einem freiwilligen Rückzug der USA von der Weltbühne kann angesichts der Wahl Donald Trumps wohl auch kaum die Rede sein. Zwar sind isolationistische Tendenzen in der US-amerikanischen Bevölkerung gegenwärtig deutlich erkennbar. Die Mehrheit der USA ist jedoch weiterhin an internationaler Zusammenarbeit interessiert.

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Die aktuelle Nationale Sicherheitsstrategie aus dem Jahr 2017 gibt dennoch Anlass zur Sorge. Grundsätzlich zielt die in diesem Dokument formulierte außenpolitische Doktrin eines „principled realism“ (also eines prinzipientreuen Realismus) auf eine stärkere Fokussierung auf nationale Interessen ab. Dazu zählen in erster Linie die Sicherung amerikanischer Grenzen und die Förderung amerikanischen Wohlstands. Die aktuelle Sicherheitsstrategie zeigt, dass die Trump Administration die Weltpolitik als Nullsummenspiel versteht, in der Erfolg und Machtzuwachs anderer Akteure zugleich Misserfolg und Machtverlust der USA bedeuten. Wer in diesem Spiel nicht knallhart seine Interessen durchsetzt oder sich zu sehr von moralischen Werten leiten lässt, wird sich schon bald auf der Verliererstraße wiederfinden. Zusammenfassend lassen sich die aktuelle wie auch die vergangenen Debatten um einen vermeintlichen American Decline jedoch kaum als Indiz für einen künftigen Niedergang der Weltmacht deuten. Die gegenwärtige Kontroverse um den American Decline ist nicht neu und stellt wie ihre historischen Vorgänger eher eine Anpassung der USA an veränderte innen- und außenpolitische Wahrnehmungen und Realitäten dar. Natürlich sind die gegenwärtigen innen- und außenpolitischen Probleme der USA nicht zu leugnen. Nichtsdestotrotz kann das, was von einigen Beobachtern oft als Zeichen US-amerikanischer Schwäche dargestellt wird (Rumsfeld 2014), genauso gut als Anpassungsmechanismus und somit als Zeichen US-amerikanischer Stärke interpretiert werden. Es kommt eben ganz auf die Perspektive an. Die Debatten über den American decline sind als Symptom einer gewissenhaften, demokratischen Auseinandersetzung mit der außenpolitischen Rolle der USA zu verstehen. Gesellschaftsbezogene innenpolitische Faktoren bestimmen neben den institutionellen Wechselbeziehungen im politischen System der USA die außenpolitische Machtposition der USA mit (Koschut 2012b). Das pluralistische Gesellschaftssystem und die demokratischen Selbstheilungskräfte in den USA bieten vor diesem Hintergrund ein Selbstkorrektiv, welches die Nachhaltigkeit US-amerikanischer Macht bislang gewährleistet hat. Ob dies angesicht der Außenpolitik der Trump Administration gelingt, hängt vom Grad des gesellschaftlichen Widerstands gegen diese Politik ab. Insofern gilt für die Frage nach dem vermeintlichen Niedergang der USA das, was Ernst-Otto Czempiel (1966, S. 2) bereits vor einem halben Jahrhundert über US-amerikanische Außenpolitik geschrieben hat: „(D)as Zentrum der außenpolitischen Entscheidung liegt bei der Gesellschaft.“

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Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika

17. September 1787 PRÄAMBEL Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, von der Absicht geleitet, unseren Bund zu vervollkommnen, die Gerechtigkeit zu verwirklichen, die Ruhe im Innern zu sichern, für die Landesverteidigung zu sorgen, das allgemeine Wohl zu fördern und das Glück der Freiheit uns selbst und unseren Nachkommen zu bewahren, setzen und begründen diese Verfassung für die Vereinigten Staaten von Amerika. ARTIKEL I Abschnitt 1 Alle in dieser Verfassung verliehene gesetzgebende Gewalt ruht im Kongreß der Vereinigten Staaten, der aus einem Senat und einem Repräsentantenhaus besteht. Abschnitt 2 Das Repräsentantenhaus besteht aus Abgeordneten, die alle zwei Jahre in den Einzelstaaten vom Volke gewählt werden. Die Wähler in jedem Staate müssen den gleichen Bedingungen genügen, die für die Wähler der zahlenmäßig stärksten Kammer der gesetzgebenden Körperschaft des Einzelstaats vorgeschrieben sind. Niemand kann Abgeordneter werden, der nicht das Alter von 25 Jahren erreicht hat, sieben Jahre Bürger der Vereinigten Staaten gewesen und zur Zeit seiner Wahl Einwohner desjenigen Staates ist, in dem er gewählt wird. Die Abgeordnetenmandate und die direkten Steuern werden auf die einzelnen Staaten, die diesem Bund angeschlossen sind, im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl verteilt; diese wird ermittelt, indem zur Gesamtzahl der freien Personen, einschließlich der in einem befristeten Dienstverhältnis stehenden, jedoch ausschließlich der nicht besteuerten Indianer, drei Fünftel der Gesamtzahl aller übrigen Personen hinzugezählt werden.1 Die Zahlung selbst erfolgt innerhalb von drei Jahren nach dem ersten Zusammentritt des Kongresses der Vereinigten Staaten und dann jeweils

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Absatz 3 durch den XIV. und XVI. Zusatzartikel geändert.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2

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alle zehn Jahre nach Maßgabe eines hierfür zu erlassenden Gesetzes. Auf je dreißigtausend Einwohner darf nicht mehr als ein Abgeordneter kommen, doch soll jeder Staat durch wenigstens einen Abgeordneten vertreten sein; bis zur Durchführung dieser Zahlung hat der Staat New Hampshire das Recht, drei zu wählen, Massachusetts acht, Rhode Island und Providence Plantations einen, Connecticut fünf, New York sechs, New Jersey vier, Pennsylvania acht, Delaware einen, Maryland sechs, Virginia zehn, North Carolina fünf, South Carolina fünf und Georgia drei.2 Wenn in der Vertretung eines Staates Abgeordnetensitze frei werden, dann schreibt dessen Regierung Ersatzwahlen aus, um die erledigten Mandate neu zu besetzen. Das Repräsentantenhaus wählt aus seiner Mitte einen Präsidenten (Sprecher) und sonstige Parlamentsorgane. Es hat das alleinige Recht, Amtsanklage zu erheben. Abschnitt 3 Der Senat der Vereinigten Staaten besteht aus je zwei Senatoren von jedem Einzelstaat, die von dessen gesetzgebender Körperschaft3 auf sechs Jahre gewählt werden. Jedem Senator steht eine Stimme zu. Unmittelbar nach dem Zusammentritt nach der erstmaligen Wahl soll der Senat so gleichmäßig wie möglich in drei Gruppen aufgeteilt werden. Die Senatoren der ersten Gruppe haben nach Ablauf von zwei Jahren ihr Mandat niederzulegen, die der zweiten Gruppe nach Ablauf von vier Jahren und die der dritten Gruppe nach Ablauf von sechs Jahren, so daß jedes zweite Jahr ein Drittel neu zu wählen ist. Falls durch Rücktritt oder aus einem anderen Grunde außerhalb der Tagungsperiode der gesetzgebenden Körperschaft eines Einzelstaates Sitze frei werden, kann dessen Regierung vorläufige Ernennungen vornehmen, bis die gesetzgebende Körperschaft bei ihrem nächsten Zusammentritt die erledigten Mandate wieder besetzt.4 Niemand kann Senator werden, der nicht das Alter von 30 Jahren erreicht hat, neun Jahre Bürger der Vereinigten Staaten gewesen und zur Zeit seiner Wahl Einwohner desjenigen Staates ist, für den er gewählt wird. Der Vizepräsident der Vereinigten Staaten ist Präsident des Senats. Er hat jedoch kein Stimmrecht, ausgenommen im Falle der Stimmengleichheit. Der Senat wählt seine sonstigen Parlamentsorgane und auch einen Interimspräsidenten für den Fall, daß der Vizepräsident abwesend ist oder das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten wahrnimmt. Der Senat hat das alleinige Recht, über alle Amtsanklagen zu befinden. Wenn er zu diesem Zwecke zusammentritt, stehen die Senatoren unter Eid oder eidesstattlicher Verantwortlichkeit. Bei Verfahren gegen den Präsidenten der Vereinigten Staaten führt der Oberste Bundesrichter den Vorsitz. Niemand darf ohne Zustimmung von zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder schuldig gesprochen werden. In Fällen von Amtsanklagen lautet der Spruch höchstens auf Entfernung aus dem Amte und Aberkennung der Befähigung, ein Ehrenamt, eine Vertrauensstellung oder

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Letzter Satz überholt. Durch den XVII. Zusatzartikel geändert. 4 Durch den XVII. Zusatzartikel geändert. 3

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ein besoldetes Amt im Dienste der Vereinigten Staaten zu bekleiden oder auszuüben. Der für schuldig Befundene ist desungeachtet der Anklageerhebung, dem Strafverfahren, der Verurteilung und Strafverbüßung nach Maßgabe der Gesetze ausgesetzt und unterworfen. Abschnitt 4 Zeit, Ort und Art der Durchführung der Senatoren- und Abgeordnetenwahlen werden in jedem Staate durch dessen gesetzgebende Körperschaft bestimmt. Jedoch kann der Kongreß jederzeit selbst durch Gesetz solche Bestimmungen erlassen oder ändern; nur die Orte der Durchführung der Senatorenwahlen sind davon ausgenommen. Der Kongreß tritt wenigstens einmal in jedem Jahr zusammen, und zwar am ersten Montag im Dezember,5 falls er nicht durch Gesetz einen anderen Tag bestimmt. Abschnitt 5 Jedem Haus obliegt selbst die Überprüfung der Wahlen, der Abstimmungsergebnisse und der Wählbarkeitsvoraussetzungen seiner eigenen Mitglieder. In jedem Hause ist die Anwesenheit der Mehrheit der Mitglieder zur Beschlußfähigkeit erforderlich. Eine kleinere Zahl Anwesender darf jedoch die Sitzung von einem Tag auf den anderen vertagen und kann ermächtigt werden, das Erscheinen abwesender Mitglieder in der von jedem Haus vorgesehenen Form und mit dementsprechender Strafandrohung zu erzwingen. Jedes Haus kann sich eine Geschäftsordnung geben, seine Mitglieder wegen ordnungswidrigen Verhaltens bestrafen und mit Zweidrittelmehrheit ein Mitglied ausschließen. Jedes Haus führt ein fortlaufendes Verhandlungsprotokoll, das von Zeit zu Zeit zu veröffentlichen ist, ausgenommen solche Teile, die nach seinem Ermessen Geheimhaltung erfordern; die Ja- und die Nein-Stimmen der Mitglieder jedes Hauses zu jedweder Frage sind auf Antrag eines Fünftels der Anwesenden im Verhandlungsprotokoll zu vermerken. Keines der beiden Häuser darf sich während der Sitzungsperiode des Kongresses ohne Zustimmung des anderen auf mehr als drei Tage vertagen noch an einem anderen als dem für beide Häuser bestimmten Sitzungsort zusammentreten. Abschnitt 6 Die Senatoren und Abgeordneten erhalten für ihre Tätigkeit eine Entschädigung, die gesetzlich festgelegt und vom Schatzamt der Vereinigten Staaten ausbezahlt werden soll. Sie sind in allen Fällen, außer bei Verrat, Verbrechen und Friedensbruch, vor Verhaftung geschützt, solange sie an einer Sitzung ihres jeweiligen Hauses teilnehmen oder sich auf dem Wege dorthin oder auf dem Heimweg befinden; kein Mitglied

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Durch den XX. Zusatzartikel geändert.

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darf wegen seiner Reden oder Äußerungen in einem der Häuser andernorts zur Rechenschaft gezogen werden. Kein Senator oder Abgeordneter darf während der Zeit, für die er gewählt wurde, in irgendeine Beamtenstellung im Dienste der Vereinigten Staaten berufen werden, die während dieser Zeit geschaffen oder mit erhöhten Bezügen ausgestattet wurde; und niemand, der ein Amt im Dienste der Vereinigten Staaten bekleidet, darf während seiner Amtsdauer Mitglied eines der beiden Häuser sein. Abschnitt 7 Alle Gesetzesvorlagen zur Aufbringung von Haushaltsmitteln gehen vom Repräsentantenhaus aus; der Senat kann jedoch wie bei anderen Gesetzesvorlagen Abänderungs- und Ergänzungsvorschläge einbringen. Jede Gesetzesvorlage wird nach ihrer Verabschiedung durch das Repräsentantenhaus und den Senat, ehe sie Gesetzeskraft erlangt, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten vorgelegt. Wenn er sie billigt, so soll er sie unterzeichnen, andernfalls jedoch mit seinen Einwendungen an jenes Haus zurückverweisen, von dem sie ausgegangen ist; dieses nimmt die Einwendungen ausführlich zu Protokoll und tritt erneut in die Beratung ein. Wenn nach dieser erneuten Lesung zwei Drittel des betreffenden Hauses für die Verabschiedung der Vorlage stimmen, so wird sie zusammen mit den Einwendungen dem anderen Hause zugesandt, um dort gleichfalls erneut beraten zu werden; wenn sie die Zustimmung von zwei Dritteln auch dieses Hauses findet, wird sie Gesetz. In allen solchen Fällen aber erfolgt die Abstimmung in beiden Häusern nach Ja- und Nein-Stimmen, und die Namen derer, die für und gegen die Gesetzesvorlage stimmen, werden im Protokoll des betreffenden Hauses vermerkt. Falls eine Gesetzesvorlage vom Präsidenten nicht innerhalb von zehn Tagen (Sonntage nicht eingerechnet) nach Übermittlung zurückgegeben wird, erlangt sie in gleicher Weise Gesetzeskraft, als ob er sie unterzeichnet hätte, es sei denn, daß der Kongreß durch Vertagung die Rückgabe verhindert hat; in diesem Fall erlangt sie keine Gesetzeskraft. Jede Anordnung, Entschließung oder Abstimmung, für die Übereinstimmung von Senat und Repräsentantenhaus erforderlich ist (ausgenommen zur Frage einer Vertagung), muß dem Präsidenten der Vereinigten Staaten vorgelegt und, ehe sie wirksam wird, von ihm gebilligt werden; falls er ihre Billigung ablehnt, muß sie von Senat und Repräsentantenhaus mit Zweidrittelmehrheit nach Maßgabe der für Gesetzesvorlagen vorgeschriebenen Regeln und Fristen neuerlich verabschiedet werden. Abschnitt 8 Der Kongreß hat das Recht: Steuern, Zölle, Abgaben und Akzisen aufzuerlegen und einzuziehen, um für die Erfüllung der Zahlungsverpflichtungen, für die Landesverteidigung und das allgemeine Wohl der Vereinigten Staaten zu sorgen; alle Zölle, Abgaben und Akzisen sind aber für das gesamte Gebiet der Vereinigten Staaten einheitlich festzusetzen; auf Rechnung der Vereinigten Staaten Kredit aufzunehmen;

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den Handel mit fremden Ländern, zwischen den Einzelstaaten und mit den Indianerstämmen zu regeln; für das gesamte Gebiet der Vereinigten Staaten eine einheitliche Einbürgerungsordnung und ein einheitliches Konkursrecht zu schaffen; Münzen zu prägen, ihren Wert und den fremder Währungen zu bestimmen und Maße und Gewichte zu normen; Strafbestimmungen für die Fälschung von Staatsobligationen und gültigen Zahlungsmitteln der Vereinigten Staaten zu erlassen; Postämter und Poststraßen einzurichten; den Fortschritt von Kunst und Wissenschaft dadurch zu fördern, daß Autoren und Erfindern für beschränkte Zeit das ausschließliche Recht an ihren Publikationen und Entdeckungen gesichert wird; dem Obersten Bundesgericht nachgeordnete Gerichte zu bilden; Seeräuberei und andere Kapitalverbrechen auf hoher See sowie Verletzungen des Völkerrechts begrifflich zu bestimmen und zu ahnden; Krieg zu erklären, Kaperbriefe auszustellen und Vorschriften über das Prisen- und Beuterecht zu Wasser und zu Lande zu erlassen; Armeen aufzustellen und zu unterhalten; die Bewilligung von Geldmitteln hierfür soll jedoch nicht für länger als auf zwei Jahre erteilt werden; eine Flotte zu bauen und zu unterhalten; Reglements für Führung und Dienst der Land- und Seestreitkräfte zu erlassen; Vorkehrungen für das Aufgebot der Miliz zu treffen, um den Bundesgesetzen Geltung zu verschaffen, Aufstände zu unterdrücken und Invasionen abzuwehren; Vorkehrungen zu treffen für Aufbau, Bewaffnung und Ausbildung der Miliz und die Führung derjenigen ihrer Teile, die im Dienst der Vereinigten Staaten Verwendung finden, wobei jedoch den Einzelstaaten die Ernennung der Offiziere und die Aufsicht über die Ausbildung der Miliz nach den Vorschriften des Kongresses vorbehalten bleiben; die ausschließliche und uneingeschränkte Gesetzgebung für jenes Gebiet (das nicht größer als zehn Quadratmeilen sein soll) auszuüben, das durch Abtretung seitens einzelner Staaten und Annahme seitens des Kongresses zum Sitz der Regierung der Vereinigten Staaten ausersehen wird, und gleiche Hoheitsrechte in allen Gebieten auszuüben, die zwecks Errichtung von Befestigungen, Magazinen, Arsenalen, Werften und anderen notwendigen Bauwerken mit Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaft desjenigen Staates, in dem diese angelegt werden sollen, angekauft werden; – und alle zur Ausübung der vorstehenden Befugnisse und aller anderen Rechte, die der Regierung der Vereinigten Staaten, einem ihrer Zweige oder einem einzelnen Beamten auf Grund dieser Verfassung übertragen sind, notwendigen und zweckdienlichen Gesetze zu erlassen. Abschnitt 9 Die Einwanderung oder Hereinholung solcher Personen, deren Zulassung einer der derzeit bestehenden Staaten für angebracht hält, darf vom Kongreß vor dem Jahre

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1808 nicht verboten werden, doch kann eine solche Hereinholung mit Steuer oder Zoll von nicht mehr als zehn Dollar für jede Person belegt werden.6 Der Anspruch eines Verhafteten auf Ausstellung eines richterlichen Vorführungsbefehls darf nicht suspendiert werden, es sei denn, daß die öffentliche Sicherheit dies im Falle eines Aufstandes oder einer Invasion erforderlich macht. Kein Ausnahmegesetz, das eine Verurteilung ohne Gerichtsverfahren zum Inhalt hat, oder Strafgesetz mit rückwirkender Kraft soll verabschiedet werden. Kopfsteuern oder sonstige direkte Steuern dürfen nur nach Maßgabe der Ergebnisse der Schätzung oder Volkszählung, wie im Vorhergehenden angeordnet, auferlegt werden.7 Waren, die aus einem Einzelstaat ausgeführt werden, dürfen nicht mit Steuern oder Zöllen belegt werden. Eine Begünstigung der Häfen eines Einzelstaates gegenüber denen eines anderen durch handels- oder abgabenrechtliche Vorschriften darf nicht gewährt werden; die Schiffe mit Bestimmungs- oder Abgangshafen in einem der Staaten dürfen nicht gezwungen werden, in einem anderen anzulegen, zu klarieren oder Gebühren zu entrichten. Geld darf der Staatskasse nur auf Grund gesetzlicher Bewilligungen entnommen werden; über alle Einkünfte und Ausgaben der öffentlichen Hand ist der Öffentlichkeit von Zeit zu Zeit ordnungsgemäß Rechnung zu legen. Adelstitel dürfen durch die Vereinigten Staaten nicht verliehen werden. Niemand, der ein besoldetes oder Ehrenamt in ihrem Dienst bekleidet, darf ohne Zustimmung des Kongresses ein Geschenk, Entgelt, Amt oder einen Titel irgendeiner Art von einem König, Fürsten oder fremden Staat annehmen. Abschnitt 10 Kein Einzelstaat darf einem Vertrag, Bündnis oder einer Konföderation beitreten, Kaperbriefe ausstellen. Münzen prägen, Banknoten ausgeben, etwas anderes als Gold- oder Silbermünzen zum gesetzlichen Zahlungsmittel erklären, ein Ausnahmegesetz, das eine Verurteilung ohne Gerichtsverfahren zum Inhalt hat, oder ein Strafgesetz mit rückwirkender Kraft oder ein Gesetz, das Vertragsverpflichtungen beeinträchtigt, verabschieden oder einen Adelstitel verleihen. Kein Einzelstaat darf ohne Zustimmung des Kongresses Abgaben oder Zölle auf Ein- oder Ausfuhr legen, soweit dies nicht zur Durchführung der Überwachungsgesetze unbedingt nötig ist; über den Reinertrag, der einem Staat aus Zöllen und Abgaben auf Ein- und Ausfuhr zufließt, verfügt das Schatzamt der Vereinigten Staaten; alle derartigen Gesetze unterliegen der Revisions- und Aufsichtsbefugnis des Kongresses. Kein Staat darf ohne Zustimmung des Kongresses Tonnengelder erheben, in Friedenszeiten Truppen oder Kriegsschiffe unterhalten, Vereinbarungen oder Verträge mit einem der anderen Staaten oder mit einer fremden Macht schließen oder

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Überholt. Vgl. den XVI. Zusatzartikel.

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sich in einen Krieg einlassen, es sei denn, er werde tatsächlich angegriffen oder die Gefahr drohe so unmittelbar, daß sie keinen Aufschub duldet. ARTIKEL II Abschnitt 1 Die vollziehende Gewalt liegt bei dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. Seine Amtszeit beträgt vier Jahre, und er wird zugleich mit dem für dieselbe Amtsperiode zu wählenden Vizepräsidenten auf folgende Weise gewählt: Jeder Einzelstaat bestimmt in der von seiner gesetzgebenden Körperschaft vorgeschriebenen Weise eine Anzahl von Wahlmännern, die der Gesamtzahl der dem Staat im Kongreß zustehenden Senatoren und Abgeordneten gleich ist; jedoch darf kein Senator oder Abgeordneter oder eine Person, die ein besoldetes oder Ehrenamt im Dienste der Vereinigten Staaten bekleidet, zum Wahlmann bestellt werden. Die Wahlmänner treten in ihren Staaten zusammen und stimmen durch Stimmzettel für zwei Personen, von denen mindestens eine nicht Einwohner desselben Staates sein darf wie sie selbst. Sie führen in einer Liste alle Personen auf, für die Stimmen abgegeben worden sind, und die Anzahl der ihnen zugefallenen Stimmen; diese Liste unterzeichnen und beglaubigen sie und übersenden sie versiegelt an den Sitz der Regierung der Vereinigten Staaten, zu Händen des Senatspräsidenten. Der Präsident des Senats öffnet vor Senat und Repräsentantenhaus alle diese beglaubigten Listen; anschließend sind die Stimmen zu zählen. Derjenige, der die größte Stimmenzahl auf sich vereinigt, soll Präsident sein, wenn diese Zahl der Mehrheit der Gesamtzahl der bestellten Wahlmänner entspricht; wenn aber mehrere eine derartige Mehrheit erreichen und die gleiche Anzahl von Stimmen erhalten, dann soll das Repräsentantenhaus sogleich einen von ihnen durch Stimmzettel zum Präsidenten wählen; und wenn niemand eine derartige Mehrheit erreicht hat, soll das genannte Haus in gleicher Weise aus den fünf führenden Personen auf der Liste den Präsidenten wählen. Bei dieser Präsidentschaftsstichwahl wird jedoch nach Staaten abgestimmt, wobei die Vertretung jedes Staates eine Stimme hat; zur Beschlußfähigkeit ist für diesen Zweck die Anwesenheit von je einem oder mehreren Abgeordneten von zwei Dritteln der Staaten und zum Wahlentscheid eine Mehrheit aller Einzelstaaten erforderlich. In jedem Fall soll nach der Wahl des Präsidenten derjenige, der die größte Anzahl der Wahlmännerstimmen auf sich vereinigt, Vizepräsident sein. Wenn aber zwei oder mehrere die gleiche Stimmenzahl aufweisen, soll der Senat unter ihnen durch Stimmzettel den Vizepräsidenten auswählen.8 Der Kongreß kann den Zeitpunkt für die Wahl der Wahlmänner und den Tag ihrer Stimmenabgabe festsetzen; dieser Tag soll im ganzen Bereich der Vereinigten Staaten derselbe sein. In das Amt des Präsidenten können nur in den Vereinigten Staaten geborene Bürger oder Personen, die zur Zeit der Annahme dieser Verfassung Bürger der Vereinigten Staaten waren, gewählt werden; es kann niemand in dieses Amt gewählt werden, der nicht das Alter von 35 Jahren

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Durch den XII. Zusatzartikel geändert.

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erreicht und seinen Wohnsitz seit 14 Jahren im Gebiete der Vereinigten Staaten gehabt hat. Im Falle der Amtsenthebung des Präsidenten oder seines Todes, Rücktritts oder der Unfähigkeit zur Wahrnehmung der Befugnisse und Obliegenheiten seines Amtes geht es auf den Vizepräsidenten über. Der Kongreß kann durch Gesetz für den Fall der Amtsenthebung, des Todes, des Rücktritts oder der Amtsunfähigkeit sowohl des Präsidenten als auch des Vizepräsidenten Vorsorge treffen und bestimmen, welcher Beamte dann die Geschäfte des Präsidenten wahrnehmen soll, und dieser Beamte versieht dann die Geschäfte so lange, bis die Amtsunfähigkeit behoben oder ein Präsident gewählt worden ist.9 Der Präsident erhält zu festgesetzten Zeiten für seine Dienste eine Vergütung. Diese darf während der Zeit, für die er gewählt ist, weder vermehrt noch vermindert werden, und er darf während dieses Zeitraumes auch keine sonstigen Einkünfte von den Vereinigten Staaten oder einem der Einzelstaaten beziehen. Ehe er sein Amt antritt, soll er diesen Eid oder dieses Gelöbnis leisten: „ Ich schwöre (oder gelobe) feierlich, daß ich das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten getreulich verwalten und die Verfassung der Vereinigten Staaten nach besten Kräften erhalten, schützen und verteidigen will.“ Abschnitt 2 Der Präsident ist Oberbefehlshaber der Armee und der Flotte der Vereinigten Staaten und der Miliz der Einzelstaaten, wenn diese zur aktiven Dienstleistung für die Vereinigten Staaten auf gerufen wird; er kann von den Leitern der einzelnen Abteilungen der Bundesregierung die schriftliche Stellungnahme zu Angelegenheiten aus dem Dienstbereich der betreffenden Behörde verlangen, und er hat, außer in Amtsanklagefällen, das Recht, Strafaufschub und Begnadigung für Straftaten gegen die Vereinigten Staaten zu gewähren. Er hat das Recht, auf Anraten und mit Zustimmung des Senats Verträge zu schließen, vorausgesetzt, daß zwei Drittel der anwesenden Senatoren zustimmen. Er nominiert auf Anraten und mit Zustimmung des Senats Botschafter, Gesandte und Konsuln, die Richter des Obersten Bundesgerichts und alle sonstigen Beamten der Vereinigten Staaten, deren Bestellung hierin nicht anderweitig geregelt ist und deren Ämter durch Gesetz geschaffen werden; doch kann der Kongreß nach seinem Ermessen die Ernennung von unteren Beamten durch Gesetz dem Präsidenten allein, den Gerichtshöfen oder den Leitern der Bundesbehörde übertragen. Der Präsident hat die Befugnis, alle während der Senatsferien frei werdenden Beamtenstellen im Wege des Amtsauftrags zu besetzen, der mit dem Ende der nächsten Sitzungsperiode erlischt. Abschnitt 3 Er hat von Zeit zu Zeit dem Kongreß über die Lage der Union Bericht zu erstatten und Maßnahmen zur Beratung zu empfehlen, die er für notwendig und nützlich

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Vgl. den XX. Zusatzartikel.

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erachtet. Er kann bei außerordentlichen Anlässen beide oder eines der Häuser einberufen, und er kann sie, falls sie sich über die Zeit der Vertagung nicht einigen können, bis zu einem ihm geeignet erscheinenden Zeitpunkt vertagen. Er empfängt Botschafter und Gesandte. Er hat Sorge zu tragen, daß die Gesetze gewissenhaft vollzogen werden, und er erteilt allen Beamten der Vereinigten Staaten die Ernennungsurkunden. Abschnitt 4 Der Präsident, der Vizepräsident und alle Zivilbeamten der Vereinigten Staaten werden ihres Amtes enthoben, wenn sie wegen Verrats, Bestechung oder anderer Verbrechen und Vergehen unter Amtsanklage gestellt und für schuldig befunden worden sind. ARTIKEL III Abschnitt 1 Die richterliche Gewalt der Vereinigten Staaten liegt bei einem Obersten Bundesgericht und bei solchen unteren Gerichten, deren Errichtung der Kongreß von Fall zu Fall anordnen wird. Die Richter sowohl des Obersten Bundesgerichts als auch der unteren Gerichte sollen im Amte bleiben, solange ihre Amtsführung einwandfrei ist, und zu bestimmten Zeiten für ihre Dienste eine Vergütung erhalten, die während ihrer Amtsdauer nicht herabgesetzt werden darf. Abschnitt 2 Die richterliche Gewalt erstreckt sich auf alle Fälle nach dem Gesetzes- und dem Billigkeitsrecht, die sich aus dieser Verfassung, den Gesetzen der Vereinigten Staaten und den Verträgen ergeben, die in ihrem Namen abgeschlossen wurden oder künftig geschlossen werden; – auf alle Fälle, die Botschafter, Gesandte und Konsuln betreffen; – auf alle Fälle der Admiralitäts- und Seegerichtsbarkeit; – auf Streitigkeiten, in denen die Vereinigten Staaten Streitpartei sind; – auf Streitigkeiten zwischen zwei oder mehreren Einzelstaaten; – zwischen einem Einzelstaat und den Bürgern eines anderen Einzelstaates;10 – zwischen Bürgern verschiedener Einzelstaaten; – zwischen Bürgern desselben Einzelstaates, die auf Grund von Zuweisungen seitens verschiedener Einzelstaaten Ansprüche auf Land erheben; – und zwischen einem Einzelstaat oder dessen Bürgern und fremden Staaten, Bürgern oder Untertanen. In allen Fällen, die Botschafter, Gesandte und Konsuln betreffen, und in solchen, in denen ein Einzelstaat Partei ist, übt das Oberste Bundesgericht ursprüngliche Gerichtsbarkeit aus. In allen anderen zuvor erwähnten Fällen ist das Oberste Bundesgericht Appellationsinstanz sowohl hinsichtlich der rechtlichen als auch der Tatsachenbeurteilung gemäß den vom Kongreß festzulegenden Ausnahme- und Verfahrensbestimmungen.

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Durch den XI. Zusatzartikel eingeschränkt.

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Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika

Alle Strafverfahren mit Ausnahme von Fällen der Amtsanklage sind von einem Geschworenengericht durchzuführen, und die Verhandlung findet in dem Einzelstaat statt, in dem die fragliche Straftat begangen worden ist. Wenn eine Straftat aber nicht im Gebiet eines der Einzelstaaten begangen worden ist, so findet die Verhandlung an dem Ort oder den Orten statt, die der Kongreß durch Gesetz bestimmen wird. Abschnitt 3 Als Verrat gegen die Vereinigten Staaten gilt nur die Kriegführung gegen sie oder die Unterstützung ihrer Feinde durch Hilfeleistung und Begünstigung. Niemand darf des Verrates schuldig befunden werden, es sei denn auf Grund der Aussage zweier Zeugen über dieselbe offenkundige Handlung oder auf Grund eines Geständnisses in öffentlicher Gerichtssitzung. Der Kongreß hat das Recht, die Strafe für Verrat festzusetzen. Die Rechtsfolgen des Verrats sollen jedoch nicht über die Lebenszeit des Verurteilten hinaus Ehrverlust oder Vermögensverfall bewirken. ARTIKEL IV Abschnitt 1 Gesetze, Urkunden und richterliche Entscheidungen jedes Einzelstaates genießen in jedem anderen Staat volle Würdigung und Anerkennung. Der Kongreß kann durch allgemeine Gesetzgebung bestimmen, in welcher Form der Nachweis derartiger Gesetze, Urkunden und richterlicher Entscheidungen zu führen ist und welche Geltung ihnen zukommt. Abschnitt 2 Die Bürger eines jeden Einzelstaates genießen alle Vorrechte und Freiheiten der Bürger anderer Einzelstaaten.11 Wer in irgendeinem Einzelstaate des Verrats oder eines Verbrechens oder Vergehens angeklagt wird, sich der Strafverfolgung durch Flucht entzieht und in einem anderen Staat aufgegriffen wird, muß auf Verlangen der Regierung des Staates, aus dem er entflohen ist, ausgeliefert und nach dem Staat geschafft werden, unter dessen Gerichtsbarkeit dieses Verbrechen fällt. Niemand, der in einem Einzelstaate nach dessen Gesetzen zu Dienst oder Arbeit verpflichtet ist und in einen anderen Staat entflieht, darf auf Grund dort geltender Gesetze oder Bestimmungen von dieser Dienst- oder Arbeitspflicht befreit werden. Er ist vielmehr auf Verlangen desjenigen, dem er zu Dienst oder Arbeit verpflichtet ist, auszuliefern.12 Abschnitt 3 Neue Staaten können vom Kongreß in diesen Bund aufgenommen werden. Jedoch darf kein neuer Staat innerhalb des Hoheitsbereichs eines anderen Staates gebildet 11

Durch den XIV. Zusatzartikel erweitert. Durch den XIII. Zusatzartikel überholt.

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oder errichtet werden. Auch darf kein neuer Staat durch die Vereinbarung von zwei oder mehr Einzelstaaten oder Teilen von Einzelstaaten ohne die Zustimmung sowohl der gesetzgebenden Körperschaften der betreffenden Einzelstaaten als auch des Kongresses gebildet werden. Der Kongreß hat das Recht, über die Ländereien und sonstiges Eigentum der Vereinigten Staaten zu verfügen und alle erforderlichen Anordnungen und Vorschriften hierüber zu erlassen; und keine Bestimmung dieser Verfassung soll so ausgelegt werden, daß durch sie Ansprüche der Vereinigten Staaten oder irgendeines Einzelstaates präjudiziert würden. Abschnitt 4 Die Vereinigten Staaten gewährleisten jedem Staat innerhalb dieses Bundes eine republikanische Regierungsform; sie schützen jeden von ihnen gegen feindliche Einfälle und auf Antrag seiner gesetzgebenden Körperschaft oder Regierung (wenn die gesetzgebende Körperschaft nicht einberufen werden kann) auch gegen innere Gewaltakte. ARTIKEL V Der Kongreß schlägt, wenn beide Häuser es mit Zweidrittelmehrheit für notwendig halten, Verfassungsänderungen vor oder beruft auf Ansuchen der gesetzgebenden Körperschaften von zwei Dritteln der Einzelstaaten einen Konvent zur Ausarbeitung von Abänderungsvorschlägen ein, die in beiden Fällen nach Sinn und Absicht als Teile dieser Verfassung Rechtskraft erlangen, wenn sie in drei Vierteln der Einzelstaaten von den gesetzgebenden Körperschaften oder den Konventen ratifiziert werden, je nachdem, welche Form der Ratifikation vom Kongreß vorgeschlagen wird. Jedoch darf keine Abänderung vor dem Jahre 1808 in irgendeiner Weise den l. und 4. Absatz des 9. Abschnittes des l. Artikels berühren13 und keinem Staat darf ohne seine Zustimmung das gleiche Stimmrecht im Senat entzogen werden. ARTIKEL VI Alle vor Annahme dieser Verfassung aufgelaufenen Schulden und eingegangenen Verpflichtungen sind für die Vereinigten Staaten unter dieser Verfassung ebenso rechtsverbindlich wie unter den Konföderationsartikeln.14 Diese Verfassung, die in ihrem Verfolg zu erlassenden Gesetze der Vereinigten Staaten sowie alle im Namen der Vereinigten Staaten abgeschlossenen oder künftig abzuschließenden Verträge sind das oberste Gesetz des Landes; und die Richter in jedem Einzelstaat sind ungeachtet entgegenstehender Bestimmungen in der Verfassung oder den Gesetzen eines Einzelstaates daran gebunden.

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Überholt. Durch den XIV. Zusatzartikel erweitert.

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Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika

Die vorerwähnten Senatoren und Abgeordneten, die Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaften der Einzelstaaten und alle Verwaltungs- und Justizbeamten sowohl der Vereinigten Staaten als auch der Einzelstaaten haben sich durch Eid oder Gelöbnis zur Wahrung dieser Verfassung zu verpflichten. Doch darf niemals ein religiöser Bekenntnisakt zur Bedingung für den Antritt eines Amtes oder einer öffentlichen Vertrauensstellung im Dienst der Vereinigten Staaten gemacht werden. ARTIKEL VII Die Ratifikation durch neun Staatskonvente ist ausreichend, diese Verfassung für die ratifizierenden Staaten in Kraft zu setzen. Gegeben im Konvent mit einmütiger Zustimmung der anwesenden Staaten am 17. Tage des Monats September im Jahre des Herrn 1787 und im 12. Jahre der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten von Amerika; zu Urkund dessen wir hier unsere Namen unterzeichnen. G. Washington Präsident und Abgeordneter von Virginia NEW HAMPSHIRE: John Langdon; Nicholas Gilman MASSACHUSETTS: Nathaniel Gorham; Rufus King CONNECTICUT: Wm. Saml. Johnson; Roger Sherman NEW YORK: Alexander Hamilton NEW JERSEY: Wil. Livingston; David Brearley; Wm. Paterson; Jona. Dayton PENNSYLVANIA: B. Franklin, Thomas Mifflin; Robt. Morris; Geo. Clymer; Thos. FitzSimons; Jared Ingersoll; James Wilson; Gouv. Morris DELAWARE: Geo. Read; Gunning Bedford, Jan.; John Dickinson; Richard Bassett; Jaco. Broom MARYLAND James MC Henry; Dan of St. Thos. Jenifer; Danl. Carroll VIRGINIA: John Blair; James Madison, Jr. NORTH CAROLINA: Wm. Blount; Richd. Dobbs Spaight; Hu. Williamson SOUTH CAROLINA: J. Rutledge; Charles Cotesworfh Pinckney; Charles Pinckney; Pierce Butler GEORGIA: William Few; Abr. Baldwin DIE ZUSATZARTIKEL DER VERFASSUNG

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ZUSATZARTIKEL I15 Der Kongreß darf kein Gesetz erlassen, das die Einführung einer Staatsreligion zum Gegenstand hat, die freie Religionsausübung verbietet, die Rede- oder Pressefreiheit oder das Recht des Volkes einschränkt, sich friedlich zu versammeln und die Regierung durch Petition um Abstellung von Mißständen zu ersuchen. ZUSATZARTIKEL II Da eine gut ausgebildete Miliz für die Sicherheit eines freien Staates erforderlich ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden. ZUSATZARTIKEL III Kein Soldat darf in Friedenszeiten ohne Zustimmung des Eigentümers in einem Haus einquartiert werden und in Kriegszeiten nur in der gesetzlich vorgeschriebenen Weise. ZUSATZARTIKEL IV Das Recht des Volkes auf Sicherheit der Person und der Wohnung, der Urkunden und des Eigentums, vor willkürlicher Durchsuchung, Verhaftung und Beschlagnahme darf nicht verletzt werden, und Haussuchungs- und Haftbefehle dürfen nur bei Vorliegen eines eidlich oder eidesstattlich erhärteten Rechtsgrundes ausgestellt werden und müssen die zu durchsuchende Örtlichkeit und die in Gewahrsam zu nehmenden Personen oder Gegenstände genau bezeichnen. ZUSATZARTIKEL V Niemand darf wegen eines Kapitalverbrechens oder eines sonstigen schimpflichen Verbrechens zur Verantwortung gezogen werden, es sei denn auf Grund eines Antrages oder einer Anklage durch ein Großes Geschworenengericht. Hiervon ausgenommen sind Fälle, die sich bei den Land- oder Seestreitkräften oder bei der Miliz ereignen, wenn diese in Kriegszeit oder bei öffentlichem Notstand im aktiven Dienst stehen. Niemand darf wegen derselben Straftat zweimal durch ein Verfahren in Gefahr des Leibes und des Lebens gebracht werden. Niemand darf in einem Strafverfahren zur Aussage gegen sich selbst gezwungen noch des Lebens, der Freiheit oder des Eigentums ohne vorheriges ordentliches Gerichtsverfahren nach Recht und Gesetz beraubt werden. Privateigentum darf nicht ohne angemessene Entschädigung für öffentliche Zwecke eingezogen werden. ZUSATZARTIKEL VI In allen Strafverfahren hat der Angeklagte Anspruch auf einen unverzüglichen und öffentlichen Prozeß vor einem unparteiischen Geschworenengericht desjenigen Staates und Bezirks, in welchem die Straftat begangen wurde, wobei der zuständige Bezirk vorher auf gesetzlichem Wege zu ermitteln ist. Er hat weiterhin Anspruch darauf, über die Art und Gründe der Anklage unterrichtet und den Belastungszeugen gegenübergestellt zu werden, sowie auf Zwangsvorladung von Entlastungszeugen und einen Rechtsbeistand zu seiner Verteidigung.

Die Zusatzartikel I–X bilden die sogenannte „Bill of Rights“ und sind 1791 in Kraft getreten.

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ZUSATZARTIKEL VII In Zivilprozessen, in denen der Streitwert zwanzig Dollar übersteigt, besteht ein Anrecht auf ein Verfahren vor einem Geschworenengericht, und keine Tatsache, über die von einem derartigen Gericht befunden wurde, darf von einem Gerichtshof der Vereinigten Staaten nach anderen Regeln als denen des gemeinen Rechts erneut einer Prüfung unterzogen werden. ZUSATZARTIKEL VIII Übermäßige Bürgschaften dürfen nicht gefordert, übermäßige Geldstrafen nicht auferlegt und grausame oder ungewöhnliche Strafen nicht verhängt werden. ZUSATZARTIKEL IX Die Aufzählung bestimmter Rechte in der Verfassung darf nicht dahin gehend ausgelegt werden, daß durch sie andere dem Volke vorbehaltene Rechte versagt oder eingeschränkt werden. ZUSATZARTIKEL X Die Machtbefugnisse, die von der Verfassung weder den Vereinigten Staaten übertragen noch den Einzelstaaten entzogen werden, bleiben den Einzelstaaten oder dem Volke vorbehalten. ZUSATZARTIKEL XI16 Die richterliche Gewalt der Vereinigten Staaten darf nicht dahin gehend ausgelegt werden, daß sie sich auf Klagen nach dem Gesetzes- oder Billigkeitsrecht erstreckt, die gegen einen der Vereinigten Staaten von Bürgern eines anderen Einzelstaates oder von Bürgern oder Untertanen eines ausländischen Staates angestrengt oder durchgefochten werden. ZUSATZARTIKEL XII17 Die Wahlmänner treten in ihren Staaten zusammen und stimmen durch Stimmzettel für einen Präsidenten und einen Vizepräsidenten, von denen mindestens einer nicht Einwohner desselben Staates sein darf wie sie selbst. Sie bezeichnen auf ihrem Stimmzettel die Person, die sie zum Präsidenten wählen wollen, und auf einem gesonderten Zettel die Person, die sie zum Vizepräsidenten wählen wollen. Sie führen in getrennten Listen alle Personen auf, die Stimmen für die Präsidentschaft und für die Vizepräsidentschaft erhalten haben, und die Anzahl der ihnen zugefallenen Stimmen; diese Listen unterzeichnen, beglaubigen und übersenden sie versiegelt an den Sitz der Regierung der Vereinigten Staaten, zu Händen des Senatspräsidenten. Der Präsident des Senats öffnet vor Senat und Repräsentantenhaus alle diese beglaubigten Listen; anschließend sind die Stimmen zu zählen; derjenige, der die größte Stimmenzahl für die Präsidentschaft auf sich

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1798 in Kraft getreten. 1804 in Kraft getreten.

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vereinigt, soll Präsident sein, wenn diese Zahl der Mehrheit der Gesamtzahl der bestellten Wahlmänner entspricht; wenn niemand eine derartige Mehrheit erreicht hat, soll das Repräsentantenhaus sogleich aus den höchstenfalls drei Personen, die auf der Liste der für die Präsidentschaft abgegebenen Stimmen die größten Stimmenzahlen aufweisen, durch Stimmzettel den Präsidenten wählen. Bei dieser Präsidentschaftsstichwahl wird jedoch nach Staaten abgestimmt, wobei die Vertretung jedes Staates eine Stimme hat. Zur Beschlußfähigkeit ist für diesen Zweck die Anwesenheit von je einem oder mehreren Mitgliedern von zwei Dritteln der Staaten und zum Wahlentscheid eine Mehrheit aller Einzelstaaten erforderlich. Wenn das Wahlrecht dem Repräsentantenhaus zufällt und es nicht vor dem darauffolgenden 4. März einen Präsidenten wählt, so amtiert der Vizepräsident als Präsident wie im Falle des Todes oder einer sonstigen durch die Verfassung bezeichneten Amtsunfähigkeit des Präsidenten. Derjenige, der die größte Stimmenzahl für die Vizepräsidentschaft auf sich vereinigt, soll Vizepräsident sein, wenn diese Zahl der Mehrheit der Gesamtzahl der bestellten Wahlmänner entspricht; wenn niemand eine derartige Mehrheit erreicht hat, soll der Senat aus den zwei Personen, die auf der Liste die größten Stimmenzahlen aufweisen, den Vizepräsidenten wählen; zur Beschlußfähigkeit ist für diesen Zweck die Anwesenheit von zwei Dritteln der Gesamtzahl der Senatoren und zum Wahlentscheid eine Mehrheit ihrer Gesamtzahl erforderlich. Wer jedoch nach der Verfassung nicht für das Amt des Präsidenten wählbar ist, darf auch nicht in das Amt des Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten gewählt werden. ZUSATZARTIKEL XIII18 Abschnitt 1 Weder Sklaverei noch Zwangsdienstbarkeit darf, außer als Strafe für ein Verbrechen, dessen die betreffende Person in einem ordentlichen Verfahren für schuldig befunden worden ist, in den Vereinigten Staaten oder in irgendeinem Gebiet unter ihrer Gesetzeshoheit bestehen. Abschnitt 2 Der Kongreß hat das Recht, diesen Zusatzartikel durch entsprechende Gesetze zur Durchführung zu bringen. ZUSATZARTIKEL XIV19 Abschnitt 1 Alle Personen, die in den Vereinigten Staaten geboren oder eingebürgert sind und ihrer Gesetzeshoheit unterstehen, sind Bürger der Vereinigten Staaten und des Einzelstaates, in dem sie ihren Wohnsitz haben. Keiner der Einzelstaaten darf Gesetze erlassen oder durchführen, die die Vorrechte oder Freiheiten von Bürgern 18

1865 in Kraft getreten. 1868 in Kraft getreten.

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der Vereinigten Staaten beschränken, und kein Staat darf irgend jemandem ohne ordentliches Gerichtsverfahren nach Recht und Gesetz Leben, Freiheit oder Eigentum nehmen oder irgend jemandem innerhalb seines Hoheitsbereiches den gleichen Schutz durch das Gesetz versagen. Abschnitt 2 Die Abgeordnetenmandate werden auf die einzelnen Staaten im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl verteilt, wobei in jedem Staat die Gesamtzahl aller Personen mit Ausnahme der nicht besteuerten Indianer zugrunde gelegt wird. Wenn aber das Wahlrecht bei irgendeiner Wahl zur Bestimmung der Wahlmänner für den Präsidenten und Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten, der Abgeordneten im Kongreß, der Verwaltungsund Justizbeamten eines Einzelstaates oder der Mitglieder seiner gesetzgebenden Körperschaft irgendwelchen männlichen Einwohnern dieses Staates, die über einundzwanzig Jahre alt und Bürger der Vereinigten Staaten sind, abgesprochen oder irgendwie beschränkt wird, außer wenn dies wegen Teilnahme an einem Aufstand oder wegen eines sonstigen Verbrechens geschieht, so ist die Grundzahl für die Vertretung daselbst im selben Verhältnis zu vermindern, in dem die Zahl solcher männlichen Bürger zur Gesamtzahl der männlichen Bürger über einundzwanzig Jahre in diesem Staate steht. Abschnitt 3 Niemand darf Senator oder Abgeordneter im Kongreß oder Wahlmann für die Wahl des Präsidenten oder Vizepräsidenten sein, irgendein ziviles oder militärisches Amt im Dienste der Vereinigten Staaten oder eines Einzelstaates bekleiden, der, nachdem er als Mitglied des Kongresses oder als Beamter der Vereinigten Staaten oder als Mitglied der gesetzgebenden Körperschaft eines der Einzelstaaten oder als Verwaltungs- oder Justizbeamter in einem der Einzelstaaten auf die Einhaltung der Verfassung der Vereinigten Staaten vereidigt worden ist, an einem Aufstand oder Aufruhr gegen sie teilgenommen oder ihre Feinde unterstützt oder begünstigt hat. Doch kann der Kongreß mit Zweidrittelmehrheit in jedem der beiden Häuser diese Amtsunfähigkeit aufheben. Abschnitt 4 Die Rechtsgültigkeit der gesetzlich genehmigten Staatsschulden der Vereinigten Staaten mit Einschluß der Verpflichtungen, die aus der Zahlung von Pensionen und Sonderzuwendungen für Teilnahme an der Unterdrückung von Aufstand und Aufruhr erwachsen sind, darf nicht in Frage gestellt werden. Doch dürfen weder die Vereinigten Staaten noch irgendein Einzelstaat eine Schuld oder Verbindlichkeit übernehmen oder einlösen, die aus der Unterstützung eines Aufstands oder Aufruhrs gegen die Vereinigten Staaten erwachsen ist, oder irgendeinem Ersatzanspruch für den Verlust oder die Freilassung eines Sklaven stattgeben; vielmehr sind alle derartigen Schulden, Verbindlichkeiten und Ansprüche ungesetzlich und nichtig. Abschnitt 5 Der Kongreß ist befugt, die Bestimmungen dieses Zusatzartikels durch entsprechende Gesetze zur Durchführung zu bringen.

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ZUSATZARTIKEL XV20 Abschnitt 1 Das Wahlrecht der Bürger der Vereinigten Staaten darf von den Vereinigten Staaten oder einem Einzelstaat nicht auf Grund der Rassenzugehörigkeit, der Hautfarbe oder des vormaligen Dienstbarkeitsverhältnisses versagt oder beschränkt werden. Abschnitt 2 Der Kongreß ist befugt, diesen Zusatzartikel durch entsprechende Gesetze zur Durchführung zu bringen. ZUSATZARTIKEL XVI21 Der Kongreß hat das Recht, Steuern auf Einkommen beliebiger Herkunft zu legen und einzuziehen, ohne sie proportional auf die einzelnen Staaten aufteilen zu müssen oder an eine Schätzung oder Volkszählung gebunden zu sein. ZUSATZARTIKEL XVII22 Der Senat der Vereinigten Staaten besteht aus je zwei Senatoren von jedem Einzelstaat, die von dessen Bevölkerung auf sechs Jahre gewählt werden. Jedem Senator steht eine Stimme zu. Die Wähler in jedem Staate müssen den gleichen Bedingungen genügen, die für die Wähler der zahlenmäßig stärksten Kammer der gesetzgebenden Körperschaften der Einzelstaaten vorgeschrieben sind. Wenn in der Vertretung eines Staates Senatssitze frei werden, dann schreibt dessen Regierung Ersatzwahlen aus, um die erledigten Mandate neu zu besetzen. Doch kann die gesetzgebende Körperschaft jedes Einzelstaates dessen Regierung ermächtigen, vorläufige Ernennungen vorzunehmen, bis das Volk die freigewordenen Sitze durch Wahlen gemäß den Anweisungen der gesetzgebenden Körperschaften neu besetzt. Dieser Zusatzartikel darf nicht so ausgelegt werden, daß dadurch die Wahl oder die Amtsperiode eines Senators berührt wird, der bereits gewählt war, bevor dieser Zusatzartikel als Teil der Verfassung in Kraft tritt. ZUSATZARTIKEL XVIII23 Abschnitt 1 Nach Ablauf eines Jahres von der Ratifikation dieses Artikels an ist die Herstellung, der Verkauf oder der Transport alkoholischer Flüssigkeiten für Getränkezwecke innerhalb der Vereinigten Staaten, ihre Einfuhr in die oder ihre Ausfuhr aus den

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1870 in Kraft getreten. 21)1913 in Kraft getreten. 22 1913 in Kraft getreten. 23 1919 ratifiziert; 1933 durch den XXI. Zusatzartikel aufgehoben. 21

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Vereinigten Staaten nebst allen ihrer Hoheit unterstehenden Gebieten hiermit verboten. Abschnitt 2 Der Kongreß und die Einzelstaaten sind gleichermaßen befugt, diesen Zusatzartikel durch entsprechende Gesetze zur Durchführung zu bringen. Abschnitt 3 Dieser Zusatzartikel ist unwirksam, wenn er nicht, wie in der Verfassung vorgesehen, durch die gesetzgebenden Körperschaften der Einzelstaaten binnen sieben Jahren, gerechnet vom Zeitpunkt seiner Übermittlung an die Staaten durch den Kongreß, als Verfassungszusatz ratifiziert wird. ZUSATZARTIKEL XIX24 Das Wahlrecht der Bürger der Vereinigten Staaten darf von den Vereinigten Staaten oder einem Einzelstaat nicht auf Grund des Geschlechts versagt oder beschränkt werden. Der Kongreß ist befugt, diesern Zusatzartikel durch entsprechende Gesetze zur Durchführung zu bringen. ZUSATZARTIKEL XX25 Abschnitt 1 Die Amtsperioden des Präsidenten und Vizepräsidenten enden am Mittag des 20. Tages des Monats Januar und die Amtsperioden der Senatoren und Abgeordneten am Mittag des 3. Tages des Monats Januar des jeweiligen Jahres, in dem diese Amtsperioden geendet hätten, wenn dieser Artikel nicht ratifiziert worden wäre; sodann beginnt die Amtsperiode ihrer Nachfolger. Abschnitt 2 Der Kongreß tritt wenigstens einmal in jedem Jahr zusammen, und zwar beginnt diese Sitzung am Mittag des 3. Tages des Monats Januar, falls er nicht durch Gesetz einen anderen Tag bestimmt. Abschnitt 3 Wenn zu der für den Beginn der Amtsperiode des Präsidenten festgesetzten Zeit der gewählte Präsident verstorben sein sollte, dann wird der gewählte Vizepräsident Präsident. Wenn vor dem für den Beginn der Amtsperiode festgesetzten Zeitpunkt kein Präsident gewählt worden sein sollte oder wenn der gewählte Präsident die Voraussetzungen der Amtsfähigkeit nicht erfüllt, dann nimmt der gewählte Vizepräsident die Geschäfte des Präsidenten wahr, bis ein amtsfähiger Präsident ermittelt 24

1920 in Kraft getreten. 1933 in Kraft getreten.

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ist. Für den Fall, daß weder ein gewählter Präsident noch ein gewählter Vizepräsident amtsfähig ist, kann der Kongreß durch Gesetz bestimmen, wer dann die Geschäfte des Präsidenten wahrnehmen soll, oder das Verfahren festlegen, nach dem derjenige, der die Geschäfte wahrnehmen soll, auszuwählen ist. Dieser übt daraufhin die Geschäfte aus, bis ein amtsfähiger Präsident oder Vizepräsident ermittelt ist. Abschnitt 4 Der Kongreß kann durch Gesetz Bestimmungen erlassen für den Fall des Ablebens einer der Personen, aus deren Mitte das Repräsentantenhaus einen Präsidenten wählen kann, wenn ihm das Wahlrecht zufällt, sowie für den Fall des Ablebens einer der Personen, aus deren Mitte der Senat einen Vizepräsidenten wählen kann, wenn ihm das Wahlrecht zufällt. Abschnitt 5 Der erste und zweite Abschnitt sollen am 15. Tage des Monats Oktober, der der Ratifikation dieses Artikels folgt, in Kraft treten. Abschnitt 6 Dieser Zusatzartikel ist unwirksam, wenn er nicht durch die gesetzgebenden Körperschaften von drei Vierteln der Einzelstaaten binnen sieben Jahren, gerechnet vom Zeitpunkt seiner Übermittlung, als Verfassungszusatz ratifiziert wird. ZUSATZARTIKEL XXI26 Abschnitt 1 Der achtzehnte Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten wird hiermit aufgehoben. Abschnitt 2 Der Transport oder die Einfuhr von alkoholischen Getränken in einen Einzelstaat, ein Territorium oder eine Besitzung der Vereinigten Staaten zwecks Abgabe oder dortigem Gebrauch ist hiermit verboten, wenn dies gegen ein dort gültiges Gesetz verstößt. Abschnitt 3 Dieser Artikel ist unwirksam, wenn er nicht, wie in der Verfassung vorgesehen, durch die Konvente der Einzelstaaten binnen sieben Jahren, gerechnet vom Zeitpunkt seiner Übermittlung an die Staaten durch den Kongreß, als Verfassungszusatz ratifiziert wird.

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1933 in Kraft getreten.

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ZUSATZARTIKEL XXII27 Abschnitt 1 Niemand darf mehr als zweimal in das Amt des Präsidenten gewählt werden; und niemand, der länger als zwei Jahre der Amtszeit, für die ein anderer zum Präsidenten gewählt worden war, das Amt des Präsidenten innehatte oder dessen Geschäfte wahrnahm, darf mehr als einmal in das Amt des Präsidenten gewählt werden. Dieser Zusatzartikel findet jedoch keine Anwendung auf jemanden, der das Amt des Präsidenten zu dem Zeitpunkt innehatte, zu dem dieser Zusatzartikel durch den Kongreß vorgeschlagen wurde, noch hindert er jemanden, der das Amt des Präsidenten in der Periode innehat oder wahrnimmt, in der dieser Zusatzartikel in Kraft tritt, daran, für den Rest dieser Amtsperiode das Amt des Präsidenten innezuhaben oder dessen Geschäfte wahrzunehmen. Abschnitt 2 Dieser Zusatzartikel ist unwirksam, wenn er nicht durch die gesetzgebenden Körperschaften von drei Vierteln der Einzelstaaten binnen sieben Jahren, gerechnet vom Zeitpunkt seiner Übermittlung an die Staaten durch den Kongreß, als Verfassungszusatz ratifiziert wird. ZUSATZARTIKEL XXIII28 Abschnitt 1 Der Bezirk, der als Sitz der Regierung der Vereinigten Staaten dient, bestimmt in vom Kongreß vorzuschreibender Weise: wEine Anzahl von Wahlmännern für die Wahl des Präsidenten und Vizepräsidenten entsprechend der Gesamtzahl der Senatoren und Abgeordneten, die dem Bezirk im Kongreß zustünden, falls er ein Staat wäre, jedoch keinesfalls mehr als der Einzelstaat mit den wenigsten Einwohnern; diese sind den von den Einzelstaaten bestimmten hinzuzählen, aber für die Zwecke der Wahl des Präsidenten und Vizepräsidenten als von einem Einzelstaat bestimmte Wahlmänner zu betrachten; und sie treten in dem Bezirk zusammen und versehen solche Pflichten, wie im zwölften Zusatzartikel vorgesehen. Abschnitt 2 Der Kongreß ist befugt, diesen Zusatzartikel durch entsprechende Gesetze zur Durchführung zu bringen. ZUSATZARTIKEL XXIV29 Abschnitt 1 Das Recht der Bürger der Vereinigten Staaten, in Vor- oder anderen Wahlen ihre Stimme für den Präsidenten oder Vizepräsidenten, für die Wahlmänner bei der Wahl 27

1951 in Kraft getreten. 1961 in Kraft getreten. 29 1964 in Kraft getreten. 28

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des Präsidenten oder Vizepräsidenten, oder für Senatoren oder Abgeordnete im Kongreß abzugeben, darf von den Vereinigten Staaten oder einem Einzelstaat nicht auf Grund eines Wahl- oder anderen Steuersäumnisses versagt oder beschränkt werden. Abschnitt 2 Der Kongreß ist befugt, diesen Zusatzartikel durch entsprechende Gesetze zur Durchführung zu bringen. ZUSATZARTIKEL XXV30 Abschnitt 1 Im Falle der Amtsenthebung, des Todes oder des Rücktritts des Präsidenten wird der Vizepräsident Präsident. Abschnitt 2 Sofern das Amt des Vizepräsidenten frei wird, benennt der Präsident einen Vizepräsidenten, der das Amt nach Bestätigung durch Mehrheitsbeschluß beider Häuser des Kongresses antritt. Abschnitt 3 Sofern der Präsident dem Präsidenten pro tempore des Senates und dem Sprecher des Repräsentantenhauses eine schriftliche Erklärung des Inhalts übermittelt, daß er unfähig ist, die Befugnisse und Obliegenheiten seines Amtes wahrzunehmen, und bis er ihnen eine schriftliche Erklärung gegenteiligen Inhaltes übermittelt, werden diese Befugnisse und Obliegenheiten vom Vizepräsidenten als amtierendem Präsidenten wahrgenommen. Abschnitt 4 Sofern der Vizepräsident und eine Mehrheit entweder der Leiter der Ministerien der Bundesregierung oder einer anderen vom Kongreß durch Gesetz zu benennenden Körperschaft dem Präsidenten pro tempore des Senates und dem Sprecher des Repräsentantenhauses eine schriftliche Erklärung des Inhalts übermitteln, daß der Präsident unfähig ist, die Befugnisse und Obliegenheiten seines Amtes wahrzunehmen, übernimmt der Vizepräsident unverzüglich die Befugnisse und Obliegenheiten des Amtes als amtierender Präsident. Wenn danach der Präsident dem Präsidenten pro tempore des Senats und dem Sprecher des Repräsentantenhauses eine schriftliche Erklärung des Inhalts übermittelt, daß keine Amtsunfähigkeit besteht, gehen die Befugnisse und Obliegenheiten seines Amtes wieder auf ihn über, es sei denn, der Vizepräsident und eine Mehrheit entweder der Leiter der Ministerien der Bundesregierung oder einer anderen vom Kongreß durch Gesetz zu benennenden Körperschaft übermitteln binnen vier Tagen dem Präsidenten pro tempore des Senats und dem Sprecher des Repräsentantenhauses eine schriftliche Erklärung des Inhalts, daß 30

1967 in Kraft getreten.

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der Präsident unfähig ist, die Befugnisse und Obliegenheiten seines Amtes wahrzunehmen. In diesem Falle entscheidet der Kongreß die Sache und tritt zu diesem Zwecke, falls er sich nicht in Session befindet, binnen 48 Stunden zusammen. Wenn der Kongreß innerhalb 21 Tagen nach Erhalt der letztgenannten schriftlichen Erklärung, oder, sofern er nicht tagt, innerhalb 21 Tagen nach dem vorgeschriebenen Zeitpunkt des Zusarnmentretens des Kongresses, mit Zweidrittelmehrheit beider Häuser entscheidet, daß der Präsident unfähig ist, die Befugnisse und Obliegenheiten seines Amtes wahrzunehmen, nimmt der Vizepräsident dieselben weiterhin als amtierender Präsident wahr; andernfalls übernimmt der Präsident wiederum die Befugnisse und Obliegenheiten seines Amtes. ZUSATZARTIKEL XXVI31 Abschnitt 1 Das Wahlrecht der Bürger der Vereinigten Staaten, die 18 Jahre oder darüber sind, darf von den Vereinigten Staaten oder einem Einzelstaat nicht auf Grund des Alters versagt oder beschränkt werden. Abschnitt 2 Der Kongreß ist befugt, diesen Zusatzartikel durch entsprechende Gesetze zur Durchführung zu bringen. ZUSATZARTIKEL XXVII32 Kein Gesetz, das die Bezahlung der Dienste der Senatoren und Repräsentantenhausmitglieder verändert, tritt in Kraft, bevor nicht eine Neuwahl des Repräsentantenhauses erfolgt ist.

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1971 in Kraft getreten. 1992 in Kraft getreten

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Sach- und Personenregister FN ¼ Fußnote

A Abgeordnete 7, 167, 174, 186, 227, 231, 233, 259, 378, 380, 398, 431, 440, 555 Abolitionismus. Siehe auch Sklaverei 43 Abtreibung 13, 49–51, 216, 353, 418, 427, 429 Achse des Bösen 582, 583, 705 Adventisten 44 Advocacy 282, 350, 353, 428–433 affirmative Action 212, 216, 339, 451, 455, 456 Affordable Care Act (ACA) 143, 184, 206–207, 212, 215, 218, 367, 466, 469–473, 477 Afghanistan 13, 33, 96, 246, 250, 253, 574, 581, 594, 601, 602, 614, 637, 653, 654, 664, 680, 720, 721, 723 AFRICOM 705–713 Afrikanische Union (AU) 711 Afrikapolitik 702–714 AfroamerikanerInnen 6, 115, 162, 356, 360, 409, 450, 696 Ägypten 574, 584, 677, 678, 711, 714 Aid to Families with Dependent Children (AFDC) 95, 493 Al-Qaida. Siehe auch Terrorismus 580–583, 590, 711 Amendments. Siehe Verfassungszusätze America First 4, 14, 30, 31, 98, 526, 545, 546, 562, 568, 573, 575, 594, 596, 617, 634, 635, 638, 640, 661, 681 American Century (amerikanisches Jahrhundert) 662, 720 American Civil Liberties Union (ACLU) 359, 426 American Creed 76, 106, 130, 145 American Decline 718–730 American Dream 6, 8, 56, 66, 106, 118, 355, 534 American Exceptionalism 6, 20–34, 77, 348, 484, 535, 536, 613, 635

American Federation of Labor-Congress of Industrial Organizations (AFL-CIO). Siehe auch Arbeiterbewegung 426, 427, 467 American Recovery and Reinvestment Act (ARRA, 2009) 505, 507 American Society of Civil Engineers (ASCE) 517 American Studies 21, 24 Amerikanische Revolution 14, 21, 25, 32, 40–42, 151 Amerikanischer Exzeptionalismus. Siehe American Exceptionalism Amerikanischer Traum. Siehe American Dream Amerikanisches Jahrhundert 662, 720 Amerikanisierung 449, 599 Amerikastudien. Siehe American Studies Amerindianer (Native Americans) 26, 39, 44, 154, 526 Amish 42 Amtsenthebung. Siehe Impeachment Anarchismus 11, 354 Antiamerikanismus 702 Anti-Atomkraft-Bewegung 351–353 Anti-Etatismus 462, 56–70 Antifa 356, 358 Anti-Federalists. Siehe auch Federalists 133–140, 260, 263, 389 Antikommunismus 47, 703 Antisemitismus 45, 62 Anti-Vietnamkriegsbewegung 351 Arabischer Frühling 654, 680 Arbeiterbewegung 23, 155, 348, 349, 467 Arbeitslosenversicherung 113, 483, 490, 502, 504 Arbeitslosigkeit 109, 110, 291, 373, 500–503, 515 Arbeitsmarktpolitik 498–508, 562

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lammert et al. (Hrsg.), Handbuch Politik USA, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23845-2

755

756 Armut. Siehe auch Sozialhilfe 40, 47, 94, 109, 117, 155–157, 279, 339, 340, 353, 454, 455, 472–474, 482, 487, 490, 492–494, 500, 501, 517, 556 Articles of Confederation 258 Asian Americans 112, 416, 419, 535 Atkins v. Kansas (1903) 288 atomare Bedrohung 574, 600, 646, 651, 656, 680–683 Atomenergie 555, 556 Außenhandel 31, 99, 100, 101, 133, 276, 498–508, 526–529, 666, 669, 703, 726 Außenpolitik 594–604 Außenwirtschaftspolitik 31, 99, 100, 101, 133, 276, 498–508, 526–529, 666, 669, 703, 726 Austeritätspolitik 93, 98, 133, 293, 355, 357, 462, 637 Australien 111, 341, 454, 487, 660–663 Automobilindustrie 48, 99, 182, 568, 666, 694 B Babyboom Generation 48, 110, 500 Balkankonflikt 246, 600 Bankenwesen 67, 96, 273, 356, 435, 439, 523–526 Baptisten 38, 41 Behindertenrechte 460, 468–470 Bildungspolitik (Bildungswesen) 287 Bill of Rights 109, 135, 197, 204, 214, 217 Black Lives Matter 6, 358, 360 Black Power 351 Block Grants 291–295 Boston Tea Party 131 Brasilien 594, 595, 693, 696, 722, 726 Bretton Woods System 612, 621, 719 Brown v. Topeka Board of Education (1954) 196, 206, 208, 215, 452 Bundesverfassung. Siehe Verfassung Bürgerkrieg (1861-1865) 6, 24 (FN3), 32, 43, 44, 135, 155, 215, 264, 271, 276, 337, 537 Bürgerrechte 131, 143, 205, 211, 212, 215, 216, 264, 336–339, 349, 361, 427, 429, 537 Bürgerrechtsbewegung. Siehe auch Civil Rights Act 6, 48, 62, 51, 349–353, 357, 362, 409, 457, 537, 718 Bush v. Gore (2000) 219, 409 Bush, George H.W. (Sr.) 211, 212, 294, 636, 637, 647, 691 Bush, George W. (Jr.) 10, 27, 51, 95, 182, 183, 192, 211, 219, 265, 326, 395, 397, 409, 539, 549, 556, 583, 594, 596,600, 613, 624, 652, 660, 680, 682, 691

Sach- und Personenregister C Carter, Jimmy 201, 293, 392, 553 Caucus 397, 414, 710 Census 106, 164, 235, 500 Central Intelligence Agency (CIA) 242 Checks and Balances. Siehe Gewaltenteilung China 4, 13, 99, 100, 240, 528, 529, 537, 562, 565, 573, 574, 594–598, 602–604, 611, 617, 623, 624, 627–629, 633, 637, 638, 641, 647, 653, 659–671, 685, 689–696, 707–710, 718–29 Chinese Exclusion Act (1882) 537 Christentum 44, 81 Christliche Rechte 355 Citizens United v. Federal Election Commission (2010) 212, 218, 328, 435–438 City Efficient Bewegung 277 City upon a hill 22–28 Civil Religion (Zivilreligion) 25, 41 Civil Rights Act (1964) 338, 341, 392, 418 Civil Rights Movement. Siehe Bürgerrechtsbewegung Civil War. Siehe Bürgerkrieg Clinton, Bill 94, 201, 226, 265, 295, 379, 493, 548, 555, 582, 600, 636, 647–649 Clinton, Hillary 20, 395, 396, 413, 526, 587, 601, 616, 655, 697 College 11, 63, 427, 450–452, 517, 616, 727 Commerce Clause 214, 218, 263, 265 Committee on Ways and Means 515 Committees on Appropriations 515 Committees on Budget 515 Common Cause 412, 426, 515 Congressional Budget Office (CBO) 101, 521 Constitution. Siehe Verfassung Cooperative Federalism (kooperativer Föderalismus) 264, 547, 557 Council of Economic Advisers (CEA) 514 Council on Environmental Quality 546 Council-mayor-System 290 Culture Wars 13, 51, 372, 393 D Dealignment 394, 418 Declaration of Independence. Siehe Unabhängigkeitserklärung Deep State 234, 235 Deindustrialisierung 272, 351 Democrats. Siehe Demokratische Partei Demografie 7, 92, 106–123, 197, 341, 348, 535, 541 Demokratische Partei. Siehe auch Parteien 27, 47, 51, 172, 173, 190, 374, 378, 391

Sach- und Personenregister Denkfabrik (Think Tanks) 325, 399, 426, 427, 432 Department of Agriculture 515 Department of Commerce 514, 515 Department of Defense (DoD) 228, 242, 243 Department of Education 453, 456, 459, 461, 520 Department of Energy 515, 563 Department of Health and Human Services 519 Department of Homeland Security (DHS) 242, 356, 539, 589 Department of Housing and Urban Development (HUD) 292, 339 Department of Justice (DoJ) 5, 218, 228, 339, 456, 539 Department of Labor 507 Department of State 227, 569, 616, 655, 691, 707–709, 712 Department of Transportation 520 Department of the Treasury 514, 522, 524, 525 Department of Veteran Affairs 242 Deregulierung 65, 93, 95, 154, 182, 299, 343, 435, 441, 514, 519, 525 Deutschland (deutsch-amerikanische Beziehungen) 462, 485, 545, 574, 587, 595, 597, 637, 639, 646, 653, 680 Dezentralisierung (Devolution) 265, 277, 291–294, 299, 447, 448, 504–506 Dillon’s Rule (Atkins v. Kansas) 288 Divided Government 143, 166–168, 184–192, 366, 368, 397, 398, 541, 546 Dodd-Frank Wall Street Reform and Consumer Protection Act (2010) 97, 100, 523–525 Dred Scott v. Sandford (1857) 198, 199, 215 Drogenhandel 539, 693–698 Drohnenkrieg 246, 582, 614, 681, 702, 708, 711 Dual Federalism. Siehe auch Föderalismus 264 Due Process 337 E Earned Income Tax Credit (EITC) 295, 490, 493 Efficient Market Hypothesis 93 Einkommensteuer. Siehe Steuerpolitik Einkommensverteilung 67, 106, 110, 112, 113, 119, 340, 341, 344, 396, 487, 488 Einkommensungleichheiten 67, 106, 110, 112, 113, 119, 340, 341, 344, 396, 487, 488 Einwanderung (Einwanderungspolitik) 9, 10, 32, 45, 106, 182, 266, 282, 391, 534–542, 584, 693, 696 Einzelstaaten 13, 41, 49, 60, 132–144, 164, 165, 172, 180, 197, 211–219, 242,

757 258–266, 288–292, 298, 338, 355, 360, 376, 388–392, 400, 406–415, 460, 469, 472, 473, 493, 526, 548, 553, 568 Eisenbahn 43, 60, 215, 308, 537 Eisenhower, Dwight D. 48, 185, 188, 189, 196, 200, 243, 247, 468 Electoral College 166, 179, 259, 415 Elfter September (9/11). Siehe auch War on Terror 13, 80, 96, 143, 171, 190, 228, 250, 354, 539, 548, 579, 582, 585–590, 600, 602, 613, 622, 629, 637, 651, 679 Energiepolitik 554, 556, 557, 562–575 Enumerated Powers 241, 260 Environmental Protection Agency (EPA) 100, 515, 546, 547, 562 Erster Weltkrieg (1914-1918) 327, 620 Erweckungsbewegung 40–48 Erwerbsstruktur. Siehe Einkommensverteilung ethnische Gruppe. Siehe auch Race 6, 46, 98, 106–123, 215, 321, 336, 342, 348, 349, 352, 361, 362, 392, 419, 429, 455, 466, 474, 475, 550, 696 Evangelikalismus 39–52, 71, 683, 709, 710 Executive Order 10, 11, 100, 143, 180, 182, 183, 515, 525, 582, 583 Exzeptionalismus. Siehe American Exceptionalism F Facebook 190, 191, 312, 324, 426 Fahneneid 48, 214 Faith-based initiatives 50 Fake News 311, 321, 327, 328 Fast track 526 Federal Bureau of Investigation (FBI) 228–230 Federal Communications Commission (FCC) 321 Federal Emergency Management Agency (FEMA) 229–231, 588 Federal grants-in-aid 291 Federal Reserve 94, 95, 101, 228, 514, 515, 524, 525 Federalist Papers 74, 75 136, 139, 140, 196, 198, 259, 260 Federalists. Siehe auch Anti-Federalists 75, 133–140, 178, 389, 390 Fernsehen 320, 321, 325–329 Filibuster 162, 169, 170, 187, 379, 380 Finanzkrise (2007/08) 10–14, 64–66, 80, 81, 90–96, 100, 102, 279, 296, 334, 341, 349, 356, 493, 664, 721, 724 First-past-the-post System. Siehe auch Wahlsystem 412 Fiskalpolitik 92, 101, 293, 484, 486, 498, 514

758 Föderalismus 13, 130–154, 165, 212, 218, 257–266, 270, 278, 279, 287–299, 546 Folter. Siehe auch Guantanamo 587, 721 Food Stamps 490, 493 Ford, Gerald 279 Fordismus 282, 350, 361 Founding Fathers 9, 74, 130, 138, 142, 241, 258, 260, 537 Fox News 12, 65, 320–327, 356 Fracking 97, 357, 564, 573 Frauenbewegung 43, 351–353 Frauenwahlrecht 60, 141 Freihandelsabkommen 67, 99, 528, 605, 626, 661, 665–669, 694 Freiheitsrechte 247, 335 Friedensvertrag von Paris (1783) 131 frontier-These. Siehe auch Manifest Destiny 26, 39, 335, 348, 361 G Gefängnissystem 295 Geheimdienst 241, 683, 721 Geldpolitik. Siehe auch Monetarismus 93, 94, 101, 102, 498, 514, 523 General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) 528, 626 Gentrifizierung 298 Geographical Sorting 164, 378 Gerrymandering 164, 219, 376, 378, 395, 412, 414, 415, 419 Geschworenensystem 139 Gesetzgebung 8, 139, 141, 143, 166, 167, 183, 198, 245, 287, 339, 350, 407, 439, 459, 483, 536, 553, 557 Gesundheitspolitik. Siehe auch Affordable Care Act 60, 108, 112, 144, 173, 182, 184, 207, 226, 242, 291, 295, 296, 367, 424, 427, 431, 466–477, 484, 489, 492, 498, 519–523, 567, 568, 709 Gesundheitssystem. Siehe auch Affordable Care Act 60, 108, 112, 144, 173, 182, 184, 207, 226, 242, 291, 295, 296, 367, 424, 427, 431, 466–477, 484, 489, 492, 498, 519–523, 567, 568, 709 Gewaltenteilung 136–142, 150, 157, 163, 178, 198, 218, 219, 557, 615 Gewerkschaft. Siehe auch Arbeiterbewegung 9, 45, 49, 94, 308, 338, 341, 342, 357, 361, 426, 427, 434–436, 439, 502, 529, 538 Ghetto. Siehe auch Segregation 351 GI Bill 451 Gilded Age 44 Gingrich, Newt 20, 169, 171, 379–381

Sach- und Personenregister Glass-Steagall Act (1933) 95, 524 Glaubensgemeinschaften. Siehe Religion globale Städte 273, 286 Globalisierung 8, 30, 56, 70, 71, 74, 82, 83, 100, 134, 272, 275, 341, 342, 350, 353, 354, 356, 498, 599 Golfkrieg. Siehe Irakkrieg Government Shutdown 10, 98, 224, 367, 515, 522, 679, 723 Grant, Ulysses S. 548 Great Compromise 135 Great Depression. Siehe Weltwirtschaftskrise Great Society 279, 282, 292, 335, 339, 473, 489, 719 Green New Deal 359, 360, 558, 572, 575 Gridlock. Siehe auch Polarisierung 10, 130, 143, 367, 398 Gründungsväter. Siehe Founding Fathers Guantanamo. Siehe auch Folter 29, 143, 183, 217, 582, 613 H Habeas corpus 183, 217 Hamilton, Alexander 74, 133, 135, 164, 196, 198, 259, 263, 389, 599 Handelskammer der USA (US Chamber of Commerce, USCC) 281, 425, 426 Handelspolitik. Siehe Außenhandel, Außenwirtschaftspolitik Harrison, Benjamin 548 Head Start-Programm. Siehe auch Bildungspolitik, Bildungswesen 339 Hegemonie 13, 31, 599, 627, 629, 636, 679 Heimatschutz. Siehe Department of Homeland Security Hispanics 71, 108, 112, 115, 121, 122, 395, 416, 419, 474, 475, 535, 696–698 Hochschule. Siehe College, Universität Homeland Security. Siehe Department of Homeland Security Homeschooling 456 Homo oeconomicus 91, 92, 97 Homosexualität 10, 48–52, 208, 216 House of Representatives. Siehe Repräsentantenhaus

I Ideologie 31, 51, 56, 90–103, 190, 296, 312, 325, 337, 349, 355, 361, 362, 373, 583, 599 Immigration and Naturalization Act (1952) 536 Immigration. Siehe Einwanderung

Sach- und Personenregister Immigration Reform and Control Act. Siehe auch Einwanderung 538 Impeachment 5, 10, 139, 166, 179, 199 Imperial Overstretch 14, 720 Imperial Presidency 11, 143 Indianer. Siehe Amerindianer Indien 555, 574, 594, 595, 603, 722–724, 726, 728 Individualismus 6, 40, 75, 79, 80, 136, 142, 145, 335, 355, 483 Industrialisierung 271, 277, 278, 449, 450 industrielle Revolution. Siehe Industrialisierung Infrastrukturpolitik 9, 10, 94, 517, 572 Interessengruppen. Siehe auch Lobbyismus 224, 227, 231–234, 247, 343, 372, 399–402, 424–436, 440, 441, 451, 456, 467–469, 475, 514, 538 Internationale Organisation (IOs) 620–629 Internationaler Währungsfond (IWF) 354, 500, 621, 722 Internet. Siehe auch Medien 311, 320–324 Interventionismus militärischer 596, 599, 601, 620 Irakkrieg 250, 295, 587, 596, 679 Iran-Deal (Joint Comprehensive Plan of Action, JCPOA) 614, 653 Islam 52, 81, 678, 679 Islamischer Staat (ISIS) 246, 583–585, 590, 725 Isolationismus 14, 546, 584, 661, 729 Israel 50, 199, 240, 574, 576, 677–684, 728 (FN5) J Jackson, Andrew 32, 58, 348, 390, 599 Japan 100, 110, 487, 595, 661–671, 720 Jefferson, Thomas 32, 58, 131, 133, 135, 141, 199, 262, 271, 277, 318, 323, 348, 389, 390, 599, 635 Jeffersonianism 58 Jim Crow Gesetze/System 6, 264, 337, 350 John Birch Society (JBS) 62 Johnson, Lyndon B. 157, 184, 212, 338, 468 Joint Chiefs of Staff 242 Joint Comprehensive Plan of Action (JCPOA). Siehe Iran-Deal Journalismus 304–314, 318–329 Judentum 38, 42, 45, 47, 50, 356 K Kalter Krieg 8, 13, 24, 33, 243, 249, 251, 272, 320, 597–599, 604, 611, 613, 615, 620–623, 627, 634, 636, 640, 661, 677–679, 691–693, 702–709, 713

759 Kanada 4, 99, 110, 199, 413, 485, 487, 488, 565, 661, 690–694 Katholizismus (Katholiken) 38, 40–50, 52, 200, 392, 393, 449 Kennedy, John F. 141, 167, 168, 185, 188, 189, 196, 719 Keynesianismus 91, 92 Kirche und Staat 40, 41, 46–49, 215, 359, 449 Klimapolitik. Siehe auch Umweltpolitik 151, 182, 546–558 Klimawandel 358, 360, 546, 549, 555–557, 568, 571, 572, 583, 722 Know-Nothing-Party 537 Kolonialismus 153 Kommunalpolitik 282, 286–299 Kommunistische Partei 61 Kommunitarismus 79 Konföderationsartikel (Articles of Confederation) 258 Kongress 97, 99–101, 131, 137, 138, 142, 143, 162–174, 178–188, 192, 196, 201, 210, 211, 223–227, 233, 234, 239, 241–253, 259, 262, 263, 295, 299, 324, 327, 337, 338, 350, 359, 366–383, 390–392, 397, 410, 411, 431, 433–435, 440, 461, 462, 468, 469, 473, 492, 514, 515, 519–530, 534, 535, 539–541, 549, 551, 553–555, 557, 567, 570, 571, 575, 582, 583, 585, 596, 615, 616, 621, 624–626, 635, 639, 655–657, 676, 681, 683, 692, 694, 696, 697, 708, 710 kooperativer Föderalismus. Siehe auch Föderalismus 264, 547, 557 Korruption 64, 155, 166, 344, 424, 434, 713, 726 Krankenversicherung. Siehe auch Medicare, Medicaid, Sozialstaat 12, 71, 102, 113, 466–477, 490, 499 Kreationismus 49, 50 Krieg gegen den Terror. Siehe War on Terror Krim-Annexion 13, 595, 611, 637, 646, 649 Kriminalität 92, 156, 291, 482, 581, 693, 722 Ku Klux Klan 45, 354 Kyoto-Protokoll (1997) 556, 600, 613, 622 L Laffer-Kurve 94, 101 Laissez-faire 91, 391, 552 Lateinamerika 4, 38, 51, 107, 108, 354, 395, 535, 538, 689–698, 725, 729 Latinos. Siehe Hispanics legislativer Prozess. Siehe Gesetzgebung liberaler Internationalismus (liberale internationale Ordnung) 594, 601, 603, 604, 620, 629, 638

760 Liberalismus. Siehe auch Neoliberalismus 26, 41, 47, 76, 79–81, 84, 90, 91, 133, 142, 154, 293, 297, 318, 599, 604, 641, 647 Libertarianism 12, 51, 68, 326 Libyen 246, 581–583, 625, 637, 654, 680, 705, 706, 709–712, 714 Lincoln, Abraham 32, 182, 200 Living Constitution. Siehe auch Verfassung 144, 308 Lobbyismus 343, 424–442, 709 Local Government (Kommunalpolitik) 282, 286–299 Louisiana Purchase (1803) 262 M Madison, James 133, 135, 139, 164, 198, 210, 259, 260, 263, 264 Magna Charta 132 Manifest Destiny 26, 43 Marbury v. Madison (1803) 198, 213 McCarthyism 12, 62 McConnell, Mitch 213, 434 McCulloch v. Maryland (1819) 213, 263 Medicaid. Siehe auch Sozialstaat 10, 469–476, 490, 521 Medicare. Siehe auch Sozialstaat 10, 12, 67, 71, 466–477, 490, 521 Medien 4, 5, 11, 12, 45, 82, 134, 142, 180, 190, 191, 292, 304–314, 318–330, 355–357, 394, 399, 401, 432, 437, 599, 652, 728 Meinungsfreiheit 212, 214, 215 Melting Pot (Schmelztiegel) 32 Menschenrechte 33, 136, 597, 613, 634, 636, 703, 727 Merkel, Angela 640 Methodismus 40, 41 Mexiko 99, 143, 340, 348, 367, 487, 503, 522, 528, 534, 535, 539–541, 564, 565, 569, 610, 661, 666, 690, 693–698 Middle America 63, 64 Midterm Elections 171, 407, 438 Migration. Siehe Einwanderung Militär 4, 5, 7, 27–29, 33, 34, 96, 165, 183, 230, 240–253, 274, 352, 522, 581.585, 590, 595, 599–604, 610, 613, 614, 620, 624, 625, 636–639, 651, 654, 660–662, 665–670, 676, 678–658, 692, 695, 702–714, 718–725, 727 militärisch-industrieller Komplex 240, 247 Minderheit. Siehe Ethnische Gruppe Minderheitenförderung. Siehe affirmative Action Mindestlohn 67, 360, 499, 694

Sach- und Personenregister Miranda v. Arizona (1966) 217 Monetarismus. Siehe auch Geldpolitik 92, 93 Monroe-Doktrin 612, 691, 692 Mormonen 43, 44, 51 Multikulturalismus 32 Multilateralismus 4, 69, 99, 100, 598, 620–622, 627, 628, 634, 636 multipolare Ordnung 598, 647, 657, 720, 721 Muslim Ban. Siehe Travel Ban Muslime. Siehe Islam N Nachhaltigkeit 282, 562, 567, 575, 604, 729 Nachrichtendienst. Siehe Geheimdienst NAFTA. Siehe North American Free Trade Agreement Nahostkonflikt 676–685 National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) 350, 351, 426, 432 National Rifle Association (NRA) 360, 426 National Security Act (1947) 242, 243, 587, 588 National Security Council (NSC) 235, 242, 691 National Security Strategy (NSS) 638, 685, 730 Nationaler Sicherheitsrat. Siehe National Security Council Nationalpark 224, 547, 548, 552 Native Americans. Siehe Amerindianer NATO (North Atlantic Treaty Organization) 4, 5, 14, 600, 601, 604, 620, 623–626, 634, 636–638, 649–652, 654, 720, 724 Necessary and Proper-Klausel 137, 140, 144, 179, 263 Neokonservatismus 27, 29, 50 Neoliberalismus 90–103, 599, 622 New Deal 47, 61, 144, 156, 157, 212, 219, 227, 228, 276, 278, 282, 291, 298, 335, 338–340, 350, 359, 360, 391, 392, 417, 418, 467, 483, 489, 493, 504, 558 New Economy 95, 599 New Federalism. Siehe auch Föderalismus 265, 279, 293 New START 654, 656 Nixon, Richard 12, 62–64, 68, 82, 168, 185, 189, 211, 219, 223, 228, 231, 235, 292, 294, 327, 352, 392, 435, 546, 548, 552, 663, 719 No Child Left Behind (NCLB) 448, 459 Non-Governmental Organization (NGO) 622, 650 Nord Stream 2, 574, 656 Nordkorea 582, 587, 628, 662, 664, 666–670

Sach- und Personenregister North American Free Trade Agreement (NAFTA). Siehe auch Freihandelsabkommen, North Atlantic Treaty Organization [NATO], United States-Mexico-Canada Agreement 99, 528, 610, 626, 690, 694 North Atlantic Treaty Organization. Siehe NATO Northwest Ordinance (1789) 262 O Obama, Barack 13, 20, 27, 67, 70, 90, 97, 98, 102, 117, 165, 168, 173, 174, 181–192, 200–202, 205, 211–213, 226, 230, 231, 246, 249, 250, 253, 282, 295, 296, 327, 328, 342, 355, 366, 367, 397, 413, 456–461, 466, 470, 473, 476, 491, 505, 515, 519, 521, 523, 525, 526, 530, 531, 540, 556, 562, 567–575, 582–585, 590, 594–597, 600–604, 614, 616, 628, 636, 640, 647, 652–654, 656, 660, 661, 664, 665, 669, 670, 676, 679, 680, 682–685, 689, 691, 692, 697, 705–707, 712, 721, 723, 725 Obamacare. Siehe Affordable Care Act Obdachlosigkeit 294, 355, 362 Oberstes Bundesgericht. Siehe Supreme Court Occupy Wall Street (OWS) 11, 12, 64, 344, 356, 357 Öffentlicher Dienst. Siehe Regierungsbürokratie Öffentlichkeit 7, 80, 82, 134, 189, 190, 191, 250, 252, 271, 281, 304–314, 319–323, 325, 327, 330, 351, 357, 360, 381, 409, 534, 555, 580, 583–585, 628, 676, 704, 718 Office of Management and Budget (OMB) 181, 225, 229, 234, 514, 517, 519, 520 Office of the President 225, 517 Old age. Siehe Social Security One Belt-One Road-Initiative (OBOR) 667 Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) 691, 692 Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) 340, 461, 462, 485–488, 500–503, 508 Original Intent. Siehe auch Verfassung 208, 209 P PAC. Siehe Political Action Committee Pariser Klimaschutzabkommen 100, 568, 575, 610, 611, 628

761 Parlamentarisierung 11, 163, 173 Parteien (Parteiensystem) 7, 10, 61, 130, 134, 136, 145, 162, 163, 166–173, 184, 191, 202, 205, 206, 258, 261, 264, 276, 307, 320, 322, 360, 366–382, 388–402, 407, 412–418, 424, 432, 433, 436–438, 502, 571, 650 Patriot Act (2001) 143, 539 Patronage 229, 230, 390, 391 Pell Grants 460, 461 Pelosi, Nancy 171, 186, 222 Pentagon 13, 228, 243, 247, 274, 327, 638, 655, 668, 708, 709 Personal Responsibility and Work Opportunity Reconciliation Act (PRWORA) 95, 493 Pfingstchristentum (Pfingstler) 47–49 Pilgrim fathers 130 Pivot to Asia 573, 595, 654, 660, 664, 666 Pledge of Allegiance (Fahneneid) 48, 214 Plessy v. Ferguson (1896) 208, 215 Pluralismus 41, 45, 69, 76, 80, 136, 224, 275, 320, 322, 425, 456 Polarisierung 4, 8, 10, 82, 130, 145, 163, 167, 178, 182, 184, 187, 189–192, 199, 201, 251, 322, 330, 348, 366–383, 389, 394, 397, 398, 413, 418, 419, 440, 448, 461, 515, 529, 530, 534, 572, 614, 628, 657, 684 Policy Czars 11, 182, 226 Political Action Committee (PAC). Siehe auch Super-PACs 9, 399, 401, 426, 428, 433, 435–438, 440 politische Kultur 20–35, 63, 348, 349, 390, 398, 467, 589 Polizei 11, 150–158, 211, 327, 351, 357, 360, 536, 588 Polizeigewalt 351, 357, 360 Pony Express 308 Populismus 47, 56–71, 89, 382 Power of the Purse 139, 241, 520 Präsidentschaft 5, 6, 10, 12, 30, 50, 64, 71, 82, 93, 95, 117, 178–192, 196, 212, 219, 222–224, 253, 265, 293, 326, 358, 367, 430, 514, 554, 555, 600, 614, 616, 638–640, 648, 655, 656, 663, 690, 692, 701, 705, 706 Presbyterianer 41, 42 Presse. Siehe Medien Pressefreiheit 241, 329 Primaries. Siehe auch Wahlen 174, 375, 376, 391, 406–415, 434, 440 Printmedien. Siehe auch Medien 320, 321 Privatisierung 11, 249, 281, 299, 341, 460, 491, 704

762 Producerismus 58, 59, 65, 68, 69 Progressivismus 155 Protestantismus 38, 46 Public-Private Partnership (PPP) 281, 297 Puritanismus 39 Putin, Wladimir 4, 639, 647, 650–657 Q Quaker 38–42, 353 R Race 6, 46, 98, 106–123, 215, 321, 336, 342, 348, 349, 352, 361, 362, 392, 419, 429, 455, 466, 474, 475, 550, 696 Radio 62 (FN1), 190, 320, 321, 324, 326 Raketenabwehr 600, 653 Rassismus. Siehe ethnische Gruppe, Race Ratingagentur 96, 523 Reagan, Ronald 27, 28, 48, 64, 93–96, 100–102, 168, 184–189, 201, 211, 223, 231, 235, 265, 272, 276, 280, 293–298, 355, 393, 507, 514, 538, 546, 551, 553–555, 558, 582, 648, 704, 719 Reagan Revolution 93, 276 Reaganomics. Siehe auch Reagan 101, 514, 529 Realignment 374, 392, 417, 418 Realismus 79, 83, 597, 600, 601, 615, 638, 720, 730 Reapportionment 164 Reconstruction 271, 337, 338 Redistricting. Siehe Wahlkreiseinteilung Regierungsbürokratie 4, 5, 150, 180, 222–235, 243, 247, 249, 297, 431, 432, 449, 585, 708 Regionalismus 270–282 Religion 25, 32, 38–43, 45, 48, 51, 52, 336, 338, 392, 499, 744 Rentenversicherung. Siehe auch Sozialstaat 109, 486, 490, 521 Repräsentantenhaus 5, 12, 98, 135, 138, 139, 162, 164, 166–174, 184, 186, 368, 370, 371, 376–382, 397, 398, 407, 411, 414, 415, 419, 439, 515, 521, 522, 526, 572, 704 Republikanische Partei 10, 47, 50, 51, 58, 63, 64, 66, 70, 71, 162, 163, 168–173, 186, 189, 190, 216, 249, 252, 293, 322, 366, 370–382, 388–397, 401, 402, 411, 414, 418, 419, 458–462, 468, 476, 477, 520–523, 529, 541, 546, 550, 551, 555, 571, 572, 585, 586, 598, 603, 614, 628, 657, 710

Sach- und Personenregister Republikanismus 41, 133, 136, 142 Responsivität 7, 439, 440 Revenue Sharing 292, 294 Roe v. Wade (1973). Siehe auch Abtreibung 49–51, 216 Romney, Mitt 5, 20, 51, 540 Roosevelt, Franklin D. 47, 61, 156, 227, 278, 391, 417, 558, 692 Roosevelt, Theodore 548, 551 Russland 13, 45, 262, 537, 574, 584, 594–598, 603, 623, 624, 638–641, 646–657, 682, 685, 692, 695, 703, 722, 723, 726, 728 Rust Belt 356, 396, 499, 568 S Sanctuary Cities 12, 266, 286, 296 Sanders, Bernie 66, 67, 70, 71, 102, 343, 413, 416, 476 Saudi-Arabien 574, 604, 677–684, 724 Schmelztiegel (Melting Pot) 32 Schulen (Schulsystem) 48, 49, 196, 215, 216, 289, 361, 449–562 Segregation. Siehe auch Ghetto 32, 62, 157, 264, 275, 278, 280, 339, 350, 355 448, 450, 452, 454 Senat 5, 135, 139, 140, 162–173, 179–187, 199, 201, 202, 210, 213, 226–231, 242, 259, 366, 368–371, 378–382, 397, 411–415, 438, 439, 515, 521, 522, 526, 529, 540, 547, 549, 556, 598, 600, 614, 702, 704 Senator (Senatorin) 5, 7, 60, 61, 66, 135, 138, 141, 162–173, 200, 245, 247, 359, 392, 397, 398, 407, 408, 588 Separate-But-Equal-Doktrin. Siehe auch Afroamerikaner 215, 352, 450 Shaker 361 Shelby County v. Holder (2013) 218, 410 Sheriff 406 Shutdown. Siehe Government Shutdown Sicherheitspolitik. Siehe auch Heimatschutz 240, 242–245, 251, 514, 539, 580–590, 596, 638, 667, 671, 702, 709, 719,722, 726 Sierra Club 426, 549, 552 Silent Majority 62–64, 68 Silicon Valley 97, 272, 653 Sklaverei 6, 24 (FN3), 32, 34, 43, 58, 134, 135, 141, 197–200, 215, 216, 264, 337, 348, 350 (FN1), 391, 408, 450, 537, 703 Social Security 10, 338, 489–492, 521 Social Security Act (1935) 502 Soft money. Siehe auch Lobbyismus 435

Sach- und Personenregister Soft Power 601, 724, 726, 727 Southern Strategy 62–64, 418 soziale Bewegungen 308, 348–363 Soziale Medien 305, 312, 328 soziale Mobilität. Siehe auch American Dream 6, 8, 109–120, 341, 540 Sozialhilfe 95, 291, 383, 353, 490–494, 504 Sozialpolitik 280, 282, 292, 293, 295–298, 339, 340, 452, 453, 462, 472, 482–494 Sozialstaat 28, 70, 93, 112, 144, 150–157, 353, 483, 488, 490, 494 Sozialstruktur 106–123, 341, 389 Spanisch-Amerikanischer Krieg (1898) 348 Sprecher des Repräsentantenhauses (speaker) 169, 186, 222, 379 Sputnikschock 719 (FN1) State of the Union 117, 179, 243 States’ rights 264 Steuerpolitik 10, 57–59, 65–69, 137, 140, 165, 218, 259 (FN1), 290, 291, 340, 355, 373, 472, 484–488, 524, 526, 554 Streik. Siehe auch Arbeiterbewegung 60, 354, 358, 360 Studentenbewegung 351–353, 357 Suburbanisierung 351, 355, 271–280, 292, 340 Südkorea 660–670 Super-PACs. Siehe auch Political Action Committee 9, 438, 440 Supreme Court 49, 139, 143, 144, 150, 165, 166, 170, 195–221, 252, 262, 263, 286, 380, 408–412, 613 Syrienkrieg 4, 14, 246, 574, 581, 583, 584, 595, 604, 610, 614, 653, 654, 681, 682, 685, 723 T Taft, William H. 205 (FN8) Taft-Hartley Act (1947) 434 Taliban. Siehe auch Afghanistan, War on Terror 581, 601, 651 Talk Radio. Siehe Radio Tea Party. Siehe auch Soziale Bewegung 12, 51, 64–66, 68, 70, 82, 98, 142, 350, 355, 356, 358 Teamsters 354, 426 Temporary Assistance for Needy Families (TANF) 490–494 Tennessee Valley Authority (TVA) 278 Terrorismus. Siehe War on Terror Think Tanks 325, 399, 426, 427, 432 Ticket Splitting 393, 394 Tocqueville, Alexis de 23, 34, 74, 75, 261, 286, 306, 318, 328, 335, 336, 388

763 Todesstrafe 43, 50, 51, 217, 600 Trade Adjustment Assistance 506, 507 Trade. Siehe Außenhandel, Außenwirtschaftspolitik transatlantische Beziehungen 4, 38, 389, 574, 598–600, 634–641, 646, 647, 728 Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP). Siehe auch Freihandelsabkommen 99, 528, 605, 637 Trans-Pacific Partnership Agreement (TPP) 99, 605, 661, 665, 666, 670 Travel Ban 183, 286, 235 Trickle-Down Economics 65–68, 98 Truman, Harry S. 200, 211, 367, 467, 677 Trump, Donald J. 4–6, 11–14, 20, 21, 30, 31, 51, 55, 56, 66–72, 75, 80–82, 98–103, 117, 130, 142, 143, 150, 168, 172, 173, 181–192, 200, 201, 222–236, 246, 250–253, 265, 266, 276, 282, 286, 296, 299, 321, 325, 327, 330, 334, 335, 342–344, 350, 355–361, 366, 367, 382, 385, 388, 395–398, 413–419, 430, 441, 451, 456, 457, 461, 473, 477, 491, 492, 499, 506, 508, 514–530, 534, 540, 546, 549, 553, 556–558, 562, 563, 568–575, 580, 583–590, 594–605, 610, 616, 620, 622, 624–630, 638–640, 655, 656, 660–671, 676–684, 689–698, 702, 703, 707–709, 714, 718, 723, 724, 728–730 Trumpismus 81, 82 Twitter 4, 190, 191, 235, 312, 327, 558, 583

U Umweltbehörde. Siehe Environmental Protection Agency Umweltpolitik 151, 182, 546–558, 562 UN Sicherheitsrat 622, 648 Unabhängigkeitserklärung 32, 131, 132, 242, 258, 318, 334, 635, 677 Ungleichheit ökonomische siehe Einkommensverteilung Unified Government 167, 173, 184, 185, 187–189, 366, 412 Unilateralismus 27, 100, 596–601, 626, 627 Unipolare Ordnung 240, 652, 704, 718, 720 United Nations (UN). Siehe Vereinte Nationen United States-Mexico-Canada Agreement (USMCA) 528, 610, 626, 690, 694 Universität 11, 63, 427, 450–452, 517, 616, 727 UN-Menschenrechtsrat (UNHRC) 624 Upward Mobility. Siehe soziale Mobilität

764 Urban Development Action Grant (UDAG) Programm 294 Urban riots 292, 351 USAID (Behörde für internationale Entwicklung) 703, 705, 708–710, 712 US-Präsident. Siehe Präsidentschaft V Van Buren, Martin 390 Verbraucherschutz 9, 425, 524, 525 Vereinte Nationen (UNO) 623, 624, 650, 704 Verfassung. Siehe auch Living Constitution 9, 47, 82, 95, 130–145, 149–158, 162–167, 178–184, 196–219, 222, 224, 239–245, 257–263, 317, 318, 407–411, 435, 451, 521, 526, 534, 537, 635, 646 Verfassungsväter. Siehe Founding Fathers Verfassungszusätze 41, 135, 130, 197, 209, 214, 215, 217, 218, 243, 287, 318, 337, 338, 408, 409, 415, 435 Vierte Gewalt 327, 329 Vietnamkrieg (Vietnamproteste 1963–1972) , 28, 33, 76, 141, 243, 244, 246, 327, 351, 662, 663, 718, 719 Volcker-Rule 94, 97, 101, 524 Völkerrecht 573, 605, 610–617 Volkszählung. Siehe Census Vorwahlen. Siehe Primaries Voting Rights Act (1965) 218, 263, 409, 410 W Wahlbeteiligung 375, 410, 413, 416, 417, 535 Wahlkampffinanzierung 218, 424–441 Wahlkreiseinteilung 165, 218, 408, 411 Wahlmännergremium. Siehe Electoral College Wahlrecht. Siehe auch Civil Rights Act 60, 135, 141, 197, 207, 218, 219, 337, 338, 351, 390, 408–412, 415, 417, 419, 535, 621 Wahlsystem. Siehe auch First-past-the-post System 368, 411–416

Sach- und Personenregister Wallace, George C. 62, 63, 69, 82 War on Drugs Siehe Drogenhandelon Poverty 157, 279, 338, 489, 504 on Terror 183, 246, 249, 295, 354, 582, 585, 589, 627, 637, 681, 702, 705, 711, 713 War Powers 244, 245 Washington, George 131, 133, 635 Watergate-Affäre 63, 219, 327, 424, 434, 435, 662 Weak Mayor 290 Weltbank 95, 354, 612, 621 Welthandelsorganisation (WTO) 99, 354, 528, 529, 623, 626–629 Weltwirtschaftskrise (1929) 61, 91, 95, 109, 278, 298, 362, 391, 512, 537, 636, 664 Westexpansion (westward expansion) 271, 348 Whigs 390, 391 White House Office (WHO) 225, 514 White House Office of Environmental Policy 547, 548, 555 Wilson, Woodrow 29, 635 Wirtschaftsrat (Council of Economic Advisors) 514 Wohlfahrtsstaat. Siehe Sozialstaat Women’s March 12, 358 Workfare 342 World Bank (Weltbank) 95, 354, 612, 621 World Trade Organization (WTO). Siehe Welthandelsorganisation Z Zivilreligion 25, 41 Zuwanderung. Siehe Einwanderung Zweiparteiensystem 396 Zweiter Weltkrieg (1939-1945) 4, 20, 24, 32, 45, 49, 141, 163, 190, 228, 240–243, 253, 340, 350, 368, 389, 418, 450, 451, 467, 528, 537, 549, 594, 596, 613, 621, 627, 628, 634, 635, 661, 663, 676, 703